Theologische Realenzyklopädie: Band 20 Kreuzzüge - Leo XIII. [Reprint 2020 ed.] 9783110858006, 9783110126556

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Theologische Realenzyklopädie: Band 20 Kreuzzüge - Leo XIII. [Reprint 2020 ed.]
 9783110858006, 9783110126556

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Theologische Realenzyklopädie Band XX

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Theologische Realenzyldopädie In Gemeinschaft mit Horst Robert Balz • James K. Cameron Wilfried Härle • Stuart G. Hall Brian L. Hebblethwaite • Richard Hentschke Wolfgang Janke • Hans-Joachim Klimkeit Joachim Mehlhausen • Knut Schäferdiek Henning Schröer • Gottfried Seebaß Clemens Thoma herausgegeben von Gerhard Müller

Band XX Kreuzzüge - Leo XIII.

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1990

Redaktion: D r . Christian Uhlig Lieferung 1 / 2 Kreuzzüge - Kunst und Religion VIII August 1 9 9 0 Lieferung 3 / 4 Kunst und Religion VIII - Leib/Leiblichkeit N o v e m b e r 1 9 9 0 Lieferung 5 Leib/Leiblichkeit - L e o XIII. Dezember 1 9 9 0

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Theologische Realenzyklopädie / in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz . . . hrsg. von Gerhard Müller. - Berlin ; New York : de Gruyter. Teilw. hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller ISBN 3-11-002218-4 NE: Krause, Gerhard [Hrsg.]; Müller, Gerhard [Hrsg.] Bd. 20. Kreuzzüge - Leo XIII. - 1990 Abschlußaufnahme von Bd. 20 ISBN 3-11-012655-9

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Copyright 1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. -

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Kreuzzüge

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Kreuzzüge 1. Definition

2. Geschichte

3. Theologie

(Literatur S. 10)

1. Definition Ein Kreuzzug war ein heiliger Krieg, der zur Wiedererlangung christlicher Besitzrechte oder zum Schutze der Kirche oder der Christen gegen diejenigen ausgetragen wurde, die als äußere oder innere Feinde der Christenheit angesehen wurden. Er galt als Anliegen der Christenheit insgesamt, und daher wurde ein Kreuzzugsheer als international angesehen, selbst wenn seine Teilnehmer tatsächlich nur aus einem Landstrich kamen. Man glaubte, daß der Krieg, den ein solches Heer austrug, unmittelbar von Christus selbst durch den Papst als sein Sprachrohr gebilligt worden sei. Unter den Teilnehmern gab es zumindest einige, die ein aus dem der Wallfahrer sich herleitendes Gelübde ablegten, und man belegte sie und ihre Feldzüge oft mit Begriffen aus dem Bereich des Wallfahrtswesens (-•Wallfahrt). Die Privilegien, die sie genossen, insbesondere der Schutz ihrer eigenen Person sowie ihrer Familien und ihrer Besitztümer während ihrer Abwesenheit, gingen auf die den Wallfahrern zugesprochenen Privilegien zurück. Ebenso wurde ihnen -»Ablaß gewährt, und wenn sie nicht im Orient kämpften, stellten die Päpste die Ablässe häufig, wenn auch nicht immer, auf eine Stufe mit denen, die den Kreuzfahrern ins Heilige Land erteilt wurden. Kreuzzüge wurden im Nahen Osten, in Spanien, in Nordafrika, im Baltikum, in Osteuropa sowie auch innerhalb Westeuropas unternommen. Unter den Feinden waren Moslems, heidnische Slawen, Mongolen, orthodoxe Christen (Griechen und Russen), Häretiker (-»Katharer, -»Bogomilen und Hussiten [-»Hus]) sowie politische Gegner des Papsttums. Darüber hinaus gab es noch eine Reihe von Kämpfen, wie die der lateinischen Ansiedler zum Schutze ihrer Niederlassungen in Palästina (->Heiliges Land), Syrien und Griechenland, die der Ordensritter (-»Ritterorden) wie auch die zur Bekämpfung der Türken eingegangenen Bündnisse vom 14. bis ins späte 17. Jh., die alle nicht als Kreuzzüge im strengen Sinn galten, dennoch von Kreuzzugsgedanken durchdrungen und Äußerungen einer allgemeineren Bewegung waren, die den eigentlichen Kreuzzügen zugrunde lag. 2. Geschichte Alle den ersten Kreuzzug bestimmenden Momente hatten eine lange Geschichte, jedoch ist unbestreitbar, daß ihre von Papst -»Urban II. ins Auge gefaßte und in den Erschütterungen des folgenden Kriegszuges sich entfaltende Synthese neu war. Auf dem Konzil von Clermont im November 1095 ging Urban auf eine vorhergegangene Bitte des byzantinischen Kaisers Alexios I. Kommenos um Unterstützung gegen die Türken in der Weise ein, daß er den Adel und die Ritterschaft Frankreichs zu einem Befreiungskrieg aufrief mit dem doppelten Ziel, die Christen im Osten von der Herrschaft der Moslems zu erlösen und das Heilige Grab in -»Jerusalem zu befreien. Er predigte den Kreuzzug als Wallfahrt, eine freilich sonderbare Art von Wallfahrt, sofern er versuchte, die Teilnahme auf bewaffnete Ritter - jüngere, kräftige Männer - zu beschränken, und er ließ die, die seinem Aufruf Folge leisteten, Wallfahrtsgelübde ablegen und gewährte ihnen den gleichen kirchlichen Schutz, wie er für Wallfahrer bereits üblich war. Er legitimierte den Krieg, den sie austragen sollten, in seiner Eigenschaft als Papst, erklärte dabei aber in Aufnahme der seit einigen Jahrzehnten von den Kirchenreformern geführten nachdrücklichen Sprache und insofern vielleicht auch in übersteigernder Weise, daß er im Namen Christi handele: Es ist fast sicher, daß er die Kreuzfahrer als .Ritter Christi* bezeichnete. Er betonte, daß ihr Einsatz ein Akt christlicher Liebe sei, und er ging so weit, das bevorstehende Unternehmen als einen ,Kreuzweg' für Laien darzustellen, womit er sich einer Bildersprache bediente, die bis dahin nur auf das Klosterleben beschränkt war. Seine

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Botschaft bildete den H ö h e p u n k t einer über 5 0 J a h r e dauernden intensiven Bemühung der Geistlichkeit um eine Evangelisation des Laienstandes, bei der man nach guten Werken Ausschau gehalten hatte, die Laien, insbesondere Ritter, tun konnten. Die Darstellung des Unternehmens als einer Büß- und Liebesübung wurde durch die Gewährung eines Ablasses unterstrichen, die zu dieser Z e i t nichts anderes war als eine verbindliche Erklärung, daß der Kreuzzug so mühsam und beschwerlich sein würde, d a ß er eine hinreichende Buße ausmache. Der Widerhall auf seinen Aufruf wird Urban wohl überrascht haben. Er reichte weiter, als er es sich vorgestellt hatte, da es Kreuzzugswillige in Spanien, Italien, England und Deutschland gab, auch in Gesellschaftsschichten unterhalb derer, die er wachzurufen beabsichtigt hatte: Eine große Anzahl von Armen, denen man schwerlich die Teilnahme an einer Wallfahrt verbieten konnte, wurde angezogen (->Petrus von Amiens; - » R o b e r t von Arbrissel). Sie begründeten eine Tradition von Volkskreuzzügen, die sich über zwei Jahrhunderte hinweg immer wieder äußerte, besonders in dem Kinderkreuzzug von 1212 und den Pastorellenkreuzzügen von 1251 und 1320. Wohl rund 9 0 . 0 0 0 Kreuzfahrer, darunter etwa 8 Prozent Adlige und Ritter, brachen nach Urbans Aufruf in den Orient auf, die meisten von ihnen in zwei Wellen, wobei die erste sich im Frühjahr 1096, früher als der Papst beabsichtigt hatte, auf den Weg machte, und die zweite im darauffolgenden Herbst und Winter. Einige Gruppen der ersten Welle erreichten schließlich auch Kleinasien, aber nur um von den T ü r k e n vernichtet zu werden. Die zweite Welle, in der sich die meisten der führenden Adligen und Ritter befanden, versammelte sich im Juni 1097 vor Nikaia in Kleinasien. Z w e i J a h r e später erreichten sie ihr Ziel und befreiten am 15. Juli 1099 Jerusalem. Ihrem Einzug in die Stadt folgte ein Blutbad, welches Ausdruck einer Strategie war, die sich während des Kreuzzuges entwickelt hatte. Immer wenn ein religiös oder strategisch bedeutender O r t eingenommen wurde, erlaubte man den Christen aller Konfessionen zu bleiben, Nicht-Christen wurden jedoch niedergemetzelt oder vertrieben. Auf die Entvölkerung sollte die Niederlassung westlicher Ansiedler folgen, und wahrscheinlich führte die Tatsache, daß vergleichsweise wenig Kolonisten nach Palästina k a m e n , dazu, daß man 1110 zugunsten einer verhältnismäßigen Toleranz von dieser Strategie abließ. Die Kreuzfahrer richteten in Palästina und Syrien abendländische christliche Niederlassungen ein, die fast über zwei Jahrhunderte hinweg bestehen bleiben sollten. Die Leistung, Jerusalem nach einem M a r s c h von tausenden von Meilen, größtenteils außerhalb christlichen Gebietes und weit entfernt von jeglicher Versorgungsbasis eingenommen zu haben, versetzte die Zeitgenossen wie auch die Kreuzfahrer selbst in Staunen. Im Herbst 1097 waren die meisten Pferde der Ritter tot, und viele der Schlachten müssen sie als Fußkämpfer gewonnen haben. Das Heer wurde von Hunger und Krankheit heimgesucht. Es gab keine eindeutige Rangordnung in der Führung, und zeitweise zerfiel der Kreuzzug in einen Zustand der Anarchie. Die Kreuzfahrer selbst vermitteln den Eindruck, eine tiefgreifende religiöse Erfahrung zu durchleben. Sie hatten die Bußübung und den geheiligten Dienst der Wallfahrt auf sich genommen, und ihre religiöse Erregung wurde noch verstärkt durch die Entdeckung von - » R e l i q u i e n , durch das Erreichen heiliger Stätten, mit denen sich eine lange Überlieferung christlicher Verehrung verband, durch eine zufällige, aber wirkungsvolle Erscheinung am nächtlichen Himmel und vor allem durch das zunehmende Gefühl der Bedeutung ihres Unternehmens. Für ihren Erfolg vermochten sie nur in einem Eingreifen der M a c h t Gottes eine hinreichende Erklärung zu finden, und als sie Kleinasien durchquerten, begannen Visionäre aus dem Heer Erscheinungen zu sehen, und die Toten galten von nun an als M ä r t y r e r . Die Katastrophe, die einer dritten, fast ebenso großen und möglicherweise besser ausgerüsteten Welle von Kreuzfahrern widerfuhr, als drei voneinander getrennte Heere im J a h r e 1101 in Kleinasien von den T ü r k e n aufgerieben wurden, erweckte bei den Zeitgenossen lediglich die Vorstellung, daß der auf dem Weg nach Jerusalem niedergeschlagene muslimische Widerstand stärker gewesen w a r , als es tatsächlich der Fall war. Durch ihre Erfahrungen waren die Kreuzfahrer zu der Überzeugung g e k o m m e n , Christus selbst habe gezeigt, daß die

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Behauptungen Papst Urbans nicht übersteigert waren, sondern Wort für Wort der Wahrheit entsprachen. Die aufsehenerregende Nachricht von der Befreiung Jerusalems verbreitete sich im Westen, und es bestand die Neigung, die neuen Vorstellungen und Bilder auf jede mit innerer Anteilnahme geführte Auseinandersetzung zu übertragen. In -»Spanien war allerdings bereits ein verbindliches Präzedenz geschaffen worden. Noch bevor er den ersten Kreuzzug predigte, hatte Papst Urban einen Versuch unterstützt, Tarragona zurückzuerobern, und er setzte die Vorrechte der Kreuzfahrer auch für Spanien in Geltung, als es offensichtlich wurde, daß die Ritter die Heimatfront verließen, um in den Osten zu ziehen. Bei der ersten ,Umleitung' der Kreuzzüge hat mithin der Inaugurator des Kreuzzugsgedankens selbst Pate gestanden. Durch Urbans Nachfolger wurde das bestätigt. 1114 und 1118 wurden in Spanien Kreuzzüge gepredigt, und in den frühen zwanziger Jahren des 12. Jh. schlug Papst Calixt II., ein Bruder zweier Teilnehmer des ersten Kreuzzugs, vor, gleichzeitig einen Kreuzzug im Osten, wo 1124 die Hafenstadt Tyrus eingenommen wurde, und in Spanien zu unternehmen, wo Alfonso I. von Aragon im Winter 1125/26 einen größeren Einfall nach Andalusien durchführte. 1146/47 planten Papst Eugen III. und -»Bernhard von Clairvaux einen erneuten, sehr weitreichenden Kreuzzug, der heute fälschlicherweise als der ,zweite' bezeichnet wird und in dessen weitreichende Zielsetzungen auch das deutsche Grenzgebiet zu den heidnischen Wenden einbezogen wurde. Von 1147 bis 1150 strebten fünf Heere in den Osten, vier eröffneten den Kampf im Nordosten Mitteleuropas, und vier Feldzüge wurden in Spanien geführt. Im Oktober 1147 wurde Lissabon eingenommen, doch anderwärts waren die Erfolge belanglos. Der christliche Kampfgeist resignierte in einem Maße, wie nachher erst wieder im 15. Jh. Fast vierzig Jahre lang fand eine Flut päpstlicher Kreuzzugsaufrufe sehr wenig Widerhall. Die Bewegung lebte wieder auf infolge der Nachricht von der Aufreibung des größten jemals von den christlichen Ansiedlern zum Kampf gestellten Heeresaufgebotes durch Saladin, vom Fall Jerusalems und dem Verlust des größten Teils Palästinas, der die Christen auf einem schmalcn Brückenkopf an der Küste beschränkte. Über die darauffolgenden zwei Jahrhunderte hinweg gab es kaum ein Jahr, in dem nicht irgendwo ein Kreuzzug unternommen wurde, und zwar für gewöhnlich auf mindestens zwei Kriegsschauplätzen gleichzeitig. Es wurden Kreuzzüge in den Osten geführt, insbesondere der ,dritte Kreuzzug' (1189-1192), bei dem der größte Teil des palästinensischen Küstenstreifens zurückerobert wurde, der ,vierte Kreuzzug' (1202-1204), mit dem man nach einem 1107/08 durch einen kleinen Kreuzzug bereits geschaffenen Vorbild versuchte, einen Regierungswechsel in -»Konstantinopel herbeizuführen, und der mit der Plünderung Konstantinopels und der Errichtung eines lateinischen Kaiserreichs in Griechenland endete und dadurch die lateinisch-griechischen Beziehungen bis heute trübt, der .fünfte Kreuzzug' (1217-1221) und -»Ludwigs IX. von Frankreich erster Kreuzzug (1248-1254), die beide in Ägypten ein katastrophales Ende fanden, sowie Ludwigs zweiter Kreuzzug (1269-1272), der durch Ludwigs Tod vor Tunis im August 1270 gekennzeichnet war. Ebenso wurden in Spanien bedeutende Feldzüge unternommen, insbesondere der Sieg Alfonsos VIII. von Kastilien bei Las Navas de Tolosa im Jahre 1212 und die Befreiung Córdobas und Sevillas durch Ferdinand III. von Kastilien in den Jahren 1236 und 1248. Zu anhaltenden erbitterten Kämpfen kam es, als die baltische Küste im Norden bis hinauf zum Finnischen Meerbusen unter christliche Herrschaft gebracht wurde (-»Baltikum). Kreuzzüge wurden unternommen in Südwestfrankreich gegen die Häretiker, als Papst -•Innozenz III. die Hoffnung aufgab, die weltlichen Machthaber dazu überreden zu können, gegen die -»Katharer vorzugehen, und die christliche Gemeinschaft aller Länder dazu aufrief, die Verantwortung zu übernehmen (der Albigenserkreuzzug von 1209-1229), sowie gegen politische Gegner des Papstes in Italien, eine Ausweitung der Bewegung, die sich schon angekündigt hatte in dem Kreuzzugsaufruf Innozenz' II. gegen die Normannen in Süditalien im Jahre 1135 sowie in der Andeutung des Petrus Venerabilis, daß ein gewaltsames Einschreiten gegen Mitchristen sogar in höherem Maße gerecht-

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fertigt sein könne als Gewaltanwendung gegen Nichtchristen. Italien wurde in der zweiten Hälfte des 13. Jh. und für den größten Teil des 14. Jh. zu einem der bedeutendsten Kriegsschauplätze. Die Päpste verkündeten einen Kreuzzug nach dem anderen gegen den abendländischen Kaiser -»Friedrich II. und seine Thronerben, danach gegen die Ghibellinen in Norditalien und die Aragonesen in Sizilien, und dann aus dem Exil in Avignon gegen eine Reihe italienischer Gegner. Das 13. Jh. bildete den Höhepunkt der Kreuzzüge. Die Kreuzzugsidee erreichte ihre höchste Entfaltung, und der Kreuzzug wurde zur festen Einrichtung. Die Formen der Privilegienerteilung waren jetzt ausgearbeitet, insbesondere was den Ablaß anging, der seit dem Pontifikat Innozenz' III. ein ausgereiftes Gepräge hatte: eine in Gottes Namen ergehende Zusage des Erlasses der, sei es von der Kirche oder von Gott auferlegten, in dieser oder der jenseitigen Welt abzuleistenden Strafen. Das Instrument der Kreuzzugspredigt war gut eingespielt, und es kam mit der förmlichen päpstlichen Kreuzzugsverkündigung und der Ernennung von Legaten zur Überwachung der Anwerbung in Gang, wobei in zunehmendem M a ß e Bettelmönche eingesetzt wurden. Seit 1199 und besonders, nachdem die Besteuerung der Kirche durch den Papst 1215 vom vierten Laterankonzil (-»Lateransynoden) genehmigt worden war, wurden der gesamten Kirche oder der Geistlichkeit in bestimmten Kirchenprovinzen über Zeiträume von einem bis zu sechs Jahren hinweg Abgaben auf kirchliches Einkommen abverlangt, die für gewöhnlich ein Zehntel ausmachten. Da die Kreuzzüge sehr teuer waren und die Kreuzfahrer begannen, Zuwendungen zu erwarten, die es ihnen ermöglichten, ihre Gelübde zu erfüllen, besaßen die Päpste nun einen lenkenden Einfluß, der ihnen zuvor nicht zu Gebote gestanden hatte, da sie die Finanziers der Bewegung wurden und ihre Zuwendungen und somit einen großen Teil der Kreuzzugsmittel in die Richtungen leiten konnten, die ihre Politik verlangte. Natürlich war ihre Macht niemals so wirkungsvoll, wie es theoretisch den Anschein hatte, wohingegen die ungeheuren Kosten der italienischen Kreuzzüge, die 1274 zur Einteilung der christlichen Welt in Erhebungsbezirke durch Papst -»Gregor X., einem zunehmenden Rückgriff der Päpste auf Kredite und im 14. Jh. zur Einführung neuer Steuern zum Abbau der Kreditabhängigkeit beitrugen, auf lange Sicht einen abträglichen Einfluß auf die Beziehungen zwischen dem -»Papsttum und der Gesamtkirche ausübten. Zugleich zeigte sich in der Entwicklung je eigener Züge auf den verschiedenen Schauplätzen, daß die Kreuzzugszeit ihre Neige erreicht hatte. In Spanien etwa wurden die Kreuzzüge zu nationalen, von den Königen gelenkten Unternehmungen; in Nordosteuropa bildete sich ein beständiger Kreuzzugszustand heraus infolge der vom Papsttum dem Deutschen Orden in —»Preußen gewährten Privilegien, aufgrund deren dieser Ablässe ohne besondere ausdrückliche Genehmigung erteilen konnte. Die letzten christlichen Niederlassungen in Palästina und Syrien gingen 1291 verloren, wenn auch die Lateiner immer noch auf -»Zypern, in Teilen Kilikiens sowie in großen Teilen Griechenlands und der griechischen Inseln herrschten. Die folgenden 50 Jahre waren naturgemäß von Plänen bestimmt, das Heilige Land zurückzuerobern, doch diese Aufgabe überstieg jetzt die Möglichkeiten des Abendlandes, dessen wirtschaftliche und politische Lage sich verschlechterte, während das Papsttum von den Verhältnissen in Italien in Anspruch genommen wurde. Wenn auch der Gedanke in späteren Jahrhunderten gelegentlich wieder auflebte, war doch das letzte Beispiel eines herkömmlichen Kreuzzuges in den Orient ein Unternehmen unter der Leitung Peters I. von Zypern, der 1365 fast eine Woche lang Alexandrien in Ägypten in Besitz halten konnte. Während des größten Teils des 14. Jh. waren die wichtigsten Kreuzzugszentren außerhalb Italiens zwei halbselbständige ,Ordensstaaten', in denen eine große Zahl von Adligen und Rittern Waffendienst tat, der Staat des Deutschen Ordens in -»Preußen und der des Johanniterordens auf Rhodos. Zwei Entwicklungen wiesen jedoch in die Z u k u n f t . Die erste bestand in dem Auftreten von Kreuzzugsbündnissen seit 1332, Bündnissen von christlichen Mächten, gewöhnlich Seemächten, die, durch Kreuzzugsprivilegien gestärkt, darauf abzielten, den Druck auf die noch bestehenden lateinischen Niederlassungen in Griechenland und auf

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den griechischen Inseln zu mindern. Die zweite Entwicklung ergab sich aus dem Aufstieg der osmanischen Türken. Ab 1370 wendete sich die Kreuzzugsstrategie der Aufgabe zu, Europa selbst zu verteidigen: 1396 und 1444 wurden größere Feldzüge auf die Balkanhalbinsel unternommen. Während des Großen Schismas von 1378 bis 1417 konnte keine einheitliche Strategie entwickelt werden, wenn auch die Kreuzzugsidee mächtig genug war, zwei Kreuzzüge, nämlich den Kreuzzug gegen Mahdia 1390 und denjenigen nach Nikopolis 1396, den Zwist innerhalb der lateinischen Christenheit durchbrechen zu lassen: Eine während des Mahdiakreuzzugs erlassene Vorschrift verbot jeglichen Meinungsaustausch über das Schisma; der Kreuzzug von Nikopolis war von beiden Päpsten gebilligt. Von 1420 bis 1431 wurden Mittel für die Kreuzzüge gegen die hussitischen Ketzer in Böhmen bereitgestellt. Der Verlust Konstantinopels an die Türken 1453 brachte erneute Begeisterung mit sich, und für siebzig Jahre wurde die Wiedereroberung Konstantinopels in ähnlicher Weise zum Ziel wie diejenige Jerusalems in früheren Jahrhunderten. Doch obwohl kleinere Erfolge zu verzeichnen waren wie die Verteidigung und der Entsatz Belgrads 1456 sowie die Plünderung von Antalya und Smyrna 1472, wurde die Förderung der Kreuzzüge durch die Päpste von der europäischen Politik durchkreuzt, insbesondere von den französischen Ambitionen in Italien nach 1494 und infolge der —»Reformation in Deutschland in den zwanziger Jahren des 16. Jh. Im westlichen Mittelmeerraum indessen lebte die spanische Kreuzzugsbewegung, die über ein Jahrhundert hinweg geruht hatte, wieder auf. Granada, das letzte maurische Königreich, ging 1492 unter, und es folgte ein Einfall nach Afrika sowie die Errichtung einer Reihe spanischer Brückenköpfe entlang der nordafrikanischen Küste bis nach Tripolis. Die Reformation entzog der Kreuzzugsbewegung eine nicht unbedeutende Zahl der abendländischen Christen, nahm den noch bestehenden Ritterorden beträchtliche Besitztümer und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit von der zunehmenden Bedrohung durch die Türken ab. Die Verkündigung eines Kreuzzugs gegen die Protestanten wurde erwogen. Doch nur der Einsatz der Spanischen Armada gegen das anglikanische England (1588) war auf traditionelle Weise durch Briefe des Papstes autorisiert und privilegiert. In zwei Gebieten aber blieb der Kreuzzugsgedanke wirksam. In Nordafrika tobte während des größten Teils des 16. Jh. ein erbarmungloser Kampf, und ungeachtet der Kreuzzüge nach Tunis (1535), Algier (1541), Dscherba (1560) und M a r o k k o (1578) wurden die Christen von den Türken in den äußersten Westen gedrängt. Im östlichen Mittclmeer führten Kreuzzugsbündnisse 1538,1571 mit einem großen Sieg bei Lepanto und 1572 Operationen zur See durch. Diese Tradition wurde auch im 17. Jh. aufrecht erhalten, insbesondere mit der erfolglosen Verteidigung Kretas (1645-1669) und durch die Heilige Liga (1684—1699), die nach der zweiten Belagerung Wiens zustande kam. Sie festigte den christlichen Bodengewinn auf der Balkanhalbinsel, und der Peloponnes wurde zeitweilig erneut besetzt. Außerdem blieb einer der Ordensstaaten bestehen. Der Johanniterorden hatte 1522 Rhodos verloren, erhielt aber acht Jahre später die Insel Malta. 1565 wurde ein gewaltiges, gut ausgerüstetes türkisches Heer, das entsandt war, um die türkischen Verbindungswege mit Nordafrika freizuräumen, nach einer dramatischen Belagerung zurückgeschlagen. Von Malta aus nahmen die Johanniter weiter an fast jedem Seebündnis teil, und ihre Flotte machte bis weit ins 18. Jh. hinein Jagd auf die Schiffahrt der Moslems. Aber der Verfall setzte schnell ein, als der Heilige Krieg sich überlebt hatte. Bei den Johannitern zeigten sich zunehmend Verfallserscheinungen, und sie verloren ohnehin den größten Teil ihrer Besitzungen während der -»Französischen Revolution und den Revolutionskriegen. Im Juni 1798 fiel Malta fast ohne jeglichen Widerstand an Napoleon, der sich in einer Ironie der Geschichte auf seinem Weg nach Ägypten befand. Das bedeutete das Ende der Kreuzzugsbewegung. Wie viele hinfällig gewordene Werkzeuge des Ancien Régime hatte auch sie sich überlebt, und die Mehrheit der Christen teilte ihre Ideale nicht mehr.

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3.1. Die den Kreuzzügen zugrunde liegende Theologie war augustinisch, sofern sie auf Vorstellungen —»Augustins beruhte, wie sie durch das selektive Medium kanonistischer Sammlungen wie derjenigen des Anselm von Lucca und -»Gratians übermittelt wurden. Ihr Ausgangspunkt war, daß Gewalt nicht an sich schlecht sei, sondern moralisch neutral, und daß sie ihre moralische T ö n u n g jeweils von der Absicht des Gewaltanwenders erhielt. Die in den Sammlungen zugänglichen Abschnitte aus den Schriften Augustins zeigten auf, daß solcherlei Absicht der Liebe entspringen konnte, wenn der Gewaltanwender versucht, denjenigen, auf den sich seine Liebe richtet, durch Gewalt zurechtzubringen. In dieser Hinsicht konnte Gewalt nicht nur ein Ausdruck der Liebe gegenüber den durch sie Geschützten sein, sondern auch gegenüber denjenigen, gegen die sie sich richtete. Die Liebe zu den Mitmenschen erforderte im augustinischen Sinne, im Einklang mit der Gerechtigkeit zu sein, mit der durch die Liebe zu Gott und dem Nächsten wirkenden Tugend, die jedem das ihm Zustehende zukommen ließ. Diese Bindung an die Gerechtigkeit bestimmte die Notwendigkeit eines gerechten Anlasses, eine Voraussetzung, aufgrund derer christliche Gewaltanwendung sich auszuweisen hatte als Erwiderung auf eine Rechtsverletzung, etwa in Gestalt von Aggression, Bedrohung, Tyrannei oder der Invasion und Besetzung eines Gebietes, das von Rechts wegen einem früheren Besitzer gehörte. Allerdings war es nicht jedermanns Sache zu entscheiden, ob ein Anlaß gerecht war: Augustin und die Mehrheit seiner geistigen Nachfahren waren der Auffassung, daß das Gebot Christi, die andere Wange hinzuhalten, unumschränkt gelte, insofern es das Handeln des einzelnen bestimmte, der von sich aus nicht das Recht besaß, sich zu verteidigen, selbst wenn er von Räubern angegriffen wurde. Er konnte nur dann Gewalt anwenden, wenn er dazu von einer rechtmäßigen Obrigkeit ermächtigt war, die Diener Gottes wie etwa der Papst oder der Kaiser, aber natürlich auch Gott selbst sein konnte. Augustin ging so weit zu behaupten, daß die von Gott selbst gebotene Gewalt in sich selbst so gerecht sei, daß sie keines gerechten Anlasses bedürfe. Die Vorstellung göttlicher Bevollmächtigung wurde von den Verfechtern des Kreuzzugsgedankens entwickelt; denn ein kennzeichnendes Merkmal der Kreuzzüge war es, daß man sie für ,die Sache Christi' hielt, die von Christus selbst durch Vermittlung des Papstes legitimiert sei. Der Christus der Kreuzfahrer war im strengen Sinn ein politischer Christus', dessen Ziele für die Menschheit sich in einem überweltlich begründeten politischen Ordnungsgefüge, dem christlichen Gemeinwesen, widerspiegelten, zu dessen Verteidigung die Kreuzfahrer aufgerufen waren. Es war dann auch ein beliebtes Thema der Kreuzzugspredigt seit Bernhard von Clairvaux, daß Christus sich selbst und seine Sache bewußt in Schwierigkeiten gebracht habe, um die Liebe seiner Anhänger zu ihm auf die Probe zu stellen, oder aber um ihnen Gelegenheit zu geben, zu ihrem Seelenheil beizutragen, indem sie sich in der Not seiner annahmen. Dies verhalf dazu, Rückschläge in einem Kampf zu erklären, der doch Christi eigene Sache war; doch eine noch bezeichnendere Erklärung für Niederlagen bestand in der von Augustin aufgenommenen alttestamentlichen Vorstellung, ein Mißerfolg bei der Ausführung der Sache Gottes sei Gottes Urteil über die Unwürdigkeit der Werkzeuge seines Wollens. N u r sehr wenige Kritiker der Kreuzzugsunternehmungen behaupteten, Mißerfolge seien ein Beweis dafür, daß die Kreuzzüge letztendlich doch nicht mit Gottes Absichten in Einklang stünden. Die meisten von ihnen übten jedoch nicht an den Kreuzzügen Kritik, sondern an den Kreuzfahrern, denen sie eine unwürdige Wahrnehmung ihres Dienstes vorwarfen. Seit 1187 wurde in päpstlichen Schreiben ebenfalls betont, daß der Erfolg der Feinde Gottes der Sündhaftigkeit aller Christen und dem schlechten Zustand der Kirche zugeschrieben werden könne. Kirchenreform und Kreuzzug wurden nun in der Weise miteinander in Beziehung gesetzt, daß das Gelingen eines Kreuzzuges nicht zu erwarten war, bevor nicht die Christenheit geeint und geläutert war. Darin bestand das erklärte Ziel fast jeder Synode seit dem Vierten Laterankonzil von 1215. Selbst 1544 noch wurde das -»Tridentinum einberufen, um in Angelegenheiten zu entscheiden, „die mit

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der Beseitigung des religiösen Zwists, der Reform christlichen Verhaltens sowie mit der Aufnahme eines Kriegszuges gegen die Ungläubigen unter dem allerheiligsten Zeichen des Kreuzes zu tun haben". Diese grundlegenden theologischen Vorstellungen von Gewaltanwendung verbanden die Kreuzzugstheoretiker mit solchen aus der Wallfahrtstradition und reicherten so den Begriff der Absicht mit Bußvorstellungen an. Der Kreuzfahrer bewies Liebe zu Gott und zum Nächsten, er gab sich zugleich aber auch einer persönlichen Bußübung hin, und das trat zutage in den für gewöhnlich vor seinem Aufbruch stattfindenden Andachtsübungen etwa in Gestalt förmlicher Besuche örtlicher Heiligtümer. In diesem Zusammenhang war der -»Ablaß von großer Bedeutung, der zusammen mit der Vorstellung der Autorität Christi zu den Prüfsteinen der Kreuzzüge zählte. Er wurzelt in der Anerkennung des Wertes tätiger Buße und betonte in seiner ausgereiften Form ebenso die Unwürdigkeit des Menschen wie die Barmherzigkeit und Güte Gottes, die der Bußleistung aus Gnade das Verdienst des Sündenerlasses zuerkennt. Das wiederum lag den übertriebenen Vorstellungen von Verdienstlichkeit zugrunde, die zuweilen in der Kreuzzugspropaganda zum Ausdruck kamen, etwa wenn Innozenz III. 1213 feststellt, der Kreuzzug sei ,ein HeilsmitteP. Wallfahrtsideen schwangen selbst bei solchen Kreuzzügen mit, die wie der Albigenserkreuzzug kein ersichtliches Wallfahrtsziel hatten; und zumindest in einem Fall, in dem des Livlandkreuzzuges im frühen 13. Jh., griff man zu der Fiktion, Livland (etwa das heutige Lettland) sei der Heiligen Jungfrau als Mitgift gegeben und verdiene daher ebenso ernsthafte Zuwendung wie das Erbteil ihres Sohnes im Heiligen Land. Die bestimmende Geltung des Wallfahrtsgedankens führte zu einer umfassenden Übertragung einer ganzen Reihe von Vorstellungen auf den Kreuzzug, die bisher fast ausschließlich dem -»Mönchtum zugeordnet waren; dazu gehören insbesondere das Bild vom -»Kreuz und die einander zugeordneten Vorstellungen, daß man ,sein Kreuz für Christus trägt' und ,einen Kreuzweg geht'. Die reale Bedeutung des Bildes vom Kreuz für die Kreuzfahrer, das sie als Ausweis des abgelegten Kreuzzugsgelübdes auf ihren Kleidern trugen, ist immer wieder bezeugt. Zur Zeit des ersten Kreuzzuges war es machtvoll wirksam, noch eindrücklicher aber um 1200 unter der tiefen Erregung, die sich nach dem Verlust der Reliquie des Wahren Kreuzes an die Moslems ganz Europas bemächtigte. 3.2. Die dargestellte Theologie dürfte für einen Papst wie -»Innozenz IV. in der Mitte des 13. Jh. geläufig gewesen sein; ihre Darstellung bedarf jedoch auch einiger Vorbehalte. Der Kreuzzugsgedanke hat eine lange Entwicklung durchlaufen und war während eines großen Teils des 12. Jh. noch unvollständig ausgebildet. Die umfangreiche Causa XXIII über die Gewalt in Gratians Decretutn stand beispielsweise bis zur Mitte des 12. Jh. noch nicht zu Gebote. Im Jahre 1095 stand Papst Urban II. die Sammlung augustinischer Texte in der Collectio canonum Anselms von Lucca (vgl. T R E 19,17,8 ff) zur Verfügung, aber es ist umstritten, ob sie größeren Einfluß auf ihn geübt hat. Anselm war ein Extremist. Im Werk seines Zeitgenossen -»Ivo von Chartres (vgl. T R E 19,19,31 ff) aber schlägt sich eine gemäßigtere und weniger scharf ausgeformte Überlieferung nieder, und sie ist es, die sich bis ins frühe 12. Jh. in den kanonistischen Sammlungen behauptete. Zudem war es schon immer so, daß eine weite Kluft die Ansichten der Theologen und Kanonisten von denjenigen des Laienstandes trennt. Der Widerhall bei den gewöhnlichen christlichen Laien war jedoch entscheidend, da ihre Gelübde nach dem kanonischen Recht aus eigenem Entschluß abgelegt sein mußten, und deshalb erst eine hinreichende Anzahl von ihnen zum freiwilligen Anschluß überredet werden mußte, bevor ein Kreuzzug mit Erfolg in Gang gesetzt werden konnte. Daraus ergab sich, daß die Päpste in ihren Verlautbarungen und die Prediger in ihrer Verkündigung die Kreuzzugstheologie in einer Sprache zur Geltung bringen mußten, die die Menschen verstanden. Die Kreuzzugsbewegung wurde zu einer wahrhaft volkstümlichen Form der Frömmigkeit, die Theologie dabei aber verzerrt und volkstümlichen Zielvorstellungen angepaßt, wie die folgenden Beispiele erkennen lassen. 3.2.1. Der Begriff der -»Liebe, wie er der breiten Öffentlichkeit vorgestellt und von dieser angenommen wurde, stellte ein Zerrbild der christlichen Nächstenliebe dar. Der

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Nachdruck lag auf der Liebe zu Gott und der brüderlichen Liebe zum Mitchristen, aber in den erhalten gebliebenen Briefen und Predigten für die Öffentlichkeit gibt es nur wenige Hinweise auf die für die Theologie so bedeutsame Feindesliebe, wohl weil den Zuhörern die Vorstellung der Feindesliebe verwirrend und unannehmbar vorgekommen wäre. 3.2.2. Die den Gläubigen vor Augen gestellten Bilder von einem Vater, Christus, der sein Erbteil verloren hatte, oder von Brüdern und Mitchristen, die Unrecht erleiden, erweckte bei ihnen in einer Zeit, in der Streitigkeiten um Land oder persönliche Beleidigungen durch Blutfehden beigelegt wurden, Rachegefühle. Der Kreuzzug wurde sehr schnell zum Ausdruck der Rache, und Kreuzfahrer, die häufig gerade unter den zu brutalen Übergriffen im Krieg führenden Anspannungen standen, neigten zu einem Verhalten, das verantwortliche Kirchenmänner entsetzte. Die erste Kreuzfahrerwelle im Frühjahr 1096 veranstaltete eine grausame Verfolgung jüdischer Gemeinden in Frankreich, im Rheinland, in Bayern und in Böhmen. Die Predigt der Kreuzfahrt als eine Übung christlicher Liebe hatte in den Kreuzfahrern den Drang nach Rache geweckt. Sie sahen sich dazu aufgerufen, ihre Liebe zu Christus zu äußern, indem sie die Herabsetzung seiner ,Ehre' infolge der Besetzung seines ,Erbes' durch die Moslems rächten, und sie konnten nicht verstehen, warum sie nicht auch seine Kreuzigung rächen sollten (—»Antisemitismus). Jedem bedeutenden Kreuzzug ging im 12. Jh. irgendwo in Westeuropa eine Judenverfolgung voraus. 3.2.3. Es war kennzeichnend für diese Zeit, daß man Christus sehr menschliche Züge gab. Das zeigte sich zumal in volkstümlichen Ausformungen des Kreuzzugsgedankens etwa in der volkssprachlichen Dichtung; jedoch fiel es auch Geistlichen schwer, Christus der Öffentlichkeit nicht als König oder Lehnsherrn darzustellen, der sein Erbteil verloren hatte und den Gefolgsdienst seiner Untertanen und Vasallen einforderte, obwohl deutlich ist, daß sie der Gebrauch einer solchen Bildersprache beunruhigte. 3.2.4. Genau genommen waren Bekehrungskriege nach christlicher Überlieferung nicht erlaubt. Es war eine gerechte Sache, Häretiker, die als solche ja abgewichene Katholiken waren, wieder auf den Weg der Wahrheit zurückzuzwingen, doch Nichtchristen, deren Unkenntnis des Glaubens unverschuldet war, konnten nur durch Vernunft dazu überredet werden, sich zu bekehren (-»-Mission). Es ist jedoch erwiesen, daß die volkstümliche Überzeugung, daß Kreuzzüge Werkzeuge für die Verbreitung des christlichen Glaubens seien, zu stark war, als daß sie hätte ignoriert werden können, und das Verständnis des Kreuzzuges als eines Bekehrungskrieges war während der meisten Zeit als Unterströmung vorhanden. In einem Gebiet, in Deutschland, war die Tradition des Missionskrieges an der östlichen Grenze so ausgeprägt, daß Päpste wie Eugen III. und Innozenz III. sowie Prediger wie Bernhard von Clairvaux den Einsatz von Gewalt ausdrücklich mit der Verbreitung des Christentums in Zusammenhang brachten, wahrscheinlich, weil ihre Adressaten in Deutschland dies von ihnen erwarteten. Darüber hinaus ist darauf hingewiesen worden, daß die bekannte von Papst Innozenz IV. vorgebrachte Rechtfertigung des Krieges gegen nichtchristliche Staaten, die sich weigerten, Missionaren die Einreise zu gestatten, einen Versuch darstellte, das uneingeschränkte Verbot gewaltsamer Bekehrung mit volkstümlichen Sympathien dafür in Einklang zu bringen. Sein Schüler Hostiensis ging sogar noch weiter, indem er davon ausging, daß die Weigerung der Nichtchristen, die päpstliche Herrschaft anzuerkennen, an sich schon eine Rechtfertigung für einen Angriff der Christen sei, und indem er behauptete, daß jeder Krieg, der von Christen gegen Ungläubige geführt werde, allein aufgrund des Glaubens der Christen gerechtfertigt sei.

3.2.5. Als sich die ersten Kreuzfahrer der Bedeutung ihres Unternehmens bewußt geworden waren, begannen sie, ihre Gefallenen als Märtyrer anzusehen. Der Glaube an 50 den Märtyrertod von Kriegern war nicht neu - es gibt Hinweise darauf aus der Zeit um 800. Erst im 11. Jh. werden die Hinweise häufiger. Seit dem ersten Kreuzzug fließt das Quellenmaterial dann in großer Fülle. Jetzt wurde der Gedanke von geistlichen Propagandisten aufgegriffen, und er wird in der volkssprachlichen wie auch der lateinischen

Kreuzzüge / Schauplätze

NORDSEE

ATLANTISCHER OZEAN

BÖHMEN

MAHREN

OSTERREICH

LANGUEDOC

LOMBARDEI BOSNIEN

ARAGON

'PORTUGAL

KIRCHEN*; iSTAAT - XRom

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Kanar. - - y - x v ^ Inseln / ' y ' ^ MAROKKO C' l

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KGR/SIZILIEN

:-TunisrTj TUNESIEN

1094 muslimisch beherrscht

FSM Fürstentum

1094 c h r i s t l i c h beherrscht

GFT Grafschaft

1094 heidnisch

KGR Königreich

Weitestes islam.Vordringen 1095 -1798 Weitestes christl.Vordringen 1095-1798

MITTELM

FINNLAND

ESTLAND

1IVLAND

LITAUEN PREUSSEN

RUSSLAND

UKRAINE

WALACHEI

BULGARIEN

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Konstantinopel LATEIN. KAISERR-C! EPIRUS

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THESSW.ONIKE

Androp FSH.—) ACHAIA

^Antiochien PSKANTljCHIENÏ 6FÎ. TRIPOLIS Rhodos" !Niebuhr war. Ausgehend von der anthropologischen Realität der Sünde fand man, daß es Situationen geben kann, in denen es ohne Zwang, Gewaltanwendung und Krieg nicht abgeht. 5. Die Kirchen vor der

Atomfrage

Nach dem Abwurf der ersten Atombombe am 6.8.1945 stellte sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel der Kriegführung. Die theologischen Stellungnahmen setzten im angelsächsischen Raum früher ein als im deutschen.1 Die angelsächsischen Berichte sind sich in der Überzeugung einig, daß von der Entwicklung der Atomwaffe ein neues Licht auf die Freiheit der Menschen fällt, deren Ambivalenz darin besteht, daß die Kernspaltung einerseits neue Hilfsquellen für die Erhaltung des Lebens auf Erden bedeutet, andererseits die Gefahr der Herbeiführung eines vorzeitigen Endes der menschlichen Gesellschaft. Dennoch wird am Glauben an eine providentielle moralische Ordnung festgehalten, innerhalb derer verantwortungsvoller Bürgersinn versucht, Zeitliches und Ewiges miteinander zu verbinden. Die Kommissionsberichte können sich allerdings nicht zu einem eindeutigen Nein zur Anwendung von Atomwaffen bekennen, solange diese Waffe in den Händen wenig verantwortungsbewußter Regierungen ist, die diese Waffe zur Erpressung mißbrauchen könnten. Jenseits von apokalyptischem Defaitismus und stoischem Fatalismus wird angeregt, die Atomwaffen internationaler Kontrolle zu unterstellen und sie nur zur Abschreckung eines rücksichtslosen Angreifers einzusetzen. Christen sollten sich für die Beschränkung der nationalen Souveränität und die Schaffung einer Weltregierung einsetzen sowie für die Unterordnung politischer Macht unter die Normen des Naturrechts. Der Bericht des amerikanischen Kirchenrats (FCCC) fordert die Verhinderung eines neuen globalen Krieges, denn im Ernstfall wäre ein solcher mit Sicherheit ein Atomkrieg. Nur der kompromißlose christliche Pazifismus fordert eine radikale Abschaffung sämtlicher Atomwaffen, doch vertritt das FCCC in seiner Mehrheit diesen Standpunkt nicht, sondern hält den Besitz von Atomwaffen für ein wichtiges Element der militärischen Stärke der USA bei einer möglichen Verhinderung sowohl eines 3. Weltkriegs wie einer weltweiten kommunistischen Tyrannis. Nachdem 1954 auch der Sowjetunion die Herstellung der H-Bombe gelungen war, deren Sprengkraft die der Hiroshimabombe um das tausendfache übertrifft, mehren sich die eindringlichen Appelle, den ABC-Krieg zu ächten und zu internationalen Übereinkünften zu kommen (z.B. Osterbotschaft von Papst Pius XII. vom 18.4.1954). Wissenschaftler wie Albert Einstein, Albert -»Schweitzer und Bertrand Russell kommen zu dem Schluß, daß die Nationen auf die Gewalt als letztes Mittel der Politik verzichten müssen, wollen sie nicht mittels der Atomwaffe das Ende der Menschheit herbeiführen. 1957 weigern sich die deutschen Atomphysiker in der Göttinger Erklärung der Achtzehn, sich an der Herstellung, Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.

In der theologischen Diskussion wurden die Modelle politischer Theologie - die lutherische Zweireichelehre und die christokratische Position - auch auf das Atomproblem angewandt. Theologen wie Thielicke, Asmussen und Künneth geben zwar zu, daß der Atomkrieg im Vergleich zu früheren Kriegen eine neue Qualität bekommen hat, daß aber die Forderung, im Hinblick auf die mögliche Vernichtungspotenz keine Atomwaffen herzustellen, unrealistisch sei und ein künftiger Friede nur als pax atomica, als,Friede aus Angst' (Thielicke) denkbar sei. Ebenso betont Künneth, daß politische Entscheidungen nicht mit Glaubensentscheidungen gleichzusetzen und aus letzteren abzuleiten seien. Dem steht die Position der kirchlichen Bruderschaften und des Reformierten Bundes gegenüber, die ihren Einspruch gegen die Atomwaffen christologisch begründen: Weil die Rechtfertigung aus dem Glauben den Sünder ganz rechtfertigt, gilt auch die Heiligung

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Krieg IV

unserem ganzen Leben, und darum muß in der Einbeziehung der Massenvernichtungsmittel in den Gebrauch der staatlichen Machtausübung eine faktische Verneinung des Willens des seiner Schöpfung treuen und den Menschen gnädigen Gottes gesehen werden. Die Atomfrage wird hier zum status confessionis.2 Dieser Dissensus wurde durch die Heidelberger Thesen von 1959 zu überbrücken versucht, indem zwar als Fernziel die Ausschaltung des Krieges als Möglichkeit der Auseinandersetzung zwischen Völkern anvisiert wird, jedoch bis auf weiteres zwei konträre Ginstellungen - die Sicherung des Friedens durch (Atom-)Waffen und der absolute Waffenverzicht im Sinne der historischen Friedenskirchen - als ethisch verantwortbar im Sinne der Komplementarität betrachtet werden. In der katholischen Atomdiskussion führte die biologisch negative Wirkung der Atombombe zunächst zu einer Verurteilung der Anwendung der A-Waffen. 1958 erklärt Hirschmann sowohl die Atomangriffe auf Hiroshima wie auf Nagasaki, wie auch die Drohung mit künftigen Angriffen dieser Art für unsittlich, doch wird von päpstlicher Seite dieses Urteil insofern eingeschränkt, als der Atomkrieg auf die strikten Erfordernisse der Verteidigung beschränkt bleiben soll und er sich nicht der Kontrolle der Menschen völlig entziehen darf. Obwohl die nukleare Abschreckung als äußerst fragwürdiges Instrument der Kriegsverhütung betrachtet wird 3 , wird der Besitz von Atomwaffen als Mittel der Abschreckung für den Schutz des Friedens anerkannt und keine absolute Verurteilung der Kernwaffen ausgesprochen. In den kirchlichen Verlautbarungen wird neuerdings immer deutlicher auch auf den Zusammenhang zwischen Rüstung und Armut hingewiesen. „Ein großer Teil der Schöpferkraft des Menschen und des Besitzstandes der Völker wird im Rüstungswettlauf verbraucht, während Hunger, Ausbeutung der Rohstoffe und die Belastung des Gleichgewichts in der Natur Ausmaße angenommen haben, die den Bestand des Lebens auf unserer Erde bedrohen" (Erklärung der ev.-methodistischen Kirche in der DDR 1983). Das Vatikanum II stellt fest, daß „der Rüstungswettlauf eine der schrecklichsten Wunden der Menschheit ist, er schädigt unerträglich die Armen" (Gaudium et Spes 81). Umstritten ist die Realitätsnähe der Konzeption der Abschreckung. Während Thielicke den durch die Äquivalenz des Atompotentials in Ost und West hervorgerufenen .Unbereitschaftseffekt' zum Einsatz der A-Waffen hervorhebt (Theol. Ethik II/2, 596ff), ähnlich Paul Ramsey und Richard Harries, lehnen sowohl die katholischen Bischöfe in den USA in ihrem Hirtenbrief The Challenge of Peace vom 3.5.1983 wie die holländischen Kirchen (Schreiben an die westeuropäischen Kirchen vom 11.7.1983) die Abschreckungspolitik mittels Atomrüstung ab. Die Vollversammlung des ÖRK in Vancouver 1983 sprach eine Verurteilung sowohl der Herstellung und Aufstellung wie des Einsatzes von Kernwaffen als .Verbrechen gegen die Menschheit' aus. Schon 1981 war bei dem öffentlichen Hearing über Atomwaffen und Abrüstung in Amsterdam erklärt worden, das Konzept der Abschreckung, dessen Glaubwürdigkeit von der Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen abhängt, sei aus moralischen Gründen abzulehnen und nicht geeignet, Frieden und Sicherheit langfristig zu wahren. (Vgl. auch die Resolution des British Council of Churches vom 24.11.1980: Eine auf gegenseitiger Vernichtung beruhende Abschreckung ist in zunehmendem Maße dem christlichen Gewissen zuwider.)

6. Die Rezeption des Krieges in der christlichen

Moraltheologie

6.1. Antike Vorgeschichte bis zum Mittelalter. In unserer bisherigen Darstellung sind wir dem Begriff des gerechten Krieges verschiedentlich begegnet. Religionsgeschichtlich geht dieser Begriff auf die römische Auffassung zurück, daß ein Krieg dann .gerecht' sei, wenn er entsprechend den sakralen Normen erklärt wurde (-»Krieg I). Die Frage nach dem gerechten Krieg geht in zwei Richtungen: Wann ist erlaubt, Krieg zu führen (ius ad bellum)-, was ist im Krieg erlaubt (ius in hello)} In der Entwicklung des -»Völkerrechts läßt sich eine deutliche Gewichtsverlagerung feststellen. Während die mittelalterlichen Autoren bis -»Grotius vor allem die Zulässigkeitsfrage behandeln (ius ad bellum), sind die Autoren der Aufklärung bis zur Gegenwart stärker an den Normen des Kriegsrechts interessiert (ius in hello), die im 19. und 20. Jh. als international gültiges Völkerrecht

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Krieg IV

kodifiziert wurden, z.B. Haager Konferenzen von 1899 und 1907. Im modernen Rechtspositivismus tritt die Frage nach der Legitimierung von Krieg immer mehr in den Hintergrund und wird als unnützer Fremdkörper aus den völkerrechtlichen Überlegungen ausgeklammert. Mit den beiden Weltkriegen scheint sich ein Wandel anzubahnen, denn zur „Wiedergeburt des Naturrechts" (Rommen) gehört auch die Frage nach der Gerechtigkeit des Krieges als Frage nach seiner Berechtigung. Die Rezeption der Lehre vom gerechten Krieg steht geschichtlich im Zusammenhang mit den Barbareneinfällen der Völkerwanderung im 4. Jh. Die Goten hatten die besten Truppen des Reiches vernichtet. Da nimmt -»Ambrosius von Mailand in seiner Schrift De officiis die ciceronianische Lehre vom gerechten Krieg auf und belegt sie biblisch mit den alttestamentlichen Berichten vom streitbaren König -»David. In Ciceros De legibus wird unter den Aufgaben der Regierenden auch die Pflicht genannt, gerechte Kriege gerecht zu führen. In dem von Augustin zitierten Abschnitt aus De re publica stellt Cicero fest, daß Bedingung des gerechten Krieges entweder die Treue zu den Verbündeten ist oder das ,HeiP = der Bestand des eigenen Staates. Nach Augustin gehört der Krieg zu den von Gott zugelassenen Dingen, denn „nichts geschieht, außer was Gott selbst tut oder gerechterweise geschehen läßt" (Persev. 6: PL 45,1000). Die Behauptung, Krieg sei an sich böse und widerspreche der christlichen Liebe, nennt Augustin eine manichäische Häresie. Zu den gerechten Kriegen zählt er auch solche, die der Erweiterung des römischen Reiches dienen, werden sie doch gegen die Bosheit von Nachbarn geführt, bei denen weder Ruhe noch Gerechtigkeit herrscht (De civ. 4,15). Auch die christliche Lehre verwirft nicht alle Kriege (Ep.III,138: CSEL 44,137ff), doch ist sehr genau darauf zu achten, aus welchen Gründen und unter wessen Autorität Kriege geführt werden. Wird ein Krieg Deo auetore unternommen, so ist er legitim. Augustin denkt dabei offenbar an die Ketzerkriege. Kriegführen ist nicht jedermanns Recht, vielmehr liegt dieses Recht beim Fürsten. Die auetoritas prineipis war derjenige Teil der bellum-iustum-Theorie, der am nachhaltigsten in die Zukunft gewirkt hat bis hin zum Souveränitätsanspruch der modernen Nationalstaaten, der sich nicht zuletzt im Recht zur Kriegserklärung äußert. Ein Gerechter kann auch unter einem gottlosen Menschen recht kämpfen, was Augustin anhand der Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum biblisch belegt, denn Jesus befiehlt weder dem Hauptmann noch dem Kriegsknecht den Dienst zu quittieren (c. Faust. 22,74: PL 42,447 f). Im Anschluß an diese Exegese begründet er unter Berufung auf Rom 13 die Befehlsgewalt eines Gottlosen über viri iusti: Wenn der Krieg der Erhaltung von Frieden und Ordnung dient und nicht gegen das Gesetz Gottes verstößt, kann guten Gewissens gekämpft werden, um so mehr, wenn Gottes Befehl dahinter steht, denn Gott kann ja nichts Böses befehlen. Eine Definition des gerechten Krieges findet sich in Quaest. in Hept. 6,10 (PL 34,781): Als gerecht bezeichnet man gewöhnlich Kriege, die Unrecht rächen, aber auch Kriege nach der Art der Kriege Israels im Alten Testament sind gerechte Kriege (-»Krieg II). Kann die Berufung auf die gerechte Sache (causa iusta) Gewaltmaßnahmen rechtfertigen? Diese Frage wurde im Mittelalter generell bejaht. Gewaltanwendung zur Verteidigung der Kirche sowohl im Fall der Tötung eines Exkommunizierten wie bei der Bekämpfung der Ungläubigen gilt als erlaubt, soweit sich nicht niedere Motive wie Beutegier oder Mordlust einschleichen. Als juristische Regel gilt der aus dem römischen Recht stammende Satz: vim vi repellere omnes leges omtiiaque iura permittunt [Gewalt mit Gewalt zu begegnen, lassen alle Gesetze und Rechte zu] (vgl. Thomas von Aquino, S.th.II,2,q.44,a.7). Das Sonderrecht des Soldaten zum Töten, für das ab dem 12. Jh. keine Buße mehr verlangt wurde, ebenso wie das des Richters hat seinen Grund im Dienst am Recht und der Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, hinter der letztlich Gott steht. Für die moralische Beurteilung ist entscheidend, daß die Strafhandlung nicht aus Rachsucht (zelus ultionis) geschieht, sondern aus der Gesinnung zurechtweisender Liebe (arnor correctionis). Zum ersten Mal wird auf dem 2. Laterankonzil 1139 (-»Lateransynoden) der Ge-

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sichtspunkt der Gerechtigkeit auch auf die Mittel des Krieges angewandt. Papst Innozenz II. stellte dort die Verwendung von Bogen- und Armbrustschützen „gegen Christen und Katholiken" unter die Strafe des Anathemas, jedoch in der Auseinandersetzung mit den mit Pfeil und Bogen bewaffneten Sarazenen sollte der Einsatz von Bogenschützen erlaubt sein. Damit nahm das Papsttum die Möglichkeit für sich in Anspruch, eine Richterfunktion auch hinsichtlich der Kriegsmittel auszuüben. Bei der Beantwortung der Frage, ob Kriegführen Sünde sei, werden vom Decretum Gratiani (II,Causa 23) zunächst die für den christlichen Pazifismus sprechenden Bibelstellen angeführt, jedoch so verstanden, daß sie sich nicht auf äußeres Tun beziehen, sondern auf das Innere des Herzens, das voller Wohlwollen und Geduld sein soll. Wenn das Ziel des Krieges der Friede ist, dann kann auch ein durch Notwendigkeit aufgezwungener Krieg gottwohlgefällig sein. Schuldhaft dagegen ist ein Krieg, der aus Zerstörungslust, grausamer Räch- oder Herrschgier geführt wird. Dem Frieden dienen Kriege, wenn sie die Bösen eindämmen, den Guten helfen und das Wohl des Staates verfolgen. Entsprechend Augustin gibt auch -»Gratian den Ketzerkrieg frei unter Berufung auf Lk 14,23, wobei auch die weltliche Obrigkeit zu Hilfe gerufen werden darf (C. 37, Causa 23,q.4). Insofern hat für ihn Krieg Rechtscharakter, als er dazu dient, eine Unrechtssituation zu korrigieren, nicht dagegen ein Privatkrieg ohne obrigkeitlichen Befehl. Damit ist auch das Problem des soldatischen Gehorsams entschieden: Der Soldat hat seinem Vorgesetzten zu gehorchen, wenn der Befehl nicht gegen Gottes Gebot ist. Unbestritten ist in der Scholastik, daß die bewußte Ausführung eines ungerechten Befehls unerlaubt ist und daß höchstens Unkenntnis den Untergebenen entschuldigt. Jedoch bestehen Meinungsverschiedenheiten bei den Kanonisten, wie zu entscheiden ist, wenn der Untergebene sich im Zweifel über die Rechtmäßigkeit eines Befehls befindet. Häufig wird die Ansicht vertreten, daß für den Untergebenen die Ungewißheit, ob der Befehl widergöttlich und also ungerecht sei, der Gewißheit gleichzusetzen sei, daß dies nicht der Fall ist, also in Zweifelsfällen zu gehorchen sei (so Gratian C.23,q.l,c.4; Simon von Bisignano, Glosse zu C.23,c.ll,q.3; Huguccio ad pr., C.ll,q.3 u.a.). Sollte sich der Befehl als objektiv ungerecht erweisen, so ist dennoch der Gehorchende entschuldigt. Das Irrtumsproblem wird vor allem in der Spätscholastik nach den Regeln des -»Probabilismus behandelt. Auch Luther gibt in seiner Schrift Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können (1526) einen ähnlichen seelsorgerlichen Rat. Beutemachen und private Bereicherung im Krieg werden verworfen (Decr. Grat. C.23,q.c2,p.5), jedoch wird von den Dekretalisten des 13. Jh. das Beuterecht bejaht als Kompensation für die Verluste, die die siegreiche Partei erlitten hat (Wilhelm von Rennes, Glossa 2.5.12.19; Vinzenz von Beauvais, Speculum doctrinale XI,75). Das Beuterecht wird auf den naturrechtlichcn Grundsatz zurückgeführt, daß ein ungerechter Feind kein Anrecht auf Besitz habe, also die Wegnahme von Beute eine Art Bestrafung für den Besiegten und andererseits eine Belohnung für den Kampf um die gerechte Sache sei. Auch die -»Kreuzzüge werden in die Lehre vom gerechten Krieg einbezogen. Die Argumentation für den Kreuzzug als gerechter Krieg geht vom Besitzstand des römischen Reiches aus, zu dem die später von den Arabern besetzten Länder gehörten, die nun durch die christlichen Ritterheere wieder zurückgeholt werden. Die ,gerechte Sache' im Kreuzzug besteht also nicht in der Bekehrung der Heiden durch Gewalt, sondern in der Herstellung eines früheren Rechtszustandes, der durch die Heiden gestört worden war. Bei -»Thomas von Aquino ergibt eine Auswertung von S. th.II/2,q.40 folgendes Bild: Krieg wird von einer Vielheit von Menschen geführt - im Unterschied zum Aufruhr im Inneren; er ist ein gegenseitiges Sich-bekämpfen im Vollzug; Klerikern ist die Teilnahme am Krieg in der Gestalt des aktiven Kämpfens nicht gestattet, doch ist ihnen aufgetragen, die irdischen Kriege auf höhere Güter auszurichten; Krieg hat im Dienst des Gemeinwohls (-»Gemeinnutz/Gemeinwohl) zu stehen, in dem für Christen auch die geistlichen Güter inbegriffen sind; im Krieg ist es erlaubt, den Feind im Sinne der Eigengesetzlichkeit der res militaris zu überlisten. Zu den vorwärtsweisenden Elementen der Kriegslehre des

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Thomas gehört das von ihm eingeführte Prinzip der Diskrimination, d. h. daß es unter allen Umständen unzulässig sei, unschuldige Personen zu töten, also den Unterschied von Kombattanten und Nichtkombattanten zu übersehen. 6.2. Reformation und Schule von Salamanca bis Grotius. -»Luther steht mit seinen Anschauungen über den gerechten Krieg in der Lehrtradition der Kirche. In der Schrift Von weltlicher Obrigkeit (1523) stellt er fest, daß das Recht des Krieges oder des Schwertes ausschließlich Sache der Obrigkeit ist (nach Rom 13 und I Petr 2). Der Zweck des Krieges ist ein doppelter: Strafe der Bösen und Schutz der Frommen. So gehört das Schwertamt zu den,Kreaturen Gottes', d. h. es ist Erhaltungsordnung zur Bewahrung von Gottes Schöpfung, die nach der Lehre von den zwei Regimenten auch für Christen gilt. Offenbar steht seine Lehre vom verborgenen Gott im Hintergrund, wenn er meint, im Kriege sei es „christlich und ein Werk der Liebe, die Feinde getrost würgen, rauben, brennen und alles tun, was schädlich ist, bis man sie überwindet" (WA 11,258), solange es dabei nicht um die eigene Person, sondern um Schutz und Hilfe für den Nächsten geht. Die Frage, ob ein Volk seinem Fürsten auch dann zum Kriegsdienst verpflichtet sei, wenn dieser einen ungerechten Krieg unternimmt, verneint Luther mit aller Entschiedenheit. Hier gilt Act 5,29 (man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen), mit dem „Bekenntnis der Wahrheit" der Obrigkeit zu widerstehen (WA 11,277). Der -»Bauernkrieg 1525 war für Luther kein gerechter Krieg, weil er Aufruhr war, hinter dem keine legitime Obrigkeit stand, sondern „jede Stunde der Welt Zerstörung zu erwarten sei" (WA 19,361,33 f). In der Schrift Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526) versucht Luther den Beweis für die These von der Sündlosigkeit des Krieges „an ihm selbst" zu führen. Er geht aus von der Unterscheidung von Amt und Person. In Analogie zum Richteramt und zum Ehestand, die an sich „köstlich und göttlich" sind, aber durch den Gebrauch der Menschen „böse und unrecht" werden können, ist auch das Kriegsamt an ihm selbst „göttlich und der Welt so nötig und nützlich als Essen und Trinken" (WA 19,627), auch wenn dabei, dem Arzt vergleichbar, schmerzhafte Mittel angewandt werden müssen. So fragwürdig diese Analogien im Atomzeitalter auch sein mögen, so bedeutsam ist Luthers Betonung des Gewissens als Entscheidungsinstanz für die Beteiligung am Kriege.

Auch in die lutherischen Bekenntnisschriften hat dieser Standpunkt Eingang gefunden. Das Augsburger Bekenntnis bezeichnet das iure bellare als gottwohlgefälliges Werk des Zivilstandes (BSLK 70). Denselben Standpunkt vertritt auch -»Calvin: Der Krieg sei nicht an sich zu verdammen, denn er ist eine Hilfe zur Bestandswahrung des Staates (zit. nach Janssen GGB 3,87). Ebenso hebt die Confessio Scotica von 1560 auf den Schutz der Schwachen vor der Gewalt der Gottlosen ab (c. 14: ab infirmioribus vim improborum defendere). Die - » C o n f e s s i o Helvetica posterior von 1566 (c. X X X ) nennt als Aufgabe der Obrigkeit, im Notfall das Wohl des Volkes auch durch Krieg zu bewahren und den Krieg im Namen Gottes zu unternehmen, wenn vorausgehende Friedensverhandlungen scheitern. Ähnlich bestimmt Art. 37 der Kirche von England: It is lawful for Christian men, at the commandment of the Magistrate, to wear weapons, and serve in the wars. Je länger je mehr wird das Verhältnis von Untertanengehorsam und Räsonnement über die Gerechtigkeit des Krieges problematisch. Immer stärker setzt sich der Standpunkt durch, daß der einzelne Bürger gar nicht in der Lage sei, den Krieg, in den ihn seine Obrigkeit führt, sachgemäß zu beurteilen, er die Verantwortung also der Obrigkeit überlassen soll. Hat er erfolglos protestiert, so „kann er mit gutem Gewissen auch in einen solchen ihm zweideutigen Krieg ziehen" (R. Rothe, Theol. Ethik, V, * 1164; ähnlich auch A. Lehmkuhl, Theol. moralis I, Tract. de bello).

Die Vertreter der spanischen Spätscholastik, vor allem der Dominikaner Vitoria (1548-1619) und der Jesuit -»Suarez gehen anders als ihre mittelalterlichen Vorgänger vom Begriff der Souveränität des Staates aus, die zu dessen .Vollkommenheit* gehört. Damit ist auch die Frage entschieden, wer Krieg erklären darf: jeder Souverän, nicht nur der Kaiser oder der Papst. Galt bisher allein der Verteidigungskrieg als gerechter Krieg', so gehen die Spanier einen Schritt weiter: Auch ein Angriffskrieg kann .gerecht' sein,

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einmal weil es keine übergeordnete Instanz gibt, die über die Rechtmäßigkeit einer Kriegserklärung entscheiden könnte, sodann darum, weil ein Gegner nicht vor Angriffen zurückschrecken würde, wenn der Angegriffene sich damit begnügte, immer nur neues Unrecht abzuwehren. Es geht also im Falle des Verteidigungs- wie des (aufgezwungenen) Angriffskriegs um Notwehr. Der Krieg gilt hier als Mittel der strafenden Gerechtigkeit (iustitia vindicativa). Glaubensverschiedenheit, Machterweiterung oder Ruhmgier eines Fürsten dürfen nicht als gerechte Kriegsgründe gelten, denn in jedem Fall sollte die Wahrung des Gemeinwohls obenan stehen. Für Suarez steht der Angriffskrieg jedoch nicht nur im Dienst der strafenden Gerechtigkeit, sondern auch der iustitia legalis, distributiva und commutativa. Wenn ein Staat die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts verletze, etwa einem anderen Staat ohne vernünftigen Grund das Recht der Verkehrs- und Handelsfreiheit verweigere oder dessen Ruf und Ehre mindere, stelle das einen gerechten Kriegsgrund dar. Wenn also den Spaniern von Seiten der Indianer das Verkehrsrecht verweigert wird, so begehen sie ein völkerrechtliches Unrecht und liefern den Spaniern den Grund zum berechtigten Angriff. Zur Ehrenrettung der spanischen Scholastiker ist darauf hinzuweisen, daß sie sich aufs schärfste gegen die schamlosen Übergriffe der damaligen spanischen Eroberer in Südamerika wenden.

Ein Problem, das am Beginn der Neuzeit angesichts undurchsichtiger und zweifelhafter Rechtsansprüche eine große Rolle spielte, war die Frage, wie es mit der Gerechtigkeit eines Krieges steht, wenn beide Seiten diese für sich in Anspruch nehmen (bellum iustum ex utraque parte). Die Scholastiker des 16. Jh. sind überzeugt, daß objektiv betrachtet eine zweiseitige .Gerechtigkeit' undenkbar ist (Suarez, Einleitung zu De bello, sect. IV). Suarez schlägt vor, die Kriegsfrage nach den Regeln des Zivilrechts zu lösen; wer als rechtmäßiger Herr eines Gebietes oder einer Stadt anerkannt worden ist, sollte diesen Anspruch durchzusetzen versuchen. Im Zweifelsfall soll nach dem höheren Grad der Wahrscheinlichkeit entschieden werden. Da Zweifel an der Unparteilichkeit eines Fürsten bestehen, der zugleich Richter und Partei ist, schlägt Suarez ein neutrales Schiedsgericht vor, das der Papst aufgrund seiner indirekten Gewalt in weltlichen Dingen ausüben sollte. Tatsächlich nahm der Papst diese Funktion wahr, als es um die Teilung der Interessensphären in Lateinamerika zwischen Spanien und Portugal ging (1493). Jedoch versagt im Zeitalter des Konfessionalismus der Verweis auf den Papst als neutraler Schiedsrichter, da sich die protestantischen Fürsten nie seinem Schiedsspruch unterwerfen würden und der Heilige Stuhl selbst zur Partei im Konfessionskrieg geworden ist. Zur Rechtskasuistik der Spanier gehört noch das vor allem von Vitoria vertretene Prinzip der Proportionalität, d. h. ein an und für sich .gerechter' Krieg wird ungerecht, wenn die aus ihm resultierenden Übel größer sind als der Nutzen. Es muß immer das Gemeinwohl der Menschheit im Blick bleiben; darum ist „ein Krieg, der zwar zum Vorteil einer Provinz oder Republik geführt wird, aber zum Schaden der Welt oder der Christenheit, kein gerechter Krieg". Diese Regel schließt auch den Vernichtungskrieg aus, bei dem es um den Ruin des Volkes geht, gegen den er geführt wird. (Totaler Krieg im Sinne des 20. Jh. kann daher nicht unter den Begriff des gerechten Krieges fallen!) In der historischen Realität erwies sich die Lehre vom gerechten Krieg als ohnmächtig, wenn es um die Bändigung des spanischen Kolonialismus in Lateinamerika ging. Sowohl die vor allem bei den Azteken üblichen Menschenopfer wie der in der Karibik vorhandene Kannibalismus oder die Weigerung, den christlichen Glauben anzunehmen, galten als schwerstes Unrecht, das kriegerisch geahndet werden konnte oder gar mußte.

Für —»Grotius, den Begründer des modernen Völkerrechts, ist Krieg nur als Selbstverteidigungsaktion gerechtfertigt, nicht als Privatkrieg, der um Fürstenruhm oder aus Gewinnsucht geführt wird. Sein Ziel muß der Friede sein. Er erinnert an die ,bessere Gerechtigkeit' der Christen, die im Rechtsverzicht besteht, nicht in der unbedingten Durchsetzung eines Rechtsanspruchs. Für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Staatsrechtslehre war es selbstverständlich, daß ein Krieg nur ,aus gerechten staatlichen Ursachen' begonnen werden dürfe (vgl. Ferrarius, Von dem gemeinen Nutze, 1533, 12 b: Nur wenn ein Krieg „in recht begrundt sei, werde er in der gemein . . . zu wolfart derselbigen angehaben"). Aggression wird nach

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wie vor als ungerecht betrachtet (vgl. das Politische Testament Friedrich Wilhelms I. von Preußen [1713-1740]): „Ich bitte meinen lieben Successor um Gottes willen, keine ungerechte Krigh anzufangen und nicht ein aggressör zu sein, denn Gott hat die ungerechten Krighe verboten". Indes verwischt das Verwirrspiel der europäischen Koalitionspolitik im 18. Jh. die scharfe Unterscheidung von Angriff und Verteidigung und läßt die Politik als die Kunst erscheinen, „mit allen geeigneten Mitteln stets den eigenen Interessen gemäß zu handeln" (Friedrich der Große, Politisches Testament von 1752, München 1941,31). Daraus ergibt sich die für den Absolutismus charakteristische Variante der Lehre vom gerechten Krieg: Gerecht ist jeder Krieg, der geführt wird, um das Ansehen des Staates aufrecht zu erhalten, seine Sicherheit zu wahren, den Bundesgenossen beizustehen oder einen ehrgeizigen Fürsten in Schranken zu halten, der auf Eroberungen sinnt, die Eurem Vorteil zuwiderlaufen (Politisches Testament von 1768, 169). Die Völkerrechtler des 18. Jh. gehen davon aus, daß im Konfliktfall beide Parteien sich als im Recht stehend betrachten können, und betonen, daß niemand über souveräne Nationen zu Gericht sitzen könne (so Chr. Wolff und E.de Vattel). So sprengt der Begriff der Souveränität die letzten Fesseln, die dem Kriegsführungsrecht der Fürsten durch die Moraltheologie auferlegt waren. Diese Souveränitätsanarchie (so Kimminich: Steinweg 206 - 2 2 3 ) macht die Organisation von Massenheeren mit zuvor nie gekanntem Vernichtungspotential möglich. Die Leistung des modernen Völkerrechts war weniger ein Beitrag zur Beseitigung von Krieg überhaupt als die ,Hegung des Krieges' (Carl Schmitt), d . h . die Eindämmung der Kriegshandlungen und die Humanisierung der Kriegführung bei gleichzeitiger Anerkennung des Rechtszustandes Krieg. Erst mit der Völkerbundsatzung von 1920 wurden Regelungen getroffen, die man als ,Kriegsverhütungsrecht' bezeichnen kann. Die Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Kriegen liegt in der Völkerbundsatzung nicht vor. Ein generelles Kriegsverbot besteht seit dem Briand-Kellog-Pakt 1928. Die UNO-Satzung von 1948 (Art. 2,4) weitet das allgemeine Kriegsverbot zum Gewaltverbot aus. Die Tendenz des modernen Völkerrechts zur Uberwindung von Krieg überhaupt bedeutet also zugleich eine Uberwindung der Lehre vom gerechten Krieg. Unter dem Gesichtspunkt einer ,Theologie der Revolution* wird die Lehre vom gerechten Krieg modifiziert zur Lehre von der gerechten Revolution. Progressive Vertreter der Friedensforschung suchen Gewaltanwendung zur Durchsetzung sozialen Wandels nicht nur zu analysieren, sondern auch zu legitimieren. Dagegen wendet Th. Ebert ein, es könne nicht Aufgabe der Friedensforschung sein, die Lehre vom gerechten Krieg durch eine Lehre von der gerechten Revolution zu ersetzen (Gewaltfreier Aufstand, 1970). Die Haltung des neueren Katholizismus zur Frage des gerechten Krieges ist schwankend. Einerseits stellen Moraltheologen fest, daß der neuzeitliche Militarismus die Unterscheidung von gerechtem und ungerechtem Krieg völlig unwirksam gemacht habe, weswegen es auch für den einfachen Soldaten unmöglich geworden ist, über die Erlaubtheit eines Krieges zu urteilen. Andererseits sieht man im Ersten Weltkrieg ein Schulbeispiel eines gerechten Krieges' (Bischof M . von Faulhaber, 1915). Darüber kam es zwischen deutschen und französischen Katholiken zum Streit, da sich die französischen Katholiken die deutschfeindliche Sicht des Krieges zu eigen machten (La Guerre Allemande et le Catholicisme, 1915), wogegen die deutschen Katholiken in Rom protestierten und mit einer Gegenschrift antworteten (Der deutsche Krieg und der Katholizismus, 1915). In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg formiert sich die katholische Friedensbewegung und mißt die Kriegsgeschehen an den Maßstäben der klassischen Tradition mit dem Ergebnis, daß der heutige Krieg dieser in keiner Weise entspricht (Stratmann, Weltkirche und Weltfriede, 1924). Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges entbrennt noch einmal die Kontroverse über die Gerechtigkeit des Krieges. Während der deutsche katholische Militärbischof Rarkowski behauptet, Deutschland kämpfe einen gerechten Krieg, bestreitet dies Radio Vatikan. - Eine wichtige kirchenamtliche Äußerung zu diesem Problem ist das Kirchenrechtslehrbuch von Ottaviani ( 3 1947), in dem er die These vertritt, daß die traditionellen Grundsätze des gerechten Krieges heute praktisch nicht mehr an-

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wendbar seien, zumal die Sache, von der die klassischen Theologen reden, grundverschieden sei von der ,Sache', die man heute Krieg nennt. Daraus folgt als Konsequenz: Der Krieg ist (völkerrechtlich) völlig zu untersagen. Das -»Vatikanum II differenziert zwischen der absoluten Ächtung jeden Krieges als Fernziel (Gaudium et Spes 82) und dem zwischenzeitlichen Recht der Staaten auf sittlich erlaubte Verteidigung. 6.3. Die Stellung der ökumenischen Bewegung zum Krieg. Die Stockholmer Weltkirchenkonferenz 1925 stellte fest, daß „der Krieg als Mittel zur Lösung internationaler Streitigkeiten durch physische, mit Heimtücke und Lüge sich verbindende Gewalt unvereinbar ist mit der Gesinnung und dem Verhalten der Kirche Jesu Christi". In Oxford 1937 wird daraus allerdings kein eindeutiges Nein zum Krieg, vielmehr werden drei mögliche christliche Stellungnahmen unterschieden: die pazifistische, die jede Kriegsbeteiligung für Christen ablehnt; eine zweite Einstellung, die weiterhin an der Möglichkeit eines gerechten Krieges festhält; und die vor allem im Luthertum vertretene Meinung, daß Krieg zur sündigen Gestalt dieser Welt gehört und nicht abzuschaffen sei, weswegen ein Christ seiner Obrigkeit Gehorsam schulde, es sei denn, er sei gewiß, daß sein Land für eine ungerechte Sache kämpft. Auch die auf der 1. Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948 ausgegebene Losung „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein" formuliert weniger einen Konsensus als die bisher schon erreichte Möglichkeit, auch künftige Kriege als gerechte Kriege zu legitimieren. Angesichts des Dilemmas der Situation - einerseits der durch Nuklearkrieg möglichen Massenvernichtung, andererseits des Vordringens des Kommunismus - wollen deutsche Lutheraner zwar nicht zur Lehre vom gerechten Krieg zurückkehren, schärfen aber ein, daß man in der unerlösten Welt nicht „aus der ausweglosen Zwangssituation herauskomme, daß Waffenlosigkeit den Anreiz zur Vergewaltigung durch andere bietet, daß aber auch eine um des Friedens willen oft für notwendig gehaltene Rüstung ebenso notwendig beim Kriege endet. Aus diesem circulus vitiosus rettet uns keine theologische und politische Klugheit, sondern allein der wiederkommende H e r r " (Stellungnahme des Theologischen Konvents der Bekenntnisgemeinschaft der Ev.-Luth. Landeskirche Hannover, 1950, 75). Das Antimilitarismusprogramm der 5. Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975 stellt konkrete Forderungen zur Weltrüstungssituation: Die Kirche sollte ihre Bereitschaft betonen, ohne den Schutz von Waffen zu leben und auf eine wirksame Abrüstung drängen. Die 6. Weltkonferenz in Vancouver 1983 bezeichnete in ihrer abschließenden Erklärung zu Frieden und Gerechtigkeit Herstellung, Stationierung und Einsatz von Atomwaffen als .Verbrechen gegen die Menschlichkeit' und rief die Christen in aller Welt dazu auf, ihren Willen deutlich zu machen, nicht an einem solchen Krieg teilzunehmen, denn ein Atomkrieg könne unter keinen Umständen gerecht sein. 6.4. Die neuere Entwicklung in den USA. Als Alternative zum christlichen Liebesgebot fordern die amerikanischen Theologen Dunn und Reinhold -»Niebuhr ein Verhalten, das auch die Folgen berechnet im Sinne einer Verantwortungsethik (vgl. M . -»Weber). Sie geben zu, d a ß das im Nuklearzeitalter schwierig geworden sei, halten jedoch an der Einhaltung der Forderungen der Gerechtigkeit fest. Da das Völkerrecht und die internationalen Institutionen eine zwar wichtige, doch nicht unfehlbare oder unparteiische Instanz sind, kann an ihre Stelle die militärische Aktion als letzte Quelle des Rechts treten. In der christlichen Verpflichtung, willkürliche Aggression abzuwehren und Freiheit für die Unterdrückten zu sichern, sehen sie eine Wiedergeburt der Idee des gerechten Krieges. Paul Ramsey sieht einen Zusammenhang zwischen lex, ordo und iustitia und leitet daraus die Ablehnung der von den Kommunisten unterstützten nationalen Befreiungskriege ab, weil sie mit Vertrags- und Friedensbruch verbunden sind. Er vertritt eine just war intervention (Vietnam!) sowohl unter dem Gesichtspunkt des nationalen wie des internationalen Gemeinwohls. Ramsey subsumiert sogar den Atomkrieg unter der Kategorie des gerechten Krieges. Er will zwar das Prinzip der Diskrimination, also die weitgehende Schonung der Nichtkombattanten, beachtet wissen, nimmt aber collateral damage =

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schweren Schaden für Nichtkombattanten als unausweichlich in Kauf und schwenkt auf die Linie der gerechtfertigten Abschreckung* ein. Dieser Anpassung der Lehre vom gerechten Krieg an die atomare Situation steht J. C. Bennett kritisch gegenüber. Er hält Massenvernichtung in jedem Fall für unannehmbar; die Substanz einer Nation darf dadurch nicht vernichtet werden, so daß keine Wiederherstellung möglich ist. Ebenso lehnt er den atomaren Erstschlag ab. 6.5. Strafrechtlicher Schutz des Kriegsrechts (Problem der Kriegsverbrechen). Wenn der Krieg unter die Norm der Gerechtigkeit gestellt wird, dann muß es auch strafrechtliche Bestimmungen für die Verletzung des Kriegsrechts geben. Als Gewohnheitsvölkerrecht gab es schon in der Antike Strafgewalt über gegnerische Kriegsverbrecher. Im Mittelalter hatten die Päpste kirchliche Strafgewalt. Nach der Reformation übernahm die abendländische Staatengemeinschaft diese Sanktionsgewalt (vgl. Vitoria, De Indis 19,5: Es ist gewiß, daß Fürsten Feinde bestrafen dürfen, die dem Staatswesen Unrecht zugefügt haben). Im 17. Jh. werden die in den Richterbüchern geschilderten Bestrafungen der Feinde Israels als in den Verletzungen des Völkerrechts begründete Sanktionen verstanden. Das Recht der Ausübung der Strafgewalt über gegnerische Kombattanten, die sich völkerrechtswidrig verhalten haben, ist seither fester Bestandteil des Kriegsvölkerrechts. Oppenheim führt 1906 den Begriff des Kriegsverbrechens ein (International Law, New York 1906 u.ö.). In den Waffenstillstandsverträgen nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird der Begriff der Kriegsverbrechen erstmals in offiziellen völkerrechtlichen Texten verwendet. Strittig ist die Frage, ob nur Staaten oder auch Individuen unter die Kompetenz des Völkerrechts fallen. Bestimmend für die internationalen Militärtribunale in Tokio und Nürnberg nach 1945 wurden die in der sog. Martensklausel (Präambel des Abkommens betr. die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18.10.1907) formulierten Normen: die unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuche, die Gesetze der Menschlichkeit und die Forderungen des öffentlichen Gewissens. Diese Bestimmungen wurden auch in die vier Genfer Abkommen von 1949 aufgenommen. Nach allgemeiner juristischer Uberzeugung gehört das Verbrechen gegen den Frieden, also das ius ad bellum bzw. der Bruch des Friedens durch einen Angriffskrieg, nicht zum Begriff des Kriegsverbrechens, sondern nur Verletzungen des ius in bello, also Eingriffe in das Leben, gravierende Eigentumsverletzungen, Sachbeschädigungen und sich auf Leben und Gesundheit auswirkende Gefährdungstatbestände sowie Unterlassung von Handlungen, die durch eine dem Täter gebotene Rechtspflicht geboten sind. Fragwürdig an den Verfahren gegen Kriegsverbrecher ist die Tatsache, daß Kläger und Richter identisch sind. Ein Verfahren vor einem neutralen Gerichtshof hätte die Alliierten von dem Verdacht freigehalten, dem militärischen Sieg eine moralische Vernichtung der Besiegten hinzuzufügen. Fragwürdig ist dieses Verfahren auch dadurch, daß alliierte Kriegsverbrechen, vor allem das Flächenbombardement von Städten, sowie Kriegsverbrechen in späteren Kriegen (Aktion Orange in Vietnam, Massaker von My Lai) nicht geahndet wurden. Die Universalität der Rechtsnormen verlangt aber eine unterschiedslose Anwendung derselben.

6.6. Kritik der Lehre vom gerechten Krieg. Die Lehre vom gerechten Krieg hatte die Funktion, kriegerisches Handeln mit den christlichen Gewissensnormen zu vermitteln. Gegen diesen großkirchlichen Versuch der Legitimation kriegerischer Aktion erhoben sich immer wieder kritische Stimmen (franziskanische Bewegung, Böhmische Brüder, Humanisten und „Schwärmer"). -»Erasmus meditiert 1515 (dt. 1520) über ein gemein Sprüchwort: Der Krieg ist lustig den Unerfahrenen (Dulce bellum inexpertis). Er bezeichnet den Krieg als ein ,viehisch Ding', das nicht zur eigentlichen Natur des Menschen paßt, der doch zum Frieden geschaffen sei. Erasmus durchschaut die Heuchelei bei der Benennung der Kriegsursachen. „Ich begehr nach der Türken Reichtum und wende als Ursache vor die Beschirmung des Glaubens. Ich gib dem Haß statt/und nimm mich an ( = gebe vor) der Kirchen Gerechtigkeit zu verteidigen." Das Argument, im Alten Testament heiße doch Gott der „Herr der Heerscharen" und „Gott der R a c h e " , der den Juden das Kriegführen gestattet, entkräftet Erasmus mittels Spiritualisierung: Es gehe dabei um die Schlachtreihe der Tugenden und die Ausrottung der Laster,

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zudem hätten die Juden nie untereinander Krieg geführt, sondern gegen fremde Völker, die nicht ihres Glaubens waren. „Aber wir Christen streiten mit den Christen." In seiner Schrift Querela pacis (1517) stellt Erasmus fest, d a ß kaum ein Friede so ungerecht ist, als d a ß er nicht dem scheinbar gerechtesten Krieg vorzuziehen wäre.

S. Franck meint in seinem Kriegsbüchlein des Friedens (1539), in diesen letzten Zeiten sei ein gerechter Krieg so selten wie Störche im Winter. — Illusionslos betrachten auch die - • Q u ä k e r den Krieg. Im Friedenszeugnis vom 21.1.1661, das als Eingabe an den König gerichtet war, sagt George Fox: „Wir wissen, daß Kriege und Gefechte den Begierden der Menschen entspringen (Jak 4,3), und der Herr hat uns befreit von dieser Begierde und uns so außerhalb der Veranlassung von Krieg gestellt... Alle Kriege, Feldzüge und Gefechte mit äußeren Waffen verwerfen wir, zu welchem Zweck, unter welchem Vorwand auch immer sie stattfinden." Folgende Punkte sind zur Kritik der Lehre vom gerechten Krieg vorgebracht worden: 1. H a t diese Lehre dazu beigetragen, die Zahl der Kriege überhaupt zu vermindern? Wird nicht jeder Kriegslustige irgendwie die .Gerechtigkeit' seiner Gründe zum Krieg zu konstruieren versuchen, um so sich selbst und seinen Mitkämpfern ein gutes Gewissen zu verschaffen? - 2. Ist diese Lehre nicht zu sehr der Zeit des ritterlichen Feudalismus verbunden, paßt also nicht mehr in die Neuzeit und ist als Theorie von der historischen und militärischen Entwicklung überholt ? - 3. Sollte die Lehre vom gerechten Krieg als prohibitives Regulativ zur Eindämmung von Kriegen dienen, dann bedürfte es einer neutralen schiedsrichterlichen Instanz, die von allen Vertragsparteien anerkannt wird und die die Alleingeltung des Souveränitätsprinzips einschränkt. Das M a n k o liegt hier weniger in der Lehre, als im Fehlen einer wirksamen Exekutive, die Beschlüsse der Vereinten Nationen in die Tat umzusetzen. - 4. Wird dem souveränen Staat das Recht zuerkannt, der Gewalt mit Gewalt zu begegnen und den Zeitpunkt dieser Begegnung selbst zu wählen, dann ist er Richter in eigener Sache. „Dieses angebliche Recht ist wohl der problematischste Punkt der scholastischen Kriegsmoral" (M. Reding, Politische Ethik, Freiburg 1972, 303). Trotz dieser kritischen Einwände können vor allem die beiden Grundsätze der Diskrimination und der Proportionalität als ethische Orientierung für den modernen totalen Krieg dienen. Die Lehre vom gerechten Krieg hält einerseits an der Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten fest (Grundsatz der Diskrimination), wobei die unterschiedslose Vernichtung beider als ethisch nicht verantwortbar statuiert wird, andererseits am Grundsatz der Proportionalität, d. h. die eingesetzten Kampfmittel dürfen den angestrebten Kriegszweck, nämlich die Herstellung eines Zustandes von Frieden und Gerechtigkeit nicht zunichte machen. Da aber die Mittel eines ABC-Krieges in ihren Folgen unabsehbar sind, verletzen sie sowohl den Grundsatz der Diskrimination als auch der Proportionalität und sind daher weder als Verteidigungs- noch als Angriffskrieg ethisch zu legitimieren. Da sich feststellen läßt, daß die ABC-Waffen als fester Bestandteil in den Kriegsplanungen der Großmächte eingeplant sind, ergibt sich als Konsequenz der Lehre vom gerechten Krieg die Forderung nach Abschaffung des Krieges überhaupt als Mittel zwischenstaatlicher Auseinandersetzung. Daher besteht die Erklärung von Amsterdam 1948 zu Recht: Die herkömmliche Annahme, daß man für eine gerechte Sache einen gerechten Krieg führen könne, ist unter solchen Umständen nicht haltbar. Jedenfalls bestand ihr historisches Verdienst darin, daß sie auch im Zeitalter des Nationalismus, Militarismus und Rechtspositivismus „der Bewußthaltung des unerläßlichen ethischsittlichen Grundbestandes politisch-sozialer O r d n u n g " (E.W. Böckenförde/R. Spaemann 178) gedient hat. 4 7.

Kriegsdienstverweigerung

Kriegsdienstverweigerung wird erst dann zum Problem, wenn in einem Land allgemeine Wehrpflicht besteht, die Teilnahme am Kriege für eine allgemeine Bürgerpflicht erklärt wird. Das ist in Europa erst seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon der Fall.

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Erst wenn der Volkskrieg die Regel ist, kann die Wehrpflicht als ,legitimes Kind der Demokratie' (Th. Heuß) gelten. In Staaten wie USA, England oder Holland wirkt die liberale Tradition nach, derzufolge jeder Z w a n g zum Kriegsdienst als Verletzung eines natürlichen Menschenrechts gilt. In England stellte das Gesetz Pitts von 1757 die -»Quäker vom Kriegsdienst frei, in Preußen das Gnadenprivileg von 1780 die Mennoniten und die Kabinettsorder von 1830 die Quäker. In den USA befreite die Entscheidung des Bundesgerichts vom 18.5.1917 nur Angehörige der historischen Friedenskirchen vom Waffendienst, doch wurden durch Order vom 19.12.1917 auch sonstige Gewissensbedenken den religiösen gleichgestellt. Die Niederlande, England und die nordischen Staaten kennen seit dem Ersten Weltkrieg ähnliche Regelungen. Eine restriktivere Behandlung der Frage findet sich neuerdings in den USA, w o seit dem 24.6.1948 nur noch religiöse Bedenken als Grund gegen den Waffendienst anerkannt werden.

Für die deutschen Theologen des 19. Jh. ist die Wehrpflicht selbstverständliche Bürgerpflicht, und „das ist offenbar der edlere Z u s t a n d " , von dem keine Ausnahme gestattet sein sollte (Schleiermacher, Die christliche Sitte, 2 1884,282). Weil die Söldnerheere den Frieden gefährden, die Volksheere dagegen ihn sichern und das Grauen vor dem Krieg steigern, hält W. —•Herrmann die allgemeine Wehrpflicht für eine sittliche Pflicht (Ethik, §28, vgl. schon H. Martensen, Die christliche Ethik, II 1878, §97). Eine Wende im theologischen Denken über den Kriegsdienst des Christen bedeutet das Buch Friede auf Erden (1930) von O. Dibelius. Entgegen der theologischen Tradition, die den Krieg ähnlich wie Erdbeben oder Pest als in Geduld zu ertragende Schickungen Gottes hinnehmen lehrte, kommt er zu der Überzeugung, daß Kriege von Menschen gemacht werden, die Verantwortung dafür also bei den Menschen liegt. „Nein: Krieg soll nicht sein, weil Gott den Krieg nicht will!" (182) Schließlich fordert Dibelius, daß in Z u k u n f t die Kirche über die Kriegsdienstverweigerer die Hände halten muß, denn kein Staat hat das Recht, das Gewissen eines Menschen zu vergewaltigen. Was aus dem Glauben geht, hat höheres Recht als alle staatlichen Ordnungen und Gesetze. Dabei möchte Dibelius Kriegsdienstverweigerung aus Gründen des christlichen Gewissens streng unterschieden wissen von politischer Sabotage am bestehenden Staat. Ähnlich plädiert E. -»Brunner (Das Gebot und die Ordnungen, 1933) für eine Unterscheidung des gleichsam ,zeitlosen' Kriegsproblems und dem aktuellen. Die Gestalt des modernen Krieges mit dem totalen Einsatz der materiellen und vitalen Kräfte der Völker ist in nichts mehr zu vergleichen mit dem frisch-fröhlichen Krieg der Vergangenheit. Der Krieg als unberechenbar gewordenes allgemeines Völkerunglück hat alles obsolet gemacht, was man früher mit einigem Recht zugunsten des Krieges sagen konnte. „Aus politischer Verantwortlichkeit muß heute jeder Staatsmann ebenso für die Beseitigung des Krieges sich einsetzen, wie ein Schiffskapitän für das Löschen eines Brandes, der auf seinem Schiff ausgebrochen ist. Pazifismus ist heute die einzige politische Vernunft, - aber eben der realistische Pazifismus . . . " (664). 1950 begrüßt die Synode der EKD von Berlin-Weißensee den staatlich garantierten Verfassungsschutz der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und versichert diese der Fürsprache und Fürbitte der Kirche. Theologen wie Künneth und Thielicke erkennen zwar den Kriegsdienst als notwendigen Dienst an der Erhaltungsordnung des Staates an, geben jedoch Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Möglichkeit frei, wenn diese frei ist von egoistisch-opportunistischen Motiven und die Kriegsdienstverweigerer bereit sind zu Ersatzdienst. Ohne daß der Weg der Kriegsdienstverweigerung als Status einer,höheren Christlichkeit' verstanden wird, könne in der apokalyptischen Situation der Gegenwart diese Form der konkreten Distanzierung vom Krieg zur eschatologischen Grenzmöglichkeit werden. Thielicke (Theol. Ethik II/2,641 ff) gibt zu, daß es als Gewissensgrund nicht nur die Orientierung an überzeitlichen religiösen oder weltanschaulichen Normen geben könne, sondern auch kasuistischen Situationsbeurteilungen die Dignität von Gewissensentscheidungen zuerkannt werden müsse. 5 In der katholischen —• Moral theologie ist die Frage der Kriegsdienstverweigerung

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nicht lehrgesetzlich geregelt. Wenn dem Staat als .vollkommener Gesellschaft' das Recht zusteht, die Interessen der Allgemeinheit zu schützen, ist Waffendienst die normale Pflicht der Bürger, es sei denn der Krieg ist offensichtlich ungerecht, in diesem Fall ist Dienstverweigerung nicht nur erlaubt, sondern sogar Pflicht. Das -»Vatikanum II fordert, daß „Gesetze für die in humaner Weise Vorsorge treffen, die aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigern, vorausgesetzt daß sie zu einer anderen Form des Dienstes an der menschlichen Gemeinschaft bereit sind" (Gaudium et Spes 79). 6 In der juristischen Diskussion ist die Frage nach dem Rechtscharakter der Kriegsdienstverweigerung erörtert worden: Ist diese ein allgemein einklagbares Menschenrecht oder ein Ausnahmerecht, das nur f ü r das Rechtsgebiet der Bundesrepublik Deutschland Geltung hat, die als bisher einziges Land das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in den Grundrechtsteil ihrer Verfassung aufgenommen hat? Jedenfalls ist Kriegsdienstverweigerung in den z. Z t . geltenden Menschenrechtskatalogen (UNO-Charta von 1948; Weltpakte für politische, soziale usw. Rechte von 1966; Europäische Menschenrechtskonvention von 1950) nicht ausdrücklich genannt, woraus zu schließen ist, daß „eine internationale und durch Rechtsvergleichung festzustellende Allgemeinauffassung über das Recht zur KDV offenbar nicht besteht" (Doehring 48). Da das Recht zur Selbstverteidigung zu den originären Rechten eines jeden Staates gehört, darf auch die Erfüllung der Wehrpflicht von den Bürgern verlangt werden. In diesem Sinne geht die Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland davon aus, daß es sich bei der Kriegsdienstverweigerung nur um ein für den Wehrdienst im eigenen Staat geltendes Recht handelt. Den Status als völkerrechtlich verbindliches Menschenrecht hat die Kriegsdienstverweigerung nicht, wenn etwa Art. 4 und 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention zwar Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit garantieren, jedoch Beschränkungen im Sinne eines nationalen Gesetzesvorbehalts für zulässig erklären. Es bedarf also jeweils der Positivierung der Kriegsdienstverweigerung als „Menschenrecht" in einer staatlichen Rechtsordung, wenn eine Berufung auf dieses Recht rechtspolitisch durchgesetzt werden soll.

Das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht wird durch das am 1.1.1984 in Kraft getretene Kriegsdienstverweigerungsgesetz geregelt. Grundlage ist die Berufung auf Art. 4, Abs. 3 des GG: Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Gesetz vom 28.2.1983 bestimmt außerdem, daß anstatt des Wehrdienstes Zivildienst außerhalb der Bundeswehr als Ersatzdienst gemäß Art. 12a, Abs. 2 GG zu leisten ist. Gewissen wird hier verstanden als „real erfahrbares seelisches Phänomen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote des unbedingten Sollens sind" (Fritz/Baumüller/Brunn 54). In dem Anerkennungsverfahren, durch das die Glaubwürdigkeit eines Kriegsdienstverweigerers geprüft werden soll, wird sowohl die prinzipielle, grundsätzlich pazifistische wie die situationsbedingte Kriegsdienstverweigerung, die die Teilnahme an einem bestimmten Krieg oder die Verwendung bestimmter Waffen ablehnt, als Motivation anerkannt. Die im Prüfungsverfahren angewandte Gewissensforschung darf nicht so weit gehen, daß eine einmal getroffene Gewissensentscheidung als ,irrig, falsch oder richtig' bewertet werden dürfte. Der Kern des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung liegt darin, daß für einen Wehrpflichtigen der Gedanke, im Kriegsfalle Menschen mit der Waffe töten zu müssen, zu einer derartigen Gewissensbelastung wird, daß ein Zwang bei ihm schweren seelischen Schaden auslösen würde. Da Wehrdienst in Friedenszeiten nicht vom Ernstfall im Kriegseinsatz zu trennen ist, muß der Gewissensschutz nicht erst im Kriegsfall einsetzen, sondern schon im Frieden. Als glaubensbedingte Motive gelten die Nichtvereinbarkeit des Tötens im Kriege mit dem als absolut verstandenen Tötungsverbot, die Auffassung, das Leben sei ein einziger Gottesdienst oder die Angst vor dem Verlust des ewigen Lebens bei Beteiligung am Kriege. Daneben werden allerdings auch nicht religionsbedingte Motive zugelassen, wie verstandesmäßige, ethische oder weltanschauliche Motive, jedoch nicht eine dem Staat und dessen Staatsform gegenüber kritische oder negative Einstellung, bloße Unlustgefühle, Vorurteile oder Angst vor dem Einsatz des eigenen Lebens.

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Die in der Bundesrepublik Deutschland angewandte Praxis ist kritisch diskutiert worden. 1. Ist das Gewissen justiziabel? Gibt es zuverlässige Kriterien, die echte Gewissensentscheidung und -not von vorgetäuschter unterscheiden lassen? Führt diese Praxis nicht zu einem „Massenverschleiß des Gewissens" (D. Bald)? Handelt es sich gar um eine Neuauflage der Inquisition? - 2. Wenn sich jeder vom Wehrdienst abmelden kann, expandiert dann nicht der Freiheitsschutz der Bürger und ufert aus zum Mißbrauch (H.-J. Becker)? - 3. Sind die Beweisschwierigkeiten im Anerkennungsverfahren nach Art. 4,3 BGG nicht so groß, daß dieses selbst letztlich doch der Willkür der Ausschußmitglieder ausgeliefert ist? — 4. Ist der zivile Ersatzdienst tatsächlich so gestaltet, d a ß er Raum gibt für das Friedenszeugnis der Kriegsdienstverweigerer?

Trotz dieser Bedenken tritt die Kirche dafür ein, daß der Staat das Individualgewissen respektiert, weil eine Nichtrespektierung der Zerstörung der Menschenwürde gleichkäme und den Menschen zur unverantwortlichen Marionette machen würde. Als Gewissensbindung ist nicht nur die Bindung an unveränderliche Prinzipien anzuerkennen (Tendenz der katholischen Theologie!), sondern auch der aus der Situation sich ergebende Ruf (situationsethische Begründung). Wenngleich das Gewissen nicht justiziabel ist (so Gollwitzer 281), so kann doch dem Verweigerer wegen der Verwechselbarkeit seines Tuns mit Verweigerungen aus anderen Motiven zugemutet werden, die Glaubwürdigkeit seiner Entscheidung prüfen zu lassen und seine Gründe verbal darzulegen. Jedoch sollte auch hier wie in anderen Verfahren im Zweifelsfall der Grundsatz gelten: in dubio pro reo. Die Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer trat 1983 in einer an das Europaparlament gerichteten Erklärung dafür ein, daß das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in die europäische Menschenrechtskonvention aufzunehmen sei, denn es dürfe kein von der Obrigkeit verliehenes, sondern müsse unmittelbar geltendes Bürgerrecht sein; zudem sei auf die Gewissensprüfung zu verzichten und ein sinnvoller Friedensdienst als Alternative zum Wehrdienst zu entwickeln. Jedenfalls unterstützen die Kirchen die Tendenz auf Entkriminalisierung der Kriegsdienstverweigerung. So schlägt z. B. der Schweizer Kirchenrat eine Revision des Schweizer Militärstrafrechts vor, nach dem Kriegsdienstverweigerer mit anerkannten ethischen oder religiösen Beweggründen statt der bisher üblichen Haftstrafe eine Art Arbeitsdienst absolvieren sollten, da die Schweiz die Alternative des Zivildienstes nicht kennt. Das Kriegsdienstverweigerungsgesetz vom 1.1.1984 sieht eine Vertretung durch Personen von Kirchen- und Religionsgemeinschaften vor. Alle Religionsgemeinschaften mit öffentlich-rechtlichem Status sind zu dieser Funktion berechtigt. Für die Betreuung der Kriegsdienstverweigerer haben die evangelischen und katholischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland Beratungsstellen eingerichtet, die von den Kriegsdienstverweigerern kostenlos in Anspruch genommen werden können. Bei dauernden Wehrdienstausnahmen ist keine Ausschußentscheidung notwendig. Dazu gehören ordinierte Geistliche evangelischen Bekenntnisses, Geistliche römisch-katholischen Bekenntnisses, die die Subdiakonatsweihe empfangen haben, hauptamtlich tätige Geistliche, deren Amt dem der eben genannten entspricht, Schwerbehinderte, Heimkehrer, die nach dem 1.7.1953 von der Gewahrsamsmacht entlassen wurden, sowie einzige Söhne. Auch Entwicklungshelfer, nach Berlin verzogene Wehrpflichtige, Helfer im Zivil- und Katastrophenschutz, Theologiestudenten und im Vollzugsdienst der Polizei stehende Wehrpflichtige sind vom Wehrdienst befreit. Noch ungelöste und in der theologischen Literatur bisher noch kaum reflektierte Probleme sind folgende: 1. Ob Frauen auch zum Wehrdienst herangezogen werden sollen, wie dies in vielen Armeen der Gegenwart bereits der Fall ist, z. B. USA und Israel. Die Frage müßte im Rahmen der Problematik der -»Emanzipation bedacht werden. Wenn Frauen Wert darauf legen, mit den Männern gleichbehandelt zu werden, dann ist nicht einzusehen, warum sie auf Dauer von der Wehrpflicht ausgenommen bleiben sollen. Zwei Differenzierungen erscheinen allerdings sinnvoll: Einmal daß Wehrpflicht für Frauen freiwillig ist, sodann daß sie in nicht-kämpferischen Funktionen innerhalb des Wehrverbandes eingesetzt werden. Eine zweite Frage steht noch im Stadium der Diskussion: Kann

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Kriegsdienstverweigerern, die als solche anerkannt sind, die Zahlung von Steuern zugemutet werden, die für militärische Ausgaben verwendet werden? Soll ihnen also der für militärische Zwecke stipulierte Steueranteil erlassen werden? Eine Bundesgerichtsentscheidung steht für die wenigen in der BRD anhängigen Fälle noch aus. 8. Wehrdienst der

Theologen

Die Befreiung der Kleriker vom Wehrdienst wurde bereits seit Konstantin dem Großen der Kirche gewährt. Sie hat ihr Vorbild im römischen Heidentum (vgl. Origenes, c. Cels. 8,73 f: Selbst die heidnischen Priester, welche den Dienst in den Tempeln versehen, dürfen wegen der Opfer ihre Hände nicht beflecken, auf daß sie mit Händen, an denen kein Menschenblut klebt, den Göttern die gebührenden Opfer darbringen können ...). Aus derselben Ursache ziehen die Priester und Diener Christi nicht ins Feld, aber sie beteiligen sich geistigerweise am Krieg, indem sie mit ihren Gebeten für diejenigen kämpfen, welche für eine gerechte Sache Waffen tragen. In diesem Sinne legt Cod.Theodos. (leg. 16 tit.2, lib.7) fest: Die im Dienste der Religion stehen und die Kleriker genannt werden, sind überhaupt von allen Lasten ausgenommen. Für das kanonische Recht des Mittelalters stand fest, daß die Immunität der Kleriker sich nicht dem Wohlwollen des Staates verdankt, sondern göttlicher Anordnung (5. Laterankonzil 1512; Tridentinum Sess.25, de reform.c.20). Darum verurteilte die katholische Kirche den Satz des modernen Rechtspositivismus, die Immunität der Kirche und der kirchlichen Personen verdanke ihren Ursprung dem weltlichen Recht (Pius IX., Syllabus 30). Andererseits galt die Teilnahme an Kriegen und die Zugehörigkeit zum Soldatenstand seit alters als Weihehindernis (Belege bei H o f m a n n ) . In sämtlichen Konkordaten, die von den Päpsten im 19. Jh. abgeschlossen wurden, war die Militärfreiheit der Geistlichen verankert. In dieses Privileg waren auch die Theologiestudenten, Seminaristen und Novizen eingeschlossen. Im Gegensatz zu den Langobarden und Westgoten, die auf der Wehrpflicht der Bischöfe und Kleriker bestanden, verfügte Karl der Große auf Ermahnung des Papstes hin, daß Priester nicht kämpfen dürften, sondern nur einige zur Seelsorge der Krieger zur Verfügung stehen sollten (Capitulare von 803). Er verurteilt die in Spanien, Gallien und bei den Langobarden geübte Praxis, denn „wie sollte dort Sieg verliehen werden, wo die Priester jetzt die heiligen Geheimnisse feiern und den Christen den Leib des Herrn zum Heile der Seelen darreichen, dann aber eben jene Christen, denen sie dieses Heilige darbieten mußten, oder Heiden, denen sie Christentum hätten verkündigen sollen, mit eigener und sakrilegischer Hand hinmorden".

Die Aufhebung der Militärfreiheit der katholischen Geistlichkeit steht im Zusammenhang mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jh. Man argumentierte, mit der Verpflichtung sämtlicher waffenfähiger Männer zum Waffendienst vertrüge es sich nicht, wenn ein ganzer Stand davon ausgenommen würde. Nachdem Preußen als erster moderner Staat 1814 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt hatte, erging 1835 eine Kabinettsorder, nach der die Studierenden der katholischen Theologie „wegen des bestehenden Priestermangels" für die Friedenszeit vom Dienst durch Zurückstellung befreit wurden. Diese Befreiung wurde 1855 auch auf die evangelischen Theologen ausgedehnt. Nach 1871 galten diese Regelungen für die Theologen in allen deutschen Bundesstaaten. Österreich und Rußland hielten trotz allgemeiner Wehrpflicht die Militärfreiheit der katholischen Geistlichkeit aufrecht, während Italien und Frankreich dies trotz des Protestes der Päpste nicht taten. Als 1886 die Zentrumspartei im deutschen Reichstag einen Antrag auf Befreiung der Theologen vom Wehrdienst einbrachte, protestierte die evangelische Seite dagegen, weil man in der Exemtion des geistlichen Standes eine Degradation desselben sah sowie eine Verletzung der Bürgerehre der jungen Theologen. „Wir wollen von der allgemeinen Pflicht, welche die Söhne unsres Volkes dem Vaterland gegenüber zu erfüllen haben, nicht ausgeschlossen sein" (ChW 1887,26ff). Bewußt distanzierte man sich von einer paritätischen Übertragung des katholischen Prinzips von der besonderen Heiligkeit des Priesterstandes auf die evangelische Geistlichkeit. Die im deutschen Protestantismus herrschende patriotische Stimmung sowie die antikatholische Tendenz des -»Kulturkampfs und nicht zuletzt das Interesse an der Standesehre der Pfarrer, denen die Möglichkeit Reserveoffizier zu werden offen stehen sollte, erklären das Drängen auf Wehrdienst der Theologen.

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In der Z e i t des -»Nationalsozialismus gab es keine Befreiung vom Wehrdienst, auch nicht für Geistliche, vielmehr stand auf Kriegsdienstverweigerung die Todesstrafe. (Der einzige Fall eines zum T o d e verurteilten kriegsdienstverweigernden Theologen ist Hermann Stöhr; vgl. dazu E. R ö h m . ) N a c h 1945 galt die Befreiung vom Wehrdienst 1. für ordinierte Geistliche des römischkatholischen und des evangelischen Bekenntnisses, 2. für Geistliche des römisch-katholischen Bekenntnisses, die die Subdiakonatsweihe empfangen haben, 3. für hauptamtliche Geistliche anderer Bekenntnisse, deren Amt dem eines römisch-katholischen oder evangelischen Geistlichen entspricht. In der Schweiz haben Geistliche, die nicht als Feldprediger eingeteilt sind, keinen Militärdienst zu leisten, sind jedoch nicht von der Hilfsdienstpflicht und der Militärsteuerpflicht befreit. Die 1974 von der E K D an die Bundesregierung herangetragene Anregung, die Befreiung der Pfarrer bzw. die Zurückstellung der Theologiestudenten vom Wehr- und Zivildienst aufzuheben, hatte keinen Erfolg, weil die römisch-katholische Kirche für ihren Bereich nicht zustimmte. So blieb es, vor allem auch angesichts der ,Theologenschwemme' der 80er J a h r e bei dem dringenden R a t an die Studenten, nach dem Abitur nicht sofort mit dem Studium zu beginnen, sondern zunächst Wehr- oder Zivildienst zu leisten. Die Gründe für diesen R a t sind folgende: 1. Die Rückstellungsmöglichkeit verschafft den Theologiestudenten einen gegenüber den Kommilitonen anderer Fakultäten und gegenüber den nicht-akademischen Altersgenossen unfairen zeitlichen Vorteil; 2. die Rückstellungsmöglichkeit enthebt die Theologiestudenten der Gewissensentscheidung zwischen Wehrdienst und Zivildienst, was die Glaubwürdigkeit des künftigen Pfarrers beeinträchtigt; 3. Studenten, die zwischen Abitur und Studienbeginn Wehr- oder Zivildienst absolviert haben, haben ,Welt' kennengelernt und kommen mit größerer menschlicher Reife ins Studium. Anmerkungen 1

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1944: Kommissionsbericht des Federal Council of Churches of Christ in America Atomic Warfare and the Christian Faith; 1946: Bericht des British Council of Churches The Era of Atomic Power; 1948: Kommissionsbericht der Church of England The Chtirch and the Atom; 1950: Bericht des FCCC The Christian Conscience and Weapons of Mass Destruction; 1955: Bericht des ökumenischen Rates der Kirchen The Churches and the Hydrogen Bomb; 1959: Bericht des British Council of Churches Christians and Atomic War, 1982: Bericht der Church of England The Church and the Bomb. Theologische Erklärung der kirchlichen Bruderschaften vom 2./4.10.1958 und Thesen des Reformierten Bundes von 1982. Vgl. Franz Böckle, Ethik und Strategie: Briefdienst 3/86 des Arbeitskreises .Sicherung des Friedens'; Hirtenbrief der katholischen Bischöfe in den USA: The Challenge ofPeace vom 3.5.1983; Resolution des ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983: Herstellung und Einsatz von Kernwaffen - Verbrechen gegen die Menschheit. Ähnlich urteilen auch die Handreichung der Holländischen Reformierten Kirche von 1979; Gerechtigkeit schafft Frieden - Hirtenwort der Deutschen Bischofskonferenz vom 18.4.1983, und der Kommentar Peace and Politics der Lutheran Church in America von 1984. Vgl. auch die Heidelberger Thesen von 1959; Thesenreihe der EKD: Der Friedensdienst der Christen (1961) mit Plädoyer für den Wegfall der in der BRD üblichen Gewissensprüfung. Vgl. auch die Forderung der römischen Bischofssynode von 1971 (AAS 63 [1971] 923-982) und das Manifest Gerechtigkeit schafft Frieden! der Westdeutschen Bischofskonferenz von 1983. Literatur

Die hier aufgeführten Titel sind nur eine begrenzte Auswahl aus der überreichen Literatur zum Thema und beschränken sich im wesentlichen auf die Jahre 1950 ff. Bibliographien (s. auch Lit. zu -»Frieden): Franz Herre/Hellmuth Auerbach (Hg.), Bibliogr. zur Zeitgesch. u. zum 2. Weltkrieg f. die Jahre 1945-1950, München 1955. - Nelson R. Burr (Hg.), Religion in American Life, Princeton 1961, bes. Kap. 3—7. — IDOC-Bibliogr. (enthält Stellungnahmen überregionaler Gremien wie Konferenz Europ. Kirchen, Christi. Friedenskonferenz, Pax Chri-

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Einzelnes (chronologisch): Erklärung des Exekutivkomitees des Luth. Weltbundes zum Frieden, Turku 1981, Kirchen f. den Frieden, Stuttgart u.a. 1983 (Lit.) = Baadte, s.o., 207-210. - Anregungen u. Empfehlungen der Generalversammlung des Ref. Weltbundes zum Thema „Friede u. Gerechtigkeit", Ottawa August 1982, epd-Dok. Nr. 44/1982, 89 = Baadte, s.o., 210. - 6. Vollversammlung des ökum. Rates der Kirchen in Vancouver 1983 - Erklärung zu Frieden u. Gerechtigkeit. Bericht aus Vancouver 1983, hg. v. Walter Müller-Römheld, Frankfurt 1983, 163-168 = Baadte, s.o., 212-217. - Christen u. Kriegsverhütung. Texte zur Haltung der kath., anglik. Kirchen u. des Luth. Weltbundes, epd-Dok. Nr. 51 (1983). Allgemeines Historische und politologische Literatur: Horst Afheldt, Verteidigung u. Frieden, München 1976. - Raymond Aron, Les guerres en chaîne, Paris 1951; dt.: Der permanente Krieg, München 1953. - Ders., Paix et Guerre entre les Nations, Paris 3 1962; dt.: Frieden u. Krieg. 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Kriegerdenkmäler (Literatur S. 60) Das Christentum hat in seiner Geschichte wechselnde Einstellungen zum -•Krieg eingenommen. Die Geschichte der Kriegerdenkmäler spiegelt diese nur begrenzt und ausschnittsweise. Meist sollte dem Kriegstod nachträglich Sinn und Rechtfertigung verliehen werden. Vordergründig betrachtet, dienten in Deutschland - auf das sich dieser Artikel beschränkt - in vielen Fällen Innenräume von Kirchen und Kirchengelände zur Aufstellung von Kriegerdenkmälern. In deren Inschriften wurden Bibelworte zitiert. Ihre Ikonographie bediente sich des christlichen Repertoires. Geistliche regten ihre Stiftung an und Kirchengemeinden finanzierten sie. Bei der Einweihung sprach häufig der Ortspfarrer. Das Engagement der Kirchen wechselte. Die Geschichte der Kriegerdenkmäler läßt sich u. a. unter dem Gesichtspunkt schreiben, in welchem M a ß zur jeweiligen Zeit christliche Motive auftraten und welche Aussage sie über den Kriegstod trafen. Schon im 14. Jh. wurden vereinzelt in Kirchen und Kapellen Gedenktafeln für Gefallene aufgehängt. In der katholischen Heiligkreuz-Kapelle von Weil der Stadt befindet sich Deutschlands vermutlich ältestes Kriegerdenkmal: eine Tafel mit rund 60 N a m e n von Bürgern, die 1388 in der Schlacht bei Dörffingen fielen, als die Reichsstädte Eberhard dem Greiner unterlagen. Danach ging in der Renaissance und im Barock das Gedächtnis der Kriegstoten im Lob des Landesherrn oder des Heerführers unter. Der uns heute gewohnte Typ des Kriegerdenkmals entstand erst im späten 18. Jh. Erst seitdem traten wieder Monumente auf, die an alle Gefallenen einer Schlacht oder aus einer Gemeinde erinnerten, wie das Hessendenkmal in Frankfurt a . M . 1793. Der Umbruch im späten Jahrhundert hatte dabei zur Folge, daß in den Namenlisten am Sockel der Denkmäler auch die gemeinen Soldaten erwähnt wurden. Sicher bestand der Hauptgrund für diese Veränderung in der Umorganisation vom Söldnerheer über das stehende Heer zum Bürgerheer. Das Bürgerheer gab es in Deutsch-

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land seit dem Aufruf des preußischen Königs „An mein Volk" (1813), juristisch seit dem preußischen Gesetz zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1814). Der damals entstandene neue Typ des Bürgers in Uniform zog Folgen für die Motivation der Soldaten nach sich, die jetzt nur noch auf Zeit Militärdienst leisteten. Wer nur zeitweise als Soldat dient, bewahrt - anders als der Söldner - immer die Hoffnung auf das baldige Ende des Kriegs. Er ist nicht auf Sold und Beute angewiesen, sondern sehnt die Rückkehr ins Zivilleben herbei. Daher bedurfte es neuer Identifikationsangebote, um das Bürgerheer zu motivieren. Eben an dieser Stelle setzte die damals neue Kriegspropaganda ein, die den Krieg als verdienstvollen Einsatz für König und Vaterland pries. Immerhin ereignet sich der Tod im Krieg stets verfrüht und von Menschenhand, anders als der natürliche Tod, den jeder Mensch erleidet. Die Frage, Warum schon jetzt, und die Frage nach dem Sinn des Sterbens im Krieg unterscheiden den Kriegstod vom natürlichen. Beide Fragen aber verleihen dem Kriegstod eine semantische Offenheit. Der natürliche Tod wurde von christlicher Tradition aus verstanden und gedeutet, wie die Denkmaltypen und Inschriften auf Friedhöfen belegen. Bei den analogen Kriegerdenkmälern wurden ebenfalls christliche Motive deriviert. König und Vaterland nahmen als höhere Werte des menschlichen Handelns eine Bedeutung an, die die irdische Sphäre transzendieren sollte. Insofern geschah der Kriegstod zwar im Blick auf irdische Ziele, jedoch auf Ziele jenseits des Alltags, eben irdisch transzendente Normen richtigen Handelns. Der Umbruch zur profanen Religiosität der Kriegerdenkmäler erklärt die Häufigkeit christlicher Motive auf ihnen. Als Beispiel des Wandels kann der Erzengel Michael dienen, der zum deutschen Michel mutierte, dem männlichen Gegenstück zur Germania. Das beste Beispiel aber liefert das 1813 gestiftete Eiserne Kreuz. Der preußische Verdienstorden ersetzte das christliche Kreuz im zweckgebundenen Funktionszusammenhang der Kriegerehrung. Er war als Verdienstorden für jedermann erreichbar und führte insofern ein scheinbar demokratisches Prinzip ein. Wie er den Uberlebenden zu Lebzeiten verliehen wurde, so auch postum den Gefallenen. Nach dem Erlaß Friedrich Wilhelms III. vom 5. Mai 1813 sollten in sämtlichen preußischen Kirchen Gedenktafeln nach einem Entwurf Schinkels aufgehängt werden, die oben in der Mitte das Eiserne Kreuz trugen. Unter der Überschrift Aus diesem Kirchspiele starben für König und Vaterland folgten die entsprechenden Namen der Gefallenen. Ihr Tod wurde im Nachhinein als promonarchischer und vaterländischer funktionalisiert. Indem sich der preußische König selbst vor das Vaterland setzte, nutzte er den Patriotismus der Befreiungskriege zur Stützung seiner Monarchie. Die Rolle jener „Helden", derer auf Kriegerdenkmälern gedacht wird, sollte mit der christlicher Märtyrer verglichen werden. Sie gaben ihr Leben für König und Vaterland, wie jene für Gott und den Glauben. Beide liefern in ihrem Funktionszusammenhang Vorbilder, denen die Uberlebenden nacheifern sollen. Ihr Anspruch richtet sich in erster Linie in die Zukunft: Die Heroisierung der Gefallenen zu vorbildlichen Helden dient prospektiv dem Appell zu ihrer Nachfolge. Diese besteht in der Verteidigung des je gegebenen Gesellschafts- und Herrschaftssystems. Insofern gehen die drei Modi der Zeit in die Wirkungsstruktur von Kriegerdenkmälern ein. Der gleichzeitige Blick in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spricht z. B. aus der Widmung des ersten Nationaldenkmals der Befreiungskriege, des Kreuzbergdenkmals in Berlin von 1821: „Der Koenig dem Volke/das auf seinen Ruf hochherzig/Gut und Blut dem Vater/lande darbrachte den Gefal/lenen zum Gedaechtniß den/ Lebenden zur Anerken/nung den künftigen Geschlech/tern zur Nacheiferung". Der Text wurde noch nach dem Zweiten Weltkrieg auf Denkmälern häufig zitiert, dann allerdings meist ohne den Blick in die Zukunft. Ursprünglich war als Nationaldenkmal übrigens ein Kirchenbau in gotischem Stil geplant; übrig blieb davon eine riesige neugotische Fiale. Unter den künstlerischen Stilen, die nach den Befreiungskriegen auf Kriegerdenkmälern vorkamen, schloß sich der -»Klassizismus dem internationalen Zeitstil an. Daneben gab es als damals neue und typisch deutsche Stile die Neugotik und germanisierende

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Motive. Bei der Neugotik läßt sich zeigen, daß die Stiftungen anfangs fast alle auf den preußischen König zurückgingen. Die „Neudeutsch religiös-patriotische Kunst" — wie der Zeitgenosse Meyer sie nannte - lieferte ein Mittel zur promonarchischen Propaganda beim Bürgertum. Die germanisierenden Motive hingegen - Bäume, Haine, Findlinge stammten fast durchweg von bürgerlichen Stiftern, die darin ihren eigenen Stil zu begründen suchten. Dieser sollte beim Gedächtnis der Gefallenen ohne den Hinweis auf die Monarchie und den preußischen König auskommen. Dementsprechend wurde die Aufstellung solcher Denkmäler im Zeitalter der -»•Restauration in der Regel verboten. Ein gewonnener Krieg veranlaßte weit weniger zur Verwendung christlicher Motive auf Denkmälern als ein verlorener. Nach einem gewonnenen Krieg tröstete der immerhin erlangte Sieg über Verlust und Trauer hinweg. Daher konnten nach 1870/71 die Gefallenen zu Märtyrern des neuen Kaiserreichs stilisiert werden. Nur vergleichsweise selten traten damals christliche Bildthemen oder Sinnsprüche auf Denkmälern auf. Unter den künstlerischen Stilen ersetzte der Neubarock den Klassizismus. Die Neugotik hielt sich, dominierte jedoch nicht mehr so deutlich wie nach den Befreiungskriegen. Die germanisierenden Motive setzten sich in den neunziger Jahren endgültig durch, als der Findling bei kleinstädtischen/dörflichen Denkmälern an die Stelle des Obelisken trat. In der ständischen Zuordnung der Stile setzte durch Aufhebung der Differenzen ein Wandel ein. Im Bildungsbürgertum des Kaiserreichs verwischten die Grenzen zwischen bürgerlichen Interessen und promonarchischem Bekenntnis. Der christliche Formenschatz beschränkte sich auf die Wiedergabe der vorbildlichen Krieger Michael und Georg. Die Aufstellung von Denkmälern in Kirchen bildete jetzt die seltene Ausnahme; sie bevölkerten die zentralen Plätze der Gemeinden. Christliche Texte kamen lediglich auf Monumenten vor, die von Kirchengemeinden oder Privatpersonen gestiftet wurden. Bei ihnen stand Trauer im Vordergrund, nicht - wie sonst nach 1871 der Sieg, der Kaiser und das Rcich. Das neue Nationaldenkmal auf dem Niederwald zeigte eine stolze Germania, die dem Reich die Kaiserkrone bringt. Typisch für das Kaiserreich war die Verwendung von Bibelzitaten, die sowohl eine christliche als auch eine profane Deutung erlauben. Hierzu gehörten insbesondere die Stellen Apk 2,10 „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben" und Joh 15,13 „Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben lasset für seine Brüder (Freunde)". Wo von Gott die Rede war, machte man ihn implizit zu einem deutschen Gott und Helfer beim Sieg: „Gott mit uns". Dahinter stand der Anspruch eines Kaiserreichs von Gottes Gnaden. In Einzelfällen dienten Bibelzitate dazu, den Tod der Gefallenen mit Christi Opfertod am Kreuz zu parallelisieren. In den neunziger Jahren begann eine stilistische Reformbewegung. Der Neoklassizismus der Münchner Sezession setzte sich gegen den Neubarock durch. Während des Ersten Weltkriegs wurden auffallend viele christliche Kreuze geplant und ausgeführt. Sie standen insbesondere auf den neuen Soldatenfriedhöfen an der Ost- und Westfront. Bei den Inschriften fällt auf, daß eine Erwähnung des Kaisers schon während des Weltkriegs fast ausnahmslos fehlte. Die Monarchie - so scheint es - war von zahlreichen Stiftern bereits geistig überwunden, ehe sie durch die Revolution von 1918 abgeschafft wurde. Der -»Nationalismus aber überlebte. Heraus kam eine neue Synthese von christlicher und nationaler Sinngebung des Kriegstods. In mancher Hinsicht läßt sich die Situation während des Ersten Weltkriegs mit der 100 Jahre zuvor vergleichen. Die Ablehnung älterer Stile und Motive führte zu einem neuen Klassizismus. Kirchen wurden als Denkmäler geplant bzw. neu gebaut. Der Michael ersetzte jetzt wieder den deutschen Michel, der durch die Karikatur zur täppischen Spottfigur geworden war. Dabei ging der Erzengel eine neue Synthese mit dem germanischen Götterglauben ein: Er sollte in der indogermanischen Nachfolge Odins stehen, als Lichtund Schlachtengott sowie als Seelengeleiter. In den Inschriften hielt sich die Verwendung auch säkular zu verstehender Bibelzitate. Die hohe Zahl der Kriegstoten machte aber einen Trost nötig, den man im christlichen

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Glauben suchte. Dabei verliehen christliche Motive den Denkmälern einen sakralen Charakter, etwa wenn auf dem deutschen Soldatenfriedhof von Wicres-Village die Aufforderung Gottes an Moses abgewandelt wurde: „Wanderer, entblöße Dein Haupt,/ Du stehst an heiligem Orte,/ Kreuze — von Lorbeer umlaubt —/Verkünden gewaltige Worte:/ Helden, gefallen im Ringen / Deutschlands, um Ehre und Sein!/ Nie wird ihr N a m e verklingen,/Geheiligt soll er uns sein" (vgl. Ex 3,5). Während des Ersten Weltkriegs läßt sich bei der evangelischen Kirche ein deutlich größeres Engagement für den Krieg als bei der katholischen feststellen. In den Predigten wurden biblisches Heilsgeschehen und Weltgeschichte als identisch verkündet. In der patriotischen Begeisterung sollte — wie Pressel herausarbeitete — der Heilige Geist unmittelbar am Werk sein. Vom Nachvollzug des Selbstopfers Christi im Soldatentod erhoffte man sich das ewige Leben. Als sich der Krieg immer länger hinzog, schöpfte die Kirche aus dem Evangelium den „Glauben an das Walten göttlicher Liebe" (Kiehl). Die zeitgemäßen Schlagworte wie Volksgemeinschaft und Frontkameradschaft sollten in der kirchlichen Glaubensgemeinschaft längst verwirklicht sein. Bei der relativen Zurückhaltung der katholischen Kirche spielte noch immer der -•Kulturkampf der siebziger Jahre eine Rolle. Erst seit der Militärvorlage von 1893 hatte sich die Zentrumspartei zunehmend national ausgerichtet. Weniger deutlich als die evangelische Kirche vollzog die katholische die Gleichsetzung von irdischer und himmlischer Sphäre. Jedoch engagierten sich die katholischen Priester bei der Einweihung von Denkmälern genauso wie ihre evangelischen Kollegen. Nach Kriegsende geriet die konservative Sinngebung des Kriegstodes in eine Krise. Unter den künstlerischen Stilen traten jetzt Klassizismus und Realismus in den Vordergrund. Germanisierende und christliche Motive gab es etwa gleich häufig, wenn auch an unterschiedlichen Aufstellungsorten. Die Bäume, Haine und Findlinge standen in der Natur und häufig vor den Bebauungsgrenzen der Gemeinden, während die christlichen im oder vor dem Kirchenraum oder auf dem Friedhof vorkamen. Ihre Aussagen differierten. Klassizismus, Realismus und die germanisierenden Motive verherrlichten den Soldatentod, indem sie ihn als zeitloses, immer wiederkehrendes Ereignis und als Gelegenheit zum Beweis höchster Mannestugend einschätzten. Hingegen stand bei den christlichen Themen die Relation von Trauer und Trost im Vordergrund. Sie gingen auf den Schmerz der Hinterbliebenen ein. Bei katholischen Stiftungen kam daher häufig die Pieta vor. Es gab sie in allen Varianten von einer christlichen bis zu einer national-profanen, von der zeitlosen Kleidung des Urtyps bis zur Uniform des Ersten Weltkriegs. Dabei fanden sich die trauernden Angehörigen — speziell Frau oder Mutter — auf dem Denkmal wieder, mit dessen Geschehen sie sich als Betrachter identifizierten. Die Wiedergabe von Heiligengestalten besaß ihren Grund in deren Rolle als Schutzpatronen einer Waffengattung: z. B. Barbara für die Artillerie, Georg für die Kavallerie, Sebastian als Patron von Schützengesellschaften. Georg verkörperte den christlichen Ritter, Michael den deutschen Helden schlechthin. Josef und Mauritius lieferten Vorbilder des guten Kampfs. Bei evangelischen Stiftungen stand das -»Kreuz im Vordergrund. Im übrigen kamen im protestantischen Bereich profane Motive häufiger vor als im katholischen. Bei den Inschriften hoben sich die Stiftungen von Kirchengemeinden darin ab, daß sie von Söhnen oder Angehörigen redeten, statt wie sonst von Helden oder Kameraden. Allerdings kam die Bezeichnung „ H e l d e n " häufig auch in Kirchen vor. Die Verwendung doppeldeutig zu verstehender Bibelzitate hielt an. Wo angesichts der Überhöhung des Krieges dessen Verständnis als Folge der Sünde zurücktrat, konnte sich verschärft die Theodizeefrage stellen, die allerdings explizit auf Denkmälern nie auftauchte, sondern mit dem Hinweis auf den Opfertod Christi beantwortet wurde. Trost spendete der Gedanke an die Auferstehung von den Toten und das Jüngste Gericht. Für die Haltung der evangelischen Kirche in der Weimarer Republik wurde zunächst

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wichtig, daß der Summepiskopat des Landesherrn nicht mehr bestand. Die Kirche hatte ihre beherrschende Rolle eingebüßt. Daher diente sie der Republik zunächst nicht als engagierte Stütze, sondern stand ihr teils mit Loyalität, teils mit Kritik gegenüber. Vorschriften über das Aussehen von Kriegerdenkmälern ergingen keine. Doch bestand eine 5 formale Genehmigungspflicht bei der Aufstellung in Kirchen; sie sicherte den Kirchengemeinden ein Mitspracherecht bei der Gestaltung. Unter den evangelischen Theologen herrschten kontroverse Ansichten darüber, welche Haltung die Kirche zum Kriegstod einnehmen sollte. Von der während des Ersten Weltkriegs behaupteten Identität der Nation mit dem Volk Gottes distanzierte man sich jetzt. 10 Die katholische Kirche erkannte in der Weimarer Republik ihre Chance darin, den Hinterbliebenen Stütze und Trost in ihrer Trauer zu bieten. Deutlicher als bei den Protestanten stand in katholischen Denkmälern die christliche Sinngebung im Vordergrund. Im Nachhinein betrachtet, versagten beide Kirchen vor der Aufgabe, ein Gegengewicht zum Nationalismus und Revanchismus der Kriegervereine und Traditionsverbände 15 zu bieten. Diesen lieferte in den späten zwanziger und dreißiger Jahren die wirtschaftliche Notlage den Nährboden. Der „Fall D e h n " (vgl. T R E 8, 390 f) illustriert den Sieg der nationalen Kräfte über den Gedanken der Völkerverständigung. In keiner Epoche spielten christliche Motive auf Kriegerdenkmälern eine so geringe Rolle wie im Dritten Reich. Beim nationalsozialistischen Staat handelte es sich nach 20 seinem Selbstverständnis um die politische Verwirklichung des militärischen Geists der Frontsoldaten. Die Intoleranz der Machthaber äußerte sich in zwei Wellen von Denkmalstürzen, unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme (1933/34) und nach der Ausstellung „Entartete Kunst" (1937). Um die Denkmäler aus dem Einflußbereich der Kirchen zu ziehen, wurden sie nicht mehr auf Kirchengelände aufgestellt. Unter den Stilen herrschte 25 jetzt der Realismus vor, gefolgt vom Klassizismus. Beide überhöhten den Soldatentod als vorbildlich und zeitlos. Dabei wurde in den Denkmälern die moralische Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs betrieben: M a n schürte den militärischen Kampfgeist. Im Gegenzug zum Dritten Reich setzte nach dem Zweiten Weltkrieg in Rückorientierung an der Weimarer Republik eine neue Welle christlicher Motive auf Kriegerdenkmä30 lern ein. Das Christentum sollte erneut das Vehikel des Trostes bieten. Vordergründig betrachtet, weisen etwa 90 % der nach dem Zweiten Weltkrieg gestifteten Monumente christliche Motive auf. Oft handelt es sich nur um ein Kreuz oder ein Bibelzitat. Es gibt aber auch zahlreiche Engelsfiguren, die zum Jüngsten Gericht rufen, und trauernde Frauengestalten, die auf den Prototyp der Mutter Gottes zurückgehen. 35 Anders als nach dem Ersten Weltkrieg setzten sich jetzt die modernen Stile gegen den Realismus und Klassizismus durch. Allerdings bestanden viele Denkmäler in schlichten architektonischen Formen, etwa einer Stele oder Wand. Ihre Aussage beschränkte sich auf die Inschrift und die Symbolik des Aufstellungsorts. Unter den Denkmalsplätzen kam jetzt den Friedhöfen und Kirchen als den Orten von Trauer und Trost verstärkte Bedeu40 tung zu. Die Inschriften bedienten sich häufiger als noch in der Weimarer Zeit eindeutig christlicher Zitate, z. B. Rom 14,8: „Mögen wir leben oder sterben, wir gehören dem H e r r n " . Dabei bestand die Gefahr, daß der Unterschied zwischen Kriegstod und natürlichem Tod nivelliert wurde. Herrschte in den fünfziger Jahren noch das ältere Pathos in neuer Sprache, so wurden die Texte in den sechziger Jahren kürzer und nüchterner. Nur 45 noch selten war von „Helden" die Rede, meist von Gefallenen oder von Opfern. Aufschlußreich ist es, daß die Widmung des Kreuzbergdenkmals von 1821 noch immer zitiert wurde, nur eben jetzt ohne den Blick auf neue Kriege der Nachkommen. Im Gegensatz zum Revanchismus der Weimarer Republik predigten die Inschriften nun häufig eine Botschaft von Frieden und Versöhnung, z. B.: „Liebet einander wie ich Euch geliebt h a b e " 50 (Joh 15,12). Aus der Mahnung zum Kampf für das Vaterland war - zumindest vorderg r ü n d i g - die Mahnung zum Frieden geworden, denn in den Reden bei Einweihungen und Gedenkfeiern klangen häufig auch noch andere Motive an. Als neue Denkmalstypen traten nach dem Zweiten Weltkrieg Monumente der Teilung

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Deutschlands auf: Berliner Bär, Entfernungstafel, Denkmäler der Heimatvertriebenen, Allegorien der Teilung. Statt wie früher der Freikorpskämpfer wurde jetzt der Widerstandskämpfer gedacht. K Z - O p f e r , Kriegsgefangene und O p f e r von Kriegsfolgen gehören ebenfalls in den erweiterten Personenkreis, der auf Soldatenfriedhöfen ein dauerndes, also prinzipiell unbegrenztes Ruherecht genießt. Die Ausweitung des Personenkreises hatte abermals zur Folge, daß der Unterschied zwischen dem gewaltsamen Tod von M e n s c h e n h a n d und dem N o r m a l t o d eines jeden tendenziell verwischt wurde. Im Gegenzug zum Dritten Reich verlegte m a n den Heldengedenktag als Volkstrauertag vom Frühling in den N o v e m b e r . E r sollte anders als in den dreißiger J a h r e n nicht mehr den neuen Aufbruch Deutschlands in eine bessere Z u k u n f t verkünden, sondern als T r a u e r t a g dienen. Bei seiner Gestaltung wirkte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. mit den Kirchen z u s a m m e n . A m Neubeginn der evangelischen Kirche stand 1945 das Stuttgarter Schuldbekenntnis. Im evangelischen Bereich vermied man eine Sinnstiftung des Kriegstodes und bezog sich auf Christus nicht m e h r als den Urtyp des Opfertodes für andere, sondern sah in ihm den G a r a n t e n der eigenen Auferstehung und der möglichen Uberwindung des Todes. Außerdem verwies man auf Gottes G n a d e auch beim Gericht des Krieges. Bei Wiedergaben des Kreuzes stellten die lutherischen Landeskirchen (Bayern, W ü r t t e m b e r g , H a n n o ver) den Körper Christi dar, während die reformierten das glatte Kreuz bevorzugten. Außer dem Kreuz finden sich an protestantischer Bildsymbolik nur noch Dornenkrone und O p f e r l a m m . Protestantische Denkmäler wurden nach dem Z w e i t e n Weltkrieg nicht mehr im Kirchenschiff, sondern d a v o r oder auf dem Friedhof aufgestellt. Der Uberblick der Geschichte der Kriegerdenkmäler zeigt, d a ß v o m Unterschied zwischen Kriegs- und natürlichem T o d immer wieder abgelenkt wurde; von der Tatsache nämlich, d a ß der Kriegstod von Menschenhand herbeigeführt wird und sich infolgedessen die F r a g e nach der Berechtigung des T ö t e n s stellt. Statt den Blick auf die damit verbundenen Probleme christlicher Ethik zu lenken, gingen die Kirchen eine mehr oder weniger enge Symbiose mit den säkularen und nationalen Interessen ein. Literatur Zur Geschichte der Kriegerdenkmäler: Fritz Abshoff (Hg.), Deutschlands Ruhm u. Stolz. Unsere hervorragendsten vaterländischen Denkmäler in Wort u. Bild, Berlin o . J . [1904], - Martin Bach, Stud. zur Gesch. des dt. Kriegerdenkmals in Westfalen u. Lippe, 1985 (EHS R. 28 Kunstgesch., 49). Ernst Bergmann (Geleitwort), Dt. Ehrenhain für die Helden v. 1914/1918, Leipzig 1931. - Ulrich Bischoff, Denkmäler der Befreiungskriege in Deutschland 1813-1815, 2 Bde., Diss. Berlin 1977. Kathrin Hoffmann-Curtius, Das Kreuz als Nationaldenkmal: Deutschland 1814 u. 1931: ZfKG 48/1 (1985) 7 7 - 1 0 0 . - Siegmar Holsten, Allegorische Darst. des Krieges 1870-1918. Ikonologische u. ideologiekrit. Stud., München 1976 (Stud. zur Kunst des 19. Jh. 27). - Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden: Odo Marquardt/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979 (Poetik u. Hermeneutik 8), 2 5 5 - 2 7 6 . - Krieger-Ehrungen. Zs. hg. unter Mitw. der amtlichen Beratungsstellen für Krieger-Ehrungen v. Bund Dt. Gelehrter u. Künstler u. dem Dt. Bund Heimatschutz, Berlin, 1 - 1 2 (1917-1919). - Kriegergräber im Felde u. daheim, hg. im Einvernehmen mit der Heeresverwaltung, München 1917. - Meinhold Lurz, Denkmäler der Befreiungskriege: Wie die Alten den Tod gebildet. Wandlungen der Sepulkralkultur 1 7 5 0 - 1 8 5 0 , Mainz 1979 (Kasseler Stud. zur Sepulkralkultur 1), 1 2 5 - 1 3 4 , - D e r s . , Kriegerdenkmäler in Deutschland. Künstlerische Formen zw. Totenkult u. prospektivem Anspruch: Freiburger Universitätsbl. 68 (September 1980) 2 7 - 4 7 . - Ders., „ . . . ein Stück Heimat in fremder Erde". Die Heldenhaine u. Totenburgen des Volksbunds Dt. Kriegsgräberfürsorge: ARCH + Nr. 71 (Oktober 1983) 6 6 - 7 0 . - Ders., Kriegerdenkmäler in Deutschland, I Befreiungskriege, II Einigungskriege, III 1. Weltkrieg, IV Weimarer Republik, V Drittes Reich, VI Bundesrepublik, Heidelberg 1 9 8 5 - 1 9 8 7 . - George L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik u. Massenbewegungen in Deutschland v. den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt/M. 1976. - Ders., Soldatenfriedhöfe u. nationale Wiedergeburt. Der Gefallenenkult in Deutschland: Klaus Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der lit. Gestaltung u. symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, 2 4 1 - 2 6 1 . - Thomas Nipperdey, Nationalidee u. Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jh.: HZ 206 (1968) 5 2 9 - 5 8 5 . - Ders., Kirchen als Nationaldenkmal. Die Pläne v. 1815: FS Otto v. Simson, hg. v. Lucius Grisebach/Konrad Renger, Berlin 1977, 4 1 2 - 4 3 1 . - Adolf Rieth (Hg.), Denkmal ohne

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Meinhold Lurz Kriegsrolle —•Qumran Krise 1. Zum Begriff und seiner Geschichte

1. Zum Begriff urtd seiner

2. Zum Umgang mit Krisen

(Literatur S. 65)

Geschichte

Der aus dem Gricchischcn stammende Begriff {Kpiaiq,) bedeutet ursprünglich sowohl Scheidung, Sichtung, Siebung, Sonderung und insofern Auswahl, Ausschmelzung, Streit als auch die einen Konflikt beendende Entscheidung, Beurteilung und insofern Urteil. Wirkungsgeschichtlich bestimmend geworden ist seine Verwendung im militärischen und medizinischen Bereich: jener knappe Zeitpunkt der Wende, in der die Entscheidung über Sieg oder Niederlage fällt; die entscheidende Phase einer Krankheit, in der sich die Wende zum Besseren oder Schlechteren, zu Leben oder Tod, vollzieht, in der also die Entscheidung über den Verlauf fällt, aber noch nicht gefallen ist. Dabei ist die medizinische Perspektive im Sinne der plötzlichen Erkrankung, Verletzung, lebensgefährlich beeinträchtigenden Störung des Lebens beherrschend geworden. Durch den bis in die frühe Neuzeit reichenden Ausbau der Lehre von den „Kritischen Tagen" (Hippokrates, vgl. T R E 14,746, 31 ff; Galen, vgl. T R E 14,747,8 ff) - Fixierung des Krankheitsbeginns, Registrierung von Periodizitäten des Krankheitsverlaufs - beginnt einerseits der wissenschaftlich-methodische Umgang mit dem Phänomen Krise (Möglichkeit der Prognose und der Unterscheidung von chronischen und akuten Krankheiten), erfolgt andererseits eine Ausweitung oder Globalisierung des Krisenbegriffs. Dieses Bedeutungsensemble — kritischer Punkt, Phase, Stadium, Widerfahrnisgeschichte - hat sich bis heute durchgehalten. Dabei bleibt die Terminologie bis ins 19. Jh. hauptsächlich auf den Leib bezogen, auch wenn schon Augustin seine Glaubenskrise mit der accessio, quam criticam medici vocant [Anfall, den die Ärzte kritisch nennen] (Conf. VI,1 Schlußsatz) verglichen hat. Seit dem 17. Jh. erfolgt - von England aus über Frankreich - über die Brücke des Verständnisses von Körper und Gemeinwesen als Organismus eine weitere folgenreiche Ausweitung des Krisenbegriffs auf gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Vorgänge und Verhältnisse. Man sieht eine beschleunigte Wende der miserablen, zerrütteten Gegenwartslage zum Besseren oder Schlechteren, zur Katastrophe hin sich vollziehen oder hofft bzw. befürchtet, oft prophetisch beschwörend, sie zu sehen. Die sachlich naheliegende Übertragung auf engere Sozialbeziehungen (Beziehungskrisen) erfolgt - im we-

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sentlichen ü b e r das D r a m a — erst später. Aufgrund der d o m i n i e r e n d e n fortschrittsoptimistischen G l ä u b i g k e i t der - » A u f k l ä r u n g erhält diese gesamtgesellschaftliche Interpretation eine überwiegend positiv orientierte k u l t u r t h e o r e t i s c h e und geschichtsphilosophische Bedeutung ( - » R o u s s e a u , D i d e r o t , H o l b a c h , - » M o n t e s q u i e u ) . D a b e i k o m m t es — insbesondere durch den Einfluß der liberalen L e h r e n von den W i r t s c h a f t s - und K o n j u n k turzyklen - a u c h zur E i n o r d n u n g der Krise in längerfristige E n t w i c k l u n g s p r o z e s s e und somit zu ihrer E n t s c h ä r f u n g zu b l o ß e n Ü b e r g a n g s - und D u r c h g a n g s p h a s e n . T r o t z d e m bleibt das e l e m e n t a r e M o m e n t der W e n d e mit d e m R i s i k o des Scheiterns weiter im G e sichtsfeld. „Wir glauben uns dem Ende der größten und fürchterlichsten Krise zu nähern, welche die gesellschaftliche Verfassung von Europa seit mehreren Jahrhunderten erfuhr. Was ist ihr wahrscheinliches Resultat?" (Fr. v. Gentz, Uber den ewigen Frieden, 1800; vollständig zit.: Kurt von Raumer, Ewiger Friede, Freiburg/München 1953,492); „Die menschliche Gattung befindet sich verwickelt in eine der größten Krisen, die sie seit dem Ursprung ihrer Existenz eingesteckt h a t " (Saint-Simon, 1813; Œuvres de S.-S. et d'Enfantin, Paris 1865ff, 1,55). M i t t e l s analogisierender I n t e r p r e t a m e n t e aus d e m medizinischen Bereich - geistigseelischer F i e b e r z u s t a n d , Uberhitzung, Siedepunkt - wird in den geschichtsphilosophischen K o n s t r u k t i o n e n Krise zum e p o c h a l e n A u g e n b l i c k , zur e p o c h a l e n W e n d e und Schwelle, z u m E n t w i c k l u n g s k n o t e n des m a k r o e v o l u t i v e n Sprungs ( „ A c h s e n z e i t " [Karl J a s p e r s , V o m U r s p r u n g und Ziel der G e s c h i c h t e , M ü n c h e n 1949]) der M e n s c h h e i t s g e schichte. Z u ihren entscheidenden F a k t o r e n g e h ö r e n : die sich überstürzende Beschleunigung und das Z u s a m m e n s c h i e ß e n verschiedener Krisen in eine u m f a s s e n d erschütternde G r u n d k r i s e , sei es als Kultur-, W e r t - , S u b s t a n z - , Vertrauens-, Sinnkrise ( - » H u s s e r l , H a zard, B ä u m e r , - » J a s p e r s ) . N i c h t nur heutzutage, s o n d e r n s c h o n 1 9 3 1 „ist jetzt in jeder Z e i t u n g von Krise die R e d e " (Jaspers, D i e geistige Situation der Z e i t , Berlin [1931] 1 9 5 3 , 7 6 ) . Weiterhin die beängstigende A m b i v a l e n z ; die im „ P a r o x y s m u s auswegloser H o f f n u n g " als „ K r a f t der Verzweiflung" (Teilhard de C h a r d i n ) b e k u n d e t e Z u v e r s i c h t . D i e „ w a h r e , e c h t e " Krise J . B u r c k h a r d t s ist der R o t - W e i ß g l u t - E k s t a s e T e i h a r d s und der „ W e n d e z e i t " F. C a p r a s strukturgleich. Auch in der ernüchterten „ H e u r i s t i k der F u r c h t " des Prinzips V e r a n t w o r t u n g (H. J o n a s ) g l i m m t n o c h der H o f f n u n g s f u n k e n a c h , die - » „ K r a n k h e i t " k ö n n e - so N i e t z s c h e - als „ M i t t e l und A n g e l h a k e n der E r k e n n t n i s " (SW, Krit. Stud. ausg. 2 , 1 7 ) „ S t i m u l a n s des L e b e n s " (6,22), ja z u m „ M e h r l e b e n " (6,266) sein. Allerdings gilt die Entscheidung: „ N u r m u ß m a n gesund genug für dieses Stimulans s e i n " (622). D i e letzte wesentliche Ausweitung des Begriffs Krise ist seine lebens- und existenzphilosophische b z w . daseinsanalytische Generalisierung. Diese Existentialisierung und Psychologisierung v e r d a n k t sich zweifellos der L a n g z e i t w i r k u n g des e l e m e n t a r personal orientierten christlichen G l a u b e n s sowie der aktuellen W i r k u n g seiner pietistischen F r ö m migkeitsgestalt. U n t e r den d a v o n nicht u n a b h ä n g i g e n S c h u b k r ä f t e n h a b e n die Individualisierung und I m m a n e n t i s i e r u n g der (nachhölderlinschen) tragischen D i c h t u n g s o w i e die sensibilisierte S u b j e k t i v i t ä t der - » R o m a n t i k besonders motivierende Valenz. N i c h t zufällig wendet der durch L . O k e n von - » S c h e l l i n g beeinflußte M e d i z i n e r , P s y c h o l o g e und P h i l o s o p h C . G . C a r u s vermutlich als erster W i s s e n s c h a f t l e r den Begriff Krise mit seinen I m p l i k a t e n auf den E n t w i c k l u n g s v e r l a u f einer seelischen K r a n k h e i t an und öffnet ihn zugleich a u f seine f u n d a m e n t a l a n t h r o p o l o g i s c h e R e l e v a n z hin (Vorlesungen 2 4 5 f). D i e umfassend e x p a n d i e r e n d e n wie intensiven h u m a n - und sozialwissenschaftlichen F o r schungen und Interpretationsversuche der „ N e u e n A n t h r o p o l o g i e " unseres J a h r h u n d e r t s h a b e n in mannigfaltigen Aspekten die Instinktreduziertheit, U n b e h a u s t h e i t , Weltoffenheit, E x z e n t r i z i t ä t und d a m i t die A m b i g u i t ä t , F r a g l i c h k e i t und F r a g w ü r d i g k e i t , a b e r auch die Fragilität, Empfindlichkeit und E r s c h ü t t e r b a r k e i t des M e n s c h e n erhellt, so d a ß von ihm mit R e c h t als dem stets (durch und in sich selbst und von außen) gefährdeten K o n flikt- und R i s i k o w e s e n gesprochen werden k a n n (v. G e b s a t t e l , Krise, 6 6 - 7 8 ) . In dieses durchaus die k o n t e x t u e l l e M i t b e d i n g t h e i t berücksichtigende daseinsanalytische G e s a m t -

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Verständnis sind die dann allerdings in ihrer Differenziertheit zu beachtenden großen Krisen des Lebens integriert. In grober Gruppierung sind dies auf der einen Seite die entwicklungspsychologisch bedingten und insofern natürlichen, normalen bzw. normativen Reifungs-, Werdens- und Bildungskrisen: die der Geburt und frühen Kindheit; die grundlegenden Trennungs- und Beziehungs-, Bindungs- und Verlustkrisen - Eintritt in den Kindergarten, in die Schule, Pubertät, Berufswahl, Partnerschaft, Familiengründung - , die Krisen der Lebensmitte, des Ausscheidens aus dem Berufsleben, des Alterns, der „Rache der ausgeschlossenen Möglichkeiten" (Tillich, Syst. Theol. I, 181) und des Lebensendes. Auf der anderen Seite sind es die - durchaus widernatürlichen - Einbruchsund Zerbruchskrisen: Krankheit, Unfälle, angeborene oder frühkindliche Behinderung, erworbene Behinderung, Katastrophen, Krieg, Arbeitslosigkeit, erzwungene Trennungen, vorzeitige Verwaisung und Verwitwung, Kränkung, Verneinung, Beschädigung, Verbrechen. Dazwischen liegen - wenn auch oft den Reifungs- und Werdekrisen zugeordnet — die kathartischen Krisen bzw. die sittlichen Krisen der Läuterung, Reinigung, Erneuerung, Wandlung. Zu ihnen gehört, obwohl es auch in den anderen Krisen Momente des Schuldiggewordenseins und Schuldigwerdens gibt, -»Schuld - und sei es nur in den Spielarten der gedankenlos-vergeßlichen Nachlässigkeit, Faulheit oder Feigheit - als Spezifikum. 2. Zum Umgang mit Krisen Die existenzphilosophisch-daseinsanalytische Gesamtperspektive hat den Vorzug, deutlich zu machen, daß alle Krisen, da es sich um Wendepunkt-Ereignisse des geschichtlichen Lebens handelt, Identitätskrisen (Erikson) sind. Der Mensch selbst als Person, sein „Ich"- und analog dazu das „Wir-Selbst" einer Gemeinschaft-steht auf dem Spiel, „auf der Kippe" des Gelingens und Mißlingens, ist „im Kern" aufs Tiefste von Scheitern bedroht - deshalb die ausweglos ohnmächtige Vernichtungsangst, der Sturz ins Bodenlose, die gelähmte Geschocktheit, die panisch verzweifelten Katastrophenreaktionen der Betäubung, Verdrängung, Flucht etc.; und deshalb das Erlebnis von Befreiung, Rettung, Neu- bzw. Wiedergeburt, Erlösung und Gnade. Auf dem Spiel steht die Identität des homo viator. Insofern sind alle, nicht nur die entwicklungsgeschichtlich bedingt natürlichen, sondern auch die Krisen des Einbruchs, des Zerbrochen- und Verstümmeltwerdens, aber auch die Krisen von Versagen und Schuld, Verrat und Selbstverrat, Identitätskrisen des geschichtlich werdenden Lebens. Hierin besteht auch der Rechtsgrund, die Läuterungskrisen den Reifungskrisen zuzuordnen. Und insofern haben alle Krisen, auch die Krisen des Einbruchs und der Zerstörung, die Chance, Werde- und Reifungskrisen und darin Lernchancen zu sein - es sei denn, sie enden letal oder unheilbar psychotisch oder pathologisch. Dieser brutal reale Aspekt der Vernichtung, der definitiven Negativität der Krise, bleibt allerdings in der dascinsanalytisch werde-orientierten Interpretation am Rande. Die Theologie müßte hier zur bleibenden Respektierung einer elementaren Differenzierung der Krise beitragen. Aus schöpfungstheologischer Perspektive ist zu sagen: Es gibt sein sollende, positiv zu verstehende Krisen. Der Mensch ist als geschichtlich sich verwirklichendes Wesen gewollt. Von hier aus ist die existenzanalytische Gesamtperspektive und die in sie integrierte Interpretation der entwicklungspsychologischen Identitätskrisen zunächst grundsätzlich zu befürworten. Gott hat uns schöpfungsursprünglich nicht zu einem krisenfreien, krisenfesten, sondern zu einem riskierend gelingenden und so sich freuen dürfenden Leben gerufen. Deshalb auch die Krise der beglückenden Begegnung, wie sie z.B. in dem Gedicht Die Beiden von H. von Hofmannsthal zur Sprache kommt. Jedoch nicht sein sollen die Zerstörung, das Mißlingen als Zugrundegehen oder Zugrunde-gerichtet-werden. Diese - im schöpfungsursprünglichen Sinn durchaus widernatürlichen - Krisen des Einbruchs und Zerbruchs sollen nicht sein. Und ebensowenig sollen sein die zerstörerischen Perversionen der entwicklungspsychologisch natürlichen Krisen und ihrer Abläufe. Aber sie sind. Sie sind in der durch die „Dialektische" Theolo-

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Krise

gie der „Krise" aktualisierten Perspektive des christlichen Glaubens Konkretionen der ins Negative, ins Selbstzerstörerische verkehrten Mächtigkeit der gefallenen Schöpfung, Ausdruck der Ur-Krise, nämlich der dauerrevolutionären Fundamental-Störung des Schöpfer-Geschöpf-Verhältnisses. Hier ist durchaus vom Gericht, vom Dahingegebensein der sündigen Schöpfung an ihre Sichselbstüberlassenheit durch Gottes Zorn zu reden. Dabei ist die traditionell anthropozentrisch orientierte Perspektive auszuziehen auf die Schöpfung, und zwar auf die Schöpfung als Subjekt und nicht nur als Material und Bühne der Selbstverwirklichung des Menschen. Die Schöpfung und mit ihr der Mensch als eminenter Teil der Schöpfung befindet sich in der Einbruchskrise der Selbstverfehlung der Schöpfungsbestimmung. Allerdings wird in den anthropologischen Krisen - zu denen auch die durch Verbrechen des Menschen verursachten Lebenskrisen der Umwelt gehören — die Wahrheit des simul creatura et peccator besonders deutlich. Da Gott aufgrund seines Erbarmens seine gefallene Schöpfung auf ihre neugeschöpfliche Vollendung durch Jesus Christus hin erhält, bleibt dem Menschen in seiner selbstreflexiven Weltverantwortlichkeit die Spielraumfreiheit gelassen, (auch sich selbst) helfende, begleitende Krisenverarbeitungsmodelle — auch für die Einbruchskrisen - zu entwickeln und bis zum Erwerb „ipsativer" Krisenbewältigungskompetenz durchzuspielen. Hierher gehört die bis in die Streßforschung reichende Bemühung um „Hilfe zur Selbsthilfe", Hilfe für „hilflose Helfer" ebenso wie die Einrichtung von Kriseninstitutionen (-Stäben, -managements) mit ihren krisenprä- und intervenierenden Strategien und Kontrollen. Christliche -»Seelsorge, besonders bei -»Kasualien, wird allerdings sich der Programmatisierung der Modelle widersetzen müssen. Einerseits weiß sie um die Geschöpflichkeit, Verdanktheit des Seins, also um die letztliche Passivität des aktiv sich riskierenden Wesens des Menschen, um das gerade in den Krisen nicht auseinanderdestillierbare Ineinander von primärer Passivität und sekundärer Aktivität/Reaktivität und deshalb um die letztliche Nichtmanipulierbarkeit aller auch noch so behutsam begleiteten Krisen. Auf der anderen Seite muß sie berücksichtigen, daß es irreparable Einbruchskrisen gibt, deren Faktizität nicht verdrängt werden darf. Aus diesen beiden Gründen kann sie den Generalisierungen der Kriseninterpretation-Motti wie z.B. „Reif sein ist alles", „Stirb und werde", „per aspera ad astra", „abschiedliche Existenz", Leiden = Lernen (7za9eiv/fjaSeiv), „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" nicht vorbehaltlos zustimmen, so versucherisch sie sich auch nahelegen. Was dem einzelnen Menschen als dem als er selbst Betroffenen möglich ist, nämlich noch so tief sein Leben beeinträchtigende Zerstörungskrisen in ihrer „Annahme" oder im Nachherein der gesamtbilanzierenden (Lebens-)Rückschau als Reifungs-, Prüfungs-, Bewährungskrisen, ja auch als Läuterungsund Reinigungskrisen zu verstehen und sie so als „Dennoch-Sinn" in sein Leben zu integrieren, das ist als belehrend verallgemeinernde Systematisierung selbst einer christologisch-soteriologischen Providenz-Theologie ebenso verboten wie als pastoraler Zuspruch bzw. Zumutung. Aus demselben Grunde sind geschichtstheologische Identifikationen konkreter Katastrophenkrisen der Geschichte mit der sie begründenden und sich in ihnen konkretisierenden Grund-Krise der gefallenen Schöpfung unzulässig. Eine derartige Krisentheologie gibt es nicht bzw. sollte es nicht geben. Krisenpropheten allerdings darf es geben. Und Theologie kann ihnen helfen, daß sie nicht zu Krisenderwischen und Krisenschamanen werden. Das Glaubenswissen um die Rettung aus der weltlich tatsächlich ins Irreparable verendenden und verendeten Zerstörungskrisen gründet im Evangelium von der Auferwekkung des Gekreuzigten, des Zerstörten und Eliminierten. Die Verkündigung der Auferweckung des Gemordeten, Verneinten, Weg- und Verworfenen ist das einzige Hoffnungszeichen für die Zukunft auch der in den Bewältigungen der großen Menschheitskrisen auf der Strecke Gebliebenen, Zertretenen, Abgekappten und deshalb die Hoffnungszukunft aller.

Kritik I

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Literatur Gertrud Bäumer, Die seelische Krisis, Berlin 1924. - Rudolf Bilz, Paläoanthropologie, Frankfurt 1971. - Wilhelm Bitter (Hg.), Lebenskrisen, Stuttgart 1971. - Friedrich Bollnow, Existenzphil. u. Pädagogik, Stuttgart 1959. - Ders., Neue Geborgenheit, Stuttgart 1979. - Jochen Brandtstädter/Horst Gräser, Entwicklungsberatung unter dem Aspekt der Lebensspanne, Stuttgart 1985. — Emil Brunner, Die Grenzen der Humanität, Tübingen 1922. - Jacob Burckhardt, Weltgesch. Betrachtungen, Berlin/Stuttgart 1905. - Joachim Burkhardt, Die Krisis der Dichtung als theol. Problem, Zürich/Stuttgart 1962. - Fritjof Capra, Wendezeit, Bern/München/Wien 1983. - Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, München 1959. - Erik H . Erikson, Wachstum u. Krisen der gesunden Persönlichkeit, Stuttgart 1953. - Ders., Identität u. Lebenszyklus, Frankfurt 1966. — SigrunHeide Filip (Hg.), Krit. Lebensereignisse, München/Wien/Baltimore 1981 (Lit.). - Victor E. Frankl, Der Mensch auf der Suche nach Sinn, Freiburg 1959 (Herder Tb. 430). - Ders., Das Leiden am sinnlosen Leben, Freiburg 1980 (Herder Tb. 615). - Heimo Gastager (Hg.), Hilfe in Krisen. Wege u. Chancen einer personalen Krisenintervention, Göttingen/Wien 1982. - Victor E. v. Gebsattel, Imago hominis, Salzburg 1968. - Andras Gedö, Phil, der Krise, Berlin/DDR 1978. - Erving Goffman, Stigma. Uber Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt 1963. - Friedrich Gogarten, Die Krise unserer Kultur: ChW 34 (1920) 770-777. - Naomi Golan, Krisenintervention, Freiburg 1983. - Karl J. Groffmann (Hg.), Person als Prozeß, Bern 1968. - René Guénon, La crise du monde moderne, Bordeaux/Paris 1927; dt.: Die Krisis der Neuzeit, Köln/Olten 1950. - Paul Hazard, La crise de la conscience européenne, Paris 1935, dt.: Die Krise des europ. Geistes, Hamburg 1939. Edmund Husserl, Die Krise der europ. Wiss. u. die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1954. - Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (1931), Berlin 1953. - Ders., Psychologie der Weltanschauungen, Heidelberg 4 1954. - Bernd Jaspert, „Krise" als kirchengesch. Kategorie: Traditio, Krisis, Renovatio aus theol. Sicht. FS Winfried Zeller, Marburg 1976,24-40. - Verena Kast, Trauern, Stuttgart 1982. - Heinz Katschnig (Hg.), Sozialer Streß u. psychische Erkrankung, München 1980. - Reinhard Koselleck, Kritik u. Krise. Eine Stud. zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt 1973. - Ders./Nelly Tsouyopoulos/Wolfgang Schönpflug, Art. Krise: HWPh 4 (1976) 1235-1245. - Elisabeth Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden, Stuttgart 1969. - Fritz Künkel, Charakter, Krisis, Weltanschauung, Stuttgart 3 1976. - Ders., Charakter, Leiden, Heilung, Stuttgart 1976. - Ders., Ringen um Reife, Konstanz 1955. - Erhard Meuelcr, Wie aus Schwäche Stärke wird. Vom Umgang mit Lebenskrisen, Hamburg 1987. - Leo Montada, Brennpunkte der Entwicklungspsychologie, Stuttgart 1979. - A.M. Klaus Müller, Die präparierte Zeit. Der Mensch in der Krise seiner eigenen Zielsetzungen, Stuttgart 1972. - Ehrenfried Muthesius, Ursprünge des modernen Krisenbewußtseins, München 1963. - Wayne E. Oates, Krise, Trennung, Trauern, München 1977. Rolf Oerter (Hg.), Entwicklung als lebenslanger Prozeß, Hamburg 1978. - Karl D. Opp, Theorie sozialer Krisen, Hamburg 1978. - Franz Petermann (Hg.), Einstellungsmessung - Einstellungsforschung, Göttingen 1980. - Helmuth Plessner, Lachen u. Weinen, Bern 1941. - Herbert Plügge, Wohlbefinden u. Mißbefinden, Tübingen 1962. - Richard Rieß, Die Krisen des Lebens u. die Kasualien der Kirche: EvTh 35 (1975) 7 1 - 7 9 (Lit.). - Günther Schiwy (Hg.), Christentum als Krisis, Würzburg 1971. - Erika Schuchardt, Krise als Lernchance, Düsseldorf 1985. - Harald SchultzHencke, Der gehemmte Mensch, Stuttgart 2 1947. - Gail Sheehy, Aufbruch in der Lebensmitte, München 2 1976. - Dietrich Stollberg, Nach der Trennung, München 1980. - David K. Switzer, Krisenberatung in der Seelsorge, 1975 (GT.P. 19).-Carl Friedrich v. Weizsäcker, Wege in der Gefahr, München 1978. - Ders., Wahrnehmung der Neuzeit, Wien 1983. - Victor v. Weizsäcker, Der Gestaltkreis, Stuttgart 1950, 1973 (stw 18). - Benno v. Wiese, Die dt. Tragödie v. Lessing bis Hebbel, Hamburg 1948 (dtv/w 4411,1983). - Jürg Zutt, Auf dem Weg zu einer anthropologischen Psychiatrie, Heidelberg 1963.

Günther Schnurr

Kritik I. Philosophisch II. Theologisch .

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I. Philosophisch 1. Wortbedeutung und Sprachgebrauch 2. KpniKtj xixW- Piaton und Aristoteles 3. Philologische Kritik, Bibelkritik, Hermeneutik 4. Philosophische Literatur- und Kunstkritik und die Ausbreitung der Kritik im 18. Jahrhundert 5. Die Idee einer Kritik der reinen Vernunft 6. Von der Metakritik zur Kritik der politischen Ökonomie 7. Neuzeit: Zeitalter der Kritik (Quellen/ Literatur S. 76)

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Kritik I 1. Wortbedeutung

und

Sprachgebrauch

Kritik, ein substantiviertes Adjektiv von griechisch KpniKtj (t¿xvtj), heißt soviel wie Beurteilungskunst (lat. ars critica, engl, criticism, franz. critique). Das deutsche Wort „Kritik", das sowohl die Tätigkeit, Fähigkeit und Fertigkeit des Kritisierens (gelegentlich auch das Subjekt dieser Tätigkeit) wie vor allem das Produkt des kritischen Tuns bedeuten kann, ist gegen Ende des 17. Jh. aus dem Französischen übernommen und dann eingebürgert worden. Schulz' Deutsches Fremdwörterbuch (I, 1913) gibt als früheste Belege Stellen aus Christian Thomasius' Monatsgesprächen (1688) und dessen Kleinen teutschen Schriften (1701). Etwa gleichzeitig scheint der Epigrammdichter Christian Wernicke in der Vorrede zu seinen Überschriften (21701) das Wort als einer der ersten deutschen Autoren gebraucht zu haben. Die französische Schreibweise und die Verwendungsweise des Wortes bei Thomasius und Wernicke zeigen, daß beide es aus der französischen Literaturkritik übernommen haben. Als Ubersetzungen ins Deutschefindensich „Kunstrichterei" bei Klopstock (Grimm V, 2724), Lessing (V, 333) und Herder (XXII, 123.192) für die literarische und „Richtkunst" bei Reimarus ('1756, 301) für die philologische Kritik. Hamann nennt Kant 1781 den „Kunstrichter der reinen Vernunft" (III, 279). Kant selbst spricht einmal von der Kritik als der „Prüfungskunst" der Philosophie (B 174). Die Fähigkeit der Kritik, sich auf den Kritiker oder seine kritischen Taten und Werke zurückzuwenden, läßt sich sprachlich in Iterativbildungen ausdrücken. Während 1652 eine Anticritica sacra gegen L. Cappels Critica sacra (1650) erscheint (Tonelli 127), verfaßte ein anderer Autor 1679 gegen S. Fouchers Critique de la Recherche de la Vérité (1675) eine Critique de la Critique de la Recherche de la Vérité. (Nach Tonelli 132 war Fouchers Buch das erste philosophische Werk in Frankreich, das sich Kritik nannte.) Herder nennt Kants Kritik der Urteilskraft, die er als eine Kritik der kritischen Kraft auffaßt (XXI, 8), eine „kritische Kritik" (XXII, 193f.222) und versteht seine eigene Metakritik als „Kritik der Kritik" (XXI, 18). Marx und Engels verfassen gegen die Gebrüder Bauer eine „Kritik der kritischen Kritik" und werden noch überboten durch eine „Kritik der Kritik der kritischen Kritik" (G. Julius, 1845). 2. KpniKtj TÉ/vi): Platon und

Aristoteles

Das griechische Verb Kpiveiv (scheiden, unterscheiden, entscheiden) und die Substantive Kpht]Ç (Schiedsrichter im Wettkampf) und Kpiaiç (Streit, Auswahl, Entscheidung, Urteil) sind bei Piaton und Aristoteles vielfältig belegt. Diese Wortfamilie dient bei ihnen zur Bezeichnung des theoretischen Erkenntnisvermögens des Menschen, seiner Anwendung im politischen Leben und in der Beurteilung des gesprochenen und geschriebenen Wortes. Piaton verwendet den Ausdruck KpiziKtj zéxvtj bzw. èniartjptj im Zuge seiner Definition des Staatsmanns (Polit. 260 c, 292 b). Er ist ein Wissender, sein Wissen ist politische Wissenschaft. Sie wird abgehoben vom Wissen des Mathematikers. Während es dem Staatsmann um die Anweisung zum politischen Handeln und ggf. um die Beratung der praktischen Politiker geht, beschränkt sich der Mathematiker auf Einsicht und Erkenntnis um ihrer selbst willen, etwa des Unterschiedes der Arten von Zahlen. Das so Erkannte begnügt er sich zu beurteilen, zu prüfen und auszusprechen. Diese Art von Wissenschaft nennt Piaton die kritische, und er vergleicht den Mathematiker mit dem Zuschauer im Theater, während der Staatsmann wie der Architekt ein anweisendes und für die Befehlsgewalt geeignetes Wissen hat oder haben sollte. Diese erste Bestimmung des kritischen Wissens ist in zweifacher Hinsicht richtungsweisend. Einmal ist kritisches Wissen offenbar ein theoretisches Wissen, da es weder aus der Praxis stammt noch zu ihrer Anleitung dient. Zum anderen können Gegenstand der Beurteilung und Prüfung offenbar nicht nur die zeitlosen Gegenstände der Mathematik, sondern auch die Handlungen der Menschen und insbesondere Werke von Dichtern sein. Eine erstaunlich genaue Parallele zur Platonischen Abgrenzung des Kritikers vom Politiker findet sich in Kants Streit der Fakultäten (1798). Dort heißt es von der philosophischen Fakultät, sie müsse diejenige sein, die „keine Befehle zu geben, aber doch alle zu beurteilen die Freiheit habe" (Kant VII, 19 f). Die Forderung nach Freiheit der Kritik gegenüber der Staatsgewalt ist allerdings das gegenüber Piaton Neue in der Bestimmung des Philosophischen. Die Platonische Unterscheidung des theoretischen und kritischen Wissens vom praxisanleitenden tritt bei Aristoteles (Nie. Eth. 6. Buch) wieder auf als Gegensatz von aûveaiç und ippôvtjoiç, von Verständigkeit und praktischer Klugheit. Aber diese Unterscheidung

Kritik I

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wird n u n innerhalb der politischen Sphäre getroffen. D a s Verstehen leitet nicht w i e d i e Klugheit politisches o d e r öffentliches H a n d e l n an, s o n d e r n beschränkt sich auf die richtige E i n s c h ä t z u n g und B e w e r t u n g s o l c h e n H a n d e l n s . In der D e f i n i t i o n des Staatsbürgers (Polit. 1 2 7 5 b l 9 ) bezeichnet das Wort KpniKrj jedoch nicht m e h r nur das Beurteilen v o n H a n d l u n g e n , sondern k o n k r e t das Richteramt. A u c h für die spätere Bedeutung v o n Kritik als Literaturkritik finden sich bei Piaton und Aristoteles Belege. So spricht Piaton v o n einer Kpiaig (tcwv noiijpäzojv) ( N o m o i 8 2 9 d 4 f ) , einer Z e n s u r und A u s w a h l v o n Gedichten unter d e m Gesichtspunkt ihrer moralischen U n b e d e n k l i c h k e i t , u n d Kpivav scheint in der Poetik d e s Aristoteles (1449a8) auch die T ä t i g k e i t eines Literaturhistorikers und -kritikers zu bezeichnen (vgl. H e l l w i g 134). D e r p s e u d o p l a t o n i s c h e D i a l o g Axiochos schließlich, der w o h l erst A n f a n g des ersten Jahrhunderts v. Chr. entstanden ist, v e r w e n d e t d a s Wort KpniKoi als Bezeichnung für Sprach- u n d Literaturkenner, für die Interpreten der Dichter. 3. Philologische

Kritik,

Bibelkritik,

Hermeneutik

3.1. Anfänge, Renaissance, 17. Jahrhundert. Während KpiTlKÖQ bei Strabon (64 V.-21 n.Chr.) einen philologischen Gelehrten des 4. Jh. v.Chr. bezeichnet, scheint die spätere Bezeichnung dafür ypappariKÖi; gewesen zu sein, während seit Eratosthenes (276-195 v. Chr.) die Bezeichnung (pilöXoyog allgemein für den Gelehrten verwendet wurde (Pfeiffer 116.197f). Der Stoiker Krates von Pergamon (um 175 v. Chr.) nahm für seine philosophische Homerexegese den alten Titel eines KpniKÖi; wieder in Anspruch (ebd. 285 f ) . Im System der re/vy ypappariKij des Dionysios Thrax (166ff v. Chr.) fungiert die Literaturkritik, die Kpian; noitjpavxtv, als vornehmster Teil der Philologie, die nun nicht mehr als ganze KpmKij genannt wird (ebd. 325). Bei Cicero und H o r a z allerdings bezeichnet criticus den Philologen, der nach dem ersteren auch die Aufgabe hat, Echtheitsfragen zu entscheiden (Epist. 9,10,1). In dieser allgemein philologischen Bedeutung gelten dann Piaton und Aristoteles, dieser als der Verfasser einer Poetik und Rhetorik, als Begründer der Kritik. Im Altertum scheint dieses Wort nur gelegentlich, etwa bei Cicero, konkret die Textkritik und ihre Editionstechnik zu bezeichnen. Die Wiederbelebung der antiken philologischen Kritik im Humanismus führt auch zur Neuprägung des Terminus ars critica z.B. bei J. Lipsius (1582), G. Scioppius (1597), J.J. Scaliger (1619) (Tonelli 124f) und Erasmus, der den Terminus auch für die Bibelkritik verwendet (Wellek, Term and Concept 23). Der Ausdruck critici scheint zuerst wieder von A. Politianus (1492) gebraucht worden zu sein, der damit die Grammatiker oder Philologen bezeichnet, sofern sie bei den Alten als einzige die Zensoren und Richter aller Schriftsteller waren (ebd.). Wenig später definiert A. Calepinus (1502) die critica als Philologiae pars..., quae in emendatione auetorum et in judicio consistit [der Teil der Philologie, der in der Verbesserung der Verfasser und in deren Beurteilung besteht]. Entsprechend sind die critici die Poetarum interpretes, et generatim censores alienorum operum [die Ausleger der Dichter und im weitesten Sinne die Beurteiler fremder Werke] (Tonelli 124). Während hier wohl philologische Textemendation, gelehrte Kommentierung und literarische Bewertung insgesamt unter dem Begriff Kritik verstanden werden, bedeutet er für G. Scioppius ausschließlich die Verbesserung der Werke aller Schriftsteller in griechischer und lateinischer Sprache, während J. Wower (1602) als die beiden Teile der Kritik iudicium, die Prüfung der Echtheit der Schriften eines Autors, und emendatio, die Verbesserung von Fehlern der Textüberlieferung, unterscheidet (Wellek, Term and Concept 23f). Damit ist die Unterscheidung der später so genannten höheren von der niederen philologischen Kritik im engeren Sinne der Textkritik vorweggenommen. Fragen der Stilkritik und der literarischen Wertung gehören zu dieser Zeit in die Poetik und Rhetorik. Erst Gottsched schreibt eine „kritische" Dichtkunst (Poetik). D i e t h e o l o g i s c h e Bedeutung der - » T e x t k r i t i k für die Herstellung und Interpretation eines zuverlässigen Bibeltextes wird z u m i n d e s t seit - • E r a s m u s erkannt, und der Konflikt der Kritik der Überlieferung insbesondere mit d e m protestantischen Schriftprinzip hat über die T h e o l o g i e hinaus p h i l o s o p h i s c h e R e l e v a n z ( - » S p i n o z a , - » R e i m a r u s ) . Ein Buch d e s italienischen P h i l o l o g e n G. C a s t i g l i o n e (1608) ist w o h l d a s erste, dessen Titelbegriff „Kritik" als biblische Schriftkritik zu verstehen ist, und seit e t w a 1639 (E. Leigh) scheint der A u s d r u c k critica sacra für die p h i l o l o g i s c h e Kritik des Alten u n d N e u e n T e s t a m e n t s v e r w e n d e t zu w e r d e n (Tonelli 127), z . B . für die umstrittene Critica sacra (1650) des französischen Calvinisten Louis Cappel. D a ß d a m i t die protestantische Schriftgläubigkeit in Frage gestellt sei, hat der Katholik Richard S i m o n (1678) g e g e n Cappel b e t o n t und

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darin einen Beweis für die Notwendigkeit einer kirchlichen Tradition gesehen (Kosellek 8 7 f . l 9 9 f ; Tonelli 127f). Seit Spinozas Tractatus theologico-politicus (1670), der als das erste Werk einer philosophisch fundierten höheren Kritik am Text der Bibel angesehen werden muß, hat sich die Einsicht in die Notwendigkeit einer Trennung biblischer und rationaler Theologie vertieft. Denn die Worte des Alten Testaments bezeugen nach Spinoza nur die Schwäche der Fassungskraft der damaligen Menschen, nicht aber die Unendlichkeit und Notwendigkeit Gottes, die nur der Spekulation zugänglich sind. Reimarus glaubt, daß die Regeln auch der biblischen Textkritik aus der Logik, also allein aus der menschlichen Vernunft abgeleitet werden müssen (Reimarus 300ff), und -»Lessing findet es unerträglich, daß er seine metaphysischen und moralischen Begriffe, insbesondere alle seine Grundideen von dem Wesen der Gottheit, nach historischen Wahrheiten und ihrer Überlieferung umbilden soll (Lessing VIII, 13), deren Ungewißheit nur allzu gewiß ist. Philologische und deshalb auch historische Kritik stellen die Göttlichkeit der Offenbarung zusammen mit der Glaubwürdigkeit der Uberlieferung in Frage und verweisen den Menschen auf die eigene Vernunft als die einzige Quelle möglicher Rechtfertigung des Glaubens an Gott und ein künftiges Leben. 3.2. Schleiermachers Kritik und Hermeneutik. In -*Schleiermachers Theorie der Kritik, die wohl aus seinen Studien zur Exegese des Neuen Testaments hervorgegangen ist, vereinigen sich alle genannten Elemente und Zwecke der klassischen und biblischen Philologie. Schleiermacher legt seinen Ausführungen Schriften von F. A. Wolf und F. Ast zugrunde. Die philologische Kritik steht zu ihren Nachbardisziplinen Grammatik und -»Hermeneutik in einem Verhältnis wechselseitiger Voraussetzung. In fast wörtlicher Übereinstimmung mit Ast (Ast 216) sagt Schleiermacher, daß die kritische Tätigkeit erst mit den Schwierigkeiten entsteht, durch welche die hermeneutische sich gehemmt fühlt, daß also im allgemeinen der Kritik die Hermeneutik vorausgeht (Schleiermacher 353). Philologische Kritik wird dabei definiert als „die Kunst, die Echtheit der Schriften und Schriftstellen richtig zu beurteilen und aus genügenden Zeugnissen und Datis zu konstatieren" (ebd. 71). Sofern sich die Kritik auf wissenschaftliche Werke und Kunstwerke bezieht, kann sie mit einem Ausdruck F. A. Wolfs „doktrinale" oder „rezensierende" Kritik genannt werden, deren Funktion es ist, über die Angemessenheit eines einzelnen Werkes zu seiner Idee oder seinem Gattungsbegriff zu richten, also ein Werturteil zu fällen und sich dabei des Vergleiches mit anderem Einzelnen zu bedienen. Gegenstand solcher Bewertung kann auch ein Werk der mimischen Kunst oder ganz allgemein jede Handlung sein, die politischer und ethischer Würdigung zugänglich ist. Als dritte Art der Kritik nennt Schleiermacher die „historische" Kritik und bestimmt ihre Aufgabe dahingehend, „aus Relationen die Tatsachen zu konstruieren, also zu bestimmen, wie sich die Relation zur Tatsache verhalte" (ebd. 241). Als evangelischer Theologe sprechend, sagt Schleiermacher schließlich, daß es für die neutestamentliche Kritik keine andern Regeln gebe als die der allgemein philologischen Kritik, da die Urteile etwa der Kirchenväter keine eigene Autorität für ihn haben, sondern als erst zu überprüfende Urteile wie andere im literarischen Felde angesehen werden müssen. Was schließlich das Verhältnis der historischen zur doktrinalen Kritik angeht, so können die in dieser zugrunde gelegten Gattungsbegriffe ihrerseits als innere Tatsachen angesehen werden, von denen die einzelnen Werke nur die Erzählung oder die Erscheinung in einem einzelnen Falle sind. Umgekehrt aber läßt sich die historische Kritik als ein Fall der doktrinalen verstehen, sofern die einzelnen Tatsachen im Leben einer Nation als Ausdruck oder Erzählung ihres „eigentümlichen Lebenstypus" (ebd. 357f) angesehen werden können. Die so zusammengehörige historische und doktrinale Kritik macht als allgemeinste kritische Tätigkeit zusammen mit der ihr korrespondierenden produktiven Tätigkeit das geistige Leben eines Volkes aus.

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4. Philosophische Literatur- und Kunstkritik 18. Jahrhundert

und die Ausbreitung der Kritik im

Die ästhetische Bewertung von Werken der Kunst, insbesondere der Dichtung, gehörte schon in der Antike zu den Aufgaben der Kritik. J.C. Scaliger (1561) sah es wieder als Aufgabe des Philosophen an, Kritik im Sinne der literarischen Wertung von Dichtungen vorzutragen (Tonelli 131; Wellek, Term and Concept 24). Dieser Sinn von Kritik (literary criticistri) als Literaturtheorie und Literaturkritik (Rezension von Neuerscheinungen) hat sich aber erst im 17. Jh. durchgesetzt (Wellek, a.a.O. 24). Im 18. Jh. wird der Gebrauch des Wortes Kritik in allen Wissensbereichen offenbar Mode, und man kann vermuten, daß das Adjektiv „kritisch" in tausenden von Buchtiteln im Europa dieser Zeit auftritt (Tonelli 132). 4.1. Von Shaftesbury zu Baumgarten. Die Sache der Kritik verteidigen kann nach Shaftesbury nur der, der ihre Unerläßlichkeit für die Geschmacksbildung oder für die Ausbildung eines Urteilsvermögens in Fragen der Kunst zeigen kann. Die Alternative dazu wäre es, bloße individuelle Gefühle und regellose Einfälle oder Launen zur Regel des Schönen und Wohlgefälligen zu machen. Da Geschmack und Urteilsvermögen nicht angeboren sind, bedarf es der Übung und Kultivierung der Geisteskräfte, um eine allgemeine Idee oder einen klaren Begriff des Vorzüglichen und Vortrefflichen zu entwickeln, d. h. einer Bemühung und Anstrengung, ohne die die Kunst der Prüfung und Beurteilung nicht erlangt wird. Dies geschieht durch Vergleich verschiedener Werke und Stile, setzt also eine ausgebreitete Kennerschaft voraus, ohne die niemand Kunstregeln aufstellen könnte. Im negativen Sinne ist Kritik eine Methode der Widerlegung ungerechtfertigter Ansprüche. Dies gilt auch für die Bereiche der Religion und Politik, sofern sie in Werken von Schriftstellern ihren Niederschlag finden. Nur Abergläubische und Unwissende können sich durch einen solchen Geist der Kritik herausgefordert fühlen. Und da jeder Autor als solcher sich an einen Leser und Beurteiler seiner Sprache richtet, so kann sein Werk niemals über alle menschliche Kritik erhaben sein. Das gilt auch für die heiligen Schriften, die nicht, wie in der römischen Kirche, dem öffentlichen Urteil und der Untersuchung entzogen werden dürfen. Shaftesburys Plädoyer für die Freiheit der Kritik, insbesondere auch für die Freiheit der philologischen Prüfung und Untersuchung der biblischen Schriften, ist ein eloquenter Auftakt des Jahrhunderts der europäischen Aufklärung. Auf Shaftesbury hat sich Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst ('1730) mehrfach berufen. Als Poetik will dieses Buch den Anfänger lehren, wie man ein Gedicht auf untadelige Weise zustandebringt, als ein Werk der Kritik lehrt es, wie der Liebhaber ein solches Geistesprodukt richtig zu beurteilen hat, beides aber nach Regeln. Diese Regeln will Gottsched nicht erfunden, sondern nur von den größten Kunstrichtern alter und neuer Zeiten übernommen haben. Gottsched wendet sich ganz im Sinne Shaftesburys gegen die Meinung (des Plinius), von Künsten könne nur ein Künstler urteilen. Vielmehr ist das die Aufgabe eines jeden, der von der Kunst zu philosophieren weiß, wie es bei den Griechen deren bester Kritiker Aristoteles getan hat. Da die ontologischen Gründe der Möglichkeit aller Dinge, die Natur der Menschen und die gesunde Vernunft gleichermaßen unveränderlich sind, gelten die Regeln des Aristoteles heute genauso wie zu seiner Zeit und in seinem Volk. Die Schweizer Kunstrichter Bodmer und Breitinger stehen wie ihr Gegner Gottsched auf dem Boden der Wolffischen Philosophie. Von Bodmer stammt auch die wohl erste Geschichte der deutschen Literaturkritik: Nachrichten von dem Ursprung und Wachsthum der Critik bey den Deutschen (1741). Hier wird als einer der ersten Kritiker nach Opitzens Anfängen Christian Wernicke genannt und von ihm gesagt: „Er urtheilte auf festgesetzte und beständige Grundsätze; welches vor ihm noch keiner gethan hatte" (103). Das Richteramt der Kritik in Fragen der schönen Kunst gebührt der reinen Vernunft: „die Empfindung wird damit ihrer richterlichen Gewalt entsetzet, und vor den Richterstuhl der Vernunft gefordert" (Bodmer, Briefwechsel 46). „Critische Kunst" (ebd. 51) beruht nicht auf der Empfindung, sondern auf der Beurteilung der Dichtungen nach Regeln des Ebenmaßes in der sprachlichen Nachahmung von Urbildern, die mehr oder minder große Ähnlichkeit erzielen kann. Und nach Bodmers Vorrede zu Breitingers Critischer Dichtkunst (1740) hat die Erfahrung gezeigt, daß „der reine Geschmack" nur bei solchen Nationen allgemein geworden ist, „welche durch die Ausübung der Weltweisheit zu critischen Untersuchungen waren vorbereitet w o r d e n " (nicht paginiert).

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Nach Baumgarten beruht die Beurteilung der Dinge, d.h. die Vorstellung ihrer Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, psychologisch auf einem Vermögen bzw. einer Fertigkeit des Menschen zu beurteilen (iudicium). Dieses muß nun, je nachdem ob die Vollkommenheiten deutlich oder sinnlich (undeutlich) vorgestellt werden, ein verständiges oder sinnliches Beurteilungsvermögen genannt werden. Die Fertigkeit, Dinge sinnlich zu beurteilen, heißt auch der Geschmack (im weiteren Sinn). Der Geschmack ist also ein Vermögen der undeutlichen Erkenntnis der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten der Dinge oder die Fertigkeit, die Schönheiten und Häßlichkeiten aller Dinge zu erkennen. Ein Kritiker (Kunstrichter) dagegen ist derjenige, der die Fertigkeit hat, von der Vollkommenheit der Dinge deutlich zu urteilen. Kritik in der weitesten Bedeutung ist die Kunst zu beurteilen, Kritik in der weiteren Bedeutung ist die Wissenschaft der Regeln der deutlichen Beurteilung. Diese Begriffsdefinitionen und -einteilungen aus Baumgartens Metaphysica bilden die Grundlage für sein Verständnis von Kritik in der Aesthetica. Baumgartens Schüler Georg Friedrich Meier will in seiner Schrift Abbildung eines Kunstrichters (1745) die Kritik auf alle möglichen Dinge überhaupt ausdehnen. Die Kritik oder Beurteilungskunst ist dann ganz allgemein die Wissenschaft, von allen Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten aller möglichen Dinge zu urteilen, eine universale Bewertungswissenschaft. Als theoretische Kritik hat sie in ihrem ersten Teil die Frage zu beantworten, wie man sich Begriffe von Vollkommenheiten und deren Gegenteil machen solle. Das geschieht in der „Instrumental-Critik" oder „Logik der Kritik" (ebd. 10). Deren erster Teil handelt von der deutlichen Erkenntnis der Vollkommenheiten, ihr zweiter Teil gibt die Regeln, „wie man die Schönheiten und Häßlichkeiten der Dinge, auf eine zwar sinnliche, doch aber vollkommene Art, erkennen und beurteilen soll" (ebd. 11). Dieser Teil dient also der Geschmacksbildung. Paradoxerweise wird Kant den erweiterten Kritikbegriff Baumgartens aufnehmen und ihn verwandelt gegen Baumgarten als Metaphysiker wenden: „Ein Zyklop von Metaphysiker, dem das eine Auge, nämlich Kritik, fehlt" (Kant, Ref. 5081, ebd. XVIII, 81 £)• 4.2. Die Enzyklopädie. Pierre ->Bayles Dictionaire historique et critique (1695-1697) tritt auf mit dem Anspruch, den Stolz des Menschen d a d u r c h zu demütigen, d a ß ihm die Eitelkeit der Wissenschaft und die Schwäche seines Verstandes bewiesen wird. Die menschliche Unwissenheit und Schwachheit, die Irrtümer und leeren Wissensprätentionen im Felde der Geschichtswahrheiten oder vorgeblichen Fakten anzuprangern, ist eine moralische Aufgabe des untersuchenden und prüfenden Kritikers, der d a m i t auch ein christliches Werk vollbringt. Der positive Nutzen solcher Kritik ist die Sicherung der Wahrscheinlichkeit der Fakten der Geschichte. Der Begriff der Tatsache (fait) u m f a ß t nach Diderot die Handlungen der Gottheit, die Phänomene der N a t u r und die Taten der Menschen. „Alle sind gleichermaßen Gegenstände der Kritik" (Diderot XV, 3), denn die stehen nicht wie die Vernunftwahrheiten a priori als gewiß fest. Theologie, Philosophie und Geschichte bedürfen also einer Untersuchung ihrer Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt ebenso wie alle andern Wissenschaften und Künste, deren umfassende Gesamtdarstellung die Encyclopédie sein will. Der von allen Autoritäten sich emanzipierende philosophische Geist begründet eine Kritik, die nicht mehr nur philologische Textverbesserung, sondern Z e r s t ö r u n g aller Vorurteile und allen Aberglaubens ist, die die Gesellschaft infiziert haben (vgl. -»Voltaires Artikel Gens de lettres). Marmontels Artikel Critique in der Encyclopédie (1754) umfaßt Kritik in allen ihren Bedeutungen, als gelehrte Wiederherstellung der antiken Literatur, als Kritik in den freien und schönen Künsten und als aufgeklärte Prüfung und gerechte Beurteilung der menschlichen Hervorbringungen (productions humaines) (Encyclopédie IV, 490). Das erste Beispiel für Kritik in den Wissenschaften ist die Bibelkritik (-» Bibel Wissenschaft). Aber da Marmontel es für pietätlos erklärt, die offenbarte Geschichte des Alten und Neuen Testaments der Prüfung der Vernunft zu unterwerfen, will er darunter nur eine solche Erörterung der Bibel verstanden wissen, die auf den Triumph des Glaubens abzielt. Für diese Art von „Kritik", nämlich Vergleichung und Harmonisierung von Bibeltexten, Angleichung der Ereignisse an die sie ankündigenden Prophezeiungen, Betonung der geistigen Bedeutung gegenüber der physischen Unmöglichkeit von Wundern, Bekämpfung des Widerstrebens der Vernunft durch Erhöhung der Zeugnisse, gilt Pascals Projekt einer Apologie des Christentums als beispielhaft. Es ist sonderbar, daß diese Art der Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben ohne jedes äußere Anzeichen der Ironie „Kritik in den Wissenschaften" genannt wird. — Die Kritik in der profanen Geschichtsschreibung besteht in der Abwägung und Prüfung der Fakten nach dem Grade ihrer Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit und Bekanntheit, nach dem Gewicht der für sie sprechenden Zeugnisse und der Glaubwürdigkeit der über sie berichtenden Historiker. — In der empirischen

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Naturwissenschaft besteht die Aufgabe der Kritik darin, die Wahrheit über die Naturtatsachen auf zweifache Weise festzustellen: Verifikation durch Wiederholung von Beobachtungen und Erfahrungen oder, wenn das nicht möglich ist, Abwägung der Zeugnisse anderer. Marmontel verbindet also Descartes* methodischen Zweifel mit Bacons empiristischer Methode der induktiven Beweisführung mittels Beobachtung und Experiment und nennt diese Kombination „Kritik" (in den Naturwissenschaften). Die Kunst des Kritikers ist die methodische und auf logische Regeln zurückführbare Erforschung der Natur. Der Fortschritt der Wissenschaften über mancherlei Hindernisse zu deren theoretischer Bewältigung ist also ebenso Gegenstand und Frucht der Kritik wie diese Wissenschaften selbst. Vor allem aber ermöglicht nur eine Kritik des Erkenntnisprozesses in seiner Entstehung und Entwicklung die Feststellung, daß eine Theorie einen Fortschritt gegenüber ihren Vorgängerinnen darstellt. Heutige wissenschaftsthcoretische Debatten über Criticism and the Crowth of Knowledge (1970 ed. Lakatos/Musgrave) sind hier vorweggenommen. Kritik ist schließlich Kritik der Vorurteile des einzelnen Menschen, besonderer Völker und Staaten und verschiedener Zeiten nach dem Maßstab der unveränderlichen Prinzipien der natürlichen Gerechtigkeit {équité) der ganzen Menschheit, die eine allumfassende Gesellschaft oder ein großer politischer Körper ist. Daher gilt, daß es allgemein keinen höheren Kritiker als die Öffentlichkeit, das Publikum, gibt, das die öffentliche Meinung ausbildet und zumindest in Zukunft der vollkommenste Kritiker der Künste sein wird, der auch dem Genie all seine Freiheit läßt, während der subalterne Kritiker es dem Joch der Regeln unterwirft.

Der Enzyklopädieartikel Critique ist die einzige, alle Unterarten und Aspekte dieses Begriffs zusammenfassende Gesamtdarstellung zu diesem Thema. Er handelt im Geiste der Aufklärung von allen Errungenschaften des neuzeitlichen Denkens in diesem Felde und kann zur Erläuterung der These Bühles angeführt werden: „Unserem Zeitalter gebührt das Lob, mehr als die vorhergehenden mit Kritik untersucht.. .geläutert und aufgeklärt zu haben; deswegen es auch von einigen mit Recht den Beynamen des kritischen erhalten hat" (Buhle 1790 [zitiert nach Koselleck 196]). 5. Die Idee einer Kritik der reinen

Vernunft

Die frühesten Zeugnisse für Kants eigenen Gebrauch des Wortes und Begriffes „Kritik" sind in Logikreflexionen aus den 1760er Jahren erhalten. Die (objektive) Logik dient hier der Kritik des Vernunftgebrauchs oder als eine medicina mentis (Refl. 1573, Akad. Ausg. XVI, 13), genauer als catharticon des Verstandes (ebd.) oder der Vernunft. Die Kritik als Wissenschaft der gesunden Vernunft dient ebenso zur Verbesserung des Vernunftgebrauchs wie die Grammatik zur Verbesserung des Sprachgebrauchs (Refl. 1574, 1579, ebd. 14,19) Beide können nur Fehler verbessern, aber nicht selbst den richtigen Gebrauch erzeugen. Eben diese Funktion hat im Bereich der Sinnlichkeit die Ästhetik: sie dient zur Kritik des Geschmacks, obwohl ihre Regeln nur empirisch gewonnen sein können. Die Logik als Kritik, „Disziplin" oder catharticon der gemeinen Vernunft ist aber jenseits dieses Parallelismus zur Ästhetik eine Theorie oder Wissenschaft, deren Vernunftregeln selbst aus der Vernunft bewiesen werden, also ist sie nicht bloß Kritik, sondern dient nur auch zur Kritik. Die Ästhetik aber soll eine Vernunfterkenntnis des Schönen aus empirischen Begriffen sein und ist insofern nur Kritik (Refl. 3716, ebd. 255). Trotz des genannten entscheidenden Unterschieds zwischen Logik und Ästhetik wird die Kritik als das gemeinsame Genus beider Disziplinen begriffen. Diese Auffassung steht also noch unter dem Einfluß Baumgartens. Bald darauf heißt es deutlicher: „Die Vernunfterkenntnis des Schönen ist nur Kritik und nicht Wissenschaft" (Refl. 622, wohl 1769, ebd. XV, 269) und: „Es gibt keine Theorie des Geschmacks" (Refl. 1585, ebd. XVI, 26). In diesem Zusammenhang wird auf Henry Homes Grundsätze der Kritik erstmals hingewiesen: „Schöne Künste erlauben nur Kritik. Home. Daher keine Wissenschaft des Schönen" (Refl. 1588, ebd. XVI, 27). An dieser Auffassung hat Kant von nun an festgehalten. Damit ist Baumgartens Ästhetik für ihn ein gescheitertes Projekt. Ebenfalls aus der Zeit um 1769 scheint die Reflexion 3957 zu stammen, in der erstmals die „Philosophie der einen Vernunft" als ganze „kritisch" genannt wird. Sie ist nämlich entweder dogmatisch (als theoretische Logik, theoretische Moral und allgemeine Naturwissenschaft) oder „kritisch, mithin subjektiv" (ebd. XVII, 366. Vgl. Refl. 3964, ebd.

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XVII, 368). Es hat somit den Anschein, als sei in dieser Zeit die Idee einer kritischen Philosophie der reinen Vernunft entstanden. Wie diese Kantische Vernunftkritik nun „zetetisch, skeptisch" (Refl. 3957) genannt wird, weil sie als Untersuchung des erkennenden Subjekts die Metaphysik in ihrer objektiven Gültigkeit als ein ungelöstes Problem ansehen muß, so wird nach der Dissertation De muttdi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770) die skeptische Methode zu einem Prüfstein der Möglichkeit einer Metaphysik überhaupt. Stellt man die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft in Frage, so gibt es neben der Prüfung metaphysischer Beweise auf formale Schlußfehler eine zweite, bessere Methode: „einem Beweise einen andern und zwar ebenso überzeugenden des Gegenteils zu opponieren" (Refl. 4454, ebd. XVII, 557). Durch diese Methode der „Critik der Metaphysik" (ebd.) wird man am besten eines Fehlers in strengen metaphysischen Beweisen gewahr, nämlich der Verwechslung des Subjektiven mit dem Objektiven, also eines Scheins in der Vernunfterkenntnis. Soll dieser verhütet werden, so bedarf es einer Untersuchung des Erkenntnisvermögens selbst: „Die Transzendentalphilosophie ist Kritik der reinen Vernunft, Studium des Subjekts" (Refl. 445, ebd. XVII, 558). Im Brief an Marcus Herz vom 21.2.1772 ist die Idee des späteren Hauptwerkes klar ausgeprochen. Kant fühlt sich jetzt imstande, „eine Kritik der reinen Vernunft vorzulegen" (ebd. X , 132). Das geschieht aber erst neun Jahre später. Kants Buchtitel Kritik der reinen Vernunft entlehnt den Namen der Kritik aus der als „Kritik der Vernunft überhaupt" verstandenen Logik und überträgt ihn auf die von ihm neu konzipierte Transzendentalphilosophie. Diese ist eine „Logik der reinen Vernunfterkenntnis" und handelt „von der Möglichkeit, dem Inbegriff und den Grenzen aller Erkenntnis der reinen Vernunft (auch der reinen Mathematik)" (Refl. 5644, ebd. XVIII, 285). Daß aber auch diese Art von Logik „Kritik" genannt wird, verdankt sie ihrer Verwandtschaft mit der irreführend „Ästhetik" genannten Kritik des Gcschmacks. Während diese die Produkte des Genies als Objekte der Beurteilung voraussetzt, ist es die dem Menschen natürliche, aber zugleich trügerische Metaphysik, die eine Kritik der reinen Vernunft unumgänglich macht. Nur sofern das natürliche Produkt der reinen Vernunft fehlerhaft ist, also entweder Scheinbeweise für die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele geführt werden oder die Beweisresultate sich sogar widersprechen (wie es in der kosmologischen Antinomie der Fall ist), zeigt sich, daß die Naturanlage zur Metaphysik selbst und nicht dieses oder jenes metaphysische System der Kritik bedarf. 6. Von der Metakritik

zur Kritik der politischen

Ökonomie

6.1. Metakritik (Hamann und Herder). Alle philosophische Kritik nach Kant ist von Kants Vernunftkritik beeinflußt. -»Hamanns zunächst ungedruckte Rezension der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (von 1781, gedruckt 1802) ist bestimmt vom Protest gegen die vermeintliche Anmaßung der Kantischcn Metaphysik, deren Prinzipien „heiliger als der Religion und majestätischer als der Gesetzgebung ihre" (Hamann 111,277) sein sollen und die sich zu monarchischer Würde aufschwingen will. Die Metakritik über den Purismum der Vernunft (1784, gedruckt 1800) polemisiert gegen die Kantische Reinigung der Philosophie, d. h. gegen den Versuch, „die Vernunft von aller Überlieferung, Tradition und Glauben daran unabhängig zu machen" (ebd. 284) sowie gegen ihre prätendierte „Unabhängigkeit von der Erfahrung und ihrer alltäglichen Induktion" (ebd.). Hamanns Metakritik nimmt Kants Vernunftkritik als letzten Ausdruck „eines kritischen Jahrhunderts" (ebd.), das sich gegen Empirismus und Tradition in Religion und Gesetzgebung gewandt hatte. Dabei findet Hamann in der Kantischen Kritik einen Skeptizismus, der dem Humes ähnlich sei, und wendet sich gegen die „Rechthaberey, Zweifelsucht und Kunstrichterschaft" (ebd. 284) der reinen Vernunft, deren Purismus seine größte Schwäche in der Vernachlässigung der Sprache hat. Die Sprache ist nach Hamann „das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Creditiv als Uberlieferung und Usum" (ebd.). Sie ist auch der „Mittelpunkt des Misverstandes der Vernunft mit sich selbst" (ebd. 286), also derjenigen Dialektik, die

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Kants Hauptwerk kritisieren wollte. Kants leerer Formalismus und seine unsinnige Vorliebe für die Mathematik haben es ihm aber unmöglich gemacht, die Sprachlichkeit der Vernunft und die Erfahrungsabhängigkeit aller Vernunfterkenntnis als die wahre Basis aller Vernunftkritik zu erkennen. -»Herders Abhängigkeit von Hamann ist so offensichtlich, daß sie ihm sogar den Plagiatsvorwurf eingetragen hat, wohingegen Hegel meinte, daß seine Metakritik mit der Hamannschen nur den Titel gemein habe. Herders Einwände gegen das Kantische Unternehmen richten sich schon gegen den Buchtitel Kritik der reinen Vernunft: „Ein Vermögen der menschlichen Natur kritisiert man nicht. . . . Künste, Wissenschaften, als Werke der Menschen betrachtet, kritisiert man... nicht aber Naturvermögen" (Herder XXI, 17). Die Natur und ihre Vermögen zu kritisieren ist entweder sinnlos, da hier kein bewußt handelnder Autor getadelt und zur Besserung angehalten wird, oder vermessen, da solche Kritik Überlegenheit gegenüber der Natur und ihrem göttlichen Ursprung beansprucht. Aber selbst wenn eine solche Kritik als sinnvoll angesehen werden könnte, so läßt sich ihre Haltlosigkeit zeigen. Denn das Kritisieren als ein Richten setzt gegebene Gesetze als Maßstäbe und Normen der Kritik voraus. Soll die Vernunft kritisiert werden, so ist sie sowohl Richterin über sich selbst, also nicht unparteiisch, als auch Maßstab der Kritik ihrer selbst, also zugleich Gesetz (und Zeuge) in diesem seltsamen Gerichtsverfahren. Die über die „reine" Vernunft richtende Vernunft ist aber weder eine höhere als die menschliche, noch eine von den anderen Seelenvermögen abtrennbare, noch eine von der Sprache unabhängige Vernunft, und da Kant derartiges mit dem Titel seines Hauptwerkes prätendiert, läßt sich schon aus ihm allein dessen Hinfälligkeit dartun. Die einzig sinnvolle Untersuchung der menschlichen Vernunft sei „eine Physiologie der menschlichen Erkenntniskräfte" (ebd.). Ohne eine solche empirische Physiologie ist Vernunftkritik die Kritik eines Kriteriums aller Kritik, das selber aller Kriterien, allen Kanons und aller Regel entbehrt. Die Kriterien- und damit die Kritiklosigkeit der Kantischcn Vernunftkritik zeigt sich nach Herder vor allem auch an der Kritik der Urteilskraft. Die objckt- und regellose reine Vernunft (im weiteren Sinne des Wortes) habe hier als erfahrungsunabhängiges Vermögen die Macht, „sich vor und ohne alle Erfahrung die Natur zu schaffen" (ebd. X X , 3 ) . Der Vorwurf, den Herder in der Kalligone (1800), seiner Metakritik zur Kritik der Urteilskraft, gegen Kant erhebt, ist folglich der, daß er die Philosophie zur Phantasie, zur Abstraktionendichtung gemacht habe, wie sich für Herder vor allem an Fichtes Idealismus zeigt: „Kritik und Philosophie haben damit ein Ende", die „Akritik" bzw. „Akrisie" setzt sich auf ihren Thron (ebd. X X I I , 8).

6.2. Hegels drei Konzeptionen der Kritik. Obwohl -»Hegel sich über Herder meist im Tone der Herablassung äußert, ist seine Ablehnung der Kantischen Vernunftkritik kaum weniger entschieden und wohl auch von Herder beeinflußt. Freilich nimmt der Kritikbegriff keine zentrale Stellung ein und zerfällt bei näherem Hinsehen in mehrere heterogene Kritikkonzeptionen. 6.2.1. Der aufklärerische Begriff der Kritik wird bei Hegel zunächst auf den der Rezension der Bücher und Systeme reduziert: Schelling und Hegel sind für eine kurze Zeit die einzigen Autoren eines Kritischen Journals der Philosophie (1801 -02). Der programmatische Aufsatz Über das Wesen der philosophischen Kritik..., der von Hegel in Zusammenarbeit mit Schelling verfaßt zu sein scheint, betont die Angewiesenheit der Kritik auf einen Maßstab, der vom Beurteilenden ebenso unabhängig sei wie vom Beurteilten. Dieser Maßstab sei die Idee der Philosophie, die sich zu einzelnen philosophischen Werken wie das Absolute zum Bedingten verhalte. Hier sind also Gedanken des Platonischen Idealismus mit solchen der Kantischen transzendentalen Dialektik verbunden worden, um ein antikantisches Kritikkonzept zu begründen. Es gibt nur eine Philosophie, weil es nur eine Vernunft gibt und die Philosophie nichts anderes als das Selbsterkennen der Vernunft ist. Dieses Selbsterkennen ist zugleich Erkennen des Absoluten, d. h. Gottes oder der Natur. Das Absolute als die Wahrheit der Vernunft macht Kritik als objektive Beurteilung philosophischer Werke möglich. 6.2.2. In seiner Wissenschaft der Logik dagegen beansprucht Hegel, die berechtigten Absichten Kants verwirklicht zu haben. Er wendet gegen die vorkantische Metaphysik

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ein, sie habe die logischen Formen „ohne Kritik gebraucht", d. h. „ohne die vorgängige Untersuchung, ob und wie sie fähig seien, Bestimmungen des Dings-an-sich, nach Kantischem Ausdruck, oder vielmehr des Vernünftigen zu sein" (Werke V, 61 f). Hegels objektive Logik ist dagegen „die wahrhafte Kritik" der Kategorien und Reflexionsbestimmungen, „eine Kritik, die sie nicht nach der abstrakten Form der Apriorität gegen das Aposteriorische, sondern sie selbst in ihrem besonderen Inhalt betrachtet" (ebd. 62). Von dieser wahren Kritik aus gesehen erscheint (wie bei Herder) das Kantische Verfahren als Kritiklosigkeit, da Kant es nach Hegel versäumt hat, die Formen der allgemeinen reinen (d.h. der formalen) Logik, den Satz vom Widerspruch, die Konversionsregeln und die syllogistischen Formen, einer Kritik zu unterwerfen. 6.2.3. Das Gegenprinzip zur Kritik, das der Autorität, wird von Hegel in einem Brief an Niethammer (21. Januar 1808) allerdings ausdrücklich anerkannt: „Von der Autorität müssen wir ohnehin anfangen, d . h . von dem Glauben, daß um ihres Ruhmes willen - wie andere zunächst um des Ansehens in einem Staate willen - Plato und Aristoteles...mehr Zutrauen als unsere Gedanken v e r d i e n e n . . . " (Hegel, Briefe I, 209). Und vom Ansehen der französischen Staatszeitung Motiiteur heißt es lobend, d a ß auf seine literarische Seite, d . h . seine Rezensionen schriftstellerischer Werke, von seiner politischen Seite her „ein Schein von Autorität" (ebd.) falle. Dieser Gedanke eines durch staatliche Autorität getragenen Rezensionsorgans, einer kritischen Literaturzeitschrift unter den Auspizien der obersten Staatsgewalt, hat Hegel auch während seiner Berliner Zeit beschäftigt (1819-1920). In einem Gutachten zur Errichtung einer solchen Zeitschrift in Berlin an den Minister Altenstein bestätigt Hegel alle Vorurteile über ihn als den preußischen Staatsphilosophen. Hegels Konzept einer regierungsamtlichen Literaturkritik stellt diese nicht nur in den Dienst der Staatszwecke, sondern beruht auch auf dem ausdrücklich ausgesprochenen Willen, durch Ansehen und Autorität, die sich aus der Kollaboration von Regierung und Wissenschaftlern ergeben sollen, auf die wissenschaftliche Produktion der übrigen gelehrten Schriftsteller einzuwirken, deren Abhängigkeit von Autorität und Tradition ohnehin bestehe. Der „bisherige Mangel eines imponierenden wissenschaftlichen und literarischen Mittelpunktes in Deutschland" (ebd. 18) soll aber nicht nur behoben, sondern darüber hinaus eine ganz bestimmte kulturpolitische Wirkung erzielt werden. Es gilt nämlich nicht nur dem „negativen Geiste gegen das Gediegene, Geltende und Anerkannte" entgegenzutreten, sondern auch darauf hinzuwirken, daß in der jetzigen Zeit [der von Fries angeführten Burschenschaften] im Praktischen und Politischen nicht „die Bahn z u . . . törichten, gefährlichen, verbrecherischen Unternehmungen und Handlungen eröffnet" werde (ebd.). Die Hegeische Kritik stellt sich also in den Dienst der Staatssicherheit und der Revolutionsprophylaxe und sieht in diesem Dienste ihre Würde, sie will dem „Geiste des Negativen gegen das Anerkannte und Anzuerkennend e " widerstehen (ebd.).

6.3. Kritik des Himmels verwandelt in die Kritik der Erde. Eine gegen die deutsche Wirklichkeit gerichtete Kritik, die zugleich eine Verwirklichung und Aufhebung der (Hegelschen) Philosophie sein will, finden wir bei den Junghegelianern und beim frühen Marx. M a r x ' Begriff der „kritischen Philosophie" (Marx/Engels, Werke I, 346), d . h . der zur Kritik gewordenen Philosophie, schließt sich also nur verbal an Kant an. Sofern kritische Philosophie als Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche gedacht wird, liegt diesem Gedanken die Hegeische Vorstellung von der Philosophie als ihre Zeit in Gedanken erfaßt zugrunde. Weil nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wissenschaft von den materiellen Lebensverhältnissen der Menschen, die Nationalökonomie, als Ausdruck der herrschenden Ideen und Interessen einer geschichtlichen Epoche angesehen werden muß, ist eine Kritik realer geschichtlicher Verhältnisse durch eine Kritik der ihnen korrespondierenden Ideen und Theorien möglich. Kritik der größten Philosophie ihrer Zeit, der Hegeischen, Kritik der Wissenschaft von den entwickeltsten Gesellschaften ihrer Zeit, der politischen Ökonomie, und Kritik der Gegenwart, des Bestehenden, gehören also zusammen wie „das Philosophischwerden der Welt" und „das Weltlich-Werden der Philosophie" (Marx/Engels, Werke, Erg. Bd. I, 328). Nach der Rezeption der Feuerbachschen Religionskritik hat M a r x einen neuen Begriff von Kritik. Eine mit ihrem Gegenstande kämpfende Kritik ist eine „vulgäre" Kritik, die etwa die Widersprüche in der jetzigen Staatsverfassung aufweist. Die „wahrhaft philosophische Kritik" (Marx/Engels, Werke I, 296) dieser Konstitution besteht nicht nur im

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Aufweis solcher Widersprüche, sondern in deren Erklärung: „Sie begreift ihre Genesis, ihre N o t w e n d i g k e i t . . . " (ebd.). Dieses Begreifen besteht in der Erfassung der eigentümlichen Logik eines eigentümlichen Gegenstandes. Und dies geschieht nun nach dem M u s t e r der Feuerbachschen Erklärung des Wesens der Religion durch die Darstellung der inneren Genesis eines Gedankens im menschlichen Gehirn. Mit - » F e u e r b a c h ist für M a r x die Kritik der Religion im wesentlichen vollendet, „ u n d die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller K r i t i k " ( a . a . O . 3 7 8 ) . Jetzt ist es die Aufgabe der Geschichte, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren: „ D i e Kritik des H i m m e l s verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik" (a. a. 0 . 3 7 9 ) . D a m i t hat sich das M a r x s c h e Konzept einer immanenten Kritik nicht gewandelt, wohl aber wird jetzt die Weltlichkeit und Parteilichkeit der Philosophie voll bejaht, und in dem humanistischen Gehalt der Feuerbachschen Reduzierung der Religion auf ein falsches Bewußtsein des Menschen von sich selbst wird nun zugleich der zureichende Grund für eine kritische Praxis, die gewaltsame Revolution, gesehen: „ D i e Waffe der Kritik k a n n . . .die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt m u ß gestürzt werden durch materielle G e w a l t " ( a . a . O . 3 8 5 ) . Die materielle Gewalt soll von der Philosophie ausgehen, und diese kann die M a s s e n ergreifen, wenn sie mit Feuerbach die Menschlichkeit des Menschen an die Stelle des die politische Unterdrückung und ö k o n o m i s c h e Ausbeutung sanktionierenden Gottes setzt. Unmittelbar im Anschluß an diese Einleitung Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts folgen in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern Engels' Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie. In Marx' eigenen ökonomisch-philosophischcn Manuskripten (1844) wird nun Kritik nicht mehr nur an Hegels Rechtsphilosophie, sondern im Gefolge Feuerbachs an den Grundlagen des Hegeischen Systems und an der Rolle der Kritik bei Hegel geübt. Neben der Religion wird jetzt „der Reichtum etc." (Marx/Engels, Werke, Erg.Bd. 1,573) als entfremdete Wirklichkeit der menschlichen Vergegenständlichung genannt, und Hegel wird dafür getadelt, daß er verkennt, daß Religion und Reichtum nur zu dem Weg der Entäußerung und der Aneignung der wahren menschlichen Wirklichkeit gehören. Statt dessen sieht Hegel in Religion, Staatsmacht etc. geistige Wesen und macht den denkenden Geist zum wahren Wesen des Menschen. Hegels Kritik von Bewußtseinsgestalten ist also nur eine Scheinkritik. Die Nationalökonomie dagegen handelt von der realen menschlichen Entfremdung. Dafür daß die Kritik der politischen Ökonomie ab 1845 an die Stelle der philosophischen Kritik der Philosophien Hegels, Feuerbachs, Bauers und Stirners tritt, gibt die Deutsche Ideologie die Begründung. Die Philosophie selbst wird hier als eine der Formen des Bewußtseins abgeleitet, die sich aus der Teilung der Arbeit ergeben. Die Produktionsweisen des Lebens der Menschen und die damit zusammenhängenden Verkehrsformen erklären auch die Entstehung der Ideologien. Die Metatheorie der Philosophien und anderer ideologischer Ausdrucksformen der Gesellschaft ist die Wissenschaft von der Geschichte der materiellen Lebensverhältnisse der Menschen, sie tritt als Wissenschaft von den praktischen Entwicklungsprozessen an die Stelle der Philosophie als die neue umfassende und grundlegende Wissenschaft. Nennt man die Gesamtheit der materiellen Lebensverhältnisse mit Hegel „bürgerliche Gesellschaft", so ist deren „Anatomie" die politische Ökonomie (Marx/Engels, Werke XIII, 8). Marx freilich versteht unter seiner Kritik der politischen Ökonomie eine „Kritik der ökonomischen Kategorien" oder das „System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt": „Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben" (Marx/Engels, Werke X X I X , 550). Muster einer solchen Entwicklung von Kategorien, die zugleich Darstellung und Kritik ist, ist unverkennbar Hegels Wissenschaft der Logik, die ihrerseits beanspruchte, die wahrhafte Ausführung des Projekts der Kantischen Vernunftkritik zu sein. 7. Neuzeit:

Zeitalter

der

Kritik

Als J o h a n n Georg H a m a n n 1781 die erste Auflage von Kants Kritik der reinen Vernunft rezensierte, begann er seine Anzeige mit einem Z i t a t aus der ersten F u ß n o t e zur Vorrede des neuen Werkes: „ U n s e r Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, w a s ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten k ö n n e n " (A X l n ) . Kritik als freie öffentliche Prüfung in Angelegenheiten der

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Wissenschaften und Künste, aber auch der Religion und Gesetzgebung charakterisiert nach Kant den Geist seines sich aufklärenden Zeitalters, das er, was die Blüte der Naturwissenschaften betrifft, spätestens mit Francis Bacon beginnen läßt (B X I I ) . In der Metaphysik äußert sich die gereifte Urteilskraft des Zeitalters in einem skeptischen Indifferentismus gegen die Ansprüche dieser ehemaligen Königin aller Wissenschaften, den Kant als eine Aufforderung an die Vernunft begreift, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, das der Selbsterkenntnis, erneut zu übernehmen. Wenn Kant die skeptische Methode in der Metaphysik, insbesondere bei David - » H u m e , als Beweis einer an sich lobenswerten Gründlichkeit der Denkungsart interpretiert, der er selbst durch strenge Kritik der Metaphysik und ihrer subjektiven Quelle, der reinen Vernunft, zu entsprechen sucht, so stellt er sich damit in eine Tradition der Selbstkritik, in welcher er den wissenschaftlichen Charakter der Neuzeit erblickt. Das „eigentliche" Zeitalter der Kritik ist dasjenige, in dem nicht nur wie in früheren Zeiten hin und wieder Zensur an wissenschaftlichen Unternehmungen geübt wird, sondern das die strenge Prüfung der Prinzipien einer Wahrheit beanspruchenden Aussage zum Kriterium ihrer Zulässigkeit in der Wissenschaft macht. „Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik, d. i. einer scharfen Beurteilung der Fundamente aller Behauptungen, zu welcher uns die Erfahrenheit langer Zeiten, und vielleicht auch die durch den berühmten Baco von Verulam in Gang gebrachte behutsame Nachforschung der Natur durch Beobachtung und Experiment nicht allein in den Behauptungen der Naturwissenschaft, sondern nach der Analogie auch in allen übrigen gebracht hat, von welcher die Alten nichts w u ß t e n . . . Hierin kann uns schwerlich ein zukünftiges Zeitalter übertreffen, wenn wir gleich von diesen Principien der Kritik aus Nachlässigkeit öfters nicht wie wir sollten Gebrauch machen. Sicherlich übertrifft uns hierin kein vergangenes Zeitalter, und dieses kann also der wissenschaftliche Charakter des unsrigen genannt werden" (Reil. 5645, ebd. X V I I I , 287f). Der Geist der rücksichtslosen Prüfung aller Behauptungen und Ansprüche unter dem Aspekt ihrer Begründbarkeit, die Nachfrage nach den Gründen der prätendierten Gewißheit, die sich nicht nur in den Wissenschaften (einschließlich der Geschichtswissenschaft), sondern auch in Religion und Politik als das Signum des Zeitalters aufweisen lassen, sie entstammen dem Geist der Aufklärung, der sich im methodischen Zweifel Descartes' ankündigte. Die Sicherung der Erkenntnis durch Kritik als Kunst, bloßes Meinen und Wissen dadurch zu unterscheiden, daß alle Behauptungen, die als Ausdruck des Wissens anerkannt werden sollen, vorher einer Prüfung ihrer Prinzipien unterworfen werden, ist eine der Denkungsart der Aufklärung entsprechende Verhaltensweise der Vernunft, in der sie sich ihrer selbst versichert. Denn die Vernünftigkeit des Menschen in allen Angelegenheiten seines theoretischen und praktischen Verhaltens besteht in gar nichts anderem als der unbedingten Unterwerfung unter die von seiner eigenen Vernunft geübte Kritik. In solcher Selbstkritik sichert der Mensch nur seine Zugehörigkeit zur allgemeinen Menschenvernunft, vor der er als empirisches Individuum bestehen oder nicht bestehen mag. Z u den politischen Implikationen dieser für alle gleichen Teilhabe an der die Republik der Geister konstituierenden allgemeinen Vernunft gehört der Legitimationsverlust für jeden Machthaber, der die natürlicherweise völlig unbeschränkte Freiheit der Kritik einschränken will. Quellen Friedrich Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik u. Kritik, Landshut 1808. - Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, Frankfurt a . d . O . 1750 = Hildesheim 1 9 6 1 . - D e r s . , Metaphysica, Halle/Saale 7 1779 = Hildesheim 1963. - Johann Jacob Bodmer, Brief-Wechsel v. der Natur des Poetischen Geschmacks, Zürich 1736 = Stuttgart 1966. - Ders., Nachrichten v. dem Ursprung u. Wachsthum der Critik bey den Deutschen: Sammlung der Zürcherischen Streitschr. zur Verbesserung des dt. Geschmacks wider die Gotcschedsche Schule, v. 1 7 4 1 - 1 7 4 4 , Neue Ausg. Zürich, I 1758. Ders., Vorrede zu Johann Jacob Breitingers Critischer Dichtkunst, Zürich 1740 = Stuttgart 1966. Ders./Johann Jacob Breitinger, Die Discourse der Mahlern, Zürich 1721 = Hildesheim 1969. Denis Diderot, Ouevres completes, hg. v. J . Assézat, Paris 1876. - Johann Christoph Gottsched,

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Manfred Baum

II. T h e o l o g i s c h (Anmerkung/Literatur S. 80)

Aufgabe der Kirche ist die Bezeugung des Wortes Gottes vor allem in Verkündigung und -•Lehre; diese geschehen in der Uberzeugung und mit dem Anspruch, das lebenschaffende Wort der Wahrheit zur Geltung zu bringen, unterliegen aber als menschliche

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Verkündigung und Lehre der Gefahr des Irrtums und der Verfälschung. Deshalb ist die Aufgabe der -»Theologie so zu bestimmen, daß sie die Prüfung ( = Kritik) kirchlicher Verkündigung und Lehre auf ihre Sachgemäßheit und Wahrheit hin einschließt. Außerdem hat sie über Grund und Gegenstand des christlichen Glaubens im Kontext des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins methodisch verfahrende Rechenschaft zu geben. Dazu muß sie Unterscheidungen treffen, die an benennbaren Kriterien orientiert sind. 1. Eine erste Unterscheidung, die die Theologie vorzunehmen hat, betrifft die Identifikations- und Konstitutionsbedingungen ihrer Aussagen. Zwischen dem unverfügbaren, Glauben begründenden Offenbarungshandeln Gottes, das als Evidenz des Wahrseins der Christusbotschaft erfahren wird, und dem in Verkündigung, Bekenntnis und Lehre sich artikulierenden Handeln von glaubenden Menschen, das sich auf die Christusbotschaft als ihren Grund und Inhalt bezieht, ist fundamental zu unterscheiden, obwohl zwischen beiden eine die Glaubensaussagen als solche konstituierende und identifizierende Verbindung besteht. Nach evangelischer Überzeugung darf darum keine theologische Aussage die Autorität göttlichen Redens für sich in Anspruch nehmen, sondern muß sich gerade vor jeder derartigen Möglichkeit einer Verwechslung zu schützen versuchen. Andererseits kann sie Anerkennung als Glaubensaussage beanspruchen nur dann, wenn (und nur insofern, als) sie mit der ursprünglichen Offenbarung in dem Mensch gewordenen Logos durch einen erkennbaren inhaltlichen Bezug verbunden ist (vgl. u . a . K. Barth, KD 1/1, 42 f.281 f; W. Härle/E. Herms: VuF 27/2,4 f). „Das Christentum als Christentum ist weder letztgültig noch normgebend. Aber das, wovon es Zeugnis ablegt, ist letztgültig und normgebend" (P. Tillich, Syst. Theol. 1,161). Aus dieser Unterscheidung und Zuordnung von Glaubensgrund und Glaubensaussage resultiert ein protestantische von römischkatholischer Theologie unterscheidendes Verhältnis zu den überlieferten Dogmen und Bekenntnissätzen: Danach ist das -»Wort Gottes im strengen Sinn auch von diesen Menschenworten kategorial zu unterscheiden, wenn ihnen auch als einer bewährten Interpretation des Christuszeugnisses ein hoher Rang zuzumessen ist, sie ihre abgeleitete Autorität aber allein der Relation zum überlieferten Offenbarungswort verdanken und darum der dogmatischen Kritik nicht prinzipiell entzogen sind. 2. Um den wesentlichen Gehalt und den Wahrheitsanspruch der Christusbotschaft darlegen zu können, muß die Systematische Theologie sich zunächst an die Regeln geisteswissenschaftlicher Arbeit halten. Sie wird also für sich und ihre Gesprächspartner semantische Rationalität und logische Konsistenz ihres Argumentierens fordern, da ohne diese Grundbedingungen sprachliche Kommunikation über einen erkennbar vorgegebenen Sachverhalt nicht gelingen kann (vgl. u . a . D. Ritsehl 109-129; P. Tillich, Syst. Theol. I, 65 - 7 3 ) . Systematisch verfahrende Rechenschaft über den christlichen Glauben unterscheidet sich daher selbstkritisch sowohl von einer bloßen Rezeption überlieferter Sätze (Traditionalismus, Dogmatismus) als auch von einer prinzipiellen Relativierung ihres Wahrheitsanspruchs durch vollständige Rückführung auf die historischen Entstehensbedingungen (Historismus). Da „nicht das Widersprüchliche gleichzeitig wahr sein" kann (E. Brunner, Dogmatik 1,60), ist vor allem die Beachtung des Widerspruchssatzes fundamental. Ontologische Spannungen oder logische Aporien sind damit nicht schon bestritten; sie werden jedoch auf diese Weise überhaupt erst präzise benennbar. Nicht der christliche Glaube selbst, wohl aber seine inhaltlichen Behauptungen müssen auf Gründe überprüfbar, von sinnlosen und falschen (weil inkohärenten) Aussagen unterscheidbar sein. 3. Die Forderung einer hinter die den Glauben begründende Offenbarung zurückgehenden Letztbegründung ist zwar unerfüllbar und unangemessen; doch ist gerade deshalb das ursprüngliche Zeugnis von dieser Offenbarung ein entscheidendes Kriterium zur Unterscheidung wahrer und falscher Glaubensaussagen: Sie können als wahr erwiesen werden nur dann, wenn sie zu dieser ganz bestimmten Botschaft nicht in einem kontradiktorischen Widerspruch stehen, diese vielmehr in ihrer jeweiligen Epoche identifizieren und sachgemäß explizieren. Ihr Wahrheitsanspruch ist begründbar durch ihre Christus-

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gemäßheit, die durch die Auslegung des Christuszeugnisses der Heiligen Schrift zu bestimmen und zu überprüfen sowie in Bekenntnis und Lehre zum Ausdruck zu bringen ist 1 . Da uns das ursprüngliche Christuszeugnis auch in Gestalt menschlicher Worte überliefert ist, bedarf es unterscheidender Exegese, in der der Wortlaut der Texte daraufhin zu befragen ist, wie in ihnen die befreiende Botschaft vom Heilshandeln Gottes (Kerygma) zur Sprache kommt (Bibelkritik [-»Bibelwissenschaft]). Das zirkuläre Geschehen, in dem das Kriterium für die offenbarungs- und darum sachgemäße Interpretation der Schrift aus ihr selbst gewonnen wird, um dann auch als Kriterium für die Verkündigung und Lehre der -»Kirche zu dienen, entspricht der Doppelgestalt des Christuszeugnisses, das uns in einem geschichtlichcn Interaktionsprozeß als „äußeres Wort" vermittelt wird und sich uns durch Gottes Offenbarungshandeln als „inneres Wort" in seinem Wahrsein erschließt. Während für römisch-katholische Theologie auch die vom kirchlichen Lehramt als zu glauben vorgelegten Dogmen aufgrund des für ihre Formulierung in Anspruch genommenen Beistands des Heiligen Geistes eine letztinstanzliche Wahrheitsquelle bilden, bleibt für evangelische Theologie das in der Bibel überlieferte ursprüngliche Christuszeugnis die einzige letztgültige Quelle und Norm aller verbindlichen Aussagen. Darum ist den aus der Schrift (als der norma normans) abgeleiteten Lehrentscheidungen (norma normata) nach evangelischer Auffassung Verbindlichkeit eigen, wenn und soweit sie in dem oben genannten Sinn „schriftgemäß" sind, nicht aber weil sie als solche bereits als schriftgemäß zu gelten hätten (W. Joest, Dogmatik I, 51 f; C.-H. Ratschow 35; E. Brunner, a . a . O . 61 ff; vgl. W. Kern/F.-J. Niemann 129.169f). 4. Die wichtigste Aufgabe der Systematischen Theologie liegt freilich in der prinzipiell unabschließbaren hermeneutischen Arbeit, durch die das Evangelium in Identität mit sich selbst und zugleich für jede neue Generation mit ihrem Welt- und Selbstverständnis neu zur Sprache zu bringen ist. Dogmatische Kritik wird für diese schöpferische Tätigkeit darin bestehen, sowohl die Fragen, die an die christliche Botschaft gerichtet werden bzw. zu richten sind, als auch die Antworten, die aus dem Evangelium gegeben werden bzw. zu geben sind, so miteinander zu verknüpfen und so voneinander zu unterscheiden, daß die christliche Botschaft weder zu bloßer Tradition erstarrt noch ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Denken einer Zeit - und damit ihre Funktion als Ursprung und Grund des existenzerneuernden Glaubens - verliert. Je klarer das Bewußtsein der Gegebenheit des Glaubensgrundes und der universalen Relevanz der Christusbotschaft ausgeprägt ist, um so eher können auch radikale Fragen aufgenommen und an die Christusoffenbarung gerichtet werden (-»Religionskritik), um so überzeugender kann die Antwort wirken, die aus der ewigen Wahrheit des Gotteswortes heraus die Wahrheitsgewißheit des Glaubens begründet. Wortbezug und Lebensbezug sind als essentielle Merkmale christlichen Glaubens in sich gegenseitig herausfordernder und befördernder Spannung zu halten. Obwohl das Wahrsein der christlichcn Botschaft mittels empirischer Erkenntnis nicht erwiesen werden kann, ist ihr Wahrheitsanspruch doch allgemeiner Erkenntnis zugänglich zu machen; darum expliziert die Dogmatik den Gehalt und das Wahrheitsbewußtsein des christlichen Glaubens gerade auch gegenüber einer nicht christlichen Gesellschaft, um ihrem Selbstverständnis als denkerische Rechenschaft über den Glauben entsprechend den universalen Anspruch des Evangeliums hörbar und verstehbar werden zu lassen. 5. Eine Krise des Wahrheitsanspruches des christlichen Glaubens entsteht nun nicht nur durch seine Befragung und Bestreitung von außerhalb der Glaubensgemeinschaft, sondern — mit noch tieferreichenden Konsequenzen — durch eine Entstellung oder Verfälschung innerhalb ihrer. Die heftigen Reaktionen des Apostels Paulus auf die „Verkehrung des Evangeliums" in Galatien und das der „Wahrheit des Evangeliums" widersprechende Verhalten in Antiochia (s. Gal. 1 , 6 - 9 ; 2 , 1 1 - 2 1 ) sind frühe Beispiele für die Schutzbedürftigkeit der Christusbotschaft gegenüber einer falschen Interpretation durch Worte oder Handlungen. Die Glaubensbekenntnisse und Dogmen der Alten Kirche, die -»Bekenntnisschriften der Reformation oder die Barmer Theologische Erklärung bestätigen schon durch ihre Genese denselben Sachverhalt, der die Urteilsfähigkeit der Theologie vor die

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hohe Aufgabe stellt, das Evangelium notfalls durch Scheidungen zu schützen, ohne zugleich seinen Geist der Liebe und der Versöhnung zu verraten. Ihr gerecht zu werden, bedeutet keineswegs, die Glaubensinhalte durch möglichst viele und unbegrenzt geltende Verwerfungen einzuzäunen und damit nicht nur die Freiheit der Glaubenden zu persönlichem Bekenntnis einzuengen, sondern auch das neutestamentliche Skandalon durch eine Vielzahl von credenda zu verdecken. Die dogmatische Kritik hat darum die Schutzfunktion für die Auslegung des Evangeliums in der Situation aktueller Gefährdung der Glaubenswahrheit (in statu confessionis) eher durch eine klare Bezeugung der Christusbotschaft gegenüber ihrer Entstellung, als durch die - im Grenzfall notwendige - Verurteilung von -»Häresien wahrzunehmen. Dazu wird sie durch ein beständiges, auch selbstkritisches Hören auf das ursprüngliche Offenbarungszeugnis und, diesem zu- und nachgeordnet, auf die Bekenntnisse der Tradition instandgesetzt. 6. Schließlich stellt sich die Aufgabe dogmatischer Unterscheidung auch durch das Faktum der Existenz verschiedener Glaubensgemeinschaften auf dem Boden des Christentums mit z.T. einander widersprechenden Lehraussagen. Seit das Bewußtsein des gemeinsamen Gegründetseins in dem einen Evangelium gegenüber den früher weithin dominanten Lehrdifferenzen signifikant gewachsen ist, zeigt sich diese Aufgabe als eine doppelte: Zunächst geht es um eine sprachlich und sachlich möglichst präzise Bestimmung dieser Differenzen, die nicht ohne gemeinsame Lehrgespräche zu erreichen ist, dann aber auch um die Bestimmung des Verhältnisses der jeweiligen Differenzen zu dem allen gemeinsamen Grund des Versöhnungs- und Offenbarungshandelns Gottes in Christus, d. h. um den Charakter und den Grad ihrer kirchentrennenden Bedeutung. Da die Verheißung, der Geist Gottes werde in alle Wahrheit leiten (Joh 16,13), von keiner institutionell verfaßten Kirche exklusiv für sich in Anspruch genommen werden kann, wird es nur noch ein gemeinsames Bemühen um die aus der Christusoffenbarung folgende Wahrheitserkenntnis geben können, in der Wahrheitsgewißheit und Dialogbereitschaft nicht nur keine Gegensätze, sondern wesentlich zusammengehörige Grundhaltungen bilden und sich nicht zuletzt in ihrer Fähigkeit zu Selbstkritik und Kritik als solche bewähren. Anmerkung Die inhaltliche Grundnorm oder „Mitte der Schrift" läßt sich christologisch bzw. soreriologisch näher bestimmen als das, „was Christum treibet" (Luther, WA.DB 7,384), als Rechtfertigung allein aus Gnade/allein aus Glauben (paulinisch-reformatorisch) oder als „das Neue Sein" (P. Tillich, a.a.O. 61 f.164 u.ö.; vgl. K. Micskey 148f). 1

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Kritische Theorie I

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Manfred Marquardt

Kritische Theorie I. Philosophisch II. Theologisch

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I. Philosophisch 1. Das Konzept der frühen Kritischen Theorie 1.1. Theorie der Gesellschaft als interdisziplinäre Sozialforschung 1.2. Materialistische Sozialpsychologie 1.3. Kritische Theorie zwischen Wissenschaft und Philosophie 1.4. Kritische Theorie und Faschismus 2. Kritische Theorie als radikale Vernunftkritik 2.1. Vernunft und Herrschaft 2.2. Dialektik der Aufklärung 2.3. Negative Dialektik 3. Die Theorie kommunikativer Rationalität (Quellen/Literatur S. 94)

Ziel seiner theoretischen Überlegungen sei es, so leitet J. Habermas sein großes systematisches Werk, die Theorie des kommunikativen Handelns, ein, eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln, „die sich bemüht, ihre kritischen Maßstäbe auszuweisen" (1,7). Hinter dieser unauffälligen Formulierung verbirgt sich Habermas' Auseinandersetzung mit den Klassikern der Kritischen Theorie, M. Horkheimer und Th. W. Adorno. Beide haben auf je unterschiedliche Weise die Gcschichtc der Kritischen Theorie geprägt. Horkheimer formuliert das Konzept einer in emanzipatorischer Absicht entworfenen Theorie der Gesellschaft. Auf der Grundlage der Kategorien materialistischer Geschichtstheorie konzeptualisiert die frühe Kritische Theorie „Gesellschaft" (-»Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum) als Totalität des geschichtlichen Lebenszusammenhangs der Gattung. Die Bezugnahme auf die Idee eines geschichtlich sich bildenden Gattungssubjekts kennzeichnet die geschichtsphilosophischen Prämissen der Theorie: Das erkenntnisleitende Interesse an Emanzipation gilt als das den Konstitutionsprozeß des Gattungssubjekts selber forttreibende Vernunftinteresse, mithin als ein der Geschichte immanentes vernünftiges Bildungspotential, das die Theorie indes allein mit den Mitteln der -•Ideologiekritik, d. h. im Kampf gegen die affirmative Selbstauslegung des bürgerlich-idealistischen Denkens erschließen kann. Das den Theorieentwurf leitende Vertrauen in die geschichtswirksame Kraft jenes Vernunftpotentials widerlegt freilich die Geschichte selber. Der Faschismus, der hochzivilisierte „Rückfall in die Barbarei", dementiert das Fortschrittsverständnis materialistischer Geschichtstheorie und führt zu jener radikalen, vorzüglich durch Adorno vorangetriebenen Umorientierung der Kritischen Theorie, deren bedeutendstes Dokument die Dialektik der Aufklärung ist. Diese analysiert die unaufhaltsame Reduktion des kritisch-emanzipatorischen Gehalts der Vernunft auf das blinde Interesse an Selbsterhaltung und entlarvt als Bildungsprinzip der Menschheitsgeschichte das der Regression: Die unter dem Primat der Selbstbehauptung zum Instrument von Naturbeherrschung denaturierte -»Vernunft unterwirft alles, was einst Fortschritt heißen konnte, jenem blinden Wiederholungzwang, dessen spiritualisierteste Form Adornos Negative

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Kritische T h e o r i e I

Dialektik im Systemzwang der Hegeischen Dialektik aufspürt. Diese in den Kategorien eines negativ dialektischen Denkens entfaltete radikale Vernunftkritik entzieht dem Geltungsanspruch einer in praktischer Absicht entworfenen Gesellschaftstheorie das F u n d a ment. H a b e r m a s ' Bemühen u m die Wiederbelebung dieses Anspruchs stützt sich auf eine Einsicht, die dem philosophischen Bezugssystem beider Phasen der Kritischen T h e o r i e gilt. Seine T h e s e lautet: Im begrifflichen R a h m e n der Subjektphilosophie läßt sich das emanzipatorische Potential des erkenntnisleitenden Vernunftinteresses rational g a r nicht entfalten; und: die Analyse des Selbstzerstörungsprozesses der Vernunft legt nur jene kategorialen Z w ä n g e bloß, die auf der Grundlage der monologischen Struktur subjektzentrierter Vernunftphilosophie unvermeidlich sind. E s gilt vielmehr, so folgert Habermas, das Interesse an - » E m a n z i p a t i o n in der dialogischen Struktur sprachlich vermittelter Intersubjektivität zu situieren. Diese Einsicht motiviert Habermas* Wende von der Bewußtseinsphilosophie zu einer sprachtheoretisch fundierten Universalpragmatik. Auf dieser Grundlage entwickelt er seine T h e o r i e k o m m u n i k a t i v e r R a t i o n a l i t ä t , die er als normatives F u n d a m e n t einer die M a ß s t ä b e ihrer Kritik ausweisenden Gesellschaftstheorie beansprucht.

1. Das Konzept der frühen Kritischen

Theorie

1.1. Theorie der Gesellschaft als interdisziplinäre Sozialforschung. Die Geschichte der Frankfurter Schule beginnt, als Max Horkheimer im Jahre 1930 das Frankfurter Institut für Sozialforschung übernimmt. Als Leiter des Instituts und Herausgeber der Zeitschrift für Sozialforschung (1932-1941) gewinnt Horkheimer eine Gruppe von Mitarbeitern, zu deren engerem Kreis Herbert Marcuse (Philosophie), Erich Fromm (Sozialpsychologie), Friedrich Pollock (Nationalökonomie), Leo Löwenthal (Literatursoziologie) und Theodor W. Adorno (Musikästhetik) gehören. Noch im amerikanischen Exil (1934 wird das Institut der Columbia-University in New York angegliedert) sind es Horkheimers programmatische Direktiven, welche die für die frühe Kritische Theorie konstitutive Interdisziplinarität der Forschungsarbeit sichern. Die Frühphase Kritischer Theorie endet, als Horkheimer sich 1941 nach Kalifornien zurückzieht, um gemeinsam mit Adorno die Arbeit an der Dialektik der Aufklärung aufzunehmen (vgl. dazu J . Habermas, Nachwort [1986] zur Dialektik der Aufklärung. Zur Geschichte des Instituts und der Theorieentwicklung der Frankfurter Schule vgl. M. Jay, Dialektische Phantasie, Frankfurt a . M . 1980 und R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München 1986; zur Wirkungsgeschichte der Kritischen Theorie vgl. den Dokumentationsband Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin/New York 1986). Horkheimer entwirft sein Theorieprogramm vor dem Hintergrund einer Wissenschaftsentwicklung, die er durch die zunehmend sich vertiefende Dissoziation von empirischer Sozialforschung und Sozialphilosophie gekennzeichnet sieht. Während die Sozialwissenschaften ihre Konstituierung als Einzeldisziplinen mit dem Verlust ihres gemeinsamen Gegenstandsbereichs bezahlen, sucht die deutsche Sozialphilosophie sich in Form einer „neuen Metaphysik" zu restituieren. Es sind in erster Linie diese als „Spiritualismus" qualifizierten neometaphysischen Bemühungen (vgl. Materialismus und Metaphysik: K T 1,34f), die Horkheimer in seiner Antrittsvorlesung von 1931 („Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung": SoSt 33 ff) attackiert: Hatte -•Hegel seine Philosophie des objektiven Geistes auf der Grundlage einer universalen dialektischen Logik spekulativ zu sichern versucht, so sind die zeitgenössischen „Konstruktionen selbständiger Sphären des objektiven Geistes" nur noch weltanschaulich motiviert; in polemischer Abwehr der Tatsachenforschung stützt sich die Sozialphilosophie auf eine theoretisch unausgewiesene, bloß bekenntnishaft proklamierte Überzeugung von der Dignität höherer „Sinneinheiten", die der Sehnsucht nach einer „neuen Sinngebung" Rechnung tragen sollen (a. a. 0 . 3 8 f; zu den Adressaten der Horkheimerschen Kritik vgl. A. Söllner 30 ff). Auf der Grundlage dieser Kritik fordert Horkheimer die „dialektische Durchdringung" von Fachsoziologie und Sozialphilosophie ( a . a . O . 40). Als theoretischen Bezugsrahmen seines Forschungsprogramms entwirft er ein Materialismuskonzept, das sich auf die Marxschen Erörterungen zum „rationellen Kern" der dialektischen Methode stützt. In Marx* methodologisch akzentuierter Adaption der Hegeischen Dialektik entdeckt Horkheimer das für seinen Wissenschaftsbegriff entscheidende Grundverständnis einer prinzipiell „unabgeschlossenen materialistischen Dialektik" (Zum Problem der Wahrheit: K T 1,268). Im Orientierungsrahmen dieses Konzepts materialistischer Dialektik entwickelt er ein Theorieprogramm, das den Dualismus von Empirie und philosophischer Konstruktion überwinden soll und an dessen Leitfaden sich die Aufgaben einer interdisziplinär angelegten, philosophisch orientierten Sozialforschung ausarbeiten lassen (zu den Themengebieten vgl. H. Dubiel 135 ff und J . Habermas, ThkH II, 555 ff).

Kritische Theorie I

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1.2. Materialistische Sozialpsychologie. Der bedeutsamste Schwerpunkt der projektierten Gesellschaftstheorie zeichnet sich vor dem Hintergrund jener philosophischen Ansätze ab, die K. Korsch und G. Lukäcs in den zwanziger Jahren mit dem Ziel entwickelt hatten, die dogmatisch verkürzte Marx-Rezeption der II. Internationale aufzubrechen (vgl. U. Jaeggi/A. Honneth [Hg.], Theorien des Historischen Materialismus, 1977 [Einl.]). Wie wenig diese im Rückgriff auf die Hegelsche Dialektik entworfenen Konzeptionen indes den Erfordernissen einer Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft entsprachen, zeigte sich vor allem an dem problematischen Versuch, die Rolle des Proletariats geschichtsphilosophisch zu fundieren. Insbesondere Lukäcs' Theorie des Klassenbewußtseins (Geschichte und Klassenbewußtsein [1923]), die das Proletariat aufgrund seines objektiv möglichen gesellschaftlich adäquaten Bewußtseins zum Subjekt-Objekt des Geschichtsprozesses selber erklärte, stand angesichts der sich in der Endphase der Weimarer Republik abzeichnenden Niederlage der organisierten Arbeiterbewegung in groteskem Mißverhältnis zur gesellschaftlichen Realität. Im Bezugsrahmen seiner neohegelianischen Kategorien mußte Lukäcs die Diskrepanz zwischen dem Aktionspotential des theoretisch über seine Klasseninteressen aufgeklärten revolutionären Subjekts und dem tatsächlichen, den Klasseninteressen konträren Verhalten systematisch ausblenden (vgl. A. Schmidt, Idee der Krit. Theorie 42ff). Demgegenüber ermöglicht es das Materialismuskonzept Horkheimers, die Virulenz des ideologischen, gesellschaftlich falschen Bewußtseins in der Motivationsstruktur der Handelnden selbst zu thematisieren (vgl. A. Söllner 44ff.). Mit der Frage nach den „tieferliegenden psychischen Faktoren, mittels deren die Ökonomie die Menschen bestimmt" (Geschichte und Psychologie: KT 1,20), spricht Horkheimer jene Aufgabenstellung an, die Erich Fromm im Rekurs auf die Grundbegriffe der Freudschen Psychoanalyse ausarbeitet: die sozialpsychologische Reformulierung der Marxschen Basis-Uberbau-Lehre. Fromm entdeckt den „seelischen Triebapparat" als einen „entscheidenden zwischen der ökonomischen Basis und der Ideologiebildung vermittelnden Faktor" (Uber Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie: GA 1,57). Durch die Thematisierung dieses Vermittlungsfaktors wird eine Dimension freigelegt, die dem Basis-Überbau-Theorem in seiner orthodoxen wie der idealistischen Version bei Lukäcs verborgen bleibt: die ontogenetische Dimension der Sozialisation, in der es nicht um die gesellschaftliche Aneignung der äußeren Natur, sondern um die Integration der inneren Natur des Menschen geht. In dieser Dimension läßt sich die Reproduktion gesellschaftlich falschen Bewußtseins als Resultat einer die Balance zwischen Individuation und Sozialisierung verfehlenden Persönlichkeitsentwicklung analysieren. Fromm weist die Persönlichkeitsstruktur des autoritären Charakters als Produkt einer solchen, auf Kosten persönlicher Autonomie sich durchsetzenden gesellschaftlichen Aneignung der inneren Natur nach. Die Studien über Autorität und Familie (die Autoren der ersten Abteilung [Theoretische Entwürfe] sind Horkheimer, Fromm und Marcuse) untersuchen die für diesen „gesellschaftlichen Durchschnittstyp" charakteristischen Prozesse der Verinnerlichung gesellschaftlicher Autorität vor dem Hintergrund des Funktionsverlusts der patriarchalischen bürgerlichen Familie, jener Sozialisationsinstanz, in der der Vater aufgrund seiner ökonomischen Unabhängigkeit als dominanter Träger gesellschaftlicher Autorität fungiert. Weil die klassische bürgerliche Sozialisation die Konfrontation der Heranwachsenden mit gesellschaftlichen Geboten weitgehend auf die Auseinandersetzung mit der väterlichen Autorität begrenzt, bietet diese die Chance zur Entwicklung jener Ich-Stärke, die das erwachsene Individuum zum kritischen, selbstreflexiven Umgang mit gesellschaftlichen Normen befähigt. Die dominierende Rolle der Autorität des Vaters wird nun in dem Maße untergraben, als dieser im Zuge des Untergangs des Konkurrenzkapitalismus seine ökonomische Unabhängigkeit verliert. Im Rahmen der Herrschaftsverhältnisse, die sich unter den Bedingungen von Monopolkapitalismus und autoritärem Staat entwickeln, wird die Funktion des Vaters als personifiziertem Uber-Ich zunehmend von außerfamilialen Trägern gesellschaftlicher Autorität übernommen. Mit den Attributen der schlechthin überlegenen Macht ausgestattet, rufen sie jene für den autoritären Charakter typischen irrationalen Gefühlsbindungen hervor, deren Ferment die „Lust am Gehorsam und an der Unterwerfung" ist (Fromm, Studien 110; zum Verhältnis von Psychoanalyse und Marxismus vgl. H. Dahmer 255ff). Die Tragweite dieses Erklärungsansatzes bleibt nicht auf die Analyse der autoritären Disposition der Schichten begrenzt, aus denen der -»Nationalsozialismus seine Anhängerschaft rekrutierte; der Nachweis eines signifikant hohen autoritären Potentials auch in der demokratischen Gesellschaft Amerikas (vgl. Th.W. Adorno u.a., The Authoritarian Personality) führt zu jener negativen Einschätzung des demokratischen Potentials moderner Gesellschaften, die sich Anfang der vierziger Jahre zur These von der ungebrochenen Kontinuität zwischen totalitären Gesellschaften und den auf „totaler Integration" beruhenden Mechanismen der „verwalteten Welt" verdichten wird (vgl. M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung [Zur Neuausgabe], 1969).

1.3. Kritische Theorie zwischen Wissenschaft

und Philosophie.

Horkheimer entwik-

kelt das Konzept eines interdisziplinär orientierten dialektischen Materialismus vor dem

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Kritische Theorie I

Hintergrund der konkurrierenden Ansprüche von Sozialphilosophie und empirischer Sozialforschung. Der Positivismusvorwurf gegenüber den Sozialwissenschaften bleibt freilich solange unbegründet, als er nicht durch eine erkenntnistheoretische Analyse des Wissenschaftsverständnisses empirischer Wissenschaften fundiert ist. In Traditionelle und kritische Theorie (1937) führt Horkheimer die Erkenntnisprinzipien der Erfahrungswissenschaften auf die Grundbegriffe „traditioneller", und das heißt durch die Axiome cartesischer Methodologie gesicherter Theorie zurück. Aufgrund der Annahme vom prinzipiellen Vorrang der Methode dehnt die traditionelle Theorie ihren Geltungsanspruch über das Gebiet der Naturwissenschaften hinaus auf die „Wissenschaften von Mensch und Gesellschaft" aus (Traditionelle und kritische Theorie: KT 11,139). Der methodische Anspruch kausaler Erklärung führt daher zur Einebnung der vorwissenschaftlich erfahrenen qualitativen Verschiedenheit von natürlicher und menschlich-gesellschaftlicher Welt im Begriff der Welt als „bloßem Inbegriff von Faktizitäten". Horkheimers Kritik am Universalitätsanspruch der kausal-analytischen Methode zielt nun freilich nicht auf eine kategoriale Abgrenzung des Objektbereichs der Geisteswissenschaften im Anschluß an Max -»Webers Begriff der „verstehenden" -»Soziologie. Der erkenntnistheoretischen Fundierung der Wissenschaften von Mensch und Gesellschaft in den Verfahren einer sinnverstehenden -»Hermeneutik steht jene Einsicht entgegen, die Adorno im sogenannten „Positivismusstreit" vehement gegen die These, Soziologie sei eine Geisteswissenschaft, ins Feld führen wird - die Einsicht in die Grundverfassung der menschlich-gesellschaftlichen Welt als „zweiter Natur": Solange die Menschen ihren geschichtlich-gesellschaftlichen Lebenszusammenhang nicht beherrschen, dieser ihnen vielmehr als „blinde Resultante widerstrebender Kräfte" begegnet (a.a.O. 148f), sind es gerade die verdinglichenden Verfahren traditioneller Theorie, die jener realen Verdinglichung Rechnung tragen (vgl. dazu Th. W. Adorno, Soziologie und cmpirische Forschung 81 ff). Das Recht indes, geschichtlich-gesellschaftliche Prozesse kategorial außermenschlichen Naturprozessen anzugleichen, ist einzig das der Kritik: Die „Anerkennung" von Kategorien, die das gesellschaftliche Leben selbst beherrschen, ist in sich zugleich „Verurteilung" (a.a.O. 157). In solcher Einheit von Anerkennung und Verurteilung folgt die Kritische Theorie dem Modell „dialektischer Kritik", das Marx als Kritik der Politischen Ökonomie entfaltet (vgl. A. Schmidt, Krit. Theorie als Geschichtsphil. 81 ff.). Unter den Bedingungen von Monopolkapitalismus und autoritärem Staat verliert die Theorie freilich ihren unmittelbaren Adressaten; sie knüpft ihre emanzipatorische Absicht nicht mehr an das Klasseninteresse des Proletariats, sondern an die „Idee der Selbstbestimmung des menschlichen Geschlechts" (a.a.O. 177). Diesen Rückgriff auf die Begriffswelt des Idealismus greift nun H. Marcuse in seiner Paralleluntersuchung Philosophie und kritische Theorie (1937) auf. Während Horkheimers Analysen sich auf die Kritik des Wissenschaftsbegriffs traditioneller Theorie konzentrieren, versucht Marcuse, das Selbstverständnis Kritischer Theorie aus ihrem Verhältnis zur idealistischen Philosophie zu klären; er legt damit erst eigentlich das normative Fundament frei, auf dem eine in praktischer Absicht entworfene Theorie der Gesellschaft ruht. Marcuses These lautet: Der Erkenntnisanspruch Kritischer Theorie läßt sich philosophisch allein im Rückgriff auf das kritische Potential entwickeln, das dem Vernunftbegriff der idealistischen Philosophie innewohnt. Weil der Idealismus der bürgerlichen Epoche das Subjekt als „Stätte der Vernunft" entdeckt, ist der Begriff der Vernunft als „kritischer Instanz" unlöslich verknüpft mit der Idee individueller Autonomie (Philosophie u. kritische Theorie: Sch 3,228f). Aus diesem Grunde enthält der idealistische Gedanke der Herrschaft der Vernunft einen „Wahrheitsgehalt", der für die materialistische Theorie des 19. Jahrhunderts zur Richtschnur der Kritik wurde (a. a. 0.240): Gerade durch den Nachweis, daß die ökonomische Realität der bürgerlichen Gesellschaft die proklamierte Herrschaft der Vernunft dementiert, tritt der -»Materialismus das wahre Erbe des bürgerlichen Idealismus an. Die Kritische Theorie hat die Lebendigkeit dieser

Kritische Theorie I

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Erbschaft nun freilich in einer veränderten gesellschaftlichen Situation unter Beweis zu stellen (a.a.O. 248). 1.4. Kritische Theorie und Faschismus. Marcuses Uberzeugung, daß das Selbstverständnis Kriti-

scher Theorie auch angesichts der „autoritären Barbarei" des Faschismus im Rückgang auf die Grundorientierungen der materialistischen Theorie zu entwickeln sei, bestimmt die frühen Faschismus-Analysen des Instituts: Auf der Grundlage der materialistischen Annahme vom Primat der ökonomischen Basis wird der Faschismus noch 1937 als die dem entwickelten Monopolkapitalismus entsprechende politische Herrschaftsform verstanden. Wenige Jahre später verwirft F. Pollock, der Nationalökonom des Instituts, diese orthodoxe Version; in seinem 1939 vorgelegten Konzept des „Staatskapitalismus" (vgl. H. Dubiel 94 ff) vertritt er die Auffassung, daß die These vom autoritären Staat als bloßem politischen Uberbauphänomen durch die realen Strukturen totalitärer Herrschaft widerlegt sei. Mit der Übernahme des gesamtwirtschaftlichen Prozesses in die Regie des Staates verlieren die Widersprüche zwischen der Eigengesetzlichkeit der ökonomischen Basis und den Zielsetzungen des Staates ihr systemsprengendes Potential, wird der Primat der Ökonomie tendenziell durch den der Politik ersetzt. Die materialistische Geschichtsauffassung hatte die Aufhebung des Primats der Ökonomie mit der Idee der Assoziation freier Individuen verknüpft. Durch die bewußte und planmäßige Regulierung ihres materiellen Lebensprozesses sollten die Voraussetzungen geschaffen werden, unter denen der Menschengattung der Sprung ins „Reich der Freiheit" gelingen kann. Die Funktion, die nach der Pollockschen Analyse dem Primat der Politik im System „staatskapitalistischer Planwirtschaft" zukam, mußte sich aus der Sicht der Kritischen Theorie als vollständige Verkehrung jener Ideen darstellen - eine Verkehrung, die in geschichtsphilosophischer Perspektive das Fortschrittsverständnis der materialistischen Geschichtsauffassung dementierte. Deren Auffassung geschichtlichen Fortschritts gründete im Vertrauen auf die Irreversibilität eines Geschichtsprozesses, der in der Kultur der bürgerlichen Gesellschaft ein dieser selbst verborgenes Vernunftpotential hervorgebracht hatte. Materialistische Ideologiekritik, die den normativen Gehalt dieses Vernunftpotentials einklagen wollte, nahm dabei eben jene kritische Instanz in Anspruch, die der Idealismus selbst in der Idee individueller Autonomie fundiert hatte. Mit dem politisch-ökonomischen Untergang des bürgerlichen Liberalismus war das Vertrauen in die geschichtswirksame Kraft jener Vernunftinstanz zerstört (vgl. J . Habermas, VE 491 ff).

2. Kritische

Theorie

als radikale

Vernunftkritik

2.1. Vernunft und Herrschaft. Horkheimer resümiert seine Absage an die materialistische Geschichtsauffassung in der lakonisch zugespitzten These: „Der Zerfall der Vernunft und der des Individuums sind eines" (Vernunft und Herrschaft: GS V,334). Die Idee individueller Autonomie, die in der historischen Gestalt des bürgerlichen Individuums in freilich ideologisch verstellter Form mit dem normativen Gehalt des Vernunftbegriffs verbunden schien, erweist sich mit dem Untergang des bürgerlichen Liberalismus als historisch überholt. Als geschichtsmächtig wirkt die ihres kritisch-emanzipatorischen Gehalts beraubte Vernunft einzig in der Form, die der bürgerliche -»Liberalismus noch in die Grenzen des Humanen eingebunden hatte: als Instrument der Selbsterhaltung. In Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft entwickelt Horkheimer die Instrumentalisierung der Vernunft unter dem Primat der Selbsterhaltung aus dem Prinzip der für den Wissenschaftsbegriff der Neuzeit konstitutiven „Subjektivierung der Vernunft". Während die Idee einer der Wirklichkeit selbst immanenten Vernunft es erlaubte, „subjektive Vernunft" als „partiellen, beschränkten Ausdruck einer umfassenden Vernünftigkeit" zu verstehen (KiV 16), führt die Emanzipation der Vernunft im Sinne „subjektiver Ratio" zu jener objektivierenden Einstellung, die die gegebene Wirklichkeit nur noch als Material möglicher Aneignung zuläßt. Mit dem Gewinn seiner Autonomie setzt das Subjekt jene Dialektik in Gang, die die Dialektik der Aufklärung als Rückfall der Aufklärung in den -»Mythos thematisiert: Das „einmal als autonom angenommene Subjekt" regrediert zum abstrakten, „jeder Substanz entleerten Selbst" (KiV 94f). Das Subjekt, das sich der Vernunft als Substanz der eigenen Subjektivität durch objektivierende Aneignung der äußeren Wirklichkeit zu versichern meint, macht sich unweigerlich selbst zum Objekt, nimmt mithin die Natur des Beherrschten an. Adorno, der den Helden der homerischen Odysee als „Urbild des bürgerlichen Individuums" rekonstruiert, entdeckt das Grundmuster jener Dialektik von Selbstbehauptung und Selbstverleugnung im Schema der

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Kritische Theorie I

odysseischen List. Deren Formel lautet: Naturherrschaft durch Anpassung; die als Mittel der Selbstbehauptung eingesetzte Angleichung der Ratio an ihr Gegenteil vollendet sich in der List des Namens (DA 75): In der Begegnung mit Polyphem nutzt Odysseus listig die Differenz zwischen Wort und Sache, Ausdruck und Intention. Er legt dem Namen „Odysseus" die Intention „ N i e m a n d " ein und erhält so sein Leben, indem er sich dem Bewußtseinszustand des selbstlosen Kyklopen anähnelt; er behauptet sein Selbst durch Verleugnung der eigenen Identität, durch Mimesis „ans Tote" (DA 64). 2.2. Dialektik der Aufklärung. Mit diesem Werk, zwischen 1941 und 1944 von Horkheimer und Adorno verfaßt, besiegelt Horkheimer seinen Bruch mit der frühen Konzeption der Kritischen Theorie; Adorno hingegen, der an der konzeptionellen Ausgestaltung der frühen Kritischen Theorie keinen Anteil hatte, entwickelt im gemeinsamen Werk jene durch die Philosophie Walter Benjamins geprägten Grundüberzeugungen fort, deren Kategorien bereits das philosophische Frühwerk exponiert (vgl. dazu das Nachwort zur Dialektik der Aufklärung von J. Habermas, DA 277ff). Die Dialektik der Aufklärung entfaltet die Geschichte der europäischen Zivilisation als Verfallsgeschichte, die Instrumentalisierung der Vernunft wird als Bildungsprinzip der Gattungsgeschichte selbst entwickelt. Schon die -»Mythologie setzt jenen endlosen Prozeß der Aufklärung in Gang, der menschlicher Geschichte von Anbeginn das Signum des bloß Naturgeschichtlichen aufprägte. Im Lichte dieser These schrumpft der Geist der europäischen -»Aufklärung auf das M a ß des Zwangscharakters odysseischer Selbsterhaltung. Odysseus besteht den Kampf mit den mythischen Ungeheuern, indem er diesen — Figuren des abstrakten Schicksals, der sinnfernen Notwendigkeit (DA 65) - das rationale Allgemeinheit repräsentierende Selbst entgegensetzt. Aber die Rationalität des Allgemeinen steht im Dienste selbsterhaltender List; sie ist bereits Resultat jener herrschaftlichen Distanz, welche das Subjekt befähigt, das begrifflich Allgemeine als Herrschaftsmittel gegenüber der als bedrohlich erfahrenen Heterogenität innerer und äußerer Natur einzusetzen. Die Reduktion der Natur auf das M a ß ihrer Berechenbarkeit feiert die Aufklärung als Triumph wissenschaftlicher Rationalität. In Wahrheit ist sie, so lautet die These der Dialektik der Aufklärung, dem Mythos nie entronnen. Die zentrale Einsicht der Autoren gilt der Form des methodisch gesicherten Erkenntnisfortschritts, welche die Aufklärung im Systemcharakter der Wissenschaften festschreibt: Das alle Systembildung beherrschende „Prinzip der Immanenz, der Erklärung jedes Geschehens als Wiederholung" (DA 33), ist eben jenes Prinzip, das die mythischen Gestalten gegenüber Odysseus vertreten. Als Figuren des Zwangs symbolisieren sie den blinden Kreislauf der Natur; sie sind gehalten, immer wieder das Gleiche zu tun und erneuern so stets den Fluch, der auf ihnen lastet (DA 65 f). Dies Zwangsgesetz mythischer Wiederholung reproduziert das aufgeklärte Subjekt, wenn es die Fülle der Qualitäten der abstrakten Einheit des Begriffs unterwirft und als Seiendes nur zuläßt, was vorweg dem logischen Formalismus des Systems integriert ward. Das Denken, das sich dem Prinzip der Immanenz unterstellt, um seinen Erkenntnisfortschritt zu sichern, gibt in Wahrheit seine Erkenntnisfähigkeit preis. „Das Tatsächliche behält recht, die Erkenntnis beschränkt sich auf seine Wiederholung, der Gedanke macht sich zur Tautologie" (DA 33). Das Prinzip der Immanenz bestätigt die Macht der Wiederholung über das Dasein und bekräftigt somit die trostlose Wahrheit des Mythos: „Die trockene Weisheit, die nichts Neues unter der Sonne gelten l ä ß t , . . . reproduziert nur die phantastische, die sie verwirft; die Sanktion des Schicksals, das durch Vergeltung wieder herstellt, was je schon w a r " (DA 18). Wie Odysseus den mythischen Zwangsgestalten nur durch Verleugnung der eigenen Identität entrinnen konnte, so sichert das moderne Subjekt seinen Herrschaftsanspruch, indem es das Denken instrumentalisiert und auf die Zurüstung des Tatsächlichen verpflichtet. Die Aufklärung, die die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen wollte (DA 9), fällt in Mythologie zurück; die Selbstverdinglichung des Denkens dementiert den emanzipatorischen Anspruch fortschreitenden Denkens, die Bahn der Entmythologisierung endet in der Preisgabe der Erkenntnisfähigkeit: Diese Diagnose widerlegt die im

Kritische Theorie I

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Vorwort ausgesprochene Überzeugung, die Freiheit in der Gesellschaft sei vom aufklärenden Denken u n a b t r e n n b a r (DA 3). Gleichwohl ist es diese Überzeugung, die die Analysen der Dialektik der Aufklärung leitet. Anders als - • N i e t z s c h e , dessen Diagnose den Verlust des Wahrheitsgehalts der Vernunft ins Affirmative wendet und damit den kritischen Impuls u m seine befreiende W i r k u n g bringt (vgl. J. H a b e r m a s , D M 104ff), wollen Horkheimer und A d o r n o die „Selbstreflexion der A u f k l ä r u n g " auf den Weg bringen. Fluchtpunkt ihrer Vernunftkritik bleibt die H o f f n u n g , d a ß das „ w a h r e Anliegen des Geistes Negation der Verdinglichung" sei (DA 5). W ä h r e n d der utopische C h a r a k t e r dieser H o f f n u n g bei Horkheimer zur religiösen Wende des Spätwerks f ü h r t , hält A d o r n o an der aporetischen Struktur der Theorie fest und rückt sie ins Licht der an der E r f a h r u n g moderner Kunst gewonnenen Idee, d a ß „die vollendete Negativität, einmal ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschließt" (Minima Moralia: GS IV,281; zur Spätphilosophie Horkheimers vgl. A. Schmidt, Drei Studien 81 ff). 2.3. Negative Dialektik. Bereits die Anfang der dreißiger Jahre entstandenen Arbeiten Adornos weisen die geschichts- und sprachphilosophischen Grundeinsichten Walter Benjamins als Bezugspunkt seines Denkens aus. W ä h r e n d die Dialektik der Aufklärung Benjamins radikalen Bruch mit dem traditionellen Verständnis geschichtlichen Fortschritts zur Vorstellung vom Zwangsgesetz mythischer Wiederholung verdichtet, greift die Negative Dialektik ein zweites Grundmotiv Benjaminschen Denkens auf: das der „rettenden Kritik" - jenes Motiv, das Benjamins Forderung prägt, die Geschichte statt aus der Sicht der Sieger aus der der Besiegten zu schreiben. A d o r n o will dieser Forderung im M e d i u m des Denkens gerecht werden: in Form einer immanenten Kritik a m Traditionsbestand der philosophischen Überlieferung. Auf diesem Wege soll der in der Dialektik der Aufklärung erhobene Anspruch eingelöst werden, die Selbstreflexion der Aufklärung in Gang zu setzen. Es gilt, „mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen" (Negative Dialektik [ND]: GS VI,10) und dem Immanenzzusammenhang des Systems die Reflexion auf das mimetische Erbe der Erkenntnis entgegenzusetzen. M i t dem Versuch, die durch den Identitätszwang des Begriffs verdrängte Mimesis „im Medium begrifflicher Reflexion" zu rehabilitieren, betreibt die Negative Dialektik die „Wied e r a u f n a h m e des Prozesses über die Dialektik" ( N D 19); weil in deren philosophisch anspruchsvollster Form, der Hegeischen Dialektik, der Anspruch erhoben wird, der im Zuge der Entmythologisierung vom Subjekt preisgegebenen Fähigkeit zum „inhaltlichen D e n k e n " wieder Geltung zu verschaffen, wird Hegel f ü r A d o r n o zum Initiator der geforderten Selbstreflexion der Aufklärung. Der dialektische Nachweis, daß jeder in seiner Identität festgehaltene Begriff in der Konfrontation mit der Sache, die er meint, sich als mit sich unidentisch erweist, stellt die Funktion der bestimmten Negation bei Hegel unter die Leitidee, daß „errettet werden soll, was der jeweils vorhergehenden Bewegung des Begriffs erlag" (ND 159). Diese Idee lebt von dem Vertrauen darauf, daß das Denken nicht einzig die „spirituell gewordene Naturbeherrschung" sei: „Während das Denken dem, woran es seine Synthesen übt, Gewalt antut, folgt es zugleich einem Potential, das in seinem Gegenüber wartet, und gehorcht bewußtlos der Idee, an den Stücken wieder gutzumachen, was es selber verübte" (30 f). Freilich, die „Hoffnung auf Versöhnung", die dem Denken innewohnt, verkehrt die idealistische Dialektik Hegels zur affirmativen Erkenntnis. Die Intention, „das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen" (21), wird verfehlt, wenn die zum absoluten Geist erweiterte und erhöhte Subjektivität vorab „alles Nichtidentische und Objektive" in sich begreift (145). So gewinnt „im Innersten von Dialektik das antidialektische Prinzip die Oberhand" (161), und das Immanenzprinzip identifizierenden Denkens erweist sich als geheimer Motor der Hegeischen Systemkonzeption. Die Totalität der Vermittlungen, in der der Geist sich seiner Herrschaft zu versichern meint, ist in Wahrheit nichts anderes als Ausdruck seines Bestrebens, die eigene Naturverfallenheit zu verleugnen; sein Herrschaftscharakter ist identisch mit dem „Bann der blinden Natur" (350). Vor dem Hintergrund dieser Hegelkritik gesteht Adornos negativ dialektisches Denken der Kantischen Distinktion von transzendentem Ding an sich und konstituiertem Gegenstand ihr relatives Recht zu (vgl. Adorno, Zu Subjekt und Objekt: GS X/2,741ff). In der Annahme des Dings an sich bekennt die konstituierende Subjektivität ihr eigenes Ungenügen. Freilich darf solches Eingeständnis

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Kritische Theorie I

nicht zur Aufgabe des von Hegel angemeldeten Erkenntnisanspruchs führen. Der Begriff selber soll ja die Gewalt, die er der Sache durch das Abschneiden ihres Nichtidentischen zugefügt hat, wieder gutmachen: Das Nichtidentische ist als das Innerste der Sache selbst zu erschließen, es darf nicht als ein der Sache Jenseitiges, als transzendentes Ding an sich fixiert werden. Diesem Erkenntnisziel dient ein Verfahren, das Adorno im Anschluß an Benjamin als das der Konstellation der Begriffe bestimmt, (vgl. auch Th. W. Adorno, Die Aktualität der Philosophie: GS 1,335). In der Idee der Konstellation ist aufbewahrt, was Hegels bestimmte Negation leisten wollte: „Der bestimmbare Fehler aller Begriffe nötigt, andere herbeizuzitieren" (ND 62), und zwar so, daß die Begriffe nicht im Verhältnis der Uberund Unterordnung sich wiederum zum System zusammenschließen, sondern sich in Konstellationen „um die zu erkennende Sache versammeln" (ND 164). Was der identifizierende Begriff verdrängt, das mimetische Potential der Erkenntnis, wird freigesetzt, wenn die Begriffe beginnen, sich in wechselseitiger Korrektur um die gemeinte Sache zu versammeln. Auf diese Weise kann es gelingen, die in der Sache sedimentierte Geschichte zu entbinden und wider das mythische Gesetz des Immergleichen die Möglichkeit des Neuen zu entdecken. - In diesem Erkenntnisziel konvergiert nun Philosophie mit dem Wahrheitsgehalt der Kunst (Ästhetische Theorie: GS VII,197). Authentische Kunstwerke halten dem in der „Mimesis ans Tote" verdinglichten Denken das Erkenntnispotential der Mimesis entgegen. Philosophie und Kunst wollen in ihrem jeweils eigenen Medium „das Andere aus dem Immergleichen konfigurieren" (a.a.O. 462), getragen freilich allein von dem Vertrauen darauf, „daß ihr Wahrheitsgehalt nicht nichtig sei" (a.a.O. 199). Wohl sind im Immergleichen die Elemente jenes Anderen versammelt und müßten nur, „um ein Geringes versetzt, in neue Konstellationen treten, um ihre rechte Stelle zu finden" (ebd.). Aber die Koordinaten jener „rechten Stelle" könnte nur ein Denken erkennen, das dem „Bannkreis des Daseins" entronnen wäre. Zuletzt bleibt alle Erkenntnisanstrengung an die theologische Beschreibung des messianischen Zustands verwiesen: „Im richtigen Zustand wäre alles, wie in dem jüdischen Theologoumenon, nur um ein Geringes anders als es ist, aber nicht das Geringste läßt sich so vorstellen, wie es dann wäre" (ND 294). 3. Die Theorie

kommunikativer

Rationalität

H a b e r m a s ' Revision der Kritischen T h e o r i e liegt die Einsicht in die aporetische Struktur radikaler Vernunftkritik z u g r u n d e : Weil diese d e m Bezugsrahmen verhaftet bleibt, den sie kritisiert, schlägt die Kritik auf die kritisierende Vernunft d u r c h und entzieht dieser ihr n o r m a t i v e s F u n d a m e n t (vgl. J. H a b e r m a s , N a c h w o r t D A 288). Dieser Bezugsr a h m e n ist der traditioneller, subjektzentrierter Vernunftphilosophie; im R a h m e n der monologisch strukturierten Subjekt-Objekt-Relation d e r Bewußtseinsphilosophie läßt sich das Erkenntnispotential der Mimesis, d a s A d o r n o d e r instrumentellen Vernunft entgegensetzt, rational nicht entfalten. Erst der Bruch mit diesem Bezugssystem gibt zu erkennen, welcher Idee die Vorstellung v o m herrschaftsfreien U m g a n g mit der N a t u r folgt: der der Intersubjektivität möglicher Verständigung. A d o r n o s Versuch, d e m verdinglichten D e n k e n sein mimetisches Potential abzuringen, läßt der N a t u r z u k o m m e n , w a s von H a u s aus in der dialogischen S t r u k t u r der Intersubjektivität angelegt ist ( T h k H 1,524). H a b e r m a s rückt seinen Neuansatz in die Traditionslinie jener Bemühungen um einen angemessenen Begriff „situierter V e r n u n f t " , die seit d e r Kritik der Junghegelianer am spekulativen Vernunftbegriff Hegels das D e n k e n bewegen (vgl. D M 75 ff, N a D 47 ff). Weil deren Versuch, d e m Desiderat einer endlichen, in Geschichte u n d Gesellschaft situierten Vernunft gerecht zu w e r d e n , selber noch den kategorialen Z w ä n g e n der Subjektphilosophie verhaftet bleibt, plädiert H a b e r m a s f ü r den Wechsel v o m Bewußtseins- zum Verständ i g u n g s p a r a d i g m a . Seine T h e s e lautet, d a ß die im Z u g e radikaler Vernunftkritik verlorengegangene n o r m a t i v e G r u n d l a g e d e r Kritik allein im Bezugsrahmen einer sprachphilosophisch fundierten T h e o r i e der Rationalität wiederzugewinnen sei. Diese These begründet er durch die Explikation des Verständigungspotentials der -»Sprache: Weil sich Situationen möglicher Verständigung als Redesituationen analysieren lassen, entwickelt er das der Sprache innewohnende „Telos der Verständigung" im Rückgang auf die performativ-propositionale Doppelstruktur umgangssprachlicher -»Kommunikation (VE 417ff). Die Fähigkeit, die Beziehung auf etwas in der Welt zurückzubeziehen auf die intersubjektive Ebene, auf der Personen Dialogbeziehungen eingehen, bezeichnet er als die den Subjekten als Sprechern einer natürlichen Sprache eigene kommunikative Kompetenz. Seine These lautet nun, daß auch diese Kompetenz (ebenso wie die Fähigkeit, aufgrund eines grammatischen Regelwissens Sätze zu bilden) auf einem

Kritische T h e o r i e I

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vortheoretischen Wissen beruht, das sich in der „methodischen Einstellung einer rekonstruktiven Wissenschaft analysieren" läßt (VE 359). Wissenschaften dieses Typs erklären Äußerungen sprachund handlungsfähiger Subjekte, indem sie das diesen Äußerungen zugrunde liegende Regelwissen rekonstruieren. Sie teilen also den Ansatz der hermeneutisch verfahrenden Wissenschaften, denn sie erfassen das die Subjekte selber leitende Wissen; aber zugleich sichern sie die sinnverstehende Deutung symbolischer Gebilde methodisch und unterlaufen damit nicht den Objektivitätsanspruch theoretischen Wissens. Während nämlich eine hermeneutische Kunstlehre die naturwüchsige Fähigkeit kommunikativer Kompetenz nur anleitet, will eine Theorie umgangssprachlicher Kommunikation durch die systematische Explikation des impliziten Regelwissens die dieser Kompetenz zugrunde liegenden Strukturen der Rationalität aufweisen (den Typus rekonstruktiver Wissenschaften untersucht Habermas vor allem am Beispiel der Forschungsansätze von Mead, Piaget und Chomsky; zur Auseinandersetzung mit Gadamer vgl. T h k H I, 158ff). - Habermas weist nun nach, daß die universalpragmatische Rekonstruktion „allgemeiner und unvermeidlicher Präsuppositionen" möglicher Verständigungsprozesse nur im Rückgang auf die „universale Geltungsbasis der Rede" gelingen kann; mit dem Akt der Äußerung von Sätzen nehmen Sprecher drei fundamentale Weltbezüge auf und erheben damit für ihre Äußerungen Geltungsansprüche, die über den Anspruch der grammatischen Richtigkeit des Satzes hinausgehen. Neben die Beziehung zur „objektiven Welt" als der Gesamtheit aller Entitäten, die das Subjekt in nicht-performativer Einstellung vergegenständlicht, treten zwei weitere Weltbezüge: die Beziehung zur „sozialen Welt" als der Gesamtheit der legitim geregelten interpersonalen Beziehungen, der das Subjekt als kommunikativ Handelnder begegnet, und die Beziehung zur „subjektiven Welt" als der Gesamtheit der Erlebnisse, zu der das Subjekt als der eigenen inneren Realität einen privilegierten Zugang hat (vgl. T h k H I, 369ff). Der Sprecher erhebt also mit seinen Äußerungen drei fundamentale, gleich ursprüngliche Geltungsansprüche. Er beansprucht „Wahrheit" für seine Äußerungen, soweit sie etwas in der Welt darstellen; ferner „Richtigkeit" mit Bezug auf den geltenden normativen Kontext; schließlich „Wahrhaftigkeit", soweit er sich auf seine ihm zugängliche subjektive Welt bezieht. Da nun Geltungsansprüche intern mit Gründen verknüpft sind, Gründe sich aber nicht in der objektivierenden Einstellung einer dritten Person beschreiben lassen, kann der Sinn einer Äußerung nur verstanden werden, wenn der Hörer in Ja/Nein-Stellungnahmen die mit der Äußerung implizit erhobenen Geltungsansprüche bewertet. Während der Anspruch auf Wahrhaftigkeit nur auf der Ebene kommunikativen Handelns selbst eingelöst werden kann, verbindet Habermas die beiden erstgenannten Geltungsansprüche mit der Idee diskursiver Begründbarkeit: Der Wahrheitsanspruch von Behauptungen wird in theoretischen, der Legitimitätsanspruch von Normen in praktischen Diskursen überprüft. Die „Diskurstheorie der Wahrheit" (VE 127 ff) steht nun in innerem Zusammenhang mit dem Begriff „prozeduraler Rationalität". Geltungsansprüche werden erst dann einer diskursiven Überprüfung unterzogen, wenn sie ihren für den Hintergrundkonsens der Alltagskommunikation charakteristischen naiven Geltungsmodus verloren haben. Diskurse werden also in der Absicht geführt, ein rationales Einverständnis über hypothetisch gewordene Gcltungsansprüche zu erzielen; und sie werden im Vertrauen darauf geführt, daß diese Absicht prinzipiell realisierbar sei, daß also jeder faktisch erzielte Konsens ausschließlich aufgrund des „zwanglosen Zwangs" des besseren Arguments zustande gekommen ist. In solchem Vertrauen manifestiert sich der jede konkrete Verständigungssituation transzendierende, weil in den Strukturen möglicher Verständigung überhaupt wirksame Vernunftanspruch. Mit der Fähigkeit, sich an Geltungsansprüchen zu orientieren, unterstellen sich die Subjekte wechselseitig „Vernünftigkeit" in der Form der Kompetenzen, die in der Geltungsbasis der Rede angelegt sind (ThkH 1,193). Diese Unterstellungen haben den Charakter unvermeidlicher, kontrafaktischer Idealisierungen (in Diskursen nehmen sie die Form des Vorgriffs auf die „ideale Sprechsituation" an), sie fungieren also als transzendentalpragmatisches Apriori, das die Gesprächspartner vorgängig einigt und das sie faktisch mit dem ersten Akt der Verständigung als konstitutive Bedingung vernünftiger Rede immer schon in Anspruch nehmen (VE 181; zur Bedeutung der Sprechakttheorie J . Searles und des Interaktionsparadigmas bei G . H . Mead für die Habermassche Konzeption vgl. zuletzt NaD 136ff.l87ff). Die Aufgabe des substantiellen, geschichtsphilosophisch entfalteten Vernunftbegriffs der Hegel-Tradition erlaubt es H a b e r m a s , das Kantische Verständnis von -»Kritik wiederzugewinnen. Die universalpragmatische Analyse der sich in den kognitiven, m o r a lisch-praktischen und ästhetisch-expressiven Geltungsbereich differenzierenden Vernunft bringt jene R a t i o n a l i t ä t s k o m p l e x e in den Blick, a u f die sich die drei Kantischen Kritiken beziehen. — Die Ausdifferenzierung der Geltungsbereiche von Wissenschaft, M o r a l und Kunst - für H a b e r m a s „Signatur der M o d e r n e " - setzt nun freilich Prozesse in Gang, in denen sich die „ u n a u f h a l t s a m e Ironie des weltgeschichtlichen Aufklärungsprozesses verr ä t " ( T h k H II, 2 3 2 ) : Einerseits nämlich ermöglicht die eigensinnige E n t f a l t u n g d e r kultu-

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rellen Wertsphären die Freisetzung der in die kommunikative Alltagspraxis eingelassenen Rationalitätspotentiale; andererseits wird eben diese Rationalisierung der ->Lebenswelt zum Motor der Verselbständigung von „Subsystemen zweckrationalen Handelns", deren Imperative destruktiv auf die kommunikative Infrastruktur der Lebenswelt zurückschlagen. Unter dem Titel „Kolonialisierung der Lebenswelt" (a.a.O. 489 ff) analysiert Habermas die durch die Entkoppelung von System und Lebenswelt induzierten „Pathologien der Moderne" - Phänomene der Verdinglichung, in denen sich für Horkheimer und Adorno die unaufhaltsame Selbstliquidierung der Vernunft manifestiert hatte. Die Schreckensvision eines in den Zwangsmechanismen instrumenteller Vernunft apokalyptisch sich abdichtenden Systems der Verdinglichung weist Habermas zurück; eine Theorie, welche die Moderne nicht denunziert, sondern die „Paradoxien der gesellschaftlichen Rationalisierung" entschlüsselt, hat zugleich jene Widerstandspotentiale aufzuspüren, die in den Strukturen kommunikativer Vernunft angelegt sind und der drohenden Kolonialisierung der Lebenswelt entgegenwirken. Habermas' Kritik an der älteren Version Kritischer Theorie gilt einem Bezugssystem, das den Kategorien traditioneller Vernunftphilosophie verhaftet bleibt. Die Motive dieser Kritik konvergieren auf überraschende Weise mit jenen programmatischen Vorstellungen, die Horkheimer zu Beginn der dreißiger Jahre im Rahmen seiner Kritik am neometaphysischen Rückzug der Philosophie formuliert hatte. Die Idee der „Vereinigung von Philosophie und Wissenschaft", vom jungen Horkheimer als Leitfaden für das Konzept einer interdisziplinären Sozialwissenschaft entfaltet, reformuliert Habermas im Lichte des Begriffs prozeduraler Rationalität. Am Beispiel der Verfahrensrationalität rekonstruktiver Wissenschaften (vgl. NaD 42ff) untersucht er jenes Ineinandergreifen von philosophisch-begriffsanalytischen und erfahrungswissenschaftlichen Arbeitsgängen, welches Horkheimer noch im Begriffsrahmen dialektischer Logik entwickeln wollte. Angesichts der Bedeutung, die den Humanwissenschaften dieses nicht-objcktivistischen Typs für die Entwicklung einer Theorie der Rationalität zukommt, kann Habermas die Intentionen wiederbeleben, von denen die Kritische Theorie sich in ihrer Gründungsphase selbst hatte leiten lassen. Seine Uberzeugung lautet: Beharrt die Philosophie auf ihrem Exklusivitätsanspruch, wird es ihr nicht gelingen, ihrer angestammten Rolle als Hüterin der Rationalität gerecht zu werden. Allein in der Kooperation mit den Wissenschaften kann die Philosophie hoffen, einem unverkürzten, im verständigungsorientierten Sprachgebrauch situierten Begriff der Vernunft Gehör zu verschaffen. (Habermas' Absicht, im Anschluß an das ursprüngliche Konzept der Kritischen Theorie den Status der Philosophie im System der Wissenschaften zu revidieren, folgen auf je eigene Weise auch die von A. Schmidt, A. Wellmer, H. Schnädelbach und K. O. Apel entwickelten Theoriekonzepte, vgl. Die Frankfurter Schule und die Folgen 8ff.) Sabine Doye

II. Theologisch 1. Theologische Motive Kritischer Theorie pretationen (Quellen/Literatur S. 94)

1. Theologische Motive Kritischer

2. Rationale Metakritik

3. Theologische Inter-

Theorie

Kritische Theorie, jedenfalls die genuine, wie sie mit den Namen W. Benjamin (1892-1940), M. Horkheimer (1895-1973) und Th. W. Adorno (1903-1969) zu verbinden ist, hatte immer schon eine sich von ihrer Sache her aufdrängende Nähe zu theologischen Motiven. Theologie ist dabei allerdings nicht ineins zu setzen mit Religion und schon gar nicht mit Kirche, denn beides bezeichnet bevorzugt gesellschaftliche Phänomene, die der -»Religionskritik unterliegen. Theologie aber repräsentiert immerhin und wider allen Zeitgeist die „dogmatische Tradition" und damit -»Metaphysik. Durch den

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wissenschaftlichen Fortschritt nämlich (-»Positivismus) schien Metaphysik überflüssig zu werden — allerdings um den Preis der Nivellierung allen geistigen Kritikpotentials in diesen Progreß selbst. Schon der vom Marxismus inspirierte Denkansatz der Gründung des Frankfurter ,Instituts für Sozialforschung* in den zwanziger Jahren, erst recht aber der Tatbestand der Verflechtung von Modernität und Barbarei im Faschismus (und Stalinismus) seit den dreißiger Jahren, schließlich die erzwungene Emigration verbunden mit der Analyse der Industriegesellschaft in den U.S.A. - diese Erfahrungen zwangen zum Insistieren auf einer Kritikfähigkeit, die gerade nicht aus den allen Widerspruch verschlingenden Verhältnissen, denen die Menschen ausgeliefert sind, hergeleitet werden konnte. (Unter theologischem Aspekt ist aus der Entwicklung des „Instituts" und bezüglich seiner zeitweiligen Mitarbeiter besonders die psychoanalytisch ausgearbeitete Religionsphilosophie E. Fromms von Bedeutung, vgl. Fromm, GA VI.) Genau diese widersprüchliche Situationsbestimmung macht das Pathos und die emphatische Begriffsbildung Kritischer Theorie aus, weil sie sich mit den modernen Rationalisierungen und Funktionalisierungen aller Lebens- und Denkwelten um alles in der Welt nicht abfinden will. Deshalb kann Adorno in der 12. Meditation zur Metaphysik (im dritten Teil der Negativen Dialektik) formulieren: „Tastet aber der Gedanke...derart über sich hinaus, daß er das Andere ein ihm schlechthin Inkommensurables nennt, das er doch denkt, so findet er nirgends Schutz als in der dogmatischen Tradition." - „Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes" (GS VI, 397/400). 1.1. Urtbegriindbare Hoffnung. In den programmatischen Aufsätzen Horkheimers Materialismus und Metaphysik (1933) und Traditionelle und Kritische Theorie (1937) findet sich von Anfang an die Absage an die herkömmliche Ordnungs- und SystemMetaphysik verbunden mit einem Gegenimpuls, der sich zunächst nicht lokalisieren lassen will. „Wissenschaft vom Ganzen, von der Totalität, vom Unendlichen" in einem überzeitlichen Sinn höchster Allgemeinbegrifflichkeit ist nicht mehr zu garantieren (KT I, 48), und das Denken, das diesen Einbruch registriert und im Namen der Menschheit doch von „Glück", „Veränderung" und „Solidarität" reden möchte, sieht sich an eine gesellschaftsökonomische Geschichtsauffassung verwiesen und versteht sich wegen dieser Konkretion im Besonderen statt im idealistisch Allgemeinen als materialistisch. Dabei ist die „Veränderung zum Richtigen" das treibende Motiv. Die „Utopie" der „realen Möglichkeit" hat vor sich das „Bild der Zukunft" (KT II, 167 f) als „Gesellschaft ohne Unrecht", und der Theoretiker steht damit in der Funktion einer Stellvertretung für die „unterdrückte Menschheit, für die er denkt" (KT II, 170). Die „Hoffnung" allerdings, die alldem zugrunde liegt, ist „unbegründbar" (KT I, 47). Die metaphysische Frage wird damit beantwortet, daß sie nicht beantwortet werden darf: „Insbesondere sieht der Materialismus in jeder Art von Philosophie, welche es unternimmt, die unbegründbare Hoffnung zu rechtfertigen oder ihre Unbegründbarkeit auch nur zu verschleiern, einen Betrug an den Menschen" (ebd.). Diese ideologiekritische Hoffnungsinstanz, die sich von jeder handhabbaren Rationalisierung fernhalten will, hat Benjamin in seinem letzten Text, den Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) theologisch und wie in einem Vermächtnis zu einem kompakten Ausdruck gebracht (besonders bezeichnend im Bild vom Schachautomaten in der ersten These: der im Geheimen steuernden Theologie, „die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen" [GS 1/2, 693]). „Materialistisch" heißt darin die Konkretion menschlichen Leidens in der Geschichte, die ohne erschlichene Sinnstiftungen einzugestehen ist; aber genau dies ist konsequent nur möglich aus der messianischen Perspektive der „Erlösung" (GS 1/2,693 f). Adornos Meditationen zur Metaphysik (1966) lassen diese messianische Geschichtsphilosophie Benjamins allenthalben erkennen, wiederholen sie aber nur in äußerst zurückhaltender Paradoxie. Es soll das verschärfte „Bilderverbot" gelten: „Hoffnung auch nur zu denken, frevelt an ihr und arbeitet ihr entgegen" (Negative Dialektik, GS VI, 394).

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1.2. Geheimnischarakter. Die Realität der Hoffnung ist nicht vorzeigbar. „Theorie... arbeitet nicht im Dienst einer schon vorhandenen Realität; sie spricht nur ihr Geheimnis aus" (Horkheimer, K T II, 165). Adorno hat in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung (1931) in diesem Sinne von der „Rätselgestalt" der Wirklichkeit gesprochen, der die Philosophie gerade nicht entspricht, wenn sie eine höhere Wahrheit hinter den Dingen sucht und etabliert, sondern der sie sich - wie in einem Text - nur entziffernd nähern kann, so daß bei aller Unfertigkeit und Unausgeglichenheit doch „Bilder" und „Figuren", „Konstellationen" überraschend „als Antwort lesbar" werden (GS 1,334 f). Adorno übernimmt damit aus Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels die Idee der Rettung als „Konfiguration" (Benjamin, GS I/l,214f), im Bild: „die Rätselgestalt blitzhaft zu erhellen und aufzuheben" (Adorno, GS 1,335; vgl. Benjamin, GS 1/2,695 [V. These]). Das Geheimnis bleibt gebunden an die wirkliche Geschichte, und in ihr ist „mikrologisch" (Benjamin, GS 1/1,208), „durch Zusammenstellung des Kleinsten" (Adorno, GS 1,336) ihrer Wahrheit auf der Spur zu bleiben. Absolutes wird nicht als ideale Wirklichkeit vorkonstruiert, nicht transzendent vorausgesetzt; es wird aber auch nicht vor der Macht des Faktischen kapituliert. Es bleibt nur eine sehr indirekt annäherbare Gestalt der Wahrheit, über die wir nicht verfügen: „Was Sache selbst heißen mag, ist nicht positiv, unmittelbar vorhanden... keineswegs Denkprodukt; vielmehr das Nichtidcntische...ein Zugehängtes" (Adorno, GS VI, 189). Der religiöse Vergleich zur Sphäre des Heiligen macht bewußt, was die Philosophie von sich aus kaum zu sagen vermag. 1.3. Neutralisierung der Religion. Daß die religiöse Wirklichkeit problematisch bleibt und nicht direkt berufbar ist, liegt an ihrer gesellschaftlichen Funktion. In den kulturkritischen Schriften der vierziger Jahre (Horkheimers Eclipse ofReason [1947]; dt.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft [1967]; und der von Adorno und Horkheimer gemeinsam geschriebenen Dialektik der Aufklärung [1944/1947]) wird Religion in doppelter Weise bestimmt: Die neuzeitliche Entwicklung zur Instrumentalisierung der Vernunft - und nach der These der Dialektik der Aufklärung steckt schon im Mythos die Ambivalenz des wissenschaftlichen Fortschritts: zugleich zu verdunkeln und zu erhellen - , Vernünftigkeit also entzieht sich selbst und der Religion die objektiv-vernünftige Zweckbestimmung zugunsten des optimierten Einsatzes subjektiv-vernünftiger Mittel; was der Religion wie der Kunst damit geschieht, nennt Horkheimer „Neutralisierung" (KiV 27.47), die Dialektik der Aufklärung prägte dafür das Stichwort der „Kulturindustric" (Adorno, GS III, 141). Ihr entgegen steht aber andererseits der Appell und die Erinnerung an Absolutheit und Objektivität der Religion: Wahrheit als Offenbarung, die vor dem entmythologisicrenden Zugriff zu schützen ist. Horkheimers Argumentation liest sich hier wie der Protest der frühen -»Dialektischen Theologie gegenüber dem Kulturprotestantismus: „daß Wahrheit das Gegenteil von Befriedigung" bedeuten „und in einem gegebenen historischen Moment sich für die Menschheit als völlig schockierend erweisen könnte" (KiV 58). Religion also bezeugt im Extrem die ambivalente Situationsbeschreibung der modernen Gesellschaft, im Christentum potenziert durch die austauschbar erscheinende Nähe von Versöhnung und Opferzwang. Die kritische Analyse eben dieser Ambivalenzen geschieht im Namen „einer Menschheit, die, selbst nicht mehr entstellt, der Entstellung nicht länger bedarf" (Adorno, GS III, 140). 2. Rationale

Metakritik

Die kritische Rezeption hat vor allem auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, die mit der geschichtsphilosophisch-materialistischen Positionsbestimmung Kritischer Theorie verbunden sind, dem, was die entscheidende Differenz und das Recht der Gegenüberstellung von „traditioneller" und „kritischer" Theorie ausmachen soll. Wenn nämlich der Geschichtsverlauf mit negativen Totalbestimmungen besetzt wird, bleibt dann nicht als Ausweg nur die (uneingestandene) Abhängigkeit von einer Naturobjektivität? Oder muß doch - und ebenso uneingestanden - Theologie als Instanz der Wendung des Geschichtsganzen im Absoluten unterstellt werden (M. Theunissen)? Ähnlich argumentiert eine Metakritik, die Adornos geschichtsphilosophische Diagnose als Gericht über alle

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Zukunft liest, sich selbst nicht mehr in wahr oder falsch unterscheiden zu können. Dann ist auch die Theologie in diesen Strudel mit hineingezogen, und die unverkennbaren Theologumena Kritischer Theorie in utopischer Hinsicht müssen als bloße Spielmarken erscheinen (T. Koch/K.-M. Kodalle). Mit einem Vorschlag zur genaueren Differenzierung läßt sich solche Kritik präziser an der These vom wechselseitigen Umschlagen von Aufklärung und Mythos in der Dialektik der Aufklärung fundieren: Zu unterscheiden ist zwischen Mythos als Weltdeutung, der faktisch nicht der kritischen Selbstreflexion unterstehen kann und gerade daraus die Kraft einer nicht reflexiv vorzensierten Lebensorientierung bewahrt, und Mythos als gezielt unkritischer Reflexionsverhinderung, die dann besser gleich als Ideologie zu bezeichnen wäre (Chr. Hubig). Solche metakritischen Zwischenfragen treffen schnell auf Unklarheiten, die mit dem Stil der emphatischen Begriffsbildung Kritischer Theorie und (auch biographisch) mit der von Adorno bewußt als Widerstandsform vollzogenen Wendung aller philosophischen Reflexion „nach Auschwitz" (GS VI, 354) zusammenhängen. Insofern hat die philosophische Metakritik durchaus ein weites Feld von Klärungsaufgaben (C.-F. Geyer, Aporien), sie muß dazu aber die bewußt konstruierte Widerspruchsstruktur von Satz und Gedanke in den Texten zunächst aufbrechen. Gerade diese Dialektik im kleinsten Zug aber vertritt den intellektuellen und zugleich (auch dies wie ein Paradox) prophetischen Gestus Kritischer Theorie, sich nicht plausibel und integrierbar geben zu können. Doch dazwischenzufragen ist weder verboten, noch sind die einfühlsam der Realität abgerungenen Theoriefiguren über Kritik erhaben. Die Gefahr der Metakritik liegt dann allerdings im Entspannen und Zerstören der utopischen Rettungsimpulse, die durch dialektische Gedankenführung und bewußt riskierte Widersprüchlichkeit zum Aufleuchten gebracht werden sollten. Nicht zuletzt von daher dürften auch Nähe und Ferne zur Philosophie M . -»Heideggers demonstrierbar werden (vgl. die Dokumentation bei H. Mörchen). Adorno hat in dieser Konkurrenz allerdings allein den unbedingten Gegensatz von seiner Seite her explizit gemacht, so wie er durch seine Interpretation -»Kierkegaards (1930/33) glaubte, die Existenzphilosophie auch theologisch schon ausgespielt zu haben (GS II; vgl. H. Deuser; K . - M . Kodalle, Eroberung, 3. Teil). 3. Theologische

Interpretationen

D a ß diese nicht nur legitim, sondern geradezu erforderlich sind, ist inzwischen nachgewiesen; ebenso der unausweichliche Vorbehalt, Kritische Theorie dürfe nicht „affirmativ" einer bestimmten Dogmatik angepaßt werden. Die kritischen Werkeditionen zusammen mit den zunehmend veröffentlichten Dokumenten aus dem Nachlaß zeigen deutlich, wie stark und durchgängig das theologische Problembewußtsein - gemessen an der metaphysischen, jüdisch-christlichen Tradition, nicht an der gleichzeitigen fachthcologischen Arbeit - gewesen ist. Das wird auch daraus verständlich, daß über E. - » B l o c h , W. Benjamin und G . -»Scholem die jüdische Tradition präsent gehalten und religionsphilosophisch weitergetragen wurde (vgl. Benjamin/Scholem, Briefwechsel) und daß im Kontakt zu P. -»Tillich eine christliche Philosophie und Theologie von Rang im engeren Kreis des Frankfurter Instituts respektiert wurde und auch über die Emigration hinaus wirksam blieb (Horkheimer, GS VII, 2 6 9 - 2 8 3 ; GS X I , 345ff; Adorno: Werk u. Wirken P. Tillichs 2 4 - 3 8 ; vgl. vor allem Tillichs Schriften zum „Religiösen Sozialismus" aus den 30er Jahren: G W II). Diese Nähe zu theologischen Fragen ist in J . Habermas' Sozialphilosophie offensichtlich nicht mehr weitergeführt (vgl. K . - M . Kodalle, Versprachlichung; aber auch E. Arens). Doch gehört es zum Kern der Sache Kritischer Theorie, wenn Adorno gegenüber Benjamin von einer ihnen gemeinsamen ,„inversen' T h e o l o g i e " spricht, die sich der Alternative „naturaler" oder „supranaturaler" Interpretation entziehe (Brief vom 1 7 . 1 2 . 1 9 3 4 , zit.: Adorno, Uber W. Benjamin 103); wenn Adorno gegenüber Horkheimer das „ M o t i v der Rettung des Hoffnungslosen" als Konvergenz des Horkheimerschen Atheismus mit den eigenen „theologischen Intentionen" bezeichnet (Brief vom 2 5 . 2 . 1 9 3 5 , zit.: Gumnior/Ringguth 84); wenn im Briefwechsel Horkheimer/Benjamin das theologische Motiv der „Unabgeschlossenheit" umkreist wird (Horkheimers Brief vom 1 6 . 3 . 1 9 3 7 : Tiedemann, Materialismus 87), worauf dann Benjamins geschichtlich-messianische Kategorie des „Eingedenkens" antwortet: „Im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die

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es uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen" (GS 1/3,1235; vgl. GS 1/2,704). Die theologische Interpretation aber, will sie nicht nur diese Fakten nennen, muß in eine Wechselwirkung mit den Texten treten, die unter radikal veränderten Lebensbedingungen etwas zu bewahren behaupten, dessen vergegenwärtigende Autorität und Wirksamkeit sie gerade der etablierten Theologie nicht mehr zutrauen. „Erlösung" (Adorno, GS IV, 281), „messianische Stillstellung des Geschehens" (Benjamin, GS 1/2,703) und die „Sehnsucht nach dem ganz Anderen" (Horkheimer, GS VII, 385 ff) stellen eine spezifisch gebrochene Theologie dar, deren bewußt theologische Wiederaufnahme dann entweder im Konstatieren von Lehrdifferenzen bestehen kann (O. Bayer 267 ff; M. Honecker 41 f.66ff), oder die Wechselwirkung muß Folgen für das Theologieverständnis selbst haben. Dies zeichnet sich zumindest dort ab, wo Strukturanalogien zwischen Kritischer Theorie und Theologie in sympathetisch eindringlicher Interpretation entdeckt werden. So kann ein Strukturvergleich zwischen Adornos Negativer Dialektik und der patristischtraditionellen negativen Theologie durchgeführt werden (L. Stresius), und die These der Unheilsgeschichte, die als negative Totalität über der Menschheit verhängt erscheint, kann von der Erbsündenlehre (M. Knapp) oder der paulinischen Kreuzestheologie (W. Brändle) her beleuchtet werden; Horkheimers im Immanenzzusammenhang verharrende Transzendenzlehre kann im Kontext weltverändernden Glaubens praktisch-eschatologisch verstanden und in befreiungstheologischen Denkmodellen weitergedacht werden (J.J. Sánchez; M. Lutz-Bachmann); vor allem aber ist Benjamins messianische Geschichtsdeutung (H. Günther; O. John) als rettendes Eingedenken gegen den katastrophalen Fortschrittsstrom elementar biblisch zu interpretieren und interpretiert rückwirkend die hebräische Bibel heute (J. Ebach). Trotz der unübersehbaren Eigenständigkeit der intellektuellen Biographien vor allem Benjamins, aber auch Horkheimers und Adornos, bleibt theologisch gemeinsam die vorbehaltlose Aufdeckung geschichtlichen Leidens der Menschheit im darin doch und gerade gesuchten Gegenimpuls. Das Problem der -»Theodizee steckt in dieser dialektischen Situation, in den Zügen der Verborgenheit Gottes (P. Steinacker) bzw. einer Christologie (E. Thaidigsmann), die nicht mehr aus supranaturalen Prämissen, sondern aus der intensiven weltlichen Erfahrung lebt, ohne in dieser unterzugehen. In diesem Sinne vertreten die theologischen Motive Kritischer Theorie wirklich elementar und ohne Übermalung die jüdisch-christliche Tradition - im Paradox einer materialistischen Metaphysik. Anders als in Horkheimers beschwörender Erinnerung an den Gott der Liebe und Gerechtigkeit, anders auch als in Adornos ästhetischer Rettung, die den letzten Ausdruck von Hoffnung im Übergang von der Theologie zu den Kunstwerken verfolgen will (GS VI, 389), ist in Benjamins messianischem Eingedenken nicht nur eine theologische Gedankenfigur, sondern eine religiöse Lebensform zu spüren. Die utopische Differenz will gelebt werden, und daraus bezieht die theologische Interpretation Kritischer Theorie ihre Überzeugungskraft. Hermann Deuser Quellen Theodor W. Adorno, GS 20 Bde. Hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a . M . 1 9 7 0 - 1 9 8 6 [ = G S ] . Ders. u.a. T h e Authoritarian Personality, New York 1950. - Ders. u. a., Der Positivismusstreit in der dt. Soziologie, Neuwied 1969. - Ders., Uber Walter Benjamin. Hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a . M . 1 9 7 0 . - W a l t e r Benjamin, GS, I - V I in 12EinzeIbdn. Hg. v. RolfTiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a . M . 1 9 7 2 - 1 9 8 5 . - Ders., Briefe. Hg. v. Gershom Scholem/Theodor W. Adorno, 2 Bde., Frankfurt a . M . 1980. - Ders., Walter Benjamin/Gershom Scholem, Briefwechsel 1 9 3 3 - 1 9 4 0 . Hg. v. Gershom Scholem, Frankfurt a . M . 1980. - Erich Fromm, GA. Hg. v. Rainer Funk, Stuttgart, I - X 1980/81 [ = GA], - Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962. - Ders., Technik u. Wiss. als .Ideologie', Frankfurt a. M . 1968. - Ders., Zur Logik der Sozialwiss., Frankfurt a . M . 1970. - Ders., Theorie u. Praxis, Frankfurt a . M . NA 1971. - Ders., (Hg.), Hermeneutik u. Ideologiekritik, Frankfurt a . M . 1971. - Ders./Niklas Luhmann, Theorie der

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Kritische Theorie I/II

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Kritischer Rationalismus

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Kritischer Rationalismus 1. Karl Popper 1.1. Werk und Rezeption 1.2. .Logik der Forschung' 1.3. Probleme der Metaphysik 1.4. Wirkung 2. William Warren Bartley 2.1. Das Problem der Rationalitätstheorie 2.2. Rationalität und protestantische Theologie 2.3. .Pankritischer Rationalismus' 3. Hans Albert 3.1. Werke 3.2. Kritik der Letztbegründung 3.3. Die Konzeption kritischer Prüfung 3.4. Kritischer Rationalismus und Theologie (Anmerkungen/Literatur S. 112)

1. Karl Popper 1.1. Werk und Rezeption. „Kritischer Rationalismus" ist eine Selbstbezeichnung (OG 1 11,282; C & R 26.375; A 164) Karl Raimund Poppers (geb. 1902 in Wien; bis 1969 Professor für Logik und wissenschaftliche Methode an der London University) für seine Philosophie. Diese gehört in weitestem Sinne zur Analytischen Philosophie (vgl. LdF XIV) und ist „als eine kritische Diskussion und Korrektur der Ideen des Wiener Kreises konzipiert" (A 116), d . h . des sog. .„Logischen Positivismus'" (GE 18; LdF XXIII). Poppers erste Darstellung seiner Philosophie Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, geschrieben 1929-1932 auf Anregung von Herbert Feigl, der als erster die Bedeutung Poppers erkannte (A 112-116; LdF XXIII.444), erschien radikal gekürzt (LdF 253; A 117) 1934 unter dem Titel Logik der Forschung in den von Moritz Schlick herausgegebenen Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung. Auch das trug zu dem hartnäckigen Mißverständnis bei, in Popper selbst einen Neopositivisten zu sehen (A 120f u.ö.). Die Kenntnis der philosophischen Position Poppers wurde weiter dadurch beeinträchtigt, daß sie im englischen Sprachraum zunächst nur durch einige Passagen seiner geschichts- und gesellschaftsphilosophischen, auf die Zeitsituation reagierenden (A 163) Bücher The Poverty of Historicism (1944/45; dt.: Das Elend des Historizismus 1965) und The Opert Society and lts Enemies (2 Bde., 1945, erweitert 4 1962; zit.: Princeton 1971; dt.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1957/58) bekannt wurde. Erst 1959 (dazu LdF XXVI), mit der englischen Fassung seines Hauptwerks The Logic of Scientific Discovery sowie der ihr 1963 folgenden Aufsatzsammlung Conjectures and Refutations trat Popper mehr und mehr in das Bewußtsein der philosophischen Öffentlichkeit. 1972 erschien die Aufsatzsammlung Objective Knowledge, 1982/83 das dreibändige Postscript to the Logic of Scientific Discovery. Ebenso war Popper im deutschen Sprachbereich fast unbekannt, bevor die Logik der Forschung 1966 (im ursprünglichen Text, aber mit Kommentaren und Zusätzen aus der englischen Fassung; zit.: 8 1984) wiedererschien und seine Philosophie gleichzeitig von Hans Albert aufgenommen und weitergeführt wurde. Aber mit Ausnahme von Objektive Erkenntnis (1973, 4 1984) liegen Poppers spätere Werke bis heute nicht in deutscher Sprache vor, was seine Rezeption behindert und die anfängliche Trivialisierung seiner Gedanken im sog. ,Positivismusstreit' seit 1961 begünstigt hat. Durch die nachträgliche Veröffentlichung von GE (1979) und die Autobiography (zuerst 1974 in The Philosophy of Karl Popper, hg. v. Paul Arthur Schilpp, 3 - 1 8 1 [hier auch die wichtigen Replies to my Critics [961-1197], dann als Unended Quest 1976, dt.: Ausgangspunkte 1979) kann jetzt die Entwicklung von Poppers Philosophie gut rekonstruiert werden. Im folgenden werden die Aspekte, die William Warren Bartley und Hans Albert weiterentwickeln (s.u. 2 u. 3), nicht ausgeführt. Das gleiche gilt für Poppers (nur kurz berührte) Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie sowie seine Sicht der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, insbesondere der Vorsokratiker, Piatons, Kants, M a r x ' , Darwins und Einsteins. 1.2. ,Logik der Forschung'. „Kernstück der Philosophie" (Was ist Philosophie?, hg. v. Kurt Salamun, Tübingen 2 1986,227) ist „die Analyse der Wissenschaft - die,Philosophie der Wissenschaft'" (LdF XXII), genauer: „die Definition des Wissenschaftsbegriffes" (LdF 27; GE 85.393) mittels des Verfahrens, ihr Vorgehen „einer logischen Analyse zu unterziehen" (LdF 3). Dasselbe ist gemeint mit „Erkenntnistheorie oder Forschungslogik...oder Erkenntnislogik" (LdF 22.3.6 u.ö.), auch -»„Wissenschaftstheorie" oder „Wissenschaftslehre" (A 108.9.221.263.125). 2 Dabei setzt Popper voraus,

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Kritischer Rationalismus

„ d a ß die wissenschaftliche E r k e n n t n i s nur eine F o r t e n t w i c k l u n g und E r w e i t e r u n g u n s e rer alltäglichen (vorwissenschaftlichen) E r k e n n t n i s i s t " ( L d F X V I I [A 163]; vgl. L d F X V I I I , O E 3 3 - 3 5 ) ; w o m i t „ d a s e i n f a c h e . . . F a k t u m , d a ß es E r k e n n t n i s g i b t " ( G E 1 1 8 ) , a n e r k a n n t wird, aber so, d a ß „ d a s zentrale P r o b l e m der E r k e n n t n i s l e h r e " in „ d e m P r o blem des W a c h s t u m s unseres W i s s e n s " bestehe (LdF X I V . X V I 1 I . X X ; C & R K a p . 10; O S II 376; A Anm. 267). Hinsichtlich der L ö s u n g dieses P r o b l e m s unterscheidet sich P o p p e r von den a n d e r e n R e p r ä s e n t a n t e n Analytischer Philosophie d u r c h die grundlegende A n n a h m e , „ d a ß es keine wie i m m e r geartete Induktion als wissenschaftliche M e t h o d e g i b t " ( G E 7 ; L d F 14; PhP 9 7 5 ) ; sie ist nach P o p p e r „eine Art o p t i s c h e r T ä u s c h u n g " , ein „ I r r t u m " ( O E 7 ) , ein „ M y t h o s " ( O E 2 3 f ; C & R 5 3 . 1 3 8 ; A 110; PhP 1 0 3 2 ) . „ E i n I n d u k t i o n s s c h l u ß ist ein V e r s u c h , . . . von b e k a n n t e n Fällen a u f n o c h u n b e k a n n t e Fälle (zu s c h l i e ß e n ) " ; „ein e r w e i ternder S c h l u ß " (LdF 4 3 8 ) a u f eine „ R e g e l o d e r V e r a l l g e m e i n e r u n g . . . aufgrund singulärer D a t e n " ( O E 9 6 ) . P o p p e r nun „ s p r i c h t der I n d u k t i o n jede Bedeutung a b " ( G E 8), weil „ d e r reine Induktionsschluß sich logisch nicht rechtfertigen l ä ß t . . . " ( G E 3 9 ) ; „ e r hat nicht die geringste r a t i o n a l e G r u n d l a g e " ( O E 9 2 ) . D e n n es ist e t w a s „ g a n z Selbstverständliches: d a ß man nicht mehr wissen k a n n , als m a n w e i ß (nicht m e h r w e i ß , als m a n w e i ß ) " ( G E 3 9 . 3 ) . Dies „ h a t als erster - > H u m e mit vorbildlicher K l a r h e i t d a r g e l e g t " ( G E 3 3 ) . Historisch richtig stellt Popper fest: „Die heute traditionellen Formulierungen sind historisch ziemlich jung: Sie erwuchsen aus Humes Kritik der Induktion und ihrer Wirkung auf die Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes" (OE 2); wobei Popper sich das Verdienst zuschreibt: „ S e i t . . . ich das Induktionsproblem das ,Humesche Problem* nannte, ist diese Bezeichnung allgemein angenommen worden" (OE 95.98; vgl. PhP 2 7 4 - 2 9 1 [Peter Medawar] und Stegmüller, Normale Wissenschaft... 112, nach dem Poppers Aufklärung „zu einer gewaltigen Ernüchterung...führte"). „Eine andere Stellungnahme ist seit Hume nicht möglich" (GE 43). Das gilt aber auch für ein „Induktionsprinzip zweiter Ordnung" (GE 38), nämlich ein ,„Prinzip des zureichenden Grundes'" (OE 30) oder „ein Kausalitätsprinzip.. .,das apriorigültig ist", wie „Kant.. .und nach ihm Russell" annahmen (OE 93; LdF 32f.52.87.195), und „ebenso die probabilistischen Fassungen wie die, die in Thomas Rcids Induktionsprinzip enthalten ist: ,Das Zukünftige ist wahrscheinlich dem ähnlich, was bisher unter ähnlichen Umständen geschah'. Ihre Urheber nehmen Humes logische Kritik nicht ernst genug" (OE 28). Denn jedes Induktionsprinzip scheitert daran, daß es entweder selbst auf Induktion gestützt wird (seine bisherige Bewährung) oder als apriori gültig „Glaube" an „eine Konstanz (.Gleichförmigkeit') der Naturvorgänge" (LdF 1 9 9 - 2 0 1 . 4 f [OE 99.101]) oder etwas dergleichen ist; in jedem Fall logisch ungerechtfertigt. Die Folgen dieser erkenntnislogischen Situation sind „verheerend" (Bertrand Russell, History of Western Philosophy [1946] 1985, 645): „Unsere .Erkenntnis' wird als Glaube, ja als vernünftig nicht verteidigbarer Glaube entlarvt - als irrationaler Glaube" (OE 5). Popper zitiert dazu aus Russells Hume-Kapitel (646): „Es ist daher wichtig herauszufinden, ob es eine Antwort auf Hume gibt...Wenn nicht, so gibt es keinen einsehbaren Unterschied zwischen gesundem Menschenverstand und Verrücktheit" (meine Ubersetzung; etwas anders OE 5; vgl. 1.97). D a P o p p e r den „ S t a n d p u n k t des , A p r i o r i s m u s ' " ( G E 4 3 u . ö . ) als „in keiner Weise gerechtfertigt" ( G E 105), a b e r a u c h die „ P r e i s g a b e des - » R a t i o n a l i s m u s " ( O E 97) a b lehnt, bleibt konsequenterweise nur übrig, „dieses rein logische E r g e b n i s " ( O E 13) zu akzeptieren, d. h. „ d a ß die wissenschaftlichen S ä t z e . . . i m m e r den C h a r a k t e r von H y p o thesen h a b e n " (LdF 19 A n m . 5 . 4 4 ; G E 7 9 u . ö . ) und ihrem Status n a c h solche „ b l e i b e n " ( O E 13) „ m ü s s e n " (A 1 0 9 ) , so „ d a ß alles W i s s e n (essentiell) hypothetisch i s t " ( O E 3 0 [ C & R 5 1 ] ; L d F 61 u . ö . ) . D a r a n ist nichts neu, a b e r P o p p e r schreibt sich mit R e c h t zu: „ D i e s e Ansicht ist jetzt ziemlich v e r b r e i t e t . . . " ( O E 9; vgl. Bartley 5 9 f ) . P o p p e r deutet diesen „ . H y p o t h e t i z i s m u s " ' ( C & R 5 4 ) — hier f ä n g t sein eigener Beitrag zur W i s s e n schaftsphilosophie a n , von dessen V e r s t a n d e n h a b e n alles andere a b h ä n g t (Albert, W F V 159) - sozusagen wörtlich als ein ,Unterstellen'; so, d a ß wir durch eine , „ a u f Einfühlung in die E r f a h r u n g sich stützende (.schöpferische') I n t u i t i o n ' " o d e r einen „ E i n f a l l " ( L d F 7 . 6 ; O G II 4 6 4 , A n m . 3 1 8 ) , mit einem „ S p r u n g " ( C & R 4 6 . 5 5 ) zur „ T h e o r i e " o d e r „ E r k l ä r u n g " (LdF 31) gelangen. D a s gilt auch für alle „ N a t u r g e s e t z e " (LdF 3 5 ; C & R 1 7 4 . 2 6 1 . 2 6 4 ) . Diese nennt P o p p e r d a h e r „ A n t i z i p a t i o n e n " ( G E 2 6 . 2 8 . 2 9 . 3 1 ; L d F 6 . 7 . 2 2 3 ) , mit besonderer Vorliebe a b e r „ V e r m u t u n g e n " ( „ c o n j e c t u r e s " ) ; so d a ß gilt: „(All) unser

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Wissen ist e i n . . . Gewebe von Vermutungen" (LdF X X V [XXIV]) und diese sind „unsere Schöpfungen" (C&R 192). In diesen Bereich aller möglichen (LdF 13.384), selbst „phantastisch kühnen" (LdF 223; C & R 51), mitunter (zunächst) ganz ungedeckten Behauptungen wird nun das „Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft" (A 69; von Hans Albert als „Popper-Kriterium" bezeichnet [ARSP 46 (1960) 398]) eingeführt. Dieses kann nicht - wie im „Logischen Positivismus" diskutiert — „das induktionslogische Abgrenzungskriterium... der Forderung" der „Verifizierbarkeit" (,„an[zu]geben, . . . wann ein Satz wahr ist'") sein; denn da es „,keine logische Rechtfertigung.. .allgemeiner Sätze über die Wirklichkeit... gibt'", „vernichtet.. .dieser Abgrenzungsversuch... mit der Metaphysik auch die Naturwissenschaft: (a)uch die Naturgesetze..." (LdF 14.15.11). Da aber Popper die „Voraussetzung,... Aussagen über die Wirklichkeit.. .auf -»Erfahrung zu gründen" (GE 62), teilt, kam er „etwa 1927" (OE 1) auf den Gedanken, „als Abgrenzungskriterium nicht die Verifizierbarkeit, sondern die Falsifizierbarkeit... vorzuschlagen" (LdF 15). Das bedeutet: „Nur solche Sätze sagen etwas über die Erfahrungswirklichkeit aus, die an ihr scheitern können" (GE 9; LdF 255). Diesen Vorschlag stützt „eine fundamentale logische Tatsache" (GE X X I X ) : die „Asymmetrie zwischen Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit, die mit der logischen Form der allgemeinen Sätze zusammenhängt; diese sind nämlich nie aus besonderen Sätzen ableitbar, können aber mit besonderen Sätzen in Widerspruch stehen. Durch rein deduktive Schlüsse (mit Hilfe des sogenannten ,modus tollens' der klassischen Logik) 3 kann man daher von besonderen Sätzen auf die ,Falschheit' allgemeiner Sätze schließen..." (LdF 15f.211). So gewinnt Popper seine „Lehre von der deduktiven Methodik der Nachprüfung" (LdF 5), und sein „Vorschlag ist" (LdF 22), „den Begriff der empirischen Wissenschaft mit Hilfe des Kriteriums der Falsifizierbarkeit zu definieren". Die „oberste Regel... des wissenschaftlichen Verfahrens" also ist, „daß eine etwaige Falsifikation der in der Wissenschaft verwendeten Sätze nicht verhindert wird" (LdF 26), d.h. ihre „Widerlegbarkeit" (GE X X V I ) „oder Prüfbarkeit" (C&R 37.39). Das ist „ein normativer Vorschlag" (LdF 426; PhP 1036): eine Theorie soll also dann und nur dann wissenschaftlich heißen, wenn sie logisch (LdF 52.54.425) die Möglichkeit (OG 11,321) von Instanzen zuläßt, die ihr widersprechen und so ermöglichen, sie aufzugeben und durch eine andere, als „besser" ( C & R 232) vermutete (OE 148f.270) zu ersetzen, die dann ihrerseits derselben Regel genügt, so daß es zu einem Erkenntnisgewinn kommen kann. Von diesem Verfahren ist prinzipiell keine Theorie und keiner ihrer Bestandteile jemals ausgeschlossen (OS 11,378.379). Das logische Gegenteil davon heißt mit „Hans Alberts Ausdruck" (LdF 466) ,„Immunisierung"' (LdF 50 Anm. *1). Wissenschaftliche Theorien sind selbstverständlich nicht so schlichte Gebilde wie der zur Verdeutlichung dienende Satz ,„Alle Schwäne sind weiß'" (LdF 67 Anm. *1). Schon zu diesem stellt der erschließbare Satz ,„Es gibt keine nichtweißen Schwäne'" ja nur dann eine Widerlegung dar, wenn es „eine intersubjektiv (.leicht') nachprüfbare Frage" (LdF 70.54 Anm. 1) ist, ob er „ein logisch mögliches und im Prinzip beobachtbares Ereignis beschreibt" und damit ein „Basissatz" (LdF 425) ist. Auf diese komplizierte Stufe kann und braucht aber hier ebensowenig eingegangen zu werden wie auf die zahlreichen Einwände, denen Popper ja bereits selbst seine Theorie ausgesetzt hat (LdF 15f. 17f.21.26.49-52) oder später ausgesetzt sah (LdF XXVIII.425 - 4 2 7 ; PhP). Poppers spätere Modifikationen haben hier die Kritikfestigkeit und logische Stärke seiner Theorie gezeigt. Eine häufige formelhafte Zusammenfassung dafür ist „die ,Methode von Versuch und Irrtum' (,the method of Trial and Error')", die Popper George Bernard Shaw entlehnte (GE 26f), oder „the method of conjecture and refutation" ( C & R 52); eine andere, daß Popper selbst seine Philosophie bezeichnet als „Variationen über ein simples T h e m a - d i e These, daß wir aus unseren Fehlern lernen können" ( C & R VII; vgl. 25.216); eine spätere, daß er seine Theorie als „Fallibilismus" bezeichnet (OS 11,375 f.; GE X X I ) , als „Lehre von der wesenhaften menschlichen Fehlbarkeit" ( C & R 16; PhP 1 1 2 4 ) . - , , . . . Z u r Bezeichnung des Grades, in dem eine Hypothese strengen Prüfungen standgehalten hat", gebraucht Popper den „Terminus... .Bewährung' (.confirmation')" (LdF 198 Anm. *1.212; O E 106) und auch .„Quasiinduktion'" (LdF 46.221.226.16). Da das aber häufig induktionslogisch gedeutet wurde 4 , wählte Popper seit 1953 (1957) lieber die Bezeichnung „corroboration" (LdF 26

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Anm. *1; C&R 57). Damit will er sagen, daß „Bewährung" mit dem „Wahrscheinlichkeitsgrad" einer Hypothese „im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung" (LdF 198 Anm. *1) „nichts zu tun (hat)" (GE 154). „Im Gegenteil" meint Popper, „daß die Prüfbarkeit einer Theorie mit ihrem Informationsgehalt parallel geht, also mit ihrer Unwahrscheinlichkeit...". Und der „Bewährungsgrad einer Theorie" bezeichnet nichts anderes als „einen konzentrierten Bericht" über „den Stand der kritischen Diskussion einer Theorie..." (OE 17.18; A 143 f.145; LdF 226). Nun „wäre es ein schwerer Fehler, daraus zu schließen, daß die Unsicherheit einer Theorie, d. h. ihr hypothetischer oder konjekturaler Charakter, im geringsten ihren impliziten Anspruch mindert, etwas Reales zu beschreiben". Denn „einige unserer Theorien können mit der Realität kollidieren (clash)" und „zeigen so die Punkte, an denen wir die Realität berührt haben, wie sie ist Und darum hat der Realist recht" (C&R 116.117). Genau so „schließt gerade die Idee von Irrtum - und Fehlbarkeit - die Idee objektiver -»Wahrheit ein als.. .regulative Idee" (C&R 229.16; OS II, 375); daher „ist nur eine Theorie der Wahrheit ernst zu nehmen: die Korrespondenztheorie" (GE XXII), die Popper 1935 in der von Alfred Tarski rekonstruierten Form übernimmt (LdF 219, Anm. *1; A 137f), wonach wir (metasprachlich) sagen: eine (objektsprachliche) Feststellung „p" ist genau dann wahr, wenn der Sachverhalt p der Fall ist (C&R 224; OS 11,370.376). D.h., „wir kommen einfach nicht aus ohne so etwas wie die Idee der besseren oder schlechteren Annäherung an die Wahrheit" (C&R 232), für die Popper 1960 den Terminus „Wahrheitsähnlichkeit" („verisimilitude") einführte (OE 106). Auch dafür gilt: „die Wahrheit ist nicht .relativ*..." (OG 11,322). Es ist „das Problem" und die „Aufgabe" der Philosophie und Wissenschaft, „etwas zu unserem Wissen über die Welt (Kosmologie in diesem Sinn) beizutragen", und sie sind dazu nicht „unfähig" (LdF XIV.XVIII). 1.3. Probleme der Metaphysik. Nach Veröffentlichung der LdF hat Popper seine Wissenschaftstheorie „verallgemeinert; denn die intersubjektive Nachprüfung ist nur ein sehr wichtiger Aspekt des allgemeineren Gedankens der intersubjektiven - » K r i t i k , . . . der Idee der gegenseitigen rationalen Kontrolle durch kritische Diskussion" (LdF 18, Anm. *1.64, Anm. *1; A 145). 1950, nach der Darstellung seiner (gegen „Hegel und die Folgen" seines von Popper sog. „Historizismus" gerichteten) -»Geschichtsphilosophie (die stark anregend auf die Entwicklung einer Analytischen Philosophie der Geschichte gewirkt hat) und seiner (gegen den „Zauber [der politischen Philosophie] Piatons" gerichteten) Gesellschaftsphilosophie (deren Grundgedanke ist, daß rationale kritische Diskussion nicht ohne sie ermöglichende und fördernde Verfassungen des Zusammenlebens von Menschen dauerhaft existieren kann) treten Fragen der -»Metaphysik in den Vordergrund (LdF 159; PhP 1067). Diese waren ja bei Popper immer in die als Vermutungen aufgefaßten Hypothesen der Wissenschaft einbegriffen und nie als „sinnloses Gerede" (LdF 13.10) davon ausgeschlossen worden; „denn metaphysische Ideen sind oft die Vorläufer wissenschaftlicher Ideen" (A 110), und „die Falsifizierbarkeit unterscheidet zwei Arten von durchaus sinnvollen Sätzen voneinander:... zieht eine Trennungslinie innerhalb der sinnvollen Sprache, nicht um sie herum" (LdF 15, Anm. *3; C & R 257). 1971 ist Popper noch weiter gegangen: 1934, sagt er, „setzte ich fälschlich die Grenzen der Wissenschaft mit den Grenzen der Argumentierbarkeit gleich. Später [1958] änderte ich meine Ansicht und argumentierte, daß unprüfbare (d.h. unwiderlegbare) metaphysische Theorien rational argumentierbar sein k ö n n e n " ( O E 40, Anm. 9; vgl. C & R 1 9 6 f . l 9 8 f und Bartley 2 2 5 f ) . Seit 1967 diskutiert Popper die Metaphysik der „drei Welten oder Universen": der „Welt der...physikalischen Zustände (Welt 1 ) " , der „Welt der Bewußtseinszustände (Welt 2 ) " und der „Welt der objektiven Gedankeninhalte (Welt 3 ) " ( O E 109 [A 264]) und ihrer Beziehungen zueinander und bezeichnet sich in diesem Zusammenhang als „Rationalist" ( C & R 194; PhP 1086), d. h. erkenntnistheoretisch als „kein Konventionalist" (PhP 1117; LdF 48; O G 11,321), sondern „Objektivist" (PhP 1140) und „ R e a l i s t " ( O E 110; PhP 1059f.1114.1140), metaphysisch als „ D u a l i s t " (hinsichtlich des Leib-Seele-Problems [A 273]; dazu s. Vollmer) und „Pluralist" (A 332, Anm. 306) sowie „Indeterminist" ( C & R 194). „Zweifelhaft" erscheint Popper, „ o b die verschiedenen religiösen Deutungen der Welt irgendeine ernsthafte Alternative zum Dualismus von Leib und S e e l e . . . in Richtung auf einen philosophischen Pluralismus... bieten" ( O E 158.159), in den sie ihrem Status („level") nach hineingehören können ( C & R 265; PhP 1069) wie andere „ M y t h e n " auch ( C & R 127.187; PhP 1123). Für die „intuitive Idee", „alle einzelnen Tatsachen als (univer-

Kritischer Rationalismus

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seilen Naturgesetzen) unterworfen" zu denken, deren „.Tiefe"' (anstelle „einer letzten Erklärung") „einer erschöpfenden logischen Analyse Widerstand leistet", „ k a n n . . . vielleicht die theologische Frage nach dem Schöpfer der Wesenheiten... gestellt... werd e n . . . " (OE 205.204[203]202). Doch er „glaube nicht, daß" das erlaubt, möglich und nötig sei (OE 205.165, Anm. 8; GE 89; LdF 384.385 f.392 f): „der Theismus" sei „schlimmer als das Eingeständnis des Unwissens" (A 250; vgl. O G II 3 3 5 - 3 4 0 , wo Popper mit Karl Barth „theistischen Historizismus" ablehnt; ebd. 318.302.298.131). Daß ,„die erzmetaphysische Behauptung'" des Theismus „nicht-prüfbar und daher nicht-empirisch und nicht-wissenschaftlich ist" ( C & R 275.277, Anm. 57a; OE 134.23), meint Popper weiterhin, obwohl keine metaphysische Hypothese mehr als argumentierbar sein muß. Dem seiner eigenen „Ansicht nach wahren Christentum" (OG 11,340) entspricht „das Gewissen des Einzelnen", „die Verantwortlichkeit" als „der protestantische Glaube" ( C & R 375; OG 11,346.334.319.300) oder „die christliche Idee der Liebe" (OG 11,291.292.289); eine Einstellung „auf unser eigenes Risiko" und somit von „Heteronomie...eines religiösen Normensystems" geschieden (OS 11,385), die doch „keinerlei Feindschaft gegen einen religiösen Mystizismus (einzig gegen einen militanten anti-rationalistischen Intellektualismus)" (OG 11,318) impliziert. Darin zeigt sich eindrucksvoll auch, wie Popper von seinen Eltern, getauften Juden (A 146f.), „protestantisch erzogen" (Magee 5) wurde. Dazu kommt seine früh entwickelte „Abneigung gegen das Theoretisieren über Gott. . . . Theologie ist, so glaube ich noch immer, ein Symptom des Unglaubens" (A 18). 1.4. Wirkung. Poppers Einfluß ist enorm, erkennbar auch da, wo er nicht genannt wird; aber nur „einige wenige kompetente Wissenschaftstheoretiker und Philosophen" (LdF XXVII) haben seine zentralen Ideen übernommen (OE 1), die meisten betrachten sie in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen „als völlig abwegig" (OE 18.270; LdF 316.341 f.351.371 f.373.425, Anm. 1. 444!) oder nur als Durchgangsstadium zum -»Skeptizismus und Perspektivismus (wie Paul K. Feyerabend, der sich als „Dadaist" der Philosophie bezeichnet [Kritik... VIII]). Unter seinen Schülern ragen zwei hervor, die zugleich in eine intensive Diskussion mit der modernen protestantischen Theologie eingetreten sind: William Warren Bartley und Hans Albert. 2. William

Warren

Bartley

William Warren Bartley (geb. 1934; Profes2.1. Das Problem der Rationalitätstheorie. sor in Stanford/USA) versteht sein Hauptwerk The Retreat to Commitment (1962; dt.: Flucht ins Engagement 1964; revidierte Neuausgabe 1984, deutsch von Klaus Pähler 1987 [bloße Seitenzahlen beziehen sich auf diese Übersetzung]. Zur Entstehung siehe 103.115.119.239.249.263; OS 11,369, Anm. 1) als „eine Verallgemeinerung von Sir Karl Poppers" (XI.XXIX.116.231) Kritischem Rationalismus. Diese ist durch einen „Konflikt in der Rationalitätstheorie selbst veranlaßt" (76). Popper bereits hat diesen konsequent so exponiert, „daß die fundamentale rationalistische Einstellung auf einem (wenigstens vorläufigen) Glaubensakt oder auf dem Glauben an die Vernunft beruht", „der ,irrational' (irrationaler Glaube) genannt werden kann" (OS 11,231.258). „Sie ist eine moralische Entscheidung" (232.240). So „gibt es eine ethische Basis der Wissenschaft und des Rationalismus". Aber es gibt umgekehrt „keine .rationale wissenschaftliche Basis' der Ethik" (238). Das ist „fundamental"; nichts führt „darüber hinaus" ( C & R 357). Besteht folglich „das Problem nicht in der Wahl zwischen Wissen und Glauben, sondern nur in der Wahl zwischen zwei Glaubensarten", und läßt sich also die Frage nicht mehr beantworten: „welcher Glaube ist der richtige und der falsche?" (OS 11,246; GE 394: „Eine rationale Entscheidung zwischen ihnen halte ich für unmöglich"), so ist der Kritische Rationalismus selbst nur als „jenes minimale Zugeständnis an den Irrationalismus" (OS 11,232; bestätigt 381) „logisch haltbar". „Der Irrationalismus" erweist sich als „logisch überlegen" (231), da das, was Rationalität allererst herstellt, „daher" seinerseits

102

Kritischer Rationalismus

noch „ n i c h t " auf sie „gegründet werden k a n n " (230). So spricht Bartley korrekt von „Poppers Fideismus" (114.115). Und zutreffend stellt er fest, „dieses P r o b l e m . . . der Rationalität" (89.113) nach außen sei „grundlegender" (89), als es „Poppers Rationalitätsmaßstäbe" (113) nach innen (seine „Theorie d e r . . . Abgrenzung von Wissenschaft und Nichtwissenschaft" [202.89]) sind. Als „fideistisch" aber sei „Poppers Diskussion der Rationalität inadäquat", da doch „jede adäquate Rationalitätstheorie das Ziel verfolgt, dem Fideismus zu entgehen" (114). (Wozu sonst die Unterscheidung der Begriffe?) Stattdessen scheint jene diesen einzuführen, offenbar weil „es eine fundamentale theoretische Grenze d e r . . . R a t i o n a l i t ä t g i b t " (123.76.113). Diese ist nicht etwa identisch mit „praktischen Begrenzungen" aller Art, sondern es handelt sich um eine „ l o g i s c h e Begrenzung" ( X I I I - X V . 1 3 4 ) : um „die philosophische Behauptung, daß die Rationalität aus logischen Gründen begrenzt i s t " (177). Und es handelt sich nicht um eine äußerliche, sondern „eine wesentliche logische Begrenzung" (241 f), beruhend auf einem „intrinsischen logischen Aspekt" ( X I X ) , „wie das Dilemma der Letztbindung deutlich m a c h t " (123 u.ö.), identisch mit dem „Problem der Voraussetzungen" (76). Denn hinsichtlich dieser besteht die „Notwendigkeit, einen infiniten Regreß zu vermeiden", da so „in alle Ewigkeit" Rationalitätskriterien „nie wirksam verteidigt" werden (können). Also ist offenbar „eine willkürliche dogmatische Bindung oder Festlegung die einzige Möglichkeit d a z u . . . " (77). „Dogmen, so schließt man, sind notwendig" (244.242). Damit aber liegt die „Identitätskrise" und „Integritätskrise der rationalistischen Tradition" (7.6.164. 177) offen zutage, die schon von -»Nietzsche gesehene „ V e r z w e i f l u n g an Vernunft und Wahrheit" (285), welche in ihrem eigenen „Dogmatismus" (244.253) und eo ipso in „Fideismus, Relativismus und Skeptizismus" (XII.285) besteht. Diese „unsere Probleme" (134) werden von Bartley nicht näher differenziert, denn sie laufen in einem Punkt zusammen: der logischen UnUnterscheidbarkeit von Rationalismus und Irrationalismus, da „der Rationalismus an eben den Mängeln krankt, die er dem Irrationalismus zuschreibt" (115, Anm. 58), nämlich „der Rationalist.. .selbst letzten Endesein Irrationalist" (92) ist. Und damit fällt prinzipiell jede Grenze zum -»„Existentialismus" (103.132.233) weg; ja dieser besitzt sogar den Vorzug, „intellektuell redlicher - und sogar rationaler" (82) zu sein, da er durch „ E n g a g e m e n t " (132, Anm. 12.87), d.h. durch „bewußte Bindung" (82) zeigt, welche „Entscheidung" (43) .„wahrhaftig seine eigene'" ist und klar „eine authentische menschliche Existenz" (82) vorweist. Logisch deckt sich dies damit, daß auch „Erzrationalisten" (110), „unfähig, (ihre) Grundposition zu begründen" (111), sie nur als „eine bewußte, überlegte petitio prineipii" (108) beanspruchen, d.h. ihre .„Begründung zirkulär'" als .„eine apriorische, wenn man so will'" (Hilary Putnam [PhP 238f]), .„sozusagen als Richter in eigener Sache'" (Alfred Jules Ayer; vgl. PhP 688) vortragen (112.111). Dieser „bemitleidenswerte Zustand der Rationalitätstheorie" (91) erzeugt nun das von Bartley sog. „starke Tu-quoque-Argument" (77) (Auch-Du!-Argument), auch als „Bumerang-Argument" (79.132) bezeichnet. Als eine Spielart der -»Goldenen Regel formuliert (vgl. 79.84), besagt es: Wenn Du, lieber Rationalist, Deinen, von mir Nicht-Rationalisten abgelehnten, Standpunkt letztlich nicht begründen kannst, so brauche auch ich meinen, von Dir abgelehnten, Standpunkt nicht zu begründen. Dafür kann ich „aus logischen Gründen" (107.77) nicht kritisiert werden. Ich, „der Irrationalist kann jedem Kritiker antworten: ,tu q u o q u e ' . . . " (79): das tust Du auch nicht. Etwas anderes zu verlangen, ist letztlich zugestandenermaßen ja gar nicht möglich (104), und „Müssen impliziert dürfen" (78) nach deontischer Logik. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen (vgl. 88). „Ein Irrationalist hat also e i n e . . . rationale Entschuldigung für eine irrationale Festlegung... und eine sichere Zuflucht vor jeder K r i t i k . . . " (78.13.79.76.286). „Die Stärke des irrationalistischen Tuquoque-Argumentes" besteht gerade in seiner „internen Kritik" (287) der Rationalität. Es ist „selbst eine Konzeption rationaler Argumentation" ( X I X . 13) und scheint „tatsächlich unwiderlegbar" (80.76.117) zu sein.

2.2. Rationalität und protestantische Theologie. Bartley führt nun das Problem der „Religionsphilosophie" (202) und „insbesondere" des „Protestantismus" (XII) systematisch an dieser Stelle ein und stellt die Theorie auf: „Das einzige ernsthafte Argument, das

heute für eine christliche Bindung vorgebracht

werden kann, betrifft das Problem der

Grenzen der Rationalität. Dies ist das Argument, auf das sich -»Kierkegaard wie Barth stützten"; und zwar, zugespitzt, „auch deshalb, weil die Bindung" dieser und mit ihnen „vieler Protestanten an das Christentum von der Annahme abhängt, daß (das Problem)

Kritischer R a t i o n a l i s m u s nicht gelöst (81 f.178).

werden

kann"

103

(76.46). D e n n jeder m ü s s e d e n , „ S p r u n g in d e n G l a u b e n ' " t u n

In anziehender und geistvoller Weise stellt Bartley die innere Geschichte des amerikanischen Protestantismus vom Anfang des 19. Jh. bis zur Gegenwart (offensichtlich auch aufgrund persönlicher Erfahrung [vgl. 169 f]) sowie die Geschichte der deutschen protestantischen Theologie seit Albrecht -»Ritsch! und ferner das Zusammenlaufen beider in der ökumenischen Bewegung dar (8-40). Die beiden Hauptzeugen, auf die er seine „teilweise Rekonstruktion" des modernen Protestantismus als einer „Fallstudie" (XV111) für den „Appell an den Irrationalismus" (11) stützt, sind Karl Barth und Paul -•Tillich, daneben auch Reinhold -»Niebuhr (40-66.138-149). Aber Barth steht im Vordergrund. Denn er „schmiedete die grundlegenden Ideen" (40.75), um die allein Bartley es geht (XXVII); „viele andere zeitgenössische T h e o l o g e n , . . . sogar da, w o sie sich von ihm am radikalsten unterscheiden, verdanken sie gewöhnlich...seinen Schriften" (40). Das alles ist, kleine Fehler abgerechnet, ebenso richtig gesehen wie glänzend dargestellt bis zu der von Bartley selbst zeitlich, nicht sachlich gezogenen Grenze von 1927 (41 mit Anm. 10). Karl Barth ist, (anfangs) gestützt auf Kierkegaards „Verteidigung des .Absurden'" (43-45), „ein höchst rationaler Irrationalist" (45.46.49): im „grundlegenden Engagement des Theologen für das Wort Gottes" (51.49). Dieses „absolute irrationale Engagement" (46) ist das „Zugeständnis an den Irrationalismus" (49), innerhalb dessen dann die rationale „Methodologie" (48) gilt; also: „das Wort Gottes auslegen und nicht fragen, ob es wahr ist, s o n d e r n . . . nur fragen, ob irgendeine Behauptung darüber Wort Gottes ist" (bei Tillich erfüllt ,„das protestantische Prinzip'" dieselbe Funktion [56-64.84-87]). „ M a n kann sich unter der Voraussetzung seiner Absichten und Bindungen wohl kaum eine scharfsinnigere intellektuelle Lösung vorstellen. (Barth) ist sowohl einer der interessantesten als auch gelehrtesten, selbstkritischsten und kühnsten Autoren (glänzendsten Strategen) der Geistesgeschichte des Christentums" (40f. [45] 49). Diese „Selbstimmunisicrung durch Radikalisierung" (so Eberhard Jüngel, Barth-Studien, 1982, 98; 140f.l51) ist bestechend, aber unannehmbar. Denn damit „tritt auch im protestantischen Denken ein Integritätsverlust e i n . . . M a n e r w i r b t . . . I m m u n i t ä t gegenüber Kritik" wie der Irrationalismus nur „um den Preis des Verlustes des Rechtes zu kritisieren" (87), gibt logisch den objektiven Wahrhcitsanspruch des Glaubens auf. Aber „Spiritus sunetus non est Scepticus" (Luther; ed. Clcmcn 3,100,31): die Wahrheitsgewißheit des christlichcn Glaubens ist mit Skeptizismus (-»Relativismus, Perspektivismus, Subjektivismus; Fideismus in diesem Sinn) unvereinbar. 2.3. ,Pankritischer Rationalismus'. Diesen gemeinsamen und gefährlich ineinander v e r s c h r ä n k t e n „ I d e n t i t ä t s - u n d I n t e g r i t ä t s k r i s e n " (164) d e r „ b e i d e n e i n f l u ß r e i c h s t e n geistigen T r a d i t i o n e n d e r w e s t l i c h e n K u l t u r " , „ P r o t e s t a n t i s m u s u n d R a t i o n a l i s m u s " (5), m ö c h t e Bartley e n t g e h e n . „(S)ein e i g e n e r V c r s u c h " (92) b e s t e h t in d e r „ E n t f l e c h t u n g v o n B e g r ü n d u n g u n d K r i t i k " (288, A n m . 1.115.124 f. 149.242.244.252). D a s b e d e u t e t , d a s „ D i l e m m a d e r L e t z t b c g r ü n d u n g " w i r d v e r m i e d e n ( u n d damit „ d a s T u - q u o q u e - A r g u m e n t " u n m ö g l i c h ) , i n d e m auf i r g e n d e i n e B e g r ü n d u n g i r g e n d e i n e r P o s i t i o n v e r z i c h t e t w i r d ( „ d i e e m p i r i s c h e , B a s i s ' " e i n g e s c h l o s s e n [ 2 3 2 - 2 3 6 . 2 1 6 . 2 2 5 f.269]!). „ W a s a l s o ist d a n n d a s Krit e r i u m f ü r eine A b g r e n z u n g z w i s c h e n e i n e r g u t e n Idee u n d e i n e r s c h l c c h t e n ? Es g i b t k e i n e s " (226). „ A l l e s ist u n b e g r ü n d b a r u n d f e h l e n d e B e g r ü n d u n g ist k e i n G r u n d m e h r zu B e a n s t a n d u n g e n . D i e F r a g e ist v i e l m e h r , w i e - in e i n e r v o n B e g r ü n d u n g s d e n k e n f r e i e n K o n z e p t i o n - d e r a r t i g e S ä t z e k r i t i s i e r t w e r d e n k ö n n e n " (215). K u r z : „Nichts wird begründet, alles wird kritisiert" (122.242). D e n n „ e s g i b t k e i n e w i c h t i g e P o s i t i o n , d i e a u f d i e e r f o r d e r l i c h e Weise b e g r ü n d e t w e r d e n k a n n , a b e r es gibt w e n i g e . . . , g e g e n d i e k e i n e e n t s c h e i d e n d e K r i t i k v o r l i e g t " (149). Dies, d a ß „ d i e R a t i o n a l i t ä t in d e r K r i t i k l i e g t " (129), n e n n t Bartley „ p a n k r i t i s c h e n R a t i o n a l i s m u s " (237, A n m . 2.128). Aber „ist es denn überhaupt wirklich möglich, das M o m e n t der Begründung völlig aus der Kritik zu eliminieren?" (130). Vertritt Kritik hier nicht Begründung? Dann wäre Bartleys Vorschlag selbstwidersprüchlich und also zu verwerfen. Dieser dem Kritischen Rationalismus häufig gemachte Einwand (Ebeling 21; Holzhey 181, Anm. 9; Apel 71; Kuhlmann, zit. Albert WFV 65; vgl. TkV 186-198) wird von Bartley in weitgespannten Erörterungen (237-270) widerlegt. Der springende Punkt ist, daß nicht behauptet wird, der Standpunkt des Pankritischen Rationalismus sei unwiderlegbar. Er wird vielmehr in die Kritik einbezogen (vgl. Popper OS 11,378; Albert T 123; WFV 61). - Unter Kritik aber versteht Bartley, daß es Argumente gibt, die Konsequenzen haben: damit aber wird die (deduktive) Logik vorausgesetzt (207.146). „Die Logik aufgeben heißt" folglich, „die Rationalität aufgeben" (147). Ist diese also unkritisierbar „eine absolute Voraussetzung" (148)? Keineswegs, „auch

104

Kritischer Rationalismus

(die) grundlegenden Gesetze der Logik (sind) kritisierbar" (249). - Aber setzt nicht Kritik daran als darüber Sprechen schon die Logik voraus (vgl. 239)? Interimistisch ja (148.133), endgültig nein. Würde die Logik, über die wir sprechen, einmal erfolgreich kritisiert werden („indem man von Logik Gebrauch macht und Logik voraussetzt, kommt man zu Unlogik"), „könnte man wohl dazu gebracht werden, logische Argumentation überhaupt aufzugeben" - die Sprache würde damit zusammenbrechen, „aber wir hätten auch keine rationale Argumentation mehr" (250). Bartley erwartet das zwar nicht, läßt es aber hypothetisch zu. Gerade „der Glaube an die Kritik selbst" bleibt also durchweg kritisierbar (130 f. 133 f) und somit konsistent; der Rückweg in Irrationalismus ist verlegt (13 lf) für den „Rationalisten..., der nichts mittels irrationaler Begründung vor Kritik schützt" (128; so auch Popper OS II 381; vgl. Albert WFV 67). Die Situation ist nun für die philosophischen wie theologischen „hochgradig metaphysischen Theorien" gleich offen, und an sie alle werden gleicherweise „vier Instrument e " angelegt, „um durch Kritik unserer Vermutungen und Spekulationen Irrtümer auszuschalten"; „nach abnehmender Bedeutung und nach abnehmend strenger Anwendbarkeit" sind das: (1) Widerspruchsfreiheit („Logik"), (2) Vereinbarkeit mit „Beobachtungen" und (3) „wissenschaftlichen Hypothesen", (4) der Status der Lösung für ein „Prob l e m " (139). Aufgrund der Tatsache nun, daß moderne protestantische Theologen die Kritikinstrumente (2) bis (4) weitgehend akzeptieren (139f), aber das Kritikinstrument (1) weitgehend ablehnen (141 f. 149), schließt Bartley: „Würden Theologen die L o g i k . . . a k z e p t i e r e n . . . , dann fänden sie schnell heraus, daß die meisten ihrer Theorien wirklich unhaltbar sind das heißt, sie würden einer Kritik nicht standhalten - , . . . u n d daß es aus diesen Gründen...irrational ist, sie zu vertreten...(149.13), so wie er selber „glaube, daß es den Richchristlichen Gott nicht g i b t " (256). Für diese Behauptung fehlt jede Argumentation. tig ist im ganzen die historische Behauptung: „Es ist für das protestantische Christentum kennzeichnend, daß während des größten Teils seiner Geschichte viele seiner wichtigsten Denker a n n a h m e n , . . . es stelle eine vernünftige Form von Religion d a r " (XVII.11.103). Richtig ist, „daß die bekannten Zusammenstöße zwischen Wissenschaft und Religion" (12) in der Frühneuzeit wissenschaftslogisch meist irreführend dargestellt werden (dazu interessant Feyerabend, Wider den Methodenzwang [1976] 1983). Richtig ist: „Erst in diesem Jahrhundert ist die Annahme der Harmonie zwischen Vernunft und protestantischem Denken wirklich zusammengebrochen und die Beziehung in Theorie und Praxis getrennt worden" (13). Das hat Bartley gezeigt. 3. Hans

Albert

3.1. Werke. Im deutschen Sprachbereich ist „Der kritische Rationalismus Karl Raimund Poppers" (ARSP 16 [1960] 3 9 1 - 4 1 5 ) durch Hans Albert (geboren 1 9 2 1 , 1 9 6 3 - 1 9 8 9 Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim; Autobiographie: KVmP 5 - 3 3 ; vgl. T k V VII.XII f) eingeführt und selbständig weiterentwickelt worden: in seinen Hauptwerken Traktat über kritische Vernunft (1968, erweitert um „Der Kritizismus und seine Kritiker" 3 1 9 7 5 und 4 1 9 8 0 ) , Traktat über rationale Praxis (1978) und Kritik der reinen Erkenntnislehre (1987) sowie in den Aufsatzsammlungen Plädoyer für kritischen Rationalismus (1971), Konstruktion und Kritik (1972), Kritische Vernunft und menschliche Praxis (1977), Aufklärung und Steuerung (1976) und Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft (1982), zu denen noch die Streitschriften Theologische Holzwege. Gerhard Ebeling und der rechte Gebrauch der Vernunft (1973), Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott (1975) und Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng (1979), dazu von Albert herausgegebene Werke, darunter Theorie und Realität (1964, verändert 2 1 9 7 2 ) , treten. Damit wurde, über im ganzen einflußlose fachphilosophische Zirkel hinaus, die deutsche wissenschaftliche Öffentlichkeit zum ersten Mal in ihrer eigenen Sprache mit einer konsistenten Version der „analytischen Richtung des philosophischen Denkens" (TrP 17) konfrontiert, die zugleich „die deutschen Ansätze in dieser Richtung, die e s " , z. B. bei M a x -»Weber, dem „Vorläufer des kritischen Rationalismus"

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(PkR 67), aber auch bei Moritz Schlick und Heinrich Scholz, „durchaus gegeben h a t " (TkV 2), gegen viel Widerstand bei Theologen und Philosophen fruchtbar machte. 3.2. Kritik der Letztbegründung. Ähnlich wie bei Bartley ist Alberts „Kritik am klassischen Rationalismus... der Ausgangspunkt für d e n . . . kritischen Rationalismus" (WFV 48) „oder (neuen) Kritizismus" (K 197 [21]; vgl. T k V VII.6). Damit ist gemeint: „ . . . der klassische Rationalismus der Antike", der sich „in der neuzeitlichen Philosophie in veränderter Form fortgesetzt h a t . . . bis in unser Jahrhundert h i n e i n . . . " , „hat sich nichtsdestoweniger als unhaltbar erwiesen" (WFV 38.39). Denn mit ihm „wird ein allgemeines Prinzip zureichender Begründung vorausgesetzt" (TkV 184; KrE 74 u.ö.), das man „als allgemeines Postulat...des rationalen Denkens auffassen" und so „als methodisches Prinzip formulieren" kann: als „die Forderung der Zurückführung aller Überzeugung e n . . . auf sichere Gründe" (TkV 9f), d . h . ein „Fundament" (TkV 11), das ihre „Wahrheit gewiß" (TkV 14) macht, nämlich „durch die Gewißheit... unmittelbare(r) Einsicht" (KrE 74). Der klassische Rationalismus impliziert mithin die „Idee einer absoluten Begründung" (TkV 9) oder „Letztbegründung" (KrE 28). Aber eben solcher „Fundamentalismus" ist „ad absurdum geführt" (KrE 42.81). Albert hat das gezeigt durch das von ihm sog. „Münchhausen-Trilemma" (TkV 13); denn das gestellte Problem ist, wie er offenbar in Anlehnung an Schopenhauer (ETh 144) sagt, „in der Tat als ein philosophisches Pendant zu dem bekannten Lügenbaron anzusehen, der vorgab, sich und sein eigenes Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpfe gezogen zu haben" (WFV 3; das Bild vom „Sumpf" schon bei Popper [LdF 75 f]). Denn dieses „klassische Begründungsdenken" (TkV 184) „führt zu einer Situation mit (nur) drei Alternativen" (TkV 13 [KrE 15]), nämlich „von infinitem Regreß, Zirkel oder Rekurs auf ein D o g m a " (WFV 9). Entweder nämlich wird die geforderte Letztbegründung immer weiter, unerreichbar /;/mJ«sgeschoben; oder (in dieser Verlegenheit) auf eine frühere Begründung zurückgegriffen — „logisch fehlerhaft" (TkV 13), da diese ja bereits als begründungsbedürftig galt - ; oder der Vorgang der Begründung wird irgendwo abgebrochen: logisch „eine ausweglose Situation... mit drei gleichermaßen unannehmbaren Alternativen" (TkV 185; TrP 11; K 14). Bis zu einem gewissen Grade war das immer schon bekannt, und so wurden die beiden ersten Möglichkeiten (genannt regressus in infinitum und petitio prineipii) als unbefriedigend abgelehnt - nicht aber die dritte: der „Abbruch des Begründungsverfahrens" (TkV 24). Denn es erschien „relativ... plausibel" (K 15) und „unproblematisch" (TkV 35), „Erkenntnis zu begründen durch Rekurs auf eine absolut sichere Instanz" (TkV 21). Das prineipium rationis sufficientis (—»Leibniz) schien gegeben in einem fundamentum inconcussum (-•Descartes). Der springende Punkt nun ist, daß dies „zwar prinzipiell durchführbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involvieren würde" (TkV 13; TrP 11)-gegen die Voraussetzung! „Nennt man aber" nun dies „Fundament" (TkV 11; T h H 13), einen philosophischen Sprachgebrauch „wohl mit Recht" (T 112) zuspitzend, „ein Dogma", so hat die angegebene „Begründung" (TkV 14) den „Status eines Dogmas" (TkV 35). Paradoxerweise läuft die allein aussichtsreich erscheinende dritte Alternative auf „den Entschluß" hinaus, „das (Begründungs)Prinzip für diesen Fall außer Kraft zu setzen" (TkV 15 [35]). So aber entsteht der verheerende „Anschein, man habe nur die Wahl zwischen Dogmatismus und Skeptizismus" (KrE 16). Lehnt man nämlich jenen ab, so erscheint letztlich dieser „als eine konsequente rationale Antwort auf das Trilemma" (TkV 185). Albert hat mit Recht hervorgehoben, er habe „das Begründungsproblem ausdrücklich als zentrales epistemologisches (erkenntnistheoretisches) P r o b l e m . . . allgemeiner N a t u r . . . für die menschliche Erkenntnisbemühung überhaupt...eingeführt und behandelt" (T 103 [104]; T h H 11; vgl. TkV 14 f), nämlich seine „zwei Bestandteile: die logische Ableitung und die unmittelbare Einsicht" (KrE 11) problematisiert, wobei die letztere außer in der Form von „Aussagen" auch in der Form der Berufung auf „außersprachliche Instanzen" (TkV 14.15) auftreten kann. An dieser Stelle geht die Kritik des klassischen Rationalismus (z.B. in Form der „Axiomatisierungen" [TkV 46] oder „Intu-

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ition" [TkV 14]) über in die „Kritik des (radikalen) -»Empirismus" (KrE 101 [57]; vgl. K 26; KVmP 25), und somit geht der Kritische Rationalismus parallel „mit einem kritischen Empirismus" (KrE llOf; vgl. T k V 53) (übersehen oder geleugnet, wenn der Kritische Rationalismus „mit einem Positivismus identifiziert" wird [TkV VII.X], der doch nach Aussage des Kritischen Rationalismus selbst „sich als unrealisierbar erwiesen hat" [TkV 86, Anm. 11]). Denn als solche Instanz kommt „Erfahrung" (TkV 14) nicht in Frage im Sinne einer (objektiven) „Beobachtungsbasis" (KrE 101), wonach „die Wahrnehmung das eigentliche Fundament der Erkenntnis sei" (KrE 53), da eine solche „empirische Basis.. .weder atheoretisch noch irrtumsfrei ist" (KrE 101; T k V 27 f). Aber auch nicht im Sinne von „Erlebnis...subjektive(r) Gewißheit" (TkV 14.189); denn diese ist zwar „unmittelbare Einsichtl" (KrE 74), aus der als psychischer Tatsache wir aber „nicht auf die Wahrheit irgendwelcher Aussagen schließen können" (ThH 15), so daß auch sie „keine Wahrheitsgarantie mit sich bringt" (TkV 189.190; WFV 139). Auch die Annahme „einer zureichenden Begründung d(ies)er Kriterien" (TkV 15) durch ein Metaprinzip sei „eine Fiktion", da nur eine Wiederholung des unlösbaren Grundproblems (TkV 26f.25). Teil des Kritischen Rationalismus also bleibt auch „eine Kritik der Erfahrung" (KrE 100). Mit Recht lehnt Albert jedenfalls die Berufung Karl-Otto Apels auf „das selbstreflexive Wissen des transzendental-pragmatischen Subjekts der Argumentation" (Transformation der Philosophie, 1973,11,407; zit. T 84; vgl. WFV 73 f gegen Kuhlmann) ab. Denn dieser Neo-Apriorismus des Rückgehens in sich begeht gleich drei Fehler auf einmal: Sogar wenn (1) Selbst-Reflexion als Letztbegründung akzeptierbar wäre (sie entgeht aber nicht dem Trilemma), wird dies Apriori auf jeden Fall entwertet durch (2) „die Perversion..., den Wahrheitsfcegn/f durch Rekurs auf einen wie immer gearteten Konsens zu definieren" (T 150; WFV 35 f), und (3) die mit dieser „Konsensus-Theorie" der Wahrheit untrennbar verbundene „Version des -»Pragmatismus" (WFV 18) und „Kollektivsubjektivismus" (KVmP 117) geübt von einem „Kollektivsubjekt" (T 151). Gerade „der allgemeine Konsens...könnte dennoch ein allen gemeinsamer Irrtum sein" (KrE 10). Ob auch im Erlanger Konstruktivismus der Lorenzen-Schule, der einige Verwandtschaft mit der Transzendentalpragmatik aufweist, der „Konsens als Wahrheitsersatz" (KrE 49) dient, ist fraglich. Es gibt also „keinen solchen archimedischen Punkt", dessen „Wahrheit gewiß...ist" (TkV 35.14). Die umgekehrte Einstellung führt Albert historisch (richtig; vgl. z.B. Calvin, Op.se!., ed. Barth/Niesei, 3,70,18.32) zurück auf „eine religiöse Lehre, in der die Quelle alles Wissens die göttliche Autorität ist" (TkV 23; T h H 16). Gegen naheliegende Einwände verdeutlicht Albert, daß seine „Kritik am Begründungsdenken" (TkV 193) sich nicht auf dieses „in einem weiteren Sinne" bezieht, wo es „jede Argumentation umfaßt" (TkV 187) im Sinne „des Zusammenspiels von Erkenntnisquellen. . . . Nur die klassische Lösung wird abgelehnt" (WFV 39, Anm. 5; vgl. TrP 10; ferner Popper OS 11,378). 3.3. Die Konzeption kritischer Prüfung. Da nun bereits der klassische Rationalismus „ d e facto die Suspendierung dieses Prinzips i n v o l v i e r t . . . , wird der Vorschlag gemacht, von der Idee der Begründung Abschied zu nehmen und an ihre Stelle die Idee der kritischen Prüfung zu s e t z e n " (TrP 11), d . h . „der kritischen Diskussion aller in Frage kommenden Aussagen mit Hilfe rationaler Argumente als allgemeine Alternative zur klassischen L e h r e " ( T k V 3 5 . 7 3 ) . Wie bei Popper und Bartley enthält die so aufgefaßte „kritische R a t i o n a l i t ä t " ( T k V VII.96 u . ö . ä . ) bei Albert geradezu formelhaft „drei K o m p o n e n t e n . . . , die in engem Z u s a m m e n h a n g miteinander s t e h e n " ( T k V 183): „einen konsequenten Fallibilismus, einen methodischen Rationalismus und einen kritischen R e a l i s m u s " ( W F V 9 . 4 8 ; K V m P 2 6 f . l l 0 ) . Das erste Element steht für den auf „der These der prinzipiellen Fehlbarkeit der V e r n u n f t " ( T 11; TrP 1 5 0 . 1 7 4 ) beruhenden „Begriffeines konjekturalen (hypothetische[n]) W i s s e n s " ( K r E 3 9 [ 8 5 J . 2 7 . 7 2 . 1 1 0 ) , dessen Inhalte ihrem „ S t a t u s " ( T k V 3 5 ) nach „Erfindungen, Konstruktionen, also: Phantasieprodukte" ( T k V 2 6 ; vgl. K r E 7 5 . 8 3 . 8 7 ) sind. D a s zweite Element ist „ein methodisches Prinzip" (K 160): die „Grundidee der wissenschaftlichen und darüber hinaus der kritischen M e t h o d e ü b e r h a u p t " , fiämlich „ d e r sogenannten indirekten B e w e i s m e t h o d e " ( T k V 4 4 ) , welche voraussetzt, d a ß „die wichtigste Eigenschaft einer T h e o r i e ihre W i d e r l e g b a r k e i t " (KrE 111), d . h . „die Möglichkeit, sie zu prüfen" ( T k V 47), ist. „ D e r Fortschritt der Wissenschaft vollzieht s i c h . . . im Wechsel von Konstruktion und K r i t i k . . . und R e v i s i o n " (K 199; T k V 6 7 . 5 4 ; K 121), „die Suche nach A l t e r n a t i v e n " ( T k V 9 6 ; K r E 82) „durch Spekulation und rationale A r g u m e n t a t i o n " ( T k V 4 7 ) . Der Kritische Rationalismus ist bewußt „Revisionismus" (PkR 7 4 ) . Das dritte Element bedeutet, daß dieser Prozeß gelenkt wird durch

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„die vage, aber durchaus adäquate Vorstellung" vom ,„Widerstand der Realität'" (KPmP 111): „Gewisse Methoden sind erfolgreich, weil die Wirklichkeit eine bestimmte Struktur h a t . . . " (WFV 31; TkV 204, Anm.63). „Es gibt also keinen Grund, von der realistischen Auffassung der Erkenntnis abzugehen..." (WFV 36). Das wäre jedoch „sinnlos, wenn dahinter keine Idee der Möglichkeit steht, sich der Wahrheit - das heißt: einer mehr oder weniger zutreffenden Darstellung der anvisierten Sachverhalte - zu nähern" (WFV 19). Albert lehnt die heute weitverbreiteten, „im Gewände der Wissenschaft" (TrP 40) auftretenden „Resignationslösungen" - „Anti-Realismus", „Skeptizismus", „Relativismus" (WFV 120.2) und „radikalen Subjektivismus" (TrP 8) - ab; denn „der entscheidende Punkt (s)einer Argumentation..., daß es keine Wahrheitsgarimt/e gibt" (WFV 63), ist „noch kein Grund, die Idee der Objektivität für den Erkenntnisbereich aufzugeben" (TrP 36.39); ohne diese wären „Prüfungsverfahren" ja „sinnlos" (WFV 19). Mit ihrer „Zielsetzung, Theorien von großer Erklärungskraft zu erreichen" (TrP 45; KrE 103), ist verbunden, daß „ein gesetzmäßiges Verhalten der wahrgenommenen Gegenstände .angenommen' wird" (WFV 22; KrE 100), ohne daß allerdings eine damit gegebene „Vielzahl von Problemen" bisher von der „Wissenschaftslehrc... restlos geklärt werden konnten" (KrE 103; TrP 39). Gleicht der Kritische Rationalismus „einer solchen konstruktiven und kritischen Metaphysik" (TkV 47 f), so gibt es co ipso keine „Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Metaphysik" (TkV 81). Denn „der Umstand, daß metaphysische Konzeptionen nicht unmittelbar an den Tatsachen scheitern können, ist noch kein ausreichender Grund, sie nicht ernst zu nehmen" (TkV 48 f), hingegen einer für die prinzipielle Unterlassung, „Anschauungen aller Art gegen jede Kritik zu immunisieren" (PkR 16; wohl erste Verwendung dieses Begriffs, 1963). Von Anfang an (TkV 89.89f. 198, Anm. 43.206; K 109; TrP 24.27.31.171; T h H 26) aber hat Albert den „Hyperrationalismus" (T 83) „totale(r) Kritik" (TkV 102) abgelehnt; der Kritische Rationalismus „erhebt nur den Anspruch, daß keine Problemlösung irgendwelcher Art prinzipiell vom Zweifel ausgenommen werden kann" ( T i l l ) . Und das gilt auch eben für diese ganze Konzeption: „Daher ist der Kritizismus selbst als philosophische Hypothese aufzufassen, die...Widerlegungsversuchen... offen s t e h t . . . " (TkV 187), so daß seine „Selbstanwendung" (TkV 186) möglich ist. Folglich könnte Alberts Konzeption „Schwächen" haben, weil „etwas Wesentliches übersehen wurde" (TkV 198). Dazu fällt auf, daß Albert Bartleys „Kritik an der Popperschen Analyse des Problems der Entscheidung für den Rationalismus" (186, Anm. 5) kritisiert (K 297f; T 141 f; ETh 4 6 - 4 9 ; WFV 135-138). Albert folgt zwar Popper und Bartley darin, daß (logisch) .„hinter' aller Erkenntnis letztlich Entscheidungen stehen" (TkV 59.61.65.207; K 159; TrP 9) und so „die Entscheidung zum Rationalismus...eine normative Konzeption ist" (K 160; T 96), „letzten Endes eine moralische Entscheidung... involviert" (K 167; TkV 40.191; T 101). Aber dies erlaube keine „Gleichsetzung von Entscheidung und Willkür" (TkV 60.30): „ein kritisches Engagement für rationales Denken" (TkV 6) sei „eine rational motivierte Entscheidung" (TkV 207), „in d e r . . . Entscheidungen und Argumente miteinander verbunden sind" (TkV 191). - Aber das kann auch der Irrationalist sagen; wie denn auch Albert nach wie vor zugibt, daß sogar eine „extreme Form des Irrationalismus" (T 140.138) mit Popper und Bartley „argumentativ [!] verteidigt werden kann" (KrE 167; T k V 32; TrP 8), nur nicht: muß (vgl. TrP 9.36; KrE 12 f.), wie Kurt Hübner neuerdings scheinlogisch behaupte (KrE 114, Anm. 37 u.ö.).

3.4. Kritischer Rationalismus und Theologie. Dieser Kritische Rationalismus versteht sich als „eine (einheitliche) Gesamtkonzeption" von „Philosophie" (K 115 [T 99]) und seine „Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre" (TkV 60f.68.54) „als allgemeine Alternative zur klassischen Lehre" (TkV 73.87). Aber dies Abstraktum „ist keineswegs der einzige wesentliche Bestandteil., .des Kritizismus" (TkV 183), vielmehr ist „die allgemeine Rationalitätskonzeption" eine „Konzeption kritischer Prüfung", die sich „in allen Bereichen anwenden läßt" (T 96.93; WFV 10), also auf „die Erkenntnis als Kulturleistung" (KrE 40), „zum Beispiel Wissenschaft, Recht, Moral und Religion, Kunst und Literatur, Technik, Wirtschaft und Politik" (TkV 184.87). Alle diese Bereiche, vor allem die als Methodik für den zweiten bis sechsten Bereich grundlegende, von Albert oft behandelte „Hermeneutik als Kunstlehre des Verstehens" (KrE 7), werden, abnehmend stark, mitbeleuchtet, wenn im folgenden aus dieser „Sozialphilosophie des kritischen

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Rationalismus" (K 120.122.242; TkV 169) nur der Bereich der Religion, genauer des christlichen Glaubens und seiner Theologie protestantischer Prägung beispielhaft erörtert wird. Den Begriff von -»„Theologie als Wissenschaft im üblichen Sinne" faßt Albert auf als „(Real)Wissenschaft von Gott und seiner Bedeutung für das menschliche Leben" (WFV 98 [109J.95.100); unterschieden von -•„Religionsgeschichte" (ThH 50) - zu verstehen als allgemeine und vergleichende Religionswissenschaft mit ihren Unter-„Disziplinen" (WFV 98 f) - dadurch, daß sie „die Frage der Gültigkeit des betreffenden Gottesglaubens" (WFV 96) nicht ausklammern „ k a n n " (ThH 50), sondern außer „Klarheit über den Inhalt ihres -»Glaubens" (ThH VI) „zu einem brauchbaren Urteil über die Wahrheit zu komm e n " (WFV 102; KrE 9) strebt. Theologie ist nicht „mit -»Religion... zu identifizieren" (TkV 213; T h H 65), vielmehr sind deren „Glaubensannahmen" (WFV 96) ihr „Inhalt" (ThH 67), ihr Objekt also die fides quae creditur, d. h. im Christentum „der Glaube an die Existenz eines persönlichen Gottes, an die Gottessohnschaft Jesu, an seine Auferstehung, an die Auferstehung der Menschen nach dem Tode und an ein göttliches Gericht, das für ihr Schicksal nach dem Tode entscheidend ist", einschließlich der „Behauptung" einer „geschehenen Zuwendung Gottes'" (WFV 96.117 f. 133) zum Menschen (vgl. Rom 3 , 2 3 - 2 8 und Luthers Randglosse dazu). „Die betreffenden Annahmen haben eben nicht nur kognitive, sondern darüber hinaus existentielle Bedeutung" (WFV 102.174), d.h. die fides qua creditur erfaßt die „Glaubenswahrheiten" (TkV 97) als „unerschütterlich" (TkV 107.79) in der „Glaubensgewißheit" (KrE 9) „des Glaubensgehorsams" (TkV 109) angesichts ihrer Wahrheit; sie ist der Begriff „von einem fest verankerten Glauben" (KrE 9) oder fiducia in Deum. - Nun lehnt Albert „Fideismus", d. h. den - überall, so auch hier möglichen (TkV 118) - „Ausweg, den Glauben (absoluter Gewißheit) an die Stelle d ( . . )es Wissens zu setzen oder ihn zumindest zu seiner Grundlage zu machen" (KrE 59), mit Recht (s.o.) ab. Aber auch den einfacheren, daß „ein fundamentaler Unterschied zwischen Glauben und Wissen behauptet" (TkV 104; K 29) wird. Denn diesen gibt es schon „in der Wissenschaft und in der Metaphysik nicht anders als im Alltagsleben" (ETh 92) nicht. Zudem ist er weder mit „dem Sinn der kritischen Methode, wie sie von uns erörtert w u r d e " (TkV 109), vereinbar noch mit dem eben aufgezeigten Glaubensverständnis, weil nämlich „das Für-wahr-Haltcn gewisser Behauptungen eine Minimalimplikation auch des christlichen Glaubens in seinen verschiedenen Ausprägungen ist" (ThH 66.64). Denn „die Aussagen, die hier in Betracht kommen, implizieren; auch wenn sie nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich wären, jedenfalls die Existenz Gottes im Sinne einer Tatsache - für jeden, der sich nicht mit einem sehr engen Tatsachenbegriff zufrieden gibt" (WFV 121 f. 116; TkV 118; T h H 89), sondern damit jedenfalls und grundlegend meint: nicht-fiktiv. Da „sie kognitive Komponenten enthalten" (ThH 86), sind sie in diesem Sinne „Annahmen metaphysischen Charakters" (WFV 96.107.116). Für diese „Sätze.. .eine besondere Logik in Anspruch zu nehmen" jenseits der Logik von Behauptungen, heißt nur, sich in „Absurditäten... unnötigerweise verwickeln" (WFV 123; T h H 77, Anm. 155). Denn unhaltbar ist die damit verbundene „These von der Nicht-Objektivierbarkeit Gottes" (TkV 119.120), da mit der Behauptungs- oder „Darstellungsfunktion der Sprache" (ThH 76) unvermeidlich verbunden ist, ,„über' etwas zu sprechen" (TkV 142). Die Abneigung dagegen ist auch unbegründet, denn „dadurch, daß man etwas zum Objekt der Erkenntnis macht, wird", ob es sich um „Steine" oder „Personen... und ihre Beziehungen" oder Gott handelt, etwa deren Liebe zueinander, ihr „ontologischer Status in keiner Weise verändert" (T 49), so daß letztere „weiter Subjekte... bleiben" (WFV 121.122.118; ETh 104). In diesem Sinne gehört „eine -»natürliche Theologie" (TkV 115 f.; ETh 93.105.173 f. 178 f.) „zum Kern des Wirklichkeitsverständnisses" (ETh 188) des christlichen Glaubens. Das alles ist (wiewohl Eberhard Jüngel zufolge „schlechterdings nicht einzusehen" [Entsprechungen, 1986,137]), bei „semantischer Toleranz" (ThH 30.42.101) (vgl. unten Anm. 2), richtig (und im Einklang mit BSLK. 79,7-11): „Niemand könnte ja auf Gott Vertrauen setzen, wüßte er nicht, daß

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Gott existiert" (Johann Andreas Quenstedt, Theologia didactico-polemica, 1 6 8 5 , 4 1 7 0 2 , 1 268 b). Und es bleibt Wolfhart Pannenbergs Verdienst, „die Logik des Glaubens" (gegen Wilhelm -+Herrmanns absichtsvollen und wirkungsreichen logischen Fehler [ T R E 15,171,23; 167,10]) eindeutig wiederhergestellt zu haben (Grundfragen systematischer Theologie, 1967, 226; vgl. W F V 160).

Ist es nun so, „daß derjenige, der Existenzbehauptungen irgendwelcher Art aufstellt, dafür die Beweislast übernimmt" (ETh 87), so ist „die Frage, ob es einen Gott gibt" (WFV 105), zu stellen, d.h. „die Aussage der Existenz Gottes als eine Hypothese zu betrachten und auch zu behandeln.., wie das im philosophischen Denken längst üblich ist" (ETh 105; WFV 108 mit Verweis auf Pannenbergs Vorschlag; ebenso ETh 106, Anm. 18; TkV 213, Anm. 101; WFV 158). Dann besteht als Vorfrage „Anlaß, sich mit dem schwierigen methodischen Problem zu befassen, wie man derartige metaphysische Existenzannahmen beurteilen kann" (WFV 98). „Die Debatte... dürfte gezeigt haben, daß man die Sinnlosigkeit metaphysischer Fragen oder die Unmöglichkeit einer - unter Umständen hypothetisch-kritischen - Metaphysik zwar dogmatisch dekretieren, aber schwerlich nachweisen kann" (TrP 49). Jedenfalls kann man weder „einen Beweis der Existenz Gottes" (-»Gottesbeweise) fordern noch „eine Definition des Gottesbegriffs..., die keine Fragen mehr offen läßt" (WFV 100; ETh 133), da „derartige Anforderungen in anderen Bereichen der Erkenntnis kaum noch gestellt zu werden pflegen" (ETh 105.91 f.177). Aber trotzdem „gibt es keine brauchbaren Argumente mehr", meint Albert, „den christlichen Glauben .rational vertretbar' zu machen" (ETh 201.205; WFV 174). Albert argumentiert (1), daß „die Neigung zu illusionärem Denken in diesem Bereich besonders stark ausgeprägt" sei (WFV 174); feststellbar sei ein „durch Heilsbedürfnisse inspiriertes Wunschdenken" (WFV 180); solchem verdanke das Christentum seine „Entstehung" (TkV 101, Anm. 38) ebenso wie bis heute „Verfechter eines Gottesglaubens" (ETh 193), „große Denker" (WFV 174) eingeschlossen, „eine Kapitulation der Vernunft vor den eigenen Wünschen" charakterisiere (ETh 194). Nach allgemeiner, von Albert geteilter Ansicht aber gilt: Soweit damit „der Wunsch als Vater des Gedankens" (ETh 113.127.75.140) oder „theologisches Wunschdenken" (ETh 174; PkR 102; WFV 180) im Sinne einer empirischen Feststellung gemeint ist, „lassen sich aus diesem Phänomen (,Seinsverbundenheit des Denkens") keinerlei negative Konsequenzen für das Geltungsproblem ziehen..." (K 64). Auch hier „kann ein Schluß von der Faktizität...auf ihre normative Geltung nicht den Charakter eines Fehlschlusses verlieren" (TrP 71); es läge „die Problematik des negativen genetischen Fehlschlusses" vor: „eines Schlusses von der Abstammung einer Idee auf ihre Ungültigkeit" (K 381, Anm. 7; TkV 42). Überall sind „Probleme der Genese und der Gültigkeit von Erkenntnissen genügend auseinanderzuhalten" (TkV 80). Und so bleibt ein Glaubenssatz „wahr, es sei denn, der Gläubige sei einer Illusion erlegen" (WFV 123). Umgekehrt bleibt „eine Erklärung des Glaubens an göttliche Mächte aller Art... im Sinne einer naturalistischen... "Wissenschaft vom Glauben an Gott... ein dringendes Desiderat..." (ETh 183) — in der Tat, ein desiderium, ein unerreichbarer oder in Letztbegründungsdenken zurückfallender Wunschtraum, „zieht (man) hier die logischen Möglichkeiten in Betracht und läßt es damit bewenden" (ETh 86). Aber selbstverständlich ist durch rein logische Argumentation nur die Auszeichnung widerspruchsfreier als möglicherweise wahrer Aussagen, vor in sich widersprüchlichen als eo ipso falschen, zu erreichen. Gegen den unzureichenden Rückzug darauf argumentiert Albert (2), es gehe nicht um Wunschbestimmtheit, sondern einen aktiven „Mißbrauch der Vernunft im Dienste des Gottesglaubens und der ihm zugrundeliegenden Bedürfnisse" (ETh 140; WFV 155, Anm. 154). Dahin führen folgende Prämissen: 1. „Die Theologie hat die Wirklichkeit stets als einen Sinnzusammenhang aufgefaßt..., von dem her auch der Sinn des menschlichen Lebens bestimmbar erschien" (WFV 109; ETh 179), und zwar „auf der Basis einer spiritualistischen Metaphysik (Ontologie)" als „durch personale Wesenheiten gestiftet" (KrE 152.150 [149]). Die Gesamtheit dieser „religiösen Metaphysik" (KrE 167) führt den Namen „einer natürlichen Theologie" (TkV 115; TrP 94; ETh 93.173.174.179.188). -

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2. Was nun „diese Annahme einer anthropomorphen M e t a p h y s i k " betreffe, so sei sie mit „der Entwicklung der modernen Wissenschaften...unvereinbar", denn diese „hat gerade zu einer weitgehenden Befreiung von anthropomorphen Bestandteilen g e f ü h r t . . . " (WFV 1 6 5 . 1 6 3 ) . - 3 . Das sei der These äquivalent, „daß alle diese Sinnzusammenhänge im Rahmen menschlicher Kulturleistungen gestiftet wurden, so daß man keinen Anlaß hat, sie in die Wirklichkeit als Ganzes zu projizieren" (WFV 161.109). - So schließt Albert: Der „Weg einer theologischen D e u t u n g . . . b e r u h t bestenfalls auf einem Kurzschluß, den das theologische Denken unter dem Einfluß religiöser Bedürfnisse attraktiv finden m a g " (WFV 162), während tatsächlich das .„Reden über G o t t ' gewissermaßen ,ontologisch in der Luft h ä n g t ' " ( T h H 88). Das „Kongruenz-Postulat" ( T k V 77; T h H 66) sei nicht mehr zu erfüllen und daher die natürliche Theologie „überholt" (ETh 93), „obsolet" ( T k V 117; W F V 109.163.182; E T h 182), „ u n h a l t b a r " (ETh 188). Damit behauptet Albert nicht, daß „dieser Glaube an sich sinnlos w ä r e " ( T k V 117), auch „keineswegs die Unmöglichkeit (religiöser) Erfahrungen" (WFV 142), auch nicht, daß „die Resultate bestimmter Wissenschaften diesem Glauben widersprächen" (WFV 100); im Gegenteil: „ D a ß die naturwissenschaftliche Methode den Verzicht auf das Reden von G o t t ' impliziere, mag heute sehr plausibel klingen, ist aber nichtsdestoweniger f a l s c h . . . " ( T h H 87). Ganz entgegen ihm unterstelltem „,antitheologischen Ressentiments' (,Affekt[s]')" (WFV 108.X.113.126 [ T h H 5]) verlangt er vielmehr „eine natürliche Theologie als erklärungsrelevante Komponente einer Kosmologie", d.h. in der „die Existenz G o t t e s . . . n i c h t funktionslos (kognitiv wertlos)" ist ( T k V 115f; W F V 9 8 . 1 0 2 . 1 1 2 f . l 5 8 [101]), sondern „eine Funktion h a t " ( T k V 117), „eine Rolle spielt" (WFV 158), „weil hier mit Hilfe einer solchen Existenzannahme etwas erklärt werden k a n n " (WFV 101.144.158; E T h 120), „die Existenz Gottes für die Erklärung (einer Wirklichkeitsauffassung) Bedeutung" hat (ETh 178). - Alberts „Begriff der natürlichen Theologie ist nicht am Beweisgedanken, sondern an der Erklärungsidee orientiert" (ETh 105, Anm. 17). Damit ist, trotz bestehender „erhebliche(r) Bedenken" gegen „die Berechtigung d ( . . . ) e r F r a g e . . . n a c h ,dem Grund' für die Wirklichkeit im G a n z e n " , „der Tatbestand der Begründungsbedürftigkeit der Wirklichkeit" nicht ausdrücklich bestritten; und „daß Gott die betreffende Begründungsfunktion übernehmen k a n n " , räumt Albert bei dieser „Sicht der Problemlag e " als „plausiblen Weg" ein (ETh 96.143). Albert hat aber „eine Annahme der Existenz Gottes, die im Rahmen der heutigen Kosmologie zu irgendwelchen Erklärungszwecken brauchbar i s t , . . . b i s h e r nicht identifizieren k ö n n e n " ( T k V 214). Ihm „ s c h e i n e n . . . d i e neueren Versuche, den Gottesglauben wieder in der Weltauffassung zu verankern,... höchst fragwürdig zu sein" (WFV 124). Dies „entspricht" aber nicht „dem heutigen Stande der Diskussion" (entgegen Alberts eigener Forderung W F V 135, Anm. 108), denn er erwähnt nur die den „ K i r c h e n . . . dienstbaren (religiöse[n]) Philosophen" (WFV 172[167]), so als seien allein damit die Argumente von Religionsphilosophen des englischen und niederländischen Sprachbereichs widerlegt - entweder Ideologie oder Tautologie. Seiner Widerlegung Hans Küngs ist nichts hinzuzufügen. - Wolfhart Pannenberg nimmt für den Gottesbegriff der „Sinntotalität" als Bewährungsinstdru die Religionen, die Geschichte ihres Gottesglaubens (312.315). Einem Zirkel der Beweisführung entgeht er nur durch Verankerung des Konsensus als eines Wahrheitsfer/ier/Hms im Wahrheitsfcegn/f (Korrespondenzwahrheit) (42, Anm. 62). Eben das liefert die Theologie schlimmstenfalls an Konsensus-Irrtum aus, bestenfalls an Relativismus bezüglich der Frage, ob es nun wahr ist, daß Gott existiert, und wenn ja, wie er ist. - Gerhard Ebeling schreibt: „Ich gestehe, in bezug auf den Kr.R. ziemlich ratlos zu sein, ob ich ihn wirklich in seinen letzten Intentionen verstanden habe" (80). Und er schreibt weiter: „Aber das hängt zugleich damit zusammen, daß er leider das, was es um den Glauben ist, offensichtlich nicht verstanden hat." Aber selbst, wenn Letzteres zuträfe (was nicht der Fall ist, s.o.), wäre es immer noch widersprüchlich, eine Position zu kritisieren, von der man zugegebenermaßen nicht weiß, ob man sie verstanden hat (welch Letzteres hier nicht der Fall ist). Somit nimmt Albert an, es sei „nicht mehr möglich, den christlichen Glauben (die Annahme der Existenz Gottes) auf überzeugende Art (akzeptable Weise) mit der moder-

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nen Weltauffassung zu verbinden" (WFV 4 [167] 98; TrP 71; KrE 168), d.h. methodisch so, daß „eine am Ideal reiner Erkenntnis orientierte methodische Disziplinierung des Denkens vorhanden i s t . . . " (WFV 174; E T h l 8 4 f ) . Sehen wir mit Albert davon ab, daß auch „er die Beweisproblematik zu schnell als überholt beiseite geschoben hat" (ETh 102), indem er die modernen, durch semantische Interpretation gehaltvollen (zu T k V 116) modallogischen Gottesbeweise keines Wortes würdigt. Auch ohne sie zu fordern, wird mit der Existenzannahme Gottes nicht „nichts erklärt, was nicht ohne sie schon erklärt worden wäre" (WFV 166), vielmehr eine Erklärung vorgeschlagen für die hypothetisch-deskriptiv-metaphysische allgemeine unwiderlegte Eigenschaft der -> Kontingenz dieses Universums. Die Existenzannahme Gottes gibt dafür eine metaphysische Erklärung: Kein Gesetz innerhalb aller Realwissenschaften wird dadurch erklärt, sondern die Kontingenz und die Standfestigkeit dieser Gesetze zugleich werden als conservatio = creatio continua Dei erklärt (oder, mit Leibniz' Metapher, als die consuetudines Dei strikt nach der Logik von Gen 8,22). Dieser Vorschlag steht mit allen Anforderungen des Kritischen Rationalismus in Einklang: Der anthropomorphe Gottesbegriff ist möglich (John Leslie Mackie, Das Wunder des Theismus, [1982] 1985, 9f) und muß nicht unproblematisch sein (s.o.); ein infiniter Regreß tritt nicht auf (zu WFV 151; ETh 136.141 f,143f.l93): eine Erklärung wird verlangt und gegeben, keine Leízíbegründung („in puncto Begründung sitzen wir also alle im selben B o o t . . . " [WFV 138]); diese Erklärung Projektion zu nennen, ist irrelevant, da alle metaphysischen Annahmen ihrem Status nach „Phantasieprodukte" sind. Diese Erklärung als keine ,Ursache und Wirkung' prüfbar verknüpfende Erklärung zu betrachten, ist nicht im Einklang mit dem Gebrauch, den wir, einschließlich strikter Konsequenzen, von personaler Erklärung machen, ohne mehr als vage Vorstellungen von der Art der kausalen Verknüpfung zu benötigen. Deren .„Tiefe"' ist „ein reicher Gehalt und eine gewisse intuitive Einheitlichkeit", wogegen kein Einwand ist, daß sie „so schwer zu analysieren ist" (Popper OE 205). Das gilt auch für die Mehrzahl von Gottesvorstellungcn (TkV 119; ETh 139.181 f; WFV 167), die, wie in aller Metaphysik, wohl auch „eine eindeutige Entscheidung in dieser Frage gar nicht erlaubt" (ETh 19), aber keineswegs eine rationale Entscheidung unter möglichen Alternativen ausschließt. Kann man dann aber nicht immer noch sagen, dies heiße „unserem abstrakten Weltbild auf diese Weise einen anthropomorphen Hut aufzusetzen", so daß „den Resultaten bisheriger Erkenntnisbemühungen theologische Konstruktionen übergestülpt (werden)" (WFV 165.166)? Ein durchschlagender Grund dafür wäre, wenn Albert seinen „theologickritischen Naturalismus" (PkR 108) oder „kritisierten Dualismus" (ThH 70) äquivalent der Wirklichkeit abgezogen den „außernatürlichen Bereich... des theologischen Supranaturalismus" (K 380; PkR 59) - mit Hilfe der wörtlich verstandenen These, „daß der menschliche Geist, wie er in Geschichte und Gesellschaft in Erscheinung tritt,...de facto nichts anderes (ist) als ein Teil der lebendigen Natur" (K 375.379; TkV 93), interpretieren würde. Albert verteidigt, vernünftigerweise, nicht, was unter der „verschiedene Bedeutungen" habenden „Bezeichnung -».Monismus'" (ThH 102.82.84.7; WFV 132Í.166) alles vertreten wird. Er verteidigt erkennbar einen „naturalistischen Monismus" (ThH 103) nur im Sinne eines „epistemologischen Naturalismus ohne naturalistischen Fehlschluß" (K 28). Dann aber gibt es wohl auch von Alberts Standpunkt her keinen durchschlagenden Grund, die Prämisse 2 als äquivalent der Prämisse 3 (s.o.) zu akzeptieren, hingegen Grund genug, Prämisse 1 zu akzeptieren und Alberts Konklusion zu verwerfen. „Auf jeden Fall führt nicht die Wissenschaft, sondern eine fragwürdige Philosophie...zu...irgendeiner Form des Antipluralismus" (Popper OE 309). Albert argumentiert (3) mit dem ->„Theodizeeproblem" (WFV 4.152.155-158.161. 163.167). Wenn jedoch die „Geschichte unter anderem vor allem die Fehlbarkeit des Menschen widerspiegelt" (WFV 156) und diese Verfassung des Menschen (des homo labilis der alten Dogmatik) jeder nur scheinbar besseren Alternative vorzuziehen ist, ist „eine Theologie ohne Tränen" (WFV 170) ausgeschlossen und hat Gott dennoch „alles wohl gemacht" (Mk 7,37).

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Albert argumentiert (4) ethisch. Bei diesen Argumenten gilt, soweit sie kritischer Prüfung standhalten, hier wie überall: Abusus non tollit usum. Albert argumentiert (5) historisch: „ D a s Christentum ist eine in bestimmtem Sinne historische R e l i g i o n . . . Bestimmte historische Ereignisse [und] die religiöse Deutung dieser Ereignisse gehör(en) zum Kern dieses G l a u b e n s . . . Aus diesem G r u n d e ist dieser Glaube in besonderem M a ß e auch Einwänden ausgesetzt, die sich aus den Fortschritten der historischen Forschung e r g e b e n " ( W F V 102 f. 175). In dieser Hinsicht spielt Albert -»Schweitzers „These von der konsequenten -»Eschatologie, die die Naherwartung der Parusie zum zentralen Gesichtspunkt einer adäquaten Deutung des Lebens und der Lehre Jesu - und der des Paulus - m a c h t e . . . " (WFV 176.170f; ETh 164), für Albert eine entscheidende Rolle. Er übernimmt diese These, die „in der Forschung inzwischen allgemein anerkannt ist" (ETh 165; WFV 176), unwesentlich abgeschwächt in der speziellen Form, in der „Schweitzer festgestellt hat" (TrP 166): „au(s)...der sogenannten Parusieverzögerung...und der damit verbundenen Enteschatologisierung... scheint zumindest teil weise... die Entstehung des Glaubens, d e r . . . s i c h . . . bis in die heutige Z e i t . . . erhalten hat, ...erklärbar zu sein" (TrP 166; WFV 176.178.179). Nun wäre zu wünschen, daß Alberts Behandlung dieser Fragen, wie er zu Recht generell verlangt, „dem heutigen Stande der Diskussion entspricht" (WFV 135, Anm. 108). Nach diesem aber ist Schweitzers spezielle Hypothese der „Ersatzbeschaffung" (vgl. WFV 179) oder gar die der „Fälschung" (WFV 178.179) inzwischen als „unzutreffend" erkannt und damit „ohne Zweifel gescheitert" (Helmut Groos, Albert Schweitzer, 1971, 373f.247) - widerlegt genau wie die der „Existenz von Phlogiston,.. .des Äthers oder einer speziellen Lebenskraft" (TkV 117); sie wird nach dem Mißlingen des (vorläufig) letzten Versuches von Martin Werner (1940) seither von keinem ernstzunehmenden Autor mehr vertreten. Albert liefert hier selber ein Beispiel von .Immunisierung'. Mit dem Scheitern dieser Theorie steht nach dem „Wahrhaftigkeitsethos" (WFV 180) eines dreihundertjährigen Aufklärungsprozesses aufgrund der Beschaffenheit der Quellen die Kontinuität der .impliziten Christologie' des historischen Jesus (Rudolf Bultmann, Theologie des NT, § 7,2) und „des Dogmas von der Gottheit Christi" (WFV 178) fester denn je (vgl. Bartley 27-29.32.43; sein eigener, neuer Immunisierungsversuch [29, Anm. 3 8 . 1 9 5 - 1 9 9 ] scheitert schon an den nüchternen Feststellungen von Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, I 2 1954/1964, 378f). Auch die Geschichte der Kirche ist ein Prozeß des Lernens aus dem Irrtum (vgl. Popper C & R 375), der auf der Basis des in der Heiligen Schrift klar erkennbaren Evangeliums (Gal 1,8) Chalkedon 451, Augsburg 1530, Barmen 1934 und -»Leuenberg 1973 (die Konkordie 77 reformatorischer Kirchen in Europa) miteinander verknüpft. - Die Naherwartung der Parusie war ein kognitiver Irrtum, dessen (sozial)psychologische Erklärung ein Kategorienfehler und dessen seit 1922 unternommene Beseitigung durch Umdeutung des Eschatologiefcegn/fs unter gleichzeitiger Preisgabe der Eschatologie abzulehnen (obwohl als Sprachgebrauch nicht mehr rückgängig zu machen) ist. Logische Voraussetzung der Parusie ist die Auferstehung Jesu, die zugleich nachweislich kausaler Ausgangspunkt (fast) aller Phänomene des Urchristentums ist (Kirchenbildung, Mission, Ausbildung von Theologie, Literaturbildung usw.). Unter dieser Voraussetzung ist die etwa im Jahre 70 von Mk 1 3 , 3 1 - 3 7 gefundene Lösung konsistent. (6) Albert empfiehlt der christlichen Kirche „als rational v e r a n t w o r t b a r " ( W F V 185) und „ m ö g l i c h " (181) eine „ E t h i s i e r u n g " ( 4 . 1 7 2 . 1 8 1 ) ihrer Botschaft, d . h . Verzicht auf die „Vorstellung, daß ohne e i n e n . . . Glauben an G o t t eine N a c h f o l g e Jesu nicht möglich s e i " (185). Auch systematisch „konsequentem D e n k e n . . . m ü ß t e " Albert Schweitzer „der aktuellste Theologe sein", „abgesehen von einigen störenden D e t a i l s " ( 1 8 2 . 1 7 2 . 1 8 5 ; E T h 2 0 1 f). Von Alberts Prämissen aus leuchtet das ein. D a ß Albert aber (ebenso wie Bartley [ 6 6 - 7 3 ] ) mit Recht den impliziten und nicht selten expliziten „Atheismus" (TkV 111.118 f; W F V 1 0 4 . 1 1 0 ) nicht weniger T h e o l o g e n eben dieser „ R i c h t u n g " ( W F V 104) infolge „ N i e dergang kritisch-rationalen D e n k e n s " ( T k V l l O f ) kritisiert und manchen richtig „eine atheistische Liebesmetaphysik" (PkR 3 9 , A n m . 13; T h H 86) vorhält - das zeigt d o c h , d a ß auch er „die Identität des christlichen G l a u b e n s . . . a u f r e c h t e r h a l t e n " ( W F V 104) nur sehen kann in der Konjunktion seiner zwei Kriterien, G o t t als des nicht-historischen und Jesus als des historischen (Joh 1 7 , 3 ; II J o h 9). Anmerkungen 1

Abkürzungen der Quellen: A = Ausgangspunkte C&R = Conjectures and Refutations

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ETh Das Elend der Theologie = — Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie GE — Konstruktion und Kritik K Kritik der reinen Erkenntnislehre KrE KVmP _ Kritische Vernunft und menschliche Praxis = Logik der Forschung LdF Objektive Erkenntnis OE = Die offene Gesellschaft und ihre Feinde OG = = The Open Society and Its Enemies OS The Philosophy of Karl Popper PhP = Plädoyer für kritischen Rationalismus PkR = T = Transzendentale Träumereien Theologische Holzwege ThH = TkV Traktat über kritische Vernunft = TrP = Traktat über rationale Praxis _ Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft WFV Dies sei ein: Beispiel für Poppers „Regel .Niemals um Worte streiten'.. . " (PhP 1079; LdF 329; A 17f.20ff);so auch Luther: „Über Worten wollen wir nicht zanken; allein daß der Sinn dableibe..." (WA 23,145,30 f). [{p —• q) 8c —i q] —» —i p äquivalent q v —i p äquivalent —l (—i q & p). - Vgl. LdF 45. „Induktion scheint zur Hintertür wieder hereinzukriechen" (Max Black): Paul Edwards/Arthur Pap, A Modern Introduction to Philosophy, 3 1973, 159; vgl. PhP 685f.691 (Alfred Jules Ayer) u.v.a. Literatur

Quellen s.o. unter 1.1, 2.1 und 3.1 (Erklärungder Abkürzungen s. Anm. 1).-Bibliographie Karl R. Popper: PhP 1201-1287 (Troels Eggers Hansen) und A 335-349 (ergänzt bis 1984). - Bibliographien für Bartley und Albert existieren (noch) nicht. Sammelbände: The Critical Approach to Science and Philosophy... In Honor of Karl R. Popper, hg. v. Mario Bunge, Glencoe/London 1964. - Evolutionary Epistemology, Rationality, and the Sociology of Knowledge, hg. v. Gerard Radnitzky/William Warren Bartley, III, La Salle/111. 1987 (Hans Albert gewidmet). - Fortschritt u. Rationalität der Wiss., hg. v. Gerard Radnitzky/Gunnar Andersson, Tübingen 1980 (erw. dt. Fassung von: Progress and Rationality in Science, Dordrecht 1978) (Rez. v. Michael Schmidt: ZaWth 11 [1980] 397-405). - In Pursuit of Truth. Essays on the Philosophy of Karl Popper..., hg. v. Paul Levinson, Atlantic Highlands/N. J. 1982. - Karl Popper Philos. u. Wiss. Beitr. zum Popper-Kolloquium, hg. v. Friedrich Wallner, Wien 1985. — K. R. Popper u. die Phil, des krit. Rationalismus, hg. v. Kurt Salamun, Amsterdam 1989. - Karl Popper/Konrad Lorenz, Das Altenburger Gespräch. Mit den Texten des Wiener Popper-Symposiums, München 1985. - Kritik u. Erkenntnisfortschritt, hg. v. Imre Lakatos/AIan Musgrave, Braunschweig 1974 (Übers, von: Criticism and the Growth of Knowledge, London 1970). - Krit. Rationalismus heute, hg. v. Ulrich O. Sievering, Frankfurt 1988 21989. - Krit. Rationalismus u. Sozialdemokratie, hg. v. Georg Lührs u.a., 2 Bde., Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1975/76. - Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie, hg. v. Hans Lenk, Braunschweig 1971. - On Scientific Discovery. The Erice Lectures 1977, hg. v. Mirko D. Grmek u.a., Dordrecht u.a. 1981 = La Scoperta Scientifica, hg. v. Vincenzo Cappelletti, Rom 1978. - The Open Society in Theory and Practice, hg. v. Dante Germino/Klaus von Beyme, Den Haag 1974. - PhP. - Plato, Popper and Politics, hg. v. Renford Bambrough, Cambridge/New York 1967. - Popper and the Human Sciences, hg. v. Gregory Currie/Alan Musgrave, Dordrecht u.a. 1985. - Der Positivismusstreit in der dt. Erziehungswiss., hg. v. Wilhelm Büttemeyer/Bernhard Möller, München 1979. - Der Positivismusstreit in der dt. Soziologie, hg. v. Theodor W. Adorno u. a., Neuwied/Berlin 1969 11 1984. - Rationality in Science and Politics, hg. v. Gunnar Andersson, Dordrecht u.a. 1984 (Gerard Radnitzky gewidmet). - Simposio de Burgos. Ensayos de Filosofia de la Ciencia. En Torno a la Obra de Sir Karl R. Popper, hg. v. M. Boyer u.a., Madrid 1970. - Theorie u. Politik aus krit.-rationaler Sicht, hg. v. Georg Lührs u. a., Berlin/Bonn 1978. - Versuche u. Widerlegungen. Offene Probleme im Werk Karl Poppers, hg. v. Karl Müller u. a., Wien/Salzburg 1986. Die Beiträge zu den vorstehenden Sammelbänden sind, um Raum zu sparen, im folgenden nur dann noch einmal verzeichnet, wenn sie auch für sich erschienen sind. - Werke, in denen eine Erörterung des Kritischen Rationalismus zu erwarten ist, sind, aus gleichem Grund, im folgenden nicht aufgenommen (zu solchen s. z.B.: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, hg. v. Helmut Seiffert/Gerard Radnitzky [München 1989] 25*-31*). - Zusätzliche Abkürzungen: BJPS = The British Journal for the Philosophy of Science; ZaWth = Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie.

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122

Krüdener

Kroatien -»Jugoslawien Krüdener, Barbara Juliane

von

(1764-1824)

Als Tochter des wohlhabenden livländischen Regierungsrats Otto Hermann von Vietinghoff in Riga geboren und im Alter von 18 Jahren mit dem Diplomaten in russischen Diensten Burchard von Krüdener verheiratet, führte Juliane von Krüdener nach gemeinsamen Ehejahren in Mitau, Venedig und Kopenhagen (1782-1789), von ihrem Manne getrennt, an verschiedenen Orten in Frankreich (1789ff), Deutschland (1793 ff) und in der Schweiz (1797f) ein ungeordnetes weltliches Leben, das sie, in den Salons vielbewundert und von französischen Literaten in ihrem Geltungsdrang bestätigt, in dem autobiographischen Roman Valérie (vier französische, drei deutsche Auflagen im Erscheinungsjahr 1804) verharmlosend-idealisierend zur Darstellung brachte. Goethe verurteilte diesen Roman: „Das Buch ist null, ohne daß man sagen kann, es sei schlecht, doch die Nichtigkeit erweckt gerade bei vielen Menschen G u n s t . . . " (zit. nach Berger 58). Nach früheren, flüchtigen Begegnungen mit der Herrnhuter Brüdergemeine (Neuwied 1786, Gnadenfrei 1800; -»Brüderunität/Brüdergemeine) erfuhr sie in demselben Jahr 1804 in Riga die grundlegende Bekehrung zu einem religiösen Leben, das sie von nun an, ohne daß Rastlosigkeit und Geltungsdrang daraus verschwinden sollten, in Süddeutschland, in der Schweiz und in Rußland unter den verschiedensten sozialen Schichten in den Dienst der Erweckung (-»Erweckung/Erweckungsbewegungen) stellte. Nach Besuchen in Herrnhut, Berthelsdorf und Kleinwelke (1807) nahm sie auf zahlreichen Reisen mit ->JungStilling in Karlsruhe (1808), mit Jean-Frédéric Fontaines in Markirch, mit der württembergischen Seherin Marie Kummer, mit J. Fr. -»Oberlin im Steintal (1809) und mit HenriLouis Empaytaz in Genf (1813) Verbindung auf. Indem sie Gedanken der ->Devotio moderna und des französischen -+Quietismus mit ihrem Erfahrungszeugnis von der barmherzigen Sünderliebe Jesu und mit der Botschaft vom nahen Weitende verband, bestärkte sie Zar Alexander I., den sie auf seinem Siegeszug von Heilbronn über Heidelberg bis Paris begleitete, in seinem Programm der religiös-politischen Erneuerung Europas, das in der Heiligen Allianz vom 26.9.1815 seinen Ausdruck fand. Gleichzeitig versuchte sie, zumal im Hungerjahr 1817, in religiösen und karitativen Versammlungen fromme Landleute aus der Schweiz für die Auswanderung und die Neugründung „urchristlicher" Gemeinden in Rußland zu gewinnen. Von den Behörden in Stuttgart, Basel und Karlsruhe verdrängt, förderte schließlich selbst der Zar sie nicht mehr (1822). Nur noch von den treuesten Anhängern begleitet, reiste sie zuletzt von ihrem Gut Kosse (bei Riga) auf die Krim, wo sie starb und in Karasubasar bestattet wurde. Ihre unmittelbare Einwirkung auf die süddeutsche Erweckungsbewegung (1804-1824) beruhte auf der Verbindung ihres Lebenszeugnisses mit der starken persönlichen Ausstrahlungskraft, die jeweils momentan von ihr ausging. So vermochte sie die damals vorhandenen Hoffnungen auf einen religiösen Neuaufbruch mächtig zu steigern. Eine weiterreichende Nachwirkung, wie sie am ehesten innerhalb der Herrnhuter Brüdergemeine denkbar gewesen wäre, blieb ihr jedoch versagt. Quellen Écrits intimes et prophétiques de Madame de Krüdener 1 7 8 5 - 1 8 0 7 . Editions du C N R S , Paris 1975. - Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1 7 0 0 - 1 9 1 0 , 81 (1983) 227f. - P.L. J a c o b ( = Paul Lacroix), Madame de Krudener, ses lettres et ses ouvrages inédits, Paris 1880 2 1881. — Michel Mercier, Valerie (s.u. Lit.), 625 - 6 3 0 . - Wolfgang A. Mommsen, Die Nachlässe in den dt. Archiven, Boppard 1971, Nr. 2109.

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Kryptocalvinisten

123

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Gustav Adolf Benrath Krypta -» Kirchenbau Kryptocalvinisten sen

1. Voraussetzungen 2. Bremen 3. Schlesien und die Lausitzen 6. Dänemark (Quellen/Literatur S. 128)

1.

4. Kurpfalz

5. Kursach-

Voraussetzungen

Der Begriff „Kryptocalvinismus" diente der lutherischen Polemik für den Vorwurf, daß „verborgen" unter angeblich lutherischer Theologie der Calvinismus eingeführt werde. Die Annäherung an J. -»Calvins Theologie vollzog sich nicht immer bewußt. Zwei Vorgänge förderten den Kryptocalvinismus besonders. Im Verlauf von Unionsverhandlungen (-»Reformationsgespräche) ließ der -»Schmalkaldische Bund 1540 die Augsburgische Konfession (-» Augsburger Bekenntnis) von Ph. -»Melanchthon umarbeiten, um einerseits die Gegensätze zur -»Römisch-katholischen Kirche deutlicher zu benennen, andererseits die Einheit unter den Protestanten zu fördern. Im Artikel 10 dieser Confessio Augustana variata trat an die Stelle der klaren Aussage, daß Leib und Blut Christi vere adsint et distribuantur [wahrhaftig gegenwärtig sind und ausgeteilt werden] die weiter gefaßte exhibeantur [dargeboten werden], die die Wittenberger Konkordie aufgriff, aber unterschiedliche Deutungen erlaubte (Maurer). Diese erwuchsen aus dem Willen zur Fortführung der Reformation, verschiedenen Theologien sowie einer Neubelebung des -»Humanismus und führten zur Auseinandersetzung über die Lehre vom -»Abendmahl und die Christologie (-»Jesus Christus IV). Indem der -»Augsburger Religionsfriede 1555 den weltlichen Fürsten und reichsunmittelbaren Rittern, die sich zur Augsburgischen Konfession bekannten, mit ihren Untertanen Frieden gewährte, förderte er zwei Tendenzen. Einerseits intensivierte das Entscheidungsrecht der Territorialherren über die Konfessionszugehörigkeit den Ausbau der Landesherrschaft mit Bindung an eine Konfession (Schilling), was zur Verfolgung von ihr Abweichenden führen konnte. Andererseits sahen sich protestantische Theologen, Gelehrte (Ärzte, Juristen, Lehrer) und Herrscher genötigt, ihre Anschauungen als mit der Augsburgischen Konfession übereinstimmend zu erweisen und dabei calvinistische Gedanken zu „verbergen", um nicht den Rechtsschutz von 1555 zu verlieren. 2. Bremen Daß der Kryptocalvinismus nicht nur eine Frucht der Schüler Melanchthons, der von den —»Gnesiolutheranern bekämpften Philippisten (Landerer), war, wird an A. R. -»Hardenberg deutlich. Nachdem J. -»Laski ihn der -»Reformation zugeführt hatte, studierte er 1543 in -»Wittenberg und trat zu Melanchthon und Paul Eber (1511-1569) in Verbindung, aber auch zu Oberdeutschen, Zwinglianern (U. -»Zwingli) und Calvin. Nachdem er 1547 Bremer Domprediger geworden war, griffen ihn die Stadtpfarrer an. In seinem Abendmahlsbekenntnis behauptete er, nur der Glaubende werde des Leibes

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Kryptocalvinisten

und Blutes Christi teilhaftig. Die Diskussion über die manducatio impiorum lehnte er ab. Seine Position, die Gegensätze vertuschte und von Melanchthon unterstützt wurde, konnte nicht unangefochten bleiben, als der von J . -»Westphal 1552 gegen die Calvinisten eröffnete zweite Abendmahlsstreit auf klare Aussagen drängte und Melanchthon 1557 nötigte, Zwingiis Abendmahlslehre zu verwerfen. Der Bremer Rat forderte die Unterschrift unter die Augsburgische Konfession, die Hardenberg verweigerte. Der Rat entließ ihn und berief 1562 den Gnesiolutheraner Simon Musaeus (1521-1567) zum Superintendenten, der 1563 scheiterte. Danach gab sich Bremen unter dem Bürgermeister Daniel von Büren (gest. 1593) nach außen lutherisch, förderte den Philippismus und duldete neben Kryptocalvinismus auch Kryptozwinglianismus, so daß Christoph Pezel (1539—1604) die Stadt ab 1581 leicht der reformierten Konfession zuführen konnte. 3. Schlesien

und die

Lausitzen

Der Melanchthonschüler Z. -»Ursinus, der -»Zürich aufgesucht und in -»Genf Calvin gehört hatte, wurde 1558 Lehrer an der Elisabethschule in -»Breslau. Da er das Abendmahl reformiert deutete - u.a. Taufe und Abendmahl als Zeichen des Bundes, Verpflichtung der Menschen gegenüber Gott - , erhob sich 1559 ein Streit, infolge dessen Ursinus seine Heimatstadt verließ. Der Arzt Johann Crato von Crafftheim (1519-1585), der als Student sechs Jahre in M . -»Luthers Haus gewohnt und mit Melanchthon Beziehungen geknüpft hatte, unterstützte ihn. Da Melanchthon, der eine Mittelstellung zwischen Luther und Calvin bezog, Ursinus und Crato zustimmende Briefe schrieb und sich am 21.3.1559 zu einer symbolischen Deutung der Abendmahlsworte bekannte, gewann der Breslauer Abendmahlsstreit eine weitreichende Bedeutung. Crato von Crafftheim wirkte seit 1560 als kaiserlicher Leibarzt am Wiener Hof für den Protestantismus, wobei er den Philippismus bevorzugte und seine Offenheit für den Calvinismus verbarg. 1581 gründete er auf seinem Gut in der Grafschaft Glatz eine reformierte Gemeinde und arbeitete seit 1583 von Breslau aus an den Höfen Liegnitz, Brieg und Ohlau für die Hinwendung zum Calvinismus. Das löste 1584 einen kaiserlichen Befehl zur Untersuchung und gegebenenfalls Ausrottung des Calvinismus in Breslau aus, den der philippistisch gesonnene Rat der Stadt entkräften konnte. In Liegnitz übernahm der Melanchthonschüler Leonhard Krenzhcim (1532-1598) 1572 das Superintendentenamt und sah sich seit 1573 öffentlich als Calvinist verdächtigt. Unter dem Schutz des jeweiligen Herzogs von Liegnitz konnte er diese Angriffe bis 1591 abwehren. Als aber die Untersuchungen gegen die kursächsischen Kryptocalvinisten Verbindungen zu ihm aufdeckten, erfolgte 1593 eine gründliche Überprüfung seiner Theologie und seine Entlassung. Im Gegensatz dazu konnten die Vorwürfe gegen den Pfarrer Johann Hainschmidt (gest. 1595/96) in Neustadt (Herzogtum Oppeln, das seit 1532 die Habsburger innehatten), er huldige einer calvinistischen Abendmahlslehre, nicht erhärtet werden. Dieser Streit von 1591 bis 1595, in den auch die Theologische Fakultät Wittenberg hineingezogen wurde, bezeugt mehr übersteigerte Calvinismusfurcht und Streitsucht als eine Ausbreitung des Kryptocalvinismus (Eberlein). Als in den ebenfalls zur böhmischen Krone gehörenden Lausitzen Philippisten wegen kryptocalvinistischer Neigungen angegriffen wurden, bekämpfte Kaiser Rudolf II. (1552, 1576-1612) alle Abweichungen von der Augsburgischen Konfession, wodurch Pfarrer auch Stellen verloren. 1592 ordnete er diesbezügliche Untersuchungen an und traf anticalvinistische liturgische Bestimmungen, wodurch er eine äußerliche Annäherung des evangelischen Gottesdienstes an die römische Messe anstrebte. 4.

Kurpfalz

In der Kurpfalz strömten Lutheraner, Oberdeutsche, Philippisten, Zwinglianer und Calvinisten zusammen. 1558 wurde T. -»Heshusius Generalsuperintendent der Kurpfalz und Theologieprofessor in -»Heidelberg. Er geriet mit seinem Diaconus Wilhelm Kiebitz über dessen calvinistische Abendmahlslehre in Streit. Da sie sich nicht auf der Confessio

Kryptocalvinisten

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Augustana variata einigten, entließ Kurfürst Friedrich III. (1515,1559-1576) beide Theologen am 16.9.1559. Danach gewannen starken Einfluß der Medizinprofessor Thomas Erastus (1523-1583), der zu H. -»Bullinger in enger Beziehung stand, seit 1560 K. -»Olevian, der Vorstellungen von Bullinger und Calvin miteinander verband, und seit 1561 Z . Ursinus. Nach der Heidelberger Disputation von 1560 wurden Bildwerke, Taufsteine und Altäre aus den Kirchen entfernt, Orgeln geschlossen und widerstrebende Pfarrer entlassen. Am 15.11.1563 führte eine neue Kirchenordnung den -»Heidelberger Katechismus ein, der melanchthonische Formeln mit calvinistischer Lehrweise verband (Neuser, H b . II, 290). Sofort bekämpften lutherische Theologen die calvinistischen Elemente in seiner Sakramentenlehre und Christologie. Nachdem Herzog -»Christoph von Württemberg vergeblich versucht hatte, die Pfalz von der Hinwendung zum Calvinismus abzubringen, betrieb er den Ausschluß Friedrichs III. aus dem Religionsfrieden. Dieser bestritt auf dem Augsburger Reichstag 1566 (-•Reichstage der Reformationszeit) mit Erfolg, ein Calvinist zu sein und gegen die Augsburgische Konfession zu handeln (Droysen 75 - 7 9 ) . Seit 1567 unterstützte er die -»Hugenotten militärisch, während -»Maximilian II. sich bemühte, ihm Calvinismus nachzuweisen (Seeling 95). 5.

Kursachsen

Seit dem -»Schmalkaldischen Krieg war die sächsische Religionspolitik mit der Spannung zwischen den Ernestinern und Albertinern belastet. Unterstützt von ernestinischen Fürsten, bekämpften die Gnesiolutheraner Melanchthon und die Philippisten, so daß Kurfürst August (1526, 1553-1586) eine antignesiolutherische Theologie förderte. Das 1560 herausgebrachte Corpus doctrinae christianae (-»Bekenntnisschriften; Hauschildt) enthielt außer den drei altkirchlichen Symbolen nur Melanchthonschriften und begünstigte eine von Luther abweichende Deutung der Gegenwart Christi im Abendmahl. Organisator des Kryptocalvinismus in Kursachsen wurde Kaspar Peucer (1525-1602), der 1540 als Student Melanchthons Hausgenosse, sein Vertrauter, 1550 sein Schwiegersohn und nach 1560 sein Nachlaßverwalter wurde. Nachdem er 1560 in Wittenberg eine medizinische Professur erhalten hatte, fand er Verbindung zum Hof und ab 1563 das Vertrauen des Kurfürsten August, der ihm die Aufsicht über die Lateinschulen übertrug und ihn 1570 zum Leibarzt mit festem Gehalt ernannte. Unterstützt von dem kursächsischen Rat Georg Cracow (1525-1575), erreichte Peucer, daß Melanchthons Corpus doctrinae 1566 als Corpus doctrinae Misnicum für Kursachsen verbindlich wurde und die Personalpolitik calvinismusfreundliche Philippisten bevorzugte, lutherische Kritiker aber zurückdrängte. So kam Pezel 1567 in die Philosophische und 1570 in die Theologische Fakultät Wittenbergs. Er trat bald als theologischer Wortführer hervor. Der vielgereiste Franzose Hubert Languet (1518-1581), der von 1549 bis 1560 die Winter in enger Verbindung zu Melanchthon und dessen Schülern in Wittenberg verbrachte, warb anschließend bis 1572 als kursächsischer Berichterstatter und Gesandter in Frankreich für die Hugenotten. Von Genf aus bahnte T h . -»Beza 1569 eine Korrespondenz mit den Wittenbergern an. Pezel veröffentlichte 1571 für die Lateinschulen die Catechisis contexta ex Corpore doctrinae als laut Vorwort von der Wittenberger Fakultät gebilligten Wittenbergischen Katechismus. Gnesiolutheraner und andere Theologen tadelten ihn wegen Abweichungen von Luthers Abendmahlslehre (-»Ubiquität), noch stärker die ebenfalls von Pezel verfaßten Wittenberger Fragstücke. In seiner Verteidigung rückte Pezel die Christologie in den Mittelpunkt. Kurfürst August forderte von den Universitätstheologen und Superintendenten, daß sie sich vom Vorwurf des Calvinismus reinigten, was sie am 10.10.1571 mit dem Consensus Dresdensis taten. Als Pfalzgraf Johann Kasimir (1543,1578—1592) seinem Schwiegervater am 19.12.1571 schrieb, der Heidelberger und der Wittenbergische Katechismus stimmten in der Abendmahlslehre überein, forderte August eine Widerlegung, die der

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Pirnaer Superintendent Johann Stössel (1524-1578) und der Hofprediger Christian Schütz(e) (1526-1594) lieferten. Währenddessen bat Pezel Ursinus um Verständnis, daß sie es nicht wagten, die Ubereinstimmungen zu benennen (Neuser, Der Briefwechsel Ursins). Die Kurfürstin Anna (1532,1548-1585) sammelte bewußte Lutheraner um sich. 1572 wurde Georg Lysthenius (1532-1596) Zweiter Hofprediger und eröffnete den Angriff auf die Kryptocalvinisten in der Hofkapelle. Im selben Jahr änderte sich die politische Konstellation. Das Blutbad unter den Hugenotten während der Bartholomäusnacht (23./24.8.) 1572 beschleunigte die Polarisierung zwischen den Protestanten. Während die Calvinisten alle päpstlichen Reste ausrotten wollten, war es das Ziel der Lutheraner, durch Abweisung des Calvinismus den Religionsfrieden zu sichern. Nachdem am 2.3.1573 Herzog Johann Wilhelm von Sachsen (1530, 1554-1573) verstorben war, übernahm August die Vormundschaft über die ernestinischen Gebiete und vertrieb die Gnesiolutheraner, wodurch die Wittenberger für ihn ihre antignesiolutherische Funktion verloren. Der Leipziger Verleger Ernst Vögelin (1529-1589) ließ auf französischem Papier und mit Genfer Druckermarke 1573 anonym die Exegesis perspictia et ferme integra controversiae de sacra coena drucken, die Unterschiede zwischen Luther und Melanchthon herausstellte und eine Union zwischen Lutheranern und Calvinisten empfahl. Obgleich der schlesische Arzt Joachim Curaeus (1532-1573) sie verfaßt hatte, ließ August bei den verdächtigten Wittenbergern Nachforschungen anstellen. Diese förderten vertrauliche Briefe zutage, aufgrund deren der Kurfürst sich hintergangen fühlte. Er witterte kirchliche und politische Verschwörungen und demonstrierte sein calvinismusfreies Luthertum. Er ließ Torgauer Artikel abfassen und unterschreiben. Verweigerer wurden entlassen, Peucer, Schütz, Stössel und Kanzler Cracow in Haft gehalten, in der Cracow 1575 und Stössel 1576 verstarben. Peucer und Schütz wurden 1586 freigelassen. August übernahm nach dem Sturz der Kryptocalvinisten die Führung über die innerlutherischen Verhandlungen, die 1577 zur -»Konkordienformel führten. Als der von Schütz erzogene Kurprinz 1586 als Christian I. (1560, 1586-1591) die kursächsische Regierung übernahm, gewannen die Räte Andreas Pauli (1544-1590) und Nikolaus Krell (1552/53-1601) wachsenden Einfluß. Der Melanchthonschüler Pauli eignete sich als Jurastudent in Frankreich calvinistische Vorstellungen an und wurde 1573 kursächsischer Hofrat. Krell reiste nach seinem Jurastudium in Leipzig 1576 in die Schweiz und nach Frankreich, wobei er mit Beza in Verbindung trat. Er wurde 1580 kursächsischer Hofrat und 1584 dem Kronprinzen zugeordnet, den er für seine Reformpläne gewann: die lutherische Reformation durch Einbeziehung calvinistischer Lehren fortzuführen, alles, „was nach dem Bapsthumb stincket" (Krellbibel zu Dtn 22, 11), zu beseitigen und alle Lebensbereiche nach dem Wort Gottes auszurichten. Damit war eine vom Humanismus angeregte Belebung der Wissenschaften und der Kunst sowie eine auf militärische Macht gestützte Politik gegen römisch-katholische Fürsten verbunden. Angesichts des in Kursachsen erstarkten Luthertums wurden diese Ziele „verborgen" verfolgt und zunächst der Philippismus zu Lasten des Luthertums der Konkordienformel gefördert. Christian I. verzichtete schon ab 1586 darauf, die Verpflichtung auf die Konkordienformel weiter zu fordern, und stellte die jährliche Kirchen- und Schulvisitation ein. Statt dessen orientierte eine Universitäts- und Schulreform auf den Ausbau der humanistischen Fächer und auf reformatorische Grundwerke Luthers und Melanchthons, um die Konkordienformel zu verdrängen. Aber auch G. -»Bruno mußte 1588 Wittenberg verlassen, weil er sich nicht einfügen ließ. Das Dresdner Oberkonsistorium wurde aufgelöst, so daß es keinen Widerstand leisten konnte. Eine Gerichtsordnung von 1588 paßte die Gerichte der neuen Politik an. Ein Mandat verbot am 28.8.1588 grobe Kanzelpolemik, um anticalvinistische Kritik zu unterdrücken. Die 1588 verschärften Zensurbestimmungen richteten sich sogar gegen Luthers Streitschriften. Mit der Universitäts- und Schulreform von 1587 begann die Umbesetzung von Profes-

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suren, Konsistorien, Superintendenturen, wichtigen Schul-, Gerichts-, Hof- und Stadtämtern, wobei Lutheraner entsetzt, aber - um Aufsehen zu vermeiden - keine profilierten Calvinisten, sondern Philippisten oder ausländische junge Calvinisten eingestellt wurden. Urban Pierius (1546-1616) wurde 1589 Generalsuperintendent und Theologieprofessor in Wittenberg, wo er calvinistische Gedanken verbreitete, widersprechende Lutheraner absetzte und Gleichgesinnte in deren Stellen brachte. Der Leipziger Superintendent N. —•Seinecker wurde 1589 ausgewiesen. Seine Pfarrstelle und eine Theologieprofessur erhielt 1590 der entschiedene Calvinist Christoph Gundermann (1549-1622). Nachdem Christian I. im Januar 1587 Johann Salmuth (1552-1622) zum Hofprediger berufen hatte, schob er von den vier lutherischen Hofpredigern bis 1589 drei auf Superintendenturen ab und entließ Martin Mirus (1532-1593). 1589 erhielt David Steinbach (1553-1605) eine ihrer Stellen. Diese organisatorischen Maßnahmen flankierten 1589 ein neues Gebetbuch, ein Katechismus, der Luthers Katechismus durch Bibelstellen interpretierte, und ein Gesangbuch, das außer lutherischen Chorälen auch einige von Reformierten oder Böhmischen Brüdern enthielt. Alle drei Schriften gab der Hofbibliothekar Sebastian Leonhardt (1544-1610) heraus. Sie dokumentierten ein „weiterentwickeltes Luthertum" und folgten der Methode, die David Pareus (1548-1622) in den Erläuterungen der Neustädter Lutherbibel 1587/88 angewendet hatte (Himmighöfer). Veranlaßt von Christian I. und Krell, nahm Salmuth diese Bibel zum Vorbild und stellte unter Mitarbeit von Stcinbach, Pierius und Kaspar Rüdel (1522 - nach 1591) die „Krellbibel" (Leube) her, indem er auf Luthers Bibelvorreden verzichtete und in die Erläuterungen Anliegen der Reformer einbrachte. Sie wurde unter Geheimhaltung in einer Hofstube hergestellt und gedieh bis einschließlich II Chronik. 1591 brachte Christian I. die breite Öffentlichkeit gegen die Reform auf, als er die Pfarrer zum Verzicht auf den -»Exorzismus in der Taufe nötigte. Auf den innenpolitischen Aufbau der Reform folgte seit dem Frühjahr 1589 ein Wandel der bis dahin neutralen Außenpolitik, der 1590 zu einer Aussöhnung mit Johann Kasimir und im Januar 1591 in Torgau zu einer protestantischen Union zwecks Hilfeleistung für die Hugenotten führte. Da alle Maßnahmen vom Landesherrn ausgingen - oder gebilligt wurden - und die Mitwirkung der Landstände zurückdrängten, verkörperte die Regierung Christians I. den Anfang einer reformierten Konfessionalisierung in Kursachsen, die mit seinem Tod am 25.9.1591 ihr plötzliches Ende fand. Weil sein Sohn unmündig war, übte Herzog Friedrich Wilhelm I. von Sachsen-Weimar-Altenburg (1562,1586-1602) bis 1601 die Administration über Kursachsen aus. Er führte es zum Luthertum zurück und forderte von allen Pfarrern und Beamten die Unterschrift unter das -*Konkordienbuch und die gegen den Calvinismus gerichteten vier Christlichen Visitationsartikel von 1592. Wer sie verweigerte, verlor sein Amt. Von Christian I. Vertriebene kehrten zurück. Krell, der seit 1589 Kanzler war, Salmuth, Steinbach, Gundermann und Pierius wurden verhaftet, Gundermann, Steinbach (Kawerau, Zwei Briefe, 302f), Salmuth und Pierius zwischen 22.5.1592 und 3.2.1593 nach Unterschrift unter ein Revers entlassen. Im Mai 1593 wurden in Leipzig die Häuser einiger Kryptocalvinisten geplündert (Czock). Krell wurde nach lOjähriger Haft am 9.10.1601 in Dresden enthauptet. Kursachsen hatte in richtiger Einschätzung der Machtverhältnisse sich von einer „aktiven Religionspolitik" abgewendet (Lau). 6.

Dänemark

Die von J. -»Bugenhagen überarbeitete und von Luther gebilligte Kirchenordnung festigte 1537 das Luthertum in - • D ä n e m a r k , so daß calvinistische Flüchtlinge und Täufer abgewiesen wurden und die Zensur die Büchereinfuhr überwachte. Dennoch ließ sich der Philippismus nicht fernhalten, den Wittenberger Studenten heimbrachten, selbst wenn sie sich als Lutherschüler fühlten (Ertner). Als bewußter Melanchthonschüler kehrte 1542 Niels Hemmingsen (1513-1600) aus Wittenberg zurück. Seit 1553 war er als Theologie-

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Kryptocalvinisten

Professor in -»Kopenhagen tätig. Er half 1557 mit einer Tafel zur Abendmahlslehre und 1569 durch 25 Fremdenartikel Abendmahlsstreitigkeiten, schwärmerische und calvinistische Anschauungen abzuweisen. Er förderte eine humanistische Bildung, betonte das Ethische und stieg zum „allgemeinen Lehrmeister Dänemarks" empor. 1571 begann er, sich öffentlich gegen die Ubiquitätslehre zu wenden, sowohl die manducatio oralis als auch die manducatio indignorum zu verwerfen, so daß König Frederick II. (1534, 1 5 5 9 - 1 5 8 8 ) ihm die weitere Abendmahlsdisputation verbot. Da kursächsische Kryptocalvinisten sich auf ihn beriefen, bedrängten Kurfürst August und seine Gemahlin Anna eine Schwester Fredericks II. - den König so sehr, daß er Hemmingsen 1575 zum Widerruf nötigte und 1579 die Professur nahm. Dieser wirkte nun von Roskilde aus für eine philippistische Gestaltung der dänischen Kirche. 1599 mußte er nochmals über seine Abendmahlslehre Rechenschaft ablegen. Obwohl Frederick II. 1580 - um die Einheit der Kirche nicht durch eine Neuerung zu gefährden — das Konkordienbuch verbrannt hatte, setzte Hans Poulsen Resen ( 1 5 6 1 - 1 6 3 8 ) , der sich auf die Konkordienformel stützte, unter Christian IV. ( 1 5 7 7 , 1 5 8 8 - 1 6 4 8 ) zunächst als Theologieprofessor und ab 1615 als Bischof von Seeland die lutherische -»Orthodoxie durch. Der im Kryptocalvinismus verfolgte protestantische Unionsversuch gelang nicht, sondern forderte lutherische Theologen und dadurch die Obrigkeiten heraus, Maßnahmen für eine bestimmte Konfession zu ergreifen, so daß er die lutherische, reformierte oder auch gegenreformatorische Konfessionalisierung beschleunigte.

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Kuenen

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Helmar Junghans Kuba -»Lateinamerika Kuenen, Abraham 1. Leben

(1828-1891)

2 . Werk und W i r k u n g

(Literatur S. 131)

1. Leben Kuenen wurde am 16.9.1828 in Haarlem/Holland als Sohn eines Apothekers geboren. Er studierte seit 1846 Theologie in -»Leiden, wo er bereits 1852 zum außerordentlichen, 1855 zum ordentlichen Professor für Neues Testament, Enzyklopädie und Methodologie,

130

Kuenen

1860 auch für Ethik, seit 1877 für Altes Testament (und Ethik) ernannte wurde. Kuenen verstarb am 10.12.1891 in Leiden. 2. Werk und

Wirkung

Kuenen gilt als eine der Hauptstützen der „modernen Richtung" in der damaligen holländischen Theologie, die sich zu seiner Zeit gegen die Vorwürfe zu wehren hatte, es handle sich um eine positivistische oder monistische Glaubensweise. Bereits in seinen frühen Schriften trat Kuenen als Apologet seiner theologischen Richtung hervor. Er wollte das große Erbe seines Landsmannes Hugo -»Grotius zu neuem Leben erwecken. Kuenens Bedeutung liegt vor allem darin, daß er die im Gebiet historisch-kritischer Exegese des Alten Testaments gewonnenen Ergebnisse weiterführte, zusammenfaßte und einem weiten Leserkreis bekannt machte. Von Anfang an ging es ihm um eine Allgemeingültigkeit, Allgemeinverständlichkeit und Kontrollierbarkeit der historisch-kritischen Methode. Hauptwerk Kuenens war sein Lehrbuch zur Einführung in das Alte Testament (Historisch-kritisch onderzoek naar het ontstaan en de verzameling van de boeken des Ouden Verbonds, 3 Bde., Leiden 1861-1865 2 1 8 8 5 - 1 8 9 3 ; Teilübersetzungen in franz. 1866, engl. 1865/86, dt. Berlin 1886-1894), eines der gründlichsten und umfassendsten Werke auf dem Gebiet der alttestamentlichen -»Einleitungswissenschaft überhaupt. Im Vergleich der beiden Auflagen der Ondersoek zeigt sich der entscheidende Fortschritt der alttestamentlichen -»Literarkritik des 19. Jh., der sich vor allem auf dem Gebiet der Erforschung des -»Pentateuchs vollzog. Bereits in der 1. Auflage war Kuenen ein Verfechter der sog. „Neueren Urkundenhypothese", die im Anschluß an Hermann Hupfeld drei Quellen im Buch Genesis unterschied. Durch die von Kuenen als epochemachend angesehene Untersuchung Karl Heinrich -»Grafs über Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments (1866) erkannte er, daß die gesamte „elohistische Grundschrift" des Pentateuchs (heute -•Priesterschrift genannt) jünger als die anderen Quellen ist und in nachexilischer Zeit entstand. In der 2. Auflage der Ondersoek konnte Kuenen eine hierauf aufbauende Quellenanalyse vorlegen. Mit seiner Monographie De godsdienst van Israel tot den ondergang van den Joodschen Staat (Leiden 1869) legte Kuenen eine erste „moderne" Darstellung einer Religionsgeschichte Israels vor, die den gesamten Zeitraum der Geschichte Israels umfaßt und in einem abschließenden Kapitel über die Geschichte der jüdischen Religion bis in das 19. Jh. fortgeführt wird. Die Einbeziehung der neuen literarkritischen Erkenntnisse erbrachten ein völlig neues Bild von der Geschichte Israels. Da Kuenen einzelne idealisierte Darstellungen alttestamentlicher Persönlichkeiten (vor allem Moses und der Propheten) noch nicht in seine Kritik einbezog, konnte er das Verhältnis von göttlicher Offenbarung und religionsgeschichtlicher Entwicklung nur unbefriedigend lösen. Neue Akzente wurden hierbei einige Jahre später von Julius -»Wellhausen gesetzt. Als „historisch-dogmatische Studie" charakterisierte Kuenen seine Abhandlung über De Profeten en de Profetie onder Israel (Leiden 1875), in der er auch ausführlich das Verhältnis zwischen alttestamentlicher Prophetie und dem Neuen Testament erörterte. Eine noch heute beachtenswerte Studie über Sinn und Zielsetzung der historisch-kritischen Methode veröffentlichte Kuenen 1880 mit seinem in englischer Sprache erschienenen Beitrag Critical Method (dt. von K. Budde 1894, s. Lit.). 1882 hielt Kuenen in Oxford und London fünf Vorlesungen (sog. Hibbert-Vorlesungen) über Volksgodsdienst en Wereldgodsdienst (dt. Volks- und Weltreligion, Berlin 1883), in denen er die vier Weltreligionen des Islams, Judentums, Christentums und des Buddhismus darstellte und miteinander verglich. Außer diesen Hauptwerken verfaßte Kuenen eine große Anzahl kleinerer Beiträge, die in zahlreichen Zeitschriften, vor allem in der von ihm mitbegründeten Theologisch Tjidschrift erschienen sind.

Künste, Bildende I

131

Eine vollständige Bibliographie der Abhandlungen Kuenens findet sich im Anhang der von Karl Budde herausgegebenen „Gesammelten Abhandlungen" (s.u.). Literatur Alfred Bertholet, Art. Kuenen: R G G ' 3 (1912) 1792f. - Jan Pieter de Bie (Hg.), Kuenen (Abraham): BWPGN 5 (1943) 2 9 6 - 3 1 5 (Lit.). - Karl Budde, Ges. Abh. zur bibl. Wiss. v. Dr. Abraham Kuenen, Freiburg/Leipzig 1894. - Adolf Kamphausen, Art. Kuenen, Abraham: RE 3 11 (1902) 162-170 (Lit.). - Hans Joachim Kraus, Gesch. der hist.-kritischen Erforschung des AT, NeukirchenVluyn 3 1982, 248-254. - Samuel R. Külling, Z u r Datierung der „Genesis-P-Stücke", Kampen 1964, 5 - 6 6 . - Ernst Kutsch, Art. Kuenen: R G G 3 4 (1960) 85. - Simon John de Vries, Bible and Theology in The Netherlands, 1968 (CNedThT), 4 5 - 8 6 (Lit.). - Ders., The Hexateuchal Criticism of Abraham Kuenen: JBL 82 (1963) 3 1 - 5 7 .

Joachim H a h n

Künste, Bildende I. II. III. IV.

Frühchristentum Mittelalter 16. bis 18. Jahrhundert 19. und 20. Jahrhundert

135 145 163

I. Frühchristentum 1. Allgemeines tur S. 134)

1.

2. Architektur

3. Plastik

4. Malerei und Mosaik

5. Kleinkunst

(Litera-

Allgemeines

Die grundsätzliche Frage, die in diesem Zusammenhang einführend zu behandeln ist, wurde bereits oben erörtert (-»Bilder IV, T R E 6, 525 -540): Wie überwand die frühe Kirche die Probleme, die sich aus dem 2. Gebot des Dekalogs und seiner Ausdehnung auf Christus und Heilige ergaben? Die Antwort: „Vom Heidentum Bekehrte übertragen ihre Gewohnheiten ins Christliche" (ebd. 527) darf sicher als zutreffend angesehen werden, zumal es für diesen Vorgang der Durchsetzung von dem Christentum eigentlich fremden Vorstellungen „von unten h e r " im 4. Jh. eine Parallele in der übelabwehrenden -»Magie gibt: Auch hier waren alle Einwände der Theologen erfolglos. Grundsätzlich gelöst (bis zu den Auseinandersetzungen im Bildersturm, s. T R E 6, 534-537) war die Bilderfrage in der Mitte des 4. Jh., wie schon daraus ersichtlich ist, daß zu dieser Zeit in der christlichen Bildwelt neben den zuvor dargestellten, unmittelbar aus der Schriftlektüre zu entnehmenden biblisch-„historischen" Themen nun Bildinhalte auftraten, die das Ergebnis theologischer Reflexion waren. Als Beispiel für diese meist die endzeitliche (apokalyptisch oder parusiebezogen) oder die überzeitliche Herrlichkeit Christi darstellenden Bildmotive sei die sogenannte Traditio legis-Szene genannt, ein Bild des überzeitlichen Wirkens Christi in der Kirche. Leider ist es bisher nicht möglich, eindeutig nachzuweisen, daß sich das Urbild dieser Darstellung in einer monumentalen Apsis (Rom, St. Peter?) befand (der diesem Bild in Mosaik, Malerei, Elfenbein und Glas mehrfach beigegebene und auch in die Sarkophagskulptur übertragene untere Lämmerfries mit den Städten Bethlehem und Jerusalem spricht dafür); doch schon die zahlreichen Repliken in verschiedensten Denkmälerbereichen bezeugen, daß die neue Art von Bildinhalt voll akzeptiert war. Im Laufe des 4. Jh. vollzog sich ein weiterer für das Verhältnis des Christentums zur Kunst wichtiger Vorgang: die Fortführung der Anfertigung von Herrscherbildern unter christlichen Kaisern. In den -»ChristenVerfolgungen (TRE 8,23 - 3 5 ) hatte die Loyalitätsprobe der Verehrung des Kaiserbildes eine gewisse Rolle gespielt, deren Reflex sich in der bildenden Kunst seit dem frühen 4. Jh. an einigen Sarkophagreliefs ablesen läßt, in denen bei der Anbetungsverweigerung vor Nebukadnezar (Dan 3) das aufgerichtete Bild die

132

Künste, Bildende I

Züge des Herrschers selbst trägt. Nach diesen Erfahrungen wäre eine entschiedene Ablehnung des Christentums gegenüber Herrscherbildern und dem zwangsläufig mit diesen verbundenen Verehrungsanspruch zu erwarten gewesen. Statt dessen ist unter den christlichen Kaisern der Spätantike lediglich ein Rückgang statuarischer Plastik zu beobachten (der nicht durch religiöse Gründe verursacht war), sonst jedoch erfuhr die Verbreitung des Kaiserbildes keine Einschränkungen. Für einige Anwendungsbereiche besitzen wir überhaupt erst seit dem frühen 5. Jh. Belege, z.B. Kaiserbilder auf Beamtenkodizillen, Konsulardiptychen, Thekai (Bildträger mit Amts-Tintenfaß) und militärischen Schilden. In Entsprechung zur Entwicklung des Hofzeremoniells war in bildlichen Darstellungen des Kaisers mit Untergebenen der repräsentative Abstand von diesen unter den christlichen Kaisern des 4.—6. Jh. so groß wie nie zuvor. Die Verehrung des Kaiserbildes war selbstverständlich, die Ablehnung des Hieronymus (in Dan. 3,18 b; CChr. SL 75 A, 801 f), der das Verehren (adorare) ebenso verurteilte wie das Anbeten (colere) und es der Haltung der drei Jünglinge vor Nebukadnezar gegenüberstellte, blieb ohne Wirkung. Diese positive Einstellung des Christentums zu Kaiserbildern ermöglichte die Übernahme von Motiven der Herrscherikonographie in die gleichzeitige religiöse Kunst: Offenbar glaubte man, die himmlische Herrlichkeit Christi nicht besser darstellen zu können, als unter Verwendung von Attributen, die den Kaiser über die übrigen Menschen erhoben. Bekanntestes und langlebigstes dieser Motive war das seit tetrarchischer Zeit in Kaiserdarstellungen verwendete Würdezeichen des Nimbus, der zunächst auf Christus, später auf Engel und Heilige übertragen wurde (modern und irreführend: „Heiligenschein"). Weitere Motive: der Globus oder gemmengeschmückte Thron mit Purpurkissen als Sitz Christi; die (nur kurzzeitige) Verwendung des Caelus als sein Fußschemel; der Ritus der verhüllten Hände, mit dem Christus gehuldigt wird und ihm Kränze oder Kirchenmodelle dargeboten werden, oder mit dem Petrus das Gesetz oder die Schlüssel empfängt; die Bekränzung Christi, später auch von Heiligen, durch eine aus dem Himmel ragende Hand; die Zeichen oder Personifikationen von Sonne und Mond, Erde und Meer zur Darstellung der zeitlichen und räumlichen Universalität der -»Herrschaft Christi. Auch ein die Erhabenheit des spätantiken Herrschers besonders hervorhebendes Ordnungsschema für Szenen der Huldigung und Tributdarbringung, bei dem sich die Untergebenen in einer niederen Zone befinden („vertikale Akklamationsrichtung"), wurde auf Christushuldigungen übertragen und lebte bis ins Mittelalter fort. 2.

Architektur

Anfänge und Entwicklung der christlichen Kultbautcn wurden bereits behandelt (->Kirchenbau I, T R E 18,421-442; -»Baptisterium, T R E 5,197-206). Im Anschluß an diese Ausführungen soll hier kurz auf die Funktion von Architektur als Bedeutungsträger eingegangen werden. Bei der Interpretation frühchristlicher Texte zur Architektursymbolik muß deutlich unterschieden werden, ob es sich hierbei um allegorische Gedanken ohne Bezug zu wirklicher Architektur oder deren Details handelt oder um Symbolik, die sich auf konkrete Architekturformen bezieht. Bei letzterer wiederum wird nicht immer beachtet, daß solche Symbolik meist nicht den Anlaß zur Wahl bestimmter Bauformen bildete, sondern vorgegebene, z.T. bereits in der Antike übliche Baumotive ausdeutet. Beispiele: Im Vergleich der Auferstehungskirche mit dem himmlischen Jerusalem bei Eusebius (Vita Const. 33) ist das tertium comparationis nicht die basilikale Bauform, sondern die erwähnte „reiche und großartige Pracht". Man sollte zum Thema himmlisches Jerusalem' nicht mehr Kitschelt oder Sedlmayr zitieren, die in der christlichen Basilika, deren Ursprung oben klar dargelegt ist (TRE 18,437—439), die Abbreviatur eines typischen spätantiken Stadtbildes sahen; vgl. dagegen Bandmann 89 f. Auf vorgegebene Motive beziehen sich z.B. auch Interpretationen von Gewölben und Kuppeln als Abbild des Himmels (z.B. Paulus Silentiarius, Ekphrasis V. 489.530; Sughita von Edessa, Cod. Vat. Syr. 95, fol. 49 f. V. 5f; vgl. McVey). Solche Himmelsvergleiche haben bereits nichtchristliche Vorbilder (z. B. Statius, Silvae 4,2,30 f; Martial 8,36; Dio Cassius 53,27; Macro-

Künste, Bildende I

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bius, Saturn. 1,18,11). Auch die Dreifaltigkeitssymbolik der Eingänge (z. B. Eusebius, h. e. 10,65; Paulinus v. Nola, ep. 32,13) folgt sicherlich der Architekturform nach, denn dreischiffige Basiliken hatten oft drei T ü r e n ; dagegen könnte die Dreizahl von Apsisfenstern tatsächlich durch solche Symbolik (z.B. Sughita a . a . O . Vers 13) angeregt sein. Während man annehmen darf, d a ß die Kreuzform von Kirchen, Martyrien und Taufbecken wohl durch die vorausgehende Symbolik des Kreuzes Christi angeregt w a r , ist die Priorität der oben (TRE 5,200) erwähnten Grab- und Auferstehungs-Symbolik der Achteckform f ü r frühchristliche Baptisterien unsicher, da es G r a b b a u t e n dieser Form schon früher gab (z.B. das römische Mausoleum der Helena). Für das früheste Beispiel, S. Giovanni in fönte in Mailand, sind acht Distichen des Ambrosius zur Symbolik der Achtzahl überliefert (Dölger, Perler); die Achteckform des Baues und des Taufbeckens ist durch Ausgrabungen gesichert. 3. Plastik In keiner der übrigen Kunstgattungen läßt sich so deutlich erkennen wie in der Sarkophagskulptur, d a ß es im 3. und frühen 4. Jh. noch keine selbständige christliche Kunst gab, sondern nur eine einheitliche spätantike Kunst mit heidnischen, jüdischen, christlichen, imperialen usw. Bildmotiven. Dies ergibt sich z.B. aus stilistischen Ubereinstimmungen zwischen nichtchristlichen und christlichen Sarkophagen des späten 3. Jh. in R o m oder zwischen frühkonstantinischen Sarkophagreliefs und den Friesen des Konstantinsbogens, oder aus der Verbindung von ursprünglich nichtchristlichen Bildmotiven (Orans, Hirt, Angler, Philosoph, Totenmahl usw.) mit alt- und neutestamentlichen Darstellungen auf zahlreichen Sarkophagen des späten 3. J h . Besonders bezeichnend ist die Verbindung von biblischen Szenen mit Hirtendarstellungen. Hier wurden Motive, die bereits bei Nichtchristen als Allegorien für ein glückliches Leben im Jenseits Verwendung fanden, weitergeführt. Die christliche Archäologie hat lange f ü r die Erkenntnis gebraucht, d a ß der,Schafträger' nicht ohne weiteres als der ,Gute Hirt' Jesus (Joh 10,11.14; vgl. Lk 15,5 f) angesehen werden kann, sondern nur unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontexts: Im 3. und frühen 4. Jh. gibt es mehr als 400 Hirtensarkophage aus römischen Werkstätten, die meisten ohne Beigabe biblischer Szenen. Wichtig zur Beurteilung der Anfangsphase christlicher G r a b k u n s t sind die mehrfach mit Hirtenszenen verbundenen Jonasdarstellungen, vor allem wegen der auf Sarkophagen noch stärker als in der Katakombenmalerei zu beobachtenden Hervorhebung oder alleinigen Darstellung der Ruhe des J o n a s unter der Kürbislaube. Sic schließt eine Deutung im Sinne der Auferstehungstypologie von M t 12,40 aus und läßt J o n a s als Bild erhoffter Jenseitsruhe erkennen. Seit Anfang des 4. Jh. gewannen alttcstamcntliche, neutestamentliche und auf Petrus bezogene Bildinhalte die O b e r h a n d , in der J a h r h u n d e r t m i t t e setzten die eingangs erwähnten T h e m e n aus theologischer Reflexion ein. Die Herstellung römischer Sarkophage, die auch nach Gallien und Spanien exportiert wurden und dort lokale Arbeiten anregten, endete mit dem 4. Jh.; seit valentinianisch-theodosianischer Zeit in Konstantinopel hergestellte Sarkophage und Reliefarbeiten, z.T. imperialen Charakters und klassizistischer Stilrichtung, beeinflußten die in -»Ravenna zu Beginn des 5. Jh. (Verlegung der westlichen Residenz) einsetzende Produktion. Eine Sondergruppe stellten die in Ägypten gearbeiteten und in R o m bzw. Konstantinopel verwendeten imperialen Porphyrsarkophage dar. An den Arbeiten des erwähnten hauptstädtischen Exports (5./6. Jh.) wie an lokalen Erzeugnissen, etwa in Ravenna, setzte in der 2. H ä l f t e des 6. Jh. eine bewußte Reliefverflachung ein, die deren Auslaufen ankündigt. 4. Malerei und

Mosaik

Die Gunst der Erhaltung vieler Katakombenmalereien des 3. und 4. Jh. sollte nicht vergessen lassen, d a ß f ü r diese Zeit ähnliche Dekorationen auch im Profan- und Kultbereich zu erschließen sind, eventuell erweitert um Fußbodenmosaiken. Für die Entwicklung des Kirchenschmucks durch Wand-, Apsis- und Gewölbemosaiken seit dem fortge-

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Künste, Bildende I

schrittenen 4. Jh. ist auf die an anderer Stelle (TRE 6,529 f) gegebene Skizze zu verweisen; zur Buchmalerei, deren Wechselbeziehungen zu monumentalen Bildzyklen z.B. in den Mosaiken in S. M a r i a Maggiore (Rom, 2. Viertel 5. Jh.) erkennbar sind, vgl. -»Bibelillustrationen (TRE 6 , 1 3 1 - 1 3 3 ) . Hier n u r eine Ergänzung zur Interpretation solcher Mosaiken: D a s einzige vollständig überlieferte Bildprogramm einer Kirche frühchristlicher Zeit befindet sich in S. Vitale in Ravenna (Mitte 6. Jh.); hier sind alle Einzelbilder einer Z u s a m menfassung der Heilsgeschichte eingeordnet, von eucharistietypologischen Szenen der Patriarchenzeit über Moses und die Evangelisten bis zur Endzeit des apokalyptischen Lammes. Diese Übersicht wird durch Hinweise auf die irdische Gegenwart der Entstehungszeit und auf die Ewigkeit Gottes ergänzt: In den Apsismosaiken huldigen Justinian und T h e o d o r a mit Patene und Kelch in der oben erwähnten „vertikalen Akklamationsrichtung" dem zeitlos zwischen dem Titelheiligen und dem Gründungsbischof thronenden Christus. Da so vielschichtige Sinnzusammenhänge nicht erst im 6. Jh. auftreten, sondern (in bezug auf Einzelbilder) bereits im frühen 5. Jh. in den durch -»Paulinus von Nola beschriebenen Apsisbildern (ep. 32,10.17 [CSEL 29,285 f.291 f]) und im Apsismosaik in S. Pudenziana in R o m angedeutet werden, sollte man mit der Möglichkeit eines umfassenderen Bildprogramms bei jedem nur partiell überlieferten Bildschmuck rechnen. Im Umkreis des Mittelmeers, besonders in Griechenland, Syrien, Palästina und N o r d afrika, sind von vielen Kirchen die M o s a i k f u ß b ö d e n ganz oder teilweise erhalten geblieben (in der Regel ohne die zugehörige Wanddekoration). Bei aller inhaltlichen Vielfalt (Tiere, Jagd- und Erntebilder, M o n a t s - , Jahres-, Erd- und Meerespersonifikationen, Kosmos- und Stadtdarstellungen, Landkarte usw.) läßt sich ein besonders häufig belegter übergeordneter Bildgedanke benennen: M a n wollte im Kirchenfußboden dem Herrn die Gesamtheit seiner Schöpfung zu Füßen legen. Durch die Neudatierung des Fußbodens in M a ' i n und die N e u f u n d e (1986) in U m m er-Rasas (beide Jordanien) ist gesichert, d a ß noch im 8. Jh., lange nach der islamischen Eroberung, solche Arbeiten in christlichen Kirchen möglich waren (Piccirillo); zu den Anfängen der Ikonenmalerei s.o. T R E 6, 532-534. 5.

Kleinkunst

Die Anbringung von religiösen Zeichen (-»Kreuz, Christogramm, oft mit Alpha und Omega) oder figürlichen Darstellungen auf profanen und kultischen Gebrauchs- und Schmuckgegenständen w a r (beginnend mit den berühmten Silbermedaillons des Jahres 315, auf denen d a s Christogramm am Helm Konstantins erscheint) seit dem 4. Jh. so allgemein, d a ß es bereits den R a h m e n dieser Skizze überschritte, wenn man nur die verschiedenen Arten und Materialien solcher Gegenstände aufzählen wollte (vgl. zur Einführung: Weitzmann, Age). Es sei lediglich darauf hingewiesen, d a ß die frühere Tendenz in der Forschung, möglichst f ü r alle Gegenstände mit religiösen Darstellungen einen kultischen oder wenigstens sepulkralen Verwendungszweck anzunehmen, inzwischen überwunden ist. Ganz deutlich ist z. B. die Verwendung im profanen Alltag bei Trinkschalen des 4.Jh. mit eingeritzten oder in Goldfolientechnik dargestellten biblischen Szenen zu erkennen, die gleichzeitig Inschriften mit Glückwünschen und Aufforderungen zum Trinken tragen. Literatur Andreas Alföldi, Die Monarchische Repräsentation im röm. Kaiserreiche, Darmstadt 1970. — Georg Bandmann, Ma. Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951.-Beat Brenk (Hg.), Spätantike u. frühes Christentum, 1977 (PKG Suppl. 1). —Friedrich Wilhelm Deichmann (Hg.), Repertorium der christl.-antiken Sarkophage, 1. Rom u. Ostia, Wiesbaden 1967. - Ders., Einf. in die christl. Archäologie, Darmstadt 1983 (Lit.). - Franz Joseph Dölger, Zur Symbolik des altchristl. Taufhauses: AuC 4 (1933-1934) 153-187. - Arne Eifenberger (Hg.), Spätantike u. frühbyz. Silbergefäße aus der Staatlichen Ermitage Leningrad (Ausstellungskat.), Berlin 1978. - Ders., Frühchristi. Kunst u. Kultur, Leipzig 1986 (Lit.). - Josef Engemann, Unters, zur Sepulkralsymbolik der späteren röm. Kaiserzeit, Münster 1973. - Ders., Art. Herrscherbild: RAC 14 (1988) 966-1047. - Ders., Art. Hirt:

Künste, Bildende II

135

ebd. 5 7 7 - 6 0 7 . - Nikolaus Himmelmann, Über Hirten-Genre in der antiken Kunst, Opladen 1980. Christa Ihm, Die Programme der christl. Apsismalerei vom 4. J h . bis zur Mitte des 8. J h . , Wiesbaden 1960. - Lothar Kitschelt, Die frühchristliche Basilika als Darstellung des himmlischen Jerusalem, München 1938. - Ernst Kitzinger, Byzantine Art in the Making. Main lines of stylistic development in Mediterranean Art 3rd-7th Century, London 1977; dt.: Byz. Kunst im Werden, Köln 1984. Johannes Kollwitz, Ostrom. Plastik der theodosianischen Zeit, Berlin 1941. - Ders./Helga Herdejürgen, Die ravennatischen Sarkophage, Berlin 1979 (Die antiken Sarkophagreliefs 8,2). - Kathleen E. McVey, T h e domed church as microcosm. Literary roots of an architectural symbol: D O P 37 (1983) 9 1 - 1 2 1 . - Wolfgang Müller-Wiener, Bildlexikon zur Topographie Istanbuls. Byzantion-Konstantinopolis-Istanbul bis zum Beginn des 17. J h . , Tübingen 1977 (Lit.). - Aldo Nestori, Repertorio topografico delle pitture delle Catacombe Romane, 1975 (RSCR 5). - Otmar Perler, L'inscription du baptistère de Sainte-Thècla à Milan et le ,De sacramentis' de Saint Ambrose: RivAC 27 (1951) 1 4 7 - 1 6 6 . - Michele Piccirillo (Hg.), I mosaici de Giordania (Ausstellungskat.), R o m 1986; Byz. Mosaiken aus Jordanien (Ausstellungskat.), Schallaburg u.a. 1 9 8 6 - 1 9 8 8 . - Helmut Roth (Hg.), Kunst der Völkerwanderungszeit, 1979 (PKG Suppl. 4). - Helmut Schlunk/Theodor Hauschild, Die Denkmäler der frühchristl. u. westgotischen Zeit, Mainz 1978 (Hispania antiqua). - H a n s Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950. - Dagmar Stutzinger (Bearb.), Spätantike u. frühes Christentum (Ausstellungskat.), Frankfurt 1983 - 1 9 8 4 . - Pasquale Testini, Le catacombe e gli antichi cimiteri cristiani in Roma, R o m 1967. - Wolfgang Fritz Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike u. des frühen M A , Mainz J 1 9 7 6 . - Ders./Jacqueline Lafontaine-Dosogne, Byzanz u. der christl. Osten, 1968 (PKG 3). - Kurt Weitzmann (Hg.), Age of Spirituality. Late Antique and Early Christian Art, 3th to 7th Century (Ausstellungskat.), New York 1 9 7 7 - 1 9 7 8 (1979). - Joseph Wilpert/Walter N. Schumacher, Die röm. Mosaiken der kirchl. Bauten vom 4. bis 13. J h . , Freiburg 1976. Josef Engemann

II. M i t t e l a l t e r 1. Bildende Künste in der Anschauung des Mittelalters Kunst 3. Die Stellung des Künstlers 4. Aspekte zur (Literatur S. 144)

2. Grundzüge mittelalterlicher Geschichte mittelalterlicher Kunst

1. Bildende Künste in der Anschauung des Mittelalters Pictura est litteratura laicorum: In d e m a u f G e d a n k e n - » G r e g o r s d . G r . fußenden, d u r c h d a s g a n z e M i t t e l a l t e r tradierten, b e r ü h m t e n M e r k s a t z (vgl. T R E 6 , 5 4 4 ) k o m m t eine Vorstellung von M a l e r e i z u m A u s d r u c k , die wesentliche A s p e k t e kirchlichen Kunstverständnisses der Z e i t beinhaltet. Ausführlich liest sich dies e t w a n o c h im Wälschen Gast des T h o m a s i n von Z e r c l a e r e ( 1 2 1 5 / 1 6 ) : „von den gemalten bilden sint/der geboure und daz chint/gefrewet oft. swer niht enchan/versten, daz ein biderb man/an der schrift versten soi,/dem si mit den bilden wol./der pfaffe sehe die schrift an/so soi der ungelerte man/die bilde sehen, sit im niht/ die schrift zerchennen geschiht./daz selbe soi tuon ein man/der tieffe sinne niht versten k a n " (V. 1709ff). Bildende Kunst gilt als e t w a s der L i t e r a t u r , d . h . den Schriften des C h r i s t e n t u m s und hier besonders der Bibel, Vergleichbares, jedoch auf deutlich niedrigerer Stufe angesiedelt als diese. Schließlich führt sie - wie - » I s i d o r v. Sevilla w e i ß - lediglich eine Scheinwelt v o r (pictura...

quasi

Schrift d a s prodesse,

fictura:

P L 8 2 , 6 7 6 ) . A n antiken W e r t k a t e g o r i e n g e m e s s e n , deckt die

die Kunst h ö c h s t e n s das delectare

a b . D e n n o c h erfüllt sie eine w i c h -

tige A u f g a b e : Sie übersetzt das W o r t für die des Lesens U n k u n d i g e n . D e r eigentliche Sinn der Kunst - g a n z im Dienst christlicher E x e g e s e - ist s o m i t ein m o r a l i s c h - d i d a k t i s c h e r und w u r d e in dieser Weise a u c h von einfachen L e u t e n verstanden (vgl. F r a n ç o i s Villon, Ballade, a u f Verlangen der M u t t e r gedichtet; 1 4 6 1 ) . N u n ist G r e g o r s A u s s a g e z w a r eine genuin christlich-theologische, die sich z . B . a u f d a s a l t t e s t a m e n t l i c h e Bilderverbot ( E x 2 0 , 4 f ) berufen k o n n t e , sie zehrt jedoch d a r ü b e r hinaus v o n d e m seit d e r Antike p r o b l e m a t i s i e r ten D u a l i s m u s zwischen schriftlicher und bildkünstlerischer Verarbeitung d e r W i r k l i c h keit. D o r t allerdings w a r e n die A k z e n t e deutlich a n d e r s gesetzt w o r d e n . H o r a z e n s ut

pictura poesis (Ars poetica, V. 361) oder das poema loquens pictura, pictura taciturnum poema

debet

esse der H e r e n n i u s - R h e t o r i k (V, § 3 9 ) h a t t e n nicht n u r - verständlicherweise

136

Künste, Bildende II

- die m o r a l i s c h e Seite der späteren Überlegungen a u s g e k l a m m e r t , sondern d a r ü b e r hinaus a u c h beide Bereiche zumindest gleichberechtigt nebeneinandergestellt. Es galt, R e geln des jeweils einen für den anderen f r u c h t b a r zu m a c h e n . G a n z i m Sinne solcher Auffassung sieht sich die D i c h t u n g des H o c h m i t t e l a l t e r s nach eigenem Selbstverständnis als „redende M a l e r e i " (vgl. W a r n c k e ) . D i e v o l l k o m m e n e Schilderung, fast nur in Linien und F a r b e n zu e r r e i c h e n , ist für den Schriftsteller stets A n s p o r n , s o l c h e m Ideal mit W o r ten n a h e z u k o m m e n . N i c h t s k o n n t e d a h e r näherliegen, als a u c h diese T ä t i g k e i t mit T e r mini aus dem Bereich der bildenden Künste zu u m s c h r e i b e n : die colores rhetorici sind in rechter Weise a n z u w e n d e n ; , f ä r b e n ' und ,auszieren' g e h ö r e n zu den Aufgaben des D i c h ters (vgl. G o t t f r i e d v. S t r a ß b u r g , T r i s t a n , V. 4 6 1 9 f f ) . D a s dezidiert negative Urteil ü b e r die Kunst von Seiten der T h e o l o g e n , die H o c h s c h ä t zung ihrer F ä h i g k e i t e n in der p r o f a n e n - » Ä s t h e t i k stehen sich jedoch nicht als zwei sich b e k ä m p f e n d e Konzepte gegenüber. E b e n weil a u f ganz und gar voneinander verschiedenen E b e n e n a r g u m e n t i e r t w u r d e , k o n n t e n sich die T h e o r i e n nicht ins G e h e g e k o m m e n . H a n d e l t es sich bei der einen u m die ö f f e n t l i c h k e i t s w i r k s a m e Kritik einer ihren Einfluß geltend m a c h e n d e n Institution, so ist die andere eher als interne Arbeitsgrundlage zu sehen, deren n o r m a t i v e Vorschriften nebst der zugehörigen, auch kontroversen Auslegung nie zum G e g e n s t a n d allgemeiner Auseinandersetzung wurde. Ließ sich nach „christlicher T h e o r i e " die E x i s t e n z des Kunstwerks nur von seiner Vermittlerfunktion her rechtfertigen, so bedeutete das j e d o c h keineswegs, d a ß nicht die M a c h t des Bildes, die diesem aus eigenen M i t t e l n e r w u c h s , a u c h bei den T h e o l o g e n a n e r k a n n t gewesen w ä r e . Sei es, d a ß m a n die b e s o n d e r e Suggestion, die W e r k e der Kunst a u f den B e t r a c h t e r a u s ü b t e n , durchaus als Vehikel der E x e g e s e in Anspruch n a h m - wie z . B . Walahfried S t r a b o , der, G r e g o r ausschreibend, über die W i r k u n g von Bildern a u f e i n f a c h e G e m ü t e r berichtet (PL 1 1 4 , 9 2 9 f) - , sei es, d a ß m a n v o r dieser M a c h t , wenn sie verführerisch sozusagen als Selbstzweck a u f t r a t , eindringlich w a r n t e . Diese Polarität der B e w e r t u n g des künstlerisch Geschaffenen durchzieht die Stellungnahmen der T h e o l o g e n des M i t t e l a l t e r s . ( B e r n h a r d von Angers, der im 11. J h . a u f einer R e i s e nach C o n q u e s sich vom Verächter der Heiligenfiguren zu ihrem Verteidiger w a n d e l t , darf als interessanter Sonderfall gelten.) B e s o n d e r s a n s c h a u l i c h wird die K o n t r o v e r s e in den Aussagen - » B e r n hards von C l a i r v a u x und Sugers von St. D e n i s w ä h r e n d des 2 . Viertels des 12. J h . Bernh a r d , der in seiner Apologia ad Guillelmum gerade die G e f a h r b e s c h w ö r t , die die Sinnlichkeit einer inhaltsleeren Bilderwelt für den B e t r a c h t e r bedeutet (vgl. T R E 6 , 5 4 4 f), steht ganz in der T r a d i t i o n G r e g o r s . Suger hingegen b a u t seine A r g u m e n t a t i o n auf eine christlich-philosophische A b b i l d t h e o r i e . D e n G r u n d dazu h a t t e - » D i o n y s i u s A r e o p a g i t a gelegt, Vermittler ins a b e n d l ä n d i s c h e M i t t e l a l t e r waren - » J o h a n n e s S c o t u s und - » H u g o von St. V i k t o r gewesen, w o b e i vor allem die zeitgenössische Lehre des V i k t o r i n e r s H u g o s ausführliche D a r l e g u n g der so wichtigen T h e o r i e des vierfachen Schriftsinns, der im anagogicus mos seine Erfüllung findet (z. B . P L 1 7 7 , 6 7 4 ) — von unmittelbarer W i r k u n g a u f Suger gewesen sein dürfte. Immer wieder wird von ihm die Schönheit des Kunstwerks hervorgehoben, die sich in kostbaren Werkstoffen manifestiere. Als Abglanz göttlicher Schönheit führe sie den Betrachter auf diesen Ursprung zurück; damit aber ist sie uneingeschränkt zu bejahen. Hugo war jedoch schon - einen anderen Gedanken Dionysius' weiterführend (vgl. T R E 1,547 f) - über diese Position hinausgelangt. Auch das Mißgestaltete findet bei ihm seinen sinnvollen Platz im Schema positiv bewerteter künstlerischer Form. Zwar wird das Häßliche als didaktisches Gegenmodell zum Schönen und Guten ins System christlicher Ästhetik eingebaut, dennoch bedeutet dies für den Kunstschaffenden die theologisch sanktionierte Ausweitung seiner Beschäftigung auf Gegenstände jedweder Gestalt. Damit gewinnt er ein Stück Freiheit, die auch schon in der antiken Theorie festgeschrieben war (vgl. Ars poetica, V. 9f) und die einer Bewertung des Geschaffenen unabhängig von inhaltlichen Kriterien Bahn brechen sollte. D i e beiden Positionen der Beurteilung künstlerischer P r o d u k t i o n , wie sie in den Aussagen B e r n h a r d s und Sugers ihren N i e d e r s c h l a g f a n d e n , bilden, ins E x t r e m e weiterge-

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führt, die Grundlage für zwei Pole des Umgangs mit dem Kunstwerk: die Verehrung und die Zerstörung. Beide stehen in engem Zusammenhang, können sogar als sich bedingende Phänomene auftreten; beide setzen z.T. liturgische oder quasi-liturgische Formen des Handelns ein (vgl. TRE 6,540ff). 2. Grundzüge mittelalterlicher

Kunst

Ist mittelalterliche Kunst auch nicht allein auf ihren theologischen Gehalt zu verkürzen, so bleibt doch die religiöse Komponente einer der wichtigen Grundbestandteile. Selbst „profane" Themen, vor allem aus dem Bereich der Geschichte, enthalten zumindest eine stark christlich-theologische Prägung, so daß die Grenzen des Religiösen in der Kunst recht weit zu ziehen sind, weiter jedenfalls, als es eine auf vordergründig inhaltlichformale Elemente ausgerichtete Analyse belegen kann. Daraus ergeben sich jedoch keine Auswirkungen für die äußere Gestalt des Kunstwerks, für Rezepte des Kunstschaffens oder den Werkprozeß, wenigstens keine, die nicht schon durch die säkulare Theorie und die dort enthaltenen Anweisungen erklärt würden. Wichtige Bedingungen und Konzepte mittelalterlicher bildender Kunst — vergleichbar solchen in der Literatur, und wie dort teilweise seit klassischer Antike geläufig - sind fest im Denken und in der Vorstellung der Zeit verankert. Die Bedeutung der Tradition als herausragendes legitimationsstiftendes Element wird vor allem dort unmittelbar einsichtig, wo zeitlich voraufgehende Werke bewußt zitiert werden. Besonders deutlich ist dies schon in der Architektur. Die mittelalterliche Kopie fordert hier „die Existenz des Originals am originalen Standort" (Evers207). Dabei wird weniger die exakte Wiederholung des vorbildlichen Stückes als Ganzes angestrebt; es reicht vielmehr die Übernahme bestimmter charakteristischer Eigenheiten, um die Zusammengehörigkeit über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg zu dokumentieren. Die Beziehung von „Original" und „Kopie" oder Zitat drückt jedoch nicht nur ein rein temporäres Verhältnis aus und bringt es zur Anschauung. Gleichzeitig erhält die Nachbildung, wenn sie gezielt eingesetzt wurde, eine zusätzliche Dimension der Bedeutung, die das jüngere Werk an der Aura des älteren teilhaben läßt. Beispiele dafür aus den Bildkünsten sind insbesondere die häufigen Nachahmungen hochverehrter Christusbilder: die Vera Ikon als Imitation des angeblich einzigen, zu Jesu Lebzeiten entstandenen Abdrucks seiner Gesichtszüge auf einem Schweißtuch (Acheiropoietos), in der Stadt Edessa aufbewahrt, nach Konstantinopel gebracht und dort von abendländischen Kreuzfahrern 1204 geraubt; oder, ebenfalls aus dem Zusammenhang des Passionsgeschehens, der Volto Santo, Bezeichnung für das Bild des Gekreuzigten in langem Gewand, entstanden nach dem Vorbild der „authentischen", angeblich von Nikodemus geschnitzten Figur, die im Dom zu Lucca aufbewahrt wurde. Aber auch die Wiederaufnahme karolingischer oder ottonischer Miniaturen als Grundlage für den buchmalerischen Schmuck bedeutender Codices im 11. bzw. 12. Jh. darf als Beleg eines Wissens um die Auszeichnung des Kunstwerks durch die Übernahme alter Formulierungen gelten. (Eine Rezeption aus rein praktischen Erwägungen, eben weil sich dadurch der Vorgang der „Erfindung" auf ein Minimum reduzieren ließ, was allein einen arbeitsökonomischen Vorteil böte, ist angesichts auch der mittelalterlichen Vorstellungen über die rein künstlerischen Muster und ihre hohe Bedeutung [s. u.] kaum anzunehmen.) Die wohl weitestgehende Ausprägung hat solch historisches Denken in der Typologie gefunden. Die Inbezugsetzung alt- und neutestamentlicher Ereignisse als Typen und Antitypen, häufig im System zweier Geschehnisse ante legem und sub lege, die sub gratia in Christus ihre Erfüllung finden, konnte darüber hinaus in den profanen Bereich älterer und jüngerer Geschichte hinein bis zur Gegenwart verlängert und so zu einer halbbiblischen oder sogar außerbiblischen Typologie erweitert werden (Ohly). Bildliche Darstellungen biblischer Typologie gehören zum festen Bestandteil der Kunst das ganze Mittelalter hindurch (Klosterneuburger Altar; -*Armenbibel). Doch die Prägung durch Vorgegebenes setzt nicht erst mit gedanklich-theoretischer Anbindung des Werks an bedeutende Vorbilder ein, sie ist auch schon im engeren Feld des

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Künste, Bildende II

künstlerischen Schaffensprozesses beheimatet und gehört damit zu den den Ausführungen unmittelbar angehenden Phänomenen. Die immer wieder nachzuweisende, relativ enge stilistische und motivische Orientierung des Bildes oder der Skulptur an voraufgehenden Stücken dokumentiert eine Ästhetik, die das Kunstwerk zu einem guten Teil als aus den Vorbildern zu deduzierendes Konstrukt ansieht. Nicht die Originalität künstlerischer Erfindung bestimmt den Wert der Arbeit, vielmehr die Art und Weise des Umgangs mit dem vorgegebenen Stoff, die das Alte durchscheinen läßt. Das ließ sich zwar auch theologisch begründen (vgl. etwa Bernhard v. Clairvaux: PL 182,610), wichtiger war hier jedoch ebenfalls wieder die Literaturtheorie mit ihren aus der klassischen Rhetorik übernommenen und teilweise modifizierten Vorschriften. Als Grundstoff des Kunstwerks ist zunächst das zur Verfügung stehende, vorerst bedeutungsindifferente Material an Vorlagen und Mustern zu nennen, welches für das zu schaffende Opus auszuwerten, mehr oder minder zu variieren bzw. zu übernehmen war. In weiterem Sinne ist es dann aber natürlich auch die Natur, als Urbild aller künstlerischen Darstellung, die in verwandelter Weise im Werk zur Erscheinung gebracht wird. Hier sind Maler, Bildhauer, Goldschmiede u.a. ebenfalls wieder durch Sehgewohnheit und Darstellungskonvention vielfach gebunden. Die Beschreibung der Natur - von Menschen, Tieren und Dingen - nach festen Begriffen und Vorstellungen bedeutet für ihre Umsetzung ins Kunstwerk des Mittelalters eine weitgehende Orientierung an solcher Rezeptionsvorgabe. Ähnlich wie es bei der Kopie nicht um die absolute äußere Gleichheit zweier Stücke zu tun sein mußte, so geht es bei der Darstellung von Natur ebenfalls nicht um eine Abschilderung im Sinne von (neuzeitlichem) Porträt, sondern um eine das Wesen der Dinge sichtbar machende Wiedergabe, die einem formelhaften — und damit lehr- und lernbaren — Wissen, das weitestgehend auf geheiligter Tradition aufbaut, anschaulichen Ausdruck verleiht. Hinter solcher Aufgabe verschwindet zunächst alles, was seit dem 15. Jh. als „richtig" erarbeitet wird: Perspektive, Maßstab, Verteilung von Licht und Schatten, vordergründig mimetische Eigenschaften des Porträts usf. Der Prozeß des Wandels hin zu moderner Kunstauffassung, der vereinzelt schon sehr früh um 1300 kritisiert wird (Ottokar, ö s t e r r . Reimchronik, V. 39125 ff), bedeutet daher nicht nur die Anwendung und Ausnutzung „naturwissenschaftlicher" Methoden, wichtiger Ausgangspunkt ist die Emanzipierung und Lösung von den Autoritäten des frühen und hohen Mittelalters und den durch sie vorgeprägten Mustern des Sehens, Begrcifens und Interpretierens zugunsten subjektiver Erfahrung, deren Korrektiv nun allein im „wissenschaftlichen" Experiment liegt. Die mittelalterlichen Darstellungsmöglichkeiten finden ihre Grenze jedoch nicht ausschließlich im festgefügten System autoritativer Anschauung; von besonderem Gewicht erweist sich auch der seit der Antike maßgebliche Regelkanon, was Fragen des Stils angeht, nach dem bestimmte Inhalte ganz bestimmte Formen der Präsentation des Gegenstandes verlangten, sollte das Kunstwerk in sich stimmig und damit gelungen sein. Der jeweils einzusetzende Stil ist demnach ein in der Hand des Künstlers verfügbares Instrument, Themen das ihnen gemäße äußere Erscheinungsbild zu verleihen. Bis in die großen Poetiken des 12. und 13. Jh. bleibt diese Lehre der äußeren Form nach erhalten, wenngleich die Substanz zunehmend ausgehöhlt wird und die strenge Scheidung dreier Stilarten gegenüber dem neuen Ideal der Mischung und einer dualen Ornatus-Lehre an Boden verliert. Durch diesen Vorgang, für den man sich schon auf Stellen der Herennius-Rhetorik berufen konnte, nähert sich die säkulare Theorie theologischen Gedanken. Denn der klassischen Stilregel hatten sich bei Übertragung auf christliche Literatur und Kunst Schwierigkeiten in den Weg gestellt, die, wollte man die alte Rhetorik nicht gänzlich ersetzen, doch zumindest eine modifizierte Interpretation ihrer normativen Anweisungen nötig machten. Vor allem die humilitas war gegen die Auffassung vom niederen Stil als positiver Wert einzuführen, wie es seit Augustinus die Theologen des Mittelalters immer wieder unternahmen. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Erkenntnis, daß sowohl das Leben Christi als auch die Schilderung desselben im Neuen Testament dem genus httmile bzw. dem stilus humilis angehörten, obgleich hier für den Christen zentrale Wahr-

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heiten und die Grundlage seines Glaubens zu finden waren. Diese Diskrepanz zwischen Inhalt und Form mußte das alte System der Kunsttheorie erschüttern. Wenigstens christliche Themen entziehen sich weitgehend der antiken N o r m . Dies aber macht es um so schwerer, heute etwas über bewußt eingesetzten Stil eines mittelalterlichen Kunstwerks zu sagen. Erkennbar sind Ansätze der Stilwahl - oder, vielleicht besser, zu unterscheidende Modi der Darstellung — dort, wo deutlich voneinander abweichende Formen des Erzählens und der Schilderung zur gleichen Zeit am gleichen Ort vorkommen (etwa in den Mosaiken von Langhauswänden und Triumphbogen der römischen Kirche S. Maria Maggiore), oder wo durch mehr oder minder gehäuften Schmuck eine Rangfolge kirchlicher Gebäude anschaulich gemacht wird. 3. Die Stellung des

Künstlers

Angesichts der vielfältigen Bedingtheit mittelalterlicher Kunst ist die Rolle, die der Künstler im Prozeß der Werkgenese spielt, von besonderem Interesse. Was bleibt als Eigenleistung des Ausführenden, hält man sich Regeln und Vorschriften vor Augen? Welche Freiräume für Invention und Gestaltung bleiben individueller Entscheidung erhalten? Die unausrottbare Vorstellung von der selbstgewählten Anonymität des Kunstschaffenden im Mittelalter, der als Person bescheiden hinter sein Werk zurücktrete (vgl. noch T R E 1, 545,30ff), konnte in den letzten Jahren wenigstens teilweise korrigiert und revidiert werden. Heute zeichnet sich immer deutlicher eine Künstlerpersönlichkeit ab, die um ihre Bedeutung weiß und dieses Wissen durchaus auch nach außen vertritt. Untrüglicher Beleg dafür ist das häufig festzustellende selbstbewußte Auftreten gegenüber Auftraggebern und Mäzenen. Immerhin durfte sich der Künstler nicht nur in der Nachfolge berühmter Vorgänger der Antike sehen, die zum Vergleich herausforderten, seine Tätigkeit war unmittelbar auch dem Tun des Weltschöpfers an die Seite zu stellen. Umgekehrt wird dieser häufig als Kunstschaffender gesehen und dargestellt. Die Erschaffung des Menschen und der Natur galt ebenso als Handwerk (vgl. etwa Wolfram v. Eschenbach, Willehalm, 306,28; 309,15 ff) wie die Arbeit des Malers oder Bildhauers, des Goldschmieds oder Glasmalers. Daß solche Vergleiche eine Aufwertung ihrer Arbeit bedeuteten, die nach mittelalterlicher Auffassung doch nur zur den artes mechanicae gehörte, versteht sich von selbst. Die Vergleiche sagen jedoch nichts aus über die hohe Wertschätzung, die die Zeitgenossen den bildenden Künstlern entgegenbrachten. Diese stützt sich wieder auf die nach antiker Theorie exemplarische Darstellung der Natur durch die Kunst (s.o.). Mittelalterliche Literatur weiß daher nicht nur unermüdlich von orientalischen Wunderwerken zu berichten, auch die einheimische Kunstproduktion kommt durchgehend zu ihrem Recht. So hebt z.B. Wolfram v. Eschenbach die zu seiner Zeit sprichwörtliche Berühmtheit der Maler von Köln und Maastricht hervor (Parzival 158,14ff), zweifellos um durch den Vergleich mit seiner Schilderung des Helden zu Pferd die eigene schriftstellerische Leistung zu nobilitieren. Arte nulli secundus, omnium primus, doctissimus in arte gehören neben vielen anderen zu formelhaften Charakterisierungen des mittelalterlichen Künstlers, die sicherlich nicht ohne den Hintergedanken benutzt werden, damit auch den Stifter ins rechte Licht zu rücken und eine Wertung des von ihm in Auftrag Gegebenen vorzunehmen. Ergibt sich aus solchen Quellen also nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit, etwas über die Person des Künstlers zu erfahren, so sind ähnliche Formulierungen als Selbstaussagen — zumeist in Inschriften, die auch den Namen des Ausführenden nennen - interessante Belege eines ausgeprägten Selbstbewußtseins. Trotz ihres topischen Charakters verraten diese Aussagen eine gänzlich andere Einstellung zu Werk und Publikum, als wir sie bei den Literaten finden. Die dort immer wieder anzutreffende mehr oder minder „affektierte Bescheidenheit", das wichtige rhetorische Mittel einer captatio benevolentiae, scheint nicht Sache des Bildhauers, Malers oder Architekten gewesen zu sein. Deren Selbstdarstellung - im Text oder im Künstlerbild - ist direkter: Bewunderung heischende Vorstellung der eigenen Person in Richtung auf das Publikum, demütige Unterwürfigkeit Gott gegenüber, dem zu Ehren das Werk ge-

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schaffen ist; und das nicht nur, wenn es sich dabei, wie häufig in der Buchmalerei, um Angehörige einer klösterlichen Gemeinschaft handelt. Die immer wieder gelungene, oftmals unkonventionelle Einbringung der Künstlerpersönlichkeit an prominenter Stelle ins Werk und die manchmal originellen, jede Topik weit hinter sich lassenden Aussagen über das eigene Tun geben den Äußerungen vielfach eine Spontaneität und Lebendigkeit, die z.T. in ein gewisses Spannungsverhältnis zum Geschaffenen tritt und dessen feierlichen Ernst aufbricht. Die Bildung des mittelalterlichen Künstlers ist des öfteren am Beispiel der relativ gut dokumentierten Goldschmiede studiert worden. Doch kann man für den dort sich abzeichnenden hohen intellektuellen Standard keineswegs auf die übrigen Berufszweige schließen. Andererseits ist bekannt, daß sich Angehörige selbst der höchsten gesellschaftlichen Schichten nicht zu schade waren, eine manuelle Tätigkeit im Bereich der Künste auszuüben (etwa Bischof Bernward v. Hildesheim). Selbst wenn solche Nachrichten z.T. Legende sind, so bleibt doch der Kern, daß die Arbeit in der Werkstatt soziales Prestige nicht beeinträchtigte. Denn immerhin betrieb der Künstler ein Handwerk, bei dem ars und scientia, d. h. die manuelle Praxis sowie die durch das Studium erworbenen Grundlagen der Theorie, eng miteinander verbunden waren. Zwischen diesen Polen ist die eigenverantwortliche Arbeit des mittelalterlichen Künstlers anzusiedeln. Aus vorgegebenen Elementen durch Erweiterung, Verkürzung oder Änderung jedweder Art in handwerklich sauberer Qualität etwas Neues zu schaffen, zeichnet sein Tun aus. In der immer wieder geforderten Fähigkeit zur Herstellung einer varietas - die Theophilus presbyter sogar als eine Gabe des heiligen Geistes versteht - hat sich der Künstler innerhalb des rigiden Regelsystems zu bewähren und seine Virtuosität zu zeigen. 4. Aspekte zur Geschichte mittelalterlicher

Kunst

Die Geschichte mittelalterlicher Kunst bietet sich als Prozeß verschiedener, ineinandergreifender Vorgänge dar, die in ihrer Gewichtung nur recht schwcr einzuschätzen sind. Die in kunsthistorischer Terminologie beschriebene Entwicklung von karolingischer bis in spätgotische Zeit kann selbst bei Verwendung feinerer Begriffe als .Romanik' und ,Gotik' kaum die komplexe Situation während des Verlaufs von etwa siebenhundert Jahren in angemessener Weise darstellen. Stil- und Formenwandel sind ja schließlich das Ergebnis verschiedener künstlerischer und außerkünstlerischer Faktoren, die am konkreten Werk selbst nurmehr mit Mühe abzulesen und voneinander zu unterscheiden sind. Dies ist vor allem dort zu studieren, wo sich die Anfänge einer Stilepoche beobachten lassen. Die Umbruchsituation in der Kunst um das Jahr 1000, die den Beginn der sog. - » „ R o m a n i k " bildet, fällt sicherlich nicht zufällig mit den politischen Ereignissen zusammen, die als Feudalisierung der Gesellschaft beschrieben wurden. Die von Raoul Glaber geschilderten gesteigerten Anstrengungen zum Bau neuer Kirchen sind deutliches äußeres Zeichen dieses Aufbruchs nach den Verwüstungen durch die Normannen im 10. Jh. Die Form der Architektur und der Bildkünste ist damit jedoch nicht zu erklären. Ein ähnliches Bild im Frankreich der Zeit nach 1130: Die Entstehung der -»Gotik vollzieht sich zeitgleich mit der Konsolidierung des Königtums in der Ile-de-France; die Wissenschaft der theologischen Schulen von Chartres und Paris erreicht ein nie gekanntes Niveau und wird führend in Europa. All das bietet vielleicht Ansätze, gotische Kunst zu interpretieren, die Formen sind daraus jedoch kaum abzuleiten. Eine geradlinige Entwicklung der bildenden Künste ist im Mittelalter nicht festzustellen, schon gar nicht, wenn man den geographischen Rahmen so weit spannt, daß er das ganze Gebiet des europäischen Kontinents umfaßt. Der fragmentarisch erhaltene Bestand alter Kunst (es ist teilweise mit nur 1 % des ursprünglich Vorhandenen zu rechnen) macht Aussagen über ihre Geschichte ebenso schwierig, wie die Tatsache, daß die einzelnen Bildkünste, zu denen wir die Skulptur unter Einschluß des Reliefs, Monumental-, -»Glasund -»Buchmalerei sowie die sog. Kleinkünste, also Elfenbeinschnitzerei und Goldschmiedekunst einschließlich aller Techniken der Metallarbeit zählen, regional und zeit-

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lieh unterschiedlich stark hervortreten, so daß die ansatzweise des öfteren zu erkennenden Linien einer Entwicklung immer wieder abbrechen. Gründe dafür sind schon in der Materialsituation gegeben. In Mittel-, Ost- und Nordeuropa z. B. darf man allein wegen des weitgehenden Fehlens von Naturstein keine bedeutende und häufig auftretende Monumentalskulptur am Kirchengebäude erwarten. Der oft in diesen Gegenden vor allem für Reliefs benutzte Stuck aber verbot sich für eine Anwendung am Außenbau. Eine weitere Schwierigkeit, eine bruchlose, scharf konturierte Geschichte mittelalterlicher Künste an den Denkmälern abzulesen, kommt hinzu. Sie ergibt sich daraus, daß die Grenzen der einzelnen Gattungen, betrachtet man die Kunstwerke von ihren Vorbildern her, oftmals verwischen. So können sich z.B. Relief und Malerei näher stehen als Relief und Skulptur (das gilt vor allem für Stuckbildwerke der Zeit um 1200); die gleichen Figurenmuster sind häufig in Buchmalerei und Plastik benutzt worden. Manche Monumentalwerke sind nichts anderes als in großen Maßstab übertragene Kleinkunst. Solche Zusammenhänge lassen die Frage nach wechselnden Vorbildern nicht allein zu einer Suche nach Modellen oder Plänen werden; häufig sind darüber hinaus wichtige Einblicke in die Zusammenarbeit von Ateliers zu gewinnen und den dort praktizierten Austausch künstlerischen Materials. Die Verwurzelung dieser Vorlagen in sowohl zeitlich als auch geographisch teilweise deutlich zu unterscheidenden Kunstkreisen und die Art und Weise ihrer Umsetzung sind bei jedem Denkmal aufs neue zu untersuchen und zu deuten. Für die mittelalterlichen Bildkünste Europas lassen sich diverse große Anregungsbereiche und Quellen immer wieder nachweisen, die in unregelmäßigen Abständen, durch Zwischenstufen vielfältig gebrochen, teilweise auch interferierend Muster für figürliche und ornamentale Darstellungen gegeben haben. Die Auseinandersetzung mit antiker und spätantiker Kunst ist fast durchgehend zu belegen, so z. B. für Buchmalerei und Elfenbeinarbeiten karolingischer Zeit, um 1200 vor allem auch in der Goldschmiedekunst des Rhein-MaasGebiets mit starker Anlehnung an provinzialrömische Werke, danach dann in der französischen Skulptur der Gotik. Daß in Gegenden mit bedeutender römischer Kunst, die auch dem Mittelalter vor Augen stand wie etwa in der Provence, die Wirkung antiker Gestaltung besonders intensiv war, kann nicht verwundern. Der zweite große Bereich, aus dem Muster für die Bildkünste herstammen, ist, häufig schon Antikes in starre Modelle gießend, die byzantinische Kunst. Von hier werden z.T. mit großer Zeitverschiebung Formen und Formeln in West- und Mitteleuropa aufgenommen, die, mehr oder minder eigenständig weiterverarbeitet, die wichtige Grundlage vor allem figürlicher Gestaltung in Werken aller Gattungen, sogar bis zur Monumentalskulptur des 13. Jh. bilden. Für die Übernahme östlicher Prägungen lassen sich „Importschübe" ausmachen, Perioden besonders intensiver Auseinandersetzung mit den fremden Vorbildern. Im frühen 12. Jh. und nach dem vierten Kreuzzug 1204 muß eine gesteigerte Welle byzantinischen Kunstimports in den Westen gelangt sein, von dem unmittelbar Anregungen für die Werkstätten ausgingen. Trotz der deutlich zu erkennenden Unterschiede zwischen den mehr formelhaft starren byzantinischen Elementen in westlicher Kunst und den eher „natürlich" und lebendig gestalteten Formulierungen, die letztlich auf die Antike zurückgehen, zeigt jedoch die simultane Benutzung von Mustern beider Richtungen etwa in der Goldschmiedewerkstatt des Nikolaus v. Verdun, daß es hier nicht um zwei gegenseitig sich ausschließende Möglichkeiten der Gestaltung geht, aus denen sich vielleicht Hinweise für eine chronologische Ordnung der Denkmäler ziehen ließen. Vielmehr handelt es sich um zwei Varianten der Figurenbildung, über die zu entscheiden vielleicht im eigenverantwortlichen Bereich künstlerischer Freiheit lag. Nach welchen Kriterien eine solche Entscheidung getroffen wurde, bleibt in den meisten Fällen unklar. Neben der auf der Ebene des primär Handwerklichen angesiedelten und nach künstlerischen Erfordernissen gewählten Verwendung fest geprägter alter Formen kennt das Mittelalter natürlich auch den gezielten Einsatz vor allem aus der Antike übernommener Motive und Elemente, die als Hoheitszeichen die politische Dimension bewußter Rezep-

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tion verdeutlichen (vgl. o. Abschn. 2). Die auf Geheiß Karls d. Großen in den Neubau der Pfalzkapelle zu Aachen eingesetzten Spolien mögen als Beispiel für die unmittelbare Anknüpfung an alte Tradition stehen. Aber auch die unter Heinrich IV. errichteten Teile des Speyerer Doms mit ihrem „antikischen" Bauschmuck sind als politisches Programm zu sehen, durch das der Auftraggeber seine Rolle als rechtmäßiger Erbe des Imperium Romanum unterstreicht. Die Anfänge mittelalterlicher Bildkünste in karolingischer Zeit sind geprägt von ersten noch tastenden Versuchen, auf der Grundlage fremder und heimischer Vorbilder eine neue, den Bedürfnissen der Zeit gerechtwerdende Formensprache zu entwickeln. Lehnt sich die Ornamentik dabei noch stärker an germanische und irosächsische Kunst an, so verarbeiten die figürlichen Darstellungen durchaus verschiedenartige Anregungen zu einem zwar nicht geschlossenen, aber doch charakteristischen Gesamtbild: Spätantike und byzantinische Muster sind vielfach Ausgangspunkte einer neuen Figuren- und Formenauffassung. Bestimmend für Entstehung und Ausbreitung karolingischer Kunst sind die großen geistlichen und weltlichen Zentren des Herrschaftsgebiets gewesen; Werkstätten etwa in Aachen, Metz, Reims und Tours, die im 10. und 11. Jh. zunehmend um weitere bedeutende Produktionsstätten ergänzt bzw. durch sie ersetzt werden. An der engen Bindung vor allem der Ateliers für Buchmalerei und Metallkunst an klösterliche Einrichtungen ändert sich jedoch nichts (Reichenau, Regensburg). In der Folgezeit stellt sich die Lage insofern anders dar, als nun ganze Kunstlandschaften stärker in den Blick treten. Diese Gegenden weisen z.T. ausgeprägte eigene Züge in ihrer Architektur sowie in ihren Bildkünsten auf und bewahren diese selbst noch bis weit ins 13. Jh. hinein. Auch der Austausch zwischen solchen Gebieten, etwa zwischen Norditalien und Niedersachsen für die Bauornamentik des 12. Jh., oder die zu verfolgende Wanderung stilistischer Formen in Buchmalerei und Goldschmiedewerken des frühen 12. Jh. vom Rheinland nach Osten, spannt über große Entfernungen hinweg Fäden teilweise enger formaler und ikonographischer Beziehungen. Die Mobilität der mittelalterlichen Werkstatt kann man sich kaum zu groß vorstellen: Es sei nur an den Weg erinnert, den Nikolaus v. Vcrdun von der Maas nach Klosterneuburg und wieder zurück nach Köln auf sich nimmt. Die Verbreitung der Kunstwerke durch Handel, Stiftungen oder den Austausch untereinander befreundeter bzw. verbrüderter kirchlicher Einrichtungen kennt ebenfalls kaum Grenzen. Die besonders engen Beziehungen der Klöster entlang der Pilgerstraßen von Frankreich nach Santiago de Compostella oder die ökonomischen Verbindungen zwischen Westfalen und Schweden, die jeweils einen intensiven künstlerischen Austausch nach sich zogen, sind vielleicht zwei der eindringlichsten Beispiele. Die Bildkünste des hohen Mittelalters sind weitgehend auf die Kirche bezogen, sowohl was ihre Aufgabe als liturgische Ausstattung des Gotteshauses angeht, aber auch durch die Darstellungsinhalte (-»Ikonographie). Hier ist neben den im gesamten Mittelalter vorkommenden Einzelbildern Christi, der Apostel und Heiligen sowie Szenen besonders aus dem Leben des Herrn die Tendenz zu beobachten, daß zunehmend die komplizierte und komplexe theologische Spekulation in die Sprache der Kunst übertragen wird. Allein die im Zusammenhang mit der Kreuzigung Christi und dem Meßopfer ins Bild gesetzte Theologie - in Buchmalerei, auf Tragaltären und in der Lettnerskulptur (Wechselburg) - läßt den gesteigerten Anspruch auf ikonographischem Gebiet erkennen. Die sogenannte romanische Kunst ist im Europa des 11. bis 13. Jh. flächendeckcnd so verbreitet, daß man die Priorität der einen vor der anderen Landschaft nicht ausmachen, die Entstehung der Stilrichtung nicht mehr auf eine bestimmte Gegend oder gar einen Ort fixieren kann. Verglichen damit läßt sich die Genese der - • G o t i k im französischen Kronland der zweiten Hälfte des 12. Jh. relativ mühelos nachvollziehen; auch die Ausbreitung im Laufe des 13. Jh. liegt einigermaßen klar vor uns. Dabei handelt es sich weniger um eine radiale, Schritt für Schritt erfolgende allmählich weiter ausgreifende Eroberung der neuen Kunst in Europa als vielmehr um die sprunghafte, oft weite Gebiete nicht berührende und punktuelle Übernahme gotischer Architektur und Skulptur (Canterbury, seit

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1175; Cuenca, seit 1190; Magdeburg, seit 1209; Marburg und Trier, seit etwa 1235), wobei die Ordenskunst eigene Filiationen aufweist. Die Entscheidung für oder gegen Gotik dürfen wir als bewußte Annahme oder Ablehnung verstehen, die oft von einzelnen getroffen worden sein mag (Erzbischof Albrecht in Magdeburg). Zwar gab es an vielen Orten auch schon in älterer Architektur und Skulptur Tendenzen, die auf gotische Konstruktion oder Figurenauffassung hinführten, dennoch bedeutet das Aufeinandertreffen alter und neuer Kunst stets einen abrupten Bruch mit der Ortstradition (Köln: 1247 Weihe von St. Kunibert, 1248 Baubeginn des Doms). Der Wandel in der Baukunst seit Mitte des 12. Jh. hat tiefgehende Auswirkungen auf die mit der Architektur in enger Symbiose stehenden Bildkünste gehabt. Neue Aufgaben muß vor allem die Skulptur übernehmen, die jetzt, wie teilweise vorher schon in Süd- und Westfrankreich am Außenbau, speziell im Bereich der Portale als Trägerin der Verkündigung eingesetzt wird und die ganze Spannweite christlicher Heilsgeschichte darstellt und deutet. Diese für die französische Hochgotik typische Ausstattung der Kirche ist in andere Länder nicht oder nur in weit bescheidenerem Ausmaß übernommen worden. In Deutschland und Italien konzentriert sich der Schmuck auch der gotischen Kirche hauptsächlich auf den Innenraum, mit allen Konsequenzen, die sich daraus für die Ikonographie ergeben (Reduzierung des Bildprogramms). Für die Malerei ergeben sich im hohen Mittelalter zumindest zwei entscheidende Wendepunkte, die wieder in Zusammenhang mit den Veränderungen in der Architektur stehen. Die seit karolingischer Zeit übliche monumentale Ausmalung der Kirchen mußte spätestens da ihre Rolle einbüßen, wo ein neues Bausystem die Wandflächen auf ein Minimum reduziert hatte. Die stattdessen immer weiter in den Vordergrund tretende -•Glasmalerei ist schon vom Optischen her auf eine ganz andere Wirkung angelegt und zumindest bis ins späte 13. Jh. auch hinsichtlich der Technik des Zusammensetzens einzelner Farbscheiben eher dem Mosaik, das besonders im normannischen Süditalien des 12. Jh. eine herausragende Stellung einnimmt, verwandt. Der endgültige Schritt zur Tafelmalerei, die zwar seit dem frühen Mittelalter bekannt ist und vor allem in Italien eine lange Tradition aufzuweisen hatte, erfolgt in den Ländern nördlich der Alpen eigentlich erst um die Mitte des 14. Jh., begünstigt nicht zuletzt auch durch die seit Beginn des 15. Jh. sich durchsetzende Malerei mit Ölfarben. Dieser Umbruch ist in engem Zusammenhang mit der Ausbildung des geschnitzten oder gemalten Altarschrcins bzw. -retabels zu sehen. Darüber hinaus zeugt der Vorgang von einem Wandel, dem nicht nur liturgiegeschichtlich, sondern auch sozialhistorisch hohe Bedeutung zuzumessen ist. Es handelt sich um die Zeit des Übergangs von der in Auflösung begriffenen Kathedralbauhütte mit den in ihr unter gemeinsamer Leitung arbeitenden Handwerkern aller benötigten Berufsgruppen zu den in Zünften vereinigten einzelnen Gewerken und ihrer in die Stadt integrierten Werkstätten. Der -»Altar ist das prominenteste Ausstattungsteil der spätmittelalterlichen Pfarrkirche. Als Stiftung von Gemeinde, Zunft, Familie oder Einzelpersönlichkeiten und teilweise in besonderen Kapellen aufgestellt, macht sich in ihm das Bedürfnis nach Repräsentation z. T. neuer Schichten von Auftraggebern geltend, die von nun an wesentlichen Einfluß auf die Kunst der Stadt gewinnen. Diese Kunst ist nicht mehr litteratura laicorum, auch häufig nicht mehr in dem Maße öffentlich, wie es die Bildwerke der gotischen Kathedrale waren. Stattdessen läßt sich parallel zur neuen Mäzenatenrolle des einzelnen Bürgers und der dadurch angeregten Privatisierung der Kunst (auch wenn sie öffentlich aufgestellt ist) die Individualisierung des dargestellten Gegenstandes beobachten, so daß auch die geringste Kleinigkeit im Bild einen nahezu porträthaften Charakter erhält. Diese Tendenz aber läuft dem früh- und hochmittelalterlichen Grundsatz von der festen begrifflichen Strukturierung der Dingwelt zuwider und löst das alte System auf.

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III. 16. bis 18. Jahrhundert 1. Der Kirchenbau 2. Die Konfessionen in ihrem Verhältnis zu den bildenden Künsten bei der Ausstattung von Kirchen 3. Die Bedeutung der Flugblätter und der Illustrationen zur Bibel 4. Die Säkularisation der religiösen Kunst in den Kunstsammlungen 5. Die Rezeption der antiken Mythologie und Historie in der bildenden Kunst und das Christentum 6. Der Einfluß des Marktes und der Auftraggeber auf die Themenwahl (Literatur S. 157) Das Verhältnis von Kunst und Kirche wird in der Anfangsphase der Reformation auf protestantischer Seite wesentlich durch die Stellungnahmen von -»Luther, —•Zwingli, -»Calvin und den - • T ä u f e r n , auf katholischer Seite durch die Bautätigkeit und das Mäzenatentum der Renaissance-

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päpste, später durch die Aussagen des -»Tridentinums zur Kunst und durch die gegenreformatorische Bautätigkeit, besonders der Reformorden, geprägt. Die Durchführung der theologischen Forderungen konnte allerdings durch die Interessen der Stadtverwaltungen, der Patrizierfamilien, der Patronats- oder Landesherren und durch lokale Traditionen sowie das Verhalten der Bischöfe gegenüber der Volksfrömmigkeit gemildert oder eingeschränkt werden.

1. Der Kirchenbau 1.1. Im Protestantismus. Die Einstellung Luthers zum -»Kirchenbau war anfangs ähnlich kritisch wie zur Bilderfrage (-»Bilder). Aus Anlaß der Wittenberger Wirren 1522 betonte er in seiner Schrift Treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten von Aufruhr und Empörung, die Christen sollten „nit mer gelt tzu Bullen, Kertzen, Glocken (!), Taffein (!), Kirchen" geben (WA 6,684,1). Durch das aus der Rechtfertigungslehre sich ergebende neue Verständnis der ,guten Werke' kommen der ambitiöse Kirchenbau und die Produktion kirchlicher Kunst in den Gebieten Nordeuropas, die lutherisch oder reformiert werden, weithin zum Erliegen. Luther fordert sogar, die Wallfahrtskirchen in Wilsnack, Regensburg und anderswo am besten zu zerstören (vgl. TRE 6,546 f). Die erste Phase der Reformation ist von einer kritischen Einstellung zur überlieferten und entstehenden Sakralarchitektur bestimmt. Vom Baustopp, der Säkularisation oder der Umwidmung betroffen wurden Wallfahrtskirchen, Klosterbauten, Dome und Kirchen. So blieb etwa die große Wallfahrtskirche der Schönen Maria zu Regensburg unvollendet. Luthers Auffassung strahlte auf die kirchliche Bautätigkeit in Ländern aus, die anfänglich noch katholisch blieben. So kam der Bau des Doms zu Utrecht nach 1525 zum Stillstand, weil die mit einem Ablaß verbundenen Kollekten für seine Errichtung drastisch zurückgegangen waren. In den Utrechter Rechnungsbüchern nannte man „die Lehre des Magisters Martin Luther" als Ursache (Vroom 316). Auch der 1519 von Karl V. in Auftrag gegebene prätentiöse Neubau der Kathedrale von Antwerpen, dessen Chor allein so groß werden sollte wie die bestehende Kathedrale, mußte bald nach der Errichtung der Grundmauern aufgegeben werden. Viele Kirchenbauhütten und Altarwerkstätten gerieten in den Ländern, in denen der protestantische Einfluß dominierend wurde, in Existenzschwierigkeiten und lösten sich schon in den ersten Jahren der -»Reformation auf.

Durch die Aufhebung von Klöstern wurden besonders in Deutschland in der Frühzeit der Reformation, später aber auch in den nordeuropäischen Ländern, Kirchen und monastische Gebäude funktionslos. Viele wurden säkularen Bestimmungen zugeführt. Luther selbst bewohnte das zum wirtschaftlichen Familienbetrieb umfunktionierte Augustinerkloster in Wittenberg. Da die Protestanten die mittelalterlichen Kathedralen, Pfarrkirchen, Wallfahrts- und Klosterkirchen als Gemeindekirchen übernehmen konnten, wenn sich eine Stadt der Reformation anschloß, war für Jahrzehnte ausreichend Sakralraum vorhanden. So diente z. B. der fertiggestellte Chor der Bauruine der großen Wallfahrtskirche der Schönen Maria zu Regensburg seit 1542 als evangelische Gemeindekirche. Neubauten waren in den protestantischen Gebieten jahrzehntelang nicht nötig. Die mittelalterlichen Kirchentypen wurden von allen Konfessionen rezipiert. Bei der Übernahme von mittelalterlichen Kirchen durch protestantische Gemeinden beschränkte sich die Umbautätigkeit im wesentlichen auf eine Anpassung an die Erfordernisse des protestantischen Gottesdienstes. Die Absonderung des Klerus im Chor hob man auf, die Kirche wurde zur Gemeinde- und Predigtkirche umgestaltet, die auf die Kanzel und in lutherischen Kirchen auch auf den Altar im Chor ausgerichtet war. Den Lutheranern diente der Typus der als Predigtkirche benutzten spätmittelalterlichen Hallenkirche als Vorbild: Schon hier steht die Kanzel an einem der mittleren Langhauspfeiler, sie besitzt Empore und läßt in ihrer O r d n u n g eine Querrichtung erkennen. Diese O r d n u n g wird von den Lutheranern adoptiert. Die reformierte Kirche in der Schweiz zentralisiert in älteren Kirchen das Gestühl auf die Kanzel hin, so daß die Gemeinde im Chor mit dem Rücken zur Apsis sitzt; so geschah es vielfach auch in den Niederlanden. Nach der Übereignung der katholischen Kirchen an die Reformierten verfielen nicht selten die Chorteile in vielen der kleineren Kirchen, so d a ß sie abgerissen wurden.

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Das überall in Europa erstarkende Dynastentum beider Konfessionen dokumentierte sich im Schloßbau, wo Repräsentationsbedürfnis und Machtstellung auch die Schloßkapellen prägten. Daher sind die Schloßkapellen der lutherischen Landesherren die ersten sakralen Gebäude, in denen der Protestantismus seinem Glauben eine eigene Form gab. Die rechteckigen Querräume sind durch die - die Stände trennenden - meist mehrstöckigen Emporen charakterisiert. Es finden sich hier schon Vorstufen für die später häufig angewandte Lösung, die Kanzel (und die Orgel) über dem Altar anzuordnen (vgl. T R E 2, 321-324). In den Kapellen ist der Standesanspruch der protestantischen Landesherren, aber schon bald auch der zunehmende Provinzialismus erkennbar, in den die deutsche Kunst durch die Folgen der Reformation (anfängliche Bilderfeindlichkeit, Nachwirken des Bildersturms) und die Religionskriege geriet. Hofkünstler sorgten anfangs bei einer Reihe von Kirchen noch für standesgemäße und qualitätvollc Darstellung des protestantischen Glaubens, aber wenn nach der Jahrhundertmitte noch auf elitäre künstlerische Ausstattung Wert gelegt wurde, mußte man derartiges schon importieren. Die Neubauten der Reformierten verzichten von ihrem Kirchenverständnis her bewußt auf die Symbolform des griechischen Kreuzes. Der Kirchenraum hat zuerst der Predigt und dem Gesang zu dienen: Von daher bevorzugen sie die Saalform, wie sie später auch die Freikirchen (Mennoniten, Remonstranten etc.) pflegen. Großen Einfluß hatte der (von Ludwig XIV. beseitigte) Tempel der Hugenotten in Charenton, der als Symbol des verfolgten Calvinismus auf den Kirchenbau in reformierten Ländern nachfolgend Einfluß ausübte. Daneben fand auch die Oktogonform des ältesten Hugenottentempels in Lyon (Le Paradis, 1564) im protestantischen Kirchenbau Nachfolge (vgl. T R E 18, 461,37-51). Damit kündigte sich im Protestantismus eine Abweichung von der Basilika- und Hallenkirchenform an, die im 18. Jh. zu einem großen Reichtum von Grundrißformen im protestantischen Kirchenbau führen sollte. Erst im späten 17. und im 18. Jh. löste sich der protestantische Kirchenbau „aus der Tradition des dreigeteilten Längsbaus und des gotischen Stils" (TRE 18,476,24f; vgl. weiter ebd. Z . 25 - 3 0 ) . 1.2. Im Katholizismus. In den katholischen Ländern, vor allem in Italien, hat die Bedeutung der Kunst für die Kirche, für die Verherrlichung der päpstlichen und bischöflichen Geschlechter nach der Reformation nie ernsthaft zur Diskussion gestanden. Z w a r ließ der Kirchenbau in Italien in den ersten vier Jahrzehnten nach der Reformation etwas nach. Die Renaissancepäpste, Kardinäle und Bischöfe förderten jedoch ebenso wie die weltlichen Herrscher in gewohnter Weise die Architekten, Bildhauer und Maler (-»Michelangelo, ->Raffael) mit großen sakralen und familiären Aufträgen für prunkvolle Projekte. Paläste, Villen und öffentliche Gebäude boten den Architekten und Künstlern reiche Entfaltungsmöglichkeiten. Rom, das seit Anfang des Cinquecento mit dem Neubau von St. Peter die Führung übernommen hatte, zog viele hervorragende Architekten an. In der langen Baugeschichte von St. Peter wurde - aufbauend auf der Tradition - aus dem Anspruch des Papstes, als Nachfolger des Petrus Bischof der Stadt und des Weltkreises zu sein, ein Sakralbau geschaffen, dessen monumentale Ausmaße im Laufe der Baugeschichte mit eingreifenden Planänderungen von hervorragenden Architekten immer stärker ins Riesenhafte gesteigert wurden. Die Qualität und Novität der sich auf die Antike berufenden Architektur entsprach dem Welt- und Selbstverständnis der Päpste in kirchlicher, politischer und kultureller Hinsicht. Die enge Verbindung von römischer Kirche und Hochkultur war für die Päpste und die päpstlichen Geschlechter, die vielfältig als Mäzene auftraten, geradezu konstitutiv. Ihrem Ruhm auch über den Tod hinaus zu mehren - dem hatten die größten Künstler zu dienen. Als das religiöse Leben - von den Reformbewegungen und Orden gefördert - wieder erwachte und vor allem die neuen Reformorden kirchliche Architektur in Auftrag gaben, konnten sie hier auf eine in der Auseinandersetzung mit der Antike geschulte und bereicherte künstlerische Tradition zurückgreifen. So entfaltete sich die gegenreformatorische

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Kunst auf höchstem repräsentativen Niveau elitärer Kunst und verlieh den neuen Konzeptionen machtvollen Ausdruck. Die Beschlüsse des Konzils von Trient enthielten allerdings im Unterschied zu den Bereichen Malerei und Plastik (Reliquien- und Bilderverehrung) keine Richtlinien für die Gestalt des Kirchengebäudes. Maßgebend für die Form wurden die liturgischen Anforderungen und die Aufgaben der Orden. In der Wahl des Stils paßten sich die Reformorden an die Architektur der Länder an, -•Barock in Italien und eine mit renaissancistischen, manieristischen und barocken Formen angereicherte -»Gotik im Norden. Der katholische Kirchenbau brachte seit dem letzten Drittel des 16. Jh. in Italien, seit der zweiten Hälfte des 17. Jh. auch in Österreich und Deutschland bei Kloster-, Stifts- und Wallfahrtskirchen bedeutende Leistungen in großer Zahl hervor. Den am weitesten greifenden Einfluß auf den Sakralbau der folgenden Jahrhunderte hatte vielleicht Vignolas II Gesü in Rom (begonnen 1568). E r verbindet den Z e n t r a l b a u der - » R e n a i s s a n c e mit dem L a n d h a u s s c h e m a des Mittelalters. Die Seitenschiffe sind durch eine R e i h e von Kapellen, die sich zum H a u p t s c h i f f hin öffnen, ersetzt. D e m breitgelagerten, tonnengewölbten L a n g h a u s sind diese N e b e n r ä u m e jedoch so völlig subordiniert, daß durch verschiedene Kunstgriffe wie die Anordnung der Mittelschiffspilaster und die Beleuchtung die A u f m e r k s a m k e i t zum H o c h a l t a r gelenkt wird.

Damit war ein Kirchentypus entwickelt, der den Hochaltar ins Licht setzte und eine reiche Ausgestaltung der Kapellen mit Nebenaltären gestattete. (Der Innenraum wurde 1668-1673 im hochbarocken Stil umgestaltet.) Architektonischer Aufwand, Größe und Erfindungsreichtum in der Raum- und Außenwirkung lassen die Kirchen und vor allem die Klöster als Gesamtanlagen zu Monumenten des gegenreformatorischen Selbstbewußtseins werden. Die Kirchen waren — entsprechend den Aufgaben ihrer Auftraggeber oft eingebunden in repräsentative Gesamtkomplexe (bei den Jesuiten etwa entsprechend dem Erziehungsauftrag verbunden mit Kollegien, Gymnasien und Lyceen). In einer Angleichung an den Schloßbau (!) konnte vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jh. die Kirche eine Mittelstellung innerhalb einer systematischen Gesamtanlage einnehmen (vgl. zum katholischen Kirchenbau insgesamt T R E 18, 4 6 8 - 4 7 4 . 4 8 3 - 4 9 4 ) . Die großen Aufträge beschäftigten weltläufige Architekten und Bauhütten. Mußten die deutschen Lande bei Prestigeobjekten im 17. Jh. weitgehend noch auf die italienischen Spezialistengruppen zurückgreifen, so bildeten sich im 18. Jh. wieder einheimische Architekten- und Künstlcrfamilien internationalen Ranges heraus. von

2. Die Konfessionen Kirchen

in ihrem Verhältnis zu den bildenden

Künsten bei der

Ausstattung

Die Stellung der Protestanten zur Kunst in der Kirche und der Kunst zur protestantischen Kirche wurde nachhaltig durch Luthers Kritik an den traditionellen ,guten Werken' und an Stiftungen, durch Zwingiis und Calvins Kritik am Bilderwesen des Mittelalters beeinflußt. 2.1. Die lutherischen Kirchen. Luthers Angriffe auf den angeblichen Werkcharakter der Stiftungen für die Kirche, besonders die Ablehnung der Errichtung von (Neben-) Altären entzog den Werkstätten, die auf religiöse Kunst spezialisiert waren, in vielen Teilen des deutschen Reiches ihre materielle Basis. Zwar lehnte Luther Darstellungen mit Motiven biblischer und kirchlicher Tradition keineswegs ab. Seine grundsätzliche Kritik an der Finanzierung kirchlicher Kunst hatte jedoch faktisch eine weitgehende Trennung von protestantischer Kirche und hochwertiger kirchlicher Kunst zur Folge, die sich als schwer reversibel erwies. Luther setzte sich zwar für den Erhalt (oder die ordnungsgemäße Entfernung) der vorhandenen Altäre und Ausstattungsgegenstände ein, da er zu Recht glaubte, daß durch rechte Predigt ein falsches Verständnis der Bilder überwunden werden könne. Er entzog ihnen damit ihre liturgische und gesellschaftliche Funktion und ließ sie tendenziell zu Erinnerungsmonumenten der Stifterfamilien oder -gruppen werden. De facto unterstützte er damit jene Stadtregierungen, die die alten

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Stiftungen schon aus rechtlichen und geschichtlichen Gründen in den Kirchen erhalten wissen wollten, auch wenn diese keinen liturgischen Wert mehr besaßen. Damit säkularisierte Luther einen Teil der in der Kirche vorhandenen sakralen Kunst zu Kunstobjekten und historischen Dokumenten (vgl. zu Luthers Stellung insgesamt T R E 6, 546-551). Obwohl Luthers Stellungnahme sich deutlich von der anders begründeten Kritik im reformierten Bereich unterschied (s. u.S. 150f)>wirkte sich die Kritik an der Stiftung von Altarbildern und die Abschaffung der Nebenaltäre verheerend auf das Verhältnis von Kirche und Kunst aus. Werkstätten wie die von Albrecht -» Dürer, Hans Holbein d. J. und Hans Baidung Grien, so begnadete Maler wie Mathis Neithard (-»Grünewald) erhielten nach der Reformation keine oder nur noch wenige Altaraufträge, so d a ß Albrecht Dürer sich vornehmlich der Kabinettmalerei und den graphischen Künsten zuwandte, Hans Holbein d. J. nach England emigrierte und Matthias Grünewald sein Geld als Brunnenbauer verdiente. Möglicherweise auch weil die Stiftung und Erhaltung der Bilder in den protestantischen Kirchen umstritten und damit unsicher war, gab Albrecht Dürer seine Vier Apostel nicht als Epitaph in die Obhut einer Kirche, sondern in die Obhut der Obrigkeit. Dennoch konnten seit der zweiten Dekade der Reformation im lutherischen Bereich noch Altarbilder entstehen. Die Luther freundschaftlich nahestehende Cranach-Werkstatt (-»Cranach, Lucas d.Ä. und d.J.) schuf einige solcher Altarbilder (und zahlreiche graphische Werke), in denen sie die reformatorische Lehre zusammenfaßte und die Reformation als Heilsereignis feierte. Ihre Existenz gründete aber auch diese Werkstatt verstärkt auf die Produktion von höfischer Kunst und Tafelmalerei. Die entstehende lutherische Kirche konnte den Malern nicht mehr genügend Aufträge geben, die vor allem für die Kirche arbeitenden Werkstätten wandten sich anderen Aufgaben zu oder lösten sich auf. Die mittelalterlichen Kirchen, die von den lutherischen Gemeinden übernommen wurden, waren meist überreich mit Altären ausgestattet, unter denen sich auch solche befanden, die zentrale biblische Geschichten wie etwa die Geburt, Passion und Auferstehung Jesu Christi zum Thema hatten und von den Lutheranern ohne Schwierigkeiten rezipiert werden konnten. So hatten die Gemeinden anfangs keinerlei Bedürfnis, neue Altäre zu bestellen. Wenn lutherische Landesherren ihre Schloßkapellen mit qualitätsvoller Kunst ausstatten wollten, mußten sie deshalb Künstler aus dem Ausland heranziehen (z. B. Wolfenbüttel, Celle). Erst im 17. und 18. Jh. werden für die mittelalterlichen Kirchen der Lutheraner Bilder und liturgische Einrichtungsgegenstände bestellt und die z.T. als altertümlich empfundenen mittelalterlichen Kanzeln und Altäre vermehrt durch solche im Spätrenaissance- und Barockstil ersetzt. Und selbstverständlich wurden neue Kirchen für den liturgischen Gebrauch ausgestattet. Die damit beauftragten städtischen Kunsthandwerksbetriebe arbeiteten nach graphischen Vorlagen und schufen solide, aber keinesfalls herausragende Kunstwerke. Die Kirchenausstattung des Protestantismus (-»Altar, -»Kanzel, Kanzelaltar, -» Taufstein) stammt weitgehend von provinziellen Künstlern und Kunsthandwerkern. Der Einfluß Luthers und der -»Graphik (die auf Titelblättern, besonders auch der Lutherbibel und im Einblattdruck die konfessionellen Auseinandersetzungen begleitete) ist bei der figürlichen Ausgestaltung liturgischer Ausstattungsgegenstände darin zu beobachten, d a ß entweder Kernaussagen des lutherischen Bekenntnisses (Gesetz und Evangelium) oder aber zentrale Heilsereignisse abgebildet werden. Die in lutherischen Kirchen tätigen Maler sind meist solide Handwerker, die Emporen und Decken in vielen Kirchen mit biblischen Szenen ausstatten, in denen die Heilsgeschichte, oft in chronologischer Folge, geschildert ist; die Darstellungen selbst sind meist nach graphischen Vorlagen von Künstlern unterschiedlicher Konfession geschaffen. Der lutherische Charakter zeigt sich nur sehr selten in einer spezifischen lutherischen Zuspitzung: Das auffälligste Element ist die chronologische Anordnung, der ein wörtliches, auf den Gläubigen bezogenes (z. B. in Bosau) Verständnis der Heilsgeschichte zugrunde liegt. Luthers theologische These, daß Werkgerechtigkeit die Triebfeder für die Ausstattung

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der Kulträume mit Stiftungen gewesen sei, wird durch aufwendige Epitaphien und Totentafeln (->Sepulkralkunst) sowohl in lutherischen als auch reformierten Kirchen teilweise in Frage gestellt. Für die Stifter, die vornehmen Geschlechter, ging es um ein memento mori und auch über den Tod hinaus um eine propaganda familiae. Dies hatte zur Folge, daß schon seit dem Ende des 16. Jh., dann aber massiv im 17. und 18. Jh. die Kirchen reich mit Epitaphien ausgestattet wurden (deren Zahl erst eine romantisierende Denkmalpflege und der Zweite Weltkrieg wieder reduziert haben). 2.2. Die reformierten Kirchen. Zwingli, Calvin und die Täufer lehnten aufgrund des .ilttestamentlichen Bild Verbotes (Ex 20,4 f) die Ausschmückung von Kirchen mit figurati\ l t religiöser Kunst ab (nur bei Glasfenstern duldete Zwingli diese), denn die Bilderverehrung gilt als Verstoß gegen Gottes Gebot. Die Kunst als solche ist eine Gottesgabe, und es wäre unsinnig, auch solche Darstellungen entfernen zu wollen, in denen das Thema nur „in Geschichtswyss" abgebildet ist, „allerlei Handgemäld, Gleichnussen, bei deren bedeutenten Dingen man nichts sucht, denen man auch keine Ehr beweist". Praktisch wird also die Grenze zwischen den erlaubten und den unerlaubten Bildern weithin lokal bestimmt: In der Kirche sind schlechterdings keine Bilder zu dulden und noch solche Gestalten erlaubt, die nicht als Gott oder Heilige verehrt werden können. Im kommunalen wie im privaten Bereich können biblische Bilder mit lehrhaftem Charakter aufgestellt werden (v. Campenhausen; vgl. zu Zwingiis Stellung ausführlich T R E 6, 551-553). Calvin ging in der Verurteilung der Bilder noch über Zwingli hinaus. Er forderte von den Gläubigen, sie sollten sich überhaupt kein Bild von Gott machen, weder ein äußeres noch ein inneres. Er beschränkte den Themenkreis, der in der Kabinettmalerei noch dargestellt werden durfte: nur lehrhafte Historien, Porträts, Landschaften, Tierbilder und Städteansichten wollte er dulden (vgl. zu Calvins Stellung ausführlich TRE 6, 553 f). Zwingiis und Calvins Bilderlehre bewirkten eine Säuberung der Kirchen in den reformierten Gebieten der Schweiz, Süddeutschlands, Frankreichs und der Niederlande. Wenn eine Stadtregierung in ihrem Gebiet den reformierten Glauben einführte, wenn die Reformierten ein politisches Zeichen setzen und mit dem alten System brechen wollten, wenn sich in den Niederlanden eine Stadt dem Aufstand gegen die Spanier anschloß oder aber von den oranischen Truppen erobert wurde, räumten die Reformierten die Kirchen aus, sofern dieses nicht schon bei einem vorangegangenen Bildersturm geschehen war. Sie entfernten die Altäre und Statuen, bisweilen auch die Kirchenfenster. Die von Kunst gereinigte Kirche wurde fast zum Symbol der reinen Lehre. Wäre es nach den Calvinisten gegangen, so wären auch die -»Orgeln aus den Kirchen verschwunden. Aber den Stadtregierungen lag an der Fortführung der Orgelkonzerte; so sorgten sie für ihre Erhaltung, Erneuerung und Errichtung und auch für ihre Dekoration. (Saenredams Gemälde der St. Bavo-Kirche in Haarlem von 1636 im Rijksmuseum Amsterdams zeigt die große Orgel mit dem rechten mittelalterlichen Orgelflügel, auf dem von Frederik Hoons die Auferstehung Christi wiedergegeben ist.) Auch viele Orgeln, die für alte oder neue calvinistische Kirchen im 17. Jh. auf städtischen Beschluß errichtet wurden, wurden mit bemalten Flügeln geschmückt, so die Orgel der Westerkerk in Amsterdam mit Flügeln von de Lairesse, die der Zuiderkerk von Jan van Bronkhorst 1655 mit einer Darstellung David spielt die Harfe vor Saul. Caesar van Everdingen bemalte die Orgeltüren der großen Kirche von Alkmaar mit einer Darstellung des Triumphes Davids. Weithin ist trotz Zwingiis Äußerung zu den Glasfenstern in der Literatur die falsche Meinung verbreitet, daß schon beim Bildersturm die mittelalterlichen Glasfenster zerstört und die Wände unmittelbar nach der Übernahme der Kirchen geweißt worden seien. Z u dieser Vorstellung vom Aussehen der Kirchen im 17. Jh. haben die realistischen, aber idealisierenden und überhöhenden Bilder von Pieter Saenredam und anderer Architekturmaler, die unser Bild von den Kirchen des 17. Jh. ganz wesentlich prägen, beigetragen, denn sie zeigen meist eine bildlose Verglasung und weiß getünchte Kirchen, die von jeglichem Bildschmuck befreit sind. Sie schienen damit zu beweisen, daß die reformierten

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Kirchen schon im 17. Jh. so radikal gesäubert gewesen seien, wie das bei vielen reformierten Kirchen in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts der Fall war. Bei dieser Vorstellung von den Kirchen im 17. Jh. wird meist vergessen, daß der Bildersturm sich vornehmlich gegen die Altäre und die Plastik richtete, gegen Bildwerke also, die verehrt werden konnten. Sie wurden oft in spontanen Aktionen vernichtet. Die Fenster hatten nie eine liturgische Funktion, aber stets eine praktische Aufgabe, daher sind sie oft trotz des Bildersturms und nach dem Bildersturm noch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte erhalten geblieben, sowohl in den südlichen Niederlanden, wo sie nach 1585 ohnehin wieder erwünscht waren, als auch in den nördlichen Niederlanden. Von den Reformierten wurde aber — anders als bei den Katholiken und Lutheranern — das alttestamentliche Verbot, Gott darzustellen, in den Kirchen befolgt. In den Gemälden und Bildwerken, die für den freien Markt von Künstlern aller Denominationen geschaffen wurden, wurde die Gottesdarstellung allerdings nur da vermieden oder nachträglich getilgt, wo sie irritieren konnte. Bei einigen Bildern und Glasfenstern aus der Zeit vor der Reformation, die sich in öffentlichen Räumen befanden, wurde die figurative Wiedergabe Gottvaters entfernt und durch den Jahwenamen, einen Lichtstrahl oder einen Strahlenkranz ersetzt. Diese Symbolisierung wurde bisweilen auch von Malern anderer Konfessionen in Kabinettbildern benutzt. Gleichwohl war die Vorbildkraft des Mittelalters, der Renaissance und sogar der gegenreformatorischen Maler aber so stark, daß selbst die calvinistischen Künstler Gott in menschlicher Gestalt wiedergaben, wenn er so in der von ihnen benutzten Tradition dargestellt war. Mit dem wachsenden Geschichtsbewußtsein und dem zunehmenden Stolz auf die eigene Geschichte begann man schon im 17. Jh. bei Neuausstattung historisierend oder im Stil der älteren Tradition zu ergänzen. Die Kirchenfenster von Gouda lassen dies besonders klar erkennen. Die Fenster des frühen 16. Jh. zeigen in ihrem oberen Teil biblische Szenen, in ihrem unteren Stifterporträts. 1573 trat Gouda dem Aufstand gegen die Spanier bei, die Kirche wurde calvinistisch. Dennoch wurde Anfang des 17. Jh. die Verglasung der Kirche mit figurativen Fenstern fortgesetzt, die u . a . von Städten der Utrechter Union gestiftet wurden und nun an Stelle einer neutestamentlichen oder stadtaristokratischen Ikonographie oranische oder städtische Themen zum Inhalt hatten. So schenkten die Städte des Zuiderkwartiers van Holland ein von Joachim Witewaal entworfenes Fenster, das die Freiheit des Gewissens wiedergibt. Auf einigen Fenstern wird die Geschichte des Aufstandes alttestamentlichen Historien analogisiert.

Calvinistische Maler haben auch trotz des Bilderverbotes weiterhin neutestamentliche Historien wiedergegeben. Nur der strenge Calvinist Jan Victors wollte den Gottessohn nicht darstellen und beschränkte seine Themenwahl auf die alttestamentlichen Historien lehrhaften Charakters. Mit dieser Konsequenz blieb er aber unter den Künstlern im 17. Jh. eine Ausnahme. Selbst Kanzeln und Kirchengestühl können im 17. Jh. in den nördlichen Niederlanden wieder mit figürlichen Szenen ausgestattet werden (Amsterdam, Nieuwe Kerk). Diese differenzierenden Nuancierungen ändern aber nichts an der grundsätzlich kritischen Einstellung der Calvinisten zu den Bildern in der Kirche. Noch 1678 klagt der Rembrandtschüler Samuel van Hoogstraten in seiner ¡ttleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst (Rotterdam 1678,257), „dat de konst, sedert de Beeltstorming in de voorgaende eeuw, in Holland niet geheel vernietigt ist, schoon ons de beste loopbaenen, naementlijk de kerken, daer door geslooten zijn." 2.3. Der Katholizismus. In den Gebieten, die anfangs noch katholisch blieben und bei denen sich das Stiftungswesen — z. T. nach einem ersten Schock — wieder erholte, wurden weiterhin Altäre, Epitaphien etc. in Auftrag gegeben, so daß vor der Alteratie in den Niederlanden große Werkstätten wie die von Barend von Orley, Maerten van Heemskerk, Maerten de Vos, Quentin Massys weiter bestehen oder sich bilden konnten. Diese Werkstätten stellten sich langfristig auch auf die neue Situation ein. Ihre wirtschaftliche Existenz beruhte nicht nur auf der Produktion von Altären, sondern auch auf der Tafelmalerei für den freien Markt, den Adel und die Stadtaristokratie. Freilich unterlagen sie damit auch viel stärker den Wünschen ihrer Auftraggeber. Protestantisch gesonnene

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Künstler wie Barend von Orley, der frühe Maerten de Vos und Jacob Jordaens schufen unabhängig von ihrer eigenen Überzeugung auch für katholische Kirchen Altarbilder mit ausgesprochen katholischen Programmen. In Ländern, die ununterbrochen katholisch blieben (Spanien, Italien) setzte sich die Ausstattung der Kirchen mit Bildern unangefochten fort (-»Michelangelo, -»Raffael). Im Tridentinum wurden lediglich unsittliche und dogmatisch falsche Darstellungen verboten. Im Tridentinum formuliert die katholische Reform ihre geistigen Grundlagen; die Verwendung des Bildes wird erneut als Mittel der religiösen Unterweisung gerechtfertigt. In der von den Bischöfen geduldeten oder geförderten Volksfrömmigkeit werden aber schon bald wieder Gnadenbilder wie Reliquien verehrt (s.a. T R E 6,555f). In den Ausstattungsprogrammen der Kirchen soll die Wiedergabe der Visionen und Martyrien der Heiligen und ihrer Aufnahme in die himmlische Gemeinschaft dem gläubigen Betrachter ein nacheifernswertes Vorbild eines tugendhaften Lebens vor Augen führen. Die Darstellung der katholischen Glaubenslehre, besonders der Mariologie, und die Wiedergabe des Triumphes der katholischen Kirche dient der propaganda fidei. Zwischen der katholischen Reformbewegung und der Kunst kommt es im 16. und 17. Jh. über der Frage der Sittlichkeit und des Schicklichen zu Konflikten. Daß Michelangelo in seinem Fresko des Jüngsten Gerichts heilige Figuren in antikischer Nacktheit gemalt hatte, erregte Unwillen und wurde korrigiert: durch Ubermalung hüllte man die Gestalten in Kleider. Aber auch Caravaggios biblischer Realismus wurde aus Gründen der Schicklichkeit kritisiert. Der kunsttheoretische Streit, ob eine heilige Figur gemäß der biblischen Historie so realistisch in ihrer Armut und Einfachheit dargestellt werden dürfe, wie es der Text berichtete, oder ob sie ihrem Range gemäß im Sinne Raffaels stilisiert und erhöht wiedergegeben werden müsse, bewegte Anfang des 17. Jh. in Rom die Gemüter. Die Diskussion wurde zugunsten der höfischen Etikette entschieden. Das Göttliche und Heilige hatte heroisch und erhaben dargestellt zu werden. Ein Aspekt, der bei Caravaggio eine zentrale Rolle einnimmt, wird ein Leitmotiv der religiösen katholischen Kunst. Aus der Vielzahl der biblischen Szenen gestalten Caravaggio und seine Nachfolger vor allem bewegende Erkenntnisszenen und heben die Malerei selbst in den Rang der Erscheinung. Auf Caravaggios Berufung des Matthäus wird die Szene nur durch das mit Jesus einfallende Licht dem Betrachter sichtbar. Matthäus selbst erkennt durch das Licht und dasWort den neuen Adam Christus. Unter klassizistischem Einfluß hellt sich seit dem zweiten Drittel des 17. Jh. die Palette wieder auf, wird Raffael das große Vorbild für religiöse Kunst, die die Größe und Würde der heiligen Figuren zu zeigen hat (vgl. das Spätwerk Guercinos). Aber Vision und Erscheinungen, in die der Betrachter einbezogen wird, und die auf ihn bezogen werden, bleiben wesentliche Themen. Im 18. Jh. findet die visionäre und zugleich realistische Helldunkelmalerei in der Barockkunst Österreichs und Venetiens erneut Aufnahme und Fortsetzung. 3. Die Bedeutung der Flugblätter und der Illustrationen

zur Bibel

Die -»Flugschriften der Reformationszeit mit ihrer überhöhenden oder polemisch bildlichen und textlichen Darstellung sind ein entscheidendes Instrument der Meinungsbildung. Sie wurden in der Zeit zwischen 1517 bis 1525 in großer Auflage erstellt. Dichter und Theologen verfaßten die Programme und Texte der Kampfbilder unter dem Einfluß Luthers. Unter den Entwerfern der erhaltenen Flugblätter waren bedeutende Künstler, von denen nicht wenige vorher als Altarmaler arbeiteten. Die Druckwerkstätten der städtischen Zentren produzierten die Flugblätter in großer Auflage. Wegen der Zensur erschienen viele anonym oder unter Pseudonym. Die in deutscher Sprache veröffentlichten Flugblätter richteten sich an den gemeinen M a n n . Bild und Text waren lesbar. Anfangs bestimmte die überhöhte Darstellung Luthers, ferner die uneingeschränkte Verherrlichung der Evangelischen und die antithetisch vorgetragene Verteufelung des Papstes und der römischen Kirche die Themenwahl. Erst

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später wurde die evangelische Lehre selbst ins Bild gebracht. Das Flugblatt lebt in seiner schlagenden Kürze von Steigerungen. Der Kontrast zwischen den Gegensatzpaaren ist extrem zugespitzt. Mit seiner grenzenlosen Verherrlichung der eigentlichen Kirche und der drastischen Schmähung und Verdammung der Gegner ruft das Flugblatt zur Entscheidung, zu welcher Kirche man gehören will. Von daher sind auch eschatologische Rahmenthemen beliebt, in denen es um die Entscheidung zwischen Himmel und Hölle, zwischen falschem und richtigem Handeln, zwischen Christus und dem Satan geht (Jüngstes Gericht, das Haus des weisen und unweisen Mannes, Schafstall, Schlacht, Fuhrwagen, Erlösung und Höllensturz, Höllenfahrt, alter und neuer Adam). Die Flugblätter waren zeitbezogene, schwierig aufzubewahrende, großformatige Gebrauchsgraphik. Vieles ging zerlesen zugrunde. Erhalten haben sich vor allem die Blätter mit künstlerisch wertvollen Holzschnitten und Texten. Die Wirkung der polemischen Darstellungen blieb daher vornehmlich auf das 16. Jh. beschränkt. Sie wurden erst im 19. Jh. wiederentdeckt. Die reformatorische Bildpropaganda kann „mit ihrer optisch suggestiven Durchdringung religiöser und aktuell-gesellschaftskritischer Thematik auch heute vergegenwärtigen, welche Anstöße von Luthers Auftreten in die Öffentlichkeit ausgingen" (Hoffmann: Ausstellungskat. Martin Luther und die Reformation 220). Eine langfristigere Wirkung hatten jene Blätter, in denen die evangelische Lehre selbst bildlich dargestellt wurde. Ihre Ikonographie fand auch Aufnahme in die Bibel oder wichtige reformatorische Schriften. Erst nach dem Tridentinum bedient sich die katholische Kirchc, die auf meist von Anhängern der Reformation gestaltete Flugschriften ziemlich sprach- und bildlos reagiert hatte, wieder des Bildes zur propaganda fidei und zur Selbstdarstellung als ecclesia triumphans. Den größten Einfluß auf das Verhältnis der Protestanten zum Bild übte Luther langfristig dadurch aus, daß er seine -»Bibelübersetzungen mit Illustrationen (-»Bibelillustrationen) erscheinen ließ und die Herstellung einer Bilderbibel forderte, ja selbst im Anhang seines Betbüchleins den Prototyp einer solchen Bilderbibel veröffentlichte. Luthers Vorschlag wurde von Verlegern aller Denominationen dankbar aufgegriffen, die in - gelegentlich interkonfessionell zusammengestellten - Arbeitsgruppen von Textautoren, Entwerfern, Stechern und Verlegern Bildcrbibeln schufen (van der Coelen). Bestimmend war die enzyklopädische Einstellung. Für neue Bilderbibeln wurden oft Darstellungen aus früheren Werken kompiliert; der reiche Themenschatz des Spätmittelalters, vor allem die biblischen Illustrationen, wurde aufgeschlossen und verbreitet, so daß sich die Anzahl der behandelten Themen ständig mehrte. Die Buchdrucker vermerkten manchmal ausdrücklich und stolz, es seien vorher nie so viele Illustrationen gebracht worden. Diese Bilderbibeln - die in hohen Auflagen erschienen - und von denen Hans Holbeins Icones biblicae und Merians Biblische Figuren die bekanntesten in ihrem Jahrhundert gewesen sein dürften, haben die Vorstellung von den biblischen Geschichten nachhaltig geprägt und durch die wörtlich-moralische Interpretation ein buchstäbliches Verständnis biblischer Geschichten bei ihren Lesern, zu denen ja auch die Maler und Bildhauer gehörten, entscheidend gefördert (Tümpel; van der Coelen). Mit ihrer chronologischen Anordnung, mit ihren meist nur den Inhalt der Historie wiedergebenden Unterschriften überwinden diese Illustrationsfolgen das typologische System des Spätmittelalters. Neben Bilderbibeln erscheinen ähnliche Darstellungsfolgen zu einzelnen biblischen Büchern oder zu in sich abgeschlossenen oder zusammengefaßten biblischen Erzählungen, etwa zu den Gleichnissen oder zu dem Leben einzelner Patriarchen. Die Ubersetzungen der Bibel in die Muttersprache haben kaum Einfluß auf die -»Ikonographie gehabt. Sie erschienen viel zu spät, um die durch die Vulgata schon fest geprägte Motivwahl biblischer Szenen noch nachhaltig zu korrigieren. Nur bei einzelnen biblischen Werken - vor allem der gelehrten Maler - lassen sich Motive feststellen, die auf die Benutzung bestimmter Ubersetzungen zurückzuführen sind. Auch die Jüdischen Altertü-

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mer von Flavius Josephus wurden von gelehrten Künstlern bei der Gestaltung alttestamentlicher Szenen herangezogen. Die Ablehnung der Apokryphen durch die Calvinisten hatte gar keinen Einfluß auf die Themenwahl, nicht einmal bei calvinistischen Malern. Selbst bei einem so strengen Calvinisten wie Jan Victors nehmen die Szenen aus den Apokryphen einen großen Teil seines Werkes ein, und der Calvinist Arent de Gelder bevorzugt sogar die Apokryphenerzählung der Bibel. Die erwähnten Stichfolgen und Buchillustrationen waren eine wichtige Bildungsquelle für die Maler, Bildhauer und Kunsthandwerker des 16. und 17. Jh. Das allgemeine Interesse war so groß, daß viele Serien noch gegen Ende des 17. Jh. neu aufgelegt, nachgestochen und in enzyklopädischen Sammelwerken erneut vorgestellt wurden. Die Künstler griffen auf die Reproduktionsgraphik, Darstellungsserien und Icones biblicae noch dankbar zurück, wenn sie im 17. und 18. Jh. die lutherischen Kirchen ausmalten oder Kunstgewerbe mit biblischen Szenen (reich verzierte Schränke, Kacheln, Hochzeitsteller etc.) schufen. Dabei bedeutete die Denomination der entwerfenden Künstler kein Kriterium der Auswahl, so daß viele Altar- oder Emporengemälde in lutherischen Kirchcn auf Werke zurückgingen, die katholische Künstler für katholische Kirchen geschaffen hatten. Biblische Darstellungen oder Allegorien, die von einer bestimmten Konfession als Ausdruck und zur Verteidigung ihrer Lehre wiedergegeben worden waren, konnten auch von Künstlern oder Kirchen anderer Konfessionen rezipiert werden, wobei die Inhalte neu verstanden werden konnten. Die Maler und Bildhauer, Tischler und Porzellanmaler, Silber- und Goldschmiede richteten sich wenig danach, welcher Konfession die Künstler der von ihnen als Vorlagen benutzten Werke angehörten. Zwischen den Konfessionen herrschte ein viel breiterer Austausch als meist angenommen, wie ja auch bei der Auswahl der Lehrstellen für die künftigen Maler die Konfession des Lehrmeisters keine Rolle spielte. Erbauungsbücher, Emblembücher, Perikopenbücher, moralische Exempelbücher mochten einmal von einem Autor einer bestimmten Konfession herausgegeben worden sein, sie wurden bei allgemeingültiger Darstellung von allen Konfessionen benutzt, und die Nachdrucker und die Raubdrucker kümmerten sich nicht um das Bekenntnis des Autors oder ersten Herausgebers. 4. Die Säkularisation der religiösen Kunst in den

Kunstsammlungen

Der Bildersturm war nicht von allen Stadtregierungen und von allen Familien, die wertvolle Altäre oder Memorientafeln gestiftet hatten, widerspruchslos akzeptiert worden. In Dordrecht etwa waren wichtige Altäre wegen ihres hohen künstlerischen Wertes vor dem drohenden Bildersturm gerettet und in kommunalen Gebäuden oder aber in den Häusern aristokratischer Familien aufbewahrt worden. Die Stadtregierung oder die Stadtaristokratie trat damit an die Stelle der Kirche als Garant für die Bewahrung der eigenen Geschichte. Die um die religiöse Kunst erweiterte städtische Sammlung (mit den Kunstobjekten ihrer Patrizierfamilien) trat neben die Kunstkammern der Königshäuser und des Hochadels. Wenn man Altäre und Memorientafeln in Rathäusern bewahrte, wurden aus den liturgisch-kirchlichen Gegenständen, die Gott und die Familie priesen, museal verwaltete Kunstkammerobjekte bedeutender Familien und Künstler, die die Geschichte und den Ruhm der Stadtaristokratie und der Künstler der Stadt verherrlichten. Der Umzug aus der Kirche in das kommunale Gebäude machte aus dem liturgischen Gerät ein Kunstobjekt. Die Rathäuser wurden damit zu Vorläufern der öffentlichen städtischen Sammlungen. Viele Künstler in den protestantischen Ländern haben sich auf den Rückgang der Altarproduktion einstellen können. Sie spezialisierten sich als Fachmaler, die für die Wünsche der Auftraggeber neue Bildformeln fanden oder aber für den freien Markt Historienbilder, Landschaften, Stadtansichten, Architekturbilder, Stilleben usw. schufen, also Gemälde mit Themengattungen, die Calvin ausdrücklich zugelassen hatte. Hoogstraten, der als Klassizist die Historienmalerei am höchsten und die Fachmalerei sehr niedrig einstufte, fährt deshalb auch an der oben genannten Stelle fort, daß ,,de

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meeste schilders zieh dishalven tot geringe zaeken, jae zelfs tot beuzelingen te schilderen geheel begeeven" [die meisten Maler sich deshalb dazu hergeben, geringe Sachen, ja selbst Lapalien zu malen] (Inleyding tot de H o o g e Schoole der Schilderkonst, R o t t e r d a m 1678, 257). N a c h der Alteratie ziehen die Kunstwerke mit religiösen T h e m e n aus der Kirche in die öffentlichen Gebäude, Wohnhäuser und Paläste um. Nordniederländische Maler wie Terbrugghen und - » R e m b r a n d t setzten Kompositionen von Altarbildern der Gegenreformation in kleinformatige Bilder u m , die f ü r Kunstsammlungen bestimmt waren. Caravaggios Komposition der Berufung des M a t t h ä u s wird von Terbrugghen in eine Halbfigurenbildkomposition übertragen; R e m b r a n d t verdichtet Rubens' m o n u m e n t a l e Altarbildkomposition der Kreuzabnahme in seiner Passionsserie zu einem kleinen Kabinettbild. Er benutzt dabei Pathosformeln der kirchlichen M o n u m e n t a l k u n s t (etwa die durch den runden oberen Abschluß altarähnliche Form), um dem Bild ein besonderes Gewicht zu geben. Entscheidend ist aber für ihn, d a ß er ein ästhetisch herausragendes Kunstwerk schaffen muß, das wegen seiner künstlerischen Qualität seinen Platz in der Sammlung behauptet. Von daher erlaubt er sich neue künstlerische Freiheiten, die in der Altarmalerei nicht gegeben waren. Er plaziert z. B. die Figuren nicht mehr alle zum gläubigen Betrachter hin, sondern staffelt sie kunstvoll im Bildraum. Die Bilder mit religiösen T h e m e n sind in den Kunstsammlungen eben anderen ästhetischen Gesetzen unterworfen als in der Kirche. Sie werden auch in andere Kontexte eingefügt, so d a ß eine Passion möglicherweise neben Aktstudien oder Darstellungen aus der antiken Mythologie zu hängen k o m m t . Im Laufe des 17. Jh. verdrängen in der Kabinettmalerei die Darstellungen säkularer T h e men immer mehr die religiösen. H a b e n in den Delfter Inventaren zu Beginn des 17. Jh. noch über ein Drittel aller Bilder (37%) religiöse T h e m e n , so sind es am Ende des Jahrhunderts nur noch k n a p p ein Sechstel ( 1 5 % ; Montias). 5. Die Rezeption Christentum

der antiken Mythologie

und Historie in der bildenden

Kunst und das

Seit italienische Humanisten die Werke der antiken Autoren im 15. Jh. durch Editionen einer breiteren Leserschaft wieder bekannt machten, spielten die Darstellungen von mythologischen oder historischen Erzählungen aus der Antike in der bildenden Kunst Italiens, seit dem 16. Jh. auch in der bildenden Kunst N o r d e u r o p a s , eine immer größere Rolle. Diese Rezeption der antiken Mythologie vollzog sich wegen der kritischen Einstellung der christlichen Religion zur Götterwelt der Antike nicht ohne Proteste. Sie wurde dadurch ermöglicht und legitimiert, d a ß man die antiken Geschichten christlich und moralisch deutete oder entmythologisierte. Das läßt sich an der Rezeption von Ovid sehen. „Die Kenntnis seiner Werke war nie erloschen" (Walter Kraus). Im Ovid moralisé wurden die Metamorphosen christlich gedeutet und damit ihres anstößigen Charakters entkleidet. Der mennonitische Haarlemer Maler, Dichter und Kunsttheoretiker Karel van Mander hielt die Metamorphosen für so wichtig, daß er einen großen Teil seines Schilderboecks (1604) diesem antiken Werk widmet und darin eine „Wtlegginghe op de Metamorphosis" darbietet. Für ihn sind nämlich in diesen Fabeln allgemeine Weisheiten und Lehren verborgen. Er unterscheidet drei Arten der Auslegung, eine historische, eine naturhistorische und eine moralische. Die letztere erhält bei ihm das größte Gewicht. M e h r als die Hälfte aller von Künstlern der -»Renaissance, des -»Manierismus und des -»Barock dargestellten antiken Historien geben Szenen aus der griechischen und römischen Mythologie wieder, die von Ovid beschrieben sind. Verglichen damit haben die Erzählungen aus der griechischen und römischen Geschichte eine sehr viel geringere Bedeutung. Sie machen nicht einmal ein Viertel aller überlieferten Werke mit einem antiken T h e m a aus. Das hängt sichtlich damit zusammen, d a ß die meisten historischen Werke erst spät ediert und erst spät einem breiten Publikum durch Übersetzungen und Darstellungsfolgen bekannt gemacht w u r d e n .

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Die übrigen historischen und mythologischen Werke der antiken Autoren sind in der abendländischen Kunst des 16. bis 18. J h . sehr unterschiedlich rezipiert worden. Die meisten sind erst von den italienischen Humanisten (-»Humanismus/Humanismusforschung) des 15. Jh. für den Druck ediert worden und damit einer breiteren wissenschaftlich orientierten, gebildeten Öffentlichkeit bekannt gemacht worden (z.B. Livius, Ab urbe condita libri). Im Laufe des 16. Jh. wurden sie dann in die europäischen Sprachen übersetzt und durch Holzschnittillustrationen - die z.T. in Bildbänden herausgegeben - für eine breitere Öffentlichkeit popularisiert. Den Künstlern waren im allgemeinen nur die antiken Werke bekannt, die in die Muttersprache übertragen worden waren, da nur wenige unter ihnen Latein und Griechisch beherrschten.

Für die politische Ikonographie erwies sich die antike Mythologie in ihrer Vielfalt an Motiven als leichter verwendbar als die biblische. Absolutistisches Machtstreben ließ sich symbolisieren durch die Identifikation des Herrschaftshauses mit den antiken Göttern, republikanisches durch die Gleichsetzung mit der römischen Geschichte. Das Mätressenwesen ließ sich durch die Gleichsetzung der Affären des Herrschers mit den Liebschaften der Götter glorifizieren. Einflußreich für die Kunsttheorie des 16., 17. und 18. Jh. wurde die antike Kunsttheorie. Die Künstler beriefen sich auf die großen Künstler der Antike. Wie sie studierten sie den Akt. Während aber nur wenige biblische Geschichten es zuließen, Figuren gemäß den Regeln der klassischen Kunst nackt darzustellen, legitimierte das überlieferte Antikenbild die Wiedergabe der Götter und Helden in antiker Nacktheit; fast alle Bilder des 16., 17. und 18. Jh. aus der antiken Mythologie zeigen die Götter und Helden als nackte Figuren in der Natur. Das Aktstudium in vielen großen Ateliers des 16. und 17. Jh. und in den im 17. Jh. entstehenden Akademien förderte also die Rezeption der Antike. Gegen die unkritische Rezeption der Antike wurde nicht nur von einzelnen Repräsentanten der Kirche, sondern auch von christlichen Humanisten Stellung genommen. Erasmus lehnte es ab, daß Häuser mit Bildern nackter Göttinnen geschmückt werden (L. B. 5, col. 696D-697A). Der katholische französische Humanist Corrozet polemisierte in seiner Einleitung zu den Historiarum Veteris Testamenti leottes von Hans Holbein d . J . gegen die Darstellungen von Wiedergaben aus der antiken Götterwelt und schlägt vor, statt dessen die Zimmer mit biblischen Geschichten auszuschmücken (v. d. Coelen). Der calvinistische Aristokrat Dr. Nicolaes Tulp (den Rembrandt in seiner Anatomie verewigt hat) protestierte gegen die Schaustellung der Heidengötter und -göttinen bei öffentlichen Aufführungen (Bontemantel). Diese vielfältigen Proteste blieben ohne Wirkung. In der Rezeption der Antike manifestierte sich in der bildenden Kunst auch eine Emanzipation von der biblischen Tradition und von der Kirche. Die sich in der Rezeption der Antike vollziehende Entmythologisierung und Profanisierung strahlte auch auf die Interpretation biblischer Geschichten aus: Biblische und antike Geschichten konnten als gleichrangige Exempel zueinander in Bezug gesetzt werden. Biblische Geschichten wie die von Bathseba im Bade wurden analog zu antiken Liebschaften als Koketterien ohne religiösen Gehalt aufgefaßt und abgebildet. 6. Der Einfluß des Marktes

und der Auftraggeber

auf die

Themenwahl

Für den Markt mit seinem Gesetz von Angebot und Nachfrage schufen die Maler nicht nur Werke, die der Lehre ihrer eigenen Konfession entsprachen, noch konnten sie sich permanent mit den Themen beschäftigen, die sie künstlerisch interessierten. Ihr Kunstwollen wurde vielmehr vom Auftraggeber oder vom M a r k t wesentlich mitbeeinflußt. Die in den nördlichen Niederlanden aus den Kirchen vertriebenen Gilden und sonstigen städtischen Gruppen ließen nach der Alteratie ihre Memorienkunst für säkulare, meist städtische Räume schaffen. Während etwa die Kloveniersgilde im rekatholisierten Antwerpen 1619 den Altar ihrer Gildekapelle als liturgischen Ort für die Totenmesse der verstorbenen Brüder und für die feierlichen Messen der Bruderschaft mit einem Triptychon von - • R u b e n s (Christopherusaltar mit Visitatio, Darbringung im Tempel, Kreuzabnahme) schmücken läßt, geben die Kloveniere im pluralistischen Amsterdam für ihr Doelenge-

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bäude säkulare Gruppenporträts in Auftrag, die die Schützen zur Erinnerung festhalten (z.B. R e m b r a n d t s N a c h t w a c h e , dat. 1642). Die Künstler aller Konfessionen schufen in einer v o m Calvinismus geprägten Welt Werke, die Ausdruck des Einflusses der führenden religiösen Kraft sind, den zwischen den Konfessionen stattfindenden Gedankenaustausch spiegeln oder die Ikonographie einer bestimmten Käufer- oder Auftragsschicht wiedergeben können. In der Malerei des Mittelalters und der Renaissance überwiegen bei den biblischen Szenen die neutestamentlichen T h e m e n . Im Werk vieler b a r o c k e r nordniederländischer Historienmaler w a r e n dagegen im 17. J h . unabhängig von ihrem Bekenntnis die alttestamentlichen Historienbilder vorherrschend. Diese Veränderung der T h e m e n wahl ist aus dem Einfluß des Calvinismus zu erklären. Alttestamentliche Darstellungen richteten sich schon v o m Inhalt her an alle Denominationen und k a m e n den Reformierten besonders entgegen. Denn diese verstanden sich dezidiert als neues Israel. Von daher hatten sie ein besonderes Interesse an früher k a u m beachteten alttestamentlichen Geschichten, die auch dem Wunsch des Zeitgeistes entgegenkamen, etwas Kurioses oder Seltenes zu malen oder zu besitzen. Heiligenbilder, die in Flandern nach der Rekatholisierung wieder eine große Rolle spielten, ließen sich in den nördlichen Niederlanden verständlicherweise nicht besonders gut verkaufen, d a nur die Katholiken an ihnen auch ein konfessionelles Interesse hatten. So finden sie sich d o r t selbst im Werk katholischer Künstler selten. ( Z w a r kauften auch Angehörige reformatorischer Glaubensrichtungen schöne Bilder mit Heiligen, aber ein darüber hinausgehendes Interesse hatten sie an diesen Bildern natürlich nicht.) Die Angehörigen der nichtcalvinistischen Glaubensrichtungen wirkten als Künstler, Auftraggeber und Sammler bereichernd und mildernd a u f die niederländische Kultur, weil sie einerseits die Rezeption von Ideen ihrer eigenen Glaubensrichtung in W o r t und Bild fördern konnten, andererseits aber als Angehörige einer nichtcalvinistischen Gruppe dazu beitrugen, d a ß der Kunstmarkt nicht den Interessen allein einer Konfession folgte, sondern sich nach einer pluralistischer werdenden Gesellschaft richtete. Literatur

(erstellt von Marloes

Huiskamp/Netty

van de

Kamp)

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IV. 19. und 2 0 . J a h r h u n d e r t 1. Der Einschnitt um 1800 2. Jahrhundertmitte: Die Forderung nach einem „christlichen Stil" 3. Tendenzen am Ausgang des Jahrhunderts 4. Hauptlinien im 20. Jahrhundert (bis gegen 1950) 5. Die Entwicklung nach 1945 6. Die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts 7. Zusammenfassung (Literatur S. 176) 1. Der Einschnitt

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U m 1 8 0 0 wird die Kunst christlicher T h e m a t i k von U m b r ü c h e n betroffen, die ihre Situation und ihr Erscheinungsbild tiefgreifend verändern. Dies hat zu der verbreiteten T h e s e v o m E n d e der christlichen Bildkunst im 19. J h . geführt (Beenken). „ E s ist einer der wesentlichen Unterschiede gegenüber der Kunst früherer E p o c h e n , d a ß die christlichreligiöse T h e m a t i k im 19. J a h r h u n d e r t nicht mehr im Mittelpunkt der künstlerischen Bemühungen stand, daß sich vielmehr gerade die größten Begabungen diesem .Gegenstand' v e r s a g t e n " (Lankheit 7 6 ) . Z w a r hatte es auch früher schon einschneidende Z ä s u ren gegeben (z. B. italienische Frührenaissance), und m a n hat die christliche Kunst auch schon mit - » M i c h e l a n g e l o enden lassen. D o c h nie zuvor wandelten sich so viele F a k t o ren, die a u f d a s Entstehen von Kunst Einfluß haben, gleichzeitig so tief. Die Aufklärung s c h w ä c h t e die Möglichkeit, Transzendentes im Bild sozial verbindlich darzustellen. Die tiefgreifenden Veränderungen des 17. und 18. J h . führten zu einer ständig steigenden Bedeutung von Handel, Arbeit und Technik für die Ausübung von M a c h t und für die Gestaltung sozialer Strukturen. In der Folge werden z . B . Fest und Feier, wesentliche

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„Orte" von Kunst, aus ihrem religiösen Zusammenhang herausgenommen und in einen staatlichen oder wirtschaftlichen hineingestellt (bis hin zur Praxis von Ferien und Urlaub). Zudem wird, jedenfalls für die katholischen Teile Zentraleuropas, durch die -»Säkularisierung der geistlichen Territorien und die Aufhebung vieler Klöster die Verbindung der Kirche mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen gelockert. Der Idee nach emanzipierte sich ein religionsfreier Lebensraum (die Wirklichkeit zeigte zahllose Mischformen). Damit fällt nicht nur die Kirche als Auftraggeber aus, sie wird nicht nur aus dem Bereich des öffentlichen Festes, öffentlicher Lehre usw. verdrängt; es wird auch das Christliche so sehr innerlich oder privat, daß sich Zweifel einstellen, ob ihm das sinnliche und öffentliche Bild überhaupt zuzuordnen ist. Es treffen solche Zweifel bezüglich der fortdauernden Bedeutung sinnlicher Zeichen aber nicht die Kunst christlicher Thematik allein; sie gelten vielmehr der ganzen Kunst. S o ist für - » H e g e l die Kunst von den Anfängen der M e n s c h e n her über eine archaisch-symbolische, eine klassische und eine r o m a n t i s c h e ( = Mittelalter) Entwicklungsstufe hinweg das M e d i u m der Selbstbefreiung des Geistes gewesen. J e t z t aber, zur Z e i t Hegels, hat sie diese Erkenntnisbedeutung an die W i s s e n s c h a f t weitergegeben. Die Kunst verliert ihre allgemeine R o l l e zugunsten einer persönlichen; sie wird vom Erkenntnismedium zu S c h m u c k und Spiel, von einer Notwendigkeit zu M ö g l i c h k e i t und Beliebigkeit (Hegel II, 2 3 1 - 2 4 2 ) . Hegels Darstellung einer Rollengeschichte der Kunst w a r fraglos überaus hellsichtig. Sein neues Kunstverständnis prägt die Auffassung zahlloser M e n s c h e n über Kunst bis in die G e g e n w a r t (Schmuck und Spiel, privat, beliebig). Sie ist freilich eher die Beschreibung eines kulturellen U m b r u c h s als eine p r o g r a m m a t i s c h e T h e o r i e . Hegel begriff diese Emanzipation des Geistes von der Kunst positiv als Ermöglichung eines nicht mehr an die Sinne gebundenen Fortschritts. In der R ü c k s c h a u erscheint sie a b e r problematisch: Sie begründet eine Wissenschaft jenseits der Sinnlichkeit des M e n s c h e n . Vor allem a b e r hat es seit Hegel keine Phase der europäischen Kunstgeschichte gegeben, in der die Künstler den Rollenwechsel in die individuelle Beliebigkeit akzeptiert hätten.

Anders gesagt: die Kunst des 19. und 20. Jh. ist dadurch gekennzeichnet, daß Künstler - nicht alle - das Wesen ihrer Arbeit entgegen dem oder doch außerhalb vom zivilisatorischen Trend definieren. Der aufregende Zusammenhang mit dem Stichwort besteht darin, daß dieser Widerstand gegen die Ausgrenzung der Kunst aus dem allgemeinen Erkenntnisprozeß zu einem bedeutenden Teil mit religiösen, häufig mit christlichen Bildgehaltcn vorgetragen worden ist. Es ist erst unzureichend bewußt, daß der allgemeine „Bilderstreit" des 19. und 20. Jh. auf das engste mit der Frage nach einem transzendenten Gehalt von Kunst verbunden ist. 1.1. Typen der Beziehung. Die Darstellung des Verhältnisses von Kunst und Christentum ist für das 19./20. Jh. deshalb so schwierig, weil über Begriffe, Kriterien und Sachverhalte kein Einvernehmen besteht. Die Konfusion hat freilich schon Erkenntniswert, denn sie besagt, d a ß auch Urteile über die christliche Kunst früherer Epochen nicht in einer T h e o r i e dieser Kunst begründet sind, sondern sich auf ihre relative Bedeutung in der Kunstgeschichte beziehen und insofern deren „ W e l t l i c h k e i t " belegen ( - » S ä k u l a r i s i e r u n g ) . In dem Augenblick, da sich die T h e o r i e aus der Z e i t herausstellt, verfehlt sie offenbar die Kunst. S o begründen in den ersten J a h r z e h n t e n des 19. J h . christliche T h e o retiker mit g r o ß e m Aufwand eine idealistische Kunst inmitten einer überwiegend neugotischen Praxis. S o wird im 2 0 . J h . mit dem Begriff des Kultbildes argumentiert, o h n e die Frage der Kultfähigkeit der Gemeinden oder ein gewandeltes Kultverständnis zu erörtern. O d e r es wird derart argumentiert: Weil Naturalismus den christlichen G l a u b e n nicht ausdrücken k a n n , aber der maßgebende Stil des 19. J h . ist, gibt es im 19. J h . keine christliche Kunst. D a erübrigt sich regelmäßig der Blick a u f die Bilder. M a n kann zu gleichen Ergebnissen auch scheinbar historisch k o m m e n : Ein am Bildbestand des frühen Mittelalters orientiertes ikonographisches S c h e m a wird durch die J a h r h u n d e r t e verfolgt, wobei es sich allmählich entleert, um im 1 9 . / 2 0 . J h . keinen relevanten Bildbestand mehr zu bezeichnen (vgl. L C I ) .

Zur Orientierung in einem sehr viel differenzierteren Befund seien drei Arten des Verhältnisses Bildende Künste/Christentum unterschieden: Erstens gibt es im 19./20. Jh. weiterhin eine Kunst mit christlichen Motiven im Überlieferungszusammenhang des christlichen Glaubens. Sozial ist sie in der Regel der Kirche oder Gemeinde zugeordnet,

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ohne daß sie im engeren Sinn „kirchliche Kunst", d. h. Kunst für den Gottesdienst sein müßte. In ihrer Form knüpft sie häufig an voraufklärerische Stile an (zunächst an Spätgotik [-»Gotik], Frührenaissance [-»Renaissance], -»Michelangelo, später steht die ganze Stilgeschichte zur Verfügung). Darunter sind Werke individueller Gestaltung (-»Nazarener) und Imitationen (Historismus im engeren Sinn). Aber es gibt auch den Versuch, christliche Motivik in den Stilen des 19./20. Jh. zu behaupten (von Delacroix über Puvis, die Präraffaeliten, Uhde, Caspar, Rouault bis in die Gegenwart). Eine zweite Art des Verhältnisses zwischen Kunst und christlicher Glaubenswelt hat man als Säkularisierung oder Profanierung christlicher Bildformen beschrieben. Damit können zwei verschiedene Sachverhalte gemeint sein: Einmal geht die Fülle spezifisch christlicher Bildformen (z. B. Christi Geburt, Flucht nach Ägypten, Pietà, Märtyrerdarstellungen, Bilder des erhöhten oder herrschenden Christus) nicht einfach verloren, sondern tritt in den Dienst säkularer Bildthemen (vgl. die Napoleon-Ikonographie bei Ingres und David). Zum anderen kann das christliche Thema ausdrücklich zur Darstellung einer säkularen Problematik gebraucht werden (der Künstler als Christus, die Passionsdarstellungen des deutschen -»Expressionismus). In beiden Fällen ist der soziale Ort des Bildes nicht die Kirche. Bei einer dritten Art des Verhältnisses zwischen Kunst und Christentum erscheint die traditionelle christliche Bildwelt nicht im Bild. Dieses hat dennoch eine transzendente oder religiöse Bedeutung. Im 19. Jh. war dafür vor allem die Darstellung der Natur ein Ausdrucksmittel. Im 20. Jh. kann die gleiche Funktion der Mensch haben, sein Gesicht (Jawlensky), bestimmte Rollen (Rouault), die Repräsentation des Mythos (Beckmann). Vor allem aber werden Farbe und Formen solche Ausdrucksmittel der Transzendenz (spätestens bei Kandinsky, tatsächlich schon seit Cézanne und van Gogh). Von solchen Bildern ohne christliche Motivik im Zusammenhang des Stichworts zu sprechen, ist mißverständlich. Sie können und sollen kirchlichem Christentum nicht subsumiert werden. Andererseits nähren sich die Impulse zu dieser Kunst nachweislich (auch) aus jüdisch-christlicher Überlieferung. Und es ist dies jene Kunst, vor der sich die Frage, ob neuzeitliche Individualität ein notwendiges Allgemeines - gegen Hegels Theorie - verbindlich und kritisch erreicht, am dringendsten stellt. - Zu Beginn des 19. Jh. treten bereits alle drei Typen eines christlichen oder - das wird in der Folgezeit schwer zu unterscheiden - religiösen Bildgehalts wie prototypisch auf. 1.2. Erster Typ: Christliche Motive im Zusammenhang christlicher Überlieferung. 1809 gründeten Overbeck und Pforr in Wien den Lukasbund, dem sich dann in Rom Cornelius, Schadow, Schnorr von Carolsfeld und die Brüder Veith anschlössen und der die Bezeichnung -»„Nazarener" erhielt. Sie präsentierten innerhalb des 19. Jh. christliche Motive am ausgebreitetsten und hatten hierin den räumlich und zeitlich größten Einfluß (Casa Bartholdy, 1816/17; Casino Massimo, 1 9 1 8 - 1 9 2 4 ; Overbeck, Auf erweckung des Lazarus, lSOS;P(orT,Sulamitund Maria, 1811; Cornelius, Die klugen und die törichten Jungfrauen, 1813; Schnorr, Hochzeit zu Kana, 1819; Overbeck, Triumph der Religion in den Künsten, 1 8 3 3 - 4 0 ; Cornelius, Jüngstes Gericht, 1836-1840; Schnorr, Bilderbibel, 1851). Sie zu beurteilen verwickelt sofort in die grundsätzlichen Probleme des 19. Jh.: Aufgestanden als junge Opposition, „Emigranten" nicht nur aus ihren Ländern, sondern aus der herrschenden Kunstszene, arbeiten sie später an den Höfen von München und Berlin und prägen die Akademien. Sie wollten einer Kunst leerer Formen eine Kunst des Glaubens und der religiösen Identität entgegenstellen. Dazu orientierten sie sich an Mittelalter und Renaissance. Dennoch waren sie keine Historisten, weil einmal ihr Stil nicht beliebig wählbar war, weil zum anderen neue Motivkreise wichtig wurden (Freundschafts- und Gruppenbilder, Begegnungen) und schließlich weil sie ihre Themen möglichst auf der Wand, d.h. aber auch in bisher ungewohnter Flächigkeit inszenierten. Den Nazarenern wird vorgeworfen, nicht eigentlich christlich zu sein - gemeint ist kultisch — wegen ihrer gefühlsbetonten Subjektivität und nicht eigentlich künstlerisch wegen ihrer formalen Rückorientierung. Aber erstmals gab es eine Kunst christlicher Thematik, die nicht auf einem gesellschaftlichen Zusammenhang aufruhte, sondern Ergebnis freier künstlerischer Entscheidung war. Für solche Entscheidung mit dem Gefühl - man könnte auch sagen: existentiell - zu werben, war Gegenstand ihrer Bilder. Der historische Anteil der Form diente der Identität des Gehalts. Allerdings lag im Anteil an übernommener Form ihre Schwäche. Dadurch war ihre Kunst für die kirchliche und politische Restauration verwertbar und unfähig, die neuen Wahrnehmungen und Interessen des

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frühindustriellen Zeitalters auszudrücken. - International beeinflußten die Nazarener in Italien Minardi und die sog. Puristen, in Frankreich eine Gruppe von Ingres-Schülern aus dem Raum Lyon, unter denen Flandrin hervorragte. 1.3. Zweiter Typ: Säkularisierung christlicher Bildformen. Kunstgeschichtlich bedeutsam zu Beginn des Jahrhunderts sind zahlreiche profane Bilder, bei denen ein geprägtes christliches Bildthema zur Formwerdung beigetragen hat, ohne als Motiv zu erscheinen: David, Tod des Marat, 1793, Goya, Erschießung am 3. Mai 1808,1814, Delacroix, Der römische Hirte, 1825, Daumier, Die Revolte, 1848, stehen in der Tradition der Passionsikonographie. Man hat diesen Einfluß christlicher Bildthemen als „Würdeformel" verstanden, welche die Bedeutung des profanen Themas steigert. Doch ist eine solche Erklärung unzureichend. Bei den wichtigsten Vertretern solcher „anonymer" Christus- und Heiligenbilder steht daneben das explizit christliche Bildthema gleichen Gehalts (vgl. Goyas Christus am Ölberg, 1819, oder den Hl. Antonius in der Kuppel von San Antonio dela Florida, vgl. auch Delacroix). Bei Bildern wie Daumiers Ecce homo, 1850, sind die Gleichrangigkeit und Konvergenz der profanen und christologischen Deutung evident. Es entwickelt sich eine profane -•Ikonographie des Christusbildes. „Ich will eine Zeichnung machen, die einen Menschen zeigt, der das Leid der Welt sieht. Kann das nicht nur Jesus sein?" (Goya, bei Schade 68) Der Proletarier, der Clown kamen später hinzu. Die christliche Ikonographie hat dieses neue Christusbild nicht wahrgenommen und wollte auch seine politischen und kirchlichen Gründe nicht diskutieren. Erst durch dieses Verschweigen entsteht die „Christusleere" der Kunst des 19. Jh. „Die sog. Vermenschlichung des Göttlichen bedeutet nichts anderes, als daß das menschliche Handeln - im Erleiden wie im Triumphieren - seine Sinnbildlichkeit von den Handlungen Gottes und seines Sohnes bezieht" (Hofmann 76). 1.4. Dritter Typ: Bilder ohne kirchliche Bildtradition mit religiöser Bedeutung. Eine neue Bildsprache für den Ausdruck des Religiösen hat die deutsche Romantik geschaffen. Dabei stellt sich die Frage, ob der Veränderung der Bilder eine Veränderung des theologischen Gehalts entspricht, etwa im Sinn des Vorwurfs von „Pantheismus". Runges Licht, weite Landschaft, Kinder, Blüten und Bäume sind in keinem Fall um ihrer selbst willen „gegenständlich" gemalt. Zwischen dem Entwurf der Vier Zeiten und ihrer farblichen Fassung (1808/09) entstehen Die Ruhe auf der Flucht und Christus auf dem See Genezareth. In der Ruhe ist die Natur Partnerin der heiligen Geschichte. Andererseits werden in den Zeiten Natur- und Farbsymbolik durch traditionelle christliche Symbole akzentuiert, die zeigen, daß es nicht um einen Verlust an christlichem Gehalt geht, sondern um dessen überzeitliche, d. h. jetzt gültige Darstellung. Noch zurückhaltender hat Friedrich den Zusammenhang seiner Landschaften mit der christlichen Bildtradition festgemacht; aber er ist unübersehbar. Der Mönch am Meer bezeichnet die Erfahrung der unendlichen Horizontalen als eine religiöse. Das Kreuz im Gebirge für den Tetschener Altar, oder die zahlreichen Darstellungen kirchlicher Gebäude greifen in den Gehalt des Landschaftsbildes ein. Das religiöse „Gefühl" kommt aus der Augenerfahrung der Natur, drückt sich in deren Formen aus. Aber wie bei Runge geht das Bild nicht auf die Gegenständlichkeit der Dinge, sondern auf das Jetzt des Existenzerlebnisses, bei dem die überkommenen Zeichen des Glaubens nicht negiert, sondern entgrenzt werden. Immerhin zeigt der Rahmen des Tetschener Altars das Zeichen der Trinität und Trauben und Ähren als Hinweis auf das Sakrament. Und die seit von Ramdohr wiederholte Kritik, der Altar zeige nicht den Gekreuzigten, sondern dessen Bild, verkennt, daß gerade dadurch ein Zusammenhang mit der Überlieferung des christlichen Glaubens hergestellt wird. Andererseits gibt es in der Romantik unzweifelbar eine Gotteserfahrung, die nicht über Bibel und Sakramente geht, sondern aus der Natur gewonnen wird. Zugespitzt formuliert der Dichter Thomas Moore angesichts der Niagara-Fälle: „Bring einen Atheisten hierher, und er wird nicht als Atheist zurückkehren können" (Rosenblum 19 f)- Ähnlich übergeht die Mehrzahl der Bilder die christliche Gemeinde. Doch hindert sie nicht erst das Motiv daran, Kirchenbilder zu sein. Es wird oft übersehen, daß auch die besten Bilder der Nazarener, so viel deutlicher sie sich in den Zusammenhang kirchlicher Bildtradition zu stellen suchen, keine Kirchenbilder sind. Der tiefe Wandel der Beziehung zwischen Kunst und Christentum zu Beginn des 19. J h . verbietet es, diese Beziehung von nun an in erster Linie aufgrund der M o t i v e zu diskutieren. Die Suche n a c h einer neuen Bildsprache hängt dabei zusammen mit einer Entgrenzung des Religiösen über den biblisch-kirchlichen Bereich hinaus. Andererseits gibt es Voraussetzungen und T h e m e n der neuen Kunst, mit denen sich das kirchliche Milieu schwertut. D a s betrifft v o r allem die Freiheit der künstlerischen Individualität: „ D e r Künstler (kann) wie jeder geistig W i r k e n d e nur dem Gesetz folgen, das ihm G o t t und N a t u r ins H e r z geschrieben haben, keinem andern. Ihm kann niemand helfen, er selbst muß sich helfen; so kann ihm a u c h nicht äußerlich gelohnt werden, da was er nicht um

Künste, Bildende IV

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seiner selbst willen hervorbrächte, alsbald nichtig w ä r e . Eben darum kann ihm auch niemand befehlen oder den Weg vorschreiben, welchen er gehen solle" (Schelling, bei H o f m a n n 2 5 5 ) . Ein zweites Problem entsteht in d e m M a ß e , in dem kirchliches und profanes Milieu auseinanderrücken. W ä h r e n d die Künstler des sinnlichen Ausdrucks bedürfen, eröffnen die geistlichen Theoretiker eine uferlose Debatte über die Darstellung des N a c k ten. Schließlich sind es die Sozialrevolutionären Entwicklungen, denen sich die Kirchen überwiegend verweigern. So entsteht das leidenschaftlichste Bild des Menschen, ja sogar seine Ü b e r h ö h u n g zum Christusbild außerhalb des christlich-kirchlichen Milieus. D a s kirchliche Bild aber verweigert sich den T h e m e n des Jahrhunderts (Freiheit, Natur/Sinnlichkeit, Liebe/Gerechtigkeit). 2. Jahrhundertmitte:

Die Forderung

nach einem

„christlichen

Stil"

Statt dessen verstärkte sich um die Jahrhundertmitte die Forderung eines in der Übernatürlichkeit des christlichen Bildgegenstandes begründeten Sonderstils und damit der Auszug aus der zeitgenössischen Kunstgeschichte. Als Sonderstil beansprucht wurden klassizistischer Idealismus oder gotisierende F o r m e n . Die Gründe waren nicht nur dogmatische. M a n gewann so M a ß s t ä b e gegenüber den Ansprüchen künstlerischer Individualität und verbündete sich mit politisch starken restaurativen Kräften. Quantitativ waren die Anstrengungen in einer Vielzahl von christlichen Kunstvereinen und -publikationen außerordentlich (allein im deutschsprachigen R a u m wurden im 19. J h . 18 Periodica für christliche Kunst gegründet). Erst im letzten Jahrhundertdrittel setzten sich im „Stils t r e i t " von Österreich/Süddeutschland her die nichtgotischen Stile als gleichberechtigt durch. D a d u r c h geriet die Forderung eines Sonderstils ins Wanken, und es konnte in der Folge ein szenischer Realismus an Einfluß gewinnen. N u r für die Malerei lohnt ein differenzierterer Überblick. 2.1. Frankreich. Die französische Produktion war nicht nur quantitativ bedeutend, sondern auch undogmatischer als die deutsche. Teils an Raffael, teils an den Venezianern orientiert, malten Couture, Bougereau u.a. Akademiker, oft mit rcalistisch-sensualistischen Effekten. Äußerlich in der Nachfolge von Delacroix, aber mit einem anderen, an archäologischer Richtigkeit orientierten Bildverständnis arbeiteten Orientalisten wie Vernet. Bei Dore, dem Autor der einflußreichen Bilderbibel, mischt sich damit Dramatisch-Phantastisches. Corots biblische Themen gehören zum weniger wertvollen, gleichsam offiziellen Teil seines Werkes. Erst mit Millets Angelus, 1859, öffnet sich eine neue, dem menschlichen Alltag verbundene Möglichkeit christlicher Thematik. Einen eigenen Stil für die Wand, mit großen Farbflächen gebaut, schuf Puvis de Chavannes, dessen Kunst zwischen dem Einfluß der Nazarener und den Nabis an der Wende zum 20. Jh. eine Überlieferungsbrücke bedeutet (Genoveva-Zyklus 1876/77). 2.2. Deutschland/Österreich. Im deutschen Sprachraum verliert die Landschaft ihren transzendierenden Sinn. Die Nachfolger der Nazarener reichern die biblische Szene mit archäologischer und psychischer Realität an (vgl. Auferweckung des Lazarus bei Overbeck und Führich). In Wien arbeiten neben Führich Kupelwieser, von Schwind und Steinle; 1 8 4 8 - 5 1 entsteht mit der Alt-Lerchenfelder Kirche noch ein Werk, das sich vom Historismus abhebt. Der ist stärker in der Apollinariskirche in Remagen, die 1843-1857 von der Düsseldorfer Schule (Deger, Müller, Ittenbach) ausgestaltet wird, wo trotz der Leitung durch den Nazarener Schadow Historismus und Realismus an Einfluß gewinnen (Bendemann, Die Juden im Exil, 1831/32). Von Gebhardt versetzt die biblischen Szenen in die Lutherzeit (Kloster Loccum, Friedenskirche Düsseldorf). Allenthalben macht sich die Bestimmung der Bilder durch außerkünstlerische Realität geltend. Neben der historischen wird die vermutete psychische Wahrheit der biblischen Gestalten in den Bildern gezeigt (Max). Parallelen zur französischen Salonkunst bieten G. Richter, Plockhorst u.a., auf höherem Niveau Feuerbach (Dresdener Madonna, 1860, Pietä, 1863). 2.3. England. Neue Ansätze einer Bildkunst christlicher Thematik gab es in England. Blake war Einzelgänger, eher ein Vorläufer des Symbolismus als Romantiker. Sein bildnerisches Werk (Raffael mit Adam und Eva, 1808, Satan schlägt Hiob, 1825/26) ist eng seinem mystischen literarischen Werk verbunden. Erstmals zeigt sich die dann gegen Ende des Jahrhunderts so große Bedeutung mystischtheosophischer Vorstellungen für eine Kunst spirituellen Gehalts. Dyce war Schüler der Nazarener in Rom {Hl. Johannes führt Maria vom Grabe, 1 8 4 4 - 6 0 ) . An seinem weitgespannten Interesse, so für Design und Kunstpädagogik, ist abzulesen, wie praktisch und gegenüber der Zeitsituation wach die

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englischen Vertreter einer christlichen Bildthematik gewesen sind. Den wichtigsten Neuansatz haben die englischen Präraffaeliten geleistet und das, obgleich Ziele und Werk voller Widersprüche waren. Der Name der „Bruderschaft", gegründet 1848, suggeriert Frührenaissance, aber ihr Stil ist von herbem, oft krudem Realismus, dem sich symbolische Bedeutungen beimengen. Die Realität in der Darstellung der Natur sollte die Realität des Glaubensgehalts ausdrücken und sichern („Transzendentale Naturalisten", Muther II, 487). Sie unternahmen diesen Versuch vor dem Hintergrund der in England schon fortgeschrittenen Industrialisierung, die gerade die Realität einer geistigen Wirklichkeit zu verdrängen schien. Hunt hat mit Das Licht der Welt, 1853, Der Sündenbock, 1854, Der Schatten des Todes, 1 8 7 0 - 7 3 die radikalsten Werke christlicher Thematik geschaffen. Dem Sündenbock ging ein mehrjähriges Studium am Toten Meer voraus und doch zielen gerade Hunts Bilder auf die Wirklichkeit der theologischen Aussage. Von Millais ist mit Christus im Haus seiner Eltern, 1850, ein Bild geschaffen worden, realistisch bis in die Hobelspäne, das die Realität ausgerechnet der Kindheitsgeschichte zeigen will und dennoch in der Konkurrenz der Realitäten der Zeit beeindruckte. Brown malt gleichzeitig eine Fußwaschung, und die Arbeit, 1 8 5 2 - 1 8 6 5 , eine Milieudarstellung der Industriestadt. Sehr viel lyrischer ist dagegen Rossetti (Ecce Ancilla Domini, 1850), der Vermittler werden sollte zu einer zweiten Generation, die bereits zum Jugendstil hinführt (Morris, Crane, Burne-Jones).

3. Tendenzen

am Ausgang des

Jahrhunderts

In den 70er Jahren ist die Geschichte der christlichen Bildkunst in schnellere Bewegung gekommen. Es beginnt ihre für das 19./20. Jh. bedeutendste Phase. Das hängt natürlich mit der allgemeinen Kunstgeschichte zusammen und hat Hintergründe in der zivilisatorischen Entwicklung. 1 8 6 8 - 1 8 7 0 bauen und malen Lenz und Wüger die Mauruska3.1. Antinaturalismus. pelle bei Beuron. Insbesondere Lenz realisiert damit sein konsequent antinaturalistischcs Programm: das Unaussprechliche, Göttliche kann in der Kunst nur durch Stilisierung, durch geometrische Mittel erscheinen, weil Gott wesenhaft Ordnung ist. Den zu solchem Ausdruck fähigen Stil dachtc Lenz überzeitlich aufgrund einer Uroffenbarung, am besten anschaulich in der Kunst der Ägypter. Gewiß zeigt die Mauruskapelle Klassizistisches, über Wüger auch Nazarener-Einflüsse. Zugleich aber greift sie durch konsequent mathematisch regulierte Bauformen, Rhythmisierung, Linearität mit geschlossenen Farbflächen in die Moderne voraus - zu ihrer Zeit ein einsames Werk, das auch innerhalb der Kirche als gegenüber christlicher Bildtradition zu fremd empfunden wurde. 3.2. Realismus. Zunächst triumphieren noch Varianten des Realismus. In den 80er Jahren ziehen die biblischen Milieubilder des Russen Wereschtschagins (u.a. eine „realistische" Auferstehung) durch Europa und erregen bis zum Verbot das Entsetzen der bürgerlichen Christenheit. Toleriert und bewundert werden dagegen Munkaczys große Theaterbilder Christus vor Pilatus und Kreuzigung. Ihm nachstrebend wird Fugel zum anerkannten Realisten biblischer Thematik im süddeutschen Raum (Krankenheilung, 1885, Altöttinger Panorama, 1903). Maler der Kirche wird er erst, als er Mitte der 90er Jahre einen Dogmatik ausdrückenden Symbolismus in seine Bilder aufnimmt. Der Revolutionär aber war von Uhde, der erst unter dem Einfluß Munkaczys stand und durch Liebermann zur Freilichtmalerei fand. Bald danach, 1884, beginnt er mit Lasset die Kindlein zu mir kommen die Reihe seiner biblischen Bilder, in denen er die Gestalt Christi zu Menschen der Gegenwart stellt und damit kirchliche Kreise zutiefst beunruhigt. Erst allmählich wandelte sich das Urteil der evangelischen Kritik von „Kommunistenmaler" und „Bürgerschreck" zu „Maler des Evangeliums". Auf katholischer Seite mäßigt sich der Aufschrei über von Uhdes künstlerische und religiöse Verirrung zum Vorwurf ungenügenden dogmatischen Ausdrucks. Bis in die Gegenwart gelten von Uhdes Christusbilder als Prototypen für das Scheitern des religiösen Bildes im 19. Jh. Tatsächlich ist zweifelhaft, ob das, was er ausdrücken wollte, in der Gattung des Freilicht-Ölbildes zu leisten war, auch gegen dessen soziologischen Ort. Aber von Uhdes Widerspruch gegen soziale Ausgrenzungen und gegen die Verkrustung dogmatischer Bildgewohnheiten war biblisch inspiriert, die kritisierte Sanftheit der Jesusgestalt kühn. Der Vorwurf, er zeige Jesus im

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Profil und nicht kultgemäß frontal (noch Tillich u.a.), verrät sich angesichts der Evangelien selbst als dogmatische Engführung. 3.3. Symbolismus. In Deutschland hat sich die Uberwindung des Realismus zunächst in symbolistischen Formulierungen, oft noch auf realistischer Grundlage, gezeigt. Klinger hat mit Pietà, 1890, Kreuzigung, 1891, Christus im Olymp, 1897, drei bedeutende Christusbilder geschaffen und ist doch als christlicher Maler bis heute nicht rezipiert worden. Möglicherweise liegt das an der subjektiven Gedanklichkeit der Werke und an ihrem erotischen Gehalt. Sie spiegeln Seelenzustände des Künstlers und sind deshalb wohl notwendig Bilder für einzelne. Ähnlich ist die Situation für T h o m a , der sich im Alter immer stärker in einen religiösen -»Symbolismus hineingemalt hat, der in seinem Sanktuarium im Museum in Karlsruhe gipfelt. 1896 hat Thoma für eine Art Wettbewerb zum Thema Christusbild ein Gemälde eingereicht, das er selbst für einen Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens gehalten hat, dessen Ablehnung jedoch allgemein war. In einem Rahmen mit dogmatischen und heilsgeschichtlichen Symbolen steht Christus in Frontalsicht vor einer Landschaft, eine Blume in der Hand; um ein nicht sehr individuelles Gesicht formt sich zu schön frisiertes Haar. Für die Farbgebung in Blau und Grün hat Thoma auf musikalische Klänge verwiesen. Der französische Symbolismus wirkt malerischer und spontaner als der deutsche. Allerdings gingen auch den Arbeiten Moreaus umfangreiche Studien voraus. Mit malerischem Glanz vermag er die Vorstellung des Numinosen im Bild erscheinen zu lassen (Salome). Moreau hat Redon beeinflußt, dessen Bildformen stärker aus den Träumen des Künstlers aufsteigen {Die Versuchung des Hl. Antonius, Apokalypse). Bilder wie Das Schweigen, 1910/11, ähneln Christusbildern, wobei ihm Christus eher eine geistige Erscheinung als eine Figur der Heilsgeschichte war. Eigene Bedeutung gewinnt noch der belgisch-niederländische Raum. Ensors Einzug Christi in Brüssel, 1888, aktualisiert die Passion in die Zeitgeschichte, noch mehr in die eigene künstlerische Existenz; schon die Kreuzigung von 1886 trug die Titelinschrift „Ensor"; noch 1922 entstehen Zeichnungen zum Leben Christi. Der belgische Bildhauer Minne behandelt in seiner Graphik biblische Themen. Toorop war bereits international angesehener Symbolist, als er 1905 katholisch wurde und in der Folge unter den Einfluß Beurons kam (Apostel, 1910 u. 1914). Der Niederländer Thorn Prikker, mit theosophischem Gedankengut vertraut, ist ab 1903 in rheinischen Kirchen Erneuerer der Glasfensterkunst und der Wandmalerei. 3.4.Postimpressionismus. Am tiefsten haben im Ausgang des Jahrhunderts die Künstler des französischen Postimpressionismus die Beziehung zwischen Kunst und Christentum verändert - van Gogh, Gauguin, Bernard, die Nabis - dies, obgleich von den ersteren nur wenige Bilder traditionell christlicher Thematik existieren. Und diese gehen ihr Thema indirekt an, mittels christlicher Denkmäler, vgl. Gauguins Gelber Christus, 1889, und Jakobs Kampf mit dem Engel, 1888, oder als Interpretation eines profanen Geschehens Polynesische Weihnacht, 1896. Auch van Gogh nutzt die Kunstgeschichte und malt nach Rembrandt und Delacroix Barmherziger Samariter, Auferweckung des Lazarus, Pietà. Im übrigen hat gerade van Gogh das direkte Christusbild abgelehnt und gemeint, daß „Christus am ö l b e r g " tatsächlich in einer „Olivenernte" erscheine (an Theo van Gogh 17.11.1889). Das eigentlich Neue aber ist - und es gilt auch für Bernard, Denis, Sérusier, die zum christlichen Motiv zurückkehren - , daß Farbe und Komposition den geistigen Gehalt eines Bildes noch vor dem Motiv bestimmen. Der Gegenstand wird in die Ordnung der Form eingebunden (vgl. Denis Aufstieg nach Kaivaria, 1889, Die Frauen am Grab, 1894). In der Bearbeitung christlicher Traditionsstücke und darin, daß sie mittels Landschaft, Menschen und/oder Farbe Offenbarung ausdrücken, sind der Sache nach die Postimpressionisten den frühen Romantikern sehr nahe (Rosenblum). Indem das Motiv nicht Bildziel, sondern mit Farbe, Linie, Komposition Ausdrucksmittel wird, verbreitert sich die Möglichkeit, ein die Gegenstände übergreifendes verbindliches Allgemeines im

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Bild auszudrücken. Im Kreis der Nabis wächst die Überzeugung und wird polemisch verkündet, daß es große Kunst ohne religiösen Glauben nicht gibt. Ist dabei zunächst der Anteil theosophischen Gedankenguts groß, so werden doch auch christliche Bezüge immer wichtiger. Denis ist katholisch, Serusier wird es wieder, Verkade konvertiert und wird Mönch in Beuron. Überhaupt findet sich der alternde Lenz auf einmal im Zentrum des Interesses. Selbst Gauguin sucht jetzt die Grundlagen der Kunst bei den Ägyptern (Schmied 47). Lenz' Ästhetik erscheint 1898 in Wien, 1905 mit einem Vorwort von Denis in Paris. 1905 veranstaltet die Wiener Sezession eine Ausstellung ausschließlich religiöser Kunst, bei der die Beuroner im Mittelpunkt stehen, an der neben den Sezessionisten aber auch Gebhardt und Landenberger, von Uhde, Stuck und Corinth, Ashbee, Mehoffer, Denis und postum Gauguin teilnehmen. Der neue Rang der bildnerischen Mittel veränderte alle Gattungen der Kunst und führte sie zusammen (Architektur, Plastik, Malerei, Kunstgewerbe). Erstmals seit fast 100 Jahren wurden neue, nicht historisierende Formen im kirchlichen Raum möglich. Wagners Kirche am Steinhof in Wien, gleichzeitig mit der Sezessionsausstellung, ist ein Beispiel; in Barcelona baute Gaudi an der Sagrada Familia. Was noch wenige Jahre zuvor nicht zu erwarten gewesen war: In den Mittelpunkt wichtiger Ausstellungen angewandter Kunst treten Kirchen, so bei der 3. Deutschen Kunstgewerbeausstellung 1906 und bei der Werkbund-Ausstellung 1914. Publizistische Ereignisse begleiten den Neuaufbruch: In der Jahresmappe der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst 1903 plädiert Popp für die Moderne: „Wir haben in allen Sprachen geredet, aber damit keinen persönlichen Laut gewonnen" (7f). 1904 wird für die Gesellschaft die Zeitschrift Die christliche Kunst gegründet. Seit 1903 erscheint Hochland als wesentliches Organ der katholischen Moderne. Auf evangelischer Seite ist der Einschnitt weniger scharf, aber doch deutlich (vgl. die Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, ab 1898, und Die Kirche, ab 1903/04). Zahlreiche Sonderausstellungen christlicher Kunst gipfeln 1912 in der Weltausstellung in Brüssel. Allerdings hat sich schon vor dem Ersten Weltkrieg die Rezeption wieder verengt. Bei der Brüsseler Ausstellung sind die Arbeiten Noldes zurückgewiesen worden. Im Rheinland ist die Ablehnung der Fenster Thorn Prikkcrs für die Drcikönigkirche in Neuß, 1911-14, symptomatisch gewesen. Auf katholischer Seite wird man das neue Mißtrauen durch die Modernismus-Auseinandersetzungen zu erklären haben (Antimodernisteneid 1910). 1912 (!) verfügt Kardinal Fischer in Köln, die Kirchen seien gotisch zu bauen und in der Malerei an die „zu Unrecht als minderwertig beurteilte Düsseldorfer Schule" anzuknüpfen. Auf evangelischer Seite läßt ein jahrelanger Streit um das Werk des Franzosen Burnand im Christlichen Kunstblatt Hintergründe erkennen. Dessen Herausgeber Koch hatte Burnand als „Malerevangelisten" in der Nachfolge Rembrandts eingestuft, räumte in der Debatte aber ein, daß für seine „Volkskunstbewegung" der bibelgemäße Inhalt wichtiger sei als die Form. Deutlich ist die Tendenz, die Kunst aufgrund der Bibel und der kirchlichen Tradition zu reglementieren, weil andere Kriterien nicht zur Verfügung standen. Gleichzeitig findet jedoch außerhalb der Kirchen das Suchen nach einem spirituellen Gehalt von Kunst seine für das 20. Jh. wichtigsten Formen: figürlichen Expressionismus und Abstraktion. Dabei kommt die Bildwelt christlicher Thematik zu einer Erneuerung von beinahe wundersamer Fülle. 4. Hauptlinien

im 20. Jahrhundert

(bis gegen 1950)

4.1. Expressionismus. Der Impuls expressionistischer Kunst ist, Leben auszudrücken, persönliches Leben, das als eingebettet in ein All-Leben erfahren wird (-•Expressionismus). Dieses Leben wird nicht abgebildet, sondern mittels Farbe und Form und mit Motiven, die dem Künstler „Leben" bedeuten, im Bild gestaltet. Dabei muß Christliches nicht berührt werden, wie die frühe Kunst der Brücke zeigt. Es kommt aber auf mehreren Wegen in die Kunst, vor allem dadurch, daß Leben und Geist nicht als Gegensätze, sondern geradezu als identisch empfunden und gedacht werden. Das Geistige aber hat als

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eine äußerste Qualität der Wirklichkeit eine religiöse Dimension. „Religion" erscheint innerhalb der künstlerischen Subjektivität und doch zugleich jenseits von ihr: „das ewig neu werdende, ewig neu sich aussprechende und ausformende, das staunende und anbetende Gefühl des Menschen, daß über seine Bedingtheit hinaus und doch mitten aus ihr hervorbrechend ein Unbedingtes besteht" (Buber, zit. nach Schmied 102). In seiner Einführung in die Moderne Kunst (für das Handbuch der Kunstwissenschaft!) hat Burger 1917 dargestellt, wie dieses Leben in der Kunst ein bloßes Dasein der Dinge übersteigt. „Die Form wird statt zum regulativen Prinzip zum geistigen Ausdruck übergegenständlicher Vitalität oder zur geistigen Eigenschaft der Dinge, durch die sie uns als Gebärde der ihnen eingeborenen höheren Lebenskraft oder Lebensordnung erscheint... Damit wird die Kunst auf ihre ältesten Zwecke zurückgeführt: Veranschaulichung religiöser Welterkenntnis" (113.115). Morgner will „den Geist der Unendlichkeit durch die Farbe brüllen, kreisen und verzückt jauchzen lassen" und beruft sich dabei gegen eine literarische und dekorative Kunst auf die Ägypter und die Wilden (Morgner 11). Marc ist überzeugt, „daß es keine große und reine Kunst ohne Religion gibt", und wiederholt damit die Überzeugung der Nabis. Ziel der Kunst ist, „ein unirdisches Sein zu zeigen, das hinter allem wohnt" (bei Schmied 266). Es ist dieser Begriff von Leben der entscheidende Faktor zur Erneuerung der Kunst biblischer Thematik. Daneben spielt das Selbstverständnis des Künstlers als Fremdling und Verfolgter in einer bürgerlich-industriellen Gesellschaft eine Rolle und führt zur Identifikation mit Christus und dessen Geschick (Ensor, Gauguin, Morgner). Die Erneuerung biblischer Thematik hat sich vor allem in Deutschland vollzogen: Corinth, schon immer am Themenkreis der Passion interessiert, vollendet 1907 Das große Martyrium, 1910 das Triptychon für die Kirche von Tapiau. Beckmann schafft 1911 Lithographien zum Neuen Testament. Der junge Dix läßt einer frühen Pietà, 1912, eine expressive Reihe Tuschzeichnungen biblischer Themen folgen. Noldes große Bibelbilder beginnen 1909 (Pfingsten, Abendmahl) als „Wende vom optisch äußeren Reiz zum empfundenen inneren Wert... Einem unwiderstehlichen Verlangen nach Darstellung von tiefer Geistigkeit, Religion und Innigkeit war ich gefolgt" (bei Rombold/Schwcbcl 22). Das große Altarwerk zum Leben Christi entsteht 1911/12. Kokoschka schafft 1911 Kreuzigung, Verkündigung, Heimsuchung. Gleichzeitig stößt Morgner die Fülle seiner Bilder zur Bibel aus; bis zu seinem Tod 1917 mehrere hundert, bis heute ganz unzureichend rezipiert. Auch die biblischen Skizzen des schon 1914 gefallenen Stenner sind fast unbekannt geblieben. Stenner gehörte wie Brühlmann (Fresken für die Erlöserkirche Stuttgart) zum Hölzel-Kreis. Bei Holzel selbst setzt die große Folge biblischer und religiöser Bilder 1907/08 ein (1910 Kreuzigung für die Pauluskirche Ulm); seit 1910 entwickelte er in zahlreichen Varianten das Thema „Anbetung", das er bis zur Gegenstandslosigkeit führt. Bei Holzel hat auch Eberz gearbeitet, dessen rhythmisierte Arbeiten als Typos „geistiger" Kunst im katholischen Milieu geschätzt waren. Eine rheinische Gruppe, die auch die Kirchen erreichte, bilden Thorn Prikker, Nauen, Hecker u.a. In Süddeutschland löst sich Caspar aus Beuroner Einfluß zu expressivem Stil. Es ist also nicht erst eine Folge des Ersten Weltkriegs, daß die biblische Thematik im Expressionismus mit solcher Macht aufgebrochen ist, wohl aber scheint der Krieg die Tendenz noch verstärkt zu haben. 1916 gestaltet Barlach eine Anfrage an Christus nach dem Sinn der Kriegstoten (Anno Domini MCMXV1 post Christum natum). Kokoschka schafft 1916 Lithographien zur Passion, Schmidt-Rottluff seit 1917 Holzschnitte mit biblischen Motiven. 1915 entsteht Heckeis Ostender Madonna-, Madonnen in Mosaik und Glas arbeitet Pechstein. Jaeckels Hl. Sebastian ist von 1915; Rohlfs beginnt im Krieg eine lange Reihe biblischer Bilder: der Holzschnitt Verlorener Sohn, 1916, mehrmals die Vertreibung aus dem Paradies. Vom Krieg tief verletzt, malt Beckmann Kreuzabnahme, Ehebrecherin und beginnt die nie vollendete Auferstehung. Otto Langes umfangreiches Holzschnittwerk biblischer Thematik beginnt im Krieg. Jawlensky verabschiedet seine „sinnliche Malerei": „Ich verstand, daß ich nicht das machen mußte, was ich sah, sogar

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nicht das, was ich fühlte, sondern nur, was in mir, in meiner Seele lebte" (bei Schmied 105). Er findet jene Darstellung des Gesichts, die er in vielen Varianten bis zu den späten Meditationsbildern hin steigerte. Die besondere Nähe von Expressionismus und Christentum ist wiederholt begründet worden. So hat Weiß die Kunst Caspars der Beurons gegenübergestellt als eine Kunst des Weges, die in dieser ihrer Zeitlichkeit der Gotik nahestünde (vgl. Smitmans 202ff). Für Hartlaub ist entscheidend der Ausdruck eines Allgemeinen, Gültigen, das auch Gott oder Christus heißen kann, durch die eigene Subjektivität: „ D a ß nicht wieder wie in Urzeiten der Kosmos das Ich, sondern vielmehr das Ich den geistigen Kosmos gebären, daß es Gott nicht aus dem All, sondern aus sich, aus Selbstergreifung wieder entdecken und wieder erneuern wird" (Hartlaub 19). Ein solches Selbstverständnis spannt die reale Existenz des Menschen derart zwischen Passion und Ekstase, daß dafür allein die Bibel Bilder anbietet. Ahnlich Hartlaub hat Tillich geurteilt, der Expressionismus sei der dem „UnbedingtWirklichen" der Religion am meisten entsprechende Stil (freilich ordnete er Katakombenkunst, Mittelalter und Barock dem Expressionismus zu). Die entscheidende Frage sei, ob das Werk allein die Subjektivität des Künstlers ausdrücke oder in der Kraft des einen Heiligen Geistes zum Unbedingt-Wirklichen durchdringe (Tillich bei Schmied 64 f). 4.2. Abstrakte Kunst. Die autonome Ausdrucksfähigkeit der malerischen Mittel ist die Voraussetzung der sog. Abstrakten Kunst. Sie hat für sich das „Du sollst Dir kein Bild machen" und sucht den -»Materialismus des 19. Jh. zu überwinden, der die geistige Ausdrucksfähigkeit der Dinge verseucht habe. Andererseits spielt gerade die Entwicklung der Naturwissenschaften eine positive Rolle, weil sie die dualistische Spannung zwischen Materie und Geist zu überwinden scheint. Eine materiell-statische Weltsicht wird von einer dynamisch-energetischen abgelöst. Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar: eben auch das Unsichtbare. Mit der Befreiung vom Gegenstand berühren die Künstler den Bereich, den archaisch Priester und Schamanen besetzt hatten. „Sie waren auf ein Energiepotential in ihrem eigenen Sein gestoßen, das stärker war als die Fülle der Widersprüche ihrer alltäglichen Existenz" (Weitemeier-Steckel, zit. nach Schmied 137). Fast gleichzeitig verzichten Kandinsky, Mondrian, Malewitsch auf den Gegenstand, andere, wie Holzel und Morgner, kommen dem nahe. Der Impuls dazu ist nicht völlig identisch, und seine Verschiedenheit ist auch erkennbar in der Form. Kandinsky macht das Geistige sichtbar, das der Mensch ist als Teil eines umfassenden Geistes; Einflüsse kommen aus -»Kabbala, russischer Mystik, Theosophie (vgl. Über das Geistige in der Kunst, 1912). Für Mondrian erscheint im Bild eine spirituelle Ordnung, die sich als Kanon mathematischer und farblicher Gesetzmäßigkeiten darstellt. Bei Malewitsch hat diese geistige Ordnung einen sozialutopischen Aspekt, ist sie die Darstellung des Gottesbegriffs als Ikone der vollkommenen Gesellschaft. In keinem Fall ist dabei an „Abbilder" des Geistigen gedacht, so als trete an die Stelle der sichtbaren Gegenstände jetzt das Unsichtbare als Objekt von Kunst. Vielmehr ist das künstlerische Werk ein Ergebnis der Begegnung mit dem unsichtbaren Bereich und Spur, manchmal auch Medium seiner Wirkung. - Das kirchliche Milieu hat die abstrakte Kunst mit einer Verspätung von Jahrzehnten erst nach dem Zweiten Weltkrieg rezipiert, vor allem wegen des Zweifels, ob sie eine spezifisch christliche Thematik zu transportieren vermag. Dann aber ist diese Kunst als wesentlicher Ausdruck spiritueller Erfahrung zur Geltung gekommen: „In unserer Zeit muß man erkennen, daß sich das Sakrale nur in den tiefsten Gründen der Seele erreichen läßt; dort aber vollzieht sich eine Entblößung von allem. Es ist daher natürlich, daß die Werke, die dort entstehen, von allem Vergänglichen völlig gelöst sind" (Regamey 281).

4.3. Zwischen Realismus und Expressionismus. Abstrakte und figurale Malerei sind einander im Hinblick auf die Spiritualität ihres Gehalts nicht über- oder unterlegen. Hinsichtlich spezifisch christlicher Bildgehalte haben realistische und/oder expressive Formen besondere Ausdrucksmöglichkeiten. Tatsächlich hat die abstrakte Kunst die figu-

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rale nicht abgelöst, wie es nach dem Z w e i t e n Weltkrieg vorübergehend opinio c o m m u n i s w a r . Diese steht vielmehr mit fundamentalen Werken für das J a h r h u n d e r t da. Rouault ist in seinem Werk tief von der Gestalt Christi und christlichem Ethos bestimmt. Jedenfalls in Frankreich ist er darin vergleichslos, und sein einsamer Expressionismus, der sich nur am Anfang mit dem Fauves berührt, läßt noch einmal erwägen, ob nicht tatsächlich dem Expressionismus herausragende Möglichkeiten zur Gestaltung christlicher Themen gegeben sind. Im Christusbild vollendet sich die Einheit von Leiden und Würde des Menschen (Kreuzigung, 1918, GraphikFolge Miserere, seit 1914, veröffentlicht 1947, Verspottung Christi, 1932). Bei Dix bricht das biblische Motiv mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zunächst ab. Seine veristischen Huren-, Großstadt-, Kriegsbilder zeigen die absurde Einheit von Lust/Leben und Tod in der Existenz des Menschen. Die Vanitas-Symbolik und die Grünewald/Holbein-Zitate des Triptychons „Der Krieg", 1929, sind jedoch Interpretamente über den Verismus hinaus. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus führt zu zahlreichen Bildern christlicher Thematik, beginnend mit den „Sieben Todsünden", 1933, deren Rang in der Rezeption bis heute verkannt ist. Dix flieht nicht in Landschaft und Bibelbild. Vielmehr versicherte er sich für einen Kampf auf Leben und Tod der abendländischen Bildtradition. Christophorus und der Hl. Lukas (mehrere Fassungen ab 1938) sind buchstäblich Schutzpatrone. Während Lots Töchter in rassistischer Schönmalerei ihren Vater berauschen, brennt im Hintergrund bereits 1939 Dresden. Die biblischen Pastelle, 1946-1948, von glühender Farbigkeit, stehen vergleichslos in der Kunstgeschichte der Nachkriegszeit. Das religiöse Werk läuft aus in parallelen Reihen von Ecce homo-Darstellungen und Selbstbildnissen. Beckmanns Wiederaufnahme biblischer Themata ist schmal, aber bedeutend: Lithographien zur Apokalypse, 1943, welche die Apokalypse der Welt als eine Apokalypse der individuellen Existenz zeichnen, Christus und Pilatus, 1946, Christus in der Vorhölle, 1950. Hauptwerk ist seit 1933 die Folge der Triptychen. Die Bildform knüpft an die mittelalterliche Darstellung der Heilsgeschichte an, die hier allerdings versteckt bleibt, wie sie nach Beckmanns Überzeugung in der Situation der diesseitigen Gefangenschaft des Menschen tatsächlich verdeckt ist. Unter dem Einfluß theosophisch-gnostischen und biblischen Gedankenguts hat er in Bildern dichter Welthaltigkeit für sich religio und reversio gefunden: „Abfahrt, ja, Abfahrt vom trügerischen Schein des Lebens zu den wesentlichen Dingen an sich, die hinter den Erscheinungen stehen. Dies bezieht sich aber letzten Endes auf alle meine Bilder" (Max Beckmann, Die Triptychen, Frankfurt a . M . 1981, 37). Nicht mit einem dogmatischen Bekenntnis verbunden und doch eigentümlich groß ist die Bedeutung der Christusfigur im Werk Chagalls. Golgotha begegnet schon 1912. Die Verfolgung des jüdischen Volkes hat das Thema intensiviert. Die weiße Kreuzigung, 1938, sieht Jesus inmitten der Verfolgung seines Volkes. Daneben hat Chagall auch sich selbst als Künstler in einer Parallele zu Christus gesehen (Der gekreuzigte Maler). Dabei ist die Passion nur ein Aspekt umfassender Vorbildlichkeit oder Brüderlichkeit für das Leben als ganzes. So kommt es zu der im Christentum unbekannten Figur des liebenden und geliebten Christus (Selbstbildnis mit Wanduhr, 1946, Christus vor dem blauen Himmel, 1948/51), mit der Chagall die Ganzheit und den Rang der Liebe ausdrückt, wie sie ihm von den Chassidim überliefert war und sein ganzes Werk geprägt hat. Die Kunst dieser G r o ß e n bestätigt noch einmal, wie wenig die Kunst des 19. und 2 0 . J h . an einer Unterscheidung von profan und sakral interessiert ist. Das hängt zusammen mit ihrer Subjektivität, die das Christliche überhaupt erst da betrifft, w o es in die „ W e l t " , den Menschen usw. eingeht. E s besteht kein Bedürfnis, Christus aus diesem Z u s a m m e n h a n g herauszudestillieren und gleichsam „ r e i n " darzustellen. D a s a u f O n t o togie gehende Interesse der D o g m a t i k ist kein künstlerisches Interesse. Wohl deshalb w u r d e selbst ein so wesentlich auf die Christusverkündigung ausgerichteter Künstler wie R o u a u l t von kirchlichen Aufträgen ausgeschlossen (späte Ausnahme: zwei kleine Fenster in Assy). 5. Die Entwicklung

nach

1945

5.1. USA. Die Nachkriegssituation w a r in den international einflußreichsten Kunstszenen verschieden. In den USA verlief die Entwicklung a m kontinuierlichsten. N i c h t zuletzt unter dem Einfluß europäischer Emigranten ( M o n d r i a n , Albers) entwickelte sich die Kunst des sog. Abstrakten Expressionismus, d a r u n t e r bedeutende Werke religiösen Gehalts. So hat man bei Still von hierarchischer Erhabenheit gesprochen. Auf sehr großen Bildern erscheint von jedem Dingzusammenhang freie Energie (Ohne Titel, 1957). N e w m a n gibt seinen Bildern Titel christlich-jüdischer Bildtradition: Genesis, 1946, Abra-

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Künste, Bildende IV

ham, 1949, Kathedra (Jes 6), 1951, vor allem der 14teilige Kreuzweg, 1958-66. Newmans Bilder erzählen aber nichts. Großflächige Gemälde zeigen senkrecht verlaufende Farbstreifen unterschiedlicher Farbe, Bildung und Plazierung in der Fläche. Newman nennt als Ziel seiner Kunst transzendentale Erfahrung, das Erhabene (sublime) und absolute Betroffenheit (absolute motion). Der Fortgang der Kunstgeschichte seit Kandinsky und Mondrian zeigt sich darin, daß der Künstler das Erhabene nicht im Bild gebannt denkt, sondern durch das Bild die Selbsterfahrung des Betrachters angestoßen wird. Auch im Hinblick auf Rothkos Gemälde hat man von Erhabenheit gesprochen: Vor einfarbigem Hintergrund stehen farbige Rechtecke, horizontal, mit offenen, schwebenden Rändern, suggestive Bilder wie Erscheinungen, „gegenstandslose Ikonen", „Gehalte von mystischer Unfestigkeit" (Schmied 284). Ein spätes Hauptwerk ist die Kapelle von Houston, 1971. Was an dieser abstrakten Spiritualität neu erscheint, gewinnt durch die jüdische Herkunft von Newman und Rothko doch auch eine auf Tradition bezogene Bedeutung. 5.2. England. In England gibt es eine abstrakte Kunst vergleichbaren spirituellen Ranges nicht. Sutherland ist für seine Christusbilder von Dornen ausgegangen, die menschliche Figur ist eher eine Zugabe. Wo er wie beim großen Teppich für die Kathedrale von Coventry solche sinnliche Symbolik aufgibt, erscheint nur ein Verweis auf traditionelle Ikonographie. Bacon ist in seiner Gestaltung des Kreuzigungsthemas dagegen gänzlich unangepaßt. Drei Studien für Figuren an der Basis einer Kreuzigung, 1936 - 4 4 , Fragment einer Kreuzigung, 1950, Triptychon, 1976, sind zentrale Bilder in seinem Gesamtwerk. Sie zeigen in äußerster Zuspitzung, „wie Menschen miteinander umgehen" (Bacon, bei Schmied 195), verkörpern eine äußerste Sensibilität gegenüber dem Leben; Christus als Leidenstypus, weiter führt der Weg nicht. 5.3. Frankreich. In Frankreich steht auch nach dem Krieg die gegenständliche Kunst in Blüte. Zudem gibt es seit Picassos Guernica, 1937, ein überragendes Muster für die Identität einer szenischen Darstellung mit einem Bild betroffener Existenz. Zu Recht hat man darin Einflüsse christlicher Passionsbilder gesehen. Einmalig ist der Versuch, die reale Kluft zwischen Kunst und Kirche zu überbrücken. In den 50er Jahren gelang es der Initiative einer Dominikanergruppe (Couturier, Regamey u.a.), bedeutende, nicht kirchlich gläubige Künstler zur Ausgestaltung von Kirchen zu gewinnen: für Assy ein Bildteppich von Lurçat, ein Kreuz von Richier; für Audincourt wieder Lurçat und Fenster von Leger; in Vence entstand die Kapelle von Matisse; Corbusier baute die Kirche von Ronchamp und das Kloster La Tourette. Richiers Kreuz wurde der Glaubenslosigkeit geziehen. Aber entscheidend dafür, daß der Versuch Episode blieb, ist eher die Fremdheit moderner Kunst im Milieu der Gemeinden gewesen. Es folgt auch in Frankreich nichtfigürliche Kunst, vor allem Bazaine (Kapelle in Audincourt) und Manessier (Allerheiligenkirche Basel). Manessier löst das Problem des Zusammenhangs mit der christlichen Bildtradition durch die Einfügung gegenständlicher Symbole (Dornenkrone, Turm, Sonne u.ä.), arbeitet also nicht allein mit der abstrakten Bildform. Der viel jüngere Klein steht schon jenseits jener Öffnung der französischen Kirche. Vielleicht wären seine monochromen Bilder den Theologen auch zu wenig durchlässig erschienen für ein Absolutes, zu sehr dessen Ort selbst. Denn dies hat er angestrebt: „zu sehen, mit meinen eigenen Augen zu sehen, was das Absolute an Sichtbarem enthielt" (bei Schmied 253). 5.4. Deutschland. Im Deutschland der Nachkriegszeit ist die Fremdheit zwischen Kunst und Kirche groß. Sedlmayrs Streitschrift Verlust der Mitte, 1948, war im kirchlichkonservativen Milieu einflußreich. Darin erscheint die Moderne seit Cézanne als Abfall von einem abendländisch-humanistischen Menschenbild, wird die Ausdrucksmöglichkeit autonomer Formen und Bilder bestritten (anders gesagt: Kunst nicht als Erkenntnis, sondern als Illustration von Erkenntnis). Im kirchlichen Raum überwiegt eine expressive Gegenständlichkeit, wie sie Mataré geübt hat (Türen des Kölner Doms). In den Gemälden und Fenstern Meistermanns begegnen neben expressiven Formen große Klänge gegen-

Künste, Bildende IV

175

standsloser Kunst (St. Alfons, Würzburg; St. Kilian, Schweinfurt; Friedenskirche, Hiroshima). Auffallend sind im deutschsprachigen Raum der Nachkriegsjahrzehnte drei Tatbestände: 1. Das quantitativ riesige Wiederaufbauwerk an Kirchen zeigt in seiner Ausgestaltung wenig Höhepunkte. Einem Expressionismus zweiter Hand folgt eine theologisch motivierte Bildlosigkeit (Undarstellbarkeit des Heiligen innerhalb individualistischer Kunst; die Gemeinde selbst als Bild; Mystik der Leere). 2. In krassem Gegensatz zum ersten Viertel des Jahrhunderts nehmen die wichtigsten Künstler kaum auf christliche Thematik Bezug. 3. Das Ereignis des Zweiten Weltkriegs, die Atombombe und die ihr folgende Veränderung der Weltsituation lassen den Raum Kunst und Christentum unberührt (außer in Sonderfällen wie Berlin-Plötzensee). Die große Ausnahme ist das Werk von Beuys. Nur bei ihm ist das Kreuz-Motiv in allen Phasen seiner Arbeit Zeichen für Verletzlichkeit und Passion (frühe Plastiken, Zeige deine Wunde, 1976/80). Nur bei ihm gibt es eine, freilich anthroposophisch eingefärbte Erlösungschristologie. Vielleicht noch wichtiger ist seine neutestamentliche Ethik (Celtic mit Fußwaschung, 1971, Coyote, 1974) und der radikale Widerspruch gegen die Emanzipation von Technik und Wirtschaft von der Anthropologie. Der Mensch „muß sich ein geistiges Fahrzeug schaffen, womit er einen ganz anderen Standort im Kosmos erreicht" (Beuys, bei Schmied 33). In den Kirchen allerdings hat Beuys den Christusimpuls erloschen gesehen. 6. Die 70er und 80er Jahre des 20.

Jahrhunderts

Die 70er und 80er Jahre des 20. Jh. zeigen eine Situation, die sich abschließender Wertung noch entzieht. Auffallend ist die kulturelle Gespaltenheit der Christen, wie sie die unterschiedliche Rolle der Kunst in den Ausstellungen der evangelischen Kirchentage und in der Mehrzahl der Gemeinden zeigt. Im deutschsprachigen Raum sind Christen und einzelne Theologen wieder verstehende Partner der Künstler geworden. Auch einzelne Künstler sind wieder bereit, ihre Arbeit in christliche Gemeinden hinein wirken zu lassen. Aus Gründen der Wahrnehmung sind die Beispiele dem deutschsprachigen Raum entnommen: Hajek hat kirchliche Räume derart ausgestaltet, daß man, ohne benennbare Symbolik im einzelnen, von begehbaren Plastiken großer Klarheit und Festlichkeit sprechen kann (St. Josef, Bünde). Hrdlicka hat den Zusammenhang der Opfer von Plötzensee mit dem Opfer Christi, aber auch das Licht des Emmaus-Christus auf überzeugende Weise dargestellt und einmal mehr die spezifischen Möglichkeiten des Realismus erwiesen. In Kalinowskis Plastiken, die sich ausdrücklich auf die Christuspassion beziehen, sind Verletzung und Würde eine paradoxe Einheit eingegangen. Rainers „Übermalungen" alter Christusbilder sind auch „Bezeichnungen". Indem vertraute Bilder abgedeckt werden, wird die Frage nach dem gültigen Bild intensiviert und wenigstens im Ansatz durch das verletzende Dunkel des Strichs beantwortet. Graubners Farbraumkörper, den Gemälden Rothkos verwandt in ihrer mystischen Faszination, in ihrer Begrenzung aber genau und still, lassen Farbe eine aus dem Material definierbare Bedeutung übersteigen. Farbigkeit und Temperament kennzeichnen die sog. „wilde" Malerei. Parallelen zum Expressionismus sind sicher vorhanden: das Leben als Thema, seine Festlichkeit, Probleme von Ich und Du. Auch Christusbilder gibt es wieder (Baselitz, Middendorf). Wenn sie weniger intensiv scheinen als im klassischen Expressionismus, mag das am Zustand der christlichen Überlieferung liegen, aus der sie kommen. Es mag auch daher kommen, daß sie nur so, gleichsam angerissen, oder wie im vorübergleitenden Scheinwerferlicht im Lebensrhythmus dieser Zivilisationsstufe stehen. 7.

Zusammenfassung

Bildende Künste und Christentum - die Situation einer Beziehung hängt auch von der Situation der Partner ab. Diese ist nicht zum besten gerade unter den Aspekten, welche die Beziehung begründen. In allen christlichen Kirchen gibt es starke fundamentalistische Strömungen mit Beharren auf formaler Identität. Für die Kunst des 19. und 20. Jh. sind

Kultur

176 a b e r i n d i v i d u e l l e F r e i h e i t u n d Entdeckung

der F o r m konstitutiv. Aber auch der Kunst

g e h t es n i c h t g u t , weil d i e m e d i a l e B i l d ü b e r f l u t u n g w e s e n t l i c h e V o r a u s s e t z u n g e n i h r e r W a h r n e h m u n g v e r n i c h t e t u n d w e i l sie w i e n i e z u v o r W a r e u n d W i r t s c h a f t s f a k t o r g e w o r d e n ist. I h r e B e f ä h i g u n g z u r T r a n s z e n d e n z s c h e i n t a u f g r u n d d e r G e s c h i c h t e d e s 1 9 . / 2 0 . J h . a b e r u n t r e n n b a r v e r b u n d e n m i t i h r e r kritischen

Begleitung der zivilisatorischen Entwick-

l u n g ( K r i t i k d u r c h F o r m ) . D e n n o c h ist d i e B e z i e h u n g K u n s t - C h r i s t e n t u m n i c h t a m E n d e , s o n d e r n vital u n d ü b e r r a s c h e n d e r V a r i a n t e n fähig ( z . B . k o n n t e die A u s w e i t u n g

der

K u n s t g a t t u n g e n h i e r n i c h t z u r S p r a c h e k o m m e n ) . F ü r d i e K u n s t s c h e i n t sie g e r a d e z u ein G r u n d i h r e r B e h a u p t u n g i m z i v i l i s a t o r i s c h e n P r o z e ß z u sein. F ü r d i e K i r c h e n ist d i e G e f a h r d e s V e r l u s t e s v o n K u n s t u n l e u g b a r . A n d e n R ä n d e r n d e r I n s t i t u t i o n e n a b e r ist ihr Einfluß als M e d i u m d e r G l a u b e n s f i n d u n g u n d als A u s d r u c k v o n G l a u b e n b e d e u t e n d . Literatur G ü n t h e r B a n d m a n n , Kirchl. Kunst im 19. u. 2 0 . J h . : H K G ( J ) V I / 2 (1973) 2 9 7 - 3 1 5 (Lit.). H e r m a n n Beenken, D a s 19. J h . in der dt. Kunst, M ü n c h e n 1944. - Fritz Burger, Einf. in die moderne Kunst, 1917 ( H K W ) . - Klaus D ö h m e r , In welchem Style sollen wir bauen? Architekturtheorie zw. Klassizismus u. Jugendstil, M ü n c h e n 1976. - Friedrich W i l h e l m Fischer, Geheimlehren u. moderne Kunst: Fin de siècle. Z u Lit. u. Kunst der J a h r h u n d e r t w e n d e , hg. v. R o g e r B a u e r , Frankfurt 1977 (Stud. zur Phil. u. Lit. des 19. J h . ) , 3 4 4 - 3 7 7 . - Franz J o s e p h van der G r i n t e n / F r i e d h e l m M e n n e k e s , M e n s c h e n b i l d - Christusbild. Auseinandersetzung mit einem T h e m a der Gegenwartskunst, Stuttgart 1984. - H a n s Carl v. H a e b l e r , D a s Bild in der ev. K i r c h e , Berlin 1957. - Gustav Friedrich H a r t l a u b , Kunst u. Religion. Ein Versuch über die M ö g l i c h k e i t neuer rel. Kunst, Leipzig 1919. G e o r g Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I — III, F r a n k f u r t 1970 (Suhrkamps Werkausg. 1 3 - 1 5 ) . - W e r n e r H o f m a n n , D a s Irdische Paradies. M o t i v e u. Ideen des 19. J h . , M ü n c h e n 2 1 9 7 4 . - Dieter J ä h n i g , Hegel u. die T h e s e vom „Verlust der M i t t e " : Spengler-Stud. F G M a n f r e d Schröter, hg. v. Anton M i r k o Kektanek, M ü n c h c n 1 9 6 5 , 1 4 7 - 1 7 6 . - Klaus Lankheit, Vision, Wundererscheinung u. Wundertat in der christl. Kunst: Triviale Z o n e n in der rel. Kunst des 19. J h . , F r a n k furt 1971 (Stud. zur Phil. u. Lit. des 19. J h . ) , 7 6 - 1 0 1 . - Desiderius Lenz, Z u r Ästhetik der Beuroner Schule, Wien o . J . 4 1 9 1 2 . - Luther u. die Folgen für die Kunst. H a m b u r g e r Kunsthalle 1 1 . 1 1 . 8 3 - 8 . 1 . 8 4 , hg. v. Werner H o f m a n n , M ü n c h e n 1983. - W i l h e l m M o r g n e r , Bibl. T h e m e n (Kat. M u s e u m Abtei Liesborn), Wadersloh 1985. - R i c h a r d M u t h e r , G e s c h . der Malerei im 19. J h . , 3 Bde., M ü n c h e n 1 8 9 3 - 1 8 9 4 . - Pie R a y m o n a R e g a m e y , L ' a r t sacré au X X e siècle, Paris 1953; dt.: Kirche u. Kunst im 20. J h . , G r a z / W i e n / K ö l n 1954. - August Reichensperger, Vermischte Sehr, über christl. Kunst, Leipzig 1856. - G ü n t e r R o m b o l d , D e r Streit um das Bild. Z u m Verhältnis v. moderner Kunst u. Religion, Stuttgart 1988. - D e r s . / H o r s t Schwebel, Christus in der Kunst des 2 0 . J h . , F r e i b u r g / B a s e l / W i e n 1983. - R o b e r t R o s e n b l u m , M o d e r n Painting and the Northern R o m a n d e T r a d i t i o n . Friedrich to R o t h k o , L o n d o n 1975; dt.: Die m o d e r n e Malerei u. die Tradition der R o m a n tik, M ü n c h e n 1 9 8 1 . - H e r b e r t Schade, Gestaltloses Christentum? Perspektiven zum T h e m a Kirche u. Kunst, 1971 ( C i W 15,1 a / b ) . - Friedrich W i l h e l m J o s e f Schelling, Phil, der Kunst: G W , hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg, V 1859 = D a r m s t a d t 1976, 3 5 8 - 7 3 6 . - Wieland Schmied (Hg.), Zeichen des G l a u b e n s - Geist der Avantgarde. R e l . Tendenzen in der Kunst des 2 0 . J h . (Kat. Berlin 1980), Stuttgart 1980. - J . A d o l f S c h m o l l gen. Eisenwerth, Z u r Christus-Darst. um 1900: Fin de siècle ( s . o . Fischer), 4 0 3 - 4 2 0 . - H a n s Sedlmayr, Verlust der M i t t e , Salzburg 1948. Harald Siebenmorgen, Die Anfänge der „ B e u r o n e r K u n s t s c h u l e " . Peter Lenz u. J a k o b Wüger 1 8 5 0 - 1 8 7 5 . Ein Beitr. zur Genese der F o r m a b s t r a k t i o n in der M o d e r n e , Sigmaringen 1983 (Bodensee-Bibliothek 2 7 ) . - Adolf S m i t m a n s , Die christl. M a l e r e i im Ausgang des 19. J h . . T h e o r i e u. Kritik, St. Augustin 1 9 8 0 (Kölner Forschungen zu Kunst u. Altertum 2). - T h e Spiritual in Art. Abstract Painting 1 8 9 0 - 1 9 8 5 , hg. v. M a u r i c e T u c h m a n n , L o s Angeles 1986; dt.: D a s Geistige in der Kunst. Abstrakte M a l e r e i 1 8 9 0 - 1 9 8 5 , Stuttgart 1988. - Stephan Waetzoldt, Bemerkungen zur christl.-rel. M a l e r e i in der zweiten H ä l f t e des 19. J h . : Triviale Z o n e n in der rel. Kunst des 19. J h . , Frankfurt 1971 (Stud. zur Phil. u. Lit. des 19. J h . 15), 3 6 - 4 9 . Adolf Smitmans Küster

Kirchliche Berufe

Kultgeschichtliche M e t h o d e

-»Bibelwissenschaft

Kultur I. P h i l o s o p h i s c h II. T h e o l o g i e g e s c h i c h t l i c h

177 187

177

Kultur I I. Philosophisch

1. Etymologische und mythologische Voraussetzungen für das moderne Begriffsfeld „Kultur" 2. Das Begriffsfeld „Kultur" 2.1. Der anthropologische Kulturbegriff 2.2. Der normative Kulturbegriff 2.2.1. Kultur als Fortschrittsideal 2.2.2. „Kultur" und „Zivilisation" 2.2.3. Kulturkritik 2.3. Der historisch-morphologische Kulturbegriff 2.3.1. Die organologische Kulturzyklentheorie 2.3.2. Deskriptives Fremdverständnis und emotives Selbstverständnis einer Kultur 2.3.3. Die Einheit einer Kultur (Kultur, Sprache, objektiver Geist) 2.4. Kultur als Teilsystem der Gesellschaft 2.4.1. Probleme der Abgrenzung im begriffsgeschichtlichen Kontext 2.4.2. Kultur als kritisches Potential (Literatur S. 186)

1. Etymologische „Kultur"

und mythologische

Voraussetzungen

für das moderne

Begriffsfeld

Das Wort Kultur ist abgeleitet von lat. colere (bebauen, pflegen, schmücken etc.). Der ursprüngliche Sinn des landwirtschaftlichen Kultivierens und Züchtens hat sich bis heute erhalten und findet sich das ganze 19. Jh. hindurch in deutsch-sprachigen Lexika als (bisweilen eigentliche) Bedeutung des Wortes verzeichnet. Doch spricht schon Cicero von cultura animi (Tusc. disp. 11,5), ein Topos, der in der -»Renaissance wieder aufgenommen wird. So gehört zum ursprünglichen Anschauungsschema das „Hegen und Pflegen" im wörtlichen und übertragenen Sinn. Unabhängig davon, ob „Kultur" explizit der -•„Natur" gegenübergestellt wird oder nicht, ist Kultur ein Korrelatbegriff zu Natur als dem Natürlichen-Rohen, Ungeformten, Wilden und Unedlen. Das „Pflegen" setzt dabei das „Hegen" immer voraus, denn nur innerhalb eines geschützten Bezirks kann etwas der Wildform des Lebens entzogen und in die „Zucht" genommen werden. Das Bewußtsein des notwendigen Ausschlusses des Unkultivierten oder Unkultivierbaren drückt sich sprachlich in vielfältigen Formen polarer Gegensätze aus, in denen das ungezähmt Natürliche („Ungeziefer", „Unkraut" etc.) in der negativ-pejorativen Form repräsentiert wird. Ethnozentrische Kategorien, wie Barbar, Heide, Ungläubiger, oder die zahllosen pejorativ gebrauchten Bezeichnungen für Nachbarn und Feinde schreiben solche Ausgrenzungen fort, in denen das Fremde den identitätsfördernden Außenhalt für die auf eine bestimmte Kultur (Sprache, Religion, Sitten und Brauchtum etc.) eingeschworenc Gesellschaft abgibt. Doch enthält das ursprüngliche Anschauungsschema auch das Element der expansiv-aggressiven Domestizierung und Anverwandlung von „Wildnis". Nur wenige Kulturen haben dem Drang zur „Kultivierung" ihres Umfeldes widerstanden. Das Bewußtsein des gebrochenen Verhältnisses zur Natur ist im europäischen Kulturkreis vor allem durch zwei Mythen überliefert: Paradieses-Mythe und Prometheus-Sage. In beiden Fällen wird der frevelhafte Abfall von einer „natürlichen", gottgewollten Ordnung thematisiert. Durch das Essen vom Baum der Erkenntnis geht die Menschheit ihres unschuldig-harmonischen Einklangs mit der paradiesischen Welt verloren und muß sich unter dem Fluch Gottes auf dem Acker, der Dornen und Disteln trägt, mit Kummer ernähren (Gen 3). Der Garten, in dem der Fluch nicht gilt, wird zum Gegenstand der Menschheitssehnsucht, und der Topos vom wiederzugewinnenden Paradies zum Grundschema aller zyklisch ausgerichteten Geschichtsbilder bis hin zu -»Schiller und -»Fichte. In der von -»Plato im Protagoras erzählten Prometheus-Mythe (Prot. 320 c 8 ff) sind es die durch Frevel zur Technik gelangten Menschen, denen Zeus schließlich durch Hermes die bürgerlichen Tugenden „Scham und Recht" bringen läßt, um ihr Uberleben im Frieden der Polis zu gewährleisten. Hier vollzieht sich der einlinige Fortschritt von der bedürftigen Natur des Mängelwesens Mensch zur Kunst der technischen Lebensbewältigung und schließlich zum Erwerb sozialer Tugenden für ein durch Besonnenheit geregeltes Zusammenleben. Der Sehnsucht nach dem Glück in einem wiederzugewinnenden Paradies steht hier der Glaube an den Fortschritt als Zunahme an Einsicht in die technischen und sozialen Erfordernisse gegenüber. In beiden Fällen jedoch, in der Erlösungssehnsucht und im Fortschrittsglauben, steht am Anfang das Bewußtsein vom Durchbrechen einer natürlich-göttlichen Ordnung.

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Kultur I

Man wird in den verschiedenen Begriffen von Kultur überall auf Spuren dieser sprachund begriffsgeschichtlichen sowie mythologischen Wurzeln stoßen, die Ausdruck des Wissens um die „natürliche Künstlichkeit" (Plessner) des Menschen sind. Dies gilt — freilich in verschiedenem Maße - auch für die im folgenden behandelten Begriffe von Kultur, die deshalb nicht in scharf abgrenzender Systematik vorgeführt, sondern als Feld von ineinander übergehenden Aspekten durchlaufen werden. 2. Das Begriffsfeld „Kultur" 2.1. Der anthropologische Kulturbegriff Als anthropologisch im weitesten Sinn kann jede Rede von Kultur gelten, da es sich bei jeder kulturellen Leistung eo ipso um eine über die „natürlichen" Daseinsbedingungen des -»Menschen hinausgehende, ihn in seinem Wesen partiell kennzeichnende und zugleich die Vielfalt menschlicher Möglichkeiten zum Ausdruck bringende Errungenschaft handelt. Im engeren Sinn anthropologisch zu nennen sind Ansätze, wie sie etwa durch W. -•Diltheys Diktum charakterisiert sind: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte" (W. Dilthey, GS VIII, 226). In diesem Sinn sieht Plessner den Menschen als „Schöpfer und die produktive,Stelle' des Hervorgangs einer Kultur" (H. Plessner, GS V, 149) und versteht Kunst, Wissenschaft, Religion, Politik etc. als Medien einer anthropologischen Erkenntnis, indem „die Philosophie sie je zu ihrem Organon machen" kann (ebd. 142). Das damit verbundene „Prinzip der Unergründlichkeit oder der offenen Frage" (ebd. 175) kann, wie O.F. Bollnow gezeigt hat, als „anthropologische Betrachtungsweise" auf jedes Kulturgebiet, z.B. die Pädagogik, angewandt werden (O.F. Bollnow, Die anthropologische Betrachtungsweise in der Pädagogik, 1968). Eine so orientierte „Kulturanthropologie" (nicht zu verwechseln mit der ethnologisch ausgerichteten cultural anthropology!) kommt schließlich zur Anerkennung eines Wechselverhältnisses, das den Menschen nicht nur als Schöpfer, sondern zugleich als Geschöpf der Kultur sichtbar macht (M. Landmann). Während es sich bei den geschilderten Ansätzen um eine Erneuerung der alten Frage „Was ist der Mensch?" im Blick auf die von ihm geschaffene Welt handelt, hat die Kulturtheorie A. Gehlens ihre Wurzeln im Mensch-Tier-Vergleich, wie er die philosophische Anthropologie seit Uexküll und Scheler bestimmte. Die von -»Scheler postulierte „Weltoffenheit" des Menschen, d . h . die jede artspezifische und individuelle „Umweltgebundenheit" überwindende Fähigkeit zur freien Vergegenständlichung von Welt (M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928), wurde von Gehlen primär als biologische Instabilität aufgefaßt. Gehlen modifiziert damit den von -»Herder erneuerten Gedanken des Protagoras, daß der Mensch im Vergleich zu den Tieren in seiner Instinkt- und Organausstattung mangelhaft ausgerüstet ist und der Selbsthilfe bedarf. Herder hatte beide Seiten betont: „Das instinktlose, elende Geschöpf, das so verlassen aus den Händen der Natur kam, war auch vom ersten Augenblick an das freitätige, vernünftige Geschöpf, das sich selbst helfen sollte und nicht anders, als es konnte" (J.G. Herder, SW V, 94). So entsteht für Herder die -»Sprache, - aus „dringenden Anlässen" zwar, aber doch als freie Tat eines mit „Besonnenheit" ausgestatteten (und damit doch nur scheinbar als Mängelwesen sich erweisenden) Geschöpfes. Für diese Ursprungssituation der Kultur macht Gehlen sehr viel stärker die biologische Zwangssituation eines „von Natur aus auf Kultur angewiesenen" Lebewesens verantwortlich. „Weltoffenheit" bedeutet für ihn Belastung, Reizüberflutung, d. h. Ausgesetzt-sein in ein Überraschungsfeld nicht artspezifisch gefilterter Reize und Herausforderungen. Die Unspezialisiertheit des Menschen verlangt „Entlastung" durch Handlung im Sinne „produktiver Akte der Bewältigung der Mängelbelastung" (A. Gehlen 37). Die so ins Lebensdienliche anverwandelte Natur ist die Kultur: „An genau der Stelle, wo beim Tier die ,Umwelt' steht, steht daher beim Menschen die Kulturwelt" (a. a. 0 . 3 8 ) . Kultur ist „zweite N a t u r " (ebd.). Im symbolisch vermittelten Umgang mit Welt, in Sprache zumal, und in den Entlastung und Führung gewährenden Institutionen baut sie sich auf. Wenn Gehlen gelegentlich seinen Ansatz auch „kulturan-

Kultur I

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thropologisch" (a. a. O. 139) nennt, so bedeutet dies wiederum nicht cultural anthropology, aber auch nicht die von den Kulturleistungen her beantwortete Frage nach den Möglichkeiten des Menschen im Sinne einer offenen Wesensaussage, sondern die „anthropobiologisch" fundierte Bestimmung des Menschen als handelndes Wesen. Der Mensch als das „nicht festgestellte Tier" (Nietzsche, Werke, 6. Abtl. II, 79) macht sich durch die Kultur zu dem, was er ist. Wenn Gehlen in diesem Zusammenhang feststellt: „Selbstzucht, Erziehung, Züchtung als In-Form-Kommen und In-Form-Bleiben gehört zu den Existenzbedingungen eines nicht festgestellten Wesens", und wenn er den Menschen als ein „Wesen der Z u c h t " bezeichnet (a. a. 0 . 3 2 ) , so ist damit die Verzahnung des deskriptiv-anthropologischen mit dem normativen Kulturbegriff gegeben. 2.2. Der normative

Kulturbegriff

2.2.1. Kultur als Fortschrittsideal. Die Fortwirkung des ursprünglichen Bedeutungsfeldes von colere zeigt sich vor allem dort, wo in der Renaissance und der beginnenden Aufklärung der Topos der cultura atiimi neu aufgegriffen wird. Die Übertragung des „Hegens und Pflegens" auf den Menschen selbst wird nun in dem Sinne verabsolutiert, daß cultura zum Inbegriff dessen werden kann, was als Resultat des Strebens zu einer höheren Existenzform zu gelten hat. Samuel -»Pufendorf hat in seiner Schrift Eris Scandica (1686) den - nunmehr ohne Genitivattribut gebrauchten - Kulturbegriff als erster dem status naturalis gegenübergestellt (vgl. E. Hirsch 399). Damit waren die Voraussetzungen für den modernen Kulturbegriff geschaffen, und zwar sowohl in seinem normativen Gehalt als auch in seiner Ambivalenz, die darin begründet ist, d a ß der Gegenbegriff status naturalis je nach Perspektive der Betrachtung seinerseits zur N o r m erhoben und gegen die Künstlichkeit der vom Menschen geschaffenen Verhältnisse ausgespielt werden kann. Das Grundschema der Aufklärung jedoch, wie es etwa -»Kant in seinem Aufsatz Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte skizziert hat, ist der Weg „aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit" (Akad.-Ausg. VIII, 115), und der Naturstand des Menschen ist der des bloßen Instinkts, der Rohigkeit und Einfalt, die es zu kultivieren gilt. „Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Kultur. Also kann nur die Kultur der letzte Zweck sein, den man der N a t u r in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache h a t " (Kr.d. Urteilskraft §83). In ähnlichem Sinn sagt Fichte: „Die Sinnlichkeit soll cultiviert werden: das ist das höchste und letzte, was sich mit ihr vornehmen läßt." Kultur bedeutet für ihn die Erwerbung einer „Geschicklichkeit" in der Durchsetzung der Selbstbestimmung des Menschen gegenüber der eigenen Natur und den Dingen um ihn her (Bestimmung d. Gelehrten I. Vorl.: SW VI, 299). Während in Formulierungen wie „Hervorbringung" und „Erwerbung" das prozessual-funktionale Element der „Kultivierung" noch dominiert und das Genitivattribut (Natur) im Begriff der Kultur gleichsam noch immer mitschwingt, verselbständigt sich der Begriff in der Wende vom 18. zum 19. Jh. mehr und mehr im Sinne der Bezeichnung für einen \de,z\zustand sowohl des Individuums als auch ganzer Völker und Gesellschaften. Hierbei spielt das Postulat der Selbstverwirklichung und das stark ästhetisch bestimmte Ideal der Totalität und Einheit aller Lebensformen eine besondere Rolle: „Kultur" wird zum Namen für die Norm des mit sich selbst und seinen Daseinsbedingungen in Einklang stehenden Menschen. Der neuplatonisch beeinflußte Bildungsbegriff der deutschen -•Klassik wirkt sich hierbei besonders aus. Die ursprüngliche Natur des Menschen soll nicht mehr gezähmt und überwunden, sondern zur Entfaltung der in ihr liegenden Möglichkeiten gebracht werden. Schillers Ideal der Versöhnung von N a t u r und Vernunft verlangt, daß der Mensch „mit der höchsten Fülle von Dasein die höchste Selbständigkeit und Freiheit verbinde" (Briefe zur ästhetischen Erziehung, Säk. Ausg. XII, 48). Noch zu Beginn dieses Jahrhunderts wird dieser Immanenzgedanke emphatisch ausgesprochen, wenn etwa G. Simmel die Kultur als „Weg der Seele zu sich selbst", als „Vollendung ihrer

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Totalität" bezeichnet. Höchstes Ideal einer solchen individuellen Kultur ist die Herstellung einer Einheit, „die in sich geschlossen und deshalb ein selbstgenugsames Ganzes" sein soll, freilich unter Einbeziehung objektiver Gehalte, „an denen das Ich diese Organisation zu einer eigenen einheitlichen Welt vollziehen soll" (Philosophische Kultur 236ff). In ähnlicher Weise hatte -»Nietzsche als Kriterium für die Kultur eines Volkes die „Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen" (Nietzsche, Werke, 3. Abt., I, 159) genannt. Nimmt man in diesem Zusammenhang Herders Wort, die Kultur eines Volkes sei „die Blüte seines Daseins" (VII, 147), so wird durch die organologische Metapher des pflanzlichen Wachstums die Grenze des normativen Anspruchs deutlich: Kultur als Inbegriff einer alles durchdringenden Einheit und Totalität unterliegt dem Gesetz alles Lebendigen, zu wachsen und abzusterben. Diese Einsicht ist schon in ältesten Zeiten durch Vergleiche nicht nur mit Blühen und Welken, sondern vor allem mit den Lebensaltern ausgedrückt worden. Das einlinige Schema der allmählichen Kultivierung, wie es die -•Aufklärung vertreten hatte, wird jeweils dort durch ein zyklisches Schema verdrängt, wo kulturelle Blüte als ein konkretes, in räumlicher und zeitlicher Begrenztheit erscheinendes, historisches Phänomen in den Blick kommt. Das Studium von Verfallszeiten und die Frage nach dem Lebensgesetz der Völker (Vico, -»Montesquieu etc.) dürfte der entscheidende Faktor für die Entstehung des historischen Bewußtseins und damit für einen neuen Kulturbegriff gewesen sein. In diesem Zusammenhang wird - freilich erst nach 1800 - das Wort „Kultur" im Plural gebraucht. 2.2.2. „Kultur" und „Zivilisation". Eine besondere Komplexität des normativen Kulturbegriffs besteht in der Ausdifferenzierung in zwei auch sprachlich unterschiedene Konzeptionen. Während im deutschen Sprachraum das Wort „Kultur" sich, wie gezeigt wurde, aufs engste mit dem Bildungsideal der deutschen Klassik und des -» Neuhumanismus verband, gelangte in Westeuropa, zuerst in Frankreich (Turgot, Mirabeau), das Wort Civilisation zur Rolle eines Schlüsselbegriffs im Selbstverständnis der aufsteigenden Weltund Kolonialmächte. Beide Konzeptionen sind in hohem Maße eurozentristisch verfaßt, wenn auch in extrem verschiedener Weise: Während der westeuropäische Zivilisationsbegriff den Macht- und Missionsanspruch des „gesitteten" (civilized) Europa ausdrückt und damit zum ideologischen Grundbestand des jungen -»Imperialismus gehört, bezieht sich der normative Anspruch des sich mit den Idealen der Bildung und Freiheit verbindenden Kulturbegriffs auf das Postulat einer europäischen -»Humanität, wie es vor allem Herder in seiner Geschichtsphilosophie entwickelt hat. Zur deutschen Sonderentwicklung dieser Differenzierung gehört die - schon bei Kant und G.E. Schulze auftretende, sich aber erst gegen Ende des 19. Jh. voll etablierende Abgrenzung der Begriffe Kultur und Zivilisation im Sinne einer Antithese. Kant unterschied die „bloße" Zivilisierung (als das „Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit") von der „inneren Bildung der Denkungsart" als Voraussetzung einer echten Moralisierung, die über die Kultivierung und Zivilisierung noch hinausführen soll (Akad. Ausg. VIII, 26). War damit das dichotomische Schema „innere Kultur vs. äußere Zivilisation" zwar terminologisch noch nicht festgeschrieben, so hat hier doch der Topos von der „bloßen" Zivilisation gegenüber dem normativen Anspruch der „eigentlichen" Kultur seine Wurzeln. Diese Antithese erfuhr eine Verschärfung (und schließlich Pervertierung) durch den zuerst im Deutschen Idealismus formulierten Anspruch auf eine Sonderstellung der deutschen Kultur im Wettbewerb der europäischen Nationen. Hier hat dann -»Schopenhauer, obgleich er weder mit dem Kulturbegriff noch mit jener Antithese operierte, dadurch systematische Voraussetzungen geschaffen, daß er eine der Alltagspraxis und der Wissenschaft zugängliche Oberflächenwelt von der metaphysischen, vor allem in der Musik unmittelbar erreichbaren Tiefenwelt unterschied. Auf dieser Basis konnte etwa Richard Wagner in der deutschen Musik (Beethoven) den reformatorischen Protest gegen jede „romanische" Veräußerlichung und Formalisierung der Kultur sehen (R. Wagner, GS u.

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Dichtungen IX,61 ff). Sein Aufsatz Kunst und Klima (1850; III, 215) enthält eine der frühesten (und noch nicht von Schopenhauer beeinflußten) Gegenüberstellungen von „Kultur" und „Zivilisation", allerdings noch nicht im Sinne jener deutschen Kulturideologie, die schließlich durch H. St. Chamberlain eine rassistische Variante und Radikalisierung erhielt, die sie zum Grundbestand der NS-Ideologie werden ließ. - In der deutschen Kulturphilosophie nach 1900 blieb es bei der eher harmlosen Entgegensetzung von geistiger Kultur und technisch-materieller Zivilisation (K. Joel, Th. Lessing, W. Stern, M . Wundt, L. Ziegler u. a.). Am nachhaltigsten gewirkt hat Spenglers Verwendung der Antithese in seinem kulturmorphologischen Ansatz, demzufolge die Zivilisation die Alterungsform jeder einzelnen Kultur darstellt (s.u.). 2.2.3. Kulturkritik. Die Virulenz des Gegensatzes zwischen Kultur und Zivilisation ergibt sich zum Teil dadurch, daß diese Konzeption sich mit einer wesentlich älteren Tradition verbinden kann, die im allgemeinen als Kulturkritik bezeichnet wird. Diese speist sich aus einem zu allen Zeiten latenten Bedürfnis nach Ursprünglichkeit und Unschuld, das sich immer wieder in regressiver Hinwendung zu vermeintlich goldenen Zeiten der Simplizität und Harmonie ausdrückt. Als Vater der neuzeitlichen Kulturkritik gilt -•Rousseau, dessen Ideal einer Natürlichkeit und Naturnähe nichts zu tun hat mit jener rohen, erst noch zu kultivierenden Natur, wie sie Implikat des normativen Kulturbegriffs ist. Es geht ihm durchaus um eine Art der Kultur, nämlich um die „gesunde" Schlichtheit primär ländlich-archaischer Lebensformen, die nun zur Gegen-Norm des aufklärerischen Zivilisationsideals erhoben wird und in der Folge „Natur" heißt. Der Protest gegen eine etablierte, als bedrohlich empfundene Rationalität wiederholt sich in den verschiedensten Formen irrationalistischer Bewegungen, so im -»Sturm und Drang, in Einzelgängern, wie H. Thoreau oder L. -»Tolstoi, in der Kulturkritik des jungen Nietzsche, in der -»Lebensphilosophie von Bergson und Klages, in Einzelzügen der -»Existenzphilosophie und schließlich weltweit auf dem „romantisch"-anarchistischen Flügel der Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre. Das Verhältnis dieser Kulturkritik zu einer mit konkreten Utopien und Reform- bzw. Revolutionsstrategien operierenden Gesellschaftskritik ist nicht immer leicht zu bestimmen. Gemeinsam ist mindestens der Gedanke der (Selbst-)Entfremdung des Menschen durch eine immer totaler werdende Durchrationalisierung der Welt. Die nachhaltigste Problematisierung des normativen Anspruchs der Kultur ist von Sigmund -»Freuds Analyse des „Unbehagens in der Kultur" ausgegangen (S. Freud, GW, XIV, 419ff). Gerade dadurch, daß Freud nicht einfach im Namen der „mächtigen Triebe" Kritik am repressiven Charakter der Kultur übte, sondern Triebverzicht und Sublimierungszwang als notwendige Voraussetzungen von Kultur darstellte und das Schuldgefühl als Preis für eine vom Uber-Ich auferlegte, Kultur ermöglichende und stabilisierende Verzichtsethik hinzunehmen schien, forderte er diejenigen heraus, die zwar den Sublimierungscharakter der Kultur bejahten, ihn aber nicht um den Preis individueller und kollektiver Neurosen zu akzeptieren bereit waren. So haben Herbert Marcuse und Erich Fromm, wenn auch mit sehr verschiedener Akzentsetzung, die konservative Affirmation des Leistungsprinzips in Freuds Kulturtheorie kritisiert und ihren Zusammenhang mit dem Geist des Kapitalismus betont. Marcuse versuchte nachzuweisen, „daß die von Freud aufgestellte Wechselbeziehung ,Triebverdrängung - sozial nützliche mühselige Arbeit - Kultur' sinnvoll in die Beziehung .Triebbefreiung - sozial nützliche Arbeit - Kultur' umgestaltet werden kann" (H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft 154). Auf der Suche nach neuen, nicht-verdrängenden Formen der Sublimierung, die aus einer Erweiterung der Libido resultieren sollen, gab er mit dem von A.N. -»Whitehead entlehnten Begriff der „Großen Weigerung" das Stichwort für die Protest-Generation der sechziger Jahre. Demgegenüber hat Fromm mit seinen Analysen einer „kranken Gesellschaft" und dem neuen Ideal der „Fähigkeit zu lieben und schöpferisch tätig zu sein" (E. Fromm 194) wieder stärker auf Motive einer rousseauistischen Kulturkritik zurückgegriffen.

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2.3. Der historisch-morphologische Kulturbegriff 2.3.1. Die organologische Kulturzyklentheorie. War bisher in teils anthropologischer, teils normativer Bedeutung von ,der' Kultur die Rede, die es von ,der' Natur, schließlich sogar von ,der' Zivilisation abzugrenzen galt, so richtet sich mit dem historisch-morphologischen Kulturbegriff der Blick auf die Vielzahl einzelner Kulturen. Auf die innere Logik jeder organologischen Metaphorik ist schon hingewiesen worden, der zufolge die „Blüte" im Dasein eines Volkes einen Höhepunkt seiner Entwicklung darstellt, dem Niedergang und Verfall folgen müssen. Eine wissenschaftliche Bearbeitung dieses Problems versuchte als erster Giambattista Vico, der in seiner Scienza Nuova (1725), von der „gemeinschaftlichen Natur der Völker" ausgehend, das allgemeine Gesetz ihres Lebensrhythmus zu finden suchte und dabei mit der Analogie der menschlichen Altersstufen operierte. Ein solcher geschichtsphilosophischer Ansatz setzt die Einheit und Individualität der Träger der organologisch gedachten Entwicklung voraus, also der .Völker' oder ,Nationen'. Hier vollzog sich im Laufe des 19. Jh. ein begrifflicher Wandel, indem der Begriff „Kultur" (oder, hier austauschbar, „Zivilisation") an die Stelle von -»„Volk" oder „Nation" treten und dementsprechend eine Mehrheit von „Kulturen" bezeichnen konnte. Mit dieser begriffsgeschichtlich bedeutsamen Neuerung ist der normative Anspruch in der Rede von „der" Kultur, verstanden als Resultat bzw. Ziel des Fortschritts der Menschheit, teilweise aufgegeben zugunsten der deskriptiven Erfassung des Gestalthaft-Individuellen einzelner Kulturen und ihrer Schicksale. Die Kulturen werden zu Quasi-Subjekten der Geschichte und relativieren in ihrer Pluralität den Sinn jedes einlinig gedachten geschichtlichen Prozesses. Konsequenzen aus dieser bis in die vor-antike Mythologie zurückreichenden, zyklischen Geschichtsauffassung wurden in der von Herder beeinflußten „Kulturkreis"- bzw. „Kulturzyklentheorie" gezogen, die um die Mitte des 19. Jh. in Deutschland (Ernst von Lasaulx) und Rußland (Nikolaj Danilewskij) hervortrat und in den Kulturtheorien von Leo Frobenius, Oswald Spengler und Arnold Toynbee kulminierte. Während Toynbec jedoch jeden biologistischen Determinismus ablehnte und im Leben der einzelnen Kulturen das offene System des Wechsels von „Challenge and Response" betonte, haben Frobenius und Spengler eine extrem geschichtsmetaphysische Ausdeutung des organologischen Wachstums- und Verfallsschemas vorgenommen und im Lebenszyklus der Kulturen die Unentrinnbarkeit des Absterbens („Untergang des Abendlandes") betont. Für Spengler waren Begriffe wie Jugend, Aufstieg, Blütezeit, Verfall nicht Ausdrücke subjektiver Wertschätzungen, sondern „objektive Bezeichnungen organischer Zustände". Er sah in der Geschichte „das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schöße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, [...] von denen jede ihre eigene Idee, ihre eigenen Leidenschaften, ihr eigenes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eigenen Tod hat" (O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes 1,27 f). Für eine vergleichende Kulturmorphologie dieser Art ergeben sich „Gleichzeitigkeiten" zwischen den einzelnen Kulturen im Sinne von Entsprechungen der Stufen ihrer Entwicklung. Die durchgängigste dieser Entsprechungen ist der jeder Kultur naturgesetzlich vorbestimmte Eintritt in das „Greisenalter" im Sinne des Absterbens der kreativen Möglichkeiten, also der Eintritt in die Phase der Zivilisation. „Kultur" und „Zivilisation" sind „als Ausdrücke für ein strenges und notwendiges organisches Nacheinander gefaßt. Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur" (a.a.O. 41). 2.3.2. Deskriptives Fremdverständnis und emotives Selbstverständnis einer Kultur. Unabhängig von den extremen Positionen einer solchermaßen organizistisch orientierten Kulturmorphologie ist der historisch-morphologische Kulturbegriff leitend für jede Beschäftigung mit Kultur, sofern unter Kultur in einem allgemeinen Sinn „die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, insbesondere der Wert-Einstellungen" verstanden wird (Wilhelm E. Mühl-

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mann 598). Zu den „typischen Lebensformen" werden ausdrücklich gezählt „auch die technischen Grundlagen des Daseins samt ihren materiellen Substraten (Kleidung, Obdach, 'Werkzeuge und Geräte usw.) und dem gestalteten Naturraum als .Kulturlandschaft' " . Während sich in der Kulturmorphologie Spenglers der normative Kulturbegriff noch in der Weise erhalten hatte, daß unter „Kultur" nicht nur das morphologisch abgrenzbare, quasi-organische Gebilde in seiner geschichtlich-physiognomischen Individualität, sondern auch und gerade das jeweilige Stadium höchster Kreativität zu verstehen war, wird in der gegenwärtigen Erforschung einzelner Kulturen auf Wertungen dieser Art durchweg verzichtet. Der Kulturbegriff ist damit in einem doppelten Sinn rein deskriptiv geworden: Er bezeichnet sowohl die Gesamtheit aller Lebensformen, d . h . „alles, was es an menschlich Erschaffenem auf der Erde gibt" (Mühlmann), als auch die jeweilige Bündelung der für eine Bevölkerung typischen Lebensformen. Dies bedeutet ferner, daß für die Erforschung einzelner Kulturen weder sog. Hochkulturen noch europäische oder andere ethnozentrische Normen einen Bewertungsmaßstab abgeben müßten. Das einzige normative Element in diesem Kulturbegriff liegt darin, daß für die Abgrenzung einer einzelnen Kultur eine gewisse morphologische Kohärenz der Objektivationen vorausgesetzt werden muß, d. h. eine Art von „Kulturstil", der jedoch nicht unter der von Nietzsche gesetzten, hohen N o r m der „Einheit des künstlerischen Stils" steht. Diese deskriptive Neutralität in der Charakterisierung einer Kultur von außen gilt jedoch nicht für das Selbstverständnis der Betroffenen. Der ständig wachsende Anspruch auf „kulturelle Autonomie", die sich inhaltlich auf das breite Spektrum zwischen politischer Emanzipation im großen und der Status-Erhöhung lokaler Dialekte und Gebräuche im kleinsten erstreckt, scheint vielmehr zu einem der dominanten Faktoren im Gesamtleben der Menschheit zu werden. Der Eigenwert nationaler Besonderheit, wie ihn schon Herder geschichtsphilosophisch zu begründen versucht hat und damit dem erwachenden Nationalbewußtsein vor allem der osteuropäischen Völker ein wichtiges Stichwort gab, wird nun im Gegenzug gegen die globalen Homogenisierungstendenzen technisch-wirtschaftlicher Erschließung kritisch durch die Beschwörung kultureller Identität aufs neue ausgespielt. Damit ergeben sich auch neue Bezüge zur traditionellen Kulturkritik, vor allem dort, wo diese in der Betonung des „Eigenen" und „Echten" in die Nähe eines faschistischen Erneuerungspathos geriet. 2.3.3. Die Einheit einer Kultur (Kultur, Sprache, objektiver Geist). O b nun von außen oder innen betrachtet, die Kohärenz einer einzelnen Kultur wird in der Regel auf das Fundament einer gemeinsamen Sprache zurückgeführt, die den Angehörigen der soziokulturellen Gemeinschaft eine einheitliche „Weltansicht" vermittelt. Die Sprache zieht um das Volk, „welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andren hinübertritt" (W. v. Humboldt, Akad. Ausg. VII, 60). B.L. Whorf hat in seinem „linguistischen Relativitätsprinzip" diesen Zusammenhang von Weltbild und Sprachstruktur näher dargelegt: „Wir gliedern die Natur an Linien auf, die uns durch unsere Muttersprachen vorgegeben sind." „Wir gelangen daher zu einem neuen Relativitätsprinzip, das besagt, daß nicht alle Beobachter durch die gleichen physikalischen Sachverhalte zu einem gleichen Weltbild geführt werden, es sei denn, ihre linguistischen Hintergründe sind ähnlich oder können in irgendeiner Weise auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden" (B. L. Whorf 12). Unter semiotischem Gesichtspunkt hat Umberto Eco den System-Charakter einer Kultur gleichfalls von der Sprache her entwickelt. Als Kommunikationssystem aufgefaßt, enthält nämlich jede Kultur eine unendliche Zahl von „kulturellen Einheiten", d . h . Bedeutungen, die als Signifikate von Wortzeichen die Wirklichkeit in semantische Felder aufgliedern und damit kulturspezifisch strukturieren. So faßt das Lateinische unsere beiden kulturellen Einheiten ,Maus* und ,Ratte' in der einen Einheit ,mus* zusammen, während sich andere Einheiten interkulturell bruchlos übertragen lassen (U. Eco 91). Wendet man auf diesen Gedanken das Prinzip von Erich Rothackers „Satz der Bedeutsamkeit" an („Nur was

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mich angeht, was m i r , e t w a s ' ,ist', d. h. bedeutet [...], d a s findet überhaupt Eingang über diese erste und elementarste Schwelle in meine Welt" [98 f]), so ergibt sich: Jede Kultur ist von einer anderen u. a. dadurch abgrenzbar, d a ß sie die Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt spezifischer, kollektiver Bedeutsamkeit selektiv auffaßt bzw. sprachlich konstituiert. D a m i t ist auch ein enger Z u s a m m e n h a n g mit d e m anthropologischen Kulturbegriff in der Weise gegeben, d a ß m a n diese kulturspezifischen Weltbilder als Ersatz f ü r die d e m Tier mitgegebene artspezifische Umwelt versteht. Z u dem oben (vgl. o. 2.1) schon Ausgeführten k o m m t jedoch hinzu, d a ß es nun nicht u m „ d i e " Kultur als „zweite N a t u r " und damit als die Bedingung der Möglichkeit von Menschsein überhaupt geht, sondern um die Mannigfaltigkeit konkreter einzelner Kulturen, die als historisch gewordene Umwelten je verschiedene Weisen menschlicher Lebenswirklichkeit darstellen. „Ihr sogenannter Umweltcharakter ruht in der relativen Geschlossenheit, die mit jeder Stellungnahme zu Werken, mit jeder H a l t u n g und Formgebung erreicht wird. Sie ist gewordene, errungene und traditionell bewahrte Einseitigkeit [ . . . ] " (H. Plessner, GS VIII, 186). Dieses als „ M e d i u m von Gemeinsamkeiten" immer schon vertraute und selbstverständlich genommene Gerüst des Lebens ist von Dilthey als die elementarste Schicht des „objektiven Geistes" bezeichnet w o r d e n . „Sein Gebiet reicht von dem Stil des Lebens, den Formen des Verkehrs zum Z u s a m m e n h a n g der Zwecke, den die Gesellschaft sich gebildet hat, zu Sitte, Recht, Staat, Religion, Kunst, Wissenschaften und Philosophie" (W. Dilthey, GS VII, 208). Indem Dilthey Religion, Kunst, Wissenschaften und Philosophie zur Welt des objektiven Geistes hinzurechnet, weicht er von -»Hegels Bestimmung des objektiven Geistes ab, der hier zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist unterschied und die genannten Bereiche dem letzteren zuordnete. Diese Unterscheidung ist für eine Analyse des Bcgriffsfeldes „ K u l t u r " insofern von Bedeutung, als Dilthey mit seinem erweiterten Begriff des objektiven Geistes implicite einen morphologischen Kulturbegriff verband: Es ist ja der jeweilige Stil des Lebens, der jeweilige Z u s a m m e n h a n g der Zwecke usw., der ein je typisches „ M e d i u m von Gemeinsamkeiten" schafft. Ausdrücklich hat diese Frage nach der Einheit einer Gesamtkultur auf dem Boden einer Theorie des objektiven Geistes dann H a n s Freyer gestellt und als Einheitspunkt einer Kultur ihr jeweiliges „weltanschauliches Apriori" bezeichnet, d . h . die Gemeinsamkeit in der „ G r u n d h a l t u n g " zu „ U r p h ä n o m c n des Lebens", wie Mitmenschlichkeit, Gemeinschaft, Tod, Verhältnis der Geschlechter usw. (H. Freyer 139ff). D a ß aus einem so gefaßten morphologischen Kulturbegriff leicht ein neuer normativer Anspruch hervorgehen k a n n , ist offenkundig: „ G r u n d h a l t u n g e n " können eingefordert, ja eingeklagt werden. - Andererseits läßt sich bei einem erweiterten Begriff des objektiven Geistes auch kulturkritisch einsetzen, wie G. Simmeis Analyse der „Tragödie der K u l t u r " gezeigt hat: Die Gebilde des objektiven Geistes, hervorgegangen aus dem Grundimpuls aller Kultur, sich zu objektivieren, können sich aus dem Z u s a m menhang ihres Hervorgangs in solchem M a ß e lösen, d a ß sie dem einzelnen als fremde und erdrückende Masse gegenüberstehen. Dessen Lage ist dann durch das Gefühl charakterisiert, „von einer Unzahl von Kulturelementen umgeben zu sein, die für ihn nicht bedeutungslos sind, aber im tiefsten G r u n d e auch nicht bedeutungsvoll" (G. Simmel 264). 2.4. Kultur als Teilsystem

der

Gesellschaft

2.4.1. Probleme der Abgrenzung im begriffsgeschichtlichen Kontext. Die Frage der Z u o r d n u n g der Bereiche Kunst, Wissenschaft, Religion und Philosophie zu der einen oder anderen Form des überindividuellen „Geistes" weist schließlich auf einen letzten Aspekt im Begriffsfeld „ K u l t u r " hin: vermutlich den dominantesten im umgangssprachlichen Wert des Wortes, sofern es im Singular gebraucht wird. Denn „die Kultur" ist für uns primär jenes Teilsystem im Leben der Gesellschaft, das scheinbar bis in kleinste administrative und fiskalische Details abgrenzbar ist von anderen Teilsystemen, wie Wirtschaft, Politik und Recht, und das in zunehmendem M a ß e auch von Wissenschaft, Erziehungswesen und kirchlichem Leben, wie auch von Sport und Unterhaltung, unterschieden wird. Als „ h ö h e r e " oder „geistige" Kultur ist sie d a n n praktisch beschränkt auf die

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Künste und deren Präsentation in Büchern, (Film-)Theatern, Konzertsälen, Kirchen, Museen und Galerien sowie auf Literatur jenseits von Wissenschaft und Unterhaltung. Abgrenzungen sind schwierig und unterliegen häufig dem Zufall der erwähnten Ressortzuweisungen. Auch aus der Begriffsgeschichte dieses speziellen Kulturbegriffes läßt sich in erster Linie erkennen, wie wenig selbstverständlich hier entsprechende Abgrenzungen dem Wort von Anfang an mitgegeben sind. Jacob Burckhardt bestimmte die Kultur als eine der drei historischen „Potenzen" neben Staat und Religion, die im Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit zueinander stehen. Während die beiden letzteren als stabile Größen mit universalem Geltungsanspruch auftreten, ist die Kultur „die ganze Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale oder Zwangsgeltung in Anspruch nehmen" (J. Burckhardt, G W IV, 41). Inhaltlich wird Kultur bestimmt als „der Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen und als Ausdruck des geistig-sittlichen Lebens spontan zustande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste, Dichtungen und Wissenschaften" ( a . a . O . 20). In merkwürdiger Verkennung der Macht wirtschaftlicher Faktoren und der Konsequenzen der industriellen Revolution sind hier „die Techniken" in die Kultur völlig integriert, wie auch der „ H a n d e l " primär in seiner Funktion gesehen wird, dem Austausch und der Verbreitung höher entwickelter Produkte und damit der interkulturellen Kommunikation zu dienen. Demgegenüber (und fast gleichzeitig) sprach damals Karl - » M a r x von den bloß „ideologischen Reflexen und Echos" des wirklichen, nämlich materiell-ökonomischen Lebensprozesses. „Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens" (K. Marx, MEW III, 26f). Das geistige Leben, im Stellenwert noch hinter den politischen und juristischen Verhältnissen rangierend (vgl. MEW, XIII, 8 ff), ist Teil des auf der materiellen Basis der Produktionsverhältnisse aufruhenden „Überbaus". Ist hier also das Verhältnis von Wirtschaft und Kultur in zwei extrem verschiedenen Weisen bestimmt, so läßt sich eine mittlere Position an Dilthcys Versuch aufzeigen, verschiedene „Systeme der Kultur" nebeneinanderzustellen, die ihrerseits wieder jeweils in Beziehung zur „äußeren Organisation der Gesellschaft" treten. Solche Systeme der Kultur sind Sprachc, Religion, Recht, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft und Sittlichkeit. Es sind überindividuelle und überzeitliche Zweckzusammenhänge, zentriert in der Realisation einer Leistung, die „einen gemeinsamen Wert für alle diejenigen, welche auf diese Leistung gerichtet sind", verwirklicht (W. Dilthey, GS VII, 168; vgl. I,42ff). Ging es in der Theorie des objektiven Geistes um die Gesamtstruktur aller überindividuellen Gebilde bis zu den elementarsten lebensweltlichen Formen hinab, so zeigt die Analyse dieser Zwecksysteme eine Ausdifferenzierung der Kultur, die als solche allerdings nicht thematisiert wird. Das als Koexistenz der einzelnen Systeme von Dilthey aufgezeigte Ineinanderwirken läßt keine hierarchische Ordnung, kein Zentrum und keine Dominanzen erkennen. Es gibt hier zwar nicht die Abwertung eines „Überbaus", aber auch nicht den festen Stellenwert einer „Potenz" im Gefüge anderer „Potenzen". Die Kultur ist in einem nicht näher bestimmten Sinn das Insgesamt der Teilsysteme, zu dem dann die „äußere Organisation der Gesellschaft" in mannigfache Beziehungen tritt. 2.4.2. Kultur als kritisches Potential. Für den heutigen Begriff der Kultur im Sinne eines Teilsystems der Gesellschaft kann man aus dieser Begriffsgeschichte, die nur bis zur Mitte des 19. Jh. zurückreicht, kaum Nutzen ziehen. Soll der Begriff nicht, wie Reinhart Maurer befürchtet, „zur ,höheren' Kultur in einem nebulösen Sinne verkommen" (R. Maurer 173), um dann um so totaler von der Verwaltungssprache vereinnahmt zu werden, wird es notwendig sein, in ihm die anderen, hier durchlaufenen Aspekte virulent zu

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halten. Die G e f a h r e n einer „ a d m i n i s t r a t i v e n A u f s a u g u n g d e r Kultur d u r c h die Zivilisat i o n " und der „ t e c h n o l o g i s c h e n Z e r s e t z u n g d e r transzendenten Substanz höherer Kult u r " h a t H e r b e r t M a r c u s e , a u f den alten T o p o s des Gegensatzes Kultur-Zivilisation zurückgreifend, im Stil k o n s e r v a t i v e r Kulturkritik f o r m u l i e r t , mit d e m Ziel freilich einer O p p o s i t i o n gegen die „ r a t i o n a l e n Z e r s t ö r u n g s - und H e r r s c h a f t s m i t t e l " der technologischen Zivilisation ( H . M a r c u s e , Kultur u n d Gesellschaft II, 156ff). D a ß Literatur, Kunst, Philosophie und Religion, die er in seinem Begriff d e r Kultur z u s a m m e n f a ß t e , ein solches Protestpotential allenfalls nur s o lange darstellen k ö n n e n , wie sich die „ K u l t u r i n d u s t r i e " (vgl. H o r k h e i m e r / A d o r n o , Dialektik der Aufklärung, 1 2 8 ff) ihrer nicht bemächtigt, hat die E r f a h r u n g inzwischen gezeigt. O h n e n o t w e n d i g e r w e i s e den G e g e n s a t z zwischen den „Two

Cultures"

( C . P . S n o w ) festzuschreiben, wird m a n d e r Kultur (im engeren Sinne)

ihren „ a n t a g o n i s t i s c h e n G e h a l t " gegenüber der t e c h n o l o g i s c h - a d m i n i s t r a t i v e n R a t i o n a lität (die heute nicht zuletzt d u r c h die M e d i e n v e r k ö r p e r t w i r d ) erhalten müssen. Hierbei spielt das Bewußtsein der Fragilität der (anthropologisch

verstandenen) „zweiten N a t u r "

ebenso eine Rolle, wie d e r s p a n n u n g s h a f t e Bezug zu aller B a r b a r e i im normativen

Kultur-

verständnis und, schließlich, wie die A n e r k e n n u n g der Vielfalt morphologisch

in sich

geschlossener Kulturen a u f d e m i m m e r enger w e r d e n d e n Planeten; eine dreifache Verantw o r t u n g , die d e m gängigen Kulturbegriff nicht als Selbstverständlichkeit mitgegeben ist.

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Kultur II

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Hamburg 2 1971. - Walter Ruegg (Hg.), Kulturkritik u. Jugendbewegung, Frankfurt a . M . 1974. Jörg Ruhloff, Uber Kultur, Barbarei u. Bildung: Vierteljahresschr. f. wiss. Pädagogik 61/4 (1985) 4 2 1 - 4 4 3 . - Heinrich Schaller, Europ. Kulturphil., München 1940. - M a x Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern/München 6 1962.-Schillers SW. Säkular-Ausgabe. Hg. v. E. v. d. Hellen u.a., 16 Bde., Stuttgart 1 9 0 4 - 1 9 0 5 . - Carl August Schmitz (Hg.), Kultur, Frankfurt a . M . 1963. Gottlob Ernst Schulze, Psychische Anthropologie, Göttingen 1816. - Georg Simmel, Phil. Kultur. Ges. Essais, Potsdam 3 1923. - Charles Percy Snow, The Two Cultures and the Scientific Revolution, New York 1959; dt.: Die zwei Kulturen. Literarische u. naturwiss. Intelligenz, Stuttgart 1967. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgesch., 2 Bde., München " 1 9 2 3 , Neuausg. 4 1977. - Franz Steinbacher, Kultur. Begriff-Theorie-Funktion, Stuttgart 1976. - Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern/Stuttgart 1963. - Hans Peter Thum, Soziologie der Kultur, Stuttgart 1976. - Arnold Joseph Toynbee, A Study of History, 10 Bde., London 1956-1962; dt.: Der Gang der Weltgesch., 2 Bde., Zürich/Stuttgart/Wien 1958-1961. - Ders., Civilization on Trial, New York 1948; dt.: Kultur am Scheideweg, Wien/Zürich 1949. Giambattista Vico, Principi di una scienza nuova d'intorno alla commune natura delle nazioni, Neapel 1725; dt.: Die neue Wiss. über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Hg.v. E. Auerbach, Berlin 2 1965. - Richard Wagner, GS u. Dichtungen. Hg. v. W. Golther, 10 Bde., Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart o. J . - Benjamin Lee Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beitr. zur Metalinguistik u. Sprachphil. Hg. v. P. Krausser, Reinbek 1963. Frithjof Rodi

II. Theologiegeschichtlich 1. Kultur als Gestaltungsraum der Freiheit 2. Zur Begriffsgeschichte bis zum Ausgang des 18. Jh. 3. Idealismus 4. Positionelle Differenzierung des Begriffs (1830-1890) 5. Modernisierungskrise (1890-1918) 6. Antiliberale Kulturkritik 7. Der Untergang der Kultur in der politischen Totalvergemeinschaftung (1933-1945) 8. Gebrochene Akzeptanz des Pluralismus (von 1945 bis zur Gegenwart) (Quellen/Literatur S. 205) 1. Kultur

als Gestaltungsraum

der

Freiheit

Der Begriff „ K u l t u r " hat in der Theologie beider Konfessionen erst seit Spätaufklärung und Idealismus einen hohen Stellenwert b e k o m m e n . In diesem Phänomen spiegelt sich die systematische Struktur des Kulturbegriffs: M i t „ K u l t u r " wird der Gestaltungsr a u m menschlichen Handelns thematisiert. „ K u l t u r " setzt menschliche -»Freiheit voraus. Im Unterschied zu allen anderen lebendigen Wesen kann allein der M e n s c h sein Handeln selbst bestimmen, sich an Zielen, Z w e c k e n , Werten und Ideen orientieren. N u r ihm erschließt sich eine Welt der N o u m e n a , der er durch Handeln dann empirische Realität verschaffen kann. Seit - » R e n a i s s a n c e und - » R e f o r m a t i o n hat wissenschaftliche Reflexion zunehmend die schöpferischen Kräfte des Menschen entdeckt. Z u r Beschreibung dieser Selbst- und Welterfahrung des Menschen hat es einer neuen wissenschaftlichen Semantik bedurft, die seit dem frühen 18. J h . die ontologische Begrifflichkeit der alteuropäischen Metaphysik ablöst. Ein statisches, a u f überzeitliche Seinsstrukturen zentriertes Wirklichkeitsverständnis wird zu einem an geschichtlichem Wandel orientierten Bild der Wirklichkeit umgeformt. Diese Temporalisierung prägt auch den Kulturbegriff: „ K u l t u r " wird eng verbunden mit „Perfektibilität", der sittlichen Selbstvervollkommnung des Menschen und seiner Welt, oder aber mit Niedergang und Verfall. Der Wandel des Weltverständnisses in der - » A u f k l ä r u n g provoziert eine tiefgreifende U m f o r m u n g der Theologie beider Konfessionen. Parallel zur Differenzierung der Wissenschaften, insbesondere zur Entstehung methodisch selbständiger - » N a t u r w i s s e n s c h a f ten, und zur Emanzipation der politischen Institutionen von den Normierungsansprüchen der Konfessionskirchen entsteht im 18. J h . eine bürgerliche Öffentlichkeit, in der sich die m o d e r n e Unterscheidung von Staat und Gesellschaft a n b a h n t . Diese Differenzierungsprozesse führen zur Partikularisierung religiöser Weltdeutung sowie zum Einflußverlust der Kirchen. Die Institution - » K i r c h e , in den Sozialtheorien Alteuropas die zen-

188

Kultur II

trale Sinnstiftungsagentur des Gemeinwesens, verliert ihr Monopol auf gesamtkulturell verbindliche Vermittlung von -»Normen und -»Werten. Die Theologie muß sich zu den säkularen Wissenschaften ins Verhältnis setzen und den Ort von Christentum und Kirche in der zunehmend pluralistischeren Gesellschaft neu bestimmen (-•Gesellschaft/Gesellschaft u. Christentum VII). In diesem Zusammenhang nehmen Theologen den Kulturbegriff verstärkt auf. Kultur wird Leitbegriff zur Erschließung all jener Gestaltungsräume, die sich gegenüber der Kirche verselbständigt haben. Die theologische Rezeption des Kulturbegriffs ist von dem Interesse bestimmt, noch einmal eine innere Einheit der sozialen Welt zu erschließen. Systematisch wird diesem Interesse vor allem über die These Geltung verschafft, Religion sei das entscheidende Fundament menschlicher Freiheit und damit aller Kulturgestaltung. So muß theologische Kulturtheorie Grundbegriffe wie Freiheit, Religion und Kultur in einen systematischen Zusammenhang bringen. Sie muß zugleich das Verhältnis zwischen Kirche(n) und politischen Institutionen bestimmen. Seit dem frühen 19. Jh. verbindet sich damit eine Auseinandersetzung mit der zentralen neuen Integrationsideologie, dem -»Nationalismus. Die Zuordnung von Freiheit, Kultur, Fortschritt oder Niedergang, Religion, Kirche, Staat und Nationalbewußtsein prägt alle im deutschen Protestantismus des 19. Jh. ausgearbeiteten Kulturtheorien. Analog zur politischen Fraktionierung des deutschen Protestantismus seit der -»Französischen Revolution und zur Entstehung eines innerprotestantischen Frömmigkeitspluralismus bildet sich in der akademischen Theologie ein breites Spektrum konkurrierender kulturtheologischer Entwürfe. Sie sind geleitet vom Interesse an neuer religiöser Integration bzw. Kultursynthese. Sie unterscheiden sich aber in der Frage, welcher empirische Träger für solche Integration in Anspruch zu nehmen sei. Liberale Theologen ( L i b e r a l e Theologie) suchen Integration primär über eine allgemeine Christlichkeit zu erreichen, die als religiöse Substanz alle Institutionen durchdringen soll; zentraler Integrationsfaktor soll deshalb ein christlich fundierter Kulturstaat sein. Konservative Theologen setzen sehr viel stärker auf die Institution Kirche. Sie betonen die Eigenständigkeit der Kirche und erkennen ihr einen ethischen Führungsprimat zu. 2. Zur Begriffsgeschichte

bis zum Ausgang des 18. Jh.

Begriffsgeschichtlich läßt sich „Kultur" bis in die römische Antike zurückführen. Neben der traditionellen Bedeutung des Pflegens und Hegens der außermenschlichen Natur sowie der Wendung cultura deorum (Belege bei Kopp 2f) spricht schon Cicero von der cultura animi (Niedermann 3), womit er den Begriffsgebrauch bis ins 18. Jh. bestimmt. Im Kontext der frühaufklärerischen Emanzipation des modernen Naturrechts von den überkommenen konfessionellen Begründungen ethischer Verbindlichkeit wird cidtura wohl erstmals ohne die bis dahin bestimmenden Genitivverbindungen verwendet. S. -»Pufendorf gebraucht 1684 cultura „als Inbegriff der Pflichten, welche dem Menschen im Unterschied von Tieren über die nackte Selbsterhaltung hinaus obliegen" (Hirsch 398). So gewinnt der Kulturbegriff einen über die traditionelle Tugendlehre hinausführenden Gehalt. Er kann nun auch auf die societas civilis bezogen werden und hier die Aufgabe ihrer Gestaltung durch den Menschen bezeichnen. Die Durchsetzung dieses politisch-sozialen Begriffsgebrauchs ist bisher unerforscht. In den philosophisch-theologischen L e x i k a des 18. und frühen 19. J h . spielt der Begriff keine Rolle. Walch bietet 1775 noch den traditionellen Begriffsgebrauch: „ C u l t u r zeigt eine Verbesserung einer S a c h e an, so durch hülfreiches Z u t h u n und Bemühen erreicht wird. M a n sagt s o w o h l von leblosen als auch von lebenden Dingen, sie sind cultiviret, wenn sie nämlich in einen v o l l k o m m e n e r e n Z u s t a n d versetzet w o r d e n , in welchem sie nicht von N a t u r sich b e f i n d e n " (Walch 6 6 6 ) .

2.1. Herder. Dieser Perfektibilitätsglaube bestimmt etwa seit 1780 eine neue geschichtstheologische Verwendung des Begriffs, deren einflußreichster Repräsentant J . G . -•Herder ist. Herder entwickelt das Programm einer Geschichte der Kultur, das geprägt ist durch die Sitten- und Zivilisationsgeschichten englischer und französischer Aufklärer. Diese Darstellungen sind motiviert durch Intensivierung des überseeischen Handelns und

Kultur II

189

Konfrontation mit den nicht-christlichen und unzivilisierten „ W i l d e n " . Sie stellen keine dogmatischen Konstruktionen eines supranaturalen Offenbarungsgeschehens mehr dar, in denen ein Alleingeltungsanspruch des Christlichen legitimiert wird. Ihr Interesse richtet sich auf Realfaktoren wie Klima, Landschaft, geographische L a g e und Bevölkerungsstruktur, die den „ W o h l s t a n d " eines Landes entscheidend prägen. Dabei wird Religion als zentrales Medium der Erhebung des M e n s c h e n über das bloß Natürliche thematisiert. In zahlreichen „Kulturgeschichten" (vgl. Schaumkell) wird Religion als ein elementarer Kulturfaktor beschrieben. Herders Entwürfen zur „Geschichte der Cultur" (SW XIII, 4) zufolge sei „nur Religion es gewesen..., die den Völkern allenthalben die erste Cultur und Wissenschaft brachte" (390). Durch historische Analysen soll das Christentum als zentrale Kulturpotenz für den Prozeß wahrer Aufklärung erwiesen werden. Dem liegt die Annahme einer alles Einzelgeschehen umgreifenden göttlichen Vorsehung zugrunde: Nicht nur natürliche Gegebenheiten bzw. historische Realfaktoren, sondern auch geschichtliche Katastrophen sollen als Elemente eines göttlichen Weltplans gedeutet werden. Dieser harmonistischen Grundorientierung entsprechend dienen selbst die destruktiven Seiten der menschlichen Subjektivität bzw. die Sünde zur Realisierung eines Optimums der „Humanität". Ein vergleichbares Pathos von -»Bildung und „Polizierung" prägt auch die Verwendung des Begriffs in der aufgeklärten Popularphilosophie, insbesondere bei J . C . Adelung. Der Schweizer Kulturhistoriker Isaak Iselin (1728-1782) unterscheidet 1764 zwei Arten der „Polizierung", eine äußere Ordnung des Gemeinwesens (Verfassungslehre) und eine Bildung von Geist und Gemüt (Tugendlehre). Unter dem Einfluß der englischen und französischen Aufklärung, in der Bildungsprogramme zumeist unter dem Leitbegriff civiltsatton entwickelt werden, wird im späten 18. Jh. zunehmend zwischen Kultur und Zivilisation unterschieden: Kultur wird auf innere Bildung eingeschränkt und Zivilisation mit materieller, äußerer Fortentwicklung identifiziert. Damit ist die Grundlage für eine wertende Unterscheidung von Kultur und Zivilisation geschaffen, die seit der Mitte des 19. Jh. nationalpolitisch als Antithese von wahrer deutscher Kultur und materialistischer Zivilisation Westeuropas fixiert wird und zunehmend die Geschichte des Kulturbegriffs im protestantischen Deutschland bestimmt. Im späten 18. Jh. ist der Gebrauch beider Begriffe aber noch nicht nationalpolitisch verengt. 2 . 2 . Kant. Die Offenheit des Begriffsgcbrauchs im späten 18. J h . zeigen die Schriften I. Kants. - » K a n t teilt den Bildungsglauben der Aufklärer. Gegenüber dem harmonistischen Kulturoptimismus der populären Aufklärung betont er die destruktiven Seiten des M e n s c h e n und die „ A n t a g o n i s m " im menschlichen Z u s a m m e n l e b e n (Werke 9, 3 7 ) . Die „ungesellige Geselligkeit" (ebd.) gilt als ein entscheidender M o t o r geschichtlicher H ö h e r entwicklung (Werke 9, 4 0 ) . Geschichtsphilosophische Reflexionen über solchen F o r t schritt können aber nicht dieselbe theoretische Validität beanspruchen wie die kritische Selbstreflexion der Vernunft. In Kants Publikationen hat der Kulturbegriff keinen systematischen Stellenwert, auch wenn „ n u r die Kultur der letzte Z w e c k sein (kann), den man der N a t u r in Ansehung der M c n s c h e n g a t t u n g beizulegen U r s a c h e h a t " (Werke 8, 5 5 4 ) . Kant kritisiert eine Identifizierung von kulturellem und moralischem Fortschritt: „ W i r sind in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. W i r sind zivilisiert bis zum Uberlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns schon für moralisiert zu halten, d a r a n fehlt noch sehr v i e l " (Werke 9, 4 4 ) . E b e n s o wichtig wie die Kultivierung ist für Kant „ d a s äußerste Ziel der K u l t u r " , die „ v o l l k o m m e n e bürgerliche Verfassung" (Werke 9 , 9 4 ) . Die „ w a h r h a f t vollendete K u l t u r " sei z w a r ein eschatologischer Z u s t a n d , „ein i m m e r w ä h r e n d e r F r i e d e " . Aber R e c h t und pflichtgemäßes Leben seien Mittel der Annäherung an solche Vollkommenheit. Als Institution vernünftiger Religion soll die Kirche Introduktionsmittel und Stütze für die Bildung einer moralisch religiösen Lebenshaltung sein. Auch für Kants Schüler kann ein religiös-sittlicher Mensch niemals die „höchste Stufe" in den „Grade(n) der Cultur" (Krug 306) erreichen. Das Streben nach Annäherung an die perfekte Kultur geht „in die Unendlichkeit hinaus und schließt sich daher an die Hoffnung der ewigen Fortdauer oder der Unsterblichkeit an. Unsre irdische Bildung ist gleichsam nur der Anfang der Cultur. Jenseits soll sie erst vollendet werden" (Krug 306 f). So halten auch die Schüler Kants an Herders enger Verknüpfung von Kulturtheorie und moralischem Religionsglauben fest. Damit formulieren sie ein Bild gesellschaftlichen Wandels, das in Kritik revolutionärer Brüche auf Kontinuität und .Reform von

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Kultur II

oben* zielt. M i t diesem harmonieorientierten Evolutionskonzept üben Kants Schüler einen tiefgreifenden Einfluß auf den protestantischen Frühliberalismus in Deutschland aus. Die Verknüpfung von Religion und Kultur, Frömmigkeit und Bildung wird zu einem zentralen Element eines spezifisch deutschen Kulturideals, das die Legitimationsbasis für einen antiwestlichen „Sonderweg" der sozialen und politischen Entwicklung darstellt (vgl. Ringer; Faulenbach).

3.

Idealismus

Unter dem Eindruck der -»Französischen Revolution und im Kontext der Befreiungskriege wird der Kulturbegriff im frühen 19. Jh. weiter differenziert. In der Suche nach neuer politischer Ordnung treten die Elemente der Tugendlehre - innere Bildung und Selbstdisziplinierung des Subjekts - zunehmend hinter die Elemente der Güterlehre, die überindividuell sozialen Dimensionen des Kulturbegriffs zurück. Zwei Grundtendenzen lassen sich unterscheiden: Der -»Staat wird zum zentralen Träger der Kultur stilisiert und das Ideal einer deutschen, durch Geschichte und Volksgeist homogenen Kulturnation formuliert. Kultur wird zum systematischen Leitbegriff einer ethischen Sozialtheorie, in der, im Sinne der Systemprogramme des -»Idealismus, alle menschliche Reflexion und Praxis in ihrer inneren Einheit dargestellt und diese Einheit als Integrationsprinzip einer zunehmend komplexeren Wirklichkeitserfahrung erwiesen werden soll. 3.1. Fichte. Anknüpfung an die Geschichtsteleologie der Aufklärung, Radikalisierung von Kants Autonomieverständnis und Begeisterung für die Revolution prägen um die Wende zum 19. Jh. insbesondere J . G . -»Fichtes Theorie der Subjektivität. Dieses Freiheitsverständnis hat Fichte auch als Theorie protestantischer Kultur entfaltet. „Cultur heißt Uebung aller Kräfte auf den Zweck der völligen Freiheit, der völligen Unabhängigkeit von allem, was nicht Wir selbst, unser reines Selbst ist" (GA1/1,241). Die Geschichte der Realisierung solcher Freiheit sei Inbegriff einer gelungenen Verwirklichung des wahrhaft Christlichen bzw. eines unaufhörlichen Fortschrittes im „Gang der Cultur" (SW 4, 494). Christliche Freiheit habe primär im Protestantismus Gestalt gewonnen. Die Reformation habe den Glauben aus einer bloß kirchlichen Gestalt befreit und zum vernünftigen Prinzip von Philosophie, Wissenschaft und öffentlicher Sitte erklärt. Durch Anerkenntnis einer relativen Autonomie des Politischen habe sie eine „totale Reform des Culturstaates" (SW 7,200) bewirkt, deren Vollendung aber noch ausstehe. So müsse sich das Christentum „zum Staate gestalte(n), alle seine Gesetze und Institute... mit seinem Geiste" (SW 7,609) durchdringen. Wenn dieser protestantische „Culturstaat" (SW 7,189.200 u.ö.) real werde, werde das nur in der Partikularität der Kirche verwirklichte Christentum wahrhaft allgemein. Mit dieser Vision einer protestantischen Aufhebung der Kirche in den Staat verschafft Fichte der Idee eines nationalen Kulturstaates religiöse Legitimität. Seine Synthese von Reformationsdeutung und Kulturnation wird zu einem zentralen ideenpolitischen Topos des deutschen Nationalismus. F.D.E. -• Schleiermacher gilt als Klassiker der „Kulturphiloso3.2. Schleiermacher. phie" (vgl. A. Reble), Begründer einer protestantischen Kulturtheologie und Ahnherr des -»Kulturprotestantismus. In seiner philosophischen Ethik, der Basisdisziplin für alle wissenschaftliche Analyse einzelner Kulturphänomene, verknüpft er den christlichen Gedanken einer Herrschaft des Menschen über die Erde mit der aristotelischen Güterlehre und dem kulturellen Perfektibilitätsglauben der Aufklärung (vgl. Scholtz 131). Seine Ethik hat das „Gesamtgebiet der Kulturaufgabe" (Ethik 1812/13) zum Thema. Zunehmende Vergeistigung des Natürlichen gilt als Wesen kulturellen Fortschritts. Gegenüber Kant wird betont, Vernunft könne nicht unabhängig vom Prozeß ihrer geschichtlichen Realisierung bestimmt werden. Kulturphilosophie, Handlungstheorie, Analyse sozialer Institutionen und Geschichtsphilosophie bilden ein eng verwobenes theoretisches Geflecht, dessen Leitgedanke die Überzeugung ist, daß „Geschichte... wesentlich Kulturgeschichte" und „Kulturgeschichte... Geschichte der sittlichen Welt" sei (Birkner 38).

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Schleiermacher entwickelt erstmals eine systematische Theorie der Differenzierung der modernen Kultur. Vier verschiedenen Grundtypen des Handelns analog werden vier „Kultursphären" unterschieden: Recht und Staat, Ökonomie und Geselligkeit, Wissenschaft sowie schließlich Religion und Kunst. Kennzeichen der Moderne sei die relative Verselbständigung dieser „Kulturgebiete", die sich wechselseitig begrenzten. „Kultur" bezeichnet einerseits die Totalität dieser Sphären, andererseits einen Handlungstyp, das identische Organisieren, bzw. die Sphäre von Recht und Staat. Der Staat habe über seine äußere Ordnungsfunktion als „Rechtsanstalt" hinaus eine Bildungs- und Kulturaufgabe. Er sei „die zur höchsten Potenz erhobene Kultur selbst" (Brouillon 34). Gegenüber einer kulturellen Hegemonie des Staates betont Schleiermacher jedoch die Gleichberechtigung und Unverletzlichkeit der vier Sphären. Institutionentheoretisch entspricht dem die liberale Forderung nach Unverletzlichkeit der Privatsphäre der Bürger, nach Freiheit der Wissenschaft, nach Autonomie der Kunst sowie nach Trennung von Staat und Kirche.

Für die antiliberalen Schleiermacher-Kritiker der 20er Jahre ist Schleiermachers „ T h e o l o g i e . . . in ihrem innersten Heiligtum Kulturtheologie", in der Reich Gottes und Kulturfortschritt identifiziert worden seien (Barth: Z Z 1924,57). Die neuere Schleiermacher-Forschung (Birkner; G r a b ; Herms; Riemer) hat ein differenzierteres Bild entwickelt. Schleiermacher sanktioniert weder einfach bürgerliche Kulturideale noch verdoppelt er n u r die philosophische Kulturtheorie. In seinen theologischen Publikationen entfaltet Schleiermacher spezifisch christliche Elemente der Kultur in dreifacher Weise: Er thematisiert zunächst elementare Voraussetzungen individueller Praxis, die alles menschliche H a n d e l n bestimmen, sich aber nur in einem religiös-christlichen Bewußtseinshorizont zureichend erschließen lassen; er beschreibt weiterhin die besondere Handlungskompetenz christlicher Subjekte sowie spezifische Aufgaben der Kirche; er markiert schließlich die konstitutive Endlichkeit menschlichen Handelns. Das Fundament von Schleiermachers theologischer Kulturdeutung bildet eine „christologische Verlaufstheorie der Gcschichte" (Grab 168). Glaubens- und Sittenlehre stellen einen Theoriezusammenhang dar, dessen zentrales Thema die universalgeschichtlichc Bedeutung Jesu ist. Christi Inkarnation wird als „Naturgewordensein des Reiches Gottes" (Der christl. Glaube II, 115) gedeutet. Durch die erlösende Tätigkeit Christi habe der Mensch in neuer Weise Anteil an der Produktivität Gottes. Mit der Christologie werden Voraussetzungen individuellen Handelns auf zwei Ebenen thematisiert: Sowohl die Zielgerichtetheit geschichtlicher Evolution, wie sie im prinzipiellen Faktum der Inkarnation ihren Anfangspunkt hat und alle kulturelle Praxis bestimmt, als auch jene Grunddimension menschlichen Selbstbewußtseins, die als Einsicht in das passive Konstituiertsein seiner Freiheit das Handeln des einzelnen fortwährend begleitet und prägt.

Schleiermachers philosophische Ethik ist Theorie der Christentumsgcschichte. Die vernünftige Explikation der Geschichte der Kultur hat immer schon das kontingente geschichtliche Gewordensein christlicher Kultur zur Voraussetzung. Sie stellt eine nachgängige Abstraktion jener kulturellen Evolution dar, in der christliches Bewußtsein und H a n d e l n der Kirche zentrale Antriebskräfte gewesen sind (vgl. G r ä b ; Herms). Schleiermacher behauptet keine unmittelbare Identität von Kulturprozeß und Reich Gottes. Sofern die Realisierung der Gottesherrschaft das normative Ziel aller Geschichte darstellt, m u ß jede gegenwärtige Kulturgestalt in ihrer Differenz zur Endgestalt des Reiches Gottes w a h r g e n o m m e n werden. Wie kulturkritisch seine Gegenwartsdeutung gewesen ist, zeigt insbesondere die Sorge vor wachsender Barbarei sowie vor zunehmender Dissoziation von christlicher Tradition und moderner Bildungskultur. N u r der christliche Geist sei ein Gegengewicht gegen den jederzeit möglichen Verfall der Kultur. M i t dieser Deutung des Christentums als „ H ü t e r i n der H u m a n i t ä t " (Birkner 93) hat Schleiermacher alle protestantischen Kulturtheologien des 19. J h . entscheidend geprägt. 4. Positionelle

Differenzierung

des Begriffs

(1830-1890)

Die schnelle Durchsetzung des Kulturbegriffs seit 1830 ist eine Reaktion auf Verschiebungen im Wissenschaftssystem. Parallel z u m Bedeutungszuwachs frühkapitalistischer Ö k o n o m i e , Bürokratie und Technisierung des Verkehrswesens gewinnen Nationalökonomie u n d Naturwissenschaften an Relevanz. Je mehr die idealistische Einheit des Wissens in eine Mannigfaltigkeit von relativ unverbundenem Einzelwissen auseinanderfällt,

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desto stärker sind die alten Leitwissenschaften Philosophie und Theologie zur Reflexion auf ihre tatsächliche Bildungskraft gezwungen. Der Kulturbegriff dient dazu, gegenüber sozialer Segmentierung, politischer Fraktionierung und kognitiver Pluralisierung noch einmal eine integrierende Gesamtdeutung menschlicher Wirklichkeit entfalten zu können. Faktisch verlieren Philosophie und Theologie in den Bildungseliten seit 1830 aber an Prägekraft. Sie werden teils durch die Geschichtswissenschaft als neue Bildungsmacht (vgl. TRE 12, 646, 6ff), teils durch die weltanschaulich popularisierten, häufig offensiv antikirchlichen Naturwissenschaften verdrängt. „Kultur" wird zum Schlüsselbegriff eines Streits um die Frage, ob die in der Aufklärung des 18. Jh. entstandene „moderne Kultur" eine legitime Folgegestalt christlicher Grundüberzeugungen sei oder aber die Auflösung des wahrhaft Christlichen bedeute. Hintergrund der Debatten ist eine zunehmend aggressivere Christentumskritik in Gruppen des Bildungsbürgertums und der frühen Arbeiterbewegung. Für diese Kritik ist die Annahme leitend, daß die moderne Kultur sich gegen die Kirchen durchgesetzt habe und wahrer Kulturfortschritt nur durch einen entschlossenen Abschied vom Christentum möglich sei. Kultur wird zu einem Kampfbegriff, mit dem die Repräsentanten der einzelnen Gruppen jeweils den Anspruch erheben, die für die Gesellschaft insgesamt verbindlichen Normen formulieren zu können. 4.1. Bretschneider. Die protestantischen Spätrationalisten stellen seit dem frühen 19. Jh. einen engen Zusammenhang zwischen der Reformation und den „Fortschritte(n) der Cultur" (AKZ 1 [1822] 449) her. Ein modernitätsfähiges Christentum soll Garant der Beförderung von „Bürgertugend" und politischer Liberalität sein. K.G. -»Bretschneider will „die Kirche in dem Dogma und im Kultus fortbilden..., um sie immer mit den Fortschritten der Cultur in Einklang zu setzen" (282). Das Verständnis der Konfessionen bestimmt er nicht mehr rein dogmatisch, sondern mittels der Unterscheidung verschiedener „Culturstufen". Der „Culturstufe" des Mittelalters verhaftet, sei der Katholizismus „mit der jetzigen Culturstufe der christlichen Völker...nicht mehr in Einklang zu bringen" (298). Kulturtheoretisch deutet Bretschneider auch die innerprotestantischen Fraktionierungen. Die „kirchlich-symbolische Partei", repräsentiert durch E.W. Hengstenbergs Evangelische Kirchen-Zeitung, bleibe noch jener Fixierung auf das Bekenntnis verhaftet, durch die der Altprotestantismus im späten 16. Jh. das ursprüngliche Prinzip der Reformation, die religiöse Autonomie des individuellen Gewissens, preisgegeben habe. Bretschneider fordert eine neue Synthese von Protestantismus und Gegenwartskultur: Das Grundprinzip der Moderne, individuelle Autonomie, soll durch protestantische Gewissensfreiheit gestützt werden. Der spätrationalistische Glaube an eine notwendige Zusammengehörigkeit von Reformation, bürgerlicher Emanzipation und neuer Integration der Kultur prägt tiefgreifend die politischen Auseinandersetzungen in Deutschland und bestimmt insbesondere den politischen Frühliberalismus, der die Kirchen als „Kulturpolizei" deutet (vgl. Medicus).

4.2. Rothe. Eine enge Verbindung von theologischer Rechtfertigung der modernen Kultur und hegemonialem Anspruch protestantischer Bildungsreligiosität prägt auch jene Gruppen im liberalen Protestantismus, die sich unter dem Eindruck der kirchenpolitischen Reaktion der fünfziger Jahre 1863 im deutschen ->Protestantenverein zusammenschließen. R. -»Rothe, ihre theologische Leitgestalt, entwirft die Theorie einer protestantischen Moderne, die geprägt ist durch die Erfahrungen einer wachsenden Kirchenferne bürgerlicher Eliten und einer zunehmenden Verengung des kirchlichen Milieuprotestantismus auf konservative Modernitätskritik. Rothe deutet die Emanzipation des Bildungsbürgertums von einer restaurativen Kirche als Realisierung originärer Intentionen des Christentums. Diese Intentionen könnten erst allgemein zur Geltung kommen, wenn das Christliche von der Beschränkung auf seine kirchliche Form befreit werde. Die Entschränkung soll sich als Aufhebung der Kirche in den Staat bzw. als christliche Transformation des modernen Staates zum Kulturstaat vollziehen. Damit sucht Rothe den Prozeß der Einigung der deutschen Partikularstaaten zu einem protestantisch-kleindeutschen Reich unter preußischer Führung zu unterstützen. Zwischen den Kulturstaatside-

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alen des Protestantenvereins und den Integrationsvorstellungen des Nationalliberalismus bestehen enge Zusammenhänge. So intensiv Rothe eine „christliche Legitimität" der Neuzeit betont (Vorträge 87) und „die moderne Kultur" als „größte und bleibendste geschichtliche Wirkung, die bis jetzt von der Reformation ausgegangen ist" ( a . a . O . 99) deutet, so wenig zielt seine am Reiche Gottes orientierte Geschichtsphilosophie auf eine Affirmation der Gegenwartskultur. „Die Kirche m u ß . . . ehrlich und mit klarem Bewußtsein mit dem modernen Kulturleben Friede und Freundschaft schließen. Dies jedoch unter dem ausdrücklichen Vorbehalte, daß das moderne Kulturleben sich der erziehenden Einwirkung des Geistes Christi unterwerfe".

Eine neue „Kulturgeschichte der christlichen Menschheit" (Kirchengeschichte I, 3 f) soll die Durchdringung der „allgemeinen Kulturgeschichte" mit christlicher Sittlichkeit aufweisen. Solche Identifizierung von Kulturfortschritt und progressiver Realisierung des Reiches Gottes bestimmt auch die Schüler Rothes. „Der gläubige Christ weiß sich in religiös-sittlicher Culturgemeinschaft, in welcher das Vertrauen auf die Steigerung und die Siege der in ihr waltenden geistigen Kräfte und somit auf das Heil vorhanden ist", erklärt R. Ahrendts (3). 4.3. Neuluthertum. Unter dem Eindruck von frühkonservativer Aufklärungskritik, religiöser Erweckung und Streit um die Legitimität von Unionen zwischen Reformierten und Lutheranern (-»Unionen, Kirchliche) entsteht seit 1820 ein konfessionelles -»Neuluthertum, dessen Theologen eine hohe Sensibilität für die krisenhaften Folgen der Auflösung des altständisch-korporativen Gemeinwesens entwickeln. Auf dem Fundament einer differenzierten Kritik von Autonomie und liberalem Fortschrittsglauben formulieren sie ein alternatives, konservatives Kulturkonzept, in dem schärfer als bei den Liberalen zwischen bloßem Fortschreiten und sittlichem Fortschritt, Zivilisation und wahrer Kultur unterschieden wird. Im Zentrum neulutherischer Modernitätskritik steht die Lebensform des -»Bürgertums. Die Emanzipation von der Kirche sei gleichbedeutend mit der Auflösung substantieller Sittlichkeit. Eine neue „Sozialethik" soll gegen -»Individualismus, Privatmoral, Hedonismus, Materialismus und Wissenschaftsglauben die Verbindlichkeit starker Institutionen begründen. Der Ablehnung des Gesellschaftsbegriffs, der als Kennzeichen eines westlich-liberalen Rationalismus und später auch der politischen Theorie der Arbeiterbewegung gilt, korrespondiert die Hochschätzung des Volkes als einer historisch gewachsenen sittlichen Gemeinschaft. Doch sind die Kulturlutheraner bis in die neunziger Jahre des 19. Jh. dem Nationalismus als Integrationsideologie gegenüber kritischer eingestellt als die Liberalen. Für ihr Kulturideal ist zunächst nicht der Bezug auf einen neuen Nationalstaat, sondern die Orientierung an den tradierten Kleinstaaten kennzeichnend. Ihr Ideal der Kulturnation bleibt bis zur Öffnung gegenüber -»Imperialismus und Sozialdarwinismus (s. T R E 8,372,10ff) am organischen Zusammenhang der Volksindividualitäten ausgerichtet. Für Christoph Ernst Luthardt (1823-1902) ist Kultur gerade dadurch definiert, d a ß die Menschen über Familie, Volk und Staat hinaus „Glieder der Menschheit (sind) und einen gemeinsamen, allgemein menschlichen Beruf" haben. „Diesen allgemein menschlichen Beruf nennen wir die K u l t u r . . . Das Christentum hat der Welt den Gedanken der Menschheit gebracht. Damit hat es ihr auch den Gedanken der Kultur gebracht" (Vorträge 158). Für die Kulturlutheraner muß die evangelische Kirche „zentrale Geistesmacht...im Kulturleben der Gegenwart" (vgl. Schaeder) bleiben. Die Anpassung an die „moderne Kultur" brandmarken sie als „Kulturismus". Je kritischer sie die „Fratzen-Kultur" (vgl. Pudor) der Moderne sehen, desto mehr betonen sie die Selbständigkeit des Christentums. Wie dessen kulturgestaltende Kraft am wirkungsvollsten freigesetzt werden kann, bleibt unter ihnen jedoch umstritten. Im Anschluß an F. J. -»Stahl fordern Christian Friedrich Schmid, Philipp Theodor Culmann und Adolf Wuttke einen „christlichen Staat", dessen Integrationsfundament die von der Kirche verwaltete Moral sein soll. A. v. -»Harleß,

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J. C. v. -»Hofmann, Christoph Ernst Luthardt und Hans Lassen Martensen (1808-1884; s. TRE 8,311,31 ff) plädieren im Rückgriff auf die reformatorische Kritik an Gewissenszwang und Hierokratie demgegenüber für eine stärkere Differenzierung von Staat, Kirche und Kultur. Die Christlichkeit des Gemeinwesens soll nicht durch direkte Christianisierung der politischen Institutionen gewährleistet werden, sondern durch eine Kirche, die verwurzelt in allen Volksschichten die einzelnen Christen darin stärkt, auf allen Gebieten der Kultur ihren Beruf wahrzunehmen (-•Volkskirche). In der Gegenwartskrise seien allein die Christen imstande, weitere Entsittlichung zu verhindern. 4.4. Ritsehl und seine Schule. Den -»Kulturkampf nach 1870 führen die protestantischen Liberalen aggressiv als Kampf gegen Ekklesiokratie, römischen -»Ultramontanismus und transnationalen Charakter des Katholizismus bzw. als Kampf für den freien protestantischen Kultur- und Nationalstaat (vgl. Blackbourn). Die protestantischen Konservativen lehnen den Kulturkampf zumeist als staatlichen Eingriff in die geistliche Autonomie der Kirche ab. In diesen Auseinandersetzungen wird die Tendenz zum Gebrauch des Kulturbegriffs und diverser Kultur-Komposita noch verstärkt. Die Theologen beider Milieus stimmen darin überein, daß gegenüber dem Katholizismus „protestantische Kultur" verteidigt werden und der Protestantismus im neuen Reich Leitkultur sein müsse. Solchen geistigen Führungsanspruch hat in der Universitätstheologie am wirkungsreichsten A. -•Ritsehl vertreten. Er gilt als der Kulturtheologe des Kaiserreichs. Ritsehl versteht „Cultur", die „die intellectuelle und die technische Art der Weltbeherrschung u m f a ß t " (Rechtfertigung III, 578), vom Gegensatz zwischen Geist und Natur her. Er stellt einen engen Zusammenhang zwischen dem Reich Gottes und der „menschlichen Culturbewegung" (576) her und steigert Kantisches Pflichtethos zu einem lutherischen Berufsaktivismus, dessen zentraler Inhalt die Unterwerfung der Natur ist. Gleichwohl sind Naturaneignung und sittlicher Fortschritt nicht unmittelbar identisch. Im Sinne der kantischen Unterscheidung von empirischem und transzendentalem Subjekt hält Ritsehl an einer bleibenden Widersprüchlichkeit des Individuums fest. Weil der Mensch nicht nur Geist-, sondern konstitutiv auch Naturwesen sei, könne er dem höchsten Gut des Reiches Gottes sich niemals vollkommen annähern. Angesichts der dramatischen ökonomischen Modernisierungsschübe und des christentumsfeindlichen „materialistischen" Fortschrittsglaubens der Sozialdemokraten befürchtet Ritsehl eine unsittliche Gesellschaftsentwicklung: Wo Fortschritt sich nicht an der „gemeinschaftliche(n) geistige(n) und sittliche(n) Bestimmung der Menschen" orientiere, drohe die „höchste Steigerung der Cultur nur die sittliche und intcllectuclle Uncultur nach sich zu ziehen" (578; vgl. T R E 18, 270,5-15).

Durch Modernisierung des Luthertums soll jene sittliche Gesinnung erzeugt werden, die die Einheit des neuen Reiches gegenüber den internationalistischen Kräften — Zentrum und Sozialdemokratie - stiften könne. Mit dem Anspruch, die Arbeiterschaft zurückgewinnen zu können, verbindet Ritsehl eine radikale Kritik des römisch-katholischen Kulturverständnisses. Mit dieser antikatholischen Akzentuierung des protestantischen Kulturideals ist Ritsehl zum Theologen des Kulturkampfs geworden, der weit über die Kirche hinaus dem Kampf der Liberalen gegen den „politischen Katholizismus" die entscheidende Rechtfertigung liefert. Unter dem Einfluß Ritschis setzen sich seit 1870 im protestantischen Bürgertum Hegemonieformeln wie „kulturelles Prinzip des Protestantismus", „Kulturmacht des Protestantismus", „Protestantismus als Kulturfaktor", „Kulturpotenz des Protestantismus" und „protestantische Kultur" (Belege bei Graf, Kulturprotestantismus) durch, die zumeist für den politischen Kampf gegen Zentrum und Sozialdemokratie funktionalisiert werden. Diese Identifikation von Protestantismus und „Kulturfortschritt" (vgl. Campe; Waitz) wird insbesondere durch den 1886 gegründeten -»Evangelischen Bund popularisiert. Jenen protestantischen Kulturstolz, den der ältere protestantische Liberalismus und Ritsehl begründet haben, vertreten um die Jahrhundertwende mit großer Ausstrahlungskraft A. v. -»Harnack und W. -»Herrmann. Auch wenn sie den Protestantismus zur Leitkultur erklären, sind ihre Kulturideale doch von großer Offenheit gegenüber Katholizismus, Judentum und reformistischer Arbeiterbewegung geprägt. Auf dem Hintergrund

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einer intensiven Kant-Rezeption deuten sie Religion als jene kulturtranszendente Macht in der Kultur, die allein deren Humanität garantieren könne. Mit ihrer Kritik an der Emigration der Kirche aus der Welt der Bildung und ihrer engen Zusammenschau von Protestantismus und Wissenschaft sind sie zu einflußreichen Repräsentanten des -»•Kulturprotestantismus geworden. 4.5. Christentumskritik und Religionskritik. Seit der Jahrhundertmitte entwickeln Teile des Bürgertums und die sich formierende Arbeiterbewegung ein durch radikale Christentumskritik geprägtes Kulturverständnis. A. -»Schopenhauer setzt Kulturfortschritt mit dem Absterben der Religion gleich. „Alle Religion steht im Antagonismus mit der Kultur" (SW V, 466). Diese Anschauung wird seit 1840 von protestantischen Intellektuellen popularisiert, die im Christentum das entscheidende Hindernis für bürgerliche, d. h. politische Freiheit sehen. In der Kritik an Rothe erklärt Hermann Tegow das Christentum zu einem „culturfeindlichen" Prinzip. Weder sei das Christentum „die M u t t e r . . . der gegenwärtigen europäischen Civilisation" (13) noch lasse es sich mit „moderner Culturentwicklung" (16 f) versöhnen. Kulturgeschichte wird zur Wissenschaft der Überwindung der Religion. Die „Geistescultur der neuen Zeit" werde nicht durch Religion, sondern durch Technik, autonome Kunst und Wissenschaft bestimmt. Diese Dissoziation von Christentum und Fortschritt gewinnt Überzeugungskraft durch die Erfolge technischer Weltbeherrschung. In der Popularisierung des Darwinismus (-•Darwin/Darwinismus) zu einer postchristlichen Gebildetenreligion wird die alte Synthese von Geist und Kultur abgelöst durch eine materialistische Evolutionstheorie, deren Leitbegriffe Kampf, Konkurrenz und Auslese sind. Der einflußreichste Bürgertheologe der Zeit, D.F. -»Strauß, deutet das Christentum gerade deshalb „als ein culturfeindliches Princip", weil seine Jenseitsorientierung der wichtigsten mentalen Voraussetzung des modernen Industrialismus, dem „Erwerbstrieb" bzw. dem „Streben nach irdischen Gütern" widerstreite (Strauß 41 f)Die Kulturdistanz des christlichen Glaubens ist auch das zentrale Thema jener Kritik der „liberale(n)...Protestantenvereinstheologie" (Über die Christlichkeit 80), die 1873 Nietzsches Freund F. -»Overbeck veröffentlicht. Overbeck weist darauf hin, d a ß „es keinen weltflüchtigeren Glauben als den der ältesten Christen" gegeben habe (Über die Christlichkeit 85). Synthese von Religion und Kultur bedeute, d a ß Religion nur noch von Gnaden der Kultur, d . h . nicht mehr als authentische Religion lebe. „Ist sie (seil, die Religion) aber einmal in unsere Kultur übergegangen, so ist sie als Religion tot und lebt nur vom Leben, das ihr die Kultur noch gönnt" (Christentum 247). In Deutschland sei das Christentum zwar „ l ä n g s t . . . Kultur geworden, aber unsere Kultur fängt an, das Christentum zu verlassen" (ebd.). 5. Modernisierungskrise

(1890-1918)

Mit der Hochindustrialisierung (s. T R E 16,146-152) verschärft sich die Fragmentierung der deutschen Gesellschaft. In den Eliten des Kaiserreichs wird seit 1890 eine neue Debatte um die Kräfte geführt, die eine Integration des Gemeinwesens ermöglichen können. Der sozialen Differenzierung parallel kommt es in den Wissenschaften zu einer breiten Diskussion um die Unterscheidbarkeit von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Gegenüber einer materialistisch verkürzten Wirklichkeitssicht betonen vor allem die Neukantianer (s. T R E 17,581-592), daß die gesellschaftlichen Orientierungsprobleme mit dem objektivistischen Instrumentarium der Naturwissenschaften nicht zureichend erfaßt werden könnten. Verbindliche „Kulturwerte" bzw. ,,-güter" ließen sich nur durch den eigenständigen Wissenschaftstyp der „Kulturwissenschaften" formulieren. Die zahlreichen neuen „Kulturphilosophien" um die Jahrhundertwende (vgl. Perpeet) bleiben weithin Programm. Im systematischen Zentrum der „Kulturwissenschaften", im Anspruch auf die Begründbarkeit objektiver, verbindlicher Werte, wird kein Konsens gefunden.

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Aufgrund vielfältiger Querverbindungen zum Neukantianismus verstehen vor allem die zahlreichen Schüler Ritschis Theologie als „Wissenschaft... von der Kulturbedeutung der Religion" (Rade, Akad. Rundschau 1,647). Mit Blick auf die zeitgenössische Kulturkritik, deren zentrales Thema die wachsende Bedrohung individueller Freiheit durch die Eigengesetzlichkeiten kapitalistischer Zweckrationalität ist, soll Theologie als Kulturwissenschaft primär der Stärkung der „Persönlichkeit" dienen (vgl. Graf, Rettung). Diese Konzentration auf das individuelle Subjekt und die sinnhaft-geistige Kultur verstärkt ihrerseits jedoch genau jenes Auseinandertreten von Natur und Geist, Objektivität und Subjektivität, das überwunden werden soll. Gegenüber kulturintegrativen Religionsbegriffen gewinnt seit 1890 die These einer bleibenden Spannung zwischen religiös-asketischer Weltverneinung und Kulturtätigkeit an Bedeutung. Vor allem die Religionsgeschichtliche Schule (s. T R E 13,561,52ff) betont gegen Ritsehl, für den Glauben sei ein eschatologisches Bewußtsein konstitutiv, welches eine Differenz zwischen Kulturschaffen und Gottesbindung des Christen beinhalte. „Die Größe der Religion besteht gerade in ihrem Kulturgegensatz" (Troeltsch, GS II, 100). Religion sei „Kritikerin der Kultur", Prinzip „heiliger Unzufriedenheit" (Bousset 31.34). Dem theologischen Differenzbewußtsein geben Kulturlutheraner wie M. Kahler durch die Unterscheidung zwischen dem geschichtlichen Christentum und dem übergeschichtlichen Charakter des Glaubens Ausdruck. Der konkurrenzorientierte Politikstil neuer Interessenverbände läßt seit der Jahrhundertwende das harmonieorientierte Kulturstaatsideal als obsolet erscheinen. Desto stärker wird im Protestantismus diskutiert, ob und in welcher Weise der Reformation des 16. Jh. noch eine normative Verbindlichkeit zukommen könne. In Aufnahme der seit K. B. -•Hundeshagen geführten Debatte über die ethischen Unterschiede zwischen den protestantischen Konfessionen vertreten E. -»Troeltsch und M . -»Weber die These, daß der Calvinismus mit der modernen Kultur kompatibler als das Luthertum sei und dieses an kultureller Gestaltungskompetenz hinter Calvinismus und Katholizismus zurückstehe. Diese Luthertumskritik wird zum entscheidenden Bezugspunkt für die kulturpolitischen Kontroversen im deutschen Protestantismus des frühen 20. Jh. Die Auseinandersetzung mit den ekklesiologischen und politischen Implikationen von Troeltschs Luthertumsdeutung prägt noch das Kulturverständnis jener Theologengruppen, die in einer antihistoristischen Revolution nach 1918/19 das Ende von bürgerlicher Kultur und liberalem Kulturprotestantismus proklamieren. 5.1. Troeltsch. Troeltschs Werk ist geprägt durch die Erfahrung einer Grundlagenkrise der modernen Kultur. Mittels einer rcligionsphilosophisch fundierten Kulturtheorie versucht Troeltsch ein System objektiver „Kulturwerte" (GS II, 552 u.ö.) zu begründen. Im Anschluß an Schleiermacher erklärt er „Ethik zur Kulturphilosophie", die die „ N o t wendigkeit, Vernünftigkeit und Einheitlichkeit der großen sozialen, aber zugleich die Individuen zu eigentümlichem Wert erhebenden objektiven Zwecke zu erweisen strebt" (GS II, 565). Für diese neue Integration erkennt Troeltsch Religion und Kirche wichtige Funktionen zu. Seine Bemühungen um eine Uberwindung der modernen „Anarchie der Werte" (Dilthey, zit. nach Troeltsch, GS II, 678) konzentrieren sich auf die Suche nach religiösen Kräften für neue Wertbildung. Diese Suche vollzieht sich im Medium „kulturgeschichtlicher" Analysen von Genese und Charakter der Moderne. Aufgrund seiner Offenheit für Soziologie und neue Kulturgeschichte lehnt Troeltsch dogmatische Geschichtsbilder ab. Weder wird die Moderne direkt aus der Reformation abgeleitet und so ein kultureller Prädominanzanspruch des Luthertums .historisch' begründet noch wird sie als christlich illegitim gedeutet. Sensibilität für die Bedrohung individueller Freiheit ist eng verknüpft mit der Hochschätzung moderner Errungenschaften wie -»Toleranz, -•Religionsfreiheit und -»Menschenrechten. Für diese Synthese von prinzipieller Akzeptanz der modernen Kultur und Wahrnehmung ihrer destruktiven Potenzen ist die Annahme einer prinzipiellen Unumkehrbarkeit des Modernisierungsprozesses grundlegend.

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In seinen Analysen der „Kulturbedeutung des Protestantismus" unterscheidet Troeltsch Alt- und Neuprotestantismus. Der Altprotestantismus bleibe weithin noch dem mittelalterlichen Ideal einer „kirchlich geleiteten Kultur", einer „Einheitskultur" bzw. einer „kirchlichen Autoritätskultur" verhaftet. Doch trage er insoweit zur Entstehung der Moderne bei, als er die „Verselbständigung der nationalen Staaten und Kulturen" fördere, „religiösen Individualismus" stärke und durch eine neue Hochschätzung des weltlichen Berufes „die ganze Kulturarbeit" religiös aufwerte (RGG 1 4 , 1 9 1 2 = GS IV, 196 u.ö.). Uber die Unterscheidung von Kirche, Sekte und Mystik versucht er die Zusammenhänge zwischen Sozialgestalt und kultureller Prägekraft von Religion zu erfassen. „Das Christentum" gebe es nur in Gestalt einer Vielzahl von Konfessionen, die sich durch konkurrierende Leitbilder der Kultur und differente Sozialformen unterschieden und je individuell in Modernisierungsprozesse verwoben seien. Aufgrund dieser pluralistischen Verfassung des Christentums könnten christliche Traditionen nur ein Element, nicht aber das ausschließliche Fundament neuer Integration sein. Verstärkt durch die Erfahrungen des als „Kulturkrieg" gedeuteten Weltkrieges und die Einsicht, wie stark nichtchristliche Kräfte an der Formierung der Moderne beteiligt gewesen sind, verschiebt sich Troeltschs Integrationskonzept in Richtung auf eine prinzipielle Anerkennung von Pluralismus. Troeltsch entwirft diese „Kultursynthese" in einem europäischen Rahmen, wobei er neben den USA auch die Sowjetunion in den europäischen „Kulturkreis" (GS III, 700) einschließt. In seiner „gegenwärtige(n) Kultursynthese des Europäismus" (GS III, VIII) ist die jüdisch-christliche Überlieferung nur ein „Kulturgehalt" (GS III, 769 f) neben anderen.

5.2. Positive und konfessionalistische

Theologie.

Im Gegenzug zu Troeltsch entfalten

Vertreter der positiven, modern-positiven und lutherisch konfessionalistischen T h e o l o g i e Kulturinterpretationen, in denen im M e d i u m einer alternativen Sicht des Z u s a m m e n h a n ges von R e f o r m a t i o n und Neuzeit eine r a d i k a l e M o d e r n i t ä t s k r i t i k formuliert wird. B e sonders w i r k u n g s m ä c h t i g h a b e n diese t h e o l o g i s c h e Neuzeitkritik R e i n h o l d - » S e e b e r g und Karl - » H o l l vertreten. 5.2.1. Seeberg. Seebergs „modern-positive" (AELKZ 40, 506) Kulturdeutung basiert auf einer hegclianisierenden Geisttheorie, derzufolge „Religion...erlebte Erregung durch den absoluten Geist" und „Sittlichkeit... die aus dieser Erregung hervorgehende freie Selbsthingabe an den absoluten Geist" (System 3) ist. J e mehr Kultur durch solche religiös fundierte Selbsthingabe geprägt ist, desto stärker gilt sie Seeberg als ein „Mittel zur Verwirklichung des Reiches Gottes". Seeberg kontrastiert „zwei Kulturtypen": „idealistische" und „realistische Kultur" bzw. „Zivilisation". Wo immer ein Eigenrecht des einzelnen gegenüber dem „absoluten" bzw. dem „objektiven Geist" in Anspruch genommen wird, sieht Seeberg den Bestand sittlicher Kultur durch sündhafte Selbstfixierung bedroht. Aufklärung, Kantische Philosophie, Liberalismus, westlicher Kapitalismus, Sozialdemokratie, demokratisches Mehrheitsprinzip und der jüdische Geist sind für Seeberg verschiedene Erscheinungsformen des Grundprinzips der Moderne, der Verselbständigung des Individuums zu einem interessenorientierten rational kalkulierenden Einzelsubjekt. Seebergs Publikationen zu Sozialethik, Rassenkunde, Judenfrage und alldeutsch-imperialistischer Kriegspolitik 1914-1918 dienen dem Kampf gegen jene „Kulturgefahren", denen Deutschland aufgrund von Aufklärung, kapitalistischer Modernisierung und Überfremdung durch den Westen unterliege. Auf dem Hintergrund der innenpolitischen Auseinandersetzungen im Krieg und in der Revolution hat Seeberg in Analysen „der gegenwärtigen Krisis in der europäischen Geisteskultur" neue „Volksgemeinschaft" bzw. einen „nationalen Sozialismus" eingeklagt. Damit verbindet er einen zunehmend aggressiveren rassetheoretisch begründeten Antisemitismus, demzufolge „das Judentum" die wichtigste Trägerschicht aller „liberalistischen" Fehlorientierungen und der „Todfeind jeder wirklichen Kultur und jedes geistigen Fortschritts" sei (Neue Preußische Zeitung 18. März 1922). 5.2.2. Holl. Die Kritik an Aufklärung, Liberalismus und westlichem Rationalismus prägt auch die von K. Holl und seinen Schülern inaugurierte Lutherrenaissance. Seit der Öffnung des Luthertums für nationalistische Integrationskonzepte nehmen Konservative das alte nationalliberale Thema auf, daß die „Reformation als deutsches Kulturprinzip" (vgl. Kaerst) das einzige Heilmittel gegen die fortschreitende „Kulturdiffusion" (Eiert) sei. Im Rekurs auf Luthers libertas christiana soll ein deutsches Freiheitsideal begründet werden. „Deutsche Kultur" (vgl. Berger) avanciert zum Leitbegriff des Anspruchs, allein in Gestalt protestantischer Gewissensreligion ließen sich Freiheit und Bindung so vermitteln, daß Gemeinschaft und Selbstverwirklichung des einzelnen einander wechselseitig beförderten. Im Reformationsjubiläum 1917 wird dieses Kulturideal in Broschüren und Traktaten popularisiert. Die nationale Ideologisierung des Kulturbegriffs prägt zunehmend auch die akademische Reflexion auf die „Kulturbedeutung der Reformation" (GA 1,468ff). Luther habe, so Holl, ein bestimmtes „Kulturziel aufgerichtet", in dem Kultur weder „bloß auf das Sachliche, die Vermehrung der Güter, oder die Verfeinerung der Lebenshaltung" noch allein „auf den Einzelnen"

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( a . a . O . 472) ausgerichtet sei. Eine „neue Vorstellung von Persönlichkeit und eine neue Vorstellung von Gemeinschaft" seien der originäre Beitrag Luthers zur „Kulturbewegung seiner Z e i t " (473). Damit habe Luther „ f ü r die Fortbildung des Rechtsstaats zum Kulturstaat den entscheidenden Anstoß gegeben" (484). In diesem deutschen Staatsideal seien sowohl eine relative „Eigengesetzlichkeit" der weltlichen Kultursphären gegenüber kirchlicher Kulturdominanz anerkannt als auch die heterogenen Wertsphären durch ihre religiöse Fundierung integriert. Sittliche Gemeinschaft könne allein durch ein Ethos erzeugt werden, in dem der einzelne aus dem individuellen Vertrauen auf den theonomen Grund seiner Autonomie den Willen zu praktischer Selbstbegrenzung und die Kraft zur Hingabe an andere gewinne. In der Schule Holls, vor allem bei E. -»Hirsch, wird diese Synthese von Gewissenspathos, antiindividualistischem Gemeinschaftsglauben und starkem Kulturstaat zu einer geschichtstheologischen Fundamentalkritik der modernen Gesellschaft radikalisiert.

6. Antiliberale Kulturkritik Angestoßen durch den Ersten Weltkrieg und das Modernisierungstrauma von 1918/19 wird in der deutschen protestantischen Theologie der zwanziger und dreißiger Jahre eine breite Diskussion über Kulturkritik und theologisch fundierten Neubau der Kultur geführt. Diese Debatte läßt sich im Schema eines radikalen Gegensatzes zwischen liberaler Vorkriegstheologie und sich formierender -»Dialektischer Theologie nur unzureichend erfassen. Nach 1918/19 formulieren keineswegs nur die Dialektischen Theologen eine aggressive Kritik der bürgerlichen Kultur. Auch konservativ-revolutionäre Neulutheraner wie P. -»Althaus, F. Brunstäd, W. -»Eiert und E. -»Hirsch, Religiöse Sozialisten wie P. -»Tillich und Georg Wünsch sowie im liberalprotestantischen Milieu verankerte Kulturtheologen wie Kurt Leese, Theodor Siegfried, Georg Wehrung und Willy Lüttge schreiben nun die Krisenanalytik des Kulturpessimismus im Vorkriegsjahrzehnt fort. Kontinuität gibt es auch in den Bemühungen, kulturellen Krisenphänomenen durch Stärkung der Integrationskraft der Religion entgegenzusteuern. In hoher Ubereinstimmung mit dem Kulturpessimismus außerhalb der Theologie ist die Kulturkritik der nach 1918/19 jüngeren Theologengeneration entscheidend durch eine radikale Antibürgerlichkeit geprägt. Kritik des „bürgerlichen Kulturprotestantismus" (P. Althaus) und seiner „kulturphilosophischen Theodizee" (Leese, Philosophie 77) wird eng verknüpft mit der Ablehnung des „kulturfreudigen Liberalismus". Der Weltkrieg wird als „die große ,Krisis'... alle(r) Wirklichkeiten und Werte der ,Kultur'" bzw. als Offenbarung der „Dämonien der Kultur" (Althaus, Theologie 130) erlebt. Mit Ausnahme einiger weniger jüngerer Liberaler wie etwa Hermann Mulert (1879-1950) rezipieren alle Gruppen in der Theologie der zwanziger Jahre die „idealistische Kulturkritik von Fr. Nietzsche und P. de Lagarde an bis zu G. Simmel und O. Spengler" (Althaus: AELKZ 61,593). Weil „all die ausgezeichneten europäischen und amerikanischen Kulturund Wohlfahrts- und Fortschrittsmenschen, all die wackeren beflissenen Staatsbürger und frommen Christen mit Brand und Mord übereinander herfallen müssen", erklärt K. -»Barth die Gegenwartskultur „zur Komplizin der Unkultur" und „Barbarei". Für Gogarten ist der christliche Glaube „absolute Krisis dieser und jeder Kultur" (ChW 34,787). Mit Blick auf „Decadence" und Verfall kennt Eiert 1921 „nur ein einziges großes Gebot: Das Christentum aus den Verschlingungen mit einer untergehenden Kultur zu lösen, damit es nicht mit in den Strudel hinabgerissen werde" (Kampf 489). In dieser Absage an die „Kulturbindung" des Glaubens (Lüttge 5) ist zwischen den verschiedenen Gruppen Grundkonsens: „Je stärker das Christentum seine Distanz von dieser versinkenden Kultur betont, desto geringer die Gefahr, daß es mitversinkt" (Eiert 7). Diese Kulturkritik ist weithin die Verdichtung einer allgemeinen Erfahrung beschleunigten gesellschaftlichen Wandels. Parallel zur Verschärfung der politischen und sozialen Fraktionierung vollziehen sich in den zwanziger Jahren auch neue Differenzierungsschübe: Die Erweiterung kultureller Teilhabechancen wird im Bildungsbürgertum als eine „Vermassung" erlitten, die die wahre Kultur, d.h. die Kultur der Elite auflöse. Was traditionell die Identität des protestantischen Bildungsbürgertums verbürgt hat, wird unüberschaubar. Durch die permanenten ästhetischen Revolutionen jeweils neuer Avantgarden werden die alten kulturellen Orientierungsmuster aufgelöst.

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D e m kulturkritischen Konsens in der T h e o l o g i e der zwanziger J a h r e entspricht keine Übereinstimmung hinsichtlich „neuer Sinngebung der K u l t u r " (Althaus, T h e o l o g i e 149). Sieht man von B a r t h s widersprüchlicher Haltung zur kulturellen K o n k r e t i o n seiner W o r t - G o t t e s - T h e o l o g i e a b , fordern z w a r alle antibürgerlichen T h e o l o g e n der zwanziger J a h r e eine neue, nachliberale „Kulturt h e o l o g i e " (vgl. von Soden), in der die eschatologisch begründete Kulturdistanz des christlichen G l a u b e n s einerseits und die Unausweichlichkeit von Kulturgestaltung andererseits vermittelt werden k ö n n e n . Angesichts des modernen Pluralismus suchen sie nach jenen K r ä f t e n , die neue „Kulture i n h e i t " und Integration heraufführen k ö n n e n . D o c h stimmen sie weder in der Bestimmung der Integrationsfaktoren noch in der politischen Konkretion ihres Antipluralismus überein.

6.1. Tillich. In Anknüpfung an Schleiermachers Religionstheorie und Troeltschs „Kultursynthese" entwirft P. -»Tillich 1919 das Programm einer nachbürgerlichen „Theologie der Kultur" (GW XI,13 ff), das die gegebene Desintegration durch die Freilegung des religiösen Sinnfundaments aller kulturellen Praxis überwinden soll. Religion ist für Tillich keine Sphäre innerhalb der Kultur, sondern das Bewußtsein des in jedem kulturellen Akt gegenwärtigen „unbedingten Sinnes" (Religionsphilosophie, G W 1,297ff). Um Einheit wie Differenz von Kultur und Religion erfassen zu können, entwickelt er das Konzept „theonomer" Kulturanalyse und -gestaltung. T r o t z Tillichs Kritik an Idealismus und neukantianischer Subjektivitätstheorie soll „ T h e o n o m i e " keine h e t e r o n o m e Verabschiedung von „ A u t o n o m i e " bedeuten. T h e o n o m i e , „Erfülltheit aller Kulturformen mit dem Gehalt des U n b e d i n g t e n " ( G W 1,330), verweist vielmehr auf jenen transzendenten G r u n d der Freiheit, der A u t o n o m i e allein e r m ö g l i c h t . Dementsprechend wird in der Kulturanalyse „ G e h a l t " als Bedingung der „ F o r m " und „ S u b s t a n z " als Bedingung der „ F u n k t i o n " aufgewiesen. „ K u l t u r t h e o l o g i e " soll im Unterschied zu anderen „ K u l t u r w i s s e n s c h a f t e n " den o n t o l o g i schen M e h r w e r t des „ G e h a l t e s " gegenüber allen F o r m e n darstellen und so das Bewußtsein der Unabgeschlossenheit jeder bestimmten Kulturform präsent halten. Ihre T h e m e n sind geschichtliche „ B e w e g u n g " , das immer neue „ D u r c h b r e c h e n " jeder „endlichen F o r m " durch den „unendlichen G e h a l t " , den in die lineare Zeitlinie nicht einholbaren „ K a i r o s " . O b w o h l Religion und Kultur auf „ S i n n e i n h e i t " gerichtet sind, will Tillich doch verhindern, „einen synthetischen Abschluß des Kulturbewußtseins mit Religion gleichzusetzen" ( G W 1,320). Religion sei i m m e r auch „ S i n n a b g r u n d " aller Kulturtätigkeit. Aufgrund dieser p a r a d o x e n Polarität von B e j a h u n g und Verneinung, Gestaltung und Kritik, kann Tillich die destruktiven Potenzen sowohl in der menschlichen „Persönlichk e i t " als auch in der Gesellschaft w a h r n e h m e n . Bei aller Sensibilität für das „ D ä m o n i s c h e " in der menschlichen Existenz und die Paradoxien in der G e s c h i c h t e ist Tillich a b e r letztlich an F.inheit, Synthese und Sinngebung orientiert.

6.2. Brunstäd und Althaus. Auch die Theologen im Umkreis der „konservativen Revolution" überführen in den frühen zwanziger Jahren radikale Modernitätskritik in neue „Kulturtheologien". In den Argumentationen gibt es hohe Ubereinstimmung mit Kulturkritik und Integrationsvorstellungen politisch links eingestellter Theologen. Solche Konvergenzen bestehen etwa zwischen der Religionstheorie F. Brunstäds und der Kulturtheologie Tillichs. Wie Tillich deutet auch Brunstäd Religion als die einheitsstiftende M a c h t , als „Ursprung, Grund und Ziel alles Werterlebens, aller Wertbetätigung" (Idee 192). Nur Religion könne das Grundproblem der Moderne, den „Wertwiderstreit" (ebd.), lösen. Gerade weil sie „in der Gewißheit ihres Gotteserlebnisses über alle Kultur hinaus" sei, sei sie „das Ziel aller Kultur, Richtmaß aller Kultur" (193). P. Althaus will in seiner „ T h e o l o g i e der K u l t u r " ( A E L K Z 6 1 , 954) cschatologische Distanz zu allem „ K u l t u r s c h a f f e n " und christliche Begründung wahren Kulturbewußtseins vereinen. W i e T i l lich betont e r die Pervertierbarkeit der Kultur: „ K u l t u r [ist] der Kampfplatz göttlicher und teuflischer G e w a l t e n . D e r Teufel ist ein großer K u l t u r t r ä g e r " (980). Allein christliches Wissen um die konstitutive Begrenztheit aller Kultur könne die freiheitsbedrohende Alternative von „Kulturverzweiflung" und „ K u l t u r v e r g ö t z u n g " (982) überwinden.

6.3. Gogarten. Der kulturkritische Grundkonsens im Protestantismus der zwanziger Jahre spiegelt sich auch in F. -»Gogartens aggressivem Kampf gegen allen „Kulturidealism u s " . In seiner Polemik „gegen die Maßlosigkeit eines...zivilisatorischen Imperialism u s " (Illusionen 20), gegen „Kulturgeschwätz" ( a . a . O . 114) und die Deutung der Kirche als „Anstalt für seelische Kulturvertiefung" ( a . a . O . 54) verknüpft Gogarten religiös-

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sozialistische Traditionen, lutherische Modernitätskritik, Nietzsches Bourgeoisiekritik, A. Bonus* Absage an alle „Kulturreligion" (Bonus, Germanisierung 134; Gogarten: ChW 34, 788) und Troeltschs Analysen „kulturfeindlichen Christentums" (Illusionen 21). Doch so intensiv Gogarten eine „Krisis unserer Kultur" (ChW 34, 770-777. 786-791) bzw. einen „Zusammenbruch der geistig-sittlichen Kultur" (Schuld 8) konstatiert, so wenig will er alle Bezüge zwischen christlichem Glauben und humaner Kulturgestaltung auflösen. Von bloßer „Kulturfeindlichkeit" weiß er seine theologische Kulturkritik insofern geschieden, als christliche Theologie einen von ideologischer Verklärung freien Zugang zur Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt eröffnen soll. „Kultur" müsse schlicht in ihrer Funktionalität, als Produkt menschlicher Daseinsvorsorge begriffen werden. Werde in der „Religion der Moderne", in allen Synthesen von Kultur und Religion, der Mensch zum Schöpfer der Wirklichkeit hypostasiert, so müsse wahre Theologie Gott als den Schöpfer ins Zentrum des Wirklichkeitsverständnisses rücken und damit zugleich die Begrenztheit des Menschen darstellen. Nur in der Perspektive des Schöpfungsglaubens lasse sich der Stellenwert kultureller Praxis für den Menschen angemessen bestimmen. 6.4. Barth. Gogartens zeitweiliger Weggefährte und späterer Kritiker K. -»Barth verbindet eine radikale Kritik allen Kulturglaubens mit der Begründung eines exklusiv theologischen Wirklichkeitsverständnisses. Barth gilt als Theologe, der mit kaum überbietbarer theologischer Konsequenz die bourgeoise „Kultur- und Morallüge" (Das Wort Gottes 9) aufgedeckt und die Autonomie des Evangeliums neu herausgestellt hat. Die neuere Barth-Forschung (Palma; Andresen) hat gezeigt, daß auch Barth in seiner Kulturkritik keineswegs in bloßer Diastase befangen bleibt. Einerseits verstärkt er in den zwanziger Jahren nur die allgemeine Kulturkritik antiliberaler Intellektueller. Andererseits fungiert als Maßstab solcher Kritik gerade der idealistisch-normative Kulturbegriff. Kultur steht im Dienst der Verwirklichung von wahrer Humanität. Wie Gogarten wehrt sich Barth dagegen, durch emphatischen Gebrauch des Kulturbegriffs „ein Stück Profanität zur feierlichen Hypostase zu steigern, ihm den Rang einer Gottheit zuzuschreiben" (Andresen 220). Der Entmythologisierung des Kulturbegriffs entspricht eine theologische Neubestimmung von Kultur: Sie soll gerade in ihrer bloßen Säkularität wahrgenommen werden. In allen Phasen seines Denkens betont Barth, Kultur habe „nur irdischen..., nur kreatürlichen und nicht göttlichen Charakter" (KD III/4, 599). Seit den frühen zwanziger Jahren ist für Barth „Kultur" nur ein Äquivalent für „Arbeit". Dieser Profanisierung des Kulturbegriffs entspricht dessen Rückbindung an das „Wort Gottes". Maßstab des Gelingens der Kultur ist der Grad ihrer Analogie zum trinitarisch begründeten „Handeln Gottes" in Schöpfung, Versöhnung und Erlösung. In dem 1926 veröffentlichten Aufsatz „Kirche und Kultur" wird Kultur so als ein „Anzeichen" der verborgenen Nähe des Reiches Gottes gedeutet. Kurz darauf kritisiert Barth diesen Aufsatz als Ausdruck falscher Anpassung an theologia naturalis (vgl. Busch 210). Doch noch die Lichterlehre der Kirchlichen Dogmatik läßt erkennen, daß die Selbständigkeit der Kultur nicht christologisch eingezogen werden kann. Barth bestimmt Kultur hier als einen möglichen Ort, an dem sich die Herrschaft Jesu Christi bezeugen kann. Doch sei „die Teilnahme an ihr" nicht „mit einer Teilnahme am Werke Gottes" identisch. Im Verhältnis zur eigentlichen Bestimmung des Menschen, dem „Gehorsam gegen Gottes Gebot", könne Kultur nur ein „Parergon" sein. Gerade als „Parergon jenes eigentlich und wesentlich geforderten Ergon" sei sie aber „Dienstpflicht, die niemand übersehen und vernachlässigen kann, der dem Ruf Gottes gehorsam sein will" (ebd.).

Im Kontext des Kampfes um die Selbständigkeit der Kirche nach 1933 ist Barths Theologie primär als „Kirchentheologie" wirksam geworden. Sie dient bis in die Gegenwart zur Legitimation eines kulturellen Avantgardeanspruches der empirischen Kirche. Ob solche Funktionalisierung der unbedingten Souveränität des Wortes Gottes auf die empirische Kirche hin den Intentionen Barths entspricht, ist in der neueren Barth-Diskussion (Dalferth; Graf; Jüngel; Rendtorff) umstritten. Die theologische Dogmatisierung des Kulturbegriffs läßt sich auch als subtile Anpassung an die mit der gesellschaftlichen Differenzierung verbundene gesamtkulturelle Marginalisierung der Kirche deuten. Barths theologische Reservatsprache wäre dann als Mittel reflektierter Darstellung und

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Akzeptanz der eigenen Partikularität zu deuten. Sie wäre zugleich Ausdruck des Verzichts auf den kulturtheologischen Anspruch, im Medium der Religion eine umfassende Einheit aller Kultursphären formulieren zu können. 6.5. Suche nach neuer Integration. Je größer das Leiden an gesellschaftlichem Pluralismus, desto stärker suchen die Theologen der zwanziger Jahre nach neuen Integrationsfaktoren. Ihrer Deutung der Religion als des wichtigsten Integrationsmediums entspricht aber kein Konsens darüber, wie sich die einheitsstiftende Kraft der Religion konkret entfalten kann. Gemeinsames Merkmal aller theologischen Kulturdeutungen ist es, daß sie Integration vom individuellen Subjekt her, über fromme Innerlichkeit, Gewissen und ethische Gesinnung definieren. Wie das Allgemeinwerden solcher Gesinnung bzw. die gesamtkulturelle Prägekraft religiöser Bindung zu denken ist, bleibt jedoch umstritten. Für die zwanziger Jahre lassen sich drei Grundpositionen unterscheiden: ein heroischer Individualismus, ein nationalistischer Kulturstaatsglaube und die Vision einer neuen Volkskirche als zentraler Kulturmacht. 6.5.1. A. Schweitzer und R. Bultmann. Das liberale Erbe des 19. Jh., die enge Zusammenschau von Kultur und religiös-sittlicher Gesinnung, wirkt in den zwanziger Jahren in der „Kulturphilosophie" A. -»Schweitzers sowie in den Schriften R. —»Bultmanns und Hans v. Sodens (1881-1945) fort. In seinen Analysen von „Verfall und W i e d e r a u f b a u der K u l t u r " diagnostiziert Schweitzer eine „Selbstvernichtung der K u l t u r " (Verfall 2 ) . Weil „ d a s Ethische das konstituierende Element der K u l t u r " (40) bzw. das Ziel der Kultur p r i m ä r „die geistige und sittliche Vollendung des E i n z e l n e n " (21) sei, k ö n n e die R ü c k k e h r aus der herrschenden „ U n k u l t u r zur K u l t u r " (39) nur über den Aufbau einer neuen „ K u l t u r w e l t a n s c h a u u n g " (53) erfolgen. Deren F u n d a m e n t bildet ein mystisch vertieftes Verständnis des menschlichen Willens als einer ursprünglichen, autarken G e w i ß h e i t über den Sinn ethischer Praxis. Realistisch sei die Welt z w a r pessimistisch und resignativ zu sehen. Aber die Reflexion auf den eigenen „Willen zum L e b e n " (Kultur X I I I ) erschließe sowohl eine „ W e l t - und Lebensbej a h u n g " ( a . a . O . X I I ) , die über das b l o ß realistische Erkennen hinaus die M ö g l i c h k e i t kultureller Praxis verbürge, als auch eine „ G e s i n n u n g der Ehrfurcht vor dem L e b e n " , die nicht a u f das menschliche Leben beschränkt sei. D u r c h diese Verbindung von Mystik und Willensmetaphysik sollen jene „ K u l t u r e n e r g i e n " ( a . a . O . 262) gewonnen werden, die den Weg zur R e t t u n g der Kultur eröffnen k ö n n e n . Dieser pathetische Individualismus schließt die Forderung der Änderung von Kirche und S t a a t ein: D i e Kirche soll „zum Ideal religiöser G e m e i n s c h a f t u m g e f o r m t " werden, die „die M e n schen in elementarer, denkender, ethischer R e l i g i o s i t ä t " einigt ( a . a . O . 2 7 3 ) . D e r Staat soll sich „durch ethische Kulturgesinnung l e i t e n " lassen ( a . a . O . 276). Diese ist streng kosmopolitisch gedacht. W o Schweitzer vom „ K u l t u r s t a a t " spricht, formuliert er immer eine entschiedene Kritik der Verengung von Kultur auf „ n a t i o n a l e K u l t u r " ( a . a . O . 2 7 6 ) .

Auch R. Bultmann diskutiert die von den Religionsgeschichtlern übernommene Frage nach „der Religion als Kulturfaktor" (ChW 34, 418) in kritischer Distanz zu allen nationalprotestantischen Synthesen von Kultur und Religion. Obgleich genetisch alle „Gebiete der Kultur" „aus dem Schöße der Religion" (ebd.) entstanden seien, sei für Religion ein „Gegensatz zur Kultur" (a. a. O. 421) konstitutiv. Kultur basiere auf „schöpferisch-aktivem Verhalten des Geistes" (435) bzw. auf verallgemeinerungsfähiger Rationalität. Religion bestehe demgegenüber „im Sich-Schenkenlassen", so daß religiösen Erkenntnissen „schlechthin nur individuelle Geltung" zukomme (ebd.). So manifestiere sich „Religion... nicht in objektiven Gestaltungen..., sondern in dem, was mit dem Individuum geschieht" (a.a.O. 436). Im religiösen Erleben werde der einzelne seiner selbst so inne, daß er sich über Natur und Geisteswelt prinzipiell erhaben wisse. Gerade in dieser Transzendenz religiösen Erlebens über alle Kultur sei Religion dann aber „der stärkste Kulturfaktor" (a. a. O. 452). Aufgrund dieser Deutung lehnt Bultmann alle Integrationskonzepte ab, in denen der einzelne sog. „objektiven Kulturwerten" untergeordnet wird. Bultmann kritisiert sowohl die Vorstellung kultureller Integration durch eine starke „Volkskirche" als auch eine Synthese von Kulturstaat und Religion. Weil „die Idee der Freiheit...unserer abendländischen Kultur ihren eigentümlichen Charakter gegeben" habe (GuV II, 274), sieht er auch in seinem Spätwerk das

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„Verhängnis.. .der abendländischen Kultur" darin, daß „das kulturelle Leben mehr und mehr der Organisation unterworfen wird und der Staat mehr und mehr seiner ursprünglichen und eigentlichen Aufgabe, Rechtsstaat zu sein, entfremdet wird, indem er zum Kultur- und Wohlfahrtsstaat wird" (GuV III, 284). 6.5.2. O. Dibelius. Ungleich wirkungskräftiger als der liberale Individualismus Schweitzers und Bultmanns sind in den zwanziger Jahren theologische Kulturkonzepte, in denen der Kulturbegriff nationalistisch aufgeladen wird. Solche Fundamentalpolitisierung prägt nicht nur jene Kulturtheorien, in denen der Staat zum zentralen Integrationssubjekt erklärt wird, sondern auch diverse neue Volkskirchenkonzepte (-»Volkskirche). Den einflußreichsten Entwurf eines kirchenzentrierten protestantischen „Kulturprogramms" hat 1927 O. -»Dibelius vorgelegt. Angesichts der vielfältigen Zersetzungserscheinungen der „modernen Zivilisation" (226) und der Herrschaft von „seelenlosen Mächten öffentlicher Verwaltung" (227) fordert Dibelius ein „evangelisches Kulturprogramm". Er postuliert eine „Kulturautonomie" der Kirche: In weltanschaulichen bzw. kulturpolitischen Fragen soll der parlamentarische Staat auf Herrschaftsausübung zugunsten der Religionsgemeinschaften verzichten. 6.5.3. Kulturstaatstheologien. Sowohl politisch konservative Lutheraner als auch politisch links orientierte Theologen wie P. Tillich und Otto Piper (1891-1982) setzen Ende der zwanziger Jahre auf einen starken Kulturstaat, der den wahren, homogenen Volkswillen realisieren soll. Unterschiede gibt es jedoch bezüglich der Relevanz der Reformation für die Fundierung dieses Kulturstaates, in der Einschätzung von Aufklärung und Humanismus sowie schließlich in der Deutung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Schließt der „nationale Sozialismus" (P. Althaus) der revolutionär-konservativen Lutheraner die Bekämpfung der Parteien der Linken ein, so wollen die „religiösen Sozialisten" neue Integration gerade durch eine „religiöse Vertiefung" des Sozialismus herbeiführen. Alle auf die Stärkung äußerer Autorität gerichteten Konzepte enthalten die Tendenz zur Delegitimierung des Weimarer Parteienstaates. Neulutheraner wie Brunstäd, Althaus, Walter Künneth, Heinz-Dietrich Wendland verbinden den ,,protestantische[n] Entwurf des Kulturverständnisscs" (Wcndland: Jungnationale Stimmen 6, 86) eng mit dem Ziel einer Uberwindung der parlamentarischen Demokratie in Richtung auf einen autoritären Staat. Je eindeutiger das Bekenntnis zur politischen Rechten, desto stärker wird dabei ein religiös überhöhter Nationalismus zum entscheidenden Integrationsfundament erklärt. Weil „die Nation die Kulturgemeinschaft des Volkes" sei, sei „Kulturschöpfung... Nation werdung und umgekehrt. Beides ist Erweckung persönlichen Lebens, in dem Menschen zum Ewigen berufen werden", erklärt Brunstäd. Solcher Kulturnationalismus ist nicht identisch mit der rassetheoretisch begründeten Totalvergemeinschaftung der Nationalsozialisten. Aber indem die protestantischen Konservativen ein zur Schöpfungsordnung hypostasiertes „Volkstum" dem Individuum vorordnen, verhelfen sie Integrationssehnsüchten zur Durchsetzung, die viele Protestanten dann in der „deutschen Revolution" von 1933 erfüllt sehen. 7. Der Untergang der Kultur in der politischen

Totalvergemeinschaftung

(1933

-1945)

Die pluralistische Kultur von Weimar und der von den als „religionslos" bekämpften Sozialdemokraten mitgeprägte parlamentarische Staat sind von den protestantischen Eliten mehrheitlich abgelehnt worden. So verknüpfen sie große Erwartungen mit der Revolution des -»Nationalsozialismus. In ihrem ersten Aufruf erklärt die neue „nationale Regierung", „die Fundamente [zu] wahren und [zu] verteidigen, auf denen die Kraft unserer Nation beruht", sowie „das Christentum als Basis unserer gesamten M o r a l . . . in ihren festen Schutz [zu] nehmen" (Dokumente 1). Auch jene Gruppen, die sich in Opposition zu den -»Deutschen Christen und zur Kirchenpolitik des NS-Staates als „Bekennende Kirche" formieren, teilen mehrheitlich den nationalsozialistischen Glauben an eine

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Erneuerung deutscher Nationalkultur. Dabei übernehmen sie auch die nun dominierenden rassischen Definitionen von Kultur. D i e auf Gleichschaltung zielende Kirchenpolitik der Nationalsozialisten, in Kreisen der Bekennenden Kirche häufig als ein neuer staatlicher „ K u l t u r k a m p f " vor allem gegen die evangelischen Landeskirchen gedeutet ( J K 1, 29), führt seit dem Herbst 1933 dazu, daß Fragen nach der Selbständigkeit der Kirche, nach ihrer Verfassung und nach dem Z u s a m m e n h a n g von Bekenntnis und Sozialgestalt ins Zentrum der innerkirchlichen Auseinandersetzungen rücken (-»Nationalsozialismus und Kirchen). In der Kirchenkampfforschung ist noch kaum diskutiert worden, welche kulturpolitischen Implikationen die konkurrierenden ekklesiologischen Konzepte haben bzw. welche Leitideale von Kultur mit den im Kirchenkampf umstrittenen Theologien jeweils verbunden sind. Die Deutschen Christen verstehen die Revolution der „deutschen Freiheitsbewegung" als einen auf Autonomie von „Welt und M e n s c h " zielenden Protest von „ K u l t u r " und „Volksgef ü h l " gegen jene radikale kirchliche „Kritik an der K u l t u r " (A. Duhm 1 4 f ) , in der ein Autoritätsanspruch der Kirche über alle Lebensgebiete behauptet worden sei. Prononciert betonen sie die „Kulturaufgabe der K i r c h e " , setzen einen „Kulturausschuß" ein und schaffen das Amt eines „Reichskulturreferenten" (vgl. J K 1, 281). Trotz der unbefriedigenden Forschungslage läßt sich für die Bekennende Kirche feststellen, daß ihre kritische Distanz zur nationalsozialistischen Kirchenpolitik keineswegs gleichbedeutend ist mit Offenheit für liberale, pluralistisch differenzierte Kultur. Die von den Nationalsozialisten betriebene „Entkonfessionalisierung des öffentlichen L e b e n s " kritisieren Theologen der Bekennenden Kirche mit Argumenten, in denen die alten Vorstellungen von einer christlichen Homogenität der Kultur und einer Führungsrolle der Kirchen bei der öffentlichen Wertbildung aktualisiert werden. Die Resistenzfähigkeit bekenntniskirchlicher Gruppierungen ist stark bedingt durch die monistischen Orienticrungsmuster der konservativen Kulturlutheraner des 19. J h . Selbst für den aktiven Widerstand D. -»Bonhoeffcrs ist ein Verständnis der „säkularen W e l t " kennzeichnend, in dem eine christologisch begründete Einheit des „Wirklichkeitsg a n z e n " normativ vorausgesetzt wird. Den liberalen „Kulturprotestantismus" kritisiert Bonhoeffer mit dem Argument, seine Synthesekonzeptionen setzten eine allzu bereitwillig akzeptierte kulturelle Differenzierung voraus. Erst seine Überlegungen zu einem „religionslosen Christentum" lassen das Bemühen erkennen, die Fixierung auf die Kirche bzw. einen religiösen Reduktionismus der Wirklichkeitswahrnehmung zu überwinden, die „ A u t o n o m i e der W e l t " (Widerstand 239) als theologisch legitim zu erweisen und den Glauben antimonistisch als eine Kraft zu verstehen, die ein „Leben in der Mehrdimcnsion a l i t ä t " (Widerstand 210) erlaubt.

8. Gebrochene Akzeptanz des Pluralismus (von 1945 bis zur Gegenwart) Der sog. „ Z u s a m m e n b r u c h " des Nationalsozialismus wird in der deutschen Öffentlichkeit weithin mit den Grundmustern der konservativen Modernitätskritik des 19. J h . gedeutet. Die zahlreichen neu- oder wiedergegründeten „Kulturzeitschriften" dokumentieren, d a ß auch viele den Kirchen kritisch gegenüberstehende Intellektuelle kulturelle Neuorientierung durch eine Aktualisierung christlicher Traditionen zu leisten versuchen. In dieser Suche nach Möglichkeiten, die wiederaufzubauende Kultur mit dem Geist des Christentums zu durchdringen, spiegelt sich die starke politische Stellung der Kirchen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. N a c h dem „ Z u s a m m e n b r u c h " sind sie die einzigen intakten Institutionen. Auf dem Hintergrund ihres „ W i d e r s t a n d e s " erscheinen sie moralisch legitimiert, eine neue „kulturpolitische Verantwortung" (Hammelsbeck) wahrzunehmen bzw. eine neue „ K u l t u r e t h i k " (Thielicke) durchzusetzen. Erneut wird von einem „kulturellen Zusammenbruch ohnegleichen" (Müller-Armack 49) geredet, einer alle Lebensbereiche umfassenden Kulturkrise (Theologische Überlegungen: N o o r m a n n II, 260). Die Ursachen werden gesucht in der Emanzipation menschlicher Vernunft vom göttlichen G e b o t , der Verselbständigung der Kultur gegenüber ihrem

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christlichen Fundament. Der Nationalsozialismus sei nur das konsequente Ende eines in allen europäischen Gesellschaften zu beobachtenden „Säkularismus" (-»Säkularisierung), der die Fundamente der abendländischen Kultur zerstöre. Die „Kulturkrise" wird als „Gericht G o t t e s " interpretiert. Einziger Ausweg aus dem „Zusammenbruch einer säkularisierten Kulturform" (Müller-Armack 55) kann dann nur eine „Rückwendung zur Transzendenz" ( a . a . O . 164) bzw. eine Rechristianisierung des gesamten öffentlichen Lebens sein. Selbst Theologen wie Gogarten und Bultmann, die die Säkularisierung als legitim anerkennen und sich um eine dem modernen Bewußtsein kompatible Entmythologisierung der christlichen Glaubensvorstellungen bemühen, bleiben einer Kritik des „Säkularismus", des Pluralismus, des Selbstverständnisses des modernen autonomen Menschen verpflichtet. Dem Grundkonsens hinsichtlich der Rechristianisierung des Gemeinwesens entspricht erneut keine Übereinstimmung darüber, über welche Medien und Institutionen das kulturelle Allgemeinwerden des Christlichen erfolgen kann. Die kulturpolitische Diskussion konzentriert sich zunächst auf Fragen der Erziehung und der Neugestaltung des -»Schulwesens. Vor allem im Streit um Bekenntnis- oder christliche Simultanschule zeigt sich, daß es „das Christliche" als Fundament der Kultur immer nur in Gestalt konfessioneller Traditionen gibt. Z w a r unterstützen die kirchlichen Führungseliten die Gründung „christlicher" -»Parteien und treten die antikatholischen Elemente im protestantischen Kulturverständnis zunächst zurück. J e mehr jedoch der Einfluß katholischer Eliten in Wirtschaft und Politik der „Wiederaufbauphase" wächst, desto stärker gewinnen bei vielen Protestanten alte antikatholische Feindbilder neue Plausibilität. Trotz der Entstehung zweier deutscher Staaten bleiben die protestantischen Kircheneliten an der traditionellen Verbindung von Reich, Nation und evangelischer Kirche orientiert. Die Bundesrepublik wird im politisch linken wie rechten Protestantismus der fünfziger Jahre häufig als ein durch römischen Klerikalismus geprägter Staat abgelehnt. In beiden Milieus verbindet sich mit der Westintegration die Sorge einer Überfremdung durch den „Amerikanismus". Konservativer Protestantismus und der im Umkreis der „Bruderschaften" sich formierende „Linksprotestantismus" divergieren allerdings in der Stellung zu Kommunismus und Sozialismus. Der konservative Protestantismus deutet, im engen Bündnis mit den katholischen Kräften in C D U und CSU, „christliche Kultur" als „Bollwerk" gegen Bolschewismus und Kommunismus. Unter dem Einfluß K. Barths lehnen Theologen des Linksprotestantismus wie Hermann Diem ( 1 9 0 0 - 1 9 7 5 ) , Ernst Wolf (1902—1971) und H. J . -»Iwand solche politische Inanspruchnahme des Christlichen als illegitime Funktionalisierung des Glaubens ab. Im Verhältnis zur Theologie zwischen 1870 und 1933 verliert der Kulturbegriff in theologischen Publikationen nach 1945 an Bedeutung. Gleichwohl wirken die Traditionen der Modernitätskritik fort. In den Debatten der fünfziger Jahre über „Säkularism u s " , „Vermassung", den göttlichen Stiftungscharakter von Institutionen und die „Eigengesetzlichkeiten" in Technik, Ökonomie und Politik werden überkommene Muster protestantischer Kulturkritik variiert. Der alte Streit um die christliche Legitimität der modernen Welt bleibt das hintergründige T h e m a in allen politischen und ethischen Kontroversen. Die ursprünglich mit dem Kulturbegriff verbundenen Integrationsansprüche werden in allen Lagern des Protestantismus aufrechterhalten. J e mehr sich die Gesellschaft differenziert, desto schwieriger wird es aber, geschlossene Gesamttheorien der Kultur zu formulieren. Unter den Bedingungen des entwickelten Pluralismus läßt sich die Intention auf das Ganze nur noch perspektivisch, in je besonderer Gestalt zur Geltung bringen. Diese Tatsache spiegelt sich theologiegeschichtlich in der Transformation der Kulturtheorien in Kirchentheorien. In den ekklesiologischen Dauerdebatten des bundesdeutschen Protestantismus werden in gewandelter Gestalt die alten kulturpolitischen Kontroversen fortgeführt. Denn jede Theorie spezifischer Funktionen der Kirche impliziert immer eine Gesamtperzeption jener Welt, die als Umwelt der Kirche gedacht wird.

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Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Tanner

Kulturkampf 1. Definitionsversuche und Begriffsgeschichte 2. Das Vorspiel: Der Kölner Kirchenkonflikt 3. Staatskirchenrechtliche Konflikte als Folge von Revolution und Konstitutionalismus 4. Entstehung und Verlauf des Kulturkampfes 5. Motive für die Kulturkampf-Politik Preußen-Deutschlands 6. Die Beilegung des Kulturkampfes 7. „Kulturkampf" als europäisches Phänomen - ein Überblick (Literatur S. 228)

1. Definitionsversuche

und

Begriffsgeschichte

Für den akuten Konflikt zwischen dem ultramontanen Katholizismus ( - • Ultramontanismus) in Gestalt einer politisch formierten kirchlichen Partei, dem Zentrum, und dem modernen preußischen Staat gebrauchte der Mediziner und liberale Parlamentarier Rudolf Virchow in einer Preußischen Abgeordnetenhaus-Rede vom 17.1.1873 den schon vorher geläufigen Ausdruck (vgl. A. Wahl 6f Anm. 1) „Kulturkampf". Der Begriff wurde in der zeitgenössischen Diskussion sofort aufgenommen und ist als Bezeichnung dieses Konfliktes auch in die Historiographie eingegangen. Selbst in der katholischen Geschichtsschreibung wurde der Begriff rezipiert.

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Kulturkampf

In der Enciclopedia Cattolica, Rom 7 (1951) 756-762 heißt es beispielsweise in dem von Augusto Moreschini verfaßten Artikel: „Kulturkampf ( = lotta per la civiltà) - Sotto questo nome si è camuffata una violenta persecuzione legale e poliziesca perpetrata dal cancielliere Bismarck contro la Chiesa cattolica in Germania e specialmente in Prussia, le cui cause non si possono individuare se non nella politica personale di Bismarck, feroce assertore della,ragion di Stato', favorito dal liberalismo massonico, dal germanesimo antiromano e dal protestantismo" [Hinter diesem Namen verbarg sich, durchgeführt vom Kanzler Bismarck, eine harte gesetzliche und polizeiliche Verfolgung der katholischen Kirche in Deutschland und speziell in Preußen, deren Ursachen man nur in der persönlichen Politik Bismarcks, (einem > wilden Verfechter der Staatsräson', der vom freimaurerischen Liberalismus, vom antirömischen Germanismus und vom Protestantismus unterstützt wurde, festmachen kann].

Lediglich die R E 3 verzichtet offenbar gezielt auf einen Artikel „Kulturkampf", um den akuten Konflikt im Lichte einer im 19. Jh. so wahrgenommenen weltgeschichtlichen Dimension zu interpretieren: dem epochenübergreifenden Herrschaftsanspruch des römischen Katholizismus über den Staat. In Benraths RE-Artikel „Ultramontanismus" (20 [1908] 213 - 2 2 5 ) erscheint „Kulturkampf" darum konsequent als Epiphänomen der übergeordneten großen Auseinandersetzung zwischen dem modernen Ultramontanismus und den postabsolutistischen Nationalstaaten. Auch für Michael Buchberger handelt es sich bei dem Kulturkampf nur um einen kleinen Ausschnitt aus dem „uralten Machtstreit... zwischen Königtum und Priestertum..., um die Abgrenzung, wie weit die Priesterherrschaft und wie weit die Königsherrschaft gehen s o l l . . . " (LThK 2 6 [1934] 294-297). Die moderne katholische Historiographie betrachtet den Kulturkampf in Deutschland ebenfalls als Teilphänomen - jedoch nicht im Sinne eines jahrhundertelangen Ringens zwischen Imperium und sacerdotium oder eines Konfliktes der katholischen Minderheit mit dem neuen, protestantisch geprägten Kaiserreich. „Unter,Kulturkampf' ist nicht die über Jahrhunderte andauernde Minderheitssituation katholischer Staatsbürger in den protestantischen Ländern Nord-, Nordwest- und Mitteleuropas zu verstehen. Der Kulturkampf als historisches Phänomen ist überhaupt nicht primär aus konfessionellen Gegensätzen zu erklären, wenn solche auch verschärfend auf ihn eingewirkt haben. Der Kulturkampfwar vielmehr eine kontinentaleuropäische Erscheinung, vorwiegend in mehrheitlich katholischen Ländern oder Ländern mit starken katholischen Minderheiten. Er entstand dort, wo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der machtvoll vordringende, zentralisierende Einheitsstaat sich im Geist des Fortschritts mit teils säkularistisch wirkenden, teils der Religion direkt feindlichen Zeitströmungen verband und den bis dahin staatskirchlich, konkordatär oder verfassungsrechtlich garantierten Status der Kirche und ihren Einfluß auf die Gesellschaft zurückdrängen wollte" (W. Becker, Kulturkampf als europäisches und als dt. Phänomen: HJ 101 [1981] 444).

Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß die konfessionellen und nationalen Eigentümlichkeiten mit ihrem jeweiligen besonderen Motivationsgeflecht es nicht erlauben, den Kulturkampf als gesamteuropäischen Weltanschauungskampf zu begreifen, den die Kirchen führen mußten, um sich gegen die von den Religionsgesellschaften autonom gestaltenden ideologischen Grundlagen des Staates zu behaupten. Die ethischen Grundlagen des modernen preußisch-deutschen Staates besaßen vielmehr eine klare kulturprotestantische Prägung im Sinne eines weltlichen Christentums und unterschieden sich damit charakteristisch von den ideologischen Grundlagen anderer europäischer Staaten (vgl. dazu G. Besier, Kulturkampf als europäisches Phänomen?: M E K G R 37/38 [1988/89] 5 1 5 - 5 2 7 und u.S.217). 2. Das Vorspiel: Der Kölner

Kirchenkonflikt

Wie viele andere europäische Staaten auch hielt -»Preußen nach 1815 an einer staatskirchlichen Praxis fest, die der Regierung umfassende Rechte über die Kirchenparteien zugestand (-»Kirche und Staat IV). Nicht nur die evangelische, auch die katholische Kirche duldete diese Verhältnisse und richtete sich in ihren Anordnungen nach den staatskirchlichen Grundsätzen - nicht zuletzt wohl auch darum, weil die preußische Krone sich in Fragen von Bistumserrichtungen und deren Dotationen äußerst großzügig verhielt

Kulturkampf

211

(Zirkumskriptionsbulle De salute animarum vom 1 6 . 7 . 1 8 2 1 ; sie erhielt durch Kabinettsorder vom 2 3 . 8 . 1 8 2 1 die königliche „Billigung und Sanktion"). So bestimmte das an die wahlberechtigten Kapitel gerichtete Breve Quod de fidelium -»Pius' VII. vom 16. Juli 1821, daß nur solche Geistliche zu Bischöfen gewählt werden dürften, die „nicht minder Sr. Maj. dem König genehm sein werden, über welche Umstände Ihr vor dem feierlichen... Wahlarte Euch zu vergewissern trachten werdet". Da eine Regelung über das dabei zu wählende Verfahren unterblieb, konnte die Regierung Friedrich Wilhelms III. bei Sedisvakanzen jedesmal die Initiative ergreifen und den Kapiteln eine bestimmte „persona grata" benennen. Unter Anwesenheit des staatlichen Kommissars wurde der Designierte dann auch regelmäßig gewählt. (Erst das Domkapitel von Trier machte 1836 erstmals Schwierigkeiten.) Bei der Nominierung ihrer Bischofskandidaten legte die preußische Regierung nicht nur Wert auf eine betont staatstreue Haltung, sondern darüber hinaus auf eine eher „unrömische Haltung" der Geistlichen. Dieser Einstellung u. a. verdankte auch Graf Spiegel seine Beförderung zum Erzbischof von Köln im Jahre 1825. Spiegels Abneigung gegen die „Frömmler" und „Ultramontanen", gegen den „finstern Geist, der zu Rom sein Wesen treibt" war seit seiner Amtszeit als Bischof von Münster - dazu hatte ihn Napoleon 1813 ernannt! - allgemein bekannt. Seine geistige Nähe zur theologischen Schule von Georg -»Hermes, der er in der niederrheinischen Kirchenprovinz einen beachtlichen Einfluß verschafft hatte, trug ihm überdies die Gegnerschaft konservativer katholischer Kreise ein und verstärkte noch die Kontroverse mit dem Münsteraner Generalvikar Clemens August v. Droste-Vischering, den er seinerzeit von der Verwaltung des Bistums Münster verdrängt hatte und der entsprechend dem Willen des Kronprinzen 1835 als Nachfolger des verstorbenen Spiegel den Erzstuhl von Köln erhielt. Der nun bald einsetzende Streit um die Einhaltung einer geheimen Konvention in der Behandlung der Mischebenfrage (-»Mischehe), die noch Spiegel 1834 mit Berlin abgeschlossen hatte, bildete freilich nur den akuten Auslöser für einen viel tieferen und weiteren Konflikt: den zwischen den alten protestantisch-konservativen und überwiegend agrarisch strukturierten Landesteilen im Osten Preußens und der 1815 neu hinzugewonnenen katholisch-liberalen und industriereichen Provinz im Westen. Da König Friedrich Wilhelm III. und sein Kabinett aus ihrer Abneigung gegen den Katholizismus keinen Hehl machten, den „französisierten" Rheinländern auch politisch überwiegend mißtrauten, das liberale rheinische Recht außer Kraft setzten und überdies die Beamtenschaft für die neuerworbene Provinz aus dem Osten importierten, konnte das durch Hannover ohnehin geographisch getrennte Staatsgebiet auch geistig-mental nicht zusammenwachsen; nach dem Empfinden der rheinischen Bevölkerung schien vielmehr eine Fremdherrschaft die andere abgelöst zu haben. Auch der Wunsch der katholischen Rheinländer, Köln als Metropole des preußischen Westens auszugestalten, wurde in Berlin vereitelt, indem man Koblenz zum Sitz des Oberpräsidenten und des Generalkommandos bestimmte, die Universität nach -»Bonn und die Kunstakademie nach Düsseldorf gab; berufen wurden beinahe ausschließlich Protestanten. Damit war der Boden für einen Konflikt gründlich bereitet, und es bedurfte nur mehr eines Anlasses, ihn zum Ausbruch zu bringen. Das gesellschaftliche Problem konfessioneller Mischehen sollte zur Kraftprobe zwischen beiden Landesteilen werden, enthielt es doch nicht nur konfessionellen, sondern auch bevölkerungspolitischen Sprengstoff. Im Widerspruch zu den kanonischen Regeln bestimmte das preußische Allgemeine Landrecht von 1794, daß die Söhne in der Konfession des Vaters, die Töchter in der Konfession der Mutter zu erziehen seien; doch sollte ein rechtlicher Einspruch gegen davon abweichende Regelungen ausgeschlossen sein, solange sich die Eltern in der Kindererziehung einig waren. Die preußische Deklaration von 1803 modifizierte zwar den ersten Satz - nun sollten alle Kinder in der Religion des Vaters erzogen werden - nicht aber den zweiten. Ihre Intention war es, die Stellung des protestantischen Vaters in gemischten Ehen zu stärken, da bei Einhaltung der strengen katholischen Praxis alle Kinder im katholischen Glauben hätten erzogen werden müssen, was in der Folgegeneration zu konfessionspolitischen Verschiebungen zugunsten des Katholizismus geführt hätte. Als die preußische Regierung durch Kabinettsorder von 1825 die Deklaration von 1803 auch auf die 1815 neuerworbenen Landesteile übertrug, kam es zum Widerstand katholischer Geistlicher, indem diese sich weigerten, gemischte Ehen ohne das Versprechen der katholischen Taufe und Erziehung aller Kinder einzusegnen. Um dem Klerus seine Gewissensbedenken gegen die staatlichen Gesetze zu nehmen, versuchte die preußische Regierung, mit R o m ein Abkommen zu treffen. Als Ergebnis dieser Bemühungen erging am 15. M ä r z 1830 ein päpstliches Breve, das die „passive Assistenz" katholischer Geistlicher beim Akt der Trauung in solchen Fällen gestattete, in denen das Versprechen katholischer Kinderer-

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Kulturkampf

ziehung nicht erlangt werden konnte. Die preußische Regierung betrachtete aber die Verweigerung des priesterlichen Segens und die grundsätzliche Warnung der Bräute vor dem Abschluß einer gemischten Ehe als Mißachtung der protestantischen Christen. Das Breve wurde nicht veröffentlicht; stattdessen schloß Berlin mit Graf Spiegel die oben erwähnte Konvention von 1834 ab, wonach dem Breve von 1830 ein Hirtenbrief des Bischofs beigegeben wurde, der die päpstlichen Vorschriften derart abmilderte bzw. uminterpretierte, daß sie nun den staatlichen Wünschen entsprachen. Doch der neue Kölner Oberhirte, Droste-Vischering, hatte nichts von der Konzilianz und dem diplomatischen Geschick seines Vorgängers. Als wenige Wochen nach Spiegels Tod ein päpstliches Breve die Lehren der Hermesianer (vgl. T R E 15,157,52ff) verwarf, ging er - ohne Rücksicht auf das bestehende Staatskirchensystem - entschieden gegen diese theologische Schule vor, indem er dem Bonner Vorlesungsverzeichnis sein Plazet verweigerte. Daraufhin baten die Professoren um den Schutz des Staates. Gleichzeitig erhielt der Konflikt um die Mischehenfrage neue Nahrung. Obwohl Droste-Vischering „das Amt des Erzbischofs und Metropoliten zu Köln in voller Kenntnis" (Huber/Huber 1,352) der Berliner Vereinbarung übernommen hatte, trat in der Kölner Diözese sofort eine Verschärfung der Mischehenpraxis ein. Auch hatte die Kurie inzwischen von der Konvention Kenntnis erhalten und führte bei der preußischen Regierung Klage über die Unterdrückung der katholischen Kirche. Dort aber hielt man sich an Droste-Vischering, von dem man verlangte, er möge entsprechend der Berliner Übereinkunft verfahren. Als der Kölner Erzbischof sich jedoch weigerte, auf die Wünsche des Staates, sowohl in der hermesianischen Angelegenheit als auch in der Ehefrage einzugehen, alle Kompromißangebote ausschlug und auch keine Bereitschaft zum Amtsverzicht zeigte, wurde er - nachdem er eine Amtssuspension der Regierung und den königlichen Befehl zum Verlassen seiner Diözese nicht akzeptiert hatte - am 20. November 1837 unter militärischem Aufgebot nach der Festung Minden abgeführt. Papst Gregor XVI. erhob gegen die Behandlung Droste-Vischerings schärfsten Protest, und als die preußische Regierung im gleichen Ton replizierte, brach Kardinalstaatssekretär Lambruschini im Januar 1838 den Notenwechsel ab. Längst handelte es sich nicht mehr um eine staatskirchenrechtliche Frage, sondern es ging jetzt um den Anspruch von Freiheit und Parität der katholischen Kirche in dem protestantischen Staat (vgl. TRE 18,393,27ff). Kein Geringerer als J. -+Görres wurde mit seiner Flugschrift Athanasius zum Sprachrohr der katholischen Bevölkerung in Preußen; eine Welle der Solidarität ging durch das katholische Deutschland und begründete den Nord-Süd-Gegensatz, die politisch-kulturelle Konkurrenz zwischen München und Berlin. Auch auf protestantischer Seite wuchs nun wieder das Bewußtsein der unterschiedlichen Konfession und verschaffte sich in einem polemischen Schrifttum Gehör. Mit dem Zerbrechen der überkonfessionellen, christlich-konservativen Allianz, wie sie etwa im „Berliner Politischen Wochenblatt" (Radowitz, Jarcke, Gerlach, Leo) Gestalt und Ausdruck gewonnen hatte, war zugleich die 1815 gelegte Basis für ein europäisches Friedenssystem wesentlich erschüttert: Die konservativen Mächte Mitteleuropas formierten sich wieder nach konfessionellen Gesichtspunkten auch gegeneinander. Der entstandene Schaden war auch durch das Nachgeben der preußischen Regierung gegenüber der rheinischen Volksbewegung nur noch schwer zu begrenzen. Immerhin: Nach seinem Regierungsantritt 1840 räumte König Friedrich Wilhelm IV. in der Kölner Angelegenheit aus persönlicher Uberzeugung alle Positionen, an denen sein Vater und Minister v. Altenstein noch festgehalten hatten, richtete darüber hinaus eine katholische Abteilung im Kultusministerium ein und verzichtete auf eine Reihe wichtiger Staatskirchenrechte (Freigabe des unmittelbaren Verkehrs zwischen Rom und den deutschen Bischöfen; Verfahrensänderung bei Bischofswahlen). Ihre unzweifelhaften Erfolge in Preußen veranlaßten die Kurie, künftig noch entschiedener aufzutreten, wodurch sie die Gegnerschaft der kirchlich-indifferenten, liberalen Kräfte in Deutschland auf sich zog. Der Kölner Kirchenstreit war der bekannteste, aber nicht der einzige Vorläufer des

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Kulturkampf

späteren Kulturkampfes. Neben einem ganz analogen, aber kaum beachteten Konflikt mit dem Erzbischof von Posen-Gnesen, Martin v. Dunin, im Osten der preußischen Monarchie, kam es auch in Bayern, Baden und Württemberg zu Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche. Bei gleichen oder ähnlichen Kontroverspunkten wie in Preußen (Beschränkung des Verkehrs der Katholiken mit R o m , Einholung von Ehedispensen, Mischehen-Frage) ging es auch in Bayern um die Wahrung oder Verstärkung der Hoheitsrechte des Staates gegenüber der Kirche und um die Eindämmung der „ u l t r a m o n t a n e n " Haltung einzelner Oberhirten. Aber hier fehlte der kontroverse konfessionelle Aspekt, was den Konflikt tatsächlich auf einer bloß staatskirchenrechtlichen Ebene hielt und ihm eine Breitenwirkung in der Bevölkerung versagte (vgl. T R E 5,374,53ff). G a n z anders in Baden und Württemberg. Insbesondere in Baden, wo eine katholische Mehrheit von einer protestantischen Dynastie und Beamtenschaft regiert wurde, besaßen die Konflikte (Landesherrliche Verordnungen, Bischofswahlen, Mischehenfrage) eine ähnliche, auch konfessionelle Brisanz wie in Preußen (vgl. T R E 5,101,12 ff). Hinzu k a m , daß es unter der katholischen Geistlichkeit selbst eine starke antikuriale Opposition - die Schule Wessenbergs - gab, die gemeinsam mit liberalen katholischen Abgeordneten im badischen Landtag das Staatskirchentum stärkte, um entsprechende Kirchenreformen (Synoden mit Laienanteilen, Aufhebung des Zölibats, Gottesdienstreform) mit nationalkirchlicher Tendenz durchzusetzen. Beachtlich, weil wegweisend für die weitere Entwicklung, war die Entscheidung der badischen Regierung, mit Gesetz vom 6. November 1846 die fakultative Zivilehe einzuführen. D a m i t beendete sie den badischen Mischehenkonflikt, in dem der Erzbischof v. Vicari, darin unterstützt von Papst Gregor X V I . , eine strenge Mischehenpraxis durchzusetzen versucht hatte. In -•Württemberg bildete der Streit des bischöflichen Ordinariats zu Rottenburg um die verfassungsmäßige Autonomie der katholischen Kirche den Brennpunkt der Auseinandersetzungen.

3. Staatskirchenrechtliche mus

Konflikte als Folge von Revolution

und

Konstitutionalis-

3.1. Gestärkt durch die Auseinandersetzungen der 30er Jahre erhielt die katholische Kirche infolge der Revolution von 1848 und der daraufhin in den deutschen Partikularstaaten eingeführten Verfassungen weitere Selbständigkeit. Das in den Grundrechten ausgesprochene Prinzip der Trennung von Staat und Kirche wurde z. B. vom preußischen Episkopat in einer Denkschrift vom 6.1.1849 sofort in Anspruch genommen; als die Raumerschen Erlasse von 1852 erneut Konflikte mit dem Staat heraufbeschworen, berief sich die katholische Kirche auf die preußische Verfassung von 1850. Auf der anderen Seite kämpften die katholischen Bischöfe gegen den durchaus verfassungskonformen Schulgesetzentwurf Ladenbergs (15.5.1850), weil er die bisherigen kirchlichen Rechte beschränkte. Da auch die späteren Kultusminister v. Bethmann-Hollweg und v. Mühlcr an den kontroversen Leitvorstellungen der gesetzgebenden Faktoren scheiterten, blieb der Verfassungsgrundsatz der Staatsschule im wesentlichen bis in die Zeit des Kulturkampfes unausgeführt. Vorbereitet durch die lebhafte Publizistik im Anschluß an den Kölner Kirchenstreit bildete sich im Zuge der Frankfurter Paulskirchenversammlung der Katholische Klub, aus dem 1852 die katholische Fraktion des Preußischen Abgeordnetenhauses hervorging. Mit dieser, seit 1859 Zentrum genannten Partei schuf sich die katholische Kirche ein wirkungsvolles, dem konstitutionellen Staat genau entsprechendes Organ zur Durchsetzung ihrer gesellschaftspolitischen Interessen (-»Parteien). In der preußisch-österreichischen Auseinandersetzung votierte das Zentrum unbedingt für die großdeutsche Lösung, erstrebte eine lockere Konföderation unter dem Präsidium des katholischen Österreich und unterstützte darum alle gegen Preußen gerichteten Kräfte. Bis 1870 ging durch die mit dem Zentrum eng kooperierende katholische Presse eine Flut von Anklagen gegen Bismarck und Preußen; hier und da wurde gar der Gedanke einer süddeutsch-französischen Bundesgenossenschaft geäußert. Dagegen entwickelte sich das Verhältnis zwischen Rom und Berlin vorübergehend positiv, weil König Wilhelm I. dem päpstlichen Hilfeersuchen zugunsten des Rest-Kirchenstaates mit dem Abschluß der preußisch-französischen Konvention zum gemeinsamen Schutz desselben vom 24.11.1866 entsprach. In Bayern lebte seit 1848 der alte Zwist um das Religionsedikt von 1818 wieder auf, da

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Kulturkampf

der bayerische Episkopat wie der Vatikan auf seine Revision drangen. Erst die Abberufung des ultramontanen Erzbischofs Graf Reisach im Jahre 1855 ermöglichte die Beilegung des Konflikts (-• Ultramontanismus). Nach 12jähriger Pause kam es 1867 erneut zu einem Zusammenstoß zwischen Staat und Kirche, als das liberale Kabinett unter Leitung des Ministerpräsidenten Hohenlohe-Schillingsfürst einen Schulgesetzentwurf vorlegte, der auf Entkonfessionalisierung und Entklerikalisierung zielte. Das Gesetz passierte mit deutlicher Mehrheit die Abgeordnetenkammer, verfiel aber in der Kammer der Reichsräte der Ablehnung (19.4.1869). 3.2. Auch in der oberrheinischen Kirchenprovinz forderten nach 1848 die Bischöfe durch Denkschriften und sonstige Eingaben das Ende der staatlichen Kirchenhoheit. Nachdem die liberale Mehrheit des württembergischen Landtages das 1857 ausgehandelte württembergische Konkordat zu Fall gebracht hatte, wurden 1861/62 - gegen den Protest der Kurie - durch Kirchengesetze die Religionsfreiheit erweitert, die Autonomie der katholischen Kirche in der Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten bestätigt und zugleich die Fortdauer der staatlichen Kirchenhoheit unterstrichen (-»Württemberg).

3.3. In -»Baden brach 1853 der offene Konflikt zwischen dem Freiburger Erzbischof v. Vicari und dem badischen Kultusministerium aus, als das erzbischöfliche Ordinariat jede Mitwirkung staatlicher Stellen bei der Pfarrstellenbesetzung ablehnte. Dabei erinnerte der Erzbischof die Mitglieder des katholischen Oberkirchenrates, also einer Staatsbehörde, an ihre Gehorsamspflicht gegenüber der kirchlichen Obrigkeit und drohte ihnen gar mit Exkommunikation. Daraufhin bestellte die badische Regierung einen staatlichen Spezialkommissar, der alle Anordnungen des Erzbischofs prüfen und gegenzeichnen mußte (Landesherrliche Verordnung vom 7.11.1853). Während die Kurie Erzbischof v. Vicari ihre Unterstützung zusagte, bewog der preußische Bundestagsgesandte v. Bismarck den badischen Prinzregenten, fest zu bleiben. So eskalierte der Konflikt bis zum völligen Abbruch der Kommunikation; durch Verordnung vom 18.6.1853 schloß die Regierung die Pfarrer von der Verwaltung des Kirchenvermögens aus. Als der Erzbischof sich dem mit einem Rundschreiben an die Gemeinden widersetzte, wurde eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet, und er erhielt vorübergehend Hausarrest. In direkten Verhandlungen mit der Kurie kam es am 28.7.1859 zum Abschluß eines Konkordats, dem aber - wie in Württemberg - die liberale Mehrheit in der Zweiten badischen Kammer ihre Zustimmung versagte. Darauf kündigte Großherzog Friedrich I. das Konkordat wieder; im Oktober 1860 traten stattdessen einseitige Staatsgesetze in Kraft, die das Verhältnis zu beiden Kirchen neu ordnen sollten und dabei den kirchlichen Forderungen weit entgegenkamen; ihnen folgten 1861 weitere Kirchenverordnungen. Kaum hatte sich v. Vicari der neuen Rechtslage unterworfen, sah er sich 1864 erneut genötigt, scharfen Protest zu erheben - nunmehr gegen die Verstaatlichung der Schulaufsicht; 1868 folgte das badische Volksschulgesetz, das den staatlichen Charakter der Schule weiter verstärkte und wiederum — ebenfalls ergebnislos - die feierliche Verwahrung des Erzbischofs auslöste. Ein Jahr zuvor hatte der neue badische Kultusminister Jolly das „Kulturexamen" für Theologen eingeführt, das angehende Geistliche verpflichtete, vor einer Staatskommission Prüfungen in den alten Sprachen, deutscher Geschichte, Literaturwissenschaft und Staatskirchenrecht abzulegen. Als v. Vicari den Theologen untersagte, an der Prüfung teilzunehmen, verhängte die Regierung eine kirchliche Examens- und staatliche Anstellungssperre. Nach dem Tode des Erzbischofs im April 1868 gab es um die Wahl seines Nachfolgers Streit zwischen dem Domkapitel und der Regierung, was zu einer vierzehnjährigen Sedisvakanz führte. Den Höhepunkt der badischen Gesetzgebung zur Beschränkung des geistlichen Einflusses auf das öffentliche Leben bildete das Zivilehengesetz vom 21.12.1869, mit dem Baden die obligatorische Zivilehe einführte. 3.4. Ganz anders als in Baden konnte in -»Hessen der Konflikt zunächst verhindert werden, weil die staatliche Seite in der Darmstadt-Mainzer Ubereinkunft vom 23.8.1854 (aufgrund von Verbesserungsvorschlägen der Kurie revidiert am 16.4.1856) die ultramontanen Bestrebungen des Mainzer Bischofs v. -»Ketteier weitgehend akzeptierte und

Kulturkampf

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in der Vereinbarung eine Stütze ihrer restaurativen Politik sah. Auf Druck der Nationalliberalen und auf die Bitte der Regierung Dalwigk hin bot Bischof v. Ketteier im September 1866 die Aufhebung der Konvention an. 3.5. Im Herzogtum -»Nassau schloß Herzog Adolf 1861 ein landesinternes Konkordat („paktierte Verordnung") mit dem Fuldaer Bischof Blum ab, das die Zustimmung der Kurie fand. Dieses blieb gegen den Widerstand der liberalen Kammermehrheit in Kraft und behielt auch nach der Einverleibung Nassaus in den preußischen Staat seinen Bestand. 3.6. Im streng konservativ regierten Kurfürstentum -»Hessen festigte die Schulordnung von 1853 den kirchlichen Einfluß auf das öffentliche Schulwesen noch; ein Jahr zuvor konnte der Fuldaer Bischof Kött sein Priesterseminar zu einer vollwertigen theologischen Lehranstalt ausgestalten. Konflikte jeglicher A n blieben aus.

4. Entstehung und Verlauf des

Kulturkampfes

4.1. Mit dem Verlust der weltlichen Herrschaft (-»Kirchenstaat) ging der Versuch des Papstes einher, seinen geistlichen Einfluß auszudehnen; die Verkündung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Mariae durch die Bulle Ineffabilis Deus vom 8.12.1854 (-»Maria) und vor allem die Enzyklika Quanta cura genau zehn Jahre später stellten eine Kampfansage an all jene Kräfte dar, die den „Irrlehren des Zeitgeistes" huldigten und damit zu einer inneren wie äußeren Umgestaltung Europas beitrugen. Konnte davon das Verhältnis von Staat und Kirche schon nicht unberührt bleiben, so mußte erst recht die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (-»Vatikanum I) zu schweren Irritationen auf Seiten der deutschen Regierungen führen zumal der deutsche Episkopat sich mehrheitlich gegen diesen Schritt ausgesprochen hatte. Doch kam die von Bayern noch im Vorfeld des Konzils angeregte gemeinsame Aktion gegenüber der Kurie nicht zustande, weil sich insbesondere Preußen einer direkten Stellungnahme enthielt und lediglich feststellte, es werde jedem kirchlichen Übergriff auf das staatliche Rechtsgebiet energisch entgegentreten. Im Unterschied zu Bayern und Baden vertrat Preußen nach Verkündung des neuen Dogmas (19.7.1870) die Ansicht, es handele sich dabei um eine rein innerkirchliche Angelegenheit; seine Bekanntmachung in den bischöflichen Amtsblättern bedürfe darum auch keines staatlichen Plazets. Die oppositionellen deutschen Bischöfe, die sich zuerst gegen die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit ausgesprochen hatten, unterwarfen sich bis April 1871 alle dem Konzilsbeschluß. 4.2. Am 11. September 1870 besetzten italienische Truppen den Rest-Kirchenstaat; in einem am 2.10.1870 durchgeführten Plebiszit entschied sich die Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit für den Anschluß an Italien. Die Hilfeersuchen der Erzbischöfe Melchers (Köln) und Graf Ledochowski (Posen und Gnesen) an den preußischen König bzw. Bismarck sowie ein Schreiben -»Pius* IX. an Wilhelm I. vom 10.10.1870 erbrachten keine militärische Intervention Preußens zugunsten des Kirchenstaates, sondern lediglich eine Garantie für die Sicherheit und Unabhängigkeit des Papstes sowie das Angebot, ihm als Zufluchtsort Fulda zur Verfügung zu stellen. Die preußische Regierung wie die Regierung des Deutschen Reiches bemühten sich zunächst weiterhin, den anhaltenden Streit um die päpstliche Unfehlbarkeit als ausschließlich innerkirchlichen Konflikt zu behandeln. Doch da die oppositionellen Theologieprofessoren, Militärgeistlichen, Anstaltsgeistlichen und Religionslehrer sich zugleich im Staatsdienst befanden und der Breslauer Fürstbischof Förster, der Kölner Erzbischof Melchers wie der Ermländische Bischof Krementz (Braunsberger Konflikt) Kultusminister v. Mühler um sein Eingreifen ersuchten (Zurechtweisung, Verhinderung von Veröffentlichungen) bzw. eine Vorlesungssperre (Entzug der missio canonica) oder gar den großen Kirchenbann verhängten, mußte der Staat Stellung nehmen. Das Kultusministerium ließ sich aber zu einem Einschreiten gegen die Theologieprofessoren und Religionslehrer nicht bewegen, bekräftigte vielmehr deren Stellung als preußische Staatsbeamte und verfügte ihre Weiterbeschäftigung. Daraufhin wandte sich der preußische Gesamtepiskopat mit einer Immediateingabe (7.9.1871) an Wilhelm I., doch der König bestätigte die Rechtmäßigkeit der Regierungsakte; v. Mühler antwortete in einem ergänzenden Schreiben vom 25.11.1871, in dem er erstmals auch auf

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das inhaltliche Problem einging: Die Konzilsentscheidung habe die katholische Glaubenslehre verändert, und der Staat könne den Gläubigen, die an der ursprünglichen katholischen Lehre festhielten seinen Schutz nicht entziehen. Nochmalige Interventionen von Bischof Krementz vom 8.10. und 2 0 . 1 2 . 1 8 7 1 führten schließlich zu der Empfehlung des scheidenden Kultusministers v. Mühler, dem Bischof die staatliche Anerkennung zu entziehen und das bischöfliche Gehalt einzubehalten (Amtsund Temporaliensperre). Die Zentrumsfraktion brachte am 12.12.1871 im preußischen Abgeordnetenhaus einen Antrag ein, der auf Rücknahme der kultusministeriellen Erlasse in der Braunsberger Schulangelegenheit zielte, aber nicht zur Verhandlung kam, weil der neue Kultusminister Falk am 2 9 . 2 . 1 8 7 2 einen Erlaß herausbrachte, der die Teilnahme am Religionsunterricht regelte. Energischer als sein Vorgänger darin ermutigt von Bismarck - suchte der liberale Falk den Braunsberger Konflikt zu lösen, indem er, unter Verweis auf die bürgerliche Wirkung des großen Kirchenbanns gegen den Religionslehrer Wollmann, Bischof Krementz aufforderte, den damit gegebenen Widerspruch zu den Staatsgesetzen zu beseitigen. Als sich Krementz weigerte, beschuldigte ihn Falk, er stelle die Kirchengesetze über die Staatsgesetze und verletze damit seinen dem König geleisteten Treueeid. Im folgenden suchten der Kultusminister wie der Bischof den König von ihrer Sicht der Dinge zu überzeugen. Wilhelm 1. zögerte lange, einer Amts- und Temporaliensperre zuzustimmen - nicht zuletzt, weil er eine Wiederholung des Kölner Konflikts fürchtete. Überdies anerkannte Krementz die „volle Souveränität der weltlichen Obrigkeit auf staatlichem Gebiet" (Huber/Huber 11,511), war allerdings nicht bereit, darüber hinaus Bismarcks Forderung zu erfüllen, gegenüber dem Kaiser einzuräumen, er habe mit der ungenehmigten Verhängung des großen Kirchenbanns gegen die Staatsgesetze verstoßen.

4.3. Nicht erst die Behandlung dieser Angelegenheit, sondern schon die Aufhebung der katholischen Abteilung und die Wiederherstellung einer einheitlichen Abteilung für die geistlichen Angelegenheiten im Kultusministerium durch Kabinettsorder vom 8.7.1871 zeigte, daß die preußische Regierung eine Kurskorrektur gegenüber ihrer bisherigen Politik der engen Verbindung mit der katholischen Kirche vollzog. Das entscheidende Signal aber, in der Auseinandersetzung nicht nur bei bloß administrativen Maßnahmen stehenbleiben zu wollen, sondern auch zu legislativen voranzuschreiten, war die Einführung des sogenannten Kanzelparagraphen in das Strafgesetzbuch des Deutschen Rciches am 10.12.1871 - auf den Antrag Bayerns hin. 4.4. Es folgte nun der Versuch einer systematischen Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche auf dem Wege der Gesetzgebung; da die preußischen Bischöfe dem entschiedenen Widerstand entgegensetzten, verhärteten sich die Fronten zusehends: Es kam zu Strafgesetzen, Amtssuspensionen von Bischöfen sowie zur Verhängung von Geldund Gefängnisstrafen, schon Ende 1872 gar zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Preußen und dem Vatikan. Aber auch Friktionen anderer Art entstanden auf diesem Weg: Uber dem Schulaufsichtsgesetz vom 11.3.1872 kam es zum Bruch Bismarcks mit der konservativen Partei, weil Männer wie Ludwig v. Gerlach, aber auch Kleist-Retzow eine Trennung von Kirche und Schule mit ihren Vorstellungen vom „christlichen Staat" preußischer Prägung für unvereinbar hielten. Das Verbot des Jesuitenordens durch Reichsgesetz vom 4.7.1872 (-»Jesuiten), das Corpus der Maigesetze 1873 (Gesetz über die „Vorbildung und Anstellung der Geistlichen", Gesetz über die „kirchliche Disziplinargewalt und die Errichtung des kgl. Gerichtshofes für kirchliche Angelegenheiten", Gesetz über „die Grenzen des Rechts zum Gebrauche kirchlicher Straf- und Zuchtmittel", Gesetz über „den Austritt aus der Kirche") sowie die Strafmaßnahmen gegen Bischöfe und Geistliche mobilisierten die katholische Bevölkerung des neugegründeten Reiches zugunsten ihrer Kirche und ließen gefährliche Brüche im nationalen Einheitsbewußtsein sichtbar werden: Konnte der durch Preußen protestantisch dominierte Bundesstaat auch das Ziel ihrer nationalen Sehnsüchte sein? Das Zentrum, in dem antipreußische Politiker wie der ehemalige hannoversche Justizminister Ludwig Windthorst eine hervorragende Rolle spielten, profitierte von diesen Zweifeln; in den Neuwahlen für das preußische Abgeordnetenhaus vom 4.11.1873 konnte die katholische Fraktion ihre Sitze beinahe verdoppeln (von 52 auf 90); in den Reichstag zogen am 10.1.1874 statt 63 nun 91 Mitglieder des Zentrums ein. Unbeirrt von diesen Konsequenzen ihrer Gesetzgebung verabschiedete die preußische Regierung am 9.3.1874 - übrigens

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gegen die Bedenken des Monarchen - ein Personenstandsgesetz, das am 6.2.1875 auch als Reichsgesetz bewilligt wurde. Aufgrund des Widerstands der katholischen Geistlichen kam es im Mai 1874 zu einer Gruppe von Strafgesetzen gegen die Nichtbefolgung und Umgehung der Kirchengesetze des Vorjahrs; außerdem wurde ein Gesetz über „die Verwaltung erledigter katholischer Bistümer" und eines über die „erledigten Pfarreien" erlassen, das bei Umgehung der Anzeigepflicht den Patron beauftragte, die Stelle ohne den kirchlichen Oberen zu besetzen.

Der Papst beantwortete alle diese Maßnahmen mit der Enzyklika Quod numquam (5.2.1875), in der er die gesamte preußische Kirchengesetzgebung für ungültig erklärte und damit die deutschen Bischöfe zu aktivem Widerstand ermutigte. 4.5. Im Frühjahr und Sommer 1875 erließ die preußische Regierung eine dritte Serie von Kulturkampfgesetzen (Gesetz über „die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für die römisch-katholischen Bistümer und Geistlichen", Verbot aller Orden und ordensähnlichen Kongregationen, Gesetz über Aufhebung der Art. 15, 16 und 18 der preußischen Verfassungsurkunde vom 31.1.1850, Gesetz über „die Vermögensverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden"). Im weiteren Sinne gehört hierher auch die Altkatholikengesetzgebung vom 4.7.1875, die die Dotierung des altkatholischen Bistums und der altkatholischen Professuren in Bonn sicherstellte (-»Altkatholizismus). Soweit das nicht schon vorher geschehen war, folgten vor allem Baden und Hessen, aber auch Bayern im großen und ganzen dem Vorbild der preußischen Gesetzgebung, während in Württemberg und Sachsen der Kulturkampf weitgehend vermieden wurde. 4.6. So imposant sich das zwischen 1871 und 1875 geschaffene legislative Instrumentarium des Kulturkampfes auf den ersten Blick auch ausnimmt, ist doch unübersehbar, daß ihm — vor dem Hintergrund der darum so ausführlich geschilderten Auseinandersetzungen zwischen den 30er und 60er Jahren - Originalität nicht wirklich zukommt. Vielmehr handelt es sich um den Austrag dieser alten Konflikte, wobei sich nicht die Mittel änderten, wohl aber die Intensität und der geographische wie gesetzgeberische Umfang. In pointierter Rede ist man versucht zu sagen, der von Virchow 1873 so bezeichnete, eigentliche „Kulturkampf" stelle lediglich das martialische Nachspiel zu der längst vorher entstandenen Säkularisierungs-Problematik dar (-»Säkularisierung). Die andere Frage ist, ob es sich um nichts weiter als um den - wie sich herausstellen sollte — vergeblichen Versuch handelte, die Hoheitsansprüche des modernen, nationalen Machtstaates gegenüber den überkommenen Rechten der Kirche durchzusetzen - und das auch noch mit Waffen, die sich längst als stumpf erwiesen hatten. Zwar unter Berufung auf historistische Traditionen und Forschungsergebnisse, aber selbst doch in eher vergleichend-strukturgeschichtlicher Perspektive arbeitend, gelangt Winfried Becker (HJ 101 [1981] 422-446) zu dem Ergebnis, der Kulturkampf im Zeitraum zwischen 1850 und 1920 [sie!] sei ein kontinentaleuropäisches Phänomen gewesen, bei dem Neoliberalismus und ein begrenzter Modernisierungskonflikt, nicht aber der konfessionelle Gegensatz eine entscheidende, auch die Nationen differenzierende Bedeutung gespielt hätten. Doch die Überraschung vieler Zeitgenossen über den Ausbruch des Kulturkampfes in Preußen-Deutschland ebenso wie die Tatsache, daß dieser Konflikt bis heute als im Grunde rätselhaftes Kapitel in der sonst so rationalen Innenpolitik des preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers gilt, sollte gegenüber dem die nationalen wie konfessionellen Unterschiede nivellierenden historiographischen Urteil zurückhaltend stimmen. Erfaßt es tatsächlich hinreichend das Motivationsgeflecht, das zu diesem gefährlichen Kraftakt verleitete? 5. Motive für die Kulturkampf-Politik

Preußen-Deutschlands

5.1. Angesichts der beinahe unbegrenzten Machtfülle des preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers wird man der Haltung Bismarcks zum Kulturkampf besondere Aufmerksamkeit schenken müssen, ohne damit schon „personalisierenden Zuschreibungen" (W. Becker 422) huldigen zu wollen.

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Kulturkampf

Im August 1871 eröffnete Bismarck Kultusminister v. Mühler seine kirchenpolitischen Ziele: „Kampf gegen die ultramontane Partei, insbesondere in den polnischen Gebieten, Westpreußen, Posen, Oberschlesien. Trennung von Kirche und Staat, von Kirche und Schule überhaupt. Uebergabe der Schulinspektion an Nichtgeistliche. Hinausweisung des Religionsunterrichtes aus der Schule, nicht nur aus den Gymnasien, sondern auch aus der Volksschule. Ueberweisung der Kultusangelegenheiten an den Justizminister" (W. Reichle 333). Die Reihenfolge scheint nicht unwichtig. An erster Stelle steht die Eindämmung des Zentrums, das im ersten deutschen Reichstag mit überraschender Stärke auftrat und dort als erstes einen Vorstoß zugunsten einer militärischen Intervention im Interesse der Wiedererrichtung des Kirchenstaates unternahm. Der sogenannte Grundrechteantrag der „ultramontanen" Partei (-»Ultramontanismus) auf Übernahme einer Reihe von Paragraphen der Preußischen Verfassung in die Reichsverfassung bildete den Versuch, mit einem Schlag das Verhältnis von Staat und Kirche, unmittelbar bei Entstehung des neuen Reiches, gewissermaßen im Handstreich, zu entscheiden. Diese beiden Vorgänge waren ganz dazu angetan, das in dem protestantischen Staat ohnehin vorhandene, latente Mißtrauen gegen die politische Organisation des deutschen Katholizismus und seine parlamentarischen Führer - etwas Vergleichbares für die Evangelischen gab es nicht! — noch zu verstärken. Darüber hinaus manifestierten sich die Vorbehalte des Zentrums gegenüber dem preußisch-deutschen Bundesstaat unter protestantischer Führung in der Forderung nach möglichst weitgehender bundesstaatlicher Dezentralisation wie in dem Bündnis mit preußen- und reichsfeindlichen Elementen, nämlich Weifen und Polen. Hier lag ein entscheidendes innenpolitisches Motiv für die Auseinandersetzung. Bismarck hatte wiederholt behauptet, sein Kampf gelte nicht der katholischen Kirche, sondern richte sich allein gegen eine Partei; der politische Katholizismus bildete in Preußen-Deutschland die Wurzel des Streites. Die Trennung von Staat und Kirche gehörte für Bismarck zu den grundlegenden Gesichtspunkten einer diesbezüglichen Neuordnung. Dies drückte er deutlich in einem Erlaß vom 26.5.1869 an v. Arnim aus: „Für Preußen gibt es verfassungsmäßig wie politisch nur einen Standpunkt: den der vollen Freiheit der Kirche in kirchlichen Dingen und der entscheidenden Abwehr jedes Übergriffs auf das staatliche Gebiet" (Bismarck, GW, VI b 1935, 88). Als ihm Windthorst zu Anfang des Kulturkampfes am 14.5.1872 vorhielt, die Schwierigkeit, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche zu lösen, liege nicht bei der katholischen, sondern bei der evangelischen Kirche, denn letztere sei so eng mit dem Staat verbunden, daß „ . . . die Lösung dieses Bandes kaum möglich ist, ohne die evangelische Kirche schwer, tief, vielleicht tödlich zu treffen", antwortete ihm der Kanzler unter allgemeinem Beifall: „Ich habe dem Herrn Vorredner als Minister in dieser Beziehung weiter nichts zu sagen; als evangelischer Christ aber habe ich ihm noch zu sagen: wenn er glaubt, daß die Trennung der evangelischen Kirche vom Staate für die evangelische Kirche tödlich sei, so muß ich ihm, was ich seiner ganzen Haltung nach voraussehen konnte, entgegnen, daß ihm zu meinem Bedauern der wahre Begriff des Evangeliums noch nicht aufgegangen ist!" (Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, V 1893, 345). Hier trafen sich seine Uberzeugungen mit denen des rheinischen Missionsinspektors Friedrich Fabri ( 1 8 2 4 - 1 8 9 1 ) , dessen damals weithin beachteten kirchenpolitischen Programmschriften und Vorschläge den Reichskanzler Anfang der 70er Jahre entscheidend beeinflußten (vgl. T R E 16,93,18 ff). Fabri trat für eine deutliche Scheidung der Wirkungsbereiche von Staat und Kirche ein und regte ein interkonfessionelles Religionsgesetz an, das allgemeine Freiheit der Religionsausübung gewähren sollte. Ausdrücklich warnte er davor, diese s.E. absolut notwendigen Maßnahmen auf dem Wege einer Kampfgesetzgebung durchzusetzen. In dieser Beurteilung folgte ihm der Reichskanzler nicht.

5.2. Die konservativen Protestanten bekämpften dagegen die Trennung von Staat und Kirche, Kirche und Schule, die Zivilehe, aber auch jegliche Einschränkung der kirchlichen Selbständigkeit; darum versagte die altkonservative Partei dem Kanzler die Gefolgschaft

Kulturkampf

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im Kampf gegen die katholische Kirche. Daß Bismarck über diesem Konflikt - unter persönlichem Schmerz-den Bruch mit seinen politischen Freunden in Kauf nahm, belegt, wie wichtig ihm die Auseinandersetzung war. Weite protestantische Kreise teilten freilich Bismarcks Empörung über den s. E. anmaßenden und herrschsüchtigen ultramontanen Katholizismus und wählten nicht zuletzt darum nationalliberal. Als ihr Wortführer galt der Hallenser Theologieprofessor Willibald Beyschlag (1823-1900). Während des Kulturkampfes zunächst noch eher zurückhaltend und ohne große öffentliche Resonanz in der evangelischen Kirche, meldeten sich diese Kreise erregt und lautstark zu Wort, als Bismarck mit zunächst einseitigen Konzessionen seine Friedenspolitik gegenüber der katholischen Kirche einleitete. Um dem ständig wachsenden Einfluß des Zentrums, den Beyschlag und seine Freunde wahrzunehmen glaubten, wirksam begegnen zu können, gründeten sie den -»Evangelischen Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen. Ein anderer, der die Auseinandersetzung mit Rom zeitlebens als eine Notwendigkeit des preußisch-protestantischen Staates ansah, war der Hofprediger Adolf -»Stoecker. Er bekämpfte Liberalismus, Judentum, Marxismus und Ultramontanismus, weil er in ihnen die zersetzenden Kräfte seines Ideals erblickte: eines christlichen Kulturstaates, in dem es kein Staatskirchentum mehr, sondern freie Kirchen geben sollte. Obwohl er damit Bismarcks Ansichten durchaus nahestand, zählte der Reichskanzler den Hofprediger wegen dessen politischen Aktivitäten zu den politisierenden Priestern, die er leidenschaftlich haßte. 5.3. Die Liberalen als die eigentlichen Träger des Kulturkampfes (-»Liberale Theologie) betrachteten diese Auseinandersetzung als einen ethisch motivierten „Kampf des Rechts gegen die Empörung", als einen „Kampf der Freiheit gegen den Fanatismus" (H. v. Treitschke, Aufsätze-Reden-Briefe, IV 1929, 586). Aus diesem Grundverständnis heraus lehnten sie jede Anerkennung selbständiger Rechte der Kirche, namentlich konkordatäre Vereinbarungen ab, traten für die Privatisierung der Kirchen ein und forderten die unbedingte Stärkung der Staatsautorität. Anders als der Freisinn wünschte der nationale Flügel des Liberalismus aber keine Verkümmerung der Kirchen und des Christentums, sondern schätzte sie als geistig-sittliche Grundlage für das Gemeinwesen; die Kirchen sollten lediglich in ihre natürlichen Grenzen zurückgewiesen werden. Weltanschaulich geschieden, trafen sich die Liberalen in ihrem demokratischen Impetus mit der katholischen Partei, was bei einer Verschiebung der Akzente weg von der Kirchenfrage auch zu veränderten parlamentarischen Konstellationen führen konnte. 6. Die Beilegung des

Kulturkampfes

6.1. Eine wesentliche Voraussetzung für die Beendigung des Kulturkampfes lag in der Veränderung der personellen Konstellationen. Durch den Tod des intransigenten, politisch starren Pius IX. am 7.2.1878 und die Wahl des Kardinals Pecci (Papst -»Leo XIII.) zu seinem Nachfolger, einem opportuniste sacré von rationaler Geistigkeit, waren auf Seiten der Kurie günstige Ausgangsbedingungen für eine politische Lösung des Konfliktes geschaffen. Tatsächlich ging Leo XIII., darin unterstützt von seinem engsten Mitarbeiter, Kardinal-Staatssekretär Franchi, sofort daran, die Beziehungen zum Reich zu normalisieren. Unter Einhaltung sämtlicher Regeln diplomatischer Höflichkeit zeigte er am 20.2.1878 Kaiser Wilhelm seine Thronbesteigung an. Es dauerte über vier Wochen, bis die mißtrauische, völlig unvorbereitete deutsche Regierung sich davon überzeugte, daß das päpstliche Schreiben keine Fußangeln enthielt. Aber dann schickte der Kaiser einen Antwortbrief, der in dem gleichen verbindlichen Ton gehalten war. Während der deutsche Gesandte am Quirinal, Robert v. Keudell, sich lebhaft dafür einsetzte, das empfangene Friedenssignal mit der Aufnahme von Verhandlungen zu beantworten, verharrte Bismarck in äußerster Zurückhaltung. Als Papst Leo XIII. zielstrebig in seiner zweiten Demarche an Wilhelm I. vom 17.4.1878 die Aufhebung der Maigesetze und die Wiederherstellung der Verfassungsartikel 15,16 und 18 vorschlug und dafür lediglich das Zugeständnis in Aussicht stellte, vor der Ernennung von Pfarrern ein Regierungsgutachten

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Kulturkampf

einzuholen, versteifte sich die H a l t u n g des Kanzlers zusehends. A b e r L e o X I I I . und F r a n chi verfolgten unbeirrt ihren Kurs. D i e B e h a r r l i c h k e i t L e o s X I I I . führte schließlich zu einem ersten E r f o l g : B i s m a r c k erklärte sich a m 3 0 . 5 . 1 8 7 8 bereit, m i t dem M ü n c h n e r Nuntius A l o i s i - M a s e l l a Vorverhandlungen zu f ü h r e n . A u ß e r d e m b o t das N o b i l i n g s c h e A t t e n t a t a u f W i l h e l m I. ( 2 . 6 . 1 8 7 8 ) dem Papst eine G e l e g e n h e i t , den Briefwechsel mit d e m M o n a r c h e n fortzusetzen. Anstelle des bettlägerigen Kaisers antwortete Kronprinz Friedrich Wilhelm am 10. Juni, dem päpstlichen „Verlangen, die Verfassung und die Gesetze Preußens nach den Satzungen der Römischkatholischen Kirche abzuändern,... [werde] kein preußischer Monarch entsprechen können . . . " . Er äußerte aber seine Hoffnung, daß „versöhnliche Gesinnung beider Theile . . . den Weg zum Frieden eröffnen werde . . . " (Huber/Huber 11,769). L e o X I I I . n a h m in seinem A n t w o r t s c h r e i b e n diese S t i c h w o r t e positiv auf. M a n c h e r l e i Initiativen o h n e offiziellen Auftrag und diverse politische V e r s t i m m u n g e n sorgten a b e r für einen schleppenden F o r t g a n g der Verhandlungen. I m m e r h i n k a m es E n d e J u l i bis M i t t e August 1878 in B a d Kissingen zu a n f a n g s geheimgehaltenen Besprechungen zwischen B i s m a r c k und M a s e l l a . D a b e i wurden a u f preußischer Seite die regierungsfeindliche Politik des Z e n t r u m s , die K a m p a g n e n der u l t r a m o n t a n e n Presse und die „ p o l n i s c h e F r a g e " als Verhandlungsgegenstände eingeführt und Erleichterungen in der D u r c h f ü h rung sowie eine a l l m ä h l i c h e Revision der M a i g e s e t z e in Aussicht gestellt. D o c h n o c h standen prinzipielle Differenzen einer Einigung im Wege: W ä h r e n d die Kurie als Ausg a n g s p u n k t der Verhandlungen die Verhältnisse vor 1871 a n s a h , bestand B i s m a r c k a u f der Situation vor 1 8 4 8 . Dieser U m s t a n d und der plötzliche T o d des Kardinal-Staatssekretärs F r a n c h i , s o w i e das M i ß t r a u e n auf Seiten des Z e n t r u m s und der kirchlichen Presse führten vorerst zur Fortsetzung des K u l t u r k a m p f e s . Dessen ungeachtet u n t e r n a h m e n Kurie wie Kanzler b z w . M o n a r c h hinter den Kulissen a u f verschiedenen Kanälen Anstrengungen, die Verhandlungskrise zu überwinden o d e r d o c h zumindest keinen A b b r u c h der Beziehungen eintreten zu lassen; dabei überspielten sie die Z e n t r u m s p a r t e i bzw. das Kultusministerium. Insbesondere drängte W i l h e l m I. den Kanzler, seine Verschleppungstaktik aufzugeben. S o k a m zwischen N o v e m b e r 1878 und M a i 1 8 7 9 ein Briefwechsel zwischen dem neuen K a r d i n a l - S t a a t s s e k r e t ä r N i n a und B i s m a r c k in G a n g , der verhinderte, d a ß die einmal g e k n ü p f t e n Verhandlungsfäden wieder abrissen. Unter d e m Eindruck eines äußerst liebenswürdig gehaltenen G l ü c k w u n s c h s c h r e i b e n s L e o s X I I I . zur G o l d e n e n H o c h z e i t des Kaiserpaares n a h m W i l h e l m I. die Zügel der Kirchenpolitik energischer in die H a n d als sonst und sandte am 1 8 . 8 . 1 8 7 9 in A b w e s e n h e i t B i s m a r c k s ein Schreiben nach R o m , das die A u f n a h m e k o n k r e t e r Verhandlungen anregte. Einen M o n a t zuvor erst w a r es W i l h e l m I. gelungen - darin beeinflußt von seiner katholisierenden, willensstarken G e m a h l i n Augusta s o w i e der einseitig o r t h o d o x e n H o f predigerpartei unter der Führung R u d o l f Kögels ( 1 8 2 9 - 1 8 9 6 ) - , den nationalliberalen Kultusminister F a l k zu veranlassen, sein R ü c k t r i t t s g e s u c h einzureichen. B i s m a r c k trennte sich zu diesem Z e i t p u n k t n o c h ungern von d e m treuen K a m p f g e f ä h r t e n , sah andererseits a b e r auch R e a l i t ä t und C h a n c e n einer innenpolitischen K r ä f t e u m g r u p p i e r u n g : Versöhnung mit den wieder s t ä r k e r gewordenen Konservativen und A n n ä h e r u n g an das Z e n t r u m , um g e m e i n s a m d e m Sozialismus entgegenzutreten. D i e B e r u f u n g des konservativen R o b e r t v. P u t t k a m e r zum neuen Kultusminister w a r m e h r als ein Signal: Es w a r die A n k ü n d i g u n g der L i q u i d a t i o n der F a l k s c h e n K u l t u r k a m p f g e s e t z g e b u n g . 6 . 2 . A m 1 9 . 7 . 1 8 7 9 begannen in W i e n P r ä l i m i n a r g e s p r ä c h e zwischen d e m dort residierenden deutschen B o t s c h a f t e r Prinz R e u ß und seinem Kollegen N u n t i u s J a c o b i n i . R e u ß ' I n s t r u k t i o n e n lauteten, er h a b e die Anzeigepflicht der Geistlichen zu fordern, w ä h r e n d J a c o b i n i die Wiederherstellung der kirchlichen A u t o n o m i e (freie A m t s a u s ü b u n g der Bischöfe, v o m S t a a t u n a b h ä n g i g e Ausbildung des Klerus, Wiedereinsetzung der durch die M a i g e s e t z e betroffenen Geistlichen, kirchlicher R e l i g i o n s u n t e r r i c h t , freie T ä t i g k e i t der O r d e n in K i r c h e , Schule und D i a k o n i e ) verlangte. D a diese F o r d e r u n g eine R e v i s i o n preußischer Landesgesetze und die Annullierung von Urteilen des königlichen G e r i c h t s -

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hofes implizierten, erhob Puttkamer, dem der Kanzler die Verhandlungsführung übertragen hatte, Einwände, die Reuß Anfang September dem Wiener Nuntius darlegte. Daraufhin versuchte der ehrgeizige Jacobini mit Bismarck selbst zu verhandeln; auf sein Drängen hin kam Mitte September in Gastein ein Gespräch zustande, das nicht nur hinsichtlich der bekannten Punkte ergebnislos verlief, sondern in dessen Verlauf Preußen sogar eine weitere Forderung erhob: die Wiederherstellung der diplomatischen Vertretung Berlins am Vatikan. Nun wurde in Wien eine Kommission von juristischen Sachbearbeitern gebildet, um die Maigesetze mit den päpstlichen Forderungen zu vergleichen. Als Ende November die Verhandlungen in Wien beendet wurden, erschienen dem Vatikan die von der preußischen Regierung gemachten Zugeständnisse als zu geringfügig, um diesen Weg fortzusetzen. Nun sollte sich zeigen, daß Leo XIII. Bismarck ein ebenbürtiger Gegner war. Ahnlich wie der Kanzler zuvor, nahm jetzt er eine dilatorische Haltung ein und ermächtigte gleichzeitig Windthorst, die parlamentarische Opposition zu verschärfen. Auch Bismarck, den die regierungsfeindliche Haltung der Zentrumspartei empfindlich traf, wollte die Wiener Gespräche einschlafen lassen, zumal er jetzt die Forderungen und Wünsche der Kurie kannte. Entsprechend seiner Doppelstrategie richtete Leo XIII. Mitte Dezember 1879 erneut ein persönliches Schreiben an Bismarck, in dem er an den Kanzler appellierte, er möge dafür Sorge tragen, daß „die Friedensbedingungen mit den Pflichten des Hl. Stuhles und seiner apostolischen Sendung in Einklang gebracht würden" (Soderini, Leo XIII., 148). In seinem Antwortschreiben machte Bismarck deutlich, daß er den Papst als ausländischen Monarchen betrachtete (Anrede: „Sire"), und verlangte erneut die Konzession der Anzeigepflicht. Zur allgemeinen Überraschung gewährte Leo XIII. nun in einem Breve an den amtsenthobenen Kölner Erzbischof Melchers vom 2 4 . 2 . 1 8 8 0 die teilweise Anzeigepflicht; außerdem ließ Nina den Wiener Nuntius Jacobini durch eine Depesche vom 2 3 . 3 . 1 8 8 0 wissen, der Papst werde den Bischöfen auferlegen, eine Liste der für die unbesetzten Pfarrstellen in Frage kommenden Kandidaten der Regierung einzureichen. Das preußische Staatsministerium beantwortete dieses Entgegenkommen mit einem Beschluß, der unter bestimmten Voraussetzungen die Modifikation der Kulturkampfgcsetze in Aussicht nahm. Im übrigen setzte Bismarck konsequent seine Politik fort, den Konflikt als eine Angelegenheit zwischen zwei Staaten zu behandeln. Außerdem suchte er die Koordination zwischen Vatikan und Zentrumspartei zu stören, indem er die politischen Diskrepanzen zwischen dem päpstlichen Stuhl und der klerikalen Fraktion, z.B. in der Sozialistenfrage, an die Öffentlichkeit trug. 6.3. Am 19.5.1880 legte die preußische Regierung dem Landtag einen Gesetzentwurf vor, der der Exekutive „diskretionäre Vollmachten" einräumen sollte, so daß sie ohne formelle Modifikation der bestehenden kirchenpolitischen Gesetze diese nach ihrem Ermessen abmildern konnte. Im Entwurf enthielt das Gesetz wichtige Revisionsbestimmungen; die „diskretionären Vollmachten" bestanden vornehmlich in der Ermächtigung der Regierung zur Dispensation eines gewählten Bistumsverwesers vom Staatseid (Art. 2), zur Aufhebung der kommissarischen Vermögensverwaltung (Art. 3) und der Temporaliensperre (Art. 4) sowie zur Zulassung von Krankenpflegeorden (Art. 6); dazu kam der Verzicht auf die Strafbestimmungen gegen die Notseelsorge (Art. 5). Das Kernstück der Vorlage waren die §§ 1 und 4, die dem Priestermangel abhelfen und die Rückkehr der verbannten Bischöfe durch ihre Begnadigung ermöglichen sollten. Aber gerade diese Bestimmungen fielen im Parlament der nationalliberalen Opposition zum Opfer. Mit knapper Mehrheit wurde das arg gerupfte Gesetz schließlich angenommen und trat am 14.7.1880 in Kraft; in seiner Endgestalt konnte es beide Seiten nicht befriedigen; aber immerhin gelang auf seiner Grundlage die Bestellung von Kapitelvikaren für die Diözesen Paderborn und Osnabrück, sowie im August 1881 - nach langem Hin und Her mit Wilhelm I. - , die einvernehmliche Ernennung des Elsässers Michael Felix Korum zum Bischof von Trier - die erste nach einem Jahrzehnt Kulturkampf. Die staatliche Anerkennung erfolgte allerdings unter Verzicht der Regierung auf den Staatseid! Über die Beset-

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Kulturkampf

zung der übrigen vakanten Bischofsstühle (vor allem der von Fulda und Köln) verhandelte von Juli bis September 1881 der preußische Diplomat Kurd v. Schlözer - übrigens ohne Wissen des Kaisers - in einer geheimen Sondermission unmittelbar mit Kardinal-Staatssekretär Jacobini (Nachfolger von Nina und seit Oktober 1880 im Amt). Neben der Besetzung vakanter Bischofsstühle standen die Anzeigepflicht und die Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen im Mittelpunkt der Beratungen. Das Ergebnis der Mission Schlözer konnte sich sehen lassen: Binnen eines halben Jahres gelang die Besetzung aller noch vakanten Bischofsstühle und die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen. Am 24.4.1882 überreichte Schlözer dann in einer päpstlichen Audienz sein offizielles Beglaubigungsschreiben; mit diesem Schritt dokumentierten beide Seiten das Ende einer Periode unversöhnlicher Gegnerschaft, die neun Jahre zuvor mit der Abberufung des Geschäftsträgers Stumm eingeleitet worden war. Am 30.5.1882 nahm das Abgeordnetenhaus das zweite Milderungsgesetz an; die Zentrumsfraktion - durch den Vatikan entsprechend instruiert - tolerierte die Vorlage, während Leo XIII. und eine Kardinalskommission den Entwurf ablehnten, um deutlich zu machen, daß nur eine Liquidation der Maigesetze die bleibende Befriedung sichern könne. Das zweite Milderungsgesetz setzte nicht nur die Vollmachten des Gesetzes vom 14.7.1880, die am 1.1.1882 abgelaufen waren, wieder in Kraft, sondern enthielt darüber hinaus Ergänzungen und weitere Vollmachten für die Exekutive: Begnadigung amtsenthobener Bischöfe durch den König; ministerielle Dispensation vom Kulturexamen, das überdies noch gesetzlich eingeschränkt wurde. Am 3.12.1882 nahm Leo XIII. die Thronrede des deutschen Kaisers bei der Eröffnung des preußischen Landtages (14.11.1882) zum Anlaß, Wilhelm I. zu schreiben und erneut eine Revision der Kulturkampfgesetze anzuregen. Der Kaiser entgegnete am 22.12., ein solcher Schritt setze ein gewisses Entgegenkommen des Papstes voraus. Daraufhin teilte Kardinal-Staatssekretär Jacobini am 19.1.1883 dem Gesandten v. Schlözer mit, der Papst willige in die Erfüllung der Anzeigepflicht ein, wenn von staatlicher Seite die freie Ausübung der kirchlichen Jurisdiktion und die freie Erziehung des Klerus gewährleistet werde. Inzwischen ( 2 5 . 4 . 1 8 8 3 ) verabschiedete die konservativ-klerikale Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus eine R e s o l u t i o n , die den weiteren A b b a u der Kulturkampfgesetze forderte und damit die Regierung nötigte, den E n t w u r f eines dritten Milderungsgesetzes ( 1 1 . 7 . 1 8 8 3 ) vorzulegen, das die Anzeigepflicht für Hilfsgeistliche a u f h o b , die Befugnisse des Königlichen Gerichtshofes für kirchliche Angelegenheiten einschränkte und Straffreiheit für die Fälle der V o r n a h m e unerlaubter geistlic h e r Amtshandlungen (Notseelsorge) gewährte. M i t diesem G e s e t z wurde auch die Wiederbesetzung der noch vakanten Bistümer möglich, Ende 1883 begnadigte der König den L i m b u r g e r B i s c h o f Blum und Anfang 1884 den M ü n s t e r a n e r B i s c h o f B r i n k m a n n . Gleichzeitig wurde für diese und andere Diözesen die Sperre der Staatsleistungen aufgehoben.

Indem Bismarck im September 1885 Leo XIII. als Schiedsrichter im deutsch-spanischen Streit um die Karolinen-Inseln vorschlug und gewann, anerkannte eine protestantische Großmacht offiziell die weltliche Stellung des Papstes. Mit diesem diplomatischen Schachzug hatte der Reichskanzler nicht nur seinen großen Gegenspieler für sich eingenommen, sondern auch einen Keil zwischen Kurie und Zentrum getrieben. Dafür mußte er freilich die helle Empörung der deutschen Protestanten in Kauf nehmen; selbst so gemäßigte Kirchenpolitiker wie Friedrich Fabri verurteilten diesen Schritt und fürchteten insgesamt durch die „Politik des Konkordierens" in dieser Phase der Beziehungen zwischen Rom und Berlin den Verlust staatlicher Gesetzessouveränität und Handlungsfreiheit. 6.4. Die Friedensgesetze. Seit Beginn des Jahres 1886 bemühte sich die preußische Regierung - über einen bloß „faktischen modus vivendi" hinaus - um eine konstruktive Friedensordnung, die nunmehr durch die persönliche Übereinstimmung zwischen Bismarck und Leo XIII. eine entscheidende Förderung erfuhr. Am 4. und 25.4.1886 erklärte die Kurie - gegen den Widerstand des Zentrums und des preußischen Episkopats - ihre

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Kulturkampf

Einwilligung in die dauernde Anzeigepflicht bei der Neubesetzung aller Pfarrstellen - ein Zugeständnis, das sie jahrelang verweigert hatte. Damit war der Weg für die staatlichen Friedensgesetze frei geworden. 6.4.1. Das preußische Abgeordnetenhaus verabschiedete am 10.5.1886 das erste Friedensgesetz mit 280 gegen 108 Stimmen. Es bestimmte die Abschaffung des Kulturexamens, die Wiedereröffnung der bischöflichen theologischen Lehranstalten, Konvilcte und Seminare, die Abschaffung des recursus ab abusu und die Aufhebung des Königlichen Gerichtshofs für kirchliche Angelegenheiten. Gegen das Zugeständnis der preußischen Regierung zu weiteren Revisionsgesetzen wies die Kurie das Zentrum an, im Septennatsstreit für die Regierungsvorlage zu stimmen. Die Weigerung des Zentrums und die Offenlegung der Differenzen zwischen Zentrum und Kurie führten in den Wahlen vom 21.2.1887 zu einer erheblichen Schwächung der katholischen Partei und zum endlichen Sieg der Regierung in dieser Frage.

6.4.2. Unter weitgehender Berücksichtigung kurialer Wünsche verabschiedete die preußische Regierung im Mai 1887 das zweite Friedensgesetz, wobei die anfängliche Opposition des Zentrums wie des preußischen Episkopats wiederum durch kuriale Intervention gebrochen werden mußte. Dieses Gesetz dehnte das Recht, Priesterseminare zu errichten, auf die Bischöfe von Osnabrück und Limburg aus; es regelte die Besetzung vakanter Pfarrstellen und die kirchliche Anzeigepflicht in einer für beide Seiten annehmbaren Form; die kirchliche Straf- und Disziplinargewalt wurde im alten Umfang wiederhergestellt; das Recht zur Gründung von Ordensniederlassungen wurde erweitert. In der Allokution vom 23.5.1887 bestätigte Leo XIII., daß der Friede zwischen Staat und Kirche wiederhergestellt sei. Im Gegensatz zum Kulturkampf selbst, dem es an politischer Klugheit durchaus fehlte, gehört seine Beilegung zu den Meisterleistungen diplomatischer Kunst im 19. Jh. 6.5. Der Kulturkampf in Bayern erreichte seinen Höhepunkt zu Beginn der 80er Jahre, also erst, als sich in Preußen schon die Verständigung anbahnte. Ein kirchenpolitischer Kurswechsel trat ein, nachdem Prinzregent Luitpold die Regierungsgewalt übernommen hatte und Leo XIII. in der Enzyklika an den bayerischen Episkopat vom 22.12.1887 offen die Änderung des Verhältnisses von Staat und Kirche forderte. Daraufhin verfaßten die bayerischen Bischöfe eine Beschwerden-Denkschrift (14.6.1888) an den Prinzregenten, deren Forderungen unter dem Druck der katholischen Öffentlichkeit in entsprechenden Gesetzesanträgen ihre beinahe uneingeschränkte Erfüllung fanden und denen die Mehrheit der bayerischen Abgeordnetenkammer folgte. Trotz unterschiedlicher Problemkonstellationen war durch das preußische Friedensmodell der Weg vorgezeichnet. Das neue Kabinett unter Freiherr v. Crailsheim, einem Verehrer Bismarcks, sorgte im Sommer 1890 für die endgültige Beilegung des Kulturkampfes. In Baden bildete der wichtigste Schritt zur Wiederherstellung des Friedens zwischen Staat und Kirche die Aufhebung des Kulturexamens; ein entsprechendes Gesetz wurde am 5.3.1880 von beiden Kammern nahezu einhellig verabschiedet. Doch erst das badische Friedensgesetz vom 5.7.1888 brachte den Kulturkampf wirklich zum Abschluß (Freigabe der Einrichtung kirchlicher Ausbildungsanstalten für den Priesternachwuchs). Mit Gesetz vom 14.7.1894 wurde das Kampfgesetz vom 2.4.1872 aufgehoben; die Simultanschule blieb freilich erhalten. Die zwischen 1887 und 1895 verabschiedeten Friedensgesetze im Großherzogtum Hessen folgten weitgehend dem preußischen und badischen Vorbild; wegen der langwierigen Auseinandersetzungen um die Wiederbesetzung des Mainzer Bischofsstuhls nach dem Tode Kettelers (13.7.1877) kam es jedoch - im Vergleich zu Preußen und Baden - zu einer erheblichen zeitlichen Verzögerung.

7. „Kulturkampf"

als europäisches

Phänomen - ein

Überblick

Nicht nur in Deutschland, auch in den ganz überwiegend katholischen Ländern Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Belgien, Österreich-Ungarn und in den gemischt konfessionellen Niederlanden wie in den Schweizer Kantonen gab es Konflikte zwischen Staat und Kirche, die in bestimmten Elementen denen Mitteleuropas recht ähnlich waren, ja die sich z.T. auf gemeinsame geistige Wurzeln zurückführen lassen. 7.1. Die gegen den politisch-militärischen Widerstand Roms durchgesetzte nationalstaatliche Einigung -*Italiens führte - ideologisch begleitet von einem gehörigen Maß an

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liberal-reformerischem Pathos - nicht nur zur Verstaatlichung kirchlichen Eigentums, sondern auch zur Unterdrückung von Orden, geistlichen Stiftungen und kirchlichen Bildungsanstalten. Überdies bildete der weiterhin aufrechterhaltene kuriale Anspruch auf den Kirchenstaat bis zur Ära Giolitti eine latente Bedrohung des italienischen Nationalstaates und sorgte für Spannungen und Friktionen zwischen papsttreuen und nationalliberalen Bevölkerungskreisen in Italien. 7.2. In -*Spanien wurden nach Aufhebung der Verfassung durch königliche Proklamation vom 11.5.1814 die Kirchengesetze der Cortes aufgehoben, Inquisition und Jesuiten wieder zugelassen und die Klöster vermehrt. Nach dem pronunciamento des Obersten Riego und der Wiedereinführung des konstitutionellen Regimes (9.3.1820) tobte ein Bürgerkrieg, dem französische Truppen 1823 ein Ende bereiteten. Daraufhin übten monarchistische und klerikale Kreise Vergeltung an den unterlegenen Cortes. Die Predigten der Mönche und Priester — allen voran die klerikale Zeitung El Restaurador - schürten den Volkszorn gegen die Liberalen (die „Schwarzen") und forderten deren völlige Ausrottung. Im Bürgerkrieg zwischen 1833 und 1840 stand fast die gesamte Geistlichkeit, zusammen mit den Anhängern der absoluten Monarchie, auf Seiten des Prinzen Karl, während sich um die Regentin Maria Christine die gemäßigten und liberalen Kreise scharten. Dem Sieg der „Christinos" folgte zunächst eine maßvolle Reformpolitik, die weder Absolutsten noch Liberale befriedigte. Immer wieder setzten sich radikale Kräfte durch, die besonders die antiklerikalen Tendenzen der spanischen Liberalen verstärkten (Auflösung und Enteignung geistlicher Orden). Im Oktober 1840 dankte Maria Christine ab und überließ General Espartero und den Fortschrittlichen die Regierung. Aufgrund von Militäraufständen mußte Espartero im Juli 1843 fliehen, und die 13jährige Isabella II. bestieg den Thron. In den 50er Jahren - nach dem Zusammenschluß von gemäßigten Konservativen und Liberalen zur Partei der Liberalen Union - traten dann etwas stabilere Verhältnisse ein, obwohl die innenpolitische Lage sich nicht besserte; die Regierung wurde abwechselnd von den Generälen Narvaez und O'Donncll geführt. 1868 schlössen sich liberale Mitte und radikale Linke zusammen; eine vom Militär getragene Revolution erwies sich als siegreich; Isabella II. mußte nach Frankreich fliehen. Die von den Cortes am 1.6.1869 beschlossene neue Verfassung behielt zwar die Monarchie bei, verband sie aber mit dem Gedanken der Volkssouveränität. Am 16.11.1870 wählten die Cortes Victor Amadeus zum spanischen König, der jedoch wegen der inneren Unruhen schon im Februar 1873 wieder abdankte. Daraufhin proklamierten die Cortes die Republik. Doch diese verbrauchte eine Regierung nach der anderen und wurde auch der separatistischen Bestrebungen nicht Herr, so d a ß man 1874 zur bourbonischen Monarchie zurückkehrte und Alfons XII. (gest. 1885) zum König wählte. Die nun beginnende Restaurationsperiode wurde von dem Politiker Cänovas del Castillo bestimmt, der am 30.6.1876 den Cortes eine Verfassung vorlegte, die durchaus liberale Züge trug. In der Folgezeit wechselten liberale Kabinette mit konservativen, was der bourbonischen Restauration zwar eine gewisse Konsolidierung sicherte, aber nicht zur Realisierung von Reformprogrammen führte. Trotz desolater landwirtschaftlicher Verhältnisse verhinderte z.B. die politische Macht des Adels und der Kirche eine Bodenreform zugunsten einer gleichmäßigen Verteilung und Nutzung der vorhandenen Anbauflächen. Auch mit der Thronbesteigung Alfons' XIII. (17.5.1902) trat keine Änderung in dem spanischen Regierungssystem ein. Die beiden traditionellen Parteien der Konservativen und Liberalen lösten sich auch während der folgenden Jahre in der Regierungsbildung ab. „Die Einordnung der Kirche und der kirchlichen Orden in die staatliche Gemeinschaft wurde von den wechselnden Regierungen je nach ihrer politischen Einstellung mehr oder weniger entschieden in Angriff genommen, aber nie zu einem befriedigenden Ergebnis gebracht. Insbesondere behauptete die Kirche einen starken Einfluß auf Erziehung und Unterricht. Die Macht der Kirche förderte die antiklerikalen Bewegungen im spanischen Volke, die teilweise äußerst radikale Formen a n n a h m e n " (R. Konetzke 394). So erklärte der Sozialistenführer Pablo Iglesias der Kirche als dem Alliierten des Bürgertums den Krieg; während des Generalstreiks in Barcelona (1909) wurden zahlreiche Kirchen und Klöster niedergebrannt, die fliehenden Mönche und Nonnen ermordet.

Anders als in Preußen-Deutschland stützte der politische Katholizismus in Spanien die monarchistisch-restaurativen Kräfte, wirkte antidemokratisch und fortschrittsfeindlich.

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Katholiken, die sich den liberalen Strömungen gegenüber aufgeschlossen zeigten, klagte man als Feinde der Kirche an (etwa den Kardinal von Toledo, Sancha y Hervas). Nicht Selbständigkeit der - unerhört privilegierten - Kirche vom Staat wird erstrebt, sondern — ungeachtet der 1874 zugestandenen Kultusfreiheit - die Beibehaltung des katholischen Bekenntnisses als Staatsreligion. Angesichts dieser Konstellationen suchte die Kurie die reformerischen Kräfte im spanischen Katholizismus gegenüber der intransigenten Restauration zu stützen. 7.3. Da die Entwicklung in -+Portugal der in Spanien bis 1910 parallel verlief, kann hier auf eine eigene Darstellung verzichtet werden. Im Unterschied zu Spanien verfügte aber die aus dem antiklerikalen portugiesischen Aufstand von 1910 hervorgegangene Republik nach dem französischen Vorbild die Trennung von Staat und Kirche. Doch die Entwicklung blieb eine Episode; mit dem konservativen Staatsstreich von 1918 und der Diktatur General Carmonas (1926 ff) verbesserte sich die Situation der Kirche zusehends; der vorrevolutionäre kirchliche Einfluß konnte größtenteils zurückgewonnen werden. 7.4. In -»Frankreich waren die Republikaner nach ihrem definitiven Sieg 1879 bestrebt, alle Bereiche der Gesellschaft zu „republikanisieren". Davon war insbesondere die Kirche betroffen, deren monarchisch-restaurativer Einfluß durch Predigt, Caritas, Schulen und Orden den Republikanern gefährlich erschien und darum über eine entsprechende Gesetzgebung paralysiert werden sollte. Den nicht autorisierten Kongregationen wurde jegliche Unterrichtstätigkeit verboten (1879), die Jesuiten ausgewiesen (1880), der Elementarunterricht laisiert (1882), ein Ehescheidungsgesetz angenommen (1884) und Prozessionen, Predigten, Laienvereine, Hospitäler und Friedhöfe überwacht. Gleichwohl zögerten die Verantwortlichen dieser republikanischen Politik lange, bevor sie die Aufhebung des Konkordats beschlossen, weil sie aufgrund von Berichten befürchten mußten, daß die Bevölkerung, trotz mancher Vorbehalte gegen politisierende Priester, nach wie vor fest zur katholischen Kirche stand. Auch Papst Leo XIII. blieb bemüht, den Bruch zu vermeiden, indem er den Widerstand des französischen Katholizismus in engen Grenzen hielt, die Gründung einer antirepublikanischen katholischen Partei (1885) verhinderte und sich in seiner Enzyklika Au milieti des sollicitndes (1892) - im Widerspruch zur Haltung der französischen Kardinäle - für die Republik aussprach. Bei den Augustwahlen 1893 gelang es dem politischen Katholizismus Frankreichs im Rahmen des „Ralliement" ebensowenig, eine gemeinsame Front zu bilden und das entsprechende Wählerpotential zu gewinnen wie 1898 der christlich-demokratischen Bewegung. Seit 1899 kehrte die Republik dann wieder zu ihrer scharf antiklerikalen Politik zurück, was schließlich 1905 zur Aufkündigung des Konkordats und radikalen Trennungsgesetzen führte, die auf eine völlige Verdrängung des religiösen Moments aus dem öffentlichen Leben hinzielten. Obwohl diese laizistischen Gesetze nicht mehr aufgehoben wurden, erfuhren sie in der Folgezeit, bestimmt durch die Rechtsprechung des Conseil d'Etat, mancherlei Entschärfungen und Abmilderungen. 7.5. In Belgien gewährte die Verfassung von 1831 dem Katholizismus volle Entfaltungsfreiheit, was sich besonders im Schulwesen auswirkte. Als jedoch die radikalliberale Regierung Frere-Orban 1878 an die Macht kam, wurde (neben der Entkonfessionalisierung der Kirchhöfe) ein Gesetz über die Einführung der religionslosen Elementarschule (10.7.1879) erlassen, dem 1881 ein Gesetz über staatliche Gymnasien und Mittelschulen folgte. Darauf antwortete der belgische Episkopat mit der Exkommunikation der Eltern, die ihre Kinder in die öffentlichen Grundschulen schickten, und der dort unterrichtenden Lehrer, obwohl Leo XIII. die Bischöfe zur Mäßigung angehalten hatte. Im Juni 1880 brach die belgische Regierung, weil sie sich vom Vatikan getäuscht fühlte, die diplomatischen Beziehungen zu ihm ab. Die Schulgesetze bewirkten nur, daß immer mehr Kinder die freien katholischen Schulen besuchten. Als die Liberalen 1884 eine verheerende Wahlniederlage erlitten, wurde der Schulstreit durch einen Kompromiß beigelegt; ein Jahr später nahm die belgische Regierung wieder diplomatische Beziehungen zur Kurie auf. Eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung katholischer Interessen spielte fortan die kon-

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servative Parti Catholique unter Führung von Charles Woeste, der auch den Aktivitäten christlich-sozialer Kräfte grundsätzlich ablehnend gegenüberstand. 7.6. Auf Betreiben des Kaisers Franz Joseph wurde am 18.8.1855 zwischen -*Österreich und der Kurie ein Konkordat abgeschlossen, das der katholischen Kirche alle Rechte garantierte, die ihr „nach göttlicher Ordnung und den kanonischen Satzungen" (Art. 1) zustanden. Diese rechtliche Monopolisierung empörte Liberale wie Protestanten und führte seit Beginn der 60er Jahre zu immer neuen Versuchen, das Konkordat aufzuheben oder abzuändern. Zwei Jahre nach dem innen- und außenpolitischen Zusammenbruch der Konservativen infolge des preußisch-österreichischen Krieges verabschiedete schließlich die inzwischen liberale Parlamentsmehrheit konfessionelle Gesetze, die Ehe und Schule wieder dem Staat unterstellten und die freie Wahl des Bekenntnisses garantierten. Darin unterstützt vom österreichischen Episkopat (namentlich Bischof Franz Joseph Rudigier von Linz) und der erstarkenden katholischen Fraktion (seit 1880: Christlich-soziale Partei) im Wiener Parlament, verurteilte der Papst in einer Allokution vom 22.6.1868 die Religionsgesetze in äußerst scharfer Form. Obwohl das im Mai 1869 verabschiedete Reichsvolksschulgesetz die konfessionellen Schulen weiter zurückdrängte, konnte aufgrund der Bemühungen des Kaisers und Kardinal Rauschers ein förmlicher Bruch mit der Kurie vermieden werden. Daran änderte sich im Prinzip auch nichts, als die österreichische Regierung (Kabinett Beust) das Unfehlbarkeitsdogma zum Anlaß nahm, das Konkordat aufzukündigen (30.7.1870) und weitere kirchenpolitische Gesetze (Mai 1874) zu verabschieden, die der staatlichen Aufsicht über die Kirchen mehr Raum gaben und die Gleichberechtigung aller Konfessionen verwirklichten. Insgesamt blieb das Klima der Auseinandersetzungen sehr viel milder als etwa in Baden oder Preußen - nicht zuletzt, weil Kaiser Franz Joseph ausgesprochene „Kampfgesetze" (Klostergesetz, Ehegesetznovelle), obwohl z.T. von beiden Häusern angenommen, nicht sanktionierte. Mit der Revision des Reichsvolksschulgesetzes (April 1883), wonach auf die Religionszugehörigkeit der Schüler ausdrücklich Rücksicht genommen werden sollte, gelang den österreichischen Katholiken sogar ein beachtlicher Erfolg gegen die liberalen Bestrebungen. Im selben Jahr erhielt Bischof Rudigier ihm entzogene Dotationsgüter zurück; 1885 erfolgte eine provisorische gesetzliche Regelung zur Verbesserung der bedrängten materiellen Lage des Klerus. Weitere Gesetzesnovellen unter dem neutral-konservativen Kabinett Taaffe (Religionslehrgesetz 1888; Forensengesetz 1894; Kongruagesctz 1898) unterstrichen die wohlwollende Haltung des Staates gegenüber der Kirche.

7.7. In der -*Schweiz formulierten sieben liberal-demokratisch regierte Kantone auf den Badener Konferenzen 1834 ein kirchenpolitisches Programm, das die volle staatliche Kirchenhoheit sowie eine nationalkirchliche Umgestaltung und Vereinheitlichung der katholischen Kirche forderte. Diese Badener Artikel verschärften die Gegensätze zwischen Katholiken und Liberalen erheblich; als nach dem Sturz der Liberalen die neue katholische Regierung Luzerns die Jesuiten zurückberief, trat auch der schweizer Protestantismus auf den Plan. Im Zuge der religiös-weltanschaulichen Auseinandersetzungen propagierten die liberal-protestantisch beherrschten, vorwiegend Urbanen Kantone eine zentralistische Bundesverfassung; darin sahen die föderalistisch eingestellten und vorwiegend agrarisch strukturierten katholischen Kantone eine Bedrohung ihrer staatlichen Souveränität wie ihrer Religionsfreiheit und schlössen sich zu einem „Sonderbund" (1846/47) zusammen, den sie auch nach Aufforderung des obersten Bundesorgans, der Tagsatzung, nicht auflösten. Nachdem im darauf erklärten Sonderbundskrieg die katholischen Kantone unterlagen, setzte die liberale Mehrheit der Tagsatzung ihr Programm (Bundesverfassung von 1848) durch; Klöster und Schulen wurden geschlossen, in den katholischen Kantonen liberal orientierte, staatskirchliche Regierungen eingesetzt, Jesuitenniederlassungen verboten und die Geistlichen zur Eidesleistung auf die Gesetze verpflichtet. Zu einem schweren Konflikt zwischen dem Bischof von Lausanne-Genf, Marilley, und den Regierungen der fünf Kantone Bern, Freiburg, Genf, Neuenburg und Waadt kam es, als diese Kantone 1848 ein Konkordat schlössen, das die Kirchenfragen ganz im staatskirchlichen Sinne regelte (staatliche Nomination von Bischöfen; Anpassung kirchlicher Gesetze an die staatlichen; kantonales Examen für die Kandidaten geistlicher Ämter). Als Marilley daraufhin den Geistlichen den Eid auf die Gesetze verbot, wurde er verhaftet und ausgewiesen. Dem Druck der öffentlichen Meinung nachgebend, verhandelten die Regierungen zwischen 1852 und 1856 mit dem Vatikan und erreichten

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eine Verständigung; aber eine Entspannung des Klimas zwischen dem „aus dem Protestantismus erwachsenen" (Jedin VI/1,727) Liberalismus und der katholischen Kirche trat nicht ein. Das Unfehlbarkeitsdogma führte vollends zur Verhärtung der Fronten und gab der demokratisch-nationalkirchlichen Bewegung innerhalb des liberalen Katholizismus neuen Auftrieb. Unter Führung des ehemaligen Luzerner Theologieprofessors Eduard Herzog ( 1 8 4 1 - 1 9 2 4 ) bildete sich die „Christkatholische Kirche" der Schweiz. 1873 wurde der Baseler Bischof Eugène Lâchât wegen seines Eintretens für das neue Dogma und die Exkommunikation christkatholischer Gläubiger von den kantonalen Regierungen abgesetzt und ausgewiesen; das gleiche Schicksal ereilte den ultramontanen Weihbischof Mermillod, den Pius IX., nach dem Verständnis des Kantons verfassungswidrig, zum Generalvikar und schließlich Apostolischen Vikar von Genf ernannt hatte. Auf die das staatliche Vorgehen verurteilende päpstliche Enzyklika Etsi multa luctuosa (21.11.1873) hin brach der Schweizerische Bundesrat die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan (seit 1850 nur noch durch einen Geschäftsträger wahrgenommen) völlig ab. Die a m 2 9 . 5 . 1 8 7 4 verabschiedete neue B u n d e s v e r f a s s u n g sanktionierte im N a m e n der B ü r g e r r e c h t e alle staatskirchlichen M a ß n a h m e n zur E i n s c h r ä n k u n g des katholischen Einflusses; die Feststellung des Zivilstandes w u r d e ausschließlich den bürgerlichen B e h ö r den ü b e r t r a g e n , der P r i m a r u n t e r r i c h t ausschließlich staatlicher L e i t u n g unterstellt. E i n e zentralistische Verfassungsrevision im J a h r e 1 8 7 4 v e r s c h ä r f t e die staatskirchenrechtlichen B e s t i m m u n g e n n o c h einmal. U m s o ü b e r r a s c h e n d e r w a r die schnelle Beilegung des Konfliktes — in den meisten K a n t o n e n bis z u m E n d e der 7 0 e r J a h r e . A u f g r u n d leichter politischer Verschiebungen zugunsten der K o n s e r v a t i v e n fand der D i p l o m a t L e o s X I I I . , D o m e n i c o F e r r a t a , günstige Ausgangsbedingungen v o r und löste mit d e m Schweizerischen B u n d e s r a t bzw. einzelnen K a n t o n s r e g i e r u n g e n die anstehenden P e r s o n a l f r a g e n wie die S a c h p r o b l e m e a u f eher p r a g m a t i s c h e Weise, die Verfassung v o n 1 8 7 4 blieb u n b e r ü h r t . Erst 1 8 9 1 k o n n t e die k a t h o l i s c h - k o n s e r v a t i v e F r a k t i o n (inzwischen d u r c h die a n w a c h s e n de sozialkatholische Bewegung in d e r Schweiz nicht m e h r o h n e innerkatholische K o n k u r renz) ein katholisches Mitglied, J o s e p h Z e m p , in den B u n d e s r a t bringen. 7.8. In den - » N i e d e r l a n d e n k a m es zu ersten Konflikten zwischen S t a a t und Kirche, als die diözesanen A u t o r i t ä t e n unter F ü h r u n g des Bischofs v o n G e n t , M g r . de Broglie, sich 1 8 1 5 weigerten, a u f die neue Verfassung den Eid zu leisten, weil sie die unter N a p o l e o n eingeführte Religionsfreiheit aufrechterhielt. D e r ehemalige F ü r s t b i s c h o f v o n L ü t t i c h , F r a n ç o i s - A n t o i n e de M é a n w a r dagegen bereit, den E i d zu leisten und w u r d e v o m König z u m E r z b i s c h o f v o n M e c h e l n e r n a n n t ; n a c h einigem Z ö g e r n bestätigte d e r Vatikan die E r n e n n u n g . M a n einigte sich schließlich in d e r Eidesfrage, indem m a n die F o r m e l fand, der Eid h a b e n u r zivile, keineswegs d o g m a t i s c h e B e d e u t u n g und sei in diesem Sinne zu leisten. Mit der Wiedereinführung der napoleonischen Organischen Artikel (1816) und der napoleonischen Gesetzgebung hinsichtlich der Ordensangehörigen (1818) traten neue Schwierigkeiten auf, weil diese Maßnahmen zu einer Laisierung des Schulwesens führten. 1822 und 1824 wurden Konkordatsverhandlungen zur Regelung der Nominierung der Bischöfe geführt, die aber scheiterten. 1825 lösten zwei königliche Erlasse alle freien Gymnasien und Knabenseminare auf; stattdessen wurde in Löwen ein rein staatliches Collège philosophique errichtet, dessen Besuch für angehende Kleriker verpflichtend sein sollte. Nach Aufnahme neuer Verhandlungen konnte schließlich am 18.6.1827 ein Übereinkommen geschlossen werden, das die Bestimmungen des Konkordats von 1801 auf das ganze Land ausdehnte und die Frage der Bischofsnominierung regelte: Der protestantische Monarch erhielt zwar kein Nominierungs-, aber ein Vetorecht. Als jedoch die holländischen Calvinisten und belgischen Liberalen gegen die Konvention Protest erhoben, entschloß sich die Regierung, ihre Ausführung hinauszuschieben. Um ihrer Opposition gegen Wilhelm I. - von dem sie argwöhnten, er wolle das Land „protestantisieren" - eine breitere politische Basis zu verschaffen, akzeptierten die Katholiken Ende 1828 ein Angebot der Liberalen, sich auf der Basis der gemeinsamen Forderung nach konstitutionellen Freiheiten zu einer Union zusammenzuschließen; die katholische Kirche erstrebte nun die völlige Unabhängigkeit vom Staat. Diese Haltung wurde in der Folgezeit durch den Einfluß -»Lamennais' und seiner Schule noch verstärkt und bewirkte eine Abneigung gegenüber konkordatären Lösungen. Nach der Thronbesteigung Wilhelms II. (1840) akzeptierte die holländische Regierung jedoch den Wunsch Roms, ein Konkordat abzuschließen. Doch angesichts der protestantischen Opposition wurde der Plan verschoben und für die Zwischenzeit eine Reihe von Apostolischen Vikariaten eingerichtet.

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Die neue Verfassung vom 1 8 . 9 . 1 8 4 8 , getragen von der liberalen Partei Thorbeckes und dem katholischen Bürgertum, proklamierte Religionsfreiheit und sicherte jeder Religionsgemeinschaft die selbständige Regelung ihrer inneren Angelegenheiten zu. Die von R o m gewünschte, von vielen Priestern jedoch abgelehnte Wiedererrichtung einer regulären Bistumsorganisation führte zur Einrichtung eines Erzbischofsitzes in Utrecht und vier Suffragandiözesen in Haarlem, Breda, 's-Hertogenbosch und Roermond. Auf das Bekanntwerden der Errichtungsbulle ( 4 . 3 . 1 8 5 3 ) folgte eine protestantische Gegenbewegung („Aprilbewegung"), der Wilhelm II. jedoch - mit Ausnahme des Gesetzes über die Religionsausübung - nicht nachgab. Um der calvinistisch geprägten Staatsschule zu entgehen, und weil sie selbst nicht die Mittel hatten, Konfessionsschulen zu errichten, unterstützten die Katholiken das liberale Gesetz vom 1 3 . 8 . 1 8 5 7 , das eine radikal konfessionsneutrale Staatsschule einführte. Doch die zunehmende Ausprägung achristlicher Anschauungen im niederländischen Liberalismus führte 1866 zum Ende der Allianz mit den Katholiken, während sich über der Schulfrage die calvinistische mit der katholischen Orthodoxie traf und in einem gemeinsamen Hirtenbrief zur Vermehrung der freien katholischen Schulen aufrief. Auch gegen das Schulgesetz der linksliberalen Regierung Kappeyne aus dem Jahr 1878 formierte sich ein protestantisch-katholischer Widerstand. Der reformierte Pastor Abraham Kuyper, Führer der „Antirevolutionären Partei", trat 1888 mit dem katholischen Parlamentsabgeordneten und Priester H . J . M . Schaepman in Verbindung, um in einer gemeinsamen Front gegen die Regierung Kappeyne zu opponieren. Diese konservative Koalition bewirkte nicht nur den Sturz Kappeynes, sondern auch die Verabschiedung eines Schulgesetzes (1889), das bei prinzipieller Schulfreiheit auch den freien Schulen staatliche Unterstützung gewährte. So bildete die Schulfrage die Basis für die politische Zusammenarbeit kirchlich gesinnter Protestanten und Katholiken, die in der Folgezeit mehrfach zu Regierungsbildungen führte. Mit der Gründung der „Katholieke Staatspartij" im Jahre 1896 schuf sich der politische Katholizismus in den Niederlanden dann eine starke, romverbundene Vertretung. Literatur Akten der Fuldaer Bischofskonferenz, I 1 8 7 1 - 1 8 8 7 , II 1 8 8 8 - 1 8 9 9 , b e a r b . v. Erwin Garz, M a i n z 1977/79. - M a r g a r e t Lavinia Anderson, Windthorst. A political biography, O x f o r d 1981; dt.: Windthorst. Z e n t r u m s p o l i t i k e r u. Gegenspieler B i s m a r c k s , Düsseldorf 1988. - Dies., T h e Kulturkampf and the C o u r s e o f G e r m a n History: Central European History 19 (1986) 8 2 - 1 1 5 . - Die Annexionen u. der N o r d d t . Bund, Berlin ' 1 8 6 6 . - Ludwig v. B a r , Staat u. k a t h . Kirche in Preußen, Berlin 1883. H u b e r t Bastgen (Hg.), Die r ö m . 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Kulturprotestantismus 1. Kulturprotestantismus als Richtungsbezeichnung 2. Begriffsgeschichte Mehrdeutigkeit des Kulturprotestantismus (Quellen/Literatur S. 239)

3. Die politische

1. Kulturprotestantismus als Richtungsbezeichnung In der Verwendung des Begriffs Kulturprotestantismus lassen sich drei Bedeutungsvarianten unterscheiden. 1.1. In der theologischen Literatur dient der Begriff seit den fünfziger J a h r e n unseres

Kulturprotestantismus

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Jh. als Richtungsbezeichnung für jene Gestalten protestantischer Theologie, Religionsphilosophie und Frömmigkeit im späten 18., im 19. und im frühen 20. Jh., die zwischen reformatorischer Tradition und moderner, in der -»Aufklärung entstandener -»-Kultur zu vermitteln suchen. So gelten als kulturprotestantisch die Theologie F. D. E. -»Schleiermachers und die an ihn sich anschließende -*Vermittlungstheologie, der „Deutsche -»Idealismus" einschließlich des theologischen Hegelianismus (-»Hegel/Hegelianismus) und die Weimarer -»Klassik sowie im späteren 19. Jh. neben allen Positionen „liberaler Theologie" auch A. -»Ritschl und seine Schüler einschließlich der „Religionsgeschichtlichen Schule". Dabei ist die Annahme leitend, daß mit A. v. -»Harnack und E. -»Troeltsch der Kulturprotestantismus an sein Ende gelangt sei und die antiliberalen Theologien nach 1918 die kulturprotestantischen Synthesen von reformatorischer Tradition und modernen Kulturidealen definitiv überwunden hätten. Orientiert an der Vorstellung eines definitiven Endes wird Kulturprotestantismus auch als Epochenbegriff für die deutschsprachige protestantische Theologie des letzten Jahrhunderts insgesamt verwendet, wobei die ersten beiden Jahrzehnte unseres Jahrhunderts noch dem theologischen 19. Jh. zugerechnet werden. So sind in der neueren Literatur als kulturprotestantisch auch konservativ-lutherische Theologien (vgl. Kouri) bezeichnet worden, für die ein dezidierter Gegensatz zu Aufklärung und liberaler Freiheitsidee grundlegend ist. 1.2. In der neueren Theologiegeschichtsforschung begegnet weiterhin ein sehr viel engerer, auf eine bestimmte theologische Richtung im Kaiserreich eingeschränkter Gebrauch des Begriffs. Als Kulturprotestantismus gelten die Theologie Ritschis und der Ritschlianer sowie die von Ritsehl stark beeinflußte theologisch-kirchenpolitische Bewegung im Umkreis der 1886 gegründeten Zeitschrift Die Christliche Welt, die einen erheblichen Einfluß auf Frömmigkeit, Kulturideale und politisches Selbstverständnis von Gruppen des protestantischen Bildungsbürgertums ausgeübt hat. Dabei werden dem Herausgeber der Christlichen Welt M. —»Rade sowie W. -»Herrmann und insbesondere A. v. Harnack der Rang von Leitgestalten kulturprotestantischer Theologie und Frömmigkeit zuerkannt; inwieweit auch Troeltsch und andere gegenüber Ritschis deutsch-protestantischem Kulturidcal zunehmend kritischer eingestellte Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule noch als Kulturprotestanten zu verstehen sind, wird unterschiedlich beurteilt. 1.3. Auch der Begriffsgebrauch in der neueren Soziologie, Sozialgeschichte und Kunstgeschichte ist primär auf den Protestantismus im Kaiserreich bezogen. Im Rahmen der neueren Bürgertumsforschung (vgl. Conze/Kocka; Engelhardt; Haltern; Langewiesche; Lepsius; Kocka; Tenbruck) dient der Begriff als Kategorie für jene kulturellen -»Normen und Werte (-»Wert), die für das protestantische Bildungsbürgertum kennzeichnend seien (-»Bürgertum). Für die Gesellschaft des Kaiserreichs sei eine hohe soziale, kulturelle und politische Segmentierung von vier (oder fünf) gegensätzlichen, gegeneinander zumeist dicht abgeschlossenen „sozialmoralischen Milieus" (Lepsius, Parteienstruktur) charakteristisch gewesen. Sozialdemokratisches, katholisches, protestantisch-konservatives und bürgerlich-liberales (dominant protestantisches, zum Teil auch reformjüdisch geprägtes) Sozialmilieu seien nicht allein nach objektiven Schichtungskriterien, sondern auch in den Formen „kultureller Vergesellschaftung" (J. Kocka; F. Tenbruck; G. Hübinger), d.h. in Wertmaßstäben, Verhaltensnormen und Mustern der Gegenwartsdeutung, tiefgreifend voneinander unterschieden gewesen. So hätten sie eine jeweils milieuspezifische Mentalität und Lebenshaltung ausgebildet. Kulturprotestantismus bezeichnet die „Wertbezüge" und „ideellen Interessen" (Lepsius), die die diversen bürgerlich-protestantischen Gruppen und Fraktionen miteinander verbunden haben. 2.

Begriffsgeschichte

2.1. Wurzeln des Kulturprotestantismusbegriffs liegen in den religionspolitischen Auseinandersetzungen um die christliche Legitimität der Aufklärung, die im deutschen Pro-

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Kulturprotestantismus

testantismus schon seit 1770 intensiv geführt worden sind. Unter dem Eindruck der -•Französischen Revolution werden die zwischen späten Anhängern der Orthodoxie und Neologen geführten Aufklärungsdebatten zum Katalysator einer politischen Spaltung des Protestantismus in einen antirevolutionären, kirchlich konfessionalistischen Ghettoprotestantismus einerseits sowie einen aufklärungsoffenen, politisch liberalen „freien Protestantismus" andererseits. Begriffsgeschichtlich spiegelt sich dieser Theologie, Frömmigkeitsstil und Politik umgreifende Gegensatz in neuen Differenzierungen des Protestantismusbegriffs, denen ausnahmslos die Annahme eines „doppelten Protestantismus" zugrunde liegt (Lang 60). In Aufnahme des von einigen Neologen schon seit ca. 1790 als Selbstbezeichnung verwendeten Begriffs „liberale Theologie" unterscheiden Spätrationalisten wie H . E . G . Paulus, H . G . Tzschirner, K.G. -»Bretschneider und W.T. Krug sowie theologische Hegelianer seit ca. 1820 zwischen einem orthodox-konfessionalistischen und einem „freien Protestantismus", „liberalen Protestantismus" und „protestantischen Liberalismus" (-»Liberale Theologie). Dabei betonen sie einen engen Zusammenhang von religiöser Mündigkeit und politischer Emanzipation des Bürgers. Dem setzen Theologen des seit dem Reformationsjubiläum 1817 sich parteimäßig formierenden neulutherischen Konfessionalismus (-»Neuluthertum) polemische Unterscheidungen von kirchlichem und unkirchlichem, positivem und negativem Protestantismus entgegen. Ca. 1830 führt F. Chr. -»Baur die Begriffe -»Neuprotestantismus und Altprotestantismus zur historischen Periodisierung, d . h . zur Unterscheidung des Protestantismus vor der Aufklärung von einem durch die Aufklärung umgeformten Protestantismus, in die theologische Diskussion ein. Seit 1840 verwenden politisch wie religiös liberale Protestanten Neuprotestantismus dann aber auch als programmatischen Leitbegriff für eine Frömmigkeit, die ein Grundmotiv der Reformation, die religiöse Unmittelbarkeit des einzelnen zu Gott und die Freiheit des christlichen Gewissens, in der Emanzipation von alter, orthodoxer Gläubigkeit, kirchlichem Lehrzwang und konfessionalistischer Kirchlichkeit konkretisiert.

2.2. Die -»Revolution von 1848/49 und die politische -»Restauration der fünfziger Jahre führen zu einer Verschärfung der Fraktionierungen im Protestantismus und zur allmählichen Verfestigung der gegensätzlichen Milieus in kirchcnpolitischen Vereinen. Dabei gibt es vielfältige personelle wie institutionelle Querverbindungen zu den seit der Revolution entstehenden politischen Parteiformationen. Nach einigen freiprotestantischen Organisationsversuchen auf lokaler und regionaler Ebene gründen von Spätrationalismus (-»Rationalismus), Vermittlungstheologie und Hegelianismus geprägte Universitätstheologen, nationalliberale Gelehrtenpolitiker anderer Disziplinen und prominente politische Liberale in Parallele zum „Deutschen Nationalverein" 1863 den „Deutschen -•Protestantenverein", der eine umfassende Kirchenreform (u.a. Parlamentarisierung der Kirchenverfassung, Gewährung von Lehr- und Bekenntnisfreiheit, freie Pfarrerwahl durch die Einzelgemeinde), die Entklerikalisierung der Gesellschaft (u.a. den Abbau der Herrschaft der Kirche über die Volksschule und die Einführung der Zivilehe) sowie die Vision einer neuen christlich-nationalen Einheitskultur propagiert: Eine kleindeutsche Reichskirche soll als wahre, in allen Schichten der Bevölkerung verankerte —»Volkskirche dem ersehnten Nationalstaat den Weg bereiten und ihn dann religiös integrieren. Diese neue religiös fundierte Homogenität der zunehmend in Klassen und Parteien zerfallenden, durch Interessenkämpfe geprägten Gesellschaft hänge aber davon ab, daß die christliche Uberlieferung wieder für alle Sozialschichten, insbesondere für die zunehmend kirchendistanzierteren und teils offen antichristlichen bürgerlichen Eliten plausibel werde. So fordert der Protestantenverein „eine Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwickelung unserer Zeit" (Der allgem. deutsche Protestantenverein 1) bzw. - so eine berühmte Formel des prominentesten theologischen Gründervaters des Vereins, R. - » R o t h e - e i n e neue „Versöhnung von Religion und Kultur" (Ges. Vorträge 88). Die konservativen Lutheraner (-»Konfessionalismus) beschuldigen den seit 1890 zunehmend von politisch Linksliberalen bzw. „Freisinnigen" dominierten Protestantenverein seichter Anpassung an einen bourgeoisen Fortschrittsoptimismus, unchristlicher Verherrlichung des nationalen Machtstaates und theologisch illegitimer Affirmation der modernen Kultur, die sich von Evangelium und Kirche emanzipiert habe. Seit 1864, verstärkt seit der Reichsgründung 1870/71, führen konser-

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vative Lutheraner und „liberale T h e o l o g e n " intensive Kontroversen über die politischen O r d n u n g s p r o b l e m e bzw. inneren Gestaltungsprinzipien des neuen Reiches. D a b e i verwenden beide Seiten neue Komposita des Protestantismusbegriffs, um die jeweils andere als unprotestantisch auszugrenzen. S o wie die Liberalen des Protestantenvereins gegen den „ d o g m a t i s c h e n " , „ r e s t a u r a t i v e n " , „ k n e c h t i s c h e n " , „ k o n s e r v a t i v e n " und „ k r y p t o k a t h o l i s c h e n A u t o r i t ä t s p r o t e s t a n t i s m u s " k ä m p f e n , streiten die lutherischen Konservativen gegen das „liberale K o m p r o m i ß c h r i s t e n t u m " , den „ H u m a n i t ä t s p r o t e s t a n t i s m u s " , den „ R e d u k t i o n s p r o t e s t a n t i s m u s " und den „ A f t e r - P r o t e s t a n t i s m u s " . U m die behauptete unkritische Anpassung des „kirchlichen L i b e r a l i s m u s " an bourgeoise Kulturideale zu bezeichnen, verwenden die Konservativen gezielt auch neue K o m p o s i t a des Kulturbegriffs wie „ K u l t u r g l a u b e " , „ K u l t u r r e l i g i o n " , „ K u l t u r c h r i s t e n t u m " , „ K u l t u r c h r i s t " sowie „ K u l t u r k i r c h e " (Belege bei: G r a f , Kulturprotestantismus; ders., Konservatives Kulturluthertum).

2.3. Gleichwohl läßt sich „Kulturprotestantismus" bisher erst unmittelbar nach der Jahrhundertwende nachweisen. Seit 1890 wird im Deutschen Reich in Parteien, Verbänden und Kirchen sowie in den Kulturwissenschaften einschließlich der Theologie beider Konfessionen eine neue Debatte über Krisenphänomene gesellschaftlicher Modernisierung geführt. Dabei werden zahlreiche neue Komposita des Kulturbegriffs in die öffentliche Diskussion eingeführt: „Kulturphilosophie" (vgl. Perpeet), „Kulturpolitik" (1907 durch den protestantischen Kulturhistoriker K. Lamprecht; vgl. vom Bruch, Kulturmission), „Kulturliberalismus" (ca. 1907) und „Kulturkonservativismus" (ca. 1911/12). Diese neuen Kulturkomposita bleiben stark durch den überkommenen, seit 1890 politisch noch einmal verschärften konfessionellen Gegensatz bestimmt: Katholiken und Protestanten führen seit 1900 einen neuen „literarischen Kulturkampf" über die sog. kulturelle „Inferiorität" bzw. Rückständigkeit des katholischen Milieus (vgl. Baumeister) und die kulturellen Hegemonieansprüche des Protestantismus. Sowohl der seit spätestens 1904 gebräuchliche Begriff „Kulturprotestantismus" als auch der seit spätestens 1910 — keineswegs erst in den zwanziger Jahren (so jedoch: Langner 71) - eingeführte Begriff „Kulturkatholizismus" lassen sich (zumindest derzeit) erstmals im Kontext dieser nach der Jahrhundertwende geführten Kontroversen über die je besondere kulturelle Gestaltungskompetenz von Protestantismus und Katholizismus nachweisen. Beide Begriffe sind keine Selbst-, sondern Fremdbezeichnungen. Sie finden sich vor 1914 primär in der breiten kirchenpolitischen Publizistik - Zeitschriften, Agitationsbroschüren, Reden bei Jahresversammlungen - des Verbandsprotestantismus und Verbandskatholizismus. 2.4. Der Kulturprotestantismusbegriff spielt seit 1904 eine prominente Rolle in verbandspolitischen Auseinandersetzungen innerhalb des Evangelischen Bundes zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen, der 1886 hauptsächlich von Repräsentanten der preußischen kirchenpolitischen Mitte zur Bekämpfung des Ultramontanismus bzw. politischen Katholizismus gegründet worden und personell eng mit dem politischen Nationalliberalismus und diversen nationalistischen Agitationsverbänden verbunden gewesen ist. Zentrales Thema dieser Auseinandersetzungen ist die Frage, ob nicht analog zur Zentrumspartei eine politische Partei oder Interessenorganisation des Protestantismus gegründet werden müsse (-»Parteien), die um der Zurückdämmung des „politischen Katholizismus" willen sowohl traditionalistisch orientierte Gruppen, den „Bekenntnis-" bzw. „Religionsprotestantismus", als auch das breite Spektrum modernitätsoffener und reformorientierter Kräfte, den „Bildungs-" bzw. „Kulturprotestantismus", umfassen müsse. Kulturprotestantismus ist dabei ein vorrangig von politisch sozialkonservativen „positiven Theologen" und Kirchenfunktionären wie etwa Theodor —»Kaftan und Richard Heinrich Grützmacher verwendeter Kampfbegriff zur Bezeichnung eines reformatorisch illegitimen, weil unkritisch an Aufklärung und liberalem Individualismus angepaßten Protestantismus, wie er die bourgeoisen Bildungseliten präge. Kirchenpolitisch beziehen die „Positiven" den Begriff primär auf zwei Gruppen: auf die „kirchlich Liberalen" des Protestantenvereins, die die Ziele des Evangelischen Bundes zum Teil durch Doppelmitgliedschaften unterstützt haben, und auf die häufig im Evangelischen Bund sehr aktiven, 1903 zur Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt zu-

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Kulturprotestantismus

sammengeschlossenen „modernen Theologen" aus der Schule A. Ritschis und der Religionsgeschichtlichen Schule, die sich in den neunziger Jahren zumeist als scharfe Kritiker des politischen und kirchlichen Liberalismus verstanden und dem Protestantenverein Ignoranz gegenüber der sozialen Frage, Zivilisationsgläubigkeit und „Kulturseligkeit" vorgeworfen haben. 2.5. Beide Gruppen haben den Kulturprotestantismusbegriff im Vorkriegsjahrzehnt jedoch abgelehnt und durch polemische Entgegensetzung von „Immanenzglaube" und -•„Eschatologie" ihre kritische Distanz gegenüber der Gegenwartskultur betont. Solche Kulturkritik prägt auch die zahlreichen Beiträge zu den Themenkomplexen „Protestantismus und Neuzeit" sowie „Religion und Kultur", die in der von Friedrich -»Naumann herausgegebenen Zeitschrift Die Hilfe, in den 1908 gegründeten, von ihren Herausgebern dem neuen „Kulturliberalismus" zugeordneten Zeitschriften Religion und Geisteskultttr und Noris. Jahrbuch für protestantische Kultur sowie in zahlreichen neuen Rundschauund Kulturzeitschriften erschienen sind. Angesichts der kirchenregimentlichen Repressionsmaßnahmen gegen liberalprotestantische Pfarrer und mit Blick auf die hohe Bedeutung, die insbesondere der „Fall" Traub (später auch der „Fall" ->Jatho) für die kirchenpolitische Mobilisierung des protestantischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums vor 1914 gehabt hat, haben sich der Protestantenverein mit damals ca. 25 000 Mitgliedern, die damals ca. 1200 Freunde der Christlichen Welt und diverse andere Verbände aus dem freiprotestantischen Spektrum mit dem Protestantenbund (seit 1912: Bund deutscher Protestanten) 1909 zwar ein Forum zur kirchenpolitischen Zusammenarbeit geschaffen, ohne die programmatische wie institutionelle Selbständigkeit der Einzelverbände preiszugeben. Auch veranstalten sie 1910 gemeinsam den „Fünften Weltkongreß für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt" in Berlin. Diese Kooperation ist am Leitbegriff „freier Protestantismus" und nicht am Begriff „Kulturprotestantismus" orientiert. Solche Gruppen im freiprotestantischen Spektrum, die für die vagierende Religiosität der seit 1890 entstehenden alternativen Lebensreformbewegungen und die zahlreichen neuen, primär vom protestantischen Bildungsbürgertum getragenen Kulturbünde wie etwa den von Ferdinand Avcnarius geleiteten Dürer-Bund offen sind, nehmen seit 1910 zunehmend auch den Begriff „Neuprotestantismus" als Selbstbezeichnung in Anspruch, um die Notwendigkeit einer Erneuerung des Protestantismus bzw. der Synthese protestantischer Tradition mit neuen „Weltanschauungen" hervorzuheben. „Neuprotestantismus" und „freier Protestantismus" sind auch die Leitbegriffe in diversen Vereinen und Verbänden der protestantischen -»Frauenbewegung, deren führende Theoretikerinnen wie insbesondere Elisabeth Gnauck-Kühne (1850-1917; im März 1900 zum römischen Katholizismus konvertiert), Gertrud Bäumer (1873-1954) und Agnes von Zahn-Harnack (1884-1950) stark durch bürgerlich-protestantische Kulturideale geprägt sind. Erst in den zwanziger Jahren nehmen Vertreter kulturprotestantischer Vereine und Verbände den Kulturprotestantismusbegriff offensiv als Selbstbezeichnung auf, um den neuen „Krisentheologien" ein Defizit an kultureller Gestaltungskraft entgegenzuhalten. 2.6. Für die Profilierung eines kulturprotestantischen Selbstverständnisses spielt die Bezugnahme auf den Kulturkatholizismus eine wichtige Rolle. Der Begriff „Kulturkatholizismus" dient ursprünglich zur polemischen Charakteristik einer Gruppe im deutschen Katholizismus, die sich im Gegensatz zum amtskirchlichen Integralismus um vorsichtige Aufnahme national-liberaler Kulturstaatsideale bemüht: des Kreises um die 1903 — in Analogie zur Christlichen Welt - von Karl Muth gegründete Zeitschrift Das Hochland (vgl. W. Loth 74ff; V. Berning). Im Kontext der breiten katholischen Debatte über „das Trauma von der ,Kulturüberlegenheit des Protestantismus'" (Baumeister 89) wird der Begriff aber nicht von kirchenpolitisch traditionalistischen Kräften, sondern von politisch Liberalen um die 1905 gegründete Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert bzw. Das neue Jahrhundert verwendet, die sich selbst als „der linke Flügel der katholischen Fortschrittsbewegung" verstehen (Das Neue Jahrhundert 2 [1910] 9), die Bürgerlichkeitsdefizite im Katholizismus abbauen wollen und auch nach den vatikanischen Antimodernis-

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musgesetzen, im Gegensatz zu führenden Reformtheologen wie F. X . Kraus, H. Schell und A. Erhard, am Ideal einer modernistischen Öffnung des Katholizismus festhalten. Dabei treten sie für die Rezeption aufgeklärter Toleranz und protestantischer Gewissensfreiheit ein, erheben jedoch zugleich einen kulturellen Führungsanspruch gegenüber dem in sich zersplitterten Protestantismus, weil im modernistisch geläuterten Katholizismus die Wahrheitselemente beider Traditionen, protestantische freie Subjektivität und Gemeinschaftsbindungen römisch-katholischer Kirchlichkeit, perfekt miteinander vermittelt seien. Dieses antiprotestantische Element des Kulturkatholizismusbegriffs wird nach 1918/19 dann so verstärkt, daß „die protestantismuskritische und antimodernistische Frontstellung einen Kerngehalt des Weimarer Kulturkatholizismus" ausmacht (Langner, Kulturkatholizismus 71). Als „Kulturkatholiken" bezeichnen sich nun jüngere katholische Intellektuelle, für die der „Kulturprotestantism u s " als „Religion der M o d e r n e " nur Inbegriff „einer letztlich gottauflösenden Weltlichkeit" (E. Przywara, zit. 72) und ideologische Überhöhung eines „liberalistischen" Individualismus ist, der gewachsene Gemeinschaftsbindungen und das sittliche Fundament des wahren, weil vom kirchlichen Naturrecht geprägten Kulturstaates auflöse. Römisch-katholische Zeitdiagnostiker wie K. Muth, P. Wust, T h . Haecker, A. Dempf, R . Guardini, M . Scheler, E. Przywara, M . Pribilla und C. Schmitt erklären „Kulturkatholizismus" zum „Sieg-Katholizismus", der auf dem „Trümmerfeld" der 1918/19 definitiv zusammengebrochenen Moderne (E. Przywara, zit. 74) die „Katholisierung des gesamten Lebens" anstrebt, gegenüber der kulturprotestantischen Akzeptanz einer relativen Eigengesetzlichkeit der weltlichen Lebensgebiete eine hierokratische Kulturdominanz der Kirche fordert und in ausdrücklicher Kritik der Weimarer Reichsverfassung auch den Staat wieder auf ein spezifisch katholisches „Kulturideal", d.h. auf theonomes Recht, Hierarchieprinzip und organologisch-ständische Gemeinschaften, begründen will.

Diese Tendenz zur zunehmenden republik-kritischen Politisierung des Begriffs prägt auch die Debatten über das Verhältnis von „kulturellem und politischem Katholizismus", wie sie in der Zentrumspresse und in den kulturkatholischen Organen Das Hochland, Die Stimmen der Zeit, Schönere Zukunft, Abendland und Allgemeine Rundschau geführt werden. Gegenüber jenen Kräften im Zentrum, die im Interesse demokratischer Kompromiß- und Konsensbildung eine ökumenische Öffnung des Zentrums betreiben und im Parteiprogramm spezifisch römisch-katholische durch allgemeinchristliche Kulturnormen zu ersetzen verlangen, vertreten die Kulturkatholiken der zwanziger Jahre ausnahmslos die Position, daß das Zentrum „katholische Kulturpartci" bleiben und zur „Verchristlichung der Kultur" die „katholische Idee der Politik" hochhalten müsse, „am herrlichsten Form geworden in der Autorität des Papsttums" (A. Dcmpf, zit. 90). Dieses Pathos von Autorität und Kulturhegemonie läßt verstehen, warum die zumeist im Verband der Vereine katholischer Akademiker tätigen Weimarer Kulturkatholiken die Transformation der parlamentarischen Demokratie in die Präsidialdiktatur unterstützt und häufig auch die „deutsche Revolution" von 1933 begrüßt haben. 3. Die politische

Mehrdeutigkeit

des

Kulturprotestantismus

3.1. Die vielfältigen Krisenphänomene in der Gesellschaft des Kaiserreiches führen in den verschiedenen Gruppen des protestantischen Bürgertums zu einer Debatte über die Frage, in welchen politischen Strukturen die sozialen Integrationsprobleme einer kapitalistischen Massengesellschaft am besten bewältigt werden können. Die in den kulturprotestantischen Organisationen geführte Diskussion über die kulturelle Prägekraft eines modernisierten Protestantismus spitzt sich seit 1890 auf die Frage zu, ob nicht aus dem Geist des freien Protestantismus heraus ein eigenes politisches Programm entworfen werden müsse. Die Politisierung liberalprotestantischer Tradition wird am wirkungsmächtigsten repräsentiert durch F. -»Naumanns diverse Versuche der parteipolitischen Organisation eines sozial aufgeschlossenen freien Protestantismus. Gründung und Scheitern des Nationalsozialen Vereins lösen in den religiös-liberalen Organisationen einen Prozeß parteipolitischer Fraktionierung aus, so daß der Kulturprotestantismus im Kaiserreich seit der Jahrhundertwende politisch zunehmend inhomogener wird. Schon Naumanns

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„Liberalismus" ist politisch schillernd. Innenpolitische Reformprogramme - Parlamentarisierung, Integration der Sozialdemokratie - sind mit einem aggressiven -»Nationalismus und -»Imperialismus verbunden. Wie Naumanns allmähliche Öffnung für .westliche' Demokratiekonzepte mit seiner theologischen Entwicklung verbunden ist, ist bisher noch kaum erforscht. Die politische Mehrdeutigkeit der kulturprotestantischen „Modernisierung des Christentums" tritt besonders prägnant in der Gleichsetzung von „Modernisierung" und „Germanisierung" zutage. Prominente Vertreter freiprotestantischer Organisationen wie Otto -»Pfleiderer und Arthur Bonus (vgl. Graf, Theonomie; Maron) sowie zahlreiche von Paul de -»Lagarde beeinflußte Theologen fordern ein „deutsches Christentum", das frei vom kirchendogmatischen Ballast der Vergangenheit als Zivilreligion des Kaiserreiches neue kulturelle Integration, insbesondere eine neue Einbindung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft ermöglichen soll. Auf einem weithin identischen theologischen Hintergrund findet eine andere, kleine Gruppe von Theologen im Umkreis der Christlichen Welt und des -»Evangelisch-sozialen Kongresses zu den -»„Religiösen Sozialisten" bzw. zur -»Sozialdemokratie. Das Beispiel des prominentesten Vertreters dieser Gruppe, Paul Göhre (1864-1928), zeigt, wie sehr theologische Grundüberzeugungen nahezu identisch sein und zugleich politisch gegensätzlich konkretisiert werden können. Auch im Ersten Weltkrieg reicht das Spektrum politischer Einstellungen im Kulturprotestantismus von einem gemäßigten christlichen Pazifismus (vor allem bei Martin Rade) bis hin zu einem imperialistischen Annexionismus (vor allem bei Gottfried Traub). 3.2. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 führt zu einer einschneidenden Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen kultur- und kirchenpolitischer Debatten. Alte liberale Forderungen wie Parlamentarisierung, Grundrechtsschutz des Individuums und Trennung von Staat und Kirche (s. TRE 18,386-390) werden zur Grundlage der neuen Republik. Die Neuorganisation des politischen Systems wird zum Katalysator einer in der kulturprotestantischen Öffentlichkeit geführten Debatte, inwieweit das liberal-protestantische Erbe notwendig in einer ausdrücklichen Bejahung des neuen Staates konkretisiert werden müsse. Durch diesen Z w a n g zur Stellungnahme verschärfen sich die politischen Fraktionierungen in allen kulturprotestanrischen Organisationen. Das Spektrum reicht von der DNVP bis zur USPD. Die Mehrheit der Repräsentanten „liberaler Theologie" an den Universitäten versucht einen „verfassungstreuen Kulturprotestantismus" (K. Nowak) zu formieren, der über Ansätze zu einer organisatorischen Verdichtung jedoch nicht hinausgekommen ist. Nur einige wenige wie E. Troeltsch, M . -»Dibelius, Hermann Mulert (1879-1950), O t t o Baumgarten (1858-1934), Heinrich Hermelink (1877-1958) und M . Rade organisieren sich parteipolitisch aktiv in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei sowie in diversen die Republik bewußt unterstützenden vorpolitischen Organisationen, etwa im Verein zur Abwehr des Antisemitismus. In der in kulturprotestanrischen Verbänden organisierten Pfarrerschaft und in der primär im Reichsbund für Religionsunterricht und religiöse Erziehung zusammengeschlossenen religiös-liberalen protestantischen Lehrerschaft stößt diese politische Option aber mehrheitlich auf massive Ablehnung. Dies zeigen insbesondere die in der Christlichen Welt polemisch geführten Auseinandersetzungen um die Gründung eines Republikanischen Pfarrerbundes sowie das zunehmend intensivere publizistische Engagement von kulturprotestantischen Pfarrern in der der Deutschen Volkspartei (DVP) und Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) nahestehenden Presse. Gottfried Traub (1869-1956) repräsentiert ein kulturprotestantisches Denken, das religiös-liberale Traditionen zur Stärkung eines konservativ-nationalistischen Antirepublikanismus in Anspruch nimmt. Durch die Vorordnung idealistischer Synthese und Einheitsvorstellungen vor die Aufklärungselemente im kulturprotestantischen Erbe wird die überkommene Verbindung von Protestantismus und Nation nun zu einem aggressiv antiwestlichen, auf die Revision des Versailler Vertrages zielenden Nationalismus umgeformt. Innenpolitisch wird dieser Nationalismus in -»Antisemitismus und Kampf gegen die Gleichberechtigung der Juden konkretisiert. Diese politische Orientierung gewinnt in Parallele zur allgemeinen Auflösung liberaler Milieus seit Mitte der zwanziger Jahre in den kulturprotestantischen Organisationen zunehmend an Gewicht. Repräsentanten eines konsequenten Liberalismus wie Hermann Mulert und Erich Foerster (1865-1945) geraten politisch schon vor 1933 in die Defensive. Erst recht gilt dies für die kleine

Kulturprotestantismus Gruppe kulturprotestantischer Religiöser Sozialisten, auch wenn sie im Vorstand der Freunde Christlichen "Welt durch Emil Fuchs (1874-1971) gleichberechtigt vertreten ist.

237 der

Die schon die neoidealistischen Synthesekonzepte des späten 19. J h . prägende Tendenz, liberalen -»Individualismus und aufgeklärten Rationalismus als .westlich' auszugrenzen, wird in den zwanziger Jahren im gesamten Spektrum kulturprotestantischer Vereine und Verbände deutlich verstärkt. Nationalpolitische Integrationsformeln, die im Kaiserreich bei der Suche nach einem „deutschen Christentum" geprägt worden sind, werden nun insbesondere von prominenten Funktionären des Protestantenvereins, etwa von dem in der D V P aktiv tätigen Generalsekretär Wilhelm Schubring ( 1 8 7 5 - 1 9 4 5 ) , aufgegriffen. Selbst politisch links oder liberal eingestellten Kulturprotestanten fällt es schwer, die Situation eines antagonistischen Pluralismus zu akzeptieren. Die dem korrespondierende Suche nach neuer Synthese führt zu einer zunehmenden Öffnung für harmonistische Integrationskonzepte, die faktisch allerdings die Polarisierung in Protestantismus und Gesellschaft verschärfen. 3.3. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, daß einige theologische Repräsentanten und Verbandsfunktionäre aus dem kulturprotestantischen Spektrum in den dreißiger Jahren vom Volksgemeinschaftsglauben der NS-Bewegung (-»Nationalsozialismus) fasziniert gewesen sind. Ein religiös-sozialistischer Kulturprotestant wie Georg Wünsch ( 1 8 8 7 - 1 9 6 4 ) ist zeitweise Parteigänger der Nationalsozialisten. Heinrich Weinel versucht, die Thüringer kulturprotestantischen Vereine zur Speerspitze der deutsch-christlichen Bewegung zu machen (-»Deutsche Christen). Auch rekurrieren Repräsentanten der „Deutschen Christen" auf Elemente der kulturprotestantischen Uberlieferung, insbesondere auf die Vorstellung, daß nur durch Germanisierung eine gelungene Modernisierung des Christentums geleistet werden könne. Prominente Theologen der Bekennenden Kirche, etwa K. -»Barth und H. -»Asmussen, deuten ihren Kampf gegen die „Deutschen Christen" denn auch als Absage an eine modernistische Verfälschung der reformatorischen Wort-Gottes-Theologie, die keineswegs nur von diesem aktuellen Gegner, sondern vom Neu- bzw. Kulturprotestantismus schon seit der Aufklärung betrieben werde. Demgegenüber weisen zahlreiche Vertreter kulturprotestantischer Verbände seit 1933 darauf hin, daß die BK-Gruppierungen und die diversen Gruppen der „Deutschen Christen" in der Kritik an Liberalismus und liberalem Kulturprotcstantismus übereinstimmten: „ D a ß ,Kulturprotestantismus' etwas Verabscheuenswürdiges ist, darüber ist man sich heute in Theologie und Kirche weithin einig; selbst die sonst so feindlichen Brüder .Bekennende Kirche' und .Deutsche Christen* sind darüber grundsätzlich einer M e i n u n g " (H. Schlemmer: C h W 53,472). Theologiepolitisch motivierte Aussagen dieser Art werden aber weder der Komplexität der seit 1933 sich vollziehenden kirchenpolitischen Fraktionierungen im deutschen Protestantismus insgesamt noch speziell den heterogenen kirchenpolitischen Positionen im kulturprotestantischen Spektrum der dreißiger Jahre gerecht. So wie sich einerseits einige liberalprotestantische Universitätstheologen und kulturprotestantische Verbände den „Deutschen Christen" zuordnen, so engagieren sich andererseits prominente liberal-protestantische Hochschullehrer und Verbandsfunktionäre, etwa Johannes Kübel, Hans von Soden ( 1 8 8 1 - 1 9 4 5 ) , E. Foerster und W. Schubring, aktiv in der „Bekennenden Kirche". Einige kulturprotestantische Vereinigungen lösen sich nach 1933 wegen interner Konflikte um ihren kirchenpolitischen Kurs auf. Andere suchen eine volkskirchliche Mittelposition zwischen den — in ihrer Perspektive — allzu konfessorischen Flügelgruppen im „Kirchenstreit" zu vertreten. Diese kirchenpolitischen Polarisierungen stellen nur eine Verstärkung jener positionellen Vielfalt dar, die das liberalprotestantische Milieu schon im späten 19. J h . prägt. Auch allgemeinpolitisch bleibt der Kulturprotestantismus nach 1933 inhomogen. Besonders deutlich zeigen dies die Christliche Welt und das Protestantenblatt. Die Herausgeber Schubring und Mulert halten an alten liberalen, auf individuelle Freiheitsrechte bezogenen Traditionen fest und nehmen mit einer - im Verhältnis zum sonstigen Protestantismus - hohen Sensibilität für Rechtsverfolgungen kritisch Stellung gegenüber dem

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Kulturprotestantismus

neuen Staat. Auf dem Hintergrund der alten engen Verbindungen zwischen liberal-protestantischem und liberal-jüdischem Milieu werden in den beiden Führungsblättern des Kulturprotestantismus auch die Ausgrenzung und Verfolgung deutscher Bürger jüdischer Herkunft abgelehnt. Der badische Pfarrer Hermann Maas (1877-1970), als langjähriger Schriftleiter der Süddeutschen Blätter für Kirche und freies Christentum ein prominenter Repräsentant der Kirchlich-liberalen Vereinigung in Baden, hat wie einige andere liberalprotestantische Pfarrer vielfältige Hilfsaktionen für verfolgte Deutsche jüdischer Herkunft durchgeführt. Mulert lehnt ein Engagement innerhalb der Bekennenden Kirche nicht nur mit dem kirchenpolitischen Argument ab, daß deren konfessorischer Druck von totalitären Elementen nicht frei sei, sondern kritisiert prominente Theologen der Bekennenden Kirche, etwa Barth, auch mit dem politischen Einwand, im Kampf für die Autonomie der Kirche den Rechtsverletzungen des NS-Staates gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen keine zureichende Aufmerksamkeit zu widmen. Daß viele Repräsentanten der Bekennenden Kirche politische Sympathie mit der deutschen Revolution und dem Führer bekunden, wird in der Christlichen Welt kritisch notiert. Dies schließt Versuche nicht aus, zwischen den innerkirchlichen Fronten zu vermitteln, J.W. Hauers Deutscher Glaubensbewegung (s. T R E 8,556,13 ff) ein relatives Existenzrecht zuzugestehen und Gruppen der „Deutschen Christen" in einen volkskirchlichen Grundkonsens einzubinden. Nachdem seit 1933 der Handlungsspielraum der beiden führenden kulturprotestantischen Zeitschriften zunehmend eingeschränkt worden ist, müssen sie mit dem Beginn des Krieges gegen die UdSSR ihr Erscheinen einstellen. Dies bedeutet zugleich das Ende eines vereinsmäßig organisierten Kulturprotestantismus. Der Gleichschaltungszugriff des nationalsozialistischen Einparteienstaates schränkt keineswegs nur die Autonomie der Kirche ein. Er führt auch zur Zerschlagung des „Verbandsprotestantismus". Zwar hat sich der Deutsche Protestantenverein niemals offiziell aufgelöst. Auch ist er nicht staatlicherseits verboten worden. Andere kulturprotestantische Verbände und Institutionen sind unter staatlichem Druck jedoch schon relativ früh aufgelöst worden. 3.4. Die gesellschaftsgeschichtlichen Konsequenzen des Nationalsozialismus führen dazu, daß die organisatorische Formierung eines neuen Kulturprotestantismus nach 1945 nicht mehr gelingt. Die antibürgerliche Grundeinstellung der nationalsozialistischen Bewegung, die Emigration von Teilen des Bildungsbürgertums, die Vernichtung des mitteleuropäischen Judentums und die großen Flüchtlingsströme seit den frühen vierziger Jahren bewirken eine Auflösung der alten sozialmoralischen Milieus der deutschen Gesellschaft. Mit Ausnahme der Sozialdemokratie orientiert sich die Neuformierung der politischen Parteien nicht mehr an den alten Milieus. Vielmehr werden nun Überkonfessionalität und schichtenübergreifender „Volkspartei"-Anspruch entscheidende Kennzeichen der politischen Neuorientierung im Westen Deutschlands. Mit dem Bonner Grundgesetz wird die in der Weimarer Reichsverfassung schon angelegte Tendenz zur Begründung des politischen Systems auf westlich-liberale Traditionen noch einmal verstärkt. Verfassungspolitisch, auf der Ebene der institutionellen Rahmenbedingungen, wird so für alle bundesdeutschen Parteien eine dezidierte Öffnung für liberalen Individualismus unumgänglich. Die Ausbildung eines parteipolitisch organisierten Liberalismus bleibt demgegenüber marginal. Im Protestantismus nach 1945 kommt es nicht zu einer expliziten Renaissance eines organisierten Kulturprotestantismus. Ein Deutscher Bund für freies Christentum, mit dem sich der Protestantenverein unter Wahrung seiner Selbständigkeit zusammenschließt, bleibt im bundesdeutschen Protestantismus ebenso einflußlos wie die noch existierende Verbandszeitschrift Freies Christentum. Dieser Einflußverlust eines vereinsmäßig institutionalisierten Kulturprotestantismus erklärt sich aus den skizzierten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Im Zuge des Allgemeinwerdens liberaler Tradition verliert der Kulturprotestantismus gerade auch in seinem politischen Anspruch notwendig an Bedeutung. Was für den parteipolitischen Liberalismus nach 1945 gilt, gilt auch für

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die Tradition des liberalen Kulturprotestantismus: die institutionelle Schwäche ist nur die Kehrseite einer erfolgreichen Durchsetzung in den politischen bzw. volkskirchlichen Institutionen. An einer f ü r die Geschichte der Bundesrepublik bedeutsamen liberal-protestantischen Symbolfigur, an d e m durch N a u m a n n s Hilfe und diverse kulturprotestantische Vereine politisch sozialisierten ersten Bundespräsidenten T h e o d o r Heuss (1884-1963), zeigt sich diese Verbindung von organisatorischer Marginalisierung und politischem Allgemeinwerden protestantisch-liberaler Tradition besonders prägnant. Auf dem Hintergrund des Kirchenkampfes und der damit verbundenen Tendenz zur Identifizierung von Kirche und aufklärungskritischem dogmatischen Bewußtsein gibt es im kirchlichen Protestantismus nach 1945 einen strukturellen Bedarf an Stärkung modernitätsoffener liberaler Traditionen. Innerhalb der wissenschaftlichen Theologie werden diese Liberalitätsdefizite aber weniger durch vereinzelte explizite Bemühungen um eine „ n e u e liberale Theologie" (U. Neuenschwander) bzw. einen neuen „Kulturprotestantism u s " kompensiert. Ungleich wichtiger sind hier eine Rezeption von D. -»Bonhoeffers Gedanken über die „mündige Welt" und der breitenwirksame Streit u m R. -»Bultmanns aufklärungsorientiertes „Entmythologisierungsprogramm". Auch auf der Ebene der kirchlichen Organisation k o m m t es nun zu einer indirekten A u f n a h m e des kulturprotestantischen Programms einer Synthese von Christentum und moderner Kultur, insbesondere in Gestalt der f ü r die Geschichte des Nachkriegsprotestantismus äußerst wichtigen „Evangelischen A k a d e m i e n " (-»Akademien, Kirchliche). Auch die organisatorische Ausdifferenzierung kirchlicher Arbeitsfelder in Sonderpfarrämtern sowie die Einrichtung von „ K a m m e r n " zur Wahrnehmung der gesellschaftspolitischen Verantwortung der EKD dienen der Realisierung des kulturprotestantischen Interesses an einer gesamtkulturellen, nicht kirchlich verengten Präsenz protestantischen Geistes. Für diese neue kirchliche Institutionalisierung kulturprotestantischer Intentionen ist die finanzielle Leistungskraft der Volkskirche eine entscheidende Voraussetzung. Die neue parlamentarische Demokratie theologisch begründet zu akzeptieren, ist im Protestantismus der Bundesrepublik — vor allem wegen der hohen Beharrungskraft alter nationalprotestantischer Leitbilder - jedoch erst mit erheblicher Zeitverzögerung gelungen. Erst in der Parlamentarismusdiskussion der letzten Jahre hat es eine Rezeption jener undogmatischen Muster theologischer Politikdeutung gegeben, die klassisch von kulturprotestantischen Gelehrtenpolitikern wie Rade, Baumgarten, Troeltsch und Mulert entwickelt worden sind. Insoweit sind die in den letzten Jahren zu beobachtende neue Z u w e n d u n g zur Geschichte des Kulturprotestantismus bzw. die zunehmend intensiveren Bemühungen um eine differenzierte historisch-systematische Erschließung der Theologien von Ritsehl, H a r n a c k , Troeltsch, Rade, Baumgarten auch als Versuche zu sehen, theologische Kategorien zur Deutung jenes existierenden Kulturprotestantismus zu gewinnen, der die volkskirchliche Realität im bundesdeutschen Protestantismus trägt. Quellen Der allg. dt. Protestantenverein in seinen Statuten, den Ansprachen seines engeren, weiteren u. geschäftsführenden Ausschusses u. den Thesen seiner Hauptversammlungen 1865-1888. Zusammengestellt v. ständigen Bureau des Protestantenvereins, Berlin 1889. — Anonym, Die Kulturkatholiken u. der Altkatholizismus: Das Neue Jahrhundert. Wochenschr. f. rel. Kultur (Früher „Das Zwanzigste Jahrhundert" ). Hg.v. Th. Engert/Ph. Funk. 2 (1910) 9 - 1 0 . - Otto Baumgarten, Der Kulturprotestantismus, seine Not u. seine Aufgaben: Volk u. Kirche 2 (1929) Nr. 41, 2 - 3 ; Nr. 43, 2 - 3 ; Nr. 4 5 , 1 - 2 ; Nr. 4 7 , 2 - 3 ; Nr. 49,1 - 2 . - Ders., Meine Lebensgesch., Tübingen 1929. - Fritz Burbach, „Germanisierung des Christentums". Von Arthur Bonus zu Alfred Rosenberg: ChW 47 (1933) 1128-1133. - Th. Freiherr v. Cramer-Klett, Die blaue Blume — ernste Gedanken zu der Zentrumserweiterung: Allg. Rundschau 32 (1922) 373. - Max Fischer, Der dt. Protestantenverein: Das freie Christentum in der Welt. Ber. nach Vortr. auf dem int. Kongreß f. freies Christentum in Boston 1907. Hg. v. Heinrich Weinel, Tübingen 1909. - Emil Fuchs, Mein Leben, 2 Bde., Leipzig 1957. - Wilhelm Hönig, Die Arbeit des dt. Protestantenvereins während seines 25jährigen Bestehens, Berlin 1888. Ders., Der dt. Protestantenverein, Bremen 1904. - Friedrich August Holzhausen, Der Protestantismus nach seiner gesch. Entstehung, Begründung u. Fortbildung, 1. Die gesch. Entstehung des Prote-

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Kulturprotestantismus

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B. als Lesetexte in der Synagoge eine neue kultische Funktion erhalten (-»Gottesdienst II.2.1; zu einem vergleichbaren Phänomen bei den Psalmen s. Stolz). Wichtig ist die Einsicht in dieses Phänomen des Prozesses. Festzuhalten ist dabei der Gesichtspunkt, daß nicht schon die Verschriftung als solche den Schritt in den Bereich des kulturellen Gedächtnisses bedeutet. Zahlreiche Ostraka mit ausschließlich mitteilendem Charakter (-»Lachisch), Wirtschaftstexte, ja, das meiste epigraphische Material aus Israel, ist dem Bereich des Alltagsgedächtnisses zuzurechnen, hier also nicht relevant (Weippert 578-587; dazu generell A. u. J. Assmann 26 f). Eine weitere Gruppe von im hier verstandenen Sinn künstlerischen Leistungen ist dadurch gekennzeichnet, daß sie Auf- und Vorführungen sind, in zeitlichem Ablauf vollzogene Vorgänge, die als solche nicht erhalten sind. Was wir kennen, sind Berichte und teils Instrumente zu ihrem Vollzug. Das gilt für den gesamten Bereich von gottesdienstli-

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chen Vollzügen, Ritualen und Liturgien (-»Gottesdienst II). Hier sind neben biblischen Berichten und kultischen Texten zahlreiche Kultgeräte des biblischen Israel erhalten (BRL 2 189-194). Ebenso existieren Spuren von Kultgebäuden (Weippert 6 2 0 - 6 3 1 ) . Vielfach als Teil des Gottesdienstes (—• Asaph/Asaphiten und -»Korach/Korachiten), aber auch in anderen Lebensbereichen verankert wie Trauer und Tod, Krieg und Sieg begegnet Musik, sowohl Instrumentalmusik wie Gesang (Eaton). Funde von Musikinstrumenten belegen neben biblischen Texten Bedeutung und Praxis von Musik (BRL 2 2 3 4 - 2 3 6 ) . In diese Reihe künstlerischer Leistungen gehört auch der - • T a n z , der im Kult eine Rolle spielt, aber auch nach einem Sieg und bei vielen Festlichkeiten, freilich dort vielfach stärker dem Alltäglichen zugeordnet als der Kunst (Gruber). Ein dritte G r u p p e von Zeugnissen künstlerischen Wirkens im hier verstandenen Sinn findet sich unter den reichen archäologischen Funden. Dabei ist es oft schwierig, zwischen Alltäglichem und Künstlerischem im Sinn des kulturellen Gedächtnisses zu unterscheiden. Die reichen Keramikfunde gehören weitgehend dem Alltäglichen an. Wo allerdings Bemalung oder besondere Politur vorliegen, also besondere menschliche Gestaltungsvorgänge, die über reine Funktionalität hinausgehen, dürfte der Ubergang in den Bereich der Kunst vorliegen. Angesichts der Konstanz von Gefäßformen und Gestaltung in der ausgehenden Eisen Ii-Zeit wird deutlich, d a ß auch Keramik identitätsstiftend sein kann (Weippert 6 3 9 - 6 4 8 ) . In der Architektur stellt sich die Problematik ähnlich dar wie bei der Keramik: Es gibt eine Fülle von Alltagsarchitektur, dörfliche Bauten ebenso wie Bauten der normalen Bevölkerung in Städten: Feld- und Bruchsteinbauweise (Weippert 5 9 4 - 5 9 7 ) . Davon hebt sich die Architektur von Palast und Tempel ab, nicht allein von der Funktion und der G r ö ß e der Gebäude, sondern auch von der Bauweise her: bearbeitete Quader, besondere Ballustraden und Fenstergestaltung, protojonische Kapitelle (Weippert 5 9 7 - 6 0 3 ; zu Kultbauten: Weippert 6 2 0 - 6 3 1 ) . Ein umfangreiches Material liegt schließlich aus dem Bereich der sogenannten Kleinkunst vor: Schrift- und Bildsiegcl, Elfenbeinund Knochenschnitzereien (zu Material und Motiven -»Bilder II). Die meist mit dem phönizischen Kulturraum gemeinsamen Motive haben Amulettfunktion. Aus dem Bereich der Plastik existieren nur Terrakotten, weibliche Figurinen aus der Zeit des 8./7. Jh. v . C h r . (-»Bilder II.l), schematische Darstellungen, die Köpfe meist in der Preßform hergestellt, Zeugnisse für Familien- und Sippenreligion und kaum dem Bereich der Kunst im hier verstandenen Sinn zuzurechnen. Eine Interpretation des Bilderverbots (-»Bilder II.3) m u ß dieses reichhaltige Material zusammen mit den literarischen Hinweisen aus vorexilischer Zeit bedenken. Entsprechende Zeugnisse aus nachexilischer Zeit fehlen. Es läßt sich aber beobachten, d a ß die sammelnde und interpretierende Geschichtsschreibung dieser Epoche ihre Vorlagen in dieser Hinsicht jedenfalls nicht tiefgreifend umgearbeitet hat (z.B. II C h r 3f im Vergleich mit I Reg 6f; dazu Willi 9 6 - 9 8 ) . Wesentlich am Bilderverbot ist, wie unterschiedlich auch immer die Praxis sich gestaltet, d a ß es eine Religion davor bewahrt, „ d a s Bild mit seiner Wahrheit zu verwechseln" (Volp 234). Literatur Aleida u. Jan Assmann, Schrift, Tradition u. Kultur: Wolfgang Raible (Hg.), Zw. Festtag u. Alltag, Tübingen 1988 (ScriptOralia 6). - Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis u. kulturelle Identität: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur u. Gedächtnis, Frankfurt 1988, 9 - 1 9 . — Yohanan Boehm, Art. Dance: E J 5 (1971) 1262-1271. - John H. Eaton, Music's Place in Worship. A Contribution from the Psalms: OTS 23 (1984) 8 5 - 1 0 7 (Lit.). - Kurt Galling, Art. Kunsthandwerk I. In Israel: RGG 3 4 (1960) 167-170 (Lit.). - Ders. (Hg.), BRL 2 1977 (HAT 1.1). - Mayer I. Gruber, Ten DanceDerived Expressions in the Hebrew Bible: Biblica 62 (1981) 328-346. - Bartel Hrouda, Die Stadt im Alten Orient: FS Karl Bosl, München, 1 1988, 249-257. - William Sanford LaSor, Art. Art: ISBE 1 (1979) 299-306. - Hans-Peter Müller, Art. häkam IV.5: ThWAT 2 (1977) 936. - Dario Sabbatucci, Kultur u. Religion: Hb. religionswiss. Grundbegriffe, hg.v. Hubert Cancik/Burkhard Gladigow/Matthias Laubscher, I Syst. T., Stuttgart 1988,43-58. - Fritz Stolz, Psalmen im nachkultischen Raum, 1983 (ThSt[B]). - Christian Strahm, Ursprüngliche Impulse f. die Entstehung der Stadt: Maja Silvar (Hg.), Stadt u. Land. Die Gesch. einer gegenseitigen Abhängigkeit, Bern 1988,47-64 (Lit.). Rainer Volp, Kunst als Sprache v. Religion: KuKi 51 (1988) 233 - 2 3 7 . - Gerhard Wallis, Die Stadt in

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der Genesis: Z A W 7 8 (1966) 1 3 3 - 1 4 8 . - Helga Weippert, Palästina in vorhell. Z e i t , M ü n c h e n 1988 ( H b . der Archäologie. Vorderasien I I / l ) . - Claus W e s t e r m a n n , Genesis ( 1 - 1 1 ) , 3 1 9 8 3 (BK 1/1). T h o m a s Willi, Die C h r o n i k als Auslegung, 1972 ( F R L A N T 1 0 6 ) . - Dieter Wohlenberg, Kultmusik in Israel. Eine forschungsgesch. Unters., Diss. H a m b u r g 1967. - Ernst W ü r t h w e i n , D i e B ü c h e r der Könige. 1. Könige 1 - 1 6 , 2 1 9 8 5 ( A T D 1 1 / 1 ) .

Peter Welten

III. Judentum 1. Bilderverbot, rabbinische Diskussion, spätere Auslegung 2 . Einzelbereiche 2 . 1 . Architektur: Synagogenbau und Ausstattung 2 . 2 . Buchmalerei 2.3. Grabkunst 2 . 4 . Kunstgewerbe 2 . 5 . Malerei und G r a p h i k in neuerer Z e i t 3. Zusammenfassung (Literatur S. 2 6 1 ) In seinem Verhältnis zwischen Kunst und Religion unterscheidet sich das J u d e n t u m von den meisten anderen Kulturen, da es die Kunst nicht als M i t t e l zur Verehrung bzw. A n b e t u n g Gottes einsetzt. Anders als in der klassischen Antike oder später im Christentum existieren weder Standbilder noch zweidimensionale Darstellungen eines G o t t e s , die aus der Vorstellungskraft des Menschen entstehen und die Eigenschaften eines göttlichen Wesens charakterisieren.

1. Bilderverbot,

rabbinische

Diskussion,

spätere

Auslegung

Innerhalb der Welt des Alten Orients, in der Götterbilder als Reliefs und Plastiken üblich waren, entstand eine Religion, die sich bewußt von den Religionen ihrer Umwelt und deren religiösen Gebräuchen abgrenzte. Die Vorstellung von einem einzigen und zugleich geistigen Gott erlaubte weder eine Vielgötterei noch eine Darstellung dieses einzigen Gottes und steht daher bezüglich der Kunst ganz im Gegensatz zu einer Kultur der Götterbilder. Diese Vorstellung ist im biblischen Bilderverbot ausgedrückt (-»Bilder). In Ex 2 0 , 3 - 5 ist die Einzigartigkeit Gottes konstatiert, neben dem es keine anderen Götter gibt und von dem man kein Bildnis machen soll. In Dtn 4 , 2 5 - 3 1 wird die Herstellung eines Götterbildes als Verderben bezeichnet. In Dtn 27,15 wird der Hersteller eines Götzen bzw. eines gegossenen Bildes verflucht. Das biblische Bilderverbot ist somit ein Verbot, das sich vorrangig auf die Herstellung eines Götterbildes, das als Götzenbild aufgefaßt wird, erstreckt; und schon hier wird das Verbot zur Herstellung einer Plastik besonders betont. In seiner strengsten Auslegung bezieht sich das Bilderverbot auf alle Bildnisse, also auch auf Darstellungen von Menschen. In biblischer Zeit entstehen plastische und zweidimensionale Kunstwerke: Das große Wasserbecken im Vorhof des salomonischen Tempels, das sogenannte eherne Meer, stand auf den Rücken von zwölf Rindern; die Innenwände des großen Tcmpelraumcs waren mit Darstellungen von Palmen und Cherubim geschmückt; im Allerheiligsten stand die Bundeslade mit den beiden Cherubim. Doch Darstellungen von Menschen, sei es als Plastiken oder als zweidimensionale Kunstwerke, entstehen auch nicht in den späteren Jahrhunderten der klassischen Antike. Eine Änderung bzw. eine Lockerung dieses strikten Bilderverbots bezüglich der Darstellung des Menschen tritt mit der um 200 n.Chr. kodifizierten -»Mischna ein. Doch auch die hier aufscheinenden Verbote entstehen aus der klaren Abgrenzung der jüdischen Religion von den heidnischen Kulturen der Umwelt. Besonders deutlich zeigt sich dies in mAZ 3,1, wo die Herstellung von Plastiken als Standbilder von Menschen mit einem Stab, einem Vogel oder einer Kugel in den Händen verboten ist. Gemeint sind Statuen mit den genannten Attributen, die in der heidnisch-antiken Welt als Götterstatuen galten oder als Statuen eines römischen Kaisers, der als divus einem Gott gleichgesetzt war. Dieses Verbot wird in mAZ 3,2 auch auf Bruchstücke von Plastiken ausgedehnt. Die talmudische Diskussion mAZ 4 0 b - 4 3 b geht genauer auf diese Fragen ein. Danach sind Plastik und Hochrelief generell verboten, da sie mit Götterstatuen in Verbindung gebracht werden. Erlaubt sind Darstellungen von Mensch und Tier zu wissenschaftlichen Zwecken, sofern

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sie nicht plastisch hervortreten. Aufgrund dieses Verbotes konnten sich Plastik und Reliefkunst in der jüdischen Kunst nicht entwickeln und treten erst im 20. Jh. auf, als sich jüdische Künstler über dieses Verbot hinwegsetzten. Die Vorstellung vom jüdischen Bilderverbot, die sich außerhalb des Judentums bildete, hat lange Zeit zu einer falschen Beurteilung geführt, etwa Juden seien generell „unkünstlerisch" oder besäßen keine eigene Kunst oder seien als Künstler überhaupt nicht hervorgetreten. Richtig ist, daß die jüdische Kunst keinen eigenen Stil hervorgebracht hat, sondern eingebettet ist in den Stil ihrer Zeit und geographischen Umgebung. Dies ist aber nicht nur durch das Bilderverbot bedingt, sondern weit mehr durch die Situation der Juden als kulturelle und religiöse Minderheit. Hinzu kommt, daß Juden in bestimmten Ländern und Perioden die Ausübung eines künstlerischen Berufes verwehrt war und die Ausbildung zu einem solchen Beruf, vor allem hinsichtlich Architektur und Kunsthandwerk, verboten war. So haben z. B. die mittelalterlichen christlichen Zünfte oder Dombauschulen keine Juden zugelassen. Doch die Werke der jüdischen Kunst, die von Nichtjuden hergestellt wurden, wie z. B. die mittelalterlichen Synagogen oder weite Bereiche der Gold- und Silberschmiedekunst, waren Auftragswerke, die den Vorstellungen der Auftraggeber entsprachen. Und in diesen Vorstellungen drückt sich das Verhältnis der Juden zur Kunst und das Verhältnis von Kunst und Religion aus. Denn jüdische Kunst ist im engeren Sinne nicht Kunst von Juden, sondern jüdisch-religiöse Kunst, die der Ausübung der Religion dient, einen religiösen Inhalt hat und unabhängig ist von der Religion des Künstlers. 2.

Einzelbereiche

Seit der Spätantike bzw. der talmudischen Zeit, in der das Bilderverbot lockerer interpretiert wurde, vor allem bezüglich der Darstellung des Menschen, finden wir in allen Epochen figürliche Szenen, doch kein Götterbild oder andere Bilder, die im weitesten Sinne als Gegenstand der Verehrung gelten könnten, etwa vergleichbar den christlichen Heiligenbildern. Dies ist allen Kunstgenera und allen Perioden gemeinsam. Da aus religiösen Gründen Plastik und Reliefkunst fortfallen, läßt sich das Verhältnis zwischen Kunst und Religion in folgenden künstlerischen Bereichen ablesen: 2.1. Architektur: Synagogenbau und Ausstattung. Neben dem Jerusalemer Tempel, dem salomonischen und dem späteren Zweiten Tempel, der 70 n.Chr. zerstört wurde, entstand schon in vorchristlicher Zeit der Synagogenbau, dessen früheste Beispiele nur ornamentalen Schmuck besitzen. In den Synagogen des sog. frühen galiläischen Typus (bes. 3./4. Jh. n.Chr.) fand man Fragmente von Löwenplastiken (z.B. in Khorasin), die vielleicht als Wächter der Torah galten, entsprechend den Darstellungen auf Goldglasböden, wo das Löwenpaar mit dem geöffneten Torahschrein erscheint, abgeleitet vom altorientalischen Lebensbaummotiv, wobei der Lebensbaum durch den Torahschrein ersetzt wurde. Ahnliches findet sich in den Bodenmosaiken spätantiker Synagogen (ca. 4 . - 6 . Jh.), wo das Motiv des Löwenpaares als Wächter des Lichter- und Lebensbaumes (Menorah) und der Torah (Torahschrein) auftritt, so z.B. in Ma'on, Hammath bei Tiberias oder Beth-Alpha. Diese Motive haben Symbolcharakter, wie auch der Zodiak-Zyklus mit seinen Monatszeichen, zu denen auch Tiere gehören, und den vier Büsten als Symbole für die vier Jahreszeiten. Das Mosaik in Hammam-Lif (Tunesien) zeigt eine Darstellung der mythischen Tiere, die zum messianischen Gastmahl verspeist werden, wie auch den Lebensquell, beides als Symbol für die Hoffnung auf die messianische Zeit. Selten sind figürliche Szenen wie die der 'Aqeda (-»Isaak III) in Beth-Alpha (6. Jh.), als Ausdruck des Gehorsams des Menschen gegenüber Gott und des engen Bundes zwischen Mensch und Gott. Die Darstellungen der Bodenmosaike haben so vorrangig symbolhafte Bedeutung im Sinne einer religiösen Symbolik, doch hat man Darstellungen von Mensch und Tier nicht als Götzen aufgefaßt, zumal die Kunst der Bodenmosaike als Ausstattungskunst empfunden wurde. Die reichen Freskenzyklen in der Synagoge zu Dura-Europos (3. Jh.) sind zunächst als

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Bibelillustrationen zu werten und besitzen darüber hinaus auch eine symbolische Aussagekraft. Die Darstellungen stehender Gestalten wie Moses oder Propheten an der Hauptseite oberhalb des Torahschreins sind biblische Gestalten besonderer Bedeutung, doch wurden sie nicht als Objekte der Verehrung empfunden, zumal sie nicht als Plastik im Raum standen. Im Mittelalter ging man zurückhaltender mit der Ausstattung von Synagogenräumen um. Wenn auch die Wände der wenigen, bis in die neueste Zeit erhaltenen Bauten im Laufe der Zeit mehrfach übertüncht wurden und das ursprüngliche Aussehen heute nicht mehr bekannt ist, so scheint doch eine Wandmalerei gefehlt zu haben. Auch ist ein Streit um bunt bemalte Glasfenster überliefert, die abgelehnt wurden. Es scheint also, daß die Synagogenbauten des Mittelalters innen äußerst schlicht waren, daß figürliche Szenen gänzlich fehlten, wohl als Abgrenzung gegenüber der Praxis der Kirche. In der Renaissance- und Barock-Zeit zeigt sich vor allem in Osteuropa eine stärkere Vorliebe für eine künstlerische Innenausstattung der Synagogen, in den Steinbauten als Stukkaturen auf Wänden und Gewölben, in Polen auch oberhalb des architektonischen Bima-Aufbaus in der Mitte des Raumes. In den polnischen Holzsynagogen des 17. und 18. Jh. waren Wände und Deckengewölbe völlig mit Wandmalerei überzogen. Diese Malerei war reich an hebräischen Schriftfeldern und -bändern, an Ranken und Blumen, darüber hinaus an symbolischen Elementen: Tempelgeräte, Tiersymbole und der Zodiak. Doch Darstellungen von Menschen, etwa von bedeutenden biblischen Gestalten, fehlen. So sind die Malereien der polnischen Holzsynagogen und der von ihnen abhängigen Bauten im süddeutschen Raum Ausdruck tiefer Volksfrömmigkeit, ohne irgendeine Darstellung, die in den Bereich der Anbetung gehörte. Auch die Synagogen, die zu dieser Zeit in anderen Ländern entstanden und unterschiedlich reich ausgestattet waren, besitzen keine Darstellungen von Menschen. Das Vermeiden von Darstellungen menschlicher Gestalten bestimmte auch die Synagogenräume des 19. und 20. Jh. Zwar waren die Synagogen des 19. Jh. innen oft mit reicher Ornamentik dekoriert (entsprechend den verschiedenen Stilarten des Historismus), und zwar hat man im Jugendstil wieder eine rciche jüdische Symbolik belebt (z.B. in Essen 1911-1913), doch fehlen Darstellungen von Menschen. Erst in Reformsynagogen der USA, die nach 1950 entstanden, ging man von diesem alten Verbot ab und schuf Torahschreine, deren Türen Reliefs in Holz oder Metall besitzen, auf denen Menschen vorkommen. Es ist vorrangig die Gestalt des Moses als Symbol für die Gesetzgebung (z. B. in Rochester/N.Y. 1964) oder Moses mit Bezalel, der die Geräte der biblischen Stiftshütte herstellte (Charleston/West Viginia 1960). Wenn auch heute noch solche Darstellungen in der Regel völlig abgelehnt werden, so ist doch zu berücksichtigen, daß sie auch in Reformgemeinden nur als Symbolgestalten aufgefaßt werden und nie als Gegenstände der Verehrung. 2.2. Buchmalerei. Die mittelalterliche Buchmalerei in hebräischen Manuskripten, die in islamischen Ländern entstand, besitzt überhaupt keine figürlichen Szenen, wohl in Anpassung an die Umwelt des Islam, der das biblische Bilderverbot strikter auffaßte. Aus Europa sind bemalte Manuskripte aus dem 13. bis 15. Jh. aus Spanien, Portugal, Frankreich, Deutschland und Italien erhalten. Während die Torahrolle grundsätzlich nie dekoriert wird, sind Bibeln, Gebetbücher, Gesetzeswerke, Haggadoth und auch profane Schriften reich an Bildszenen. Eine Ausnahme hiervon machen spanische Bibeln des 13. und 14. Jh., die lediglich die Darstellung von Tempelgeräten besitzen, denen figürliche Szenen aber völlig fehlen. Dies wird mit dem Einfluß durch das islamische Spanien erklärt, da der Bibeltext die Torah enthält und heilige Schriften wie der Koran im Islam nicht mit figürlichen Szenen ausgestattet werden durften. Der Einfluß des islamischen Spanien auf die Dekorationsweise hebräischer Manuskripte zeigt sich auch in der Vorliebe für die Verwendung von Schriftband als Schmuckband und wird bezüglich des Fehlens der figürlichen Szenen in hebräischen Bibeln insofern wahrscheinlich, als Bibeln in allen

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übrigen Ländern reich mit figürlichen Szenen als —»Bibelillustrationen ausgeschmückt sind. Eine Lockerung dieser strengeren Auffassung von Bibelillustrationen tritt erst in Spanien im 15. Jh. auf, wohl weil dann der Einfluß durch den Islam stark nachließ. In allen anderen Ländern, auch in Spanien, hat man die übrigen religiösen und profanen Schriften reich mit Bildszenen ausgestattet, so auch die wissenschaftlichen Werke etwa zur Astronomie und Medizin. Doch eine Darstellung Gottes fehlt völlig. Um die göttliche M a c h t und Kraft auszudrücken, erscheint entweder eine symbolhafte Hand aus den Wolken, z. B. im Zusammenhang mit der Gesetzgebung auf dem Sinai, oder Strahlen, die vom Himmel herab scheinen und sich auf Objekte der göttlichen Schöpfung richten, so z. B. im Bildzyklus der Sarajewo-Haggadah (Spanien, 14. Jh.) in den Miniaturen der Schöpfungsgeschichte. Im übrigen arbeitet die Buchmalerei recht stark mit Symbolen, die sich auf die Hoffnung auf die messianische Zeit oder auf göttliche Eigenschaften beziehen, wobei sie sich verschiedener Symbole, z. B. auch Tiersymbole bedient. Auch Elias, als Vorbote des Messias, wird dargestellt, sogar der auf einem Esel einreitende Messias, vornehmlich in aschkenasischen Haggadoth des 15. Jh., doch eine Darstellung von Gott wäre undenkbar. So ist die Buchmalerei im Mittelalter reich an figürlichen Szenen religiösen und profanen Inhalts, und von einem Bilderverbot, das sich auf Menschen erstreckte, kann absolut keine Rede sein. Dies betrifft auch die Illustrationen der Druckwerke nach Erfindung des Buchdrucks, in den Haggedoth des 18. Jh., in denen die Buchmalerei eine neue Blüte entfalten konnte, sowie modernere Beispiele oder die Malerei auf Einzelblättern wie den Heiratsverträgen (Ketübböt). 2.3. Grabkunst. In der Symbolik der Grabkunst, die etwa seit 1600 auf den Grabsteinen zu finden ist, treten menschliche Gestalten nur selten auf, etwa zur Angabe des Wohnhauses des Verstorbenen, so z.B. im 18. Jh. in H a n a u , wo ein M a n n das „Haus zum Schwaben" charakterisiert. Im sephardischen Bereich hatte man eine ganz andere Auffasssung von der künstlerischen Gestaltung der Grabplatten, die hier im Gegensatz zu den aschkenasischen Beispielen nicht aufrecht standen, sondern die Grabfläche bedeckten. Hier werden biblische Szenen sogar in Relief (aber vertieft) aufgenommen und auch allegorische Darstellungen. Wie in der Buchmalcrci wird die göttliche Macht oder der göttliche Wille durch eine Hand ausgedrückt. Im übrigen sind die Grabplatten der Scphardim, vor allem aber die aschkenasischen Grabsteine reich an Symbolen. Porträts der Toten sind nicht üblich. 2.4. Kunstgewerbe. Das jüdische Kunstgewerbe besteht aus Objekten, die entweder im Privathaushalt oder in der Synagoge Verwendung finden. Abgesehen von einigen antiken Gläsern und Lampen und von wenigen mittelalterlichen Stücken ist das Kunstgewerbe vorrangig aus der Zeit seit dem 16. Jh. erhalten. Während die Stücke für den Privathaushalt des öfteren reich mit figürlichen Szenen ausgestattet sind - zur Pessach-Geschichte auf den Sedertellern und Pessach-Bechern, zur Esthergeschichte auf Purimtellern usw. - , ist im Torahschmuck der Synagoge eine gewisse Scheu vor menschlichen Darstellungen zu beobachten, wohl aber eine reiche Symbolik. Dies betrifft sowohl die Textilien als auch die Metallarbeiten. Torahvorhänge und Torahmäntel besitzen zahlreiche Symbole, doch figürliche Szenen kommen sehr selten und erst in späterer Zeit vor, so auf einem Torahmantel (Jüdisches Museum Basel) des 18. Jh. oder auf Stücken des 19. Jh., wobei die figürlichen Szenen biblische Themen aufnehmen. Auch die Metallarbeiten wie Torahkronen, Rimmonim und Torahzeiger besitzen vorrangig eine neutrale Ornamentik oder einige Symbole, doch keine Darstellungen von Menschen, was sicherlich auch einen rein äußerlichen Grund hat, der mit der Rundansichtigkeit der Objekte zusammenhängt. Dagegen sind die flachen Torahschilde mit einer breiten zu dekorierenden Fläche reich ausgestattet. Während sie bezüglich der Symbolik der Ausstattung der Torahvorhänge ähneln, sind im Gegen-

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Kunst und Religion III

satz zu diesen auf osteuropäischen Stücken des 18. und 19. Jh. die beiden stehenden Figuren des Moses mit den Gesetzestafeln (als Symbol für die Gesetzgebung und das Gesetz schlechthin) und des Aaron im Gewand des Hohepriesters (als Symbol für Tempelkult und Priestertum) zu beobachten, ein Motiv, das sich von Titelblättern von Haggadoth ableitet (seit 1695 in Amsterdam, dann im 18. Jh. recht üblich). Während Haggadoth gewöhnlich im Privathaus gelesen werden, und figürliche Szenen daher keinen direkten Bezug zum Gebet bzw. zur Anbetung haben, ist das Aufscheinen der stehenden Gestalten von Moses und Aaron auf den Torahschilden zunächst ungewöhnlich, da diese über dem Torahmantel hängen und so eine direkte Verbindung zur Torahrolle haben. Doch hat man anscheinend diese Gestalten nur als Symbole gewertet. Etwa vergleichbar der künstlerischen Ausstattung der flächigen Torahschilde ist die der Chanukka-Leuchter, sofern sie zum Banktypus mit reich dekorierter Rückflächc gehören. Auch hier treten menschliche Figuren auf, und auch hier besitzen sie Symbolcharakter. Im allgemeinen aber wird in der Synagoge, also im Torahschmuck eine Darstellung von Menschen vermieden, vor allem auf großformatigen Torahvorhängen, um sich von jedem Aspekt der Anbetung zu distanzieren, gegen die die Rabbiner der Gemeinden Protest eingelegt hätten. Dies gilt auch für das moderne Kunstgewerbe, das - wenn auch in modernem Formengut - auf die alte Symbolik zurückgeht und Darstellungen von Menschen vermeidet. 2.5. Malerei und Graphik in neuerer Zeit. Anders als im Mittelalter, als der Berufsstand des Buchmalers eng mit dem des Schreibers verknüpft war und die geschriebenen und bemalten Manuskripte Auftragswerke von wohlhabenderen Juden waren, weshalb sich zahlreiche jüdische Buchmaler behaupten konnten, war es um die berufsmäßigen jüdischen Maler und Graphiker seit dem 16. Jh. schlechter bestellt. Denn zu den Malerschulen, in denen sich Schüler um einen Meister scharten, wurden Juden in der Regel nicht zugelassen, und die wenigen Juden, die z.B. im 18. Jh. in England als Maler tätig waren, waren von den Auftraggebern abhängig, die vornehmlich Portraits ihrer Familienmitglieder verlangten. Der verhältnismäßig geringe Anteil von Juden an Malerei und Graphik in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jh. ist, wenn man von der Buchausstattung absieht, begründet in der gesellschaftlichen Situation und kann nicht durch eine Scheu vor dem Bild oder der Kunst generell erklärt werden. Denn hebräische Bücher wurden noch immer für den jüdischen Gebrauch reich ausgestattet, wenn auch nun mit anderen künstlerischen Mitteln, und außerdem ist zu beobachten, daß nur dann, wenn die Gesellschaft den Juden größere Freiheiten einräumte, sich auch jüdische Maler entfalten konnten. Dies traf auf das Amsterdam des 17. Jh. zu, wo das Rabbiner-Portrait entwickelt wurde, an dem sich jüdische Künstler zunehmend beteiligten. Und gerade die Rabbiner-Portraits zeigen, daß ein menschliches Bildnis nicht verboten war und nicht als anstößig empfunden wurde. Wenn die Portraitkunst üblich war und dem Judentum eine freiere Lebensweise ermöglicht wurde, sahen auch die Rabbiner keinen Grund für eine Ablehnung dieses Kunstzweiges aus religiösen Gründen. Daß die große Anzahl jüdischer Künstler und Graphiker erst seit dem 19. Jh. hervortritt, hat rein äußerliche Gründe, da mit der beginnenden Emanzipation Juden in zunehmenden Maße der Zutritt zu Kunst-Akademien gestattet und ihnen somit die ihren christlichen Kollegen adäquate Ausbildung ermöglicht wurde. Mit der fortschreitenden Emanzipation standen nun auch jüdischen Malern, Graphikern, wie auch Architekten und Silberschmieden alle Berufe offen. Hinzu kam, daß im Gegensatz zu den früheren Jahrhunderten, als jüdische Hofmaler auf Auftragswerke meist nichtjüdischen Inhalts angewiesen waren, nun auch eine freie Themenwahl sich durchsetzt, so daß etwa seit der Mitte des 19. Jh. jüdische Maler damit beginnen, religiöse Themen aufzunehmen: Es waren vor allem Moritz Daniel Oppenheim (1800-1882) in Deutschland, Josef Israels (1824-1911) in Holland und Maurycy Gottlieb (1856-1879) in Polen, die hier als Pioniere wirkten. In ihren Bildern hielten sie und ihre zahlreichen Nachfolger ihre jüdische Umwelt fest, die jüdischen Feiertage, das jüdische Leben in Osteuropa usw.

Kunst und R e l i g i o n I V

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I m 2 0 . J h . sind für jüdische M a l e r neutrale wie auch jüdisch-religiöse T h e m e n selbstverständlich geworden. Hierzu g e h ö r e n Darstellungen des zeitgenössischen jüdischen L e b e n s , W e r k e biblischen Inhalts und s o l c h e , a u s denen eine reiche jüdisch-religiöse S y m bolik spricht, so z . B . im J u g e n d s t i l in den W e r k e n von E p h r a i m M . Lilien ( 1 8 7 4 - 1 9 2 5 ) o d e r in neuerer Z e i t in denen von S a m u e l B ä k .

3. Zusammenfassung Betrachten wir die jüdische Kunst von der A n t i k e bis ins 2 0 . J h . , so liegen die durch das Gesetz verankerten E i n s c h r ä n k u n g e n , die sich im wesentlichen aus d e m biblischen Bilderv e r b o t , der M i s c h n a und der talmudischen Diskussion ergeben, nur a u f d e m G e b i e t von Plastik und H o c h r e l i e f , das generell v e r b o t e n w a r und sich erst in jüngster Z e i t entfaltete, und n o c h viel stärker in e i n e m grundsätzlichen Verbot einer G o t t e s d a r s t e l l u n g , die alle Perioden und Kunstgattungen betrifft. Kunst als Ausstattung o d e r Kunst a u f einer erzählerischen E b e n e ( z . B . in der Bibelillustration) wie auch eine s y m b o l i s c h e Kunst w a r immer und überall üblich. E i n s c h r ä n k u n g e n g a b es nur infolge von antijüdischen M a ß n a h men durch die U m w e l t . Auffallend ist, d a ß die S y m b o l i k einen g r o ß e n R a u m e i n n i m m t , vor allem eine religiöse S y m b o l i k , die das G o t t e s b i l d ersetzte und die die verschiedenen B e r e i c h e der religiösen T r a d i t i o n und der Vorstellung von G o t t e s M a c h t und K r a f t zum Ausdruck b r a c h t e . Ebenfalls auffallend ist die F r e u d e jüdischer Künstler an der B u c h a u s s t a t t u n g , die für Vertreter einer Buchreligion ganz selbstverständlich erscheint, und dies nicht nur im M i t t e l a l t e r o d e r in der Z e i t n a c h Erfindung des B u c h d r u c k s , sondern auch in neuerer Z e i t , als E . M . Lilien dem jüdischen B u c h und seiner Illustration neue Impulse g a b , die für das 2 0 . J h . wegbereitend w a r e n . Seit der Antike hat m a n in der jüdischen Kunst, sei sie von J u d e n o d e r N i c h t j u d e n ausgeführt, ein M i t t e l gesehen, jüdisch-religiöse Tradition und religiöses L e b e n auszud r ü c k e n , und G e g e n s t ä n d e , die zur A u s ü b u n g der Religion n o t w e n d i g sind, zum L o b e G o t t e s und seiner T o r a h zu verschönern. Literatur Lothar Brieger, Judentum u. Kunst: Vom jüd. Mittelstand. Beitr. zur Kritik des jüd. Handwerkers, Berlin 1916, 1 5 - 2 0 . - Boaz Cohen, Art in Jewish Law: Judaism 3 (1954) 1 6 5 - 1 7 6 . - Erwin R. Goodenough, The Rabbis and Jewish Art in the Greco-Roman Period: HUCA 32 (1961) 2 6 9 - 2 7 9 . Joseph Gutmann (Hg.), No Graven Images. Studies in Art and the Hebrew Bible, New York 1 9 7 1 . Ders., The „Second Commandmcnt" and the Image in Judaism: HUCA 32 (1961) 1 6 1 - 1 7 4 . - Paul Hirschler, Art. Bildnisverbot: J L 1 (1927) 1041 f. - Carl H. Kraeling, The Synagogue, New Häven 1956. - Franz Landsberger, The Jewish Artist before the Time of Emanzipation: HUCA 16 (1941) 3 2 1 - 4 1 4 . - Rudolf Meyer, Die Figurendarstellung in der Kunst des späthell. Judentums: J u d . 5 (1949) 1 - 4 0 . - Cecil Roth/Yona Fischer/Alfred Werner, Art. Art: EJ 3 (1971) 4 9 9 - 6 4 6 . - Kurt Schubert, Das jüd. Element in der Illustration der Pesach-Haggadot des 17. u. 18. Jh: Kairos 27 (1985) 2 7 9 - 2 8 7 . - Ursula Schubert, Die Ikonogaphie der Ambrosianischen Bibel: Kairos 27 (1985) 2 0 7 - 2 1 4 . - Hans Peter Stähli, „Was die Welt im Innersten zusammenhält". Die Mosaiken von BethAlpha. Bildliche Darst. zentaler Aussagen jüd. Glaubens: Jud. 41 (1985) 7 9 - 9 8 . - Ephraim E. Urbach, The Rabbinical Laws of Idolatry in the 2nd and 3rd Centuries in the Light of Archaeological and Historical Facts: IEJ 11 (1959) 1 4 9 - 1 5 6 . 2 2 8 - 2 4 5 . - Rachel Wischnitzer, Gestalten u. Symbole in der jüd. Kunst, Berlin 1935. H a n n e l o r e Künzl IV. Urchristentum u n d Alte K i r c h e 1. Zum Kunstbegriff 2. Kirche und Kunst bis zum Ende des 4. Jh. 4. Augustin (Quellen/Literatur S. 266)

3. Wort und Bild

1. Zum Kunstbegriff D e r m o d e r n e Begriff der a u t o n o m e n K u n s t , die von R e l i g i o n , W i s s e n s c h a f t und allem zweckhaften Handeln zu unterscheiden ist, hat sich erst gegen E n d e des 18. J h . herausge-

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bildet. Er setzt die bis dahin keineswegs selbstverständliche Einsicht voraus, daß die „schönen Künste", insbesondere Malerei, Bildhauerei, Architektur, Musik und Dichtung, sachlich zusammengehören. Vorstufen des modernen Kunstverständnisses finden sich, von vereinzelten Ansätzen abgesehen, seit der -»Renaissance (vgl. Kristeller). Die Antike versteht unter texvrj/ars das sachkundige Hervorbringen eines Werkes und wendet diesen Kunstbegriff umfassend auf Handwerk, Kunst und Wissenschaft an. Kunst im heutigen Wortsinn wird in erster Linie als „ N a c h a h m u n g " (¿tifitjoii;/imitatio) verstanden, wobei sowohl die Wahrheit des Dargestellten als auch die gestaltende Leistung des Künstlers betont werden kann. Der Berufskünstler wird vom Handwerker nicht unterschieden; daraus erklärt sich sein niedriges Sozialprestige. Daran änderte nichts, daß Malerei und Architektur gelegentlich zu den -*artes liberales gezählt wurden (Plinius d.Ä., Vitruv) und daß die römische Kaiserzeit zu einem vertieften Verständnis des künstlerischen Produktionsprozesses gelangte. Bei dem System der sieben artes liberales handelt es sich um „Lehre", nicht um „Kunst". Mit Kunst in unserem Sinn haben nur die Fächer Rhetorik (vgl. Curtius 71 ff) und Musik zu tun; die Anleitung zur musikalischen Praxis bleibt bewußt ausgeschlossen. Die bildenden Künste fallen unter die artes mecharticae, die im Mittelalter ebenfalls in ein Siebenerschema gebracht werden: lanificium, armatura, navigatio, agricultura, venatio, medicina, theatrica (Hugo v. St. Viktor, Didascalicon II, 21, PL 176,760; Bonaventura, De reductione artium ad theologiam 2). Die bildenden Künste sind Teil der armatura [Schmiedekunst] (Hugo v. St. Viktor, ebd. II, 23, PL 176, 7 6 0 D - 7 6 1 B ) , oder die Malerei wird mit der Musik zur Schauspielkunst, die Bildhauerei zur Schmiedekunst gerechnet (Bonaventura, ebd.). Erst seit dem ausgehenden 14. J h . wird die bildende Kunst allmählich aufgewertet, und das Ansehen des Künstlers wächst. Die Indienstnahme der spätantiken Kunst für die kirchliche Repräsentation und den Kult bildet einen Teilvorgang im größeren Prozeß der christlichen Antikenrezeption. Auch die antike Kunsttheorie wird übernommen. Die theologische Reflexion konzentriert sich vor allem auf die Frage der Legitimität des religiösen Bildes. 2. Kirche

und Kunst bis zum Ende des 4. Jh.

2.1. Das Verhältnis des Urchristentums zur Kunst war einerseits durch das alttestamentliche Bilderverbot (-•Bilder II), andererseits durch die Ablehnung des heidnischen Götzendienstes bestimmt (vgl. R o m l , 2 2 f ; Act 17,16ff; 1 9 , 2 3 - 4 0 ; Apk 13,14f)- Eine „christliche" Kunst erschien ebensowenig denkbar wie ein neutral-ästhetisches Verhältnis zur heidnischen Kunst, da in dieser die mythologischen Bezüge nahezu allgegenwärtig waren (-•Bilder IV). Zu einer Öffnung des Urchristentums gegenüber der antiken Kultur kam es nur ansatzweise und dann so gut wie ausschließlich nach einer Seite, nämlich gegenüber der literarischen und philosophischen Bildung (-»Antike und Christentum). Dies entsprach einer missionarischen Notwendigkeit (vgl. von Campenhausen, Glaube). Gegen Ende des 2. J h . existiert bereits eine christliche Literatur von beträchtlichem geistigem Niveau und hoher formaler Qualität. Gerade die gebildeten Theologen waren es aber, die sich mit der gleichen Schärfe gegen den heidnischen Götzendienst wie gegen die beginnende christliche Bildkunst wandten. Neben den Rekurs auf das Bilderverbot traten die Argumente einer rationalistischen Kritik am Götterbild, die von der Philosophie entwickelt worden waren, und der asketische Vorbehalt gegenüber jeglichem überflüssigen Luxus. (Vom Stoiker Musonius inspiriert ist die Kritik, die Clemens von Alexandrien am häuslichen Prunk übt: paid. II, 3 5 - 3 9 . ) Trotz ihrer prinzipiellen Reserven war die vorkonstantinische Theologie genötigt, sich in einem gewissen Ausmaß mit der paganen Kunst zu arrangieren. Ein Beispiel dafür bilden die im Zusammenhang mit der Frage nach den Anfängen einer christlichen Kunst viel behandelten Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien: Sie wollen dem Christen helfen, einen im Alltagsleben unentbehrlichen Gegenstand des Kunsthandwerks so zu wählen, daß er den Götzendienst vermeidet (paid. III 59,2). -•Tertullian vertritt die Auffassung, daß ein Christ keinen der

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künstlerischen Berufe, die mit der Herstellung von Götterbildern zu tun haben, ausüben dürfe (idol. 3 - 7 ) . Er verweist die Angehörigen solcher Berufe auf neutrale Arbeiten — z. B. soll der Stukkateur ornamentale Wanddekorationen ausführen - , da der Luxus mehr Aufträge zu bieten habe als der Aberglaube (ebd. 8; zugleich bekämpft Tertullian freilich auch den Luxus: vgl. De cult. fem., bes. 1,1 - 7 ; 11,10). In beiden Fällen wird zwischen einer unbedenklichen profanen und einer wegen ihres offen heidnischen Charakters zu verwerfenden sakralen Kunst unterschieden. Diese Unterscheidung ist neu. Die heidnische Antike hatte sie in dieser Form nicht vorgenommen. Seit der konstantinischen Wende tritt die Gefahr des Götzendienstes zurück, und die theologischen Bedenken gegenüber der Kunst schwinden. Bei den Großen Kappadokiern finden wir zum ersten Mal ein uneingeschränkt positives Verhältnis zur Kunst innerhalb und außerhalb der Kirche. -»Basilius von Caesarea plädiert für gemalte Martyriumsdarstellungen ( H o m i l . 17,3, P G 3 1 , 4 8 9 A B ) ; - » G r e g o r von Nyssa schildert aus eigener Anschauung einen derartigen Gemäldezyklus (In T h e o d . M a r t . : P G 4 6 , 7 3 7 D) und beschreibt an anderer Stelle ein Bild, das Isaaks O p f e r u n g zeigte (De deitate filii et spiritus sancti: P G 4 6 , 5 7 2 C D ) . S o w o h l - » G r e g o r von N a z i a n z (orat. 18,39: P G 3 5 , 1037 AB) als auch G r e g o r von Nyssa (ep. 25; In T h e o d . M a r t . : P G 4 6 , 7 3 7 C - 7 4 0 A ) liefern Baubeschreibungen von Kirchen. Unbefangen rühmt G r e g o r von N a z i a n z die Bildhauer und M a l e r der klassischen Vergangenheit (orat. 2 8 , 2 5 ) .

Doch auch die kritischen Stimmen verstummen nicht. Der konservative Epiphanius von Salamis lehnt christlichc Bilder kompromißlos ab, weil sie die Wahrheit verfälschen und unvermeidlich zum Götzendienst führen. Seine Polemik bleibt freilich wirkungslos (s. T R E 6, 527). Sie zeigt, wie weit die christliche -»Ikonographie gegen Ende des 4. Jh. bereits entwickelt war. -»Hieronymus erhebt keine dogmatischen Einwände gegen die christliche Kunst. Er empfiehlt jedoch, den Reichtum statt zur kostbaren Ausschmückung der Kirchen lieber für die Armen zu verwenden. Wirkungsvoll formuliert er: Quae utilitas parietes fulgere gemmis et Christum in paitpere fatne mori? [Welchen Nutzen hat es, wenn die Wände von Edelsteinen schimmern und Christus im Armen vor Hunger stirbt?] (ep. 58,7,1). Das Argument des Hieronymus hat sich in der Diskussion um die kirchliche Kunst bis in die Gegenwart gehalten. 2.2. Die im ganzen zunehmende Kunstfreudigkeit der Christen bedeutet jedoch nicht Toleranz gegenüber dem heidnischen Kult und den ihm dienenden Kunstwerken. Seit der M i t t e des 4. J h . ergehen Kaisergesetze gegen den T e m p e l k u l t . Fanatische Christen unternehmen Zerstörungsaktionen gegen Tempel und G ö t t e r b i l d e r . Es ist der erste Bildersturm der Kirchengeschichtc. Im weströmischen Reich werden die Tempel unter staatlichen Schutz gestellt. Im Osten ordnet Kaiser T h e o d o s i u s II. im J a h r e 4 3 5 endgültig die Z e r s t ö r u n g der noch vorhandenen Tempel an (Cod. T h e o d . X V I , 10,25). An ihrer Stelle werden häufig Kirchen c r r i c h t c t , entweder nach völligem Abbruch oder unter Verwendung der heidnischen B a u t e n . D e r O r t des Götzendienstes wird auf diese Weise entsühnt (vgl. D e i c h m a n n , Frühchristliche Kirchen). Gelegentlich werden Schutzm a ß n a h m e n zugunsten heidnischer Kunstwerke mit deren ästhetischer oder historischer Bedeutung begründet (vgl. C o d . T h e o d . X V I , 10,8; N o v . M a i o r i a n . IV). -»Prudentius sieht erst durch die Beseitigung des Götzendienstes die Schönheit der römischen T e m p e l und Statuen zur Geltung k o m men (Peristefanon II, 4 8 1 - 4 8 4 ) .

2.3. Trotz aller theologischen Bedenken entstand eine christliche Kunst. Sie entwickelte sich aus der paganen Kunst und wird für uns seit dem 3. Jh. faßbar. Neben Denkmälern aus dem Sepulkralbereich sind aus vorkonstantinischer Zeit die vor 256 entstandenen Wandmalereien der Hauskirche von Dura Europos zu nennen. -»Konstantin d.Gr. eröffnete mit seinen repräsentativen Kirchenbauten (-»Kirchenbau I) eine neue Phase im Verhältnis von Kirche und Kunst. Theologische Vorbehalte gegenüber der an profanen Bautypen orientierten neuen Sakralarchitektur bestanden nicht. -»Eusebius von Caesarea kann daher die neu errichtete Kirche von Tyrus in seiner Einweihungspredigt mit dem ersten und zweiten Jerusalemer Tempel, mit der himmlischen Gottesstadt, mit der Stiftshütte, mit der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen und mit dem „Bau" der einzelnen Seele vergleichen (h.e. 10,4). Wie weit solche symbolischen Deutungen die Bauformen

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geprägt haben, ist umstritten und im einzelnen schwer nachzuweisen. M a n kann in dem Aufschwung der Bildkunst, wie er seit der konstantinischen Zeit einsetzt, ein Stück Verweltlichung der Kirche sehen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß er mit der Ausscheidung heidnischer Bildmotive und der Herausformung einer eindeutig christlichen, inhaltlich immer reicheren Ikonographie verbunden war, läßt sich auch von einem Prozeß der Christianisierung der übernommenen Kunstformen reden, wie er sich analog auf dem Gebiet der Dogmengeschichte gegenüber der antiken Philosophie vollzog. (Zur Frage einer pagane und christliche Kunst übergreifenden „spätantiken Geistigkeit" vgl. Mühlenberg.) 3. Wort und

Bild

Ein Grundproblem aller christlichen Kunst stellt das Verhältnis von Wort und Bild dar: Läßt sich die im biblischen Wort gegebene Botschaft nur im Medium des Wortes erfassen und weitergeben, oder ist es möglich und statthaft, sie in das Medium des Bildes zu übersetzen? Diese Frage steht hinter den altkirchlichen Debatten über das Recht der religiösen -»Bilder. Sie sollte von der Reformation mit neuer Dringlichkeit gestellt werden. Die Antwort, die für die Begründung und die Normierung der christlichen Bildkunst grundlegende Bedeutung gewonnen hat, gibt bereits in der zweiten Hälfte des 4. J h . Basilius von Caesarea: In einer Predigt über die Vierzig Märtyrer von Sebasteia erklärt er, daß er seinen Hörern die Taten der Märtyrer so anschaulich wie auf einem Bild vor Augen stellen wolle. Wort und Bild entsprechen einander: „Was nämlich der Geschichtsbericht dem Gehör darbietet, das zeigt die Malerei schweigend durch Nachahmung" (Horn. 19,2: PG 3 1 , 5 0 8 C - 5 0 9 A). Unmittelbar kündigt Basilius nur an, daß er die rhetorische Forderung der Anschaulichkeit (èvàpyeia/evidentia-, vgl. Lausberg § 8 1 0 - 8 1 9 ) erfüllen wolle. Wenn jedoch das Wort selbst nach Anschaulichkeit verlangt, dann liegt es nahe, das materielle gemalte Bild als die legitime und wünschenswerte Ergänzung der Verkündigung zu betrachten. Basilius zieht selbst diese Konsequenz, wenn er in einer anderen Märtyrerpredigt die Maler aufruft, ihn mit ihrer Kunst zu überbieten (Horn. 17,3: PG 31, 489 AB). Die beiden Äußerungen des Basilius sollten im Bilderstreit zum Zitatenrepertoire der Ikonodulen gehören (Belege: Lange 15, Anm. 10). Weil das Bild, der antiken Auffassung vom Vorrang des Gesichtssinnes entsprechend, als wirkungsvoller und eindrücklicher galt als das Wort, erschienen die Bilder besonders geeignet zur Unterweisung einfacher und des Lesens unkundiger Menschen. Aus der „rhetorischen" Funktion ergibt sich das didaktische Verständnis des Bildes. Die Auffassung vom Bild als Mittel der Veranschaulichung und Belehrung ist östlicher und westlicher Theologie gemeinsam. Während jedoch die byzantinischen Verteidiger der Bilder zusätzlich eine platonisierende Bildontologie entwickelten, blieb im Westen die Theorie der pädagogischen Funktion des Bildes vorherrschend. -»Gregor d . G r . hat dafür die bleibenden Formulierungen gefunden (ep. I X , 208; X I , 1 0 ) . Die byzantinischen Ikonoklasten zogen aus der Parallelisierung von Wort und Bild die entgegengesetzte Folgerung: die im Wort der Heiligen Schrift dargebotenen „Bilder" machen die Anfertigung materieller Bilder überflüssig (vgl. den Horos der Ikonoklastensynode von 754: Mansi XIII, 300. 3 0 9 f ; dazu Lange 170f; vgl. im übrigen T R E 6,529,13ff; 5 3 4 , 5 5 - 5 3 8 , 1 0 ) . Mit der Parallelisierung von Wort und Bild nahm die altkirchliche Theologie einen wichtigen Gedanken der antiken Kunsttheorie auf. Seine klassische Formulierung, daß „die Malerei eine schweigende Dichtung, die Dichtung eine sprechende Malerei" sei, wurde auf Simonides zurückgeführt (Plutarch, De gloria Athen. 3[346 F]). Für das Abendland prägte Horaz die Formel Ut pictura poesis (De arte poet. 361; vgl. Lange 15-28). In der Kunsttheorie des 15. bis 18. Jh. sollte der Vergleich der Malerei mit Rhetorik und Dichtung, die beide seit der Spätantike eng miteinander verbunden waren, eine bedeutende Rolle spielen. Besonders die antike Rhetorik lieferte der Theorie der bildenden Kunst wesentliche Kategorien (vgl. Curtius; Borinski; Baxandall; Lee).

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4. Augustin Das Werk keines anderen altkirchlichen Theologen läßt soviel ästhetische Sensibilität erkennen wie dasjenige -»Augustins. Das heißt freilich nicht, daß Augustin sich um eine Theorie der bildenden Künste bemüht hätte. Diese nehmen in seinen Überlegungen über das Schöne nur einen geringen Raum ein (vgl. H . v. Campenhausen, Lat. Kirchenväter 167). In diesem Sachverhalt spiegelt sich die einseitig literarische Ausrichtung der spätantiken Bildung. Den kirchlichen Bildern steht Augustin kühl gegenüber (vgl. Elliger, Stellung 86-94). Doch seine vereinzelten Aussagen zur Bilderfrage führen nur an die Peripherie seiner Ästhetik (vgl. T R E 1,547,26ff). Im Rahmen seines Fragment gebliebenen Unternehmens, die artes liberales in ihrer Gesamtheit darzustellen, entstand das Werk De musica (387/89). Nach der Behandlung einleitender Fragen (Buch I) und der Lehre vom Rhythmus (II—V) stößt Augustin im sechsten Buch zu der Frage vor, woher das ästhetische Vergnügen an der Musik rühre. Er findet die Ursache in den gleichmäßigen Zahlenverhältnissen des Rhythmus, deren Kenntnis die Seele Gott verdankt (VI, 12, 3 4 - 3 6 ) . Diese Einsicht läßt sich auf jede Form des sinnlich Schönen übertragen: Sein Wesen ist Gleichheit oder Ähnlichkeit, die auf den Gesetzen des Rhythmus beruht: Ubi autem aequalitas aut similitudo, ibi numerositas [Wo aber Gleichheit oder Ähnlichkeit ist, dort ist Zahl ( = Rhythmus)] (VI, 13, 38). Der gefallene Mensch liebt das Schöne, die Harmonie, an den Dingen; diese Schönheit ist jedoch ohne Dauer (VI, 14,44). Es gilt daher, sich nicht an das unvollkommene Schöne zu verlieren, sondern Gott, den Ursprung aller Schönheit, zu lieben (VI, 14,45-48). In analoger Weise läßt Augustin in De vera religione (389/91) das durch Ähnlichkeit, Gleichheit und Symmetrie (convetiientia) gekennzeichnete Schöne auf die göttliche Einheit verweisen (30,54-32,60; mit Beispielen aus der Architektur). Es ist deutlich: Augustins pythagoreisch-platonische Ästhetik „dient nicht dazu, die künstlerische Erfahrung in der Vernunft zu begründen und zu rechtfertigen; sie dient im Gegenteil dazu, die künstlerische Erfahrung zu transzendieren" (Marrou 159, Anm. 89). Es geht darum, per corporalia ad incorporalia zu gelangen (Retract. 1,6). Augustin hat sich nicht darauf beschränkt, theoretisch nach dem Wesen des Schönen zu fragen. Im zehnten Buch der Confessiones, wo er über seine Anfälligkeit für die „Versuchungen des Fleisches" zum Zeitpunkt der Niederschrift Rechenschaft gibt, befaßt er sich mit seinem persönlichen Verhältnis zum Schönen. Nachdem er vom ästhetischen Reiz der Musik und dem Verhältnis von Ton und Wort im Kirchengesang geredet hat (X,33), geht er zur „Augenlust" über: „Schöne und wechselnde Formen, leuchtendc und angenehme Farben liebt das Auge". Die „Königin der Farben" ist das Licht (34,51). Als körperliches Licht ist es von Gott, dem unsichtbaren Licht, zu unterscheiden. Es „ w ü r z t " das Leben in der Welt „mit verlockender und gefährlicher Süße". Augustin weiß sich von ihm immer wieder angezogen (34,52). Die Menschen haben durch die Künste (variis artibus et opifieiis) die Gegenstände der Augenlust unendlich vermehrt und sich dadurch vom Schöpfer abgewandt. Augustin nennt hier neben Kleidern und Hausrat Gemälde (picturae) und Plastiken {figmenta). Auch für das alles will er Gott danken, „denn das Schöne, das durch die Seelen in die kunstfertigen Hände gelangt, kommt von jener Schönheit, die über den Seelen ist" (quoniam pulchra traiecta per animas in manus artificiosas ab illa pulchritudine veniunt, quae super animas est: 34,53). Von dort beziehen die dem äußerlich Schönen verfallenen Menschen auch ihr ästhetisches Urteilsvermögen (adprobandi tnodum), nicht jedoch das M a ß des rechten Gebrauches (ebd.). Augustin wendet hier seine ästhetische Theorie auf das eigene Erleben an: die „äußere" Schönheit von Natur- und Kunstdingen kommt von Gott, ebenso die Empfänglichkeit für sie. Der Mensch soll sich von ihr jedoch nicht fesseln lassen, sondern lediglich einen angemessenen Gebrauch von den schönen Dingen machen. In der Schrift De doctrina christiana (Buch I—III: 396/97) entwirft Augustin das Programm einer „christlichen Wissenschaft". Er wehrt sich hier gegen den Ästhetizismus der traditionellen antiken Bildung (Marrou 295). Malerei und Plastik gehören zu den überflüssigen Erfindungen der Menschen (II, 25, 39). Es genügt, von den mechanischen artes

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soviel zu wissen, daß man bildliche Ausdrücke aus ihrem Bereich, die in der Schrift vorkommen, verstehen kann (II, 30, 47). Augustin führt das Schöne auf Harmonie und mathematische Gesetzlichkeiten zurück; es weist über sich selbst hinaus auf die Schönheit Gottes. Das abendländische Mittelalter konnte aus dieser Ästhetik zwei gegensätzliche Anregungen entnehmen: entweder das Schöne im künstlerischen Schaffen konstruktiv zu verwirklichen, oder sich von der äußeren Schönheit zur wahren Schönheit Gottes hinzuwenden. Quellen Augustin: s. d a s Werkverz. T R E 4 , 6 9 0 - 6 9 2 . - B o n a v e n t u r a , D e reductione artium ad rheologiam: O p . theologica selecta, V, Q u a r a c c h i 1964, 2 1 5 - 2 2 8 . - C l e m e n s Alexandrinus, 4 B d e . , 1 9 0 5 - 1 9 3 6 , 1 3 1972, I I 4 1985, III 2 1970, I V / 1 2 1 9 8 0 ( G C S 1 2 , 1 5 [52], 1 7 , 3 9 / 1 - 3 ) . - C o d e x T h e o d o sianus: T h e o d o s i a n i libri X V I c u m Constitutionibus Sirmondianis et leges novellae ad T h e o d o s i a num pertinentes. H g . v . T h e o d o r M o m m s e n / P a u l M . M e y e r , Berlin 1/1.2 1904, II 1905 = 3 1 9 6 2 . Eusebius, K G , 3 Bde., 1 9 0 3 - 1 9 0 9 ( G C S 9 / 1 - 3 ) . - G r e g o r d . G r . : Registrum Epistolarum, 2 Bde., Berlin 1 8 8 7 / 1 8 9 1 = 1978 ( M G H , Ep 1.2). - G r e g o r v. Nyssa: O p . V I I I / 2 . Epistulae, Leiden 1959. Hieronymus: Epistulae, 3 B d e . , 1 9 1 0 - 1 9 1 8 ( C S E L 5 4 - 5 6 ) . - H o r a z : O p . , 1939 3 1 9 5 9 = « 1 9 8 2 ( B S G R T ) . - Plutarch, D e gloria Atheniensium: ders., M o r a l i a , II 1935 = 1971 ( B S G R T ) . - Prudentius, C a r m i n a , 1966 ( C C h r . S L 126). - T e r t u l l i a n , O p . o m n i a , 2 B d e . , 1954 ( C C h r . S L 1.2). - Ders., D e idololatria. H g . v. J a n Hendrik W a s z i n k / J a c o b u s Cornelis M a r i a van W i n d e n , 1987 (Suppl. V i g C h r 1).

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3. Hochmittelalter

4. Spätmittelalter

1. Byzanz W ä h r e n d das w e s t r ö m i s c h e R e i c h den im Z u g e der V ö l k e r w a n d e r u n g eindringenden G e r m a n e n v ö l k e r n erlag, hielt das O s t r e i c h t r o t z s c h w e r e r Krisen stand. D e r U b e r g a n g z u m byzantinischen M i t t e l a l t e r vollzog sich kontinuierlich (—»Byzanz). D i e byzantinische K u n s t wächst aus den T r a d i t i o n e n der S p ä t a n t i k e heraus. D i e zentrale Stellung der K i r c h e in R e i c h und Gesellschaft spiegelt sich in dem h o h e n Anteil s a k r a l e r W e r k e an der Kunstp r o d u k t i o n . D i e Kaiser errichten K i r c h e n und s c h m ü c k e n sie k o s t b a r aus. Dieses M ä z e n a t e n t u m gehört zur imperialen R e p r ä s e n t a t i o n . Kaiserliche und christliche - » I k o n o g r a phie durchdringen sich, d o c h seit d e m 11. J h . k o m m t es zu einer „ V e r k i r c h l i c h u n g " der religiösen B i l d p r o g r a m m e (Walter 2 4 1 ff; T R E 1 6 , 6 7 f f ) . D i e künstlerische Auseinandersetzung mit dem antiken E r b e wird in den sakralen W e r k e n e b e n s o wie in den p r o f a n e n g e f ü h r t . Die a n t i k e F o r m wird nicht als „ w e l t l i c h " e m p f u n d e n . D e r wichtigste Vorgang i n n e r h a l b der G e s c h i c h t e der religiösen Kunst von Byzanz ist die Entstehung der Bilderverehrung und deren erfolgreiche Verteidigung im Bilderstreit (s. T R E 6 , 5 3 2 - 5 4 0 ) . Die Bildmagie, gegen die sich die T h e o l o g i e der ersten J a h r h u n d e r t e so leidenschaftlich g e w e h r t h a t t e , e r o b e r t die christliche F r ö m m i g k e i t . D i e v o l k s t ü m l i c h e Bilderverehrung wird durch eine platonisch beeinflußte B i l d o n t o l o g i c , die das u n s i c h t b a re Urbild im A b b i l d repräsentiert sieht, theoretisch ü b e r h ö h t und legitimiert. N e b e n Bibel- und Väterzeugnissen sowie der traditionellen B e t o n u n g des belehrenden und anal g e t i s c h e n C h a r a k t e r s der Bilder ist das zweite tragende A r g u m e n t der Bilderfreunde der Verweis auf die Personeinheit des inkarnierten G o t t e s s o h n e s . D i e I k o n o k l a s t e n b e k ä m p fen nicht die Kunst als solche und lehnen auch nicht jede künstlerische A u s s c h m ü c k u n g der K i r c h e n ab. D e r Streit dreht sich ausschließlich u m die Z u l ä s s i g k e i t figürlicher D a r stellungen Christi und der Heiligen sowie das R e c h t ihrer Verehrung. S y m b o l i s c h e und d e k o r a t i v e Darstellungen im K i r c h e n r a u m werden b e j a h t . D a m i t lenken die I k o n o k l a s t e n zur künstlerischen Praxis des 4 . J h . zurück. D a s N e b e n e i n a n d e r von F ö r d e r u n g der profanen Kunst und B e k ä m p f u n g der kirchlichen Bilder bei den i k o n o k l a s t i s c h e n Kaisern e r w e c k t den E i n d r u c k einer gewissen Säkularisierung der bildenden Kunst. G e r a d e diese T e n d e n z hat sich in Byzanz j e d o c h nicht durchgesetzt. 8 4 3 triumphieren die Bilderfreunde endgültig. Von jetzt an besitzt das religiöse Bild seinen u n a n g e f o c h t e n e n Platz im G o t t e s dienst der o r t h o d o x e n K i r c h e . D e r zerstörte B i l d s c h m u c k der K i r c h e n wird ersetzt. N e u e u m f a n g r e i c h e B i l d p r o g r a m m e e n t s t e h e n , die e b e n s o a u f die S y m b o l i k des K i r c h e n r a u m e s wie a u f das liturgische G e s c h e h e n bezogen sind. „ T h e fully developed B y z a n t i n e church w a s explicitly conceived as a m i c r o c o s m o f the C h u r c h T r i u m p h a n t " (Walter 165). Z w e i E i n s c h r ä n k u n g e n sind zu b e a c h t e n : 1. E s gilt der G r u n d s a t z , d a ß m a n nur abbilden k ö n ne, w a s einmal sichtbar in E r s c h e i n u n g getreten ist. D a r a u s folgt die Unzulässigkeit von d i r e k t e n , n i c h t s y m b o l i s c h e n Darstellungen G o t t v a t e r s u n d der T r i n i t ä t ( A u s n a h m e n seit spätbyzantinischer Z e i t ) . 2 . O b w o h l religiöse Plastik n i e m a l s kirchlich v e r b o t e n w u r d e ,

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scheint nach dem Bilderstreit so gut wie keine Rundplastik für Kirchen mehr entstanden zu sein. Sie erinnerte am stärksten an die heidnischen Götterstatuen und entsprach auch nicht der allgemeinen künstlerischen Tendenz zur Entmaterialisierung des Dargestellten (vgl. Lange 4 7 - 5 0 ) . Der Verzicht auf Statuen wurde in der kirchlichen Kunst der Orthodoxie zur Regel (vgl. schon Durandus [gest. 1296], Rationale divinorum officiorum, I, c.3). Die byzantinische Kirche hat die bildende Kunst so weit in den Gottesdienst einbezogen, wie das von christlichen Voraussetzungen her möglich war. Die Kunst erfüllt nicht nur eine dekorative, didaktische und im weiteren Sinne symbolische Funktion, sondern in Gestalt der Ikone repräsentiert sie anschaubar das Heilige. Nach den Vorstellungen der Volksfrömmigkeit wie nach den Spitzensätzen der Bildertheologie wird das Bild selbst zum Träger von Offenbarung und Gnade. Die ästhetischen Rückwirkungen der kultischen Integration des Bildes lassen sich nicht ganz leicht abschätzen. Auf die Dauer mußte die Festlegung der Bildthemen und der Darstellungstypen wohl zu einer Erstarrung und Verflachung der Bildkunst führen, wie das in der neuzeitlichen Ikonenmalerei zu beobachten ist. Im Rahmen einer auf allen Gebieten traditionsgebundenen Kultur wie der byzantinischen, in der die künstlerische Leistung nicht in der Neuschöpfung, sondern in der virtuosen Variation des Überkommenen gesehen wurde, entstanden jedoch weiterhin bedeutende Werke der sakralen Kunst. In der sogenannten „paläologischen Renaissance" erreichte sie vor dem Untergang des Reiches noch einen letzten Höhepunkt. 2. Der Westen bis zur

Karolingerzeit

2.1. Im Abendland wird die Kirche als einzige Großinstitution, die den Zerfall des weströmischen Reiches überlebt hat, zur Bewahrerin und Vermittlerin des antiken Kulturerbes. Die Christianisierung von Germanen, Kelten und Slawen ist ein, wenn nicht der entscheidende Faktor in dem großen Assimilierungs- und Transformationsprozeß, als dessen Ergebnis Staaten, Kultur und Gesellschaft des abendländischen Mittelalters entstehen. Die Kunst nimmt an diesem Prozeß voll teil. In den einstigen Provinzen des Imperiums, wo eine christliche romanisierte Bevölkerung und eine kirchliche Organisation vorhanden waren, leben die spätantik-christlichen Kunstformen weiter; in die neu dem Christentum gewonnenen Gebiete werden sie mitgebracht. Da und dort erfahren sie tiefgreifende Veränderungen. Die Kunst wurde b e w u ß t als missionarisches Mittel eingesetzt: In seinem berühmten B r i e f an Serenus von Marseille b e t o n t - » G r e g o r der G r o ß e , d a ß gerade den Heiden die Malerei d a s Lesen ersetzen k ö n n e (ep. X I , 1 0 , S. 2 7 0 ; s . o . A b s c h n . IV. 3). - » B o n i f a t i u s bittet 7 3 5 die Äbtissin E a d b u r g um ein mit G o l d b u c h s t a b e n geschriebenes E x e m p l a r der Petrusbriefe „zur Achtung und Ehrfurcht vor den heiligen Schriften in den Augen der Fleischesmenschen bei der P r e d i g t " (ep. 35). ( Z u r Bedeutung des Buches in der frühmittelalterlichen Missionsgeschichte s. Pacht 1 0 - 1 2 . )

Die abendländische Kirche hat weder einen schweren Bilderstreit erlebt, wie er in Byzanz geführt wurde, noch hat sie eine feste Lehre vom Bild ausgearbeitet. Die religiöse Kunst existiert in einer Zone zwischen Theologie und Volksfrömmigkeit. Daraus ergab sich einerseits für die Kunst ein größerer Gestaltungsspielraum. So konnte ohne erhebliche Widerstände auch sakrale Großplastik entstehen. Andererseits bricht immer wieder neu eine mehr oder weniger radikale Kunstfeindschaft hervor: Sie erscheint als Kritik an einer massiven volkstümlichen Bilderfrömmigkeit und an dogmatisch unkorrekten Darstellungen, als Protest gegen Veräußerlichung und unnötige Prachtentfaltung. Es sind im großen und ganzen die Einwände, die schon in der alten Kirche erhoben wurden. Sie werden jetzt besonders im Zeichen der kirchlichen Reform laut. Ein scharfer Gegensatz zwischen weltlicher und sakraler Kunst besteht im Mittelalter nicht. Es gibt unterschiedliche Aufgaben, doch alle Kunst ist „christlich". Das schließt ein Empfinden für das formal Angemessene nicht aus. Bis weit ins Hochmittelalter hinein ist die Kirche vom Adel bestimmt. Nur Angehörige der kirchlichen und weltlichen Führungsschicht kommen als Auftraggeber für Kunstwerke in Frage. Seit dem 13. Jh. treten

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die städtischen Eliten in den Kreis der Stifter ein. D i e Anforderungen an das Kunstwerk werden individueller. Dieser Entwicklung entspricht auf der anderen Seite, daß auch der Künstler an Selbständigkeit gewinnt. Langsam bahnt sich eine Ästhetisierung und Säkularisierung der Kunst an. 2.2. In der gleichen Zeit, in der -»Karl der G r o ß e durch planmäßige Förderung seiner H o f k u n s t die „karolingische Renaissance" heraufführte, setzte er sich mit den Beschlüssen der Bildersynode v o n - » N i c ä a (787) auseinander (s. T R E 6,540ff). Die wichtigste Stellungnahme sind die im N a m e n Karls verfaßten Libri Carolini (791). Sie vertreten in der Bilderfrage den „königlichen" Mittelweg: D i e Verehrung der Bilder wird abgelehnt, jedoch werden sie zum Schmuck und als „Geschichtsbilder" zugelassen (praef.; 11,31;

111,16). Hier ist auf das Kunstverständnis der Libri Carolini einzugehen: Die Kunst wird ganz unter handwerklich-technischen und ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt. Dadurch rückt das Problem von Form und Inhalt beim religiösen Bild in den Blick. Die heilige Schrift wird weit über die Bilder gestellt: Sie ist von Gott gegeben und enthält die Heilsbotschaft. Die Bilder dagegen sind eine heidnische Erfindung und erinnern lediglich an vergangenes Geschehen (11,30). Die heilige Schrift enthält auch den Stoff der artes liberales (ebd.), während sich die Malerei durch nichts von anderen handwerklichen „Künsten" unterscheidet. Sic mit den Konzilsakten als pia ars zu bezeichnen (Mansi XIII,18 D), besteht kein Anlaß (111,22; vgl. 11,27). Das Bild als solchcs ist nicht eindeutig: Eine Marienund eine Venusdarstellung können identisch sein; erst die Bildaufschrift ermöglicht eine Unterscheidung (IV,16; ähnlich IV,21). Wenn man annimmt, daß Bilder, die schön und kostbar sind, den dargestellten Heiligen höhere Ehre bringen, dann gelangt man zu der absurden Konsequenz, daß es nicht auf die Andacht des Beters, sondern auf die Qualität und den Wert des Bildes ankommt (111,16; IV,27). Hier wird richtig gesehen, daß die religiöse Bedeutung nicht eine Funktion der schönen Form ist. Karls eigene Kunstförderung wird folgendermaßen beschrieben: „In dem Reich, das Gott uns gegeben hat, sind die von ihm uns anvertrauten Basiliken überreich an Gold und Silber, Edelsteinen und Kleinodien und anmutigstem Zierat; und wenn wir schon den Bildern keine Lichter anzünden und keinen Weihrauch spenden, so schmücken wir doch die dem göttlichen Dienst geweihten Stätten mit den allerköstlichsten Dingen" (IV,3). Wir begegnen hier der Ästhetik des kostbaren Materials, die im Mittelalter eine wichtige Rolle spielt (vgl. Assunto 31 f; differenzierend Bandmann, Bemerkungen). Gott wird durch die Schönheit des künstlerischen Schmucks geehrt. Die Auseinandersetzung über das Recht des religiösen Bildes und seiner Verehrung dauert im Karolingerreich n o c h bis in die zweite Hälfte des 9. Jh. an. Die (eingeschränkte) Bilderverehrung wird schließlich anerkannt. D o c h spielt sie im Abendland insgesamt eine geringere Rolle als die Reliquienverehrung. Diese stellt d e m Kirchenbau und d e m Kunsthandwerk eigene Aufgaben (-»Reliquien/Reliquienverehrung). 3.

Hochmittelalter

3.1. D a s R e f o r m m ö n c h t u m des 10. bis 12. Jh. hat entscheidend zu einer Vertiefung des religiösen Lebens beigetragen. Wie steht es der Kunst gegenüber? Die Cluniazenser haben bewußt alle Möglichkeiten und Mittel der Kunst ihrer Zeit eingesetzt (s. Art. Cluny, T R E 8,128). Der von Cluny beeinflußte -»Rupert von Deutz verteidigt in seiner Schrift De divirtis offieiis (1111) mit Nachdruck die kostbaren liturgischen Gefäße, den Altarschmuck, Wandbehänge und reichverzierte Evangelienbücher. Gegen den Vorwurf, man sollte besser alles den Armen geben, beruft er sich auf M t 26,6ff. Der gesamte sichtbare Schmuck hat einen verborgenen geistlichen Sinn (H,23). D a g e g e n legten sich die -»Zisterzienser in der künstlerischen Gestaltung ihrer Bauten äußerste Strenge auf (Verbot v o n Skulpturen, Malereien, Tafelbildern, verzierten Fußböden, farbigen Glasfenstern: vgl. Schneider, Baubetrieb). In einem berühmten Abschnitt seiner Apologia an -»Wilhelm von St. Thierry (1124/25) übt -•Bernhard von Clairvaux heftige Kritik an der aufwendigen Baukunst von Cluny: Die übermäßige Größe und die reiche Ausschmückung der Kirchen behindert den affectus der Beter. Den Bischöfen gesteht Bernhard die reiche künstlerische Ausgestaltung ihrer Kirchen zu, denn sie wecken damit

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„die Andacht des fleischlichen Volkes". Jedoch die Mönche, die alles sinnlich Schöne um Christi willen verlassen haben, bedürfen solcher Anreize nicht. Bernhard meint, daß die künstlerische Prachtentfaltung dazu dient, die Besucher zu Spenden zu veranlassen. „Die schöne Gestalt eines Heiligen oder einer Heiligen wird gezeigt, und für umso heiliger wird sie gehalten, je farbiger sie ist. Die Leute eilen, um das Bild zu küssen, sie werden eingeladen zum Spenden, und sie bewundern mehr das Schöne, als daß sie das Heilige verehren". Die ganze kostbare Ausstattung geht auf Kosten der Armen (12,28). Bernhard beanstandet ferner den Skulpturenschmuck im Kloster. Die ridicula monstruositas der Tier- und Fabelgestalten lenkt nur die Mönche vom Schriftstudium ab (12,29). Die beiden Hauptmotive von Bernhards Polemik sind aus der alten Kirche bekannt: der asketischmoralische Vorbehalt gegenüber dem unnötigen Aufwand, der auf Kosten der Armenfürsorge geht, und das kontemplative Interesse an der Abwendung von der Welt der sinnlichen Erscheinungen. N u r ein Nebenmotiv ist ästhetischer Art: die Kritik an den „Monstrositäten" romanischer Plastik. Sie entspricht einem breiteren Geschmackswandel, der sich in Bernhards Zeit vollzog (v. Simson 7 0 - 7 2 ) . Bemerkenswert ist, daß Bernhard seine Ablehnung künstlerischer Ausschmückung auf Klosterkirche und Kloster beschränkt: die optischen Reize, die auf die Laien eine positive Wirkung haben können, sind für den Mönch überflüssig.

Die restriktiven Vorschriften über Bau und Ausstattung der Zisterzienserkirchen führten zu Bauten, die gerade in ihrer Strenge hohe ästhetische Qualität besaßen. Ihre tektonische Klarheit entsprach den neuen stilistischen Tendenzen des 12. Jh. (-»Kirchenbau II). 3.2. Die bereits in der alten Kirche geübte symbolisch-allegorische Deutung des Kirchengebäudes wird im Mittelalter reich entfaltet. Die Vorstellung, daß der irdische Bau abbildhaft das himmlische Jerusalem (Apk 21) repräsentiere, wirkt sich auf architektonische Formen und Ausschmückung aus. Die Grenze zwischen symbolhafter Repräsentation und sekundärer Allegorisierung ist freilich fließend. Wichtig ist auch der Bezug auf die Liturgie, die das in Bau und Bildwerk dargestellte Heilsgeschehen vergegenwärtigt (vgl. Sauer; Bandmann, Ma. Architektur; Ohly; Speer). Eine fast einzigartige Quelle sind die Schriften des Abtes Suger von St. Denis (1081-1151), in denen dieser über seine Bautätigkeit an der berühmten Klosterkirche berichtet (De consecratione ecclestae Sancti Dionysii; De rebus in administratione sua gestis). Hier gibt der Schöpfer des „Archetypus der gotischen Kathedralen Frankreichs und Europas" (Sedlmayr 585) Auskunft über seine Absichten und sein Werk. Man wird allerdings die Bewußtheit, mit der Suger seine „ästhetische Vision" in Architektur umsetzte und „Theologie ,baute'" (v. Simson 139. 189) auf keinen Fall überschätzen dürfen. Suger betont nicht das Neue an seinem Bauen, sondern gerade die Kontinuität mit der bestehenden Architektur (van der Meulen/Speer 291 ff). Sein Ziel war, die kostbaren Reliquien seiner Kirche würdiger unterzubringen und für ihre Verehrung einen möglichst prächtigen Rahmen zu schaffen. Die Innenausstattung und die verschiedenen Weihehandlungen werden deshalb weit ausführlicher beschrieben als die baulichen Veränderungen. Die Forschung hat auf Sugers „Lichtästhetik" (Sedlmayr 599) hingewiesen: Er redet von der Lichtfülle der erneuerten Kirche (De admin. 28, S. 190 Lecoy), von dem „wunderbaren, ununterbrochenen Licht" (lux mirabilis et continua), das durch die bemalten Fenster der Chorkapellen fällt (Deconsecr. 4, S. 225; s. Art. Gotik, T R E 13, Taf. 1, Abb. 1), vom Leuchten der vergoldeten Türreliefs (De admin. 27, S. 189). Dieses Licht weist über sich selbst hinaus auf das wahre himmlische Licht. In den gleichen Zusammenhang gehört die Vorstellung, daß die in reichem M a ß verwendeten Edelsteine und die Glasgemälde anagogico more auf immaterielle Dinge verweisen (De admin. 33, S. 198; 34, S. 204). Hinter solchen Aussagen mag - in St. Denis naheliegend - die Theologie des -»Dionysius Areopagita stehen (s. Art. Gotik, T R E 13,598; ablehnend Kidson), doch handelt es sich um Vorstellungen, die in der augustinisch-neuplatonischen Tradition konventionell sind. Von einer neuartigen Ästhetik Sugers kann man kaum reden.

3.3. Die Scholastik hat eine Lehre vom Schönen entwickelt, jedoch keine Kunsttheorie (s. TRE 1,547-549). Die Grundlagen lieferte Augustin mit seiner Ästhetik der Proportion, des Rhythmus und des Lichtes (s.o. Abschn. IV. 4). Weitere Autoritäten aus der Spätantike sind -»Boethius mit seiner Lehre, daß die Harmonie des Kosmos, der leibseelischen Einheit des Menschen und der Musik auf mathematischen Proportionen beruhe (De institutione aritbmetica, De institutione musica), und der Areopagite (-»Dionysius Areopagita) mit seiner „Lichtmetaphysik" (vgl. De div. nominibus 4; zur Lichtmeta-

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physik: Baumker 357ff). Nach der Definition des - » T h o m a s von Aquino ist zur Schönheit dreierlei erforderlich: Integritas sive perfectio: quae enirn diminuta sunt, hoc ipso turpia sunt. Et debita proportio sive consonantia. Et iterum claritas: unde quae habent colorem nitidum, pulchra esse dicuntur [Unversehrtheit oder Vollendung: was nämlich verstümmelt ist, ist eben dadurch häßlich. Dann die gebührende Proportion oder die Übereinstimmung. Und schließlich die Klarheit: deshalb heißen alle Dinge, die eine glänzende Farbe haben, schön] (S.th. I, q.39, a. 8). -»Bonaventura findet das Schöne wie Augustin und Boethius in der Proportion. Alle Schönheit und alles Wohlgefallen hat mit zahlenmäßigen Proportionen zu tun. Indem wir diese in den Sinnendingen wahrnehmen, werden wir zur Weisheit Gottes geführt (Itinerarium mentis ad Deum 2,10). Dazu kommen die Vorstellungen der Lichtmetaphysik: Das Licht ist substantiale Form, und der Anteil an ihm bestimmt den Rang der körperlichen Dinge innerhalb der Seinsordnung. Zugleich strahlt es als Glanz (fulgor) von den lichten Körpern aus. Selbst die dunkelsten Körper sind lichthaltig, was man daran sehen kann, daß aus Asche das Glas und aus der Erde der Karfunkel gewonnen wird. Farbe ist eingekörpertes Licht (Sent. II, d. 13, a. 2, q. 2). Bezugnahmen auf Kunst und Künstler begegnen in der scholastischen Literatur vor allem in Beispielen oder als Vergleich (z. B. Gottes mit einem Künstler). Gelegentlich werden bildliche Darstellungen erwähnt und nach ihrem Inhalt beurteilt (Belege bei Landgraf 11,1, 23 - 3 0 ) . Die Bilderfrage wird in den Sentenzenkommentaren routinemäßig anhand von Sent. III. d. 9 (De adoratione humanitatis Christi) behandelt. Thomas nennt eine dreifache Funktion des religiösen Bildes: 1. Erweckung von Andacht (devotionis affectus), 2. Erinnerung an das Beispiel der Heiligen, 3. Belehrung der Unwissenden (s. TRE 6,544). Ähnlich Bonaventura: Die Bilder wurden in der Kirche eingeführt 1. wegen der Unwissenheit der einfachen Leute, 2. wegen der Trägheit der Affekte und 3. wegen der Hinfälligkeit des Gedächtnisses (Sent. III, d. 9, a. 1, q. 2: propter simpliciutn ruditatem, propter affectuum tarditatem et propter memoriae labilitatem-, vgl. Kollwitz, 125-128). Diese Funktionsbeschreibung bleibt gültig und wird vom Tridentinum (COD 751; DS 1824) bestätigt. (Zu den Konsequenzen für die künstlerische Praxis und die Sehweise des Publikums im italienischen Quattrocento vgl. Baxandall, Wirklichkeit 57ff.) M a n hat nach den Zusammenhängen zwischen scholastischer Ästhetik und mittelalterlicher, besonders gotischer Kunst gefragt (vgl. Panofsky, Gotische Architektur, mit dem methodisch wichtigen Nachwort von T h o m a s Frangenberg). Anwendung der Proportionslehre läßt sich in der gotischen Architektur beobachten (s. TRE 13,598). Ferner ist auf die Bedeutung der Farbe in allen Kunstzweigen und auf die Rolle des Lichtes, besonders in der Glasmalerei und Architektur, hinzuweisen (vgl. Sedlmayr 23 ff. 53 ff; Schöne 20ff). 4.

Spätmittelalter

4.1. Der religiöse Aufbruch, aus dem im 13. Jh. die Bcttelorden hervorgingen, wirkte sich auch auf die Kunst und ihre religiöse Funktion nachhaltig aus. Das Neue wird mit besonderer Deutlichkeit im Verhältnis der -»Franziskaner zur Kunst sichtbar. Z w a r wurden in der Ordensgesetzgebung aus dem Armutsideal restriktive Folgerungen für die Bautätigkeit gezogen, wobei man dem zisterziensischen Vorbild folgte. Die Generalkapitel von Narbonne (1260), Assisi (1279) und Paris (1292) verfügten äußerste Schlichtheit von Architektur und Ausstattung der Kirchen: Gewölbe sind nur über dem Hauptaltar gestattet, figürliche Darstellungen nur im Hauptfenster dahinter (Crucifixus, Maria, Franciscus, Antonius). Aufwendige Tafelbilder und Glockentürme sind verboten. Das liturgische Gerät hat einfach zu sein (Texte: Bihl 48. 51 f)- Beim Bau von San Francesco in Assisi (seit 1228) hat man sich über solche Grundsätze jedoch hinweggesetzt, und sie wurden auch sonst nicht in voller Strenge eingehalten, vor allem nicht in den großen Städten, wo reiche Stiftungen zusammenkamen. Gleichwohl führte die Forderung der Einfachheit und die Aufgabe, Räume für die Volkspredigt zu schaffen, zur charakteristischen Formstrenge und ausgeprägten Funktionalität der Franziskaner- wie der übrigen

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Bettelordenskirchen (-»Kirchenbau II). Der franziskanische Einfluß auf die Malerei kommt vor allem in Darstellungen Christi, die seine Menschlichkeit und sein Leiden zeigen, und in einer reichen Marienikonographie zum Ausdruck. Sehr rasch wird das Leben des Franciscus zum Bildthema. Der Heilige erscheint als Zeuge und Nachahmer Christi. Die im Umkreis der Franziskaner entstandene Bildkunst wendet sich affektbetont und realistisch an das Gefühl des Beschauers, sie will ihn zur Identifikation und Meditation anleiten. Die Frömmigkeit der Bettelorden ist ein wichtiger Faktor in der Entstehung der verschiedenen Formen des Andachtsbildes, in dem im 14. und 15. Jh. die neue individuelle Religiosität ihren Ausdruck findet (s. TRE 2,661-668). Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang die rasche Verbreitung des Tafelbildes seit dem 13. Jh., gleichsam als Wiederholung des Prozesses, der in frühbyzantinischer Zeit zur Entstehung der Ikone geführt hatte: Es kommt der neuen Subjektivität des Sehens entgegen und ist ebenso für die private Andacht zu gebrauchen wie als Kultbild von Bruderschaften und als Altarretabel (vgl. Belting, Bild). Seit dem 15. Jh. ermöglichen die Techniken von Holzschnitt und Kupferstich breiten Bevölkerungskreisen den Erwerb von Andachtsbildern (s. TRE 15,522 f). Geistliche Literatur, Predigt, geistliche Spiele und bildende Kunst stehen in einer Wechselbeziehung. Man darf wohl auch zwischen dem gesteigerten Interesse der Spätscholastik am Einzelnen und Individuellen und der Tendenz der spätmittelalterlichen Kunst zur Individualisierung und zum Realismus einen Zusammenhang herstellen (dazu differenzierend Ringshausen 210-214). 4.2. Im Spätmittelaltcr werden in großem Umfang Altäre und sonstige kirchliche Ausstattungsgegenstände gestiftet. Zugleich nimmt die Bilderverehrung teilweise massive Formen an. Die Stiftungen dienen sowohl der Sicherung des Seelenheils und der Verehrung bestimmter Heiliger als auch der öffentlichen Selbstdarstellung der Stifter (vgl. Baxandall, Kunst 93ff). Die gesteigerte Bilderverehrung hängt offenbar mit einem vermehrten Verlangen nach Anschauung des Heiligen zusammen. Bezeichnend ist, daß als Wallfahrtsziel neben den Gräbern und Reliquien der Heiligen jetzt zunehmend das Gnadenbild an Bedeutung gewinnt. Dem allgemeinen Anwachsen der Bilderverehrung läuft die Polemik kirchenkritischer und ketzerischer Gruppen wie Waldcnser, Wiclifiten und Hussitcn gegen kirchliche Prachtcntfaltung, Bilder, Reliquienverehrung und Wallfahrten parallel (s. TRE 6,545). Aber auch Reformtheologen des Spätmittelaltcrs wie -»Petrus von Ailly und -»Johannes Gerson wenden sich gegen die Auswüchse der Bilderverehrung. Ihre Kritik wird von den Humanisten fortgeführt. Quellen Bernhard v. Clairvaux, Apología ad Guillelmum abbatem: S. Bernardi op. omnia, III. Hg.v. J. Leclercq/H. M. Rochais, Rom 1963,61-108. -Boethius, Deinstitutionearithmetica. De institutione música. Hg.v. Gottfried Friedlein, Leipzig 1867. - Bonaventura, Op. omnia, 10 Bde., Quaracchi 1882-1902. - Bonifatius: S. Bonifatii et Lullii ep., Berlin 1916 = München 1978 (MGH.ES 1). Dionysius Areopagita, De divinis nominibus: PG 3. - Guilelmus Durandus v. Mende, Rationale Divinorum Officiorum, Venedig 1589, zahlreiche Ausg. seit 1459, zuletzt Neapel 1859. - Gregor d.Gr.: Registrum Epistolarum (s.o. IV). - Libri Carolini, Hannover/Leipzig 1924 (MGH. Conc II, Suppl.). - Quellenbuch zur Kunstgesch. des abendländischen MA. Hg.v. Julius v. Schlosser, Wien 1896 = Hildesheim/Ziirich/New York 1986. - Rupert v. Deutz, Liber de divinis offieiis, 1967 (CChr. CM 7). - Schriftquellen zur Gesch. der karolingischen Kunst. Hg.v. Julius v. Schlosser, Wien 1892 = Hildesheim/Zürich/New York 1988,-Suger v. St. Denis: Œuvres complètes. Hg.v. A. Lecoy de la Marche, Paris 1867 = Hildesheim/New York 1979. - Abbot Suger on the Abbey Church of St. Denis and its Art Treasures. Ed., transi, and annotated by Erwin Panofsky, Princeton, N . J . 1946 2 1979 (by Gerda Panofsky-Soergel). — Thomas v. Aquino, Summa Theologica: Op. omnia, 1 - V I , Paris (Vives) 1871-1873. - Ders., Commentum in libros sententiarum: ebd., VII-XI, 1873/1874. Literatur Artistes, artisans et production artistique au Moyen Age. Hg. v. Xavier Barrai i Altet, Paris, I 1986, II 1987. - Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im MA, Köln 1963 2 1982. - Ernst

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Kunst und Religion VI

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Gerhard May

VI. Frühe Neuzeit 1. Renaissance

1.

2. Reformation

3. Kunst und Konfession

(Quellen/Literatur S. 288)

Renaissance

1.1. Ungeachtet aller historischen Kontinuitäten und Übergänge beginnt in der ersten Hälfte des 15. Jh. in Florenz eine neue Kunstepoche (-»Renaissance). Der bewußte Rückgriff auf die Antike über das Mittelalter hinweg und die Uberzeugung, in einer neuen Zeit zu stehen, die Rationalität des Vorgehens und das Bemühen um eine wissenschaftliche Grundlegung des eigenen Schaffens (Perspektive!) unterscheiden den Renaissancekünstler von seinen Vorgängern. Realismus, Säkularisierung, Autonomie und Individualismus sind die Tendenzen der neuen Kunst. Das Bewußtsein einer Künste und Wissenschaften umfassenden kulturellen Einheit entsteht (Burke 3 2 - 4 6 ) . Um 1500 sind die bildenden Künstler weitgehend vom Status des Handwerkers in die Bildungsclite aufgestiegen (Burke 85-96.335). Das Kunstwerk wird vom Gebrauchsgegenstand unterschieden (Blunt 38; vgl. aber Burke 138). Leon Battista Alberti (1404-1472) begründete eine Kunsttheorie, die mit ihren Begriffen und Beispielen ganz auf die Antike ausgerichtet ist. Christliche Bezüge fehlen fast ganz. Der Kirchenbau wird in De re aedificatoria unter dem Stichwort „Tempel" behandelt (Buch VII). Nur am Rande wird auf den Klostcrbau (V,7) und die besonderen Bedürfnisse des christlichen Gottesdienstes eingegangen (VIII,13). Gleichwohl stand Alberti dem Christentum nicht feindlich gegenüber (Blunt 3 f; zu seinen antikisierenden Kirchcnbauten s. TRE 18,459). Seine Kunsttheorie ist unmetaphysisch. Die Malerei ahmt die Natur nach, wobei sie die schönsten Formen auswählt (Deila Pittura 151.153) und nach immanenten Gesetzen ordnet (ebd. 137. 139; De re aedif. VI,4). Ebenso orientiert sich die Architektur an den Ordnungen der Natur (De re aedif. IX,5). Im Unterschied zu Albertis empirischer Kunsttheorie entwarf Marsilio -»Ficino, das Haupt der Platonischen Akademie von Florenz, eine metaphysische Lehre vom Schönen: Die Schönheit ist der von Gottes Angesicht ausstrahlende unkörperliche Liebreiz (gratia). Durch seine ebenfalls von Gott erleuchtete Vernunft vermag der Mensch das Schöne zu erkennen (Commcntarium in convivium Piatonis 11,5; V, 1 - 6 ) . Diese Schönheitslehre war freilich nicht als Kunsttheorie gedacht. Erst die spätmanieristischen Kunsttheoretiker des ausgehenden 16. Jh. lieferten eine entsprechende Begründung des künstlerischen Schaffens. Gian Paolo Lomazzo (1538-1600, Idea del Tempio della pittura, 1590) schließt sich an Ficino an: kraft seiner erleuchteten Vernunft ist der Künstler imstande, das Schöne zu erkennen und darzustellen. Federico Zuccaro (1542-1609; L' Idea de'pittori, scultori e architetti, 1607) beruft sich auf Piaton und Thomas von Aquino. Er sieht in der von Gott dem menschlichen Intellekt verliehenen Fähigkeit, Ideen zu bilden, die Voraussetzung für das künstleri-

Kunst und Religion VI

275

sehe Schaffen; die Naturnachahmung ist Nachvollzug des göttlichen Schöpfungshandelns. Diese Theorien passen in das geistige Klima nach dem Tridentinum: Sowohl das Schöpfertum des Künstlers als auch die äußere Schönheit werden auf Gott zurückgeführt (vgl. Panofsky, Idea 3 9 - 5 6 mit Belegen). Man darf die Säkularisierung der Kunst in der Renaissance nicht überschätzen. Die religiösen Kunstwerke waren während der gesamten Periode weitaus zahlreicher als die weltlichen. Doch nahm zwischen 1420 und 1539 der Anteil profaner Werke an der Gemäldeproduktion laufend zu. Neue Bildthemen wie Landschaften und Stilleben entstanden (Burke 1 7 6 - 1 9 2 . 333f). Wenn auf Raffaels Fresken in der Stanza della Segnatura des Vatikans neben den Lehrern der Kirche die antiken Philosophen und Dichter erscheinen, so ist das nicht der Ausdruck von „Renaissanceheidentum" (dazu Kristeller). Das Programm ist vielmehr die Darstellung der Herkunft aller Erkenntnis von Gott (Gombrich, Raphael's Stanza della Segnatura). Ohne Zweifel enthält jedoch der Klassizismus und das gesteigerte Interesse an der schönen Form ein Moment der Säkularisierung. In der Neigung, sakrale Themen ins allgemein Menschliche zu transponieren und die genrehaften Züge zu betonen, kommt es am deutlichsten in Erscheinung. (Burke [40] redet von „Krypto-Säkularisierung".) 1.2. Wie hat man sich von kirchlicher Seite zur Renaissancekunst geäußert? Erzbischof Antoninus von Florenz (1389-1459) anerkennt in seiner Summa Theologica (III, 8,4,11) den höheren Status des Malers gegenüber gewöhnlichen Handwerkern und bejaht die Schönheit als Ziel der Kunst, lehnt aber sinnlich aufreizende Darstellungen ab. Auf religiösen Bildern sind dogmatische Inkorrektheiten, unbiblische und apokryphe Motive zu vermeiden, ferner solche Hinzufügungen und Ausschmückungen, die nicht geeignet sind, die Andacht zu fördern. Diese Anforderungen an religiöse Bilder sind konventionell und werden in ähnlicher Weise vom Konzil von Trient (->Tridentinum) formuliert (COD 751 f). Doch wurde ihnen die „moderne" Frührenaissancemalerei (Masaccio) wohl eher gerecht als die spätgotische Malerei des Internationalen Stils (Text mit Kommentar bei Gilbert). -»Savonarola (1452-1498) hat nicht nur den Luxus bekämpft und zur Verbrennung der „Eitelkeiten" aufgerufen (vgl. Steinberg 6 f), sondern auch positive Vorstellungen von einer legitimen christlichen Kunst geäußert. Sie sind konservativ, treffen sich a b e r mit der Ästhetik eines F i c i n o (vgl. Schnitzer II, 8 0 1 — 8 4 7 ; Blunt 31 f; Ferrara II, 4 5 - 7 2 ) . Die S c h ö n h e i t der zusammengesetzten D i n g e besteht in der P r o p o r t i o n der Teile und F a r b e n , die der einfachen Dinge in der T e i l h a b e am Licht. Die geistig-seelische S c h ö n heit ist der leiblichen überlegen und steigert diese. G o t t ist die h ö c h s t e S c h ö n h e i t (Prediche sopra Aggeo 3, 4 9 f ; Pr. s. Arnos e Z a c c a r i a 2 4 , 1 6 6 f ; Pr. s. Ezechiele 2 8 , 3 7 4 - 3 7 6 ) . Die Kunst a h m t die Natur nach, ohne sie g a n z erreichen zu k ö n n e n (De simplicitate christ. vitae 111,2; Pr. s. Ezechiele 3 2 , 51 f). Bilder der Heiligen h a b e n die F u n k t i o n , uns an diese zu erinnern und uns zu e r m u n t e r n , sie nachzuahmen und um ihre Fürbitte anzurufen. Darstellungen ihrer G e s c h i c h t e ersetzen den Ungebildeten die Bücher (Triumphus Crucis III, 18, S . 2 0 5 ) . Als häusliches A n d a c h t s - und M e d i t a t i o n s b i l d empfiehlt S a v o n a r o l a das Kruzifix (Pr. s. R u t h e M i c h e a 2 5 , 2 7 7 ) . Die religiösen Bilder sollen dezent sein (Pr. s. Arnos e Z a c c . 5 , 1 4 9 ; Pr. s. Ezechiele 2 7 , 3 5 7 f ) . Die Praxis, lebende junge Frauen als Heilige darzustellen, ist abzulehnen (Pr. s. Arnos e Z a c c . 18, 2 5 ) . Die künstlerische Virtuosität d a r f nicht Selbstzweck werden (Pr. s. i Salmi 12, 189). Andererseits haben auch plumpe und lächerliche Bilder keinen Platz in der Kirche. Nur gute Künstler sollen dort malen (Pr. s. Ezechiele 2 7 , 3 5 8 ) . Schließlich kritisiert Savonarola die Stiftung kirchlicher K u n s t w e r k e zum eigenen R u h m (Pr. s. Arnos e. Z a c c . 18, 26).

Die verbreitete, aus den Angaben Vasaris abgeleitete Auffassung, Savonarola habe eine Reihe von Künstlern in ihrem Schaffen beeinflußt, ist zu korrigieren: Nur für wenige Werke ist ein (ikonographischer) Einfluß zu ermitteln (Steinberg). Davon unabhängig verdient es Beachtung, wie der große Reformprediger in Florenz an der Wende zur Hochrenaissance Schönheit und Kunst behandelt hat. 1.3. Besonders einzugehen ist hier auf —»Michelangelo (1475-1564). Er hat sich nicht nur in seiner Bildkunst in persönlicher Weise mit religiösen Themen auseinandergesetzt,

276

Kunst und Religion VI

sondern auch in seinen Dichtungen das Verhältnis von Schönheit, Kunst und Religion reflektiert. D e r junge M i c h e l a n g e l o wird in Florenz von der Platonischen A k a d e m i e geprägt, a b e r auch von S a v o n a r o l a nachhaltig erschüttert. Er vertritt einen christlichen —» Neupia tonismus, für den die Schau des Schönen die nach ihrem Heil verlangende Seele zum H i m m e l erhebt (vgl. die G e d i c h t e Frey N r . 109,99 [Girardi N r . 107]; 9 4 [164]; 1 0 9 , 1 0 5 [106]). W i c h t i g werden M i c h e l a n g e l o s K o n t a k t e zur kirchlichen R e f o r m b e w e g u n g (s. T R E 10, 6 8 6 f f ; D e M a i o , M i c h e l a n g e l o 4 2 2 - 4 2 4 ) . A m meisten wissen wir über seine seit 1538 (?) bestehende Freundschaft mit Vittoria C o l o n n a ( 1 4 9 2 - 1 5 4 7 ) . D i e hochgebildete Dichterin gehörte zum Kreise der „ S p i r i t u a l i " um J u a n de Valdés in Neapel und Reginald - » P o l e in V i t e r b o (vgl. Welti 2 8 f . 3 2 - 3 8 ) . D e r Austausch mit ihr trug ohne Zweifel zur Vertiefung von M i c h e l a n g e l o s christozentrischer F r ö m m i g k e i t bei. Es gibt Indizien, d a ß Vittoria C o l o n n a ihm die Lehre von der Rechtfertigung allein durch den G l a u b e n vermittelt h a b e ( T o l n a y , Werk 7 5 f; M i c h e l a n g e l o V, 5 3 - 5 7 . D e M a i o [ M i c h e l a n g e l o 4 2 1 - 4 3 2 . 4 6 1 f] betont dagegen die religiöse Eigenständigkeit M i c h e l a n g e l o s und zweifelt an der M ö g l i c h k e i t , „ v a l d e s i s c h e n " Einfluß bei ihm sicher nachzuweisen). M a n d a r f a n n e h m e n , d a ß die Begegnung mit der religiösen Erneuerungsbewegung eine der Ursachen für den Stilwandel w a r , durch den sich das Werk M i c h e l a n g e l o s seit den dreißiger J a h r e n von den klassischen Idealen der H o c h r e n a i s s a n c e entfernt.

Der gekreuzigte Christus, Gnade und Erlösung treten als Themen sowohl seiner Bildkunst als auch seiner Dichtung immer stärker in den Vordergrund. Möglicherweise hat Michelangelo die ursprünglichen Entwürfe zum Weltgericht der Sixtina (1534-1541) verändert, um die Bedeutung von Gnade und Glaube stärker zum Ausdruck zu bringen (Tolnay, Michelangelo V, 57f. Marcia B. Hall sieht dagegen die Spannung zwischen Freiheit und Prädestination dargestellt: Michelangelo's Last Judgment). Die für Vittoria Colonna geschaffenen Werke (Pietá, Crucifixus [s. Jesus Christus XI, T R E 17, Taf. 6], Christus und die Samariterin) und die Fresken der Cappella Paolina im Vatikan (Bekehrung des Paulus, Kreuzigung des Petrus, 1541 - 1 5 4 9 ; vgl. Gosebruch 95) sind als persönliche Bekenntnisse zu interpretieren (v. Einem 1 4 9 - 1 5 6 . 1 6 3 - 1 7 4 ) . In mehreren Gedichten der Zeit nach 1547 sieht Michelangelo Heilsverlangcn und Streben nach Schönheit als Gegensatz: Im Angesicht von Tod und Gericht erweist sich die Kunst als Irrweg, allein die Liebe des Gekreuzigten vermag der Seele Ruhe zu schcnken (Frey Nr. 147 [Girardi Nr. 285]; 123 [274]; 1 4 4 - 1 4 6 [282-284]; 150 [288]). Das bedeutet nicht künstlerische Resignation, doch für den um Heilsgewißhcit Ringenden verliert alles andere, auch der platonische Schönheitskult, seinen Wert. Michelangelo widmet sich seit 1549 hauptsächlich architektonischen Aufgaben. In seinen letzten Plastiken und Zeichnungen variiert er in einem visionären Stil, der auf das Mittelalter zurückweist, hauptsächlich das Thema der Passion, das auch in den späten religiösen Gedichten dominiert. Die künstlerische Darstellung dient der meditativen Vergegenwärtigung der Heilsbotschaft (Pietá im Dom zu Florenz, Pietá Rondanini, Zeichnungen des Gekreuzigten; vgl. v. Einem 2 2 1 - 2 3 4 ) . In der Kunst Michelangelos spiegelt sich der geistige und religiöse Wandel, der im Italien des 16. Jh. stattfand. Sein Alterswerk ist gerade durch seine subjektiven religiösen Aussagen und seine ikonographischen Neubildungen das herausragende künstlerische Zeugnis der Katholischen Reform vor dem Einsetzen der konfessionell verengten eigentlichen Gegenreformation (s.TRE 18, 45ff; De Maio, Michelangelo). 2.

Reformation

2.1. Im Zuge der Erneuerung des Gottesdienstes und des kirchlichen Lebens waren die Reformatoren genötigt, die Frage nach Legitimität und Funktion der religiösen Kunst zu beantworten. Es galt, Grundsätze für die Gestaltung des Kirchenraumes zu finden, und insbesondere mußte man sich Klarheit über die Rolle der Bilder verschaffen. („Bild" ist nach dem Sprachgebrauch des 16. Jh. sowohl das plastische Kunstwerk als auch das Gemälde: DWb 2,9 f.) Nach einhelliger reformatorischer Auffassung war jegliche Art von Bilderverehrung als Götzendienst und Verrat am Evangelium abzulehnen. Es stellte sich aber die weitergehende Frage, ob das biblische Bilderverbot die Entfernung aller figürlichen Kunstwerke aus den Kirchen zur Pflicht mache. Wenn man bedenkt, in welchem

Kunst und Religion VI

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Ausmaß die spätmittelalterliche Kunst sakrale Kunst war, wird deutlich, daß mit der Lösung der Bilderfrage die Zukunft der Kunstproduktion auf dem Spiel stand. Das Bilderproblem hat weite Bevölkerungskreise beschäftigt und leidenschaftliche Emotionen geweckt wie sonst nur noch die Abendmahlsfrage, zu der eine sachliche Entsprechung besteht. Durch die Beseitigung der Bilder konnte man das Schriftprinzip praktisch anwenden und sich vom „Götzendienst" der Altgläubigen sichtbar freimachen. Hier konnte sich eine „evangelische" Identität herausbilden. Im folgenden werden die reformatorischen Aussagen über die Bilder behandelt, soweit sie Ansätze zu einer theologischen Kunsttheorie enthalten. (Zur Ergänzung sei auf den Artikel „ B i l d e r " VI [ T R E 6 , 5 4 6 f f ] verwiesen.)

2.2. -»Luther wird durch -»Karlstadts Angriff auf die Bilder und den von ihm ausgelösten Wittenberger Bildersturm im Februar 1522 genötigt, sich mit dem Bilderproblem näher auseinanderzusetzen (s.o. T R E 6,546ff). Gegen Karlstadts radikalen Biblizismus vertritt Luther die Auffassung, das Bilderverbot untersage die Anbetung der Bilder, nicht jedoch ihre Herstellung und ihren Besitz. Nicht im Götzendienst sieht er die aktuelle Gefahr, sondern im vermeintlichen guten Werk des Bilderstiftens. Dieser Mißbrauch ist aber nicht durch Gewalt zu beseitigen, sondern allein durch die Predigt (Invokavit-Predigten: WA 10/3, 2 6 - 3 6 ) . Entscheidend ist der Gedanke, daß die Bilder „frey sein, wir mügen sie haben oder nicht haben" (ebd. 26,5 f). Die Bilder „seindt weder guot noch boeße" (ebd. 35,8 f), sie sind Adiaphora. Diese Auffassung Luthers stammt nicht aus dem —> Nominalismus (gegen Iserloh, Bilderfeindlichkeit), sondern ergibt sich aus der Anwendung der paulinischen Frciheitslehre. Das zeigt schon die Römerbriefvorlesung, wo Luther betont, daß das „neue Gesetz" der Christen sich nicht auf den Bau von Kirchen und ihre Ausschmückung, auf Zeremonien und Ordnungen beziehe (Scholion zu Rom 14,1: WA 56, 493, 27ff). Eine geschlossene Theorie des Bildes hat Luther nicht entwickelt. Bei der Auslegung von Hebr 1,3 erklärt er, das Bild eines Menschen sei, da aus Holz oder Stein gemacht, „eyniß andern weßens und natur" als die dargestellte Person (Kirchenpostille: WA 1 0 / 1 / 1 , 1 5 5 , 7 - 1 7 ; Die drei Symbola: WA 5 0 , 2 7 6 , 3 7 - 2 7 7 , 1 8 ) . Dagegen betont er gegenüber -»Oekolampads ,tropischer' Deutung der Abendmahlsworte, das Bild sei „wesentlich", was es darstelle, und bedeute dies nicht nur: jede Nachbildung einer Rose ist „für sich wesentlich eine rose yn yhrem wesen. Vnd kan nicht ein blos deuten da sein" (Vom Abendmahl Christi: WA 2 6 , 3 8 3 - 3 8 5 ) . Das Bild zeigt also durchaus Wahrheit (vgl. Bornkamm 59 f). In der Schrift Wider die himmlischen Propheten (1524/25) weist Luther den Bildern eine positive Funktion zu: Er wünscht, „das man uns eyn cruzifix oder heiligenbildc lasse ansehen, zum Zeugnis, zum gedechtnis, zum zeychen", und möchte biblische Bilder „an die wende malen umb gedechtnis und besser Verstands willen" (WA 18, 80, 6 f. 82, 27f). „Es ist je besser, man male an die wand, wie gott die weit schuf, wie Noah die arca bawet und was mehr guter historien sind, denn das man sonst yrgent weltlich unverschampt ding malet" ( 8 2 , 2 9 - 8 3 , 3 ) . Die „herrn und die reychen" sollten „die gantze Bibel ynwendig und auswendig an den heusern für ydermans äugen malen heissen, das were ein christlich werk" ( 8 3 , 3 - 5 ; vgl. Passional 1529: WA 1 0 / 2 , 4 5 8 , 2 4 - 2 7 ) . Luther schließt sich mit diesen Aussagen an das traditionelle rhetorisch-didaktische Bildverständnis der abendländischen Kirche an. Der Plan einer reinen Bilderbibel als „Laienbibel" (WA 10/2, 458, 27 ff) entspringt der gleichen Auffassung von der Funktion der Bilder. Luther weiß um die Bedeutung der Anschauung (Bornkamm 46 f). Nur wo es um die Beziehung zwischen Wort Gottes und Glauben geht, bezeichnet er das Gehör als wichtigstes Sinnesorgan des Menschen (vgl. Hebräerbriefvorlesung, Scholion zu Hebr 10,5: WA 5 7 , 2 2 2 , 5 - 9 ) , sonst hält er an der traditionellen Vorordnung des Gesichtssinnes fest (WA 1,495,12—25; WA.TR 2, Nr. 2735; Steinlein 9 - 1 1 ) . Dem entspricht es, daß er die Verkündigung des Evangeliums an alle Sinne richten und „Gottes Wort mit Predigen, Singen, Sagen, Schreiben, Malen" verbreiten will (WA 51, 217,35f; vgl. 27, 3 8 6 , 1 4 - 1 8 ; 37, 63,9f; 45,719,12f).

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Eine charakteristische Parallele findet sich bei dem italienischen Kunsttheoretiker Zuccaro (s. o. Abschn. 1.1): „Die heilige Kirche, die als gütige Mutter um das Heil ihrer Kinder besorgt ist, begnügt sich nicht damit, diese bloß durch das Gehör zur Buße und zum Gehorsam gegenüber den göttlichen Geboten aufzurufen, sondern sie ruft sie auch durch den Gesichtssinn mittels der Malerei", um so die Wirkung ihrer Verkündigung zu verstärken (L' Idea de* pittori, scultori e architetti II: Scritti 252 f).

Luther hat das Medium des Bildes zielbewußt und wirkungsvoll eingesetzt: Er nahm persönlichen Anteil an der Bebilderung seiner Deutschen Bibel (s. TRE 6, 149-151; Starke 542-545), begrüßte die Ausstattung von Katechismen, Gebet- und Gesangbüchern mit Bildern (Starke 536-539) und führte mit illustrierten -»Flugblättern und Flugschriften eine extrem heftige Bildpolemik gegen das Papsttum (Grisar/Heege; Starke 534 f. 546-548; Scribner, Demons). Für Luther ist das Bild nicht nur Veranschaulichung und Verstärkung des Wortes. Gedanke, Wort und Bild besitzen für ihn eine innere Affinität: Das menschliche Denken ist seinem Wesen nach bildhaft. Verstehen bedeutet für ihn Umsetzen in innere Bilder. Wir „müssen gedancken und bilde fassen des, das uns in Worten fürgetragen wird, und" können „nichts on bilde denken noch verstehen" (Osterpredigt 1533: WA 37,63,25 f; vgl. 66,1 - 4 ) . Wenn wir aber zum Verstehen von Gehörtem und Gelesenem auf das innere Bild angewiesen sind, kann auch gegen das äußere, materielle Bild nichts einzuwenden sein: „Gott will haben, man solle seyne werck hören und lesen, sonderlich das leyden Christi. Soll ichs aber hören oder gedencken, so ist mirs unmüglich, das ich nicht yn meym hertzen sollt bilde davon machen, denn ich wolle, oder wolle nicht, wenn ich Christum höre, so entwirft sich yn meym hertzen eyn mans bilde, das am creutze henget, gleich als sich meyn andlitz natürlich entwirft ins wasser, wenn ich dreyn sehe. Ists nu nicht sunde sondern gut, das ich Christus bilde ym hertzen habe, warumb sollts sunde seyn, wenn ichs yn äugen habe?" (WA 18, 8 3 , 6 - 1 2 )

Das Gesetz des bildhaften Vorstellens gilt auch für Inhalte, die unsere Erfahrung und unseren Verstand übersteigen. Luther macht dies anhand der Höllenfahrt Christi deutlich: Dieser Glaubensartikel ist rational nicht zu begreifen; die bildliche Darstellung, wie man sie „an die wende zu malen" pflegt, erfaßt seinen Sinn besser als jede Spekulation: die Überwindung von Hölle und Teufel durch Christus. Eine Allegorisierung des Bildes lehnt Luther ab; es kommt nur auf die zentrale Aussage an (WA 37, 62-72; Karsamstagpredigt 1538: WA 46, 305-313). Gleiches gilt für die bildliche Darstellung des Todes als Sensenmann, der Seelen in Kindergestalt, Gottes als eines weißhaarigen Mannes nach Dan 7,9 f (WA 46, 307,13-308,7): „Man kan die geistlichen Sachen nicht begreifen, nisi in bilder fasse" (ebd. 308,8 f)- So sehr Luther die Notwendigkeit und das Recht der bildhaften Vergegenwärtigung des eigentlich Unaussagbaren betont, wehrt er sich doch andererseits entschieden gegen naive Vergegenständlichungen und Anthropomorphismen: Christus thront nicht in einem räumlichen „gauckelhymel" neben dem Vater auf einem goldenen Stuhl „yn eyner korkappen und gülden kröne, gleich wie es die maier malen" (WA 23, 131,9-13). Der Gleichnis- und Zeichencharakter des Bildes muß gewahrt bleiben. Die Überlegungen Luthers liefern die theologische Begründung für die Übernahme der seit dem Hochmittelalter gebräuchlichen anthropomorphen Darstellung Gottvaters durch die lutherische Kunst: Sie wird im 16. und 17. J h . unbefangen praktiziert, erst unter dem Einfluß von Pietismus und Aufklärung kommt es zur Zurückhaltung gegenüber diesem ikonographischen Typus (Krücke).

Die lebendige innere Veranschaulichung von geistlichen Stoffen gehört zur spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraxis (vgl. Luthers eigenen Sermon von der Bereitung zum Sterben: WA 2,685-697; zur Wechselwirkung von Meditation und bildender Kunst vgl. Ringbom 15-22; Baxandall, Wirklichkeit 63-67). Doch Luther redet von einer allgemeinen Bedingung menschlichen Denkens und Verstehens. Offenbar greift er auf die aristotelische Psychologie zurück: Es „kann niemand ohne Wahrnehmung etwas lernen oder verstehen, und wenn man etwas erfaßt, muß man es zugleich mit einem Vorstellungsbild {yävraofia) erfassen" (Arist., De anima 111,8; Übers, v. W. Theiler). Grundsätzlich gilt, daß das Denken von Vorstellungsbildern begleitet ist (111,3.7).

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Auch auf Augustins Lehre von den Vorstellungsbildern (imago, phantasia) und der Einbildungsk r a f t , die ihrem Ursprung nach aristotelisch ist, sei verwiesen (ep. 7; De gen. ad. litt. 12,6,15-30,58). Ferner kann man -»Dürers Lehre vom künstlerischen Schaffen zum Vergleich heranziehen: Das ,,gemuet" der Künstler ist „voller bildnuß, das in muoglich zu machen w e r " (111,291). Der erfahrene Meister braucht nicht zu jedem Bild ein lebendes Modell, „ d a n n er geust genugsam herauß, was er lang zeyt von aussen hineyn gesamlet h a t " (111,296). Den Einfluß der aristotelischen Wahrnehmungsund Vorstellungslehre auf die Renaissanceästhetik behandelt Summers, Judgment of Sense.

Gott paßt sich in der Art und Weise seiner Offenbarung den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens an (Althaus 3 1 - 3 4 ) . Er begegnet dem Menschen, der ihn in seiner Majestät nicht fassen könnte, verhüllt im Konkreten, Leiblichen und Sinnlichen: im menschgewordenen Christus, im Wort und Sakrament. Dem besonderen Bedürfnis des Menschen nach Anschauung k o m m t Gott dadurch entgegen, daß er neben seinem Wort sichtbare Zeichen gibt: in erster Linie die Sakramente und ihre alttestamentlichen Präfigurationen, aber auch die Zeichenhandlungen der Propheten, die Gleichnisse Jesu und die Werke der Schöpfung gehören dazu (vgl. De captivitate Babylonica: WA 6,517,38 ff; s. T R E 6,550,26 ff). So legitimiert die Form der Offenbarung den Gebrauch des rhetorischen Bildes und der bildenden Kunst als Mittel der Verkündigung (vgl. WA 27,383 ff; v. Campenhausen 396-400; Stirm 90-116). Johannes -»Brenz systematisiert Luthers Gedanken; er führt die Einsetzung der Opfer und anderer „Gedenkzeichen" im Alten und der Sakramente im Neuen Testament als wichtigsten Schriftbeweis für die Beibehaltung der Bilder in den Kirchen an: auch die Bilder dienen „zum denckmal" und sind „mit gottes wort recht erklaert nicht unnutz" (Supplication an Herzog Ulrich v. Württemberg, 10.9.1537: Pressel 192-195).

Luther macht verschiedentlich Vorschläge für eine Erneuerung der christlichen Ikonographie. Er hat auch -»Cranach beraten (WA.TR 1, Nr.533. 533a; s. T R E 8, 222,8ff; Ohly). Die Bilder sollen schriftgemäß und für den Betrachter tröstlich sein (v. Campenhausen 393 f; Stirm 117f; zur künstlerischen Verwirklichung vgl. Koepplin, Reformation der Glaubensbilder). Der von Luther bevorzugte Bildtypus ist das biblische Historienbild als Darstellung von Gottes Heilshandeln, doch kommen auch andere Themen in Frage (WA 18,82,29-83,3 [s.o. S.277]; WA 26, 509,lOf: „Bilder aus der schrift und von guten Historien"). Auch das Bild des Gekreuzigten ist für Luther ein Geschichtsbild, weil es das grundlegende Heilsereignis zeigt (Stirm 113 f). Das biblische Historienbild übernimmt für Luther und die lutherische Kirche die Funktion des Andachtsbildes (TRE 2,669 f; Scharfe 78ff), doch redet Luther auch von Andachtsbildern im engeren Sinn (WA 23, 375,34: „andechtig bilder und gemeide" auf dem Friedhof; vgl. Stirm 88 f), und wie die Verwendung des Schmerzensmannsmotives im Umkreis Luthers zeigt, ist der Übergang vom Historienbild zur ikonographischen Form des Andachtsbildes fließend (vgl. Koepplin, Reformation der Glaubensbilder 333ff). Bemerkenswerte Übereinstimmungen mit Luthers Gedanken finden sich im Werk De imaginibus (1548) des altgläubigen Kontroverstheologen Konrad Braun (gest. 1563): Aus den zeichenhaften Theophanien (Feuersäule, Wolke, Taube usw.) und den bildlichen oder bildlich zu verstehenden Aussagen der Bibel (vgl. 5f: Wörter sind Bilder der Dinge) wird das christliche Bild legitimiert und eine normative Ikonographie abgeleitet (vgl. Scavizzi 216 - 224).

Das Kirchengebäude (s. T R E 18,461; Belege bei Preuß 6 6 - 7 2 ) versteht Luther funktional: Es ist der Ort des Gemeindegottesdienstes; wenn es nicht mehr gebraucht wird, soll man es abreißen (Kirchenpostille 1522: WA 10/1/1, 252, 16-20). Einen Sakralbau gibt es nicht. „Wo Gott spricht, da ist Gottes H a u s " (WA 14,386,3). Das kann an jedem beliebigen Ort sein (vgl. T. Koch 112ff). Gleichwohl erkennt Luther zunehmend an, daß die Gestaltung des Kirchenraums für den Gottesdienst nicht gleichgültig ist und daß ein würdiger Rahmen die andächtige Teilnahme erleichtert (v. Campenhausen 400 f). Er hebt die Bedeutung von Altar und Chor für die Abendmahlsfeier hervor (WA 12, 216,20-30) und nennt Taufstein, Altar und Kanzel als wesentliche Einrichtungsstücke des Kirchenraumes (WA 37,670,21 f). Maßvoller Schmuck ist zulässig (WA 6,44,34ff). Nach anfäng-

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licher Reserve billigt Luther Altarbilder und empfiehlt als geeignetes Thema das Abendmahl, wobei um das Bild Ps 111,4 geschrieben werden soll (WA 31/1, 4 1 5 , 2 3 - 3 1 ; vgl. T R E 2, 322,1 ff). Luther verhält sich gegenüber der traditionellen Architektur und Einrichtung des Kirchengebäudes konservativ, nicht aus theologischen Gründen, sondern gerade weil Formfragen nicht zu theologischen Fragen werden sollen (vgl. T. Koch 112f). Sporadische Äußerungen Luthers zeigen, daß er die aus der Antike stammenden Grundbegriffe der zeitgenössischen Kunsttheorie kennt: die Definition der Bildhauerei als „ K u n s t des Wegnehm e n s " ( W A 1 , 2 0 8 , 2 7 f ; vgl. P a n o f s k y , Idea 7 9 , A n m . 59. 119, A n m . 2 8 3 ; D ü r e r III, 144), die doppelte Forderung der N a t u r n a c h a h m u n g ( W A . T R 6 , N r . 7 0 3 5 ) und Naturverschönerung ( W A . T R 5 , N r . 6261; dazu Curtius 449f)> das R e c h t der D i c h t e r und M a l e r , Phantasiewesen zu erfinden ( W A 2, 6 5 9 , 2 1 - 6 6 0 , 6 nach H o r a z , D e arte poet. 1 ff). D o c h wendet Luther diese Vorstellungen vom künstlerischen Schaffen nicht systematisch auf die religiöse Kunst a n , weil es ihm ausschließlich um deren theologische Problematik geht.

Die Aussagen Luthers enthalten, gemessen an anderen Stellungnahmen seiner Zeit, in Grundzügen eine Theorie der religiösen Kunst. Zentrale Bedeutung besitzt die These, daß das Kunstwerk religiös neutral ist. Es wird entsakralisiert. Der Kirchenraum ist außerhalb des Gottesdienstes funktionslos, und das Bild erinnert an Gottes Heilstaten, aber repräsentiert Gott nicht. Auf dieser theoretischen Basis kann Luther dafür eintreten, die Bildausstattung der mittelalterlichen Kirchen beizubehalten, soweit sie nicht der reformatorischen Lehre inhaltlich widerspricht. Zeichnung und Malerei (die Plastik spielt für ihn kaum eine Rolle) versteht Luther gemäß der traditionellen Parallelisierung von Wort und Bild (s.o. Abschn. IV.3). Das Wort ist auf bildhafte Vcranschaulichung angelegt, und das sprachliche Bild findet seine Fortsetzung und Ergänzung im gemalten Bild. Das religiöse Bild unterstützt als Mittel der sinnlichen Vergegenwärtigung, die der besonderen visuellen Anlage des Menschen entspricht, die Verkündigung des (normativen) Wortes. 2.3. In Zürich forderte 1523 Ludwig Hätzer in einer massiv biblizistisch argumentierenden Schrift die Entfernung sämtlicher Bilder aus den Kirchen (Ein Urteil Gottes unseres Ehegemahls, wie man sich mit allen Götzen und Bildnissen halten soll: Goeters 17 ff; Garside, Ludwig Haetzer's Pamphlet). -»Zwingli fühlte sich als Vertreter des Mittelwegs zwischen den radikalen eigenen Anhängern, die bald auch die Beseitigung der privaten Bilder verlangten, und den altgläubigen (und lutherischen) „Bilderschirmern" (Eine Antwort, Valentin Compar gegeben, 1525, SW 4,84f). Er will lediglich jene figürlichen Kunstwerke, die nach dem Ort ihrer Aufstellung oder Anbringung Kultobjekte sind oder werden können, aus den Kirchen entfernen. Zwingli unterscheidet terminologisch zwischen „Götzen" und unbedenklichen „Bildern" (96, 9 - 1 3 ) . Die Bildfenster und die Statue Karls d.Gr. am Turm des Zürcher Großmünsters können an Ort und Stelle bleiben (95, 12-96,2; zu den Glasmalereien vgl. schon SW 3, 905, 14—16). Hinsichtlich der Beseitigung der „Götzen" ist Zwingli kompromißlos: einen neutralen Gebrauch gibt es nicht, die Gefahr einer möglichen Verehrung muß ausgeschaltet werden. Auch als „Bücher der Einfältigen" können die Bilder nicht dienen, denn ohne Belehrung durch das Wort machen sie keine verständliche Aussage. Allein das Wort führt zum Glauben, die Bilder führen zum Götzendienst (SW 4,120,8ff). Zwingli sieht zwischen dem geistig verstandenen Wort und dem sinnlich wirkenden Bild einen strikten Gegensatz (Brief an Bucer, 3.6.1524, SW 8 , 1 9 4 , 1 1 - 1 9 5 , 3 2 ) . Die für Luther so wichtige Beobachtung, daß die Rede von Gott beim Hörer notwendig bildhafte Vorstellungen auslöst, schiebt Zwingli beiseite: Dieser psychologische Vorgang („was das gmuot des menschen für sich selbs ze handen nimpt, loufft all wegen die phantasy zuo, und verbildt dasselbig": SW 4, 96, 30f) hat nichts mit dem Problem der äußerlichen Götzen zu tun ( 9 6 , 2 1 - 9 7 , 4 ) . Zwingiis Haltung zur Kunst ist gespalten: Der Ablehnung der „Götzen" in der Kirche steht die von ihm selbst betonte Freude an Werken der bildenden Kunst gegenüber (SW 4, 84,25 f: „Ouch das ich für andre menschen lust hab in schönem gemäld und ständen bilden"). Im eigenen Haus sind Bilder zulässig (Eine kurze christliche Einleitung, SW 2 , 6 5 8 , 1 4 - 2 3 ; 4,141,25 f)Im Kirchenraum duldet Zwingli neben Bildfenstern (an anderen Orten der Schweiz wur-

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den auch sie zerstört) gemalte und plastische Dekorationen (SW 2,657,29ff). Wenn er sich an der Helligkeit der ausgeräumten Zürcher Kirchen mit ihren geweißten Wänden freut (v. Campenhausen 368), so deckt sich das mit dem von Vitruv inspirierten strengen Raumideal der italienischen Frührenaissance, aber auch Palladios (Brunelleschi: Burke 158; Alberti: Wittkower, Grundlagen 17; Palladio IV, c. 2). Bei Zwingli zeichnet sich die Position ab, die sich in den reformierten Kirchengebieten allgemein durchsetzen sollte: Die Bildkunst wird auf den säkularen Bereich beschränkt; religiöse Bilder sind Privatsache, sie gelten als Geschichtsbilder (SW 2, 658,19) und dürfen auf keinen Fall verehrt werden. Gleichzeitig entsteht eine Ästhetik des bilderlosen Kircher.raums. (Zur neuen Innengestaltung des Zürcher Großmünsters imjahre 1526 vgl. Gutscher/Senn.) In analoger Weise hat Zwingli, der ein hochbegabter Musiker war, die Musik als rein weltliche Betätigung verstanden und in Zürich den gottesdienstlichen Gesang abgeschafft (vgl. Garside, Zwingli 7 - 7 5 ) . 2.4. Martin -+Bucer fordert wie Zwingli die Beseitigung der Bilder (s. T R E 6, 554, 19ff), setzt aber in der Theorie einen eigenen Akzent: Er betont, daß die Bilderverehrung die Menschen daran hindere, sich durch das Anschauen der Schöpfung zur wahren Gottesfurcht führen zu lassen. Die Kunst liefere nur sekundäre, tote Abbilder der Schöpfungswerke und lenke das Herz des Menschen von Gott auf das menschliche Werk (Confessio Tetrapolitana, Dt. Sehr. 3,155,37ff; Das einigerlci Bild bei den Gotgläubigen an orten da sie verehrt, nit mögen geduldet werden, 4,167,1 ff; Ulmer KO, 4,246,23 ff). Diese platonisierende Argumentation beruht auf Athanasius, Contra gentes 20 (3, 157,34ff; Apologie der Confessio Tetrapolitana 3,314,9ff; 4,176,21 ff; 247,6ff). Während Bucer sonst Luther zustimmt, daß die Bilder grundsätzlich Adiaphora seien (TRE 6,554,31 ff), wendet er sich in Das einigerlei Bild (1530) gegen die Wittenberger Auffassung (170,19ff), wohl aus taktischen Gründen, weil die Schrift die vom Rat verfügte Entfernung der Bilder aus den Straßburger Kirchen rechtfertigen sollte (vgl. die Einleitung von H. Demmer, ebd. 163). Der Anschluß Straßburgs an die CA hatte zur Folge, daß wieder Bilder in die Kirchen kamen. 2.5. —»Calvin hat seine abschließende Stellungnahme zum Bilderproblem in der Institniio von 1559 niedergelegt (1,11; s. T R E 6, 553,15 ff). Das Neue Testament bezeugt die fortdauernde Gültigkeit des Bilderverbotes. Gott ist Geist; jede bildliche Darstellung verfehlt sein Wesen und verletzt seine Majestät (1,11, 1.2.4.12; 11,8,17). Das menschliche Verlangen, sich Gott nach dem eigenen Fassungsvermögen vorzustellen und sich seiner Gegenwart durch sichtbare Symbole zu vergewissern, führt zur Anfertigung von Götterbildern (11,8). Deren Anbetung ergibt sich als notwendige Konsequenz (11,9.11.13). Die Bilder taugen nicht als „Laienbücher". Wo durch die Predigt des Evangeliums der gekreuzigte Christus „gemalt" wird (Gal 3,1), sind die Kreuze in den Kirchen überflüssig (11,7). Calvin lehnt Bilder nicht völlig ab. Plastik und Malerei sind Gaben Gottes. Sie müssen richtig gebraucht werden. Bilder Gottes sind verboten. Nur das darf künstlerisch dargestellt werden, was die Augen fassen können. Erlaubt sind Geschichtsbilder (historiae ac res gestae), ferner Bildnisse und andere Darstellungen ohne Geschichtsbezug (imagines ac formae corporum sine ulla rerum gestarum notatione; vgl. die franz. Ubers, von 1560, Op.3,136: „Ou bien figures ou medales de bestes, ou villes, ou pais"). Die erste Gattung dient der Belehrung (usum in docendo vel admonendo aliquem habent), die andere dem Vergnügen (oblectatio) (11,12). Calvin beschreibt die Aufgaben der Kunst nach der klassischen Formulierung des Horaz: Aut prodesse volunt aut delectare poetae [Die Dichter wollen entweder nützen oder ergötzen] (De arte poet. 333). In der Kirche hat die Bildkunst keinen Platz. Die dort allein zulässigen „Bilder" (imagines) sind Taufe und Herrenmahl „samt den anderen Zeremonien" (Inst. 1,11,13. Eine „andere Zeremonie" ist nach Inst. IV,14,20 z. B. die Handauflegung: Stirm 223). Während Zwingli in der Kirche Bilder, die nicht verehrt wurden, geduldet hatte, fordert Calvin den völlig bilderfreien Kirchenraum. Und obwohl Zwingli ein Gottesbild nicht für möglich hielt (SW 3, 9 0 5 , 1 4 - 1 6 ; 4,

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94, 18.30), erschienen in Zürich gleichwohl Bilderbibeln mit anthropomorphen Gottesdarstellungen (Krücke 70). Calvin verwirft das Gottesbild grundsätzlich und ohne Ausnahme. In Zürich findet eine ähnliche Verschärfung des Standpunktes bei —•Bullinger statt: Gott ist Geist, und sein Wesen ist unendlich. Er kann daher im Bild nicht dargestellt werden (CHelvP 4: BSKORK 226; vgl. E. Koch 350-357). Seit der zweiten Hälfte des 16. Jh. bürgert sich in der Bildkunst der Reformierten als Symbol für Gottvater das Tetragramm ein (Krücke 76ff). Calvin fordert öffentliche Kirchengebäude für den gemeinsamen Gottesdienst der Gläubigen. Jede Vorstellung von einem heiligen Ort ist jedoch auszuschließen (Inst. III, 20,30). Bullinger geht etwas weiter: Die Kirchengebäude sollen würdig (honesta) und ausreichend groß sein. Als Ort des Gottesdienstes sind sie heilige Stätten (non esse prophana sed sacra), was den Besuchern ein entsprechendes Verhalten zur Pflicht macht. Der wahre Schmuck der Kirchen besteht nicht in kostbaren Materialien, sondern in „Mäßigkeit, Frömmigkeit und Tugenden" der Gemeinde (CHelvP 22: BSKORK 267). Die Schönheit wird ethisiert (vgl. E. Koch 337-341). 2.6. Die „Bilderstürme" der Reformationszeit können nicht allein als Kulturbarbarei beurteilt werden. Sie müssen in der Tradition des christlichen Ikonoklasmus gesehen und nach ihren frömmigkeitsgeschichtlichen, psychologischen, politischen und sozialen Dimensionen gedeutet werden (vgl. die anregende Studie von P. Jezler/E. Jezler/Göttler). Die Abschaffung des Heiligen- und Bilderdienstes als unmittelbare Konsequenz der evangelischen Predigt ist offenbar als ein Akt der religiösen Befreiung vollzogen und erlebt worden (Moeller 22 f. 80 f). Das gemeinreformatorische Argument, es sei besser, die Armen zu unterstützen als Bilder zu stiften, wirkte unmittelbar überzeugend. Ein wichtiger Impuls zur Bekämpfung der Bilder ging von der humanistischen Kritik an der Veräußerlichung des Gottesdienstes aus: -»Erasmus hat zwar die Beseitigung der Bilder nicht gefordert und den Bildersturm nicht begrüßt, aber er kritisierte die massive Bilderverehrung und tadelte apokryphe und moralisch anstößige Darstellungen in den Kirchen (vgl. Explanatio Symboli, Op. omnia 5/1, 304f; Panofsky, Erasmus 207-213). Es ging ihm um eine geistige Gottesverehrung. Die bilderfeindlichen Reformatoren zogen daraus die radikalen Konsequenzen. Offenbar war die „reformierte" Forderung, die Bilder völlig zu beseitigen, ähnlich wie die „reformierte" Abendmahlslehre für breite Bevölkerungskreise einleuchtender und attraktiver als die gemäßigte Auffassung Luthers (vgl. Moeller 5 0 - 5 3 ) . Ein moralisches Motiv zur Ablehnung der Bilder ergab sich aus dem gesteigerten Naturalismus der spätmittelalterlichen Kunst: Die Reformatoren kritisieren die verführerische Schönheit und den sinnlichen Reiz vieler Heiligenbilder (vgl. Zwingli, SW 2, 218,9-13; 4, 145,22-146,3; Calvin, Inst. 1,11,7.12; dazu Baxandall, Kunst 100-104; P. Jezler/E. Jezler/Göttler 87 f). Auf den Zusammenhang bilderstürmerischer Aktionen mit Fastnachtsbräuchen und volkstümlichen Ritualen hat Scribner hingewiesen (Ritual). In der Schweiz und in Deutschland wurden im allgemeinen die Bilder von den Obrigkeiten aus den Kirchen entfernt, auch und gerade wo tumultuarische Einzelaktionen vorausgegangen waren. Man kann also nur bedingt von „Bilderstürmen" reden. (Zu den Vorgängen im Täuferreich von Münster s. T R E 6,550, 4 8 - 5 1 . ) Die seit der Mitte des 16. Jh. stattfindenden Aktionen gegen die Bilder, vor allem anläßlich der Einführung des reformierten Bekenntnisses in bisher lutherischen Territorien, gehen von den Landesherren aus und stoßen bei der Bevölkerung vielfach auf Widerstand (für die Kurpfalz vgl. Rott, Kirchen- und Bildersturm). Einen anderen Charakter tragen die Bilderstürme Westeuropas: In den französischen Religionskriegen gingen die -»Hugenotten gegen die Bilder vor (s. T R E 15, 620; Réau, I, 65-106). In den Niederlanden leitete der von den radikalen Calvinisten getragene Bildersturm von 1566 den Aufstand gegen die habsburgische Herrschaft ein (vgl. Mack Crew). Die englische Reformation (s. T R E 9, 616-642) beseitigte die Bilder. Den Auftakt bildete die noch nicht eigentlich reformatorisch motivierte Aufhebung der Klöster durch -»Heinrich VIII. Zu einer letzten Welle von Bilderzerstörungen kam es im Bürgerkrieg und unter dem „ C o m m o n w e a l t h " durch die Puritaner (1642-1660; vgl. Phillips).

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2.7. Die Künstler wurden in Deutschland und seinen Nachbarländern vom reformatorischen Aufbruch im gleichen Ausmaß ergriffen wie die übrige städtische Bevölkerung. - • D ü r e r , Lukas -»Cranach d.Ä., Hans Baidung Grien, Wolf Huber (Kaff 47f), Hans Holbein d . J . , wahrscheinlich auch -»Grünewald schlössen sich der evangelischen Bewegung an. Albrecht Altdorfer in Regensburg, wo die Reformation erst 1542 eingeführt wurde, sympathisierte wenigstens mit ihr. Die Glaubenspositionen der einzelnen Künstler waren verschieden. O f t bleibt strittig, o b und in welcher Weise ihre reformatorischen Überzeugungen auf ihr Werk einwirkten. Ikonographische Kriterien allein genügen nicht, vor allem nicht in der Frühzeit der Reformation, weil die Traditionen fest waren und Auftraggeberwünsche eine wichtige Rolle spielten. Cranach war mit Luther persönlich befreundet. Zusammen mit seinen Söhnen wurde er zum Schöpfer einer weithin als Vorbild wirkenden lutherischen -»Ikonographie. Dürer scheint ein humanistisch gefärbtes evangelisches Christentum vertreten zu haben (Seebaß, Dürers Stellung 127ff). Sein Bekenntnis findet in seinem Schaffen Ausdruck, vor allem in den Aposteln von 1526, ohne daß er mit der ikonographischen Tradition oder der eigenen künstlerischen Vergangenheit radikal gebrochen hätte (s. T R E 9, 210,16ff; Wiederanders 97 ff). In Nürnberg geriet der Maler Hans Greiffenberger, der auch theologische Traktate schrieb, 1524 und 1526 durch seine antipäpstlichen „Schandgemälde" und seine spiritualistische Abendmahlslehre mit der Obrigkeit in Konflikt (vgl. die Stellungnahmen -»Osianders mit den Einleitungen von Dietrich Wünsch: GA, I, 267-282; II, 337-343). 1525 wurden die „drei gottlosen Maler", die Brüder Hans Sebald (1500-1550) und Barthel (1502-1540) Behaim sowie Georg Pencz (gest. 1550), wegen ihrer von Hans —»Denck beeinflußten spiritualistischen Anschauungen aus der Stadt verwiesen (vgl. den „Ratschlag" Osianders mit Einleitung von Martin Stupperich: GA, I, 418-424). Diese Vorgänge bleiben Episode, und man braucht nicht mit einer besonderen Anfälligkeit der Künstler für den Spiritualismus zu rechnen. So ist die Zugehörigkeit des im Bauernkrieg hingerichteten Jerg Ratgeb zu einer enthusiastischen Sekte unbeweisbar (gegen Fraenger). Holbein stand trotz seiner Entscheidung für die Basler Reformation geistig bei Erasmus (Saxl). Nach Scribner brachten Künstler und Verleger auf den reformatorischen Flugblättern „ihre glühende Uberzeugung von der Richtigkeit des evangelischen Glaubens" zum Ausdruck (Simple Folk 239-241).

Die Tatsache, daß zahlreiche Künstler die Reformation bejahten, ist um so bedeutsamer, als sie dadurch in einen Konflikt mit ihren beruflichen Interessen gerieten: das Ausbleiben kirchlicher Aufträge konnte ihre Existenz gefährden. Ein führender Maler wie Hans Baidung arbeitete im bilderfeindlichen Straßburg weiter für altgläubige Auftraggeber und behandelte vermehrt weltliche Themen. Der vielseitige Nikiaus Manuel Deutsch in Bern wandte sich ganz der Politik zu. Weniger prominente Maler und Bildschnitzer gerieten in schwere wirtschaftliche Not. Ausreichende Ersatzaufträge fehlten, und Zunftgrenzen legten ihnen Beschränkungen auf. Dagegen fanden Kunsthandwerker weiter ihr Auskommen (R. und M. Wittkower, Künstler 26-31; Baxandall, Kunst 87ff). 2.8. Hat die Reformation eine Krise der Kunst herbeigeführt? Die Frage ist differenziert zu beantworten. In den evangelisch gewordenen Gebieten, auch den lutherischen, schrumpfte die Produktion religiöser Kunst zusammen. Die Ablehnung des Bilderstiftens als eines guten Werks ließ die privaten Aufträge nahezu versiegen (vgl. Göttler/Jezler). Kirchengebäude waren in mehr als ausreichender Zahl vorhanden, und die Vereinfachung ihrer Ausstattung ließ nur einen geringen Bedarf an neuen Kunstwerken aufkommen. Neue Aufgaben stellte dagegen die Graphik. Schwieriger ist der Einfluß der Reformation auf die künstlerische Qualität zu beurteilen. Die Kunstwissenschaft betont heute, daß der Niveauabfall, den die deutsche Kunst im Laufe des 16. Jh. erlebte, nur begrenzt der Reformation anzulasten ist und sich aus der künstlerischen Entwicklung selbst ergab (Kaufmann 103). An der lutherischen Malerei wird vor allem kritisiert, daß sie übermäßig vom „Wort" abhängig, lediglich illustrativ sei und so ihre Bildlichkeit nicht frei entfalten könne (vgl. Ullmann, Von der Macht der Bilder 19ff u.ö.). Wohlfeil weist darauf hin, daß gegenüber der älteren Malerei auf reformatorischen Gemälden die Inschriften an Zahl und Bedeutung zunehmen und komplizierte typologische Kompositionen wie Cranachs „Gesetz und Gnade" (s. Art. Cranach, TRE 8, Taf. 5.7) überhaupt erst mit ihrer Hilfe zu entschlüsseln seien. Man könne aus dieser Praxis, die Luthers Wünschen entsprach (WA 10/2,458,24-27; 31/1,415,23-29), ein Mißtrauen gegen das bloße Bild und seine Vieldeutigkeit entnehmen, und sie sei wohl auch von den Künstlern als

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formale Beeinträchtigung empfunden worden (282ff). Dagegen ist zu sagen, daß die Schrift ihre neue konstitutive Funktion bereits auf einem Spitzenwerk wie Dürers Aposteltafeln erhält (Lankheit 247ff). Für die Arbeiten Cranachs weist Koepplin darauf hin, daß die „Lehrhaftigkeit . . . einer allgemeinen Intellektualisierung in der Zeit des beginnenden Manierismus" entspreche (Lukas Cranach II, 499) und daß die Darstellungen der Rechtfertigungslehre in eine größere Tradition der „Gedankenbilder" gehörten (ebd. 500). Manche Schwächen der Werke Cranachs dürften auf das Konto des ausgedehnten Werkstattbetriebs gehen. Die Forderung der theologischen Korrektheit und die Betonung der Lehre findet sich im übrigen auch auf altgläubiger Seite. Die Diskussion über die künstlerischen Folgen der Worttheologie ist noch nicht abgeschlossen. Ebenso bedarf die reformatorische -»Ikonographie noch der weiteren detaillierten Erforschung (beispielhaft: Ohly; Seebaß, Himmelsleiter). Dabei ist zu beachten, daß traditionelle Motive einen neuen „evangelischen" Sinn erhalten und scheinbar profane Darstellungen reformatorisch zu deuten sein können (Koepplin: Lukas Cranach II, 500-503). Der reformatorischen Bildpropaganda wird erst in neuester Zeit die angemessene Beachtung zuteil (Scribner, Simple Folk; Hoffmann). Diese engagierte Kunst lebt von der Verbindung von Wort und Bild. Die Drastik ihrer formalen Mittel erlaubt es, von einer „Ästhetik des Häßlichen" (Schuster 122) zu sprechen. Weitaus gravierender als in Deutschland ist die Rückwirkung der religiösen und politischen Umwälzungen auf die Kunst in England: Kirchen werden mangels Bedarf kaum mehr gebaut. Erst nach dem Brand von London 1660 errichtet Christopher Wren neben dem Neubau von St. PauPs Cathedral eine Reihe von Predigtkirchen (Summerson 210ff). Die Malerei muß sich fast ganz auf das Porträt beschränken und nimmt eine Sonderentwicklung, die Strong von der „englischen Ikone" reden läßt (English Icon). Der Plastik bleibt als Aufgabe Grabmal und Kamindekoration (Whinney). Erst im 17. Jh. wird wieder der internationale Anschluß gefunden. Das Gegenbeispiel liefern die überwiegend reformierten nördlichen Niederlande: im 17. Jh. erreicht hier die europäische Malerei einen ihrer Höhepunkte. 2.9. Die Reformation hat die Säkularisierung der abendländischen Kunst entscheidend vorangetrieben: theoretisch durch ihre Entsakralisierung, praktisch durch die Reduktion ihrer kirchlichen Aufgaben. Dieser Prozeß ging allerdings nicht erst von der Reformation aus. Seit dem Spätmittelalter hatten durch die Entstehung einer Laienkultur die profanen Kunstaufgaben zugenommen. Der Realismus der spätmittelalterlichen Kunst, der zunächst ihrer religiösen Intensivierung diente, bringt auf die Dauer ein Mehr an Weltlichkcit. Die Klage über den unfrommen, profanen Charakter der religiösen Bilder wird schon vor der Reformation laut. Die Tendenz zur religiösen Neutralisierung der Kunst ist im Christentum als Konsequenz des Monotheismus und des Schöpfungsglaubens von Anfang an vorgegeben (s. o. IV. 2.1). Sie begleitet als ikonoklastisches Motiv die Geschichte der christlichen Kunst. Den Reformatoren war es nicht um ein neues Kunstverständnis zu tun. Sie bekämpften die spätmittelalterliche Bilderfrömmigkeit und lehnten eine Repräsentation des Heiligen durch das Kunstwerk ab. Wenn sie die Aufgabe der Bildkunst gemäß klassischer Tradition im Belehren und im Ergötzen sahen, wiesen sie ihr damit einen Platz neben der Dichtung zu (vgl. neben Horaz, De arte poet. 333 ff die rhetorische Forderung des docere, delectare, movere: Lausberg §257). Das kirchliche Kunstwerk hat bestimmte Funktionen zu erfüllen, unterscheidet sich aber im übrigen nicht vom profanen Werk. Freilich fügt sich die Kunst für die Reformatoren noch selbstverständlich in eine von christlichen Normen bestimmte Kultur ein. 3. Kunst und

Konfession

3.1. Das Dekret des -•Tridentinums Über Anrufung, Verehrung und Reliquien der Heiligen und die heiligen Bilder vom 3.12.1563 zieht die Summe aus der Auseinandersetzung mit den Evangelischen und aus der innerkatholischen Diskussion über die Bilderfra-

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ge (s. T R E 6,555 f; Jedin, Entstehung; Scavizzi). Die mittelalterliche Bilderlehre wird bestätigt: die Bilder Christi, Mariens und der Heiligen enthalten keinerlei „Göttlichkeit oder Kraft", jedoch die ihnen erwiesene Ehre bezieht sich auf die „Urbilder" (prototypa). Im Vordergrund steht indes die belehrende und erbauliche Wirkung der Bilder (COD 7 5 1 , 1 5 - 3 5 ; DS 1823f). Als wichtigster Themenkreis wird die biblische Geschichte hervorgehoben (COD 751,26f.39f). Mißbräuche sind zu beseitigen: Bilder, die Lehrirrtümer enthalten, dürfen nicht aufgestellt werden. Das Volk ist ausdrücklich zu belehren, daß Gottesdarstellungen auf biblischen Bildern nicht bedeuten, Gott habe eine sichtbare Gestalt. Jeder Aberglaube ist abzustellen, und jede lascivia zu vermeiden, indem keine Bilder von „herausfordernder Schönheit" (procaci venustate) geschaffen werden. Die Aufstellung eines „ungewohnten Bildes" bedarf der Zustimmung des Bischofs. In Zweifelsfällen sind die Provinzialsynode und der Papst einzuschalten (COD 751, 3 6 - 7 5 2 , 19; DS 1825 [gekürzt]). Die aufgezählten Mißbräuche waren in ähnlicher Form seit dem 15. Jh. von Reformtheologen beanstandet worden (s.o. Abschn. 1.2). Nach dem Konzil entstand eine ganze Literatur, die aus den Bestimmungen des Dekrets ausführliche Vorschriften für die kirchliche und bis zu einem gewissen Grad auch für die weltliche Kunst ableitete. Wichtige Werke zur Bilderfrage sind De picturis et imaginibus sacris von dem Löwener Theologen Johannes Molanus (Löwen 1570; weitere Auflagen ab 1594 unter dem Titel De historia sanctarum imagtnum et picturarum) und der Discorso intorno alle imagitii sacre e profane des Erzbischofs von Bologna, Kardinal Gabriele Paleotti (Bologna 1582). Die gesamte Architektur und Ausstattung des Kirchengebäudes behandelt Carlo —•Borromeo in seinen Instructiones fabricae et supellectilis ecclesiasticae (Mailand 1576; dazu Mayer-Himmelhebcr 84ff). Die leitende Beurteilungskategorie dieser Autoren ist das Decorum. Der rhetorische Begriff (Lausberg §§ 1057-1059), der seit Alberti in der Kunsttheorie verwendet wurde, wird von ihnen vor allem auf die historische Genauigkeit und die moralische Schicklichkeit der bildlichen Darstellung bezogen (vgl. Paleotti II, c. 27: 3 7 0 - 3 7 4 ) . Nach Borromeo müssen die Geschichtsbilder dem Bibeltext oder der historischen Überlieferung möglichst genau entsprechen und dürfen nichts Apokryphes, keine erfundenen Hinzufügungen, nichts Profanes und moralisch Anstößiges enthalten. Heiligenbilder müssen die Dargestellten so treu wie möglich wiedergeben und sie durch Nimbus und traditionelle Attribute eindeutig kennzeichnen. Weniger bekannte Heilige sollen durch eine Inschrift bezeichnet werden (c. 17: 4 2 - 4 5 ) . Die Formulierung besonderer Bestimmungen für die religiöse Kunst, verbunden mit der Ablehnung weltlicher Darstellungen in der Kirche, bedeutete erstmals eine klare Trennung von sakraler und profaner Kunst. Diese Trennung hat nicht nur mit der gesteigerten Weltdistanz des gegcnreformatorischcn Katholizismus und der fortgeschrittenen Säkularisierung der Kunst zu tun. Auch die Künstler des Manierismus zweifelten daran, daß das idealisierte Schöne die adäquate Darstellung des Heiligen sei (Hall, Renovation 35). Das Verhältnis zwischen Kunst und Religion war also auch im altgläubigen Bereich von beiden Seiten her in eine Krise geraten. Diese Krise ist von der Barockkultur noch einmal überwunden worden, um dann im 19. Jh. voll zur Auswirkung zu kommen. Die tridentinischen Vorschriften wurden nicht mit gleichmäßiger Strenge durchgeführt. Carlo Borromeo betrieb eine aktive Kunstpolitik (vgl. Mayer-Himmelheber). Auch in den katholischen Niederlanden wurde die Kunstproduktion sorgfältig kontrolliert (Freedberg, Problem 28 ff). In anderen Gebieten verfuhr man großzügiger. Die religiöse Kunst wurde lehrhafter, aber auch intensiver in ihrer Aussage (vgl. Hall, Renovation 40ff; Taveneaux II, 4 4 7 - 4 8 2 ) . Der spektakulärste Fall angeblicher Verletzung des Decorum war Michelangelos Weltgericht. Wegen seiner nackten Gestalten und seiner ikonographischen Eigenwilligkeiten wurde es schon bald nach der Fertigstellung heftig kritisiert. Nur durch mehrfache Ubermalungen entging es der Zerstörung (vgl. De Maio, Michelangelo). Aber auch Paolo Veronese mußte sich 1573 in Venedig dem Inquisitionsgericht stellen, weil er auf einem Abendmahlsbild genrehafte Figuren und Szenen angebracht hatte (vgl. Schaffran). Zu den Maßnahmen gegen dogmatisch bedenkliche Darstellungen vgl. die Arbeiten von Boespflug.

In repräsentativer Weise setzte sich ->Bellarmini in seinen Controversiae

(1586-1593)

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mit den evangelischen Auffassungen über Bilder und Kirchengebäude auseinander (Bilder: VII,II,5-30; Kirchen: VII,III,1-6). Die Hauptgegner sind Calvin und die Magdeburger Zenturiatoren (—•Kirchengeschichtsschreibung). Hier kann nur weniges hervorgehoben werden. Bellarmin wendet sich gegen Calvins Meinung, Bilder, die keine Geschichte darstellten, dienten lediglich dem Vergnügen (Inst. 1,11,12; s.o. Abschn. 2.5). Er bezieht diese Äußerung auf Christus- und Heiligenbilder und weist daraufhin, daß auch sie stets eine „abgekürzte Geschichte" (per compendium aliquant historiam) enthalten: Christus wird stets in einer bestimmten historischen Situation gemalt. Ebenso erinnern die Heiligen durch ihre Insignien an ihre Taten und Leiden (VII,II,10). Die Grenze zwischen Andachts- und Historienbild verfließt. Die Lehre des -•Thomas von Aquino und -»Bonaventura, dem Bild Christi komme die gleiche Verehrung zu wie Christus selbst (s. T R E 6, 544,32ff), wird von Bellarmini differenziert: Den Bildern schuldet man nur eine unvollkommene und relative Verehrung, weil sie eigentlich dem Urbild gilt. Die Verehrung des Bildes steht zur Verehrung des Urbildes im gleichen Verhältnis wie das Bild selbst zum Urbild (VII,II,25). Das Kirchengebäude dient nicht nur, wie die Evangelischen meinen, der Predigt und Sakramentsspendung, sondern als ein durch die Weihe qualifizierter Ort auch der Darbringung des Opfers, dem Gebet und der Aufbewahrung und Verehrung von Reliquien (VII,III,4). Die Architektur soll sich nach den altkirchlichen Bauten richten. Das bedeutet in der Regel Dreiteilung in Vorhalle, Schiff, Altarraum, ferner Rechteckgrundriß und Ostung (ebd. c. 3). Den Schmuck der Kirchen verteidigt Bellarmini, weil er die Menschen anzieht und die Andacht erleichtert. Er muß allerdings dem Ort angepaßt und darf nicht unangemessen (inepta = irtdecorä) sein (ebd. c.6). Kirchengeschichtliche und kunstgeschichtliche Epochen lassen sich nur bedingt in Beziehung setzen. Der innerkatholischen Erneuerung des 16. Jh. entsprechen künstlerisch am ehesten bestimmte Strömungen des -»Manierismus. Weder läßt sich der Barock als „Kunst der Gegenreformation" (Weisbach) definieren, noch kann man von einem „Jesuitenstil" im strengen Sinn reden. Die gefestigte katholische Kirche des 17. und 18. Jh. fand jedoch im -»Barock eine ihr in hohem Grade adäquate künstlerische Sprache. Es war die letzte europäische Kunstepoche, in der die kirchliche Kunst eine führende Rolle spielte und Höchstleistungen in großer Zahl hervorbrachte. 3.2. Wie nahm die evangelische Seite zur tridentinischen Bilderlehre Stellung? Martin -•Chemnitz setzt sich mit ihr im vierten Teil seines Examen Concilii Tridentini (1565-1573) auseinander. Mit hoher exegetischer und historischer Gelehrsamkeit verteidigt er die Auffassung Luthers und versucht sie als die biblische zu erweisen: Luther hat die Bilder, „die wahre und nützliche Historien darstellen", zu den Adiaphora gerechnet. Man kann sie „zum Schmuck, zur Erinnerung oder der Geschichte wegen haben", ist aber frei, auf sie zu verzichten (Sect. 1: S.762; Sect. 3,10: S. 771 f). Die katholische Meinung, das Bild bewege das Herz stärker zur Andacht als das gepredigte Wort, weist Chemnitz entschieden zurück: Gott hat die Verheißung der Wirksamkeit seinem Wort gegeben, nicht den Bildern (Sect. 4, c. 3,11: S.781f). Im wesentlichen die gleiche Position vertritt Johann -»Gerhard in seinen Loci Theologici (1610—1622). Er behandelt die Bilder im Locus XII De lege Dei. Das Bilderverbot wird als Anhang zum ersten Gebot verstanden. Gegen Reformierte und Katholiken verteidigt Gerhard die lutherische Mitte (c. 6 2 - 1 0 5 ) . Neben biblischen und historischen Gründen führt er im Anschluß an Luther die aristotelisch-scholastische Psychologie für die Bilder ins Feld: beim Hören oder Lesen von Gottes sichtbaren Selbstkundgebungen (Alter der Tage, Inkarnierter, Taube) entstehen im menschlichen Geist Bilder. Die species itttelligibiles sind nichts anderes als „innere Bilder der Dinge". Die malerische Darstel-

lung dieser Erscheinungen ist zulässig, wenn sie memoriae et ornatus causa geschieht (c. 67). Götzen-

dienerische und unanständige Bilder oder Statuen sind von der Obrigkeit zu beseitigen. Abergläubische und mythologische Bilder können privat aufbewahrt werden. Historienbilder und solche, die dem Schmuck dienen, können aus christlicher Freiheit in den Kirchen angebracht werden. Jeder Anstoß und übermäßige Aufwand ist zu vermeiden (c.70). Es sei noch angemerkt, daß Gerhard das Thema der Schönheit in der Eschatologie zur Sprache bringt: sie gehört zu den Eigenschaften des Auferstehungsleibes und entspricht der Schönheit des Menschen vor dem Fall. Gerhard definiert die

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Schönheit gemäß der antiken Tradition als Symmetrie und angenehme Farbe ( X X X I , 94). Ein Zusammenhang mit dem Kunst-Schönen wird nicht hergestellt.

Eine Theorie der Malerei im eigentlichen Sinn skizziert der Straßburger Satiriker Johann Fischart (1546-1590) in der Widmungsvorrede zur Bilderbibel Tobias Stimmers (Neue künstliche Figuren biblischer Historien, Basel 1576; s. T R E 6, 153): Es genügt nicht, daß die bildende Kunst durch täuschende Naturnachahmung ergötzt. Der Weise will von ihr auch nützliche Belehrung erfahren. Dies geschieht, wenn die Malerei „die hailig Historisch gschicht/ nuzlich exempel und gedieht/ poetisch fünd, gmalt Poesi/Lehrbild und gmalt Philosophi" darstellt (278). Die höchste Aufgabe ist die bildliche Wiedergabe der „christlichen Historien", da sie „zu göttlicher Weisheit und Forcht Anweisung tun" (281). Aus den Stellungnahmen der Reformatoren ergab sich ein recht einheitliches Kunstverständnis: Aufgabe der Kunst ist Belehrung und Schmuck oder Ergötzen. Der Maler wird nach dem Grundsatz Ut pictura poesis als Dichter oder Redner verstanden. Den höchsten Nutzen bringt die getreue Darstellung der biblischen Geschichte. Die Hochschätzung des Historienbildes und die Forderung äußerster Treue der Darstellung führt dazu, daß die theoretischen Werke, die im 17. Jh. im katholischen und im lutherischen Lager über Fragen der religiösen Malerei, besonders der Ikonographie, geschrieben werden, eine gewisse Parallelität zeigen, wobei die lutherischen Autoren das Schriftprinzip betonen und sich gegen alles Legendarische wenden (vgl. Schlosser 537ff; Piper 704ff; Ellenius 268ff). Die lutherische Kirchenkunst des 17. und 18. Jh. kann sich mit den gleichzeitigen katholischen Leistungen nicht messen. Das hängt sicher ebenso sehr mit dem Mangel an großen repräsentativen Aufträgen wie mit der Scheu vor einem Übermaß an künstlerischem Schmuck zusammen. Aber neben einem beachtenswerten -»Kirchcnbau entwikkelt sich doch eine lutherische Bildkultur, die nicht zu unterschätzen ist (vgl. Scharfe). Aufschlußreich ist Joh. Val. —• Andrcacs Utopie Cbristianopolis (1619), gerade weil es sich um Idealvorstellungen handelt: die Malerei wird in der Phantasiestadt hochgeschätzt; sie dient vor allem der Belehrung und Ermunterung zur Tugend (c. 48, S. 120). In der Stadtmitte liegt die Kirche, ein reich gestalteter Rundbau. Durch die rundum laufenden Fenster fällt von allen Seiten das Licht ein. Die übrigen Wandflächen sind mit Darstellungen der biblischen Geschichtc ausgemalt. Das einzige plastische Kunstwerk ist ein Kruzifix, das durch seine künstlerische Qualität „das härteste Herz erschüttern könnte". Das Kapitel endet mit einem Angriff auf die christlichen Bilderfeinde (c. 82, S. 184-186). Zwei Spezialfragen sind zu erwähnen: 1. Nicht nur die Lutheraner, sondern auch die Reformierten ließen figürliche Grabmäler in den Kirchen zu. Sie galten als Profankunst (vgl. Hollweg 168ff, Anm. 36). In England verbot Elisabeth I. 1560 die Zerstörung von Grabdenkmälern bei der Reinigung der Kirchen (Phillips 1 1 7 - 1 1 9 ) . Im Einzelfall stellte sich das Problem des Decorum: Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz (gest. 1559) ließ sich im Chor der Heidelberger Heiliggeistkirche ein aufwendiges Grabmal errichten. Die calvinisch beeinflußten Pfarrer nahmen Anstoß an den nackten Statuen, während der lutherische Generalsuperintendent -»Heshusius sie verteidigte. Die Figuren des (1693 zerstörten) Grabmals mußten teilweise abgedeckt werden (vgl. Rott, Kunstbestrebungen 2 1 6 - 2 1 8 ) . 2. Im evangelischen Bereich zeigen sich Tendenzen zu einer neuen Sakralisierung von Bildern: Seit 1520 stellte Cranach Luther in traditionellen Formen des Heiligenbildes dar. Dieser Bildtypus hält sich neben anderen, und die Legende vom unverbrennbaren Lutherbild entsteht (Scribner, Incombustible Luther). In ähnlicher Weise werden in England die Porträts der Königin Elisabeth I. sakralisiert (Strong, Portraits 33ff).

Man hat in der holländischen Malerei des 17. Jh. die Verwirklichung der Kunstanschauungen Calvins sehen wollen (Wencelius 186-188). Das ist sicher zu einfach, aber die Bildüberlieferung der Reformationszeit und die calvinistische Prägung des Bürgertums sind zweifellos wichtige Voraussetzungen der Malerei in den nördlichen Niederlanden. In diesem geschichtlichen Rahmen hat —•Rembrandt (1606—1669) seine religiösen Werke geschaffen. Im toleranten Amsterdam malte er für reformierte, katholische, mennonitische und jüdische Auftraggeber. Es ist jedoch kaum zu bezweifeln, daß er selbst Mitglied

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der reformierten Mehrheitskirche war. Sein Protestantismus besteht nicht darin, daß er in seinen zahllosen biblischen Zeichnungen, Radierungen und Gemälden unmittelbar aus den Texten geschöpft hätte. Rembrandt war ein hervorragender Kenner der ikonographischen Tradition und folgte ihr häufig gegen den biblischen Wortlaut, korrigierte sie allerdings auch nach diesem (vgl. die Forschungen von Tümpel). Das Entscheidende ist die fortschreitende Verinnerlichung und Vereinfachung seiner religiösen Darstellungen. Mit tiefer persönlicher Anteilnahme schildert er ebenso die Mühseligen und Beladenen, die zu Christus kommen, wie das Geschehen der Passion. Bialostocki hat darauf hingewiesen, daß Rembrandt in einer historisch neuen Weise die Sünder in einer erschütternden Menschlichkeit darstellt, so auf dem vieldiskutierten Bild Haman erkennt sein Schicksal [?] (um 1667, Leningrad). Vielleicht den Höhepunkt von Rembrandts religiöser Malerei bildet die späte Heimkehr des verlorenen Sohnes (um 1668, Leningrad; s. Art. Barock, T R E 5, Taf. 4, Abb. 8): Hier ist es Rembrandt gelungen, in äußerster Stille das „überwältigende Wesen der Gnade" sichtbar zu machen (vgl. Neumann 2, 620ff). Eine kirchliche Aufgabe für diese Malerei fehlte, aber es hätte sie wegen deren Subjektivität wohl auch nicht geben können. 3.3. Die seit dem 15. Jh. entstandene neuzeitliche Kunsttheorie ist klassizistisch. Sie benutzt die Begriffe der antiken Kunstthcoric, Poetik und Rhetorik. Mit christlichen Vorstellungen waren diese Kategorien durchaus vereinbar. Vor allem der Vergleich des künstlerischen Schaffens mit dem Schaffen Gottes läßt sich auf die platonisierende Schöpfungslehre der alten Kirche zurückführen. Die fortschreitende Loslösung des europäischen Denkens von der christlichen Tradition führt freilich dazu, daß diese auch in der Kunsttheorie immer mehr zurücktritt. Die christliche Kunst wird nur noch nach dem Maß, in dem sie klassische Ideale verwirklicht, beurteilt. Die Betonung der Subjektivität des Künstlers (Genie) und der Autonomie des Ästhetischen im 18. Jh. treibt diesen Prozeß weiter. Ein von der Antike übernommener Grundgedanke des christlichen Kunstverständnisses war die Parallelisierung von Bild und Wort. Sie begründet den Gedanken der Biblia pauperum und ermöglicht der lutherischen Reformation, das Bild als „rhetorische" Veranschaulichung des biblischen Wortes festzuhalten. Zugleich verbindet dieses Bildverständnis die Theologie mit der allgemeinen Kunsttheorie, weil diese bis ins 18. Jh. die bildende Kunst ebenfalls von der Analogie der Dichtung und Rede her deutet. Die Erkenntnis der Eigenständigkeit der bildenden Kunst und ihrer Ausdrucksweise führt zur Preisgabe des Prinzips Ut pictura poesis. Damit verliert die Kirche die fundamentale Begründung ihres Bildgebrauchs. Auch wenn sie weiter an der illustrativen Funktion der bildenden Kunst festzuhalten sucht, stellt sich das Problem ihrer Beziehung zu einer „emanzipierten" Kunst doch neu. -»Lessings Laokoon (1766), in dem der Unterschied zwischen Dichtung und bildender Kunst scharf herausgearbeitet und der Name Kunstwerk nur „denjenigen" Schöpfungen beigelegt wird, „in welchen sich der Künstler wirklich als Künstler zeigen können, bey welchen die Schönheit seine erste und letzte Absicht gewesen" (66 f), bezeichnet den Wendepunkt. Quellen Johann Valentin Andreae, Christianopolis. Hg. v. Richard van Dülmen, 1972 (QFWKG 4). Leon Battista Alberti, L* Architettura (De Re Acdificatoria). Ed. Giovanni Orlandi, 2 Bde., Mailand 1966. - Ders., Deila Pittura: ders., Kleinere kunsttheoretische Sehr. Hg. v. Hubert Janitschek, Wien 1877, 4 5 - 1 6 3 . - Antoninus Archiepiscopus Florentinus, Summa Theologica, I—IV, Verona 1740 = Graz 1959. - Aristoteles, De anima. Ed. W. David Ross, 1956 (OCT). - Ders., Über die Seele. Übers, v. Willy Theiler, Darmstadt 1959 3 1968 = 6 1983 (Aristoteles, Werke in dt. Übers. 13). Athanasius, Contra Gentes. De Incarnatione. Ed. Robert W. Thomson, 1971 (OECT). - Robertus Bellarminus, Op. Omnia, 12 Bde., Paris 1 8 7 0 - 1 8 7 4 = Neudr. Frankfurt 1965. - Carlo Borromeo, Instructions fabricae et supellectilis ecclesiasticae: Trattati d'arte (s.u.) III, 1 - 1 1 3 . - Konrad Braun (Brunus),De imaginibus, Mainz 1 5 4 8 . - J o h a n n e s Brenz, Supplication an Herzog Ulrich v. Württemberg der Bilder halb: Theodor Presse!, Anecdota Brentiana. Ungedr. Briefe u. Bedenken, Tübingen 1868, 1 9 2 - 1 9 6 . - Martin Bucer, Op. omnia. Ser. I. Dt. Sehr., Gütersloh/Paris, III 1969, IV 1975. -

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Kunst und Religion VII

1 9 8 3 , I , 5 3 1 - 5 4 8 ; II, 9 0 5 - 9 1 6 . - R o n a l d M . Steinberg, Fra G i r o l a m o S a v o n a r o l a , Florentine A r t and R e n a i s s a n c e Historiography, Athens, O h i o 1 9 7 7 . - H e r m a n n Steinlein, Luthers Anlage zur Bildhaftigkeit: L u J 2 2 (1940) 9 - 4 5 . - M a r g a r e t e S t i r m , Die Bilderfrage in der R e f o r m a t i o n , 1977 ( Q F R G 4 5 ) . - Konrad S t o c k , Annihilatio M u n d i . J o h a n n G e r h a r d s E s c h a t o l o g i e der Welt, 1971 ( F G L P 1 0 . R . 4 2 ) . - R o y S t r o n g , T h e English I c o n . Elizabethan and J a c o b e a n Portraiture, L o n d o n / N e w York 1 9 6 9 . Ders., Portraits o f Q u e e n Elizabeth I, O x f o r d 1963. - David S u m m e r s , T h e J u d g m e n t o f Sense. R e n a i s s a n c e Naturalism and t h e Rise o f Aesthetics, C a m b r i d g e 1 9 8 7 . - Ders., M i c h e l a n g e l o and the Language o f Art, Princeton, N . J . 1 9 8 1 . - J o h n S u m m e r s o n , Architecture in Britain 1 5 3 0 - 1 8 3 0 , H a r m o n d s w o r t h 1953 7 1 9 8 3 = 1986 ( T h e Pelican History o f Art). - Wladyslaw T a t a r k i e w i c z , H i storia Estetyki, III Estetyka n o w o c z e s n a , W a r s c h a u 1967; dt.: G e s c h . der Ästhetik, III Die Ästhetik der Neuzeit, Basel/Stuttgart 1987. - R e n é T a v e n e a u x , Le C a t h o l i c i s m e dans la F r a n c e classique ( 1 6 1 0 - 1 7 1 5 ) , 2 Bde., Paris 1 9 8 0 . - C h a r l e s de T o l n a y , M i c h e l a n g e l o , Princeton, N . J . , 1 1 9 4 3 2 1 9 4 7 , Il 1945 2 1 9 4 9 , III 1948, IV 1954, V 1960. - D e r s . , Werk u. Weltbild des M i c h e l a n g e l o , 1949 (AIVi N S 8). - Christian T ü m p e l , Die R e f o r m a t i o n u. die Kunst der Niederlande: Luther u. die Folgen ( s . o . ) , 3 0 9 - 3 2 1 . - Ders., R e m b r a n d t . M y t h o s u. M e t h o d e . M i t Beitr. v. Astrid T ü m p e l , Königstein i . T s . 1986. - Ernst Ullmann, Die Luther-Bildnisse L u k a s C r a n a c h s d . Ä . : M a r t i n Luther. L e b e n - W e r k W i r k u n g , Berlin 1983 2 1 9 8 6 , 4 5 - 5 2 . - D e r s . , M a r t i n Luther u. die Kunst der R e f o r m a t i o n : M a r t i n Luther. Leistung u. Erbe, Berlin 1986, 1 0 8 - 1 1 5 . - Ders., Von der M a c h t der Bilder - Kunst u. R e f o r m a t i o n , 1985 (SSAW. P H 1 2 6 / 2 ) . - 4 5 0 J a h r e Berner R e f o r m a t i o n . Beitr. zur G e s c h . der Berner R e f o r m a t i o n u. zu Nikiaus M a n u e l , Bern 1980. - Von der M a c h t der Bilder. Beitr. des C . I . H . A . Kolloquiums „ K u n s t u. R e f o r m a t i o n " . H g . v. Ernst U l l m a n n , Leipzig 1983. - Lee Palmer Wandel, T h e R e f o r m o f the Images. N e w Visualizations o f the Christian C o m m u n i t y at Z ü r i c h : A R G 8 0 (1989) 1 0 5 - 1 2 4 . - M a r t i n W a r n k e , C r a n a c h s L u t h e r , F r a n k f u r t / M . 1984. - Werner Weisbach, D a s B a r o c k als Kunst der G e g e n r e f o r m a t i o n , Berlin 1921. - Ders., G e g e n r e f o r m a t i o n - M a n i e r i s m u s B a r o c k : R K W 4 9 (1928) 1 6 - 2 8 . - M a n f r e d E. Welti, Kleine G e s c h . der ital. R e f o r m a t i o n , 1985 ( S V R G 193) (Lit.). - Léon Wencelius, L ' esthétique de Calvin, Paris 1937. - M a r g a r e t W h i n n e y , Sculpture in Britain 1530 to 1830, H a r m o n d s w o r t h 1964 ( T h e Pelican History o f Art). - R o b e r t W h i t i n g , A b o m i n a b l e Idols. Images and Image-breaking under Henry V i l i : J E H 3 3 (1982) 3 0 - 4 7 . Gerlinde Wiederanders, Albrecht D ü r e r s theol. Anschauungen, Berlin 1976. - R u d o l f W i t t k o w e r , Architectural Principles in the Age o f H u m a n i s m , L o n d o n 1949 3 1 9 6 2 ; d t . : Grundlagen der Architektur im Zeitalter des H u m a n i s m u s , M ü n c h e n 1969. - D e r s . / M a r g o t W i t t k o w e r , Born under S a t u r n , L o n d o n 1963; dt.: K ü n s t l e r - Außenseiter der Gesellschaft, Stuttgart 1965. - R a i n e r Wohlfeil, Luth. Bildtheol.: M a r t i n Luther. P r o b l e m e seiner Z e i t . H g . v. Volker Press/Dieter Stievermann, Stuttgart 1986 ( S p ä t M A u. Frühe Neuzeit 16), 2 8 2 - 2 9 3 . - H e r b e r t Zschellctzschky, Die „drei gottlosen M a l e r " v. Nürnberg, Leipzig 1 9 7 5 .

Gerhard May

VII. Vom Ausgang des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts 1. D e r veränderte Kunst- und Religionsbegriff am Beginn der M o d e r n e 2. Ende der Aufklärung, Klassik und F r ü h r o m a n t i k 3 . Kunstströmungen des 19. J h . 4 . Probleme der Interpretation des 19. J h . (Quellen/Literatur S. 3 0 4 )

1. Der veränderte

Kunst- und Religionsbegriff

am Beginn der

Moderne

Um Konfliktfclder und Konvergenzen zwischen Kunst und Religion zu verstehen, sind an der Schwelle der M o d e r n e nicht nur Kunsttheorien — z . B . A . G . Baumgarten ( 1 7 1 4 - 1 7 6 2 ) , I. - » K a n t , J . G . - » H a m a n n oder J . G . - » H e r d e r - darzustellen, sondern auch die kulturellen Veränderungen religiöser Praxis zu berücksichtigen, z . B . der A b b r u c h von Bild- und M u s i k - T r a d i t i o n e n und der Aufbruch einer von den Kirchen emanzipierten Kultur etwa klassischer und romantischer Dichtung. D e r U m b r u c h betrifft die Symbolik der Kunst, ihre Bedeutungskonstitution und ihre Differenzierung in unterschiedliche Gebiete.

1.1. Überkommene Symbolik, die noch im wesentlichen mittelalterliches Welt- und Menschenbild perpetuierte, geriet in dem Augenblick an ihr Ende, in dem Vorstellungen etwa des absolutistischen Gottvaters, der Drohung vor dem Jüngsten Gericht oder des Christus als alleiniger Welterlöser abdankten. In seiner Schrift Wie die Alten den Tod gebildet (1769) begrub G. E. -*Lessing den darin überkommenen Dualismus und empfahl ethisch überzeugendere Motive aus biblischen und anderen antiken Schriften (z. B. das eschatologische Motiv des Schlafes nach I Thess 4,14). Skulpturen sollten Ausdruck

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Kunst und Religion VII

1 9 8 3 , I , 5 3 1 - 5 4 8 ; II, 9 0 5 - 9 1 6 . - R o n a l d M . Steinberg, Fra G i r o l a m o S a v o n a r o l a , Florentine A r t and R e n a i s s a n c e Historiography, Athens, O h i o 1 9 7 7 . - H e r m a n n Steinlein, Luthers Anlage zur Bildhaftigkeit: L u J 2 2 (1940) 9 - 4 5 . - M a r g a r e t e S t i r m , Die Bilderfrage in der R e f o r m a t i o n , 1977 ( Q F R G 4 5 ) . - Konrad S t o c k , Annihilatio M u n d i . J o h a n n G e r h a r d s E s c h a t o l o g i e der Welt, 1971 ( F G L P 1 0 . R . 4 2 ) . - R o y S t r o n g , T h e English I c o n . Elizabethan and J a c o b e a n Portraiture, L o n d o n / N e w York 1 9 6 9 . Ders., Portraits o f Q u e e n Elizabeth I, O x f o r d 1963. - David S u m m e r s , T h e J u d g m e n t o f Sense. R e n a i s s a n c e Naturalism and t h e Rise o f Aesthetics, C a m b r i d g e 1 9 8 7 . - Ders., M i c h e l a n g e l o and the Language o f Art, Princeton, N . J . 1 9 8 1 . - J o h n S u m m e r s o n , Architecture in Britain 1 5 3 0 - 1 8 3 0 , H a r m o n d s w o r t h 1953 7 1 9 8 3 = 1986 ( T h e Pelican History o f Art). - Wladyslaw T a t a r k i e w i c z , H i storia Estetyki, III Estetyka n o w o c z e s n a , W a r s c h a u 1967; dt.: G e s c h . der Ästhetik, III Die Ästhetik der Neuzeit, Basel/Stuttgart 1987. - R e n é T a v e n e a u x , Le C a t h o l i c i s m e dans la F r a n c e classique ( 1 6 1 0 - 1 7 1 5 ) , 2 Bde., Paris 1 9 8 0 . - C h a r l e s de T o l n a y , M i c h e l a n g e l o , Princeton, N . J . , 1 1 9 4 3 2 1 9 4 7 , Il 1945 2 1 9 4 9 , III 1948, IV 1954, V 1960. - D e r s . , Werk u. Weltbild des M i c h e l a n g e l o , 1949 (AIVi N S 8). - Christian T ü m p e l , Die R e f o r m a t i o n u. die Kunst der Niederlande: Luther u. die Folgen ( s . o . ) , 3 0 9 - 3 2 1 . - Ders., R e m b r a n d t . M y t h o s u. M e t h o d e . M i t Beitr. v. Astrid T ü m p e l , Königstein i . T s . 1986. - Ernst Ullmann, Die Luther-Bildnisse L u k a s C r a n a c h s d . Ä . : M a r t i n Luther. L e b e n - W e r k W i r k u n g , Berlin 1983 2 1 9 8 6 , 4 5 - 5 2 . - D e r s . , M a r t i n Luther u. die Kunst der R e f o r m a t i o n : M a r t i n Luther. Leistung u. Erbe, Berlin 1986, 1 0 8 - 1 1 5 . - Ders., Von der M a c h t der Bilder - Kunst u. R e f o r m a t i o n , 1985 (SSAW. P H 1 2 6 / 2 ) . - 4 5 0 J a h r e Berner R e f o r m a t i o n . Beitr. zur G e s c h . der Berner R e f o r m a t i o n u. zu Nikiaus M a n u e l , Bern 1980. - Von der M a c h t der Bilder. Beitr. des C . I . H . A . Kolloquiums „ K u n s t u. R e f o r m a t i o n " . H g . v. Ernst U l l m a n n , Leipzig 1983. - Lee Palmer Wandel, T h e R e f o r m o f the Images. N e w Visualizations o f the Christian C o m m u n i t y at Z ü r i c h : A R G 8 0 (1989) 1 0 5 - 1 2 4 . - M a r t i n W a r n k e , C r a n a c h s L u t h e r , F r a n k f u r t / M . 1984. - Werner Weisbach, D a s B a r o c k als Kunst der G e g e n r e f o r m a t i o n , Berlin 1921. - Ders., G e g e n r e f o r m a t i o n - M a n i e r i s m u s B a r o c k : R K W 4 9 (1928) 1 6 - 2 8 . - M a n f r e d E. Welti, Kleine G e s c h . der ital. R e f o r m a t i o n , 1985 ( S V R G 193) (Lit.). - Léon Wencelius, L ' esthétique de Calvin, Paris 1937. - M a r g a r e t W h i n n e y , Sculpture in Britain 1530 to 1830, H a r m o n d s w o r t h 1964 ( T h e Pelican History o f Art). - R o b e r t W h i t i n g , A b o m i n a b l e Idols. Images and Image-breaking under Henry V i l i : J E H 3 3 (1982) 3 0 - 4 7 . Gerlinde Wiederanders, Albrecht D ü r e r s theol. Anschauungen, Berlin 1976. - R u d o l f W i t t k o w e r , Architectural Principles in the Age o f H u m a n i s m , L o n d o n 1949 3 1 9 6 2 ; d t . : Grundlagen der Architektur im Zeitalter des H u m a n i s m u s , M ü n c h e n 1969. - D e r s . / M a r g o t W i t t k o w e r , Born under S a t u r n , L o n d o n 1963; dt.: K ü n s t l e r - Außenseiter der Gesellschaft, Stuttgart 1965. - R a i n e r Wohlfeil, Luth. Bildtheol.: M a r t i n Luther. P r o b l e m e seiner Z e i t . H g . v. Volker Press/Dieter Stievermann, Stuttgart 1986 ( S p ä t M A u. Frühe Neuzeit 16), 2 8 2 - 2 9 3 . - H e r b e r t Zschellctzschky, Die „drei gottlosen M a l e r " v. Nürnberg, Leipzig 1 9 7 5 .

Gerhard May

VII. Vom Ausgang des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts 1. D e r veränderte Kunst- und Religionsbegriff am Beginn der M o d e r n e 2. Ende der Aufklärung, Klassik und F r ü h r o m a n t i k 3 . Kunstströmungen des 19. J h . 4 . Probleme der Interpretation des 19. J h . (Quellen/Literatur S. 3 0 4 )

1. Der veränderte

Kunst- und Religionsbegriff

am Beginn der

Moderne

Um Konfliktfclder und Konvergenzen zwischen Kunst und Religion zu verstehen, sind an der Schwelle der M o d e r n e nicht nur Kunsttheorien — z . B . A . G . Baumgarten ( 1 7 1 4 - 1 7 6 2 ) , I. - » K a n t , J . G . - » H a m a n n oder J . G . - » H e r d e r - darzustellen, sondern auch die kulturellen Veränderungen religiöser Praxis zu berücksichtigen, z . B . der A b b r u c h von Bild- und M u s i k - T r a d i t i o n e n und der Aufbruch einer von den Kirchen emanzipierten Kultur etwa klassischer und romantischer Dichtung. D e r U m b r u c h betrifft die Symbolik der Kunst, ihre Bedeutungskonstitution und ihre Differenzierung in unterschiedliche Gebiete.

1.1. Überkommene Symbolik, die noch im wesentlichen mittelalterliches Welt- und Menschenbild perpetuierte, geriet in dem Augenblick an ihr Ende, in dem Vorstellungen etwa des absolutistischen Gottvaters, der Drohung vor dem Jüngsten Gericht oder des Christus als alleiniger Welterlöser abdankten. In seiner Schrift Wie die Alten den Tod gebildet (1769) begrub G. E. -*Lessing den darin überkommenen Dualismus und empfahl ethisch überzeugendere Motive aus biblischen und anderen antiken Schriften (z. B. das eschatologische Motiv des Schlafes nach I Thess 4,14). Skulpturen sollten Ausdruck

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seelischer Eigenschaft sein (J. J. Winckelmann). „ K u n s t " ergab sich nicht mehr aus der unbesehenen Selbstauslegung christlicher Traditionen, sie w u r d e erzwungen durch die R ü c k f r a g e nach seelischen Erfahrungen des Heiligen, des Erhabenen, der Schönheit und schließlich der Wahrheit. In dem M a ß e , in dem sich Motive nicht mehr konfessionell rechtfertigen ließen und Religion ethisch zur Disposition stand, w u r d e auch die Ebene üblicher M y t h e n problematisch. Selbst das antike Ideal genügte als M y t h o s nicht mehr. Deshalb hat man behauptet, die Kunst habe ihre „Entlastung vom Weltgericht" kompensiert durch eine „Ästhetisierung", die profane Gestalt dessen, „ w a s christlich die göttliche G n a d e w a r " (O. M a r q u a r d 13). Nicht mehr suchte das religiöse System Künstler, sondern diese begannen, ihre M y t h e n zu kreieren, ein grundsätzlich modernes Phänomen. 1.2. Die theologische Bedeutungskonstitution der Kunst blieb solange unangefochten, wie das kunstvolle Herstellen eines Werks selbstredendes Paradigma f ü r das Verhältnis zwischen weltlicher und göttlicher Wirklichkeit blieb. Dies galt f ü r jedes sachgerecht hergestellte Werk im Sinne der -*artes liberales und der artes mechanicae. Sobald sich jedoch die Diskussionen um die Höchstleistungen menschlicher Kunst — voran Musik und Rede - in Problemen des bloßen Geschmacksurteils verflüchtigten, versuchte A. G. Baumgarten,die Kunst der Unverbindlichkeit bloßer Geschmacksurteile durch eine eigenständige veritas aesthetica (§424) zu entziehen. Gegenüber dem französischen —»Rationalismus b z w . dem englischen -»Sensualismus galt es, die Vernünftigkeit bzw. Irrationalität des reflexiven Geschmacksurteils zu ergründen: die philosophisch bestimmende Frage des ausgehenden 18. Jh. Die Suche nach einer universellen Bedeutung der Kunst sollte somit die seit -»-Leibniz aufgeworfene Frage nach der universellen Bedeutung von Religion ergänzen: Dieser hatte schon darauf hingewiesen, d a ß die Kunst im Z u s a m m e n w i r k e n mehrerer d a s Einzelne und Universelle verknüpfender Geisteskräfte entstehe. Doch die Frage nach dem sensus communis verdichtet sich am Ende des J a h r h u n d e r t s in Fragen nach der in jedem einzelnen Subjekt liegenden Wahrnehmungs- und Kombinationsfähigkeit, seinen sehr individuellen schöpferischen Kräften. Denn nachdem I. -»Kant die Aufklärungsmetaphysik und ihren Führungsanspruch durch die mathematischen Naturwissenschaften problematisiert hatte, wird, zumal vor dem Hintergrund der -•Französischen Revolution, die Frage nach einem interessefreien Interesse, d . h . der vernünftigen N a t u r des einzelnen Menschen, aktuell. In seinem berühmten §59 der Kritik der Urteilskraft legte Kant dar, d a ß die in der Kunst wirksamen Sinne nicht als M a c h t der Verwirklichung, sondern als „ M a c h t der Symbolisierung des Vernunftziels" angesehen werden (V, 428). Kunstkritik und Ästhetik wollen - spätestens seit Kant - nicht nur die Kunst, sondern mit der Kunst den Menschen und die Welt verstehen. Sie wird damit bis heute zur „diensthabenden Fundamentalphilosophie" (O. M a r q u a r d 21), konkurrierend mit der Theologie. Kunst steht zunehmend f ü r die Fähigkeit, das Selbst- und Wirklichkeitsverständnis der Subjektivität aufzubauen. O b und wie ihr das gelingt, ist im folgenden zu untersuchen. 1.3. Die Wirkung der Kunst in den Kunstwerken spaltete sich - ein Schicksal von Aufklärungszeiten - in unterschiedliche Lebens- und Kunstbereiche auf. Als schließlich das liturgische D r a m a zum Rede- und Oratoriengenuß verkam, w a r es das weltliche D r a m a , d e m sich das Interesse an praktischer Erbauung und theoretischer Erklärung zuwandte. Hieran entzündeten sich die metaphysischen Fragen, aber auch die nach der inneren Einheit und den ästhetischen Genera. Wollte man alle Künste, Architektur, M u sik, Rede, bildende Kunst und Literatur untereinander kompatibel machen, dann mußten die erkenntnistheoretischen Grundlagen nicht nur im consensus ordinis, sondern auch im consensus signorum gesucht und begründet werden (A.G. Baumgarten §19). In dem M a ß e allerdings, in dem die Zeichen nicht mehr als Ereignisse und also die Kunst nicht mehr als Tun verstanden wurden, verengte sich der Kunstbegriff auf Kunstwerke unterschiedlicher Sparten, Qualitäten und ideologischer Begründungen. Die einst f r o m m e n

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Kunst und Religion VII

guten W e r k e retteten sich a u f d e m T e r r a i n des P r o t e s t a n t i s m u s als K u n s t w e r k e des „ S c h ö n e n " , deren Stifter S p o n s o r e n und deren T e m p e l M u s e e n werden. In d e m M a ß e , in dem die F u n k t i o n ä r e einer v e r k o m m e n e n Religion den Künstlern die T ü r wiesen - n o c h Philipp O t t o R u n g e und M e n d e l s s o h n - B a r t h o l d y suchten dort die „Vereinigung der K ü n s t e " —, m u ß t e n selbsternannte Religionsstifter das G e s a m t k u n s t w e r k anstreben ( R i c h a r d W a g n e r und die Ideologien des 2 0 . J h . ) . D e r „ s t a r k e und s c h ö n e M e n s c h " wird z . B . als g e m e i n s a m e s Ziel und K u n s t p r o d u k t der „sozialen B e w e g u n g " von R i c h a r d W a g n e r gefordert ( R . W a g n e r , G A , III 4 1 9 0 7 , 3 2 ) . H a t a l s o die T r e n n u n g von Kunst und Religion eine Instrumentalisierung beider im Interesse vordergründiger Z w e c k e zur F o l g e ? 2. Ende

der Aufklärung,

Klassik

und

Frühromantik

2.1. D a s Ende der Aufklärung. D i e radikale A b k e h r von den „alten M u s t e r n " (F. Schiller, Briefe) und die „ S u b j e k t i v i e r u n g der Ä s t h e t i k " ( H . - G . G a d a m e r 3 9 f f ) wurden zum Signet emanzipierter K u n s t ü b u n g und K u n s t t h e o r i e n . D i e alten Protagonisten d e r Künste, die Kanzelredner, b e m e r k t e n diesen Wechsel lange Z e i t nicht, zumal m a n d e r Predigt zugestand, d a ß sie die „edelsten Empfindungen des H e r z e n s " wecken k ö n n e , u m den M e n s c h e n „ A n t e i l an V o l l k o m m e n h e i t und Glückseligkeit zu g ö n n e n " . Schließlich hatte nicht der D o g m a t i k e r , sondern der D i c h t e r seine Kunst zu rechtfertigen: In der A b h a n d l u n g Von der heiligen Poesie (1756) reflektiert —»Klopstock die Bedingungen für das D i c h t e n „ i n der R e l i g i o n " „ n a c h poetischer D e n k u n g s a r t " . Diese sei legitim, solange nur die Bedingungen für das Dichten „ v o n M a t e r i e n der R e l i g i o n " beherzigt w e r d e n : „ D i e s e Bedingungen werden . . . von d e m inneren Plane der Religion b e s t i m m t " ( 3 0 2 . 3 0 8 ) . A b e r selbst K l o p s t o c k m u ß sich verteidigen: E r lege keine klassisch-antike M y t h o l o g i e , sondern die christliche zugrunde. D a s T e r r a i n der S p r a c h e diente - » H a m a n n und H e r d e r zur Legitimierung allgemeiner T h e o r i e n zur Ästhetik. J . G . Hamann geht von der Defensive in die Offensive: Seine Aesthetica in nuce von 1761 (11,195-217), die erste und vielleicht auch die bislang letzte theologische Ästhetik, eine ironische Streitschrift gegen die rationale Bibelexegese wie gegen die spekulative Geschichtsdeutung der Aufklärung, präsentiert sich in Stil („Rapsodie in kabbalistischer Prose") und Inhalt als Kontrast zu schulphilosophischen Abhandlungen. Der Poet ist ihm das vollkommenste Exemplar des Schöpfers, die Poesie „die Muttersprache des menschlichen Geschlechts" (11,197): Der Theologe muß wie jeder Mythologe die „Semiose" der inkarnatorischen Prozesse kennen, wenn er über seine eignen Symbole hinaus begreifen will, wie sich Symbole der Kultur in ihrer Bedeutung konstituieren. Denn in ihnen allen, auch jenseits kirchlicher Lehre, findet sich die Grammatik der heiligen Schrift (11,205.209. vgl. 147.150). Die Sprache, in der sich Laute und Bezeichnungen verbinden, löst ein „ästhetisches und logisches Vermögen" (111,288). Sowohl der Autor einer Rede bzw. Schrift wie der Hörer bzw. Leser erschaffen sich jeweils neue künstliche Sinnesapparate, um wirkliche Gegenstände zu bestimmten Begriffen und wiederum diese Begriffe zu sinnlichen Anschauungen durch abstrakte Zeichen zu verwandeln (111,284-28). Deshalb muß auch Sprache mit Bildern operieren,ohne die die Sinne und Leidenschaften nichts verstünden: Aus Bildern besteht „der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit" (11,197). Schon in den Ideen, die zu Zcichcn werden, baut sich der Autor das Bild und den Leib des Lesers - woraus folgt, daß Schöpfungsrede im Ursprung immer schon von einer ganz bestimmten „Muttersprache" kodiert ist. So gleichursprünglich göttliche und menschliche Rede auch sein mögen, sie bedürfen christologischer Interpretation (11,213). J . G . -»Herder systematisiert Hamanns Samenkörner im Sinne einer trinitarischen Methodologie. In jedem Kunstwerk - z.B. in der poetischen Ökonomie - finden sich Entsprechungen der Genesis des Kosmos, auch im Blick auf die heilige Stimme Gottes. Sein Geist ist „Weg" im Kombinationswerk der Zeichen; die Mimesis der Gottheit ermöglicht exemplarische Ideale, indem der Mensch sich die Schöpfung nicht nur einverleibt, sondern auch „mit einem Plan der Vollkommenheit in seiner Seele" zu verändern und umzuordnen versteht (SW VII, 42; vgl. 6.152 f; 215; 28ff.76 u.ö.). Da jedoch alles, was wir von Gottes Schöpfung wissen, eingegangen ist in Abbreviaturen des geschichtlichen Lebens, liegt die grundlegende Kunst in den symbolischen Handlungen der Religion, z.B. in Taufe und Abendmahl. Es sind Zeichenhandlungen ihrer ursprünglichen Kraft, die „durch sie selbst sprechen" (XVI1I,255). Vielseitig deutbar, schützt die rituelle Wiederholung die Ursprungshandlung vor Verkehrung durch Lehrmeinungen ( a . a . O . 242): Die Kunst der Hermeneutik hat

Kunst und Religion VII

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deshalb darauf zu achten, daß nicht sekundäre und tertiäre Symbolisationen die Symbolisation des Erfinders, seine „authentische Erklärung" und „die Seele der Handlung", d.h. die begleitenden Umstände verdecken (a. a. O. 255). Schon die ältesten Urkunden des Menschengeschlechts enthalten Grundfiguren, d.h. poetische Schemata des geschichtlichen Lebens (SW VI,337). Sprachen illustrieren nicht Ideen, sondern verkörpern im Sprechen als Bilder und davon abstrahierte erste Zeichen die ursprüngliche Situation. Die Hermeneutik hat deshalb auf die Trinität dreier Regelklassen zu achten: die „großen Regeln unsrer Natur", die gleichsam ästhetische Syntax ursprünglicher Situationen, die „höchste Regel", das Gefühl des Zusammenhangs als Ganzes in unsrem Selbstbewußtsein und schließlich die „innigste Regel" der Religion, welche aus der „sich verstärkenden Gemeinschaft" ihre Wirkung beziehe (Sämtl. Sehr. XVIII,238), zusammengenommen die Trias syntaktischer, semantischer und pragmatischer Handlungsprinzipien, in denen sich die drei eingangs genannten Begriffe der Kunst in einem systemkritischen Organon neu konstituieren. Obwohl Herder wie kaum ein anderer den Umbruch zur -»Sturm- und Drang-Epoche ermöglichte und langfristig die europäische Sprachtheorie beeinflußte, ist seine theologische Ästhetik bislang wenig beachtet worden. 2 . 2 . Die deutsche -* Klassik übte den wohl stärksten Einfluß auf das innerkirchliche Kunstverständnis des 19. und auch 2 0 . J h . aus, voran durch ihre Protagonisten Friedrich -•Schiller und J o h a n n W. - » G o e t h e . Beide, fixiert auf die „ A b s a g e " an „den christlichen G o t t der Schöpfung und des G e r i c h t s " (so G. R o h r m o s e r 5 5 8 ) , bauen nur die von H e r d e r bearbeitete syntaktische Dimension als ästhetische aus, was denn auch beide zu einer ungeschichtlichen Naturmystik führt, Anlaß zu dem noch heute in kirchlichen Kreisen üblichen Vorurteil, Kunst sei unverbindlich. Schiller fragt nach der „inneren F o r m " (—»Shaftcsbury) der letzten Gesetze und Kräfte des Seins, insbesondere in den Philosophischen Briefen. Die Natur ist das Instrument, durch das sich der Dichter mit dem Unendlichen bespricht, doch das vollendete Werk ist das Universum der Kunst, der ideale Zusammenfall zwischen Form und Inhalt, Wahrheit und Schönheit (Brief an Goethe vom 7.7.1797), in dem sich das reine Ich über das empirische erhebt. So treibt Schiller im Sinne von Fichte die Theologie auf gnostische Höhen, denn die Idealität wird nicht im Subjekt, sondern vom Subjekt bewirkt („Nehmt die Gottheit auf in Euren Willen. Und sie steigt von ihrem Weltenthron": Über das Erhabene). Das in sich ruhende Ganze („Harmonie, Wahrheit, Ordnung, Schönheit, Vortrefflichkeit": Über die ästhetische Erziehung), der Kernbegriff der Klassik, interpretiert nicht Mythen, sondern schafft sie. Wohl reflektiert Schiller über den Wirkungszusammenhang des Ästhetischen als einem mittleren Zustand im Übergang vom Leiden der Affekte zum Tätigsein des Denkens und Wollens, doch dieser Baustein im „Dritten fröhlichen Reich des Spiels und des Scheins" befreit von den Fesseln „aller Verhältnisse" (ebd. 27. Brief); jenseits vom dynamischen Staat der Rechte und vom ethischen Staat der Pflichten, malt Schiller den „ästhetischen" Staat, der „nur als Gestalt" erscheine, Objekt des freien Spiels, dessen Grundgesetz heißt: „Freiheit zu geben durch Freiheit" (ebd.). Seine berühmte Formel, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele (22. Brief), dokumentiert also eine ontologische, den mystischen Augenblick überhöhende Grundannahme, die das Subjekt zu welthafter Ganzheit, d.h. zur Totalität erweitert. Schillers Ideale sind somit mehr als ein bloß poetischer Hyperbolismus. Auch Goethe, der von nicht zu überschätzender Bedeutung für das deutsche Bildungsbürgertum bis heute geblieben ist, sieht in der Kunst den Mikrokosmos der Empfindung des Subjekts objektiviert. Doch der schöpferische Mensch, der das Ganze will, indem die Form den Stoff verschlingt, entzieht sich nie der Dialektik von Gestalt und Gehalt. Die Suche nach dem reinen Inhalt gewährt uns die Natur als eine immer schon strukturierte. Sic kommt sich selbst zum Bewußtsein in dem großen Menschen, der denkt und empfindet, was zu allen Zeiten gilt: im Genie, dem ästhetischen und religiösen Urbild der Kunst. Kunst ist unausweichlich, weil das Dargestellte nur über das Symbol zur Darstellung gelangt: Deshalb ist es das Besondere, das das Allgemeine repräsentiert. Das Symbol „nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen" (Kunst im Altertum, 1826; Reflexion Nr. 752,1824). Das „Symbol" ist kein die Interpretation auslösender und die Hermeneutik aufrufender Begriff wie bei Herder, sondern „es hilft, Ordnung zu schaffen, zu integrieren, was schon längst nicht mehr zu integrieren ist" (M. Titzmann, 1978, 661 f): Das Genie bestimmt, wie die Welt als einheitliche Ordnung zu denken sei. Auch der theologische Begriff des Urbildes verliert damit seinen Sinn für das Formproblcm, weil er ja als dessen Lösung gedacht werden soll (W. Benjamin, 1973, 112). Indem Kunstphänomene, bald gespeichert in Symbollexika, die Welt in Ordnungen verorten, wird das Weltbild der „ K l a s s i k e r " zur ästhetischen Berufungsinstanz einer der Kunst sich entfremdenden Kirche.

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2.3. Die Frühromantik setzt ihren demokratischen Realismus dem aristokratischen Idealismus der Klassik schroff entgegen: „Jedes Gedicht, jedes Werk soll das Ganze bedeuten, wirklich und in der Tat bedeuten und durch die Bedeutung... auch wirklich und in der Tat sein" (Friedrich Schlegel, Jugendschr. 428). Der semantisch vertiefte und praktisch erweiterte Kunstbegriff verliert damit nicht an Schärfe. Im Gegenteil: Das Werk, in seiner Gesetzmäßigkeit Produkt eines Augenblicks, untersteht jenseits dieses Geburtsmoments dem Zugriff der Interpretation. „Kunst" ist nicht das System einer allgemeinen Einheit, sondern ein unendlicher Prozeß, in dem sich die Allheit aller Werke erfüllt. Die Idealität ist der Romantik nur Hilfskonstruktion gegenüber einer Realität, die sich durch je neue Ideen ihre Welten erschafft. So hat -»Novalis (Friedrich von Hardenberg) das Postulat Fichtes vom absoluten Ich als sinnlos widerlegt, da es für das reflektierende Bewußtsein eine Identität zwischen Natur und Geist nur in der symbolisierenden Differenz gebe. Besser als Fichte bestimmte er das Selbstbewußtsein als situative Differenzierung des reflektierenden Gefühls für das Unendliche im Übergang zur Reflexion. Damit wird der weite Kunstbegriff der artes liberales ästhetisch eingefangen: er hatte alles Tun in bezug auf die Realisierung von Ideen in einer bestimmten Situation zum Inhalt. Das vom organisierenden Sein des Individuums strukturierte Gefühl realisiert sich „durch den ewigen Mangel", als welches es das Absolute erfährt, als ein „Nur Seyn" (11,273), in dem also auch Handlungsprinzipien virtuell mitgesetzt sind. Denn der Trieb nach etwas wird im reinen Gefühl zur Reflexion als absolute Autonomie des Selbstbewußtseins. So verbürgt das Gefühl ein Dasein, das als Gefühl von etwas und für etwas die bestimmende Reflexion verobjektiviert. Diese ist somit ein „invers modifiziertes Gefühl" (P. Pfaff, 95 f). Dadurch wird ohne Identitätsphilosophie das differentielle Urverhältnis als „achtes Geheimnis" bewahrt: auf seifen der Religion als Geheimnis der Liebe, deren Schlüssel beim Sprachlehrer Jesus liegt (Joh 5,24), auf Seiten der Kunst im Geheimnis der Modulation von Differenzen. Der Geist, dessen die Poesie bedarf, ruft das wirkliche, eingedenk des Urverhältnisses, ins unendlich-endliche Wort. Poesie wird damit zur Darstellung des Gemüts, d . h . „der inneren Welt in ihrer Gesamtheit" (111,650). Die bildungspolitisch höchst wirksame, aber intellektuell dürftige Schrift von W.H. Wackenroder Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) zielt in eine die Spätromantik und Restauration bestimmende Richtung, die der des Novalis diametral entgegengesetzt ist: Wohl ist es die Kunst, die den durch die Aufklärung verdorbenen Wanderer hinüberzieht in die Erfahrung religiöser Erhabenheit, doch der religiöse Mythos überformt und durchdringt ästhetisch jede Selbsterfahrung. Die Frühromantik kennzeichnen Erschütterungen, welche dazu zwangen, auch die soziale Synthesis des Mythos, und das heißt der Religion, als Problem der Motivation von Kunst neu zu sichten. Die Legitimationskrise des Gemeinwesens war auch eine Legitimationskrise der Religion geworden, die aber nicht durch die berauschende Erfahrung des fränkischen Barock - so W. Wackenroder - ersetzt werden konnte. Das sog. Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, ein vielleicht von Hölderlin oder Schelling anonym abgefaßtes (vgl. R. Bubner) und noch unausgegorenes Thesenpapier (1795) forderte eine „neue Mythologie", die „im Dienste der Ideen stehen" müsse, nicht umgekehrt könne mehr die Kunst Dienerin religiöser Systeme sein. Die Idee, „die alle vereinigt", also der höchste Akt der Vernunft, sei ein „ästhetischer Akt", in dem sich die Wahrheit der theoretischen Vernunft und die Güte der praktischen Vernunft in der Schönheit verschwistern. Doch weder diese idealistische Apotheose noch die von Wackenroder oder späten Romantikern propagierte Kenose der Kunst gegenüber der Religion war im Sinne jenes revolutionären Aufbruchs eines Novalis, Tieck, Kleist u . a . Deren Spur nahm F.D.E. -»Schleiermacher auf. Seine Kunsttheorien, die sich nicht allein aus den Vorlesungen über die Ästhetik rekonstruieren lassen, sind die wohl differenziertesten und weitreichendsten der Epoche (vgl. H. Dierkes, Poesie). Er kritisierte nicht allein Kants Sprachvergessenheit, sondern entlarvt auch Fichtes und Schellings transzendentale Spekulation als „Poeterey"; die aphoristischen und inkonsistenten Gedanken seines Freundes Schlegel überholt er mit einer komplexen Semiologie philosophi-

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scher Ästhetik, Hermeneutik, Dialektik und Ethik. In letzterer definiert er das Verhältnis von Religion und Kunst so ( 1 8 1 2 / 1 3 : A W II,324f): „Wenn das Bild in der Phantasie in und mit seinem Heraustreten Kunst ist, und der Vernunftgehalt im Eigenthümlichen Erkennen Religion, so verhält sich Kunst zu Religion wie Sprache zum W i s s e n " . Somit fängt Schleiermacher den Diskurs über die neue Mythologie wissenschaftsethisch auf und verankert ihn in einer Neubegründung der Sprache. Kunst gilt ihm als das lebende System generierender Sprachparadigmen, d . h . verbaler und nonverbaler ( A W 11,99). Auf dieses sich permanent regenerierende „Bezeichnungssystem" Sprache m u ß sich alles Wissen zurückbeziehen. Greifbar jedoch für Denkoperationen sind immer nur Resultate (Schem a t a ) oder Präpositionen (Urbilder: D O 133 [Abkürzungen der einzelnen Werke s. Literaturverzeichnis S. 3 0 4 ] ) . So entgeht der Kunstbegriff identitätsphilosophischer Überhöhung, rückt aber zugleich auf zum Schlüssel sozialen Lebens. Kunst, gedacht „im Zustand reiner und voller Besinnung" will „nichts anderes sein als Darstellung", „reines Handeln" (Christi. Sitte 509). Denn es gilt, was seit jeher für die Kunst galt: es soll ein „gewisses Verhältnis der Regeln zur Aufgabe" gefunden werden (PT37). Als Wagnis des Tuns hat sie ein Allgemeines zum Bezeichnen bereitzustellen, zugleich aber das bloß Reproduzierbare zu überschreiten. Deshalb kommt dem Gefühl als dem „Träger aller anderen Funktionen" des Menschen (DO 286) die Aufgabe zu, gleichzeitig Erkenntnis und Eigentümlichkeit zum Zuge zu bringen (ÄO 46. 63 f). Im Unterschied zur wissenschaftlichen Funktion der Sprache sind Differenzen nicht nur oppositionell vergleichbar, sondern auch metasprachlich „verschiebbar" (AW 362). Nur das Gefühl für Ubergänge ermöglicht freie Kombination, ethische Voraussetzung einer Erlösungsreligion. Auch hier ist das Einzelne nur wahr, sofern es das Allgemeine des Produzierenden in sich trägt (ÄO 80), der Schlüssel ästhetischer Wahrheit. Der Kunstbegriff muß weit gefaßt werden, weil er ebenso die „Gebärdensprache" („Surrogate" intendierter Bedeutungen als Zeichen) wie auch die Tonsprache umfaßt; diese beruht „auf einem eigenen organischen System" ohne bestimmte Bedeutung (die Beziehung der Zeichen untereinander als Ton konstituieren Bedeutung: AW 305 f; PT 285). Symbole kommen aus kleinsten Ereignissen wie großen Tragödien: wo sich Sprache generiert und die Systeme je neu organisiert werden, bilden sich neue „Sprachkreise" (CS 5 8 - 6 1 ; DO 16ff). Symbolische Wirklichkeit basiert somit auf der „organisierenden Tätigkeit, welche Arbeit ist", zeigt sich als Kunst jedoch im darstellenden Handeln, genauerhin: in der gemeinsamen Darstellung „des gemeinsamen Interesses", dem Fest (ÄO 80; PT 839). Als das „erhöhte Bewußtsein" des sozialen Zusammenhangs begründet sie auch religiös-soziales Leben (CS 61; PT 71). Im Fest „lebt und webt . . . die gesamte Kunst des Volkes" (PT 839), ein unabschließbarer Zeichenvorgang. Da es aber keine Form des Bewußtseins gibt, „ die anders als mit ihrer Leiblichkeit zugleich hervortreten könnte" (SW III, 487), ist der Mensch nie nur Symbol, sondern immer auch „Organ des göttlichen Geistes" (CS 525), Ausdruck und Denkanstoß zugleich. Die Wirklichkeit eines lebendigen Kultus ist die Kunst eines unendlichen Interpretationsprozesses, der als mitteilende Darstellung und als darstellende Mitteilung jeden Beteiligten zur Ergänzung auffordert. „Die sich selbst gleiche Kirche" besteht aus der Kunst, situative Kristallisationen des Urmodells Taufe und Abendmahl in sprachlichen und sprachanalogen Ubergängen und Differenzen, Relationen und Oppositionen zuzulassen. Nur so kann der Mythos verbindlich werden, da er aus der Interpretation des zirkulierenden religiösen Bewußtseins lebt. „Die größte Kristallisation bedarf nur eines kleinsten, um daran anzuschließen; was von innen herausbricht von dieser Freude, das bedarf nur der geringsten Veranlassung, um sich in einer bestimmten Gestalt hinzustellen" (AW IV,526:1806). Die Kunst als Sprache der Religion ist eine zugleich ästhetisch qualifizierte wie sozial umfassende Tätigkeit, die im „ U r b i l d " „die Quelle des M a ß e s " ( Ä O 4 0 ) wie im „Gefühl für e t w a s " das M a ß des Willens und die O r d n u n g des Denkens erkennt ( P T 7 3 ) . In der Konsequenz dieses Kunstbegriffs entwickelte Schleiermacher die Kunst der Hermeneutik, der Dialektik, der Kritik, aber er sprach auch von der Staatskunst, der Kunst der Erziehung usw. Das „individuelle Allgemeine" (so M . F r a n k ) bewahrt vor der Enttäuschung, für die Erkenntnis gäbe es ein Allgemeines im absoluten Sinne, nötigt aber zu einer kommunikativen Kompetenz im Sinne unabschließbarer Zeichenprozesse. Die M a l e r C a s p a r David Friedrich, Philipp O t t o R u n g e und William Blake gehören mit ihren Werken nicht nur zum Besten, was Bildende Kunst je hervorgebracht hat, sie dokumentieren ebenfalls eine einsame Spitze der Koinzidenz christlicher Glaubensinhalte und kulturellen Fortschritts mit den ersten Andeutungen des bis heute schwelenden Konflikts zwischen Religion und Kunstbetrieb.

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C . D . Friedrich (1774—1840) arbeitete im Sinne der Schleiermacherschen Interpretantensymbolik: die Bilder vermeiden verbrauchte Motive der Uberlieferung; statt dessen dienen existentiale Situationen als Interpretament christlicher Zentralgegenstände wie Glaube, Liebe und Hoffnung. Die vielschichtige Textur der Bilder sowie die Behandlung von Gegensätzen, Polaritäten und Übergängen evoziert ein differenziertes Gefüge der Wirklichkeit zwischen Bild und Betrachter (Kleist zu Der Mönch am Meer: „ . . . dazu gehört ein Anspruch, den das Herz macht, und ein Abbruch, den einem die Natur t u t " [H. Börsch-Supan/K. W. Jähning, 76]). Die Rückenfiguren erweisen die Bilder als Andachtsbilder, der Rahmen des Bildes „Kreuz im Gebirge" mit Weintrauben und Ähren will dieses als Kultbild verstanden wissen. Die ekklesiologische Verankerung dokumentiert die Weigerung, in Anschauung des Mikro- und Makro-Kosmos Entscheidungen vorzugeben statt darzustellen und zu zeigen (Schleiermacher, R 208: „Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Grenzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müssen"). Der Künstler nimmt keine Glaubensideale vorweg, er organisiert Möglichkeiten und Grenzen von Glaubenspotentialen. Auch der früh verstorbene Ph. O. Runge (1777-1810) arbeitet mit einer offenen Interpretantensymbolik. Doch während Friedrich Landschaft, Ruinen und erwachsene Menschen als Motive einführt, bedient sich Runge der Tageszeiten zur Vergegenwärtigung von Situationen, des Kindes und der Frau, um die Liebe und die Geburt des in Christus erwachten Glaubens darzustellen, vor allem aber der Lichtsymbolik, um an Vorstellungen der sich zerstreuenden und konzentrierenden göttlichen Kräfte zu erinnern. Seine an realen Ubergängen des Lichts orientierte Farbenlehre war eine einzige Widerlegung des spekulativen Dualismus Goethes. Der Dichter und Maler William Blake (1757-1827) schafft eigene Mythen, die er der christlichen Tradition implantiert. Seine Schöpfungsgeschichten gehen - wie schon bei Hamann - von der Einsicht des nicht revidierbaren Sündenfalls aus, um in originellen Erfindungen die Formgebung der Imagination gegenüber dem chaotischen Sein der Materie zu beschreiben. Dies, wie auch die Apokalypse, interpretiert Blake christologisch; konsequenter als seine Zeitgenossen hebt er in der Schilderung biblischer Geschichten die Rolle der Frau heraus: Das letzte Abendmahl (1799-1800) zeigt vier Frauen und sieben Männer in einer an Rembrandt erinnernden Tischszcne. Obwohl alle drei genannten Künstler höchstes theologisches Rcflexionsniveau erreichten, fand lediglich Friedrich und der nur am Rande - Eingang in kirchliche Räume. Als Architekt ist Karl Friedrich Schinkel (1781-1841; vgl. TRE 18,499,18-500,2; 501,6ff) zu erwähnen, der ebenfalls im Sinne Schlciermachcrs mit einem offenen Symbolsystem operierte: Was ihn an antiken, romanischen und gotischen Bauten faszinierte, waren keine Stilmuster, sondern Regeln und Maße, welche Religion als Kult des einfachen Volkes und zugleich als Ermöglichung des „Erhabenen" zulassen. Die Suche nach Authentizität, nicht nach Reproduktion, kennzeichnet Schinkels Bemühen. Seine Entwürfe für den Wiederaufbau der Berliner Petri-Kirche (1811) und für den Umbau des Berliner Doms (1815) fordern den Zentralraum mit dem Altar in der Mitte, damit sich das Volk „handelnd" sehe und der Prediger in einem nur relativen Gegenüber aus dem Kreis trete. Form und Funktion sollen sich ganz entsprechen, Beleg einer experimentellen Grundhaltung Schinkels. Sie ist schon deshalb unerläßlich, weil der Architekt „in seinem Wirkungskreise . . . Plastik, Malerei und die Kunst der Raumverhältnisse nach Bedingungen des sittlichen und vernunftgemäßen Lebens des Menschen" zu einer Kunst zusammenschmelzen soll. Die Aufgabe der Architektur, künftige Situationen zu eröffnen, damit „die in ihm ausgesprochene Idee ewig von diesem Werk aus w e i t e r g e h t . . . " (zit. nach H. Szeemann, Gesamtkunstwerk 150), belegt diese im weiteren 19. Jh. stark verschüttete Quelle theologischer Ästhetik. Die Musik der frühen Romantik - von Beethoven bis Schumann - war den Zeitgenossen unüberbietbarer Höhepunkt der Konvergenz christlicher Tradition und musikalischen Fortschritts. Insbesondere Ludwig van Beethoven (1770-1827), obwohl mit Missa

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soletnnis, C-Dur Messe und dem Oratorium Christus auf dem ölberg nur am Rande mit kirchlichen Aufträgen befaßt, galt mit seinen gesamten Werken als ein wahrhaft christlicher „Tondichter". Denn im Gegensatz zur Signatur des von Melodien geprägten „plastischen" Musizierens fand man in seinen Symphonien das „moderne, christliche, romantische" Zeitalter, deren Harmonien mit unentrinnbarer Gewalt den Menschen ergriffen. Im Gegensatz zur Gefühlsästhetik des Bürgertums zwischen Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Spätromantik und Biedermeier, welche sich durch an Worten orientierten Affekten bestimmen ließ, begegnete man einem „inneren Fühlen" (F. Schleiermacher): nicht das Ideal des Schönen, sondern die Erfahrung des Erhabenen leitete die Diskussion. Auch hier eine Interpretantensymbolik: die „Unbestimmtheit" des Inhalts wurde nicht als Mangel, sondern als Merkmal des „erhabenen" Stils gesehen, die Distanzierung von der einfachen „Sprache des Herzens" als Ahnung des Unendlichen, als Kern der Mystik. In der großen Instrumentalmusik spreche sich die Seele eines christlichen Weltalters aus; in jedem Akkord, dem Bild und Ausdruck der Geistergemeinschaft, erwache die christliche Liebe (vgl. E. Lichtenhahn). Für diese Auffassung sprach, daß man den Ursprung der Musik seit Herder nicht mehr in der pythagoräisch-platonischen Idee von ewigen Zahlenverhältnissen sah, sondern ihr die höchste Sprachqualität zubilligte: als Sprache über der Sprache könne sie, was Worte nicht einmal zu stammeln vermögen: die Wirklichkeitsbeziehung des Unsagbaren repräsentieren (vgl. J . G . Herder, Cäcilia 1793). Daher galt jetzt „das Poetische" als die gemeinsame Substanz aller Künste, deren wahre Idee sich im Gegensatz zur affektorientierten Musik in der absoluten Musik, d . h . in der Instrumentalmusik, verwirkliche. Hat noch für Schleiermacher Musik das Handeln begleitet (Schleiermacher, R 41), so identifiziert Ludwig Tieck (Symphonien 1799) die Tonkunst mit dem letzten Geheimnis des Glaubens, der „Mystik", der „durchaus geoffenbarten Religion". Die Metaphysik der Instrumentalmusik als „absolute" Musik führt jedoch dazu, daß sie in unverbindlicher Religiosität mißbraucht wurde, woraus sich S. Kierkegaards Kritik erklärt: die Unbestimmtheit der Tonsymbolc macht sie ihm zu einer niedrigeren Sprache, die „Ahnung des Unendlichen" ist für ihn - wie für Hegel eher ein Defekt und dem Systembilden suspekt. Für R. Wagner offenbart sich Erlösung daher nur im Gesamtkunstwerk, das sich der Mythen bedient, aber in „Übergängen" besteht. 3. Kunstströmungen

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Jahrhunderts

Zwischen Nazarenern und Moderne lassen sich — bei allem Vorbehalt - diese drei Tendenzen unterscheiden: 1. heroischer Idealismus, 2. bürgerlicher Realismus und 3. metaphysischer Symbolismus. 3.1. Der heroische Idealismus beginnt als „Neudeutsche religiös-patriotische Kunst", wie Goethe in einer zusammen mit Heinrich Meyer verfaßten Schrift die Nazarener bezeichnete, und endet in den nationalistischen bzw. sozialistischen Kunstideologien des 20. Jh. Als - » „ N a z a r e n e r " bezeichnet man jene Gruppe deutscher Maler, die sich nach dem Beispiel religiöser Bruderschaften aus Protest gegen den akademischen Kunstbetrieb 1809 in Wien als Lucas-Bund konstituierten und sich zu einem streng moralischen Lebenswandel verpflichteten. So zogen sie - Overbeck, Pforr, Vogel und Hottinger - 1810 von Wien nach Rom, wo sie im ehemaligen Kloster S. Isidora ihr Künstlerleben begannen. Ihnen gesellten sich in den nächsten Jahren P. Cornelius, W. Schadow, Schnorr von Carolsfeld und die Brüder Veit hinzu. Die protestantischen Mitglieder traten bei ihrem Eintritt in den Bund zum Katholizismus über. Der erste öffentliche Kunstprotest in Wien, die erste aufsehenerregende Künstlergemeinschaft, das erste antiaufklärerische Programm mit seiner Idealisierung des Mittelalters in Lebensstil und theologischer Zielsetzung und die Begeisterung für Rom, um entgegen üblicher Bildungsreisen auf einem kirchlichen Fundament Bildung zu entwickeln und Bildungspolitik zu machen - Cornelius gründete später die Akademien von München und Düsseldorf neu - , dies alles machte Furore, die in keinem Verhältnis zur geistigen Bedeutung dieser Gruppe stand. Die Erfolge in R o m , Malereien in der Casa Bartoldy und im Casino Massimo fanden nicht nur in Deutschland ein großes Echo, sondern veranlagten viele

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junge M a l e r , sich der G r u p p e oder ihrem Stil anzuschließen. G o e t h e s K o m m e n t a r : „ D e r Fall tritt in der Kunstgeschichte zum ersten M a l ein, d a ß bedeutende T a l e n t e Lust h a b e n , sich rückwärts zu bilden, in den S c h o ß der M u t t e r zurückzukehren und so eine neue Kunstepoche zu begründen. Dies w a r den ehrlichen Deutschen v o r b e h a l t e n . " C a s p a r David Friedrich sprach von den „Sklavenseelen unsrer T a g e " , die „bei guten Talenten G r o ß e s h e u c h e l n " , sich a b e r an ihrer Z e i t „versündigen" (Zitat bei K. G a l l w i t z 4 1 0 ) . T a t s ä c h l i c h sind die W e r k e von h o h e m ästhetischen Reiz, aber von geringer Aussagekraft. Ihre Vorbilder waren der frühe Raffael, D ü r e r , P e r o g i n o , die sie idealisierten im Sinne heroischer Szenen und Allegorien. Es gibt auf diesen Bildern weder tiefere Konflikte noch Leiden; beliebt sind dagegen Szenen aus den Kreuzzügen und erbauliche Heiligenlegenden, zunehmend bereichert durch deutsche M y t h e n ( z . B . die Nibelungen von Peter Cornelius). Ein besonders beliebtes M o t i v sind Kinderbilder J e s u und M a r i e n - S z e n e n . Eine penible N a c h a h m u n g der Natur, Vermeidung b a r o c k e r Kunstgriffe und eine idealisierende Kleidung gehören zu den Kennzeichen dieser dem kirchlichen System verpflichteten M a l e r e i . Die neuen R e p r o d u k t i o n s t e c h n i k e n verhalfen den - > B i b e l i l l u s t r a t i o n e n des J . S c h n o r r von Carolsfeld e b e n s o zur Popularität wie den Protagonisten biedermeierscher Religiosität: L u d w i g R i c h t e r , der Schillers P a t h o s protestantisch verbürgerlichte, und J o s e f F ü h r i c h , dessen f r ö m m e l n d e M y t h e n m a l e r e i jene o p i a t e Religiosität repräsentiert, deren sich kirchliche Institutionen wie deren schärfste G e g n e r propagandistisch a n n a h m e n . Sowohl für den „ g e h o b e n e n G e b r a u c h " wie für die millionenfach verbreiteten billigsten Andachtsbilder, aber auch für Ausschneide-Krippen und die O b e r a m m e r g a u e r Passionsspiele, hatten die Nazarener und deren Epigonen ö k o n o m i s c h effiziente, a b e r theologisch oberflächliche Grundlagen gelegt.

Die 1868 von Desiderius Lenz (1832-1928) gegründete Beuroner Schulc versuchte, den Idealismus in Anlehnung an archaische und klassische Frühzeiten für die kirchliche Kunst zu retten. Der Versuch, überzeitliche Gesetzmäßigkeiten mit hohem Abstraktionsgrad der üblichen „Befriedigungskunst" (Malraux) entgegenzuhalten, scheiterte einerseits an der Unfreiheit gegenüber vergangenen Idealen, andererseits aber auch an der relativ schnellen Popularisierung dieser für besonders „sakral" gehaltenen Kunst. In den sakralen Sonderbereich fügten sich auch Salonmaler ein, denen hagiographische Fertigkeiten für imperiale Heroik zugute kamen: z. B. W. v. Kaulbach, A. v. Werner, H. Wislicenus, H. Vogel, G. König, G. Metz u.a. Der radikale Umschlag in eine sehr individuelle Heroik findet sich dann wieder in der Moderne, im Expressionismus etwa von E. Heckel oder L. Corinth. 3.2. Der bürgerliche Realismus, in den 30er Jahren als Gegenbewegung zum aristokratisierten -»Klassizismus und zur feudalen —»Romantik entstanden, setzte sich verstärkt nach der Revolution von 1848 - parallel zum Realismus in der Literatur - durch. Zunächst als Historienmalerei betrieben, fließen stark politische und psychologische Elemente in die Malerei ein (die Belgier L. Gallait und E. Biefvre; oder die Düsseldorfer C. F. Lessing und E. Leutze). Doch stark wurde der Realismus nicht durch historisierende oder orientalisierende Treue (A. v. Menzel), sondern durch sozialkritische Fragen, die insbesondere Max Liebermann, Fritz von Uhde, Wilhelm Leibi, J . Israels, A. Egger-Lienz, W. Firle und zum Teil auch E. von Gebhardt verfolgten. Bei H. Kohlschein, F. Skarbina und schließlich Käthe Kollwitz wie George Grosz erreicht der Realismus eine religiöse Dimension, die soziale und psychische Grenzen durch Betroffenheit ins Allgemeingültige erheben. 3.3. Der metaphysische —»Symbolismus, welcher sich in der Frühromantik kritisch von den rationalen Allegorien der Aufklärung abgesetzt hatte, überließ sich wieder dem antikisierenden Strom etwa in dem bedeutenden Werk des dänischen Bildhauers Alberto (Bertel) Thorvaldsen, der vor allem in England viele Verehrer fand. So läßt sich jedenfalls teilweise erklären, daß sich religiöse Symbolik sowohl in den idealistischen wie realistischen Tendenzen wiederfindet. Im Gegensatz zu den antikisierenden Tendenzen der Aufklärung wird der Rückgriff auf „Symbole" seit dem 19. Jh. in der Regel von einem stark traditionalistischen und restaurativen Interesse geleitet. Zwar hatte Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen noch eine offene Symbolik im Sinne der „momentanen Anschaulichkeit" im Sinn (512), doch der Titel seines berühmten Buches und die Konversion des späten Fried-

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rieh Schlegel zum Symbol als bedeutungsträchtigem Wahrzeichen früherer Kultur umgaben alles Symbolische mit der Aura mythischer Urzeit. Als dann nach dem Tod von Friedrich Wilhelm III. (1840) und Karl F. Schinkel (1841) J . ->Bunsen den Stil der altchristlichen Basilika als eigentlich christliches Bauprinzip propagierte (1842) und als in der neuen Euphorie christlich-archäologischer und liturgischer Forschungen Friedrich Wilhelm IV. seine Begeisterung an Englands hochkirchlicher Tradition entdeckte, sproßte zunehmend ein Interesse auf an altchristlichen Symbolen, zumal man hier einen Halt im rasanten technischen Fortschritt wähnte. Der das 19. J h . bestimmende —»Kirchenbau im neoromanischen und neogotischen Stil basierte im wesentlichen auf einem die Revolution und den Atheismus bekämpfenden Geist der zweiten Jahrhunderthälfte. Ort, Stil und Kunst dienten der Repräsentation kirchlicher bzw. königlicher Ordnungen und Institutionen. Vor diesem Hintergrund wird erklärlich, warum sich idealisierende Malerei und vor allem auch Bildhauerei (E. Rietschels Lutherdenkmal in Worms) gern triumphalistisch der geschichtlich bekannten und bewährten „ S y m b o l e " bedienen - Metaphysik zu Ehren kirchlicher Institutionen - , und warum andererseits eine ästhetisch weiterführende Symbolik an den realistischen Grenzen des Todes (A. Rethel), der Geschichte (E. Delacroix), der Psyche (P.-J. Proudhon) und vor allem des offiziellen Glaubens entsteht. In origineller Umprägung der nazarenischen Tradition und als Erben W. Blakes und W. Turners schufen die sog. Präraffaeliten Englands eine metaphysische Kunst, die Denkanstöße auch für neue Aspekte der Religion eröffnete (Holman Hunt, J . E . Millais, F. M . Brown, D. G. Rossetti u. a.). Doch erst die davon beeindruckten G . M o r e a u (1826—1898) und A. Böcklin ( 1 8 2 7 - 1 9 0 1 ) sind als ausgesprochene „Symbolisten" anzusehen, deren je eigener Einfluß auf die Entwicklung der modernen Kunst kaum überschätzt werden kann. Von Moreau lernte O . Redon, der große Anreger des Surrealismus, aber auch P. Cézanne ( 1 8 3 9 - 1 9 0 6 ) , dessen „numinoser Realismus" (G. Rombold 9 1 - 9 6 ) die Welt in ihrem Sein religiös erschließt, ohne Anleihe an die ikonographische Tradition. Denn die in der Natur erkennbare Struktur, symbolisiert in „Kugel, Kegel und Zylinder", wird als eine Art „absolutes Abhängigkeitsgefühl" innerer und äußerer Totalität ins Bild gebracht. An dieser Entdeckung lernen und reiben sich P. Gauguin (1848 — 1903), der als überragender Symbolist in bretonischer Volkskunst und Südseekultur nach den reinen Quellen der Kunst sucht (z.B. Bretonische Kreuzabnahme), und vor allem V. van Gogh ( 1 8 5 3 - 1 8 9 0 ) : Noch radikaler als Gauguin sucht er in Natur und Menschengestalt Symbole des äußeren und inneren Kosmos, den er in seinem „furchtbaren Bedürfnis nach Religion" in Farbe, Gesicht und kosmischen Figuren darstellt. Wie Moreau und Cézanne ihrerseits den Aufbruch zur Moderne in Frankreich auslösten (die religiösen Werke von Matisse, Rouault oder Picasso beziehen sich darauf), so ist die deutsche Malerei ohne den neuen offenen Symbolismus van Goghs nicht denkbar, assistiert von mystischen Dimensionen des Symbolisten Hans von Marées ( 1 8 3 7 - 1 8 8 7 ) . Nach M . Klinger ( 1 8 5 7 - 1 9 2 0 ) , dessen große Kreuzigung von 1890 der Nacktheit Christi wegen einen Skandal hervorrief, Ferdinand Hodler ( 1 8 5 3 - 1 9 1 8 ) und Franz von Stuck ( 1 8 6 3 - 1 9 2 8 ) bilden vor allem die Expressionisten wie J . Ensor, E. M ü n c h , F. M a r c , E. Nolde, E. Heckel und K. Schmidt-Rottloff Symbole jenseits des kirchlichen Betriebs und theologischer Diskussionen als Höhepunkte der Konvergenz von Religion und Kunst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert aus. Die Skandale über theologisch zentrale Bilder wie z . B . M a x Klingers Große Kreuzigung, J. Ensors Christi Einzug in Jerusalem (1888) oder E. Noldes Altar-Triptychon mit dem großen Zyklus aus dem Leben Christi (1912), eines der Hauptwerke christlicher Kunst unseres Jahrhunderts, belegen eine erschreckende Ghettoisierung kirchlicher Institution und die Oberflächlichkeit theologischer Reflexion um die Jahrhundertwende. Worüber man hier stritt, waren Belanglosigkeiten zu Bildern illustrativer und propagandistischer Kunst im kirchlichen Reservat (etwa von C. K. Pfannschmidt, E. Burnand oder der Beuroner Schule). M a n suchte „die christliche M a l e r e i " (so noch Smitmans, Christi. Malerei; F. Gross). Die Kritik an van Goghs Werk als „Wahnsinn in Ö l f a r b e " (F. Wolter) bereitet den

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Boden für die Ideologie der sog. Entarteten Kunst, Symptome einer auch im 20. J h . noch herrschenden „kirchlichen Kunst". 4. Probleme

der Interpretation

des 19.

Jahrhunderts

Das Verhältnis von Religion und Kunst im 19. J h . ist extremen und schabionisierten Urteilen ausgesetzt. Ging die christliche Kunst zu Ende oder wurde sie nur trivialisiert? Hat die Bild- und Musikgeschichte der Religion eine Phase der Askese eingelegt oder im Gegenteil - etwa im Symbolismus oder in den Wagner-Opern - neuen Auftrieb erhalten? Was bedeutet es für unser T h e m a , wenn die einen das 19. J h . als eine „Auseinandersetzung der G r ü b l e r " betrachten (R. Zeitler, P K G 10,52), andere aber in ihm „das Zeitalter der Apologetik" sehen (A. Smitmans, Christi. Malerei 167)? M e h r als in jedem anderen Bereich registrieren die Künste, wie die zivilisatorische Entwicklung in eine äußerste Entfernung zur Kirche geriet und diese sich in einem überzeitlichen Gegenreich behaupten wollte. Wenn schließlich in diesem Vakuum ein gnostisch-neuplatonisches Erbe die europäische Kultur dualistisch formiert hat, dann gerät eine Darstellung dieser Epoche selbst schnell in die Fallen, die sie zu objektivieren trachtet. Die kunstgeschichtliche Betrachtung des 19. J h . leidet bis heute unter wenigstens vier gravierenden Mißverständnissen, zu denen sich die Ideologien von Kunsthistorikern wie Theologen gegenseitig hochschaukeln. 4.1. Das dogmatisch-ideologische Mißverständnis ist besonders verbreitet: M a n beklagt einen „Verlust der M i t t e " (so H. Sedlmayr), indem man suggeriert, an die Stelle Gottes sei der autonome Mensch getreten; dabei wird Gott nur als ikonographischer, „Hierarchie, Einheit, Ordnung und M a ß der Künste" bestimmender Gegenstand im Sinne mittelalterlicher Dogmatik vermißt. Sedlmayr übersieht, daß die irreversible Kritik am Feudalklerikalismus andere Gottesvorstellungen notwendig machte; er bemerkt nicht, daß er sich im Einklang mit Hermann Beenkens einflußreichem Buch über die deutsche Kunst (1944) befindet, der ganz im Sinne der Ideologie einer Entartung die „Ausdünnung" und „Vernichtung" religiösen Gehaltes in der Kunst des 19. J h . beklagte, weil der „Subjektivismus" die Unterordnung unter den „Gesamtorganismus" Kirche und Volk boykottiert habe (ebd. 538). Die Autoren solcher Auffassungen verkennen, daß Glaube eine irreversibel individuale Struktur hat, die im Horizont der Moderne die Voraussetzung der Kommunikabilität von Religion ist (Roters). 4.2. Das moralisch-dualistische Mißverständnis respektiert zwar die Veränderungen der Moderne, operiert aber mit dem Gegensatzpaar „Jenseits-Religion" und „diesseitsbejahende, die sinnliche Schönheit verklärende Weltfrömmigkeit" (so K. Lankheit, Vision 79). Dieses Argumentationsmuster verkennt die selbst in der Frühromantik behauptete Allgemeinheit im Besonderen: das im Wesen des Christlichen liegende inkarnatorische Prinzip. Desiderius Lenz, der gegenüber dem „Sündenfall" der Verweltlichung europäischer Kunst der Neuzeit eine aus der Antike rekonstruierte hieratische Kunst propagierte (vgl. F.Gross 29), und G. F. Hartlaub versuchten mit dem Jenseitsmotiv idealistische und expressionistische Malerei für die Religion zu retten, womit sie aber den realistischen Tendenzen der Epoche nicht gerecht wurden (ähnlich auch Cornelius Gurlitt). 4.3. Fehlurteile durch Geschichtsspekulationen, wie sie G. W. F. Hegel in seiner T h e o rie vom Ende der Kunst und Auguste Comte vom Ende des theologischen Zeitalters aufstellten, führten zu der abenteuerlichen Auffassung, „daß das erklärte Ziel der Kunstübung der Epoche (des 19. J h . ) , historisch erforschte und gegenwärtig erfahrene Wirklichkeit zu reproduzieren, unvereinbar sei mit der offenbarten und akzeptierten Wahrheit des christlichen Glaubens" (St. Waetzoldt, Bemerkungen). W. Schöne vertrat die These, daß Gott in der Kunst nicht mehr darstellbar sei. Hier wird eine im Bilderverbot des Alten Testaments angelegte Prämisse von der grundsätzlichen Undarstellbarkeit Gottes als Symptom einer epochalen Unfähigkeit zur Darstellung gedeutet, so daß neue Symbole für Gott ausgeblendet werden.

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4.4. Soziologische Mißverständnisse entstehen, wenn man Hochkunst und Trivialkunst gegeneinander ausspielt. Das ist bei der Beurteilung des 19. Jh. deshalb versucherisch, weil die aufkommende Reproduktionstechnik darauf aus war, den hohen Stil zu popularisieren, während die wirklichen Visionäre - wie z.B. William Blake oder van Gogh - häufig unbemerkt lebten und in Armut starben. Zwei Fehlschlüsse liegen auf der Hand: die sog. „Sakralromantik" indiziert das Fehlen des Themas (K. Ledergerber) bzw. sie kann völlig vernachlässigt werden (G. Rombold), oder aber umgekehrt wird die Menge der Popularbilder von den Nazarenern bis zur heutigen „kirchlichen Kunst" als ernst zu nehmendes Paradigma für unser Thema ungebührlich hochgespielt (so A. Smitmans, Christi. Malerei; F. Gross u.a.). Einerseits repräsentieren auf höchstem Niveau unser Thema Künstler der Avantgarde wie z. B. E. Delacroix, P. C. Cezanne, M. Liebermann, van Gogh und dann die Moderne seit den Expressionisten; andererseits gibt es eine breite, so noch nie dagewesene Trivialkunst, mit der christliches Gedankengut didaktisch und propagandistisch unter die Leute kommt. Die Spannung ist eine soziologische, aber damit auch die Funktion der Kunst betreffende. 4.5. Beurteilungskriterien haben von Prinzipien auszugehen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen und unter wenigstens drei Aspekten differenzieren lassen: a) Syntaktisch verbirgt sich die religiöse Thematik sowohl unter der stark abstrahierenden Malerei eines C. D. Friedrich oder W. Turner bzw. in der Instrumentalmusik („absolute Musik") von Beethoven als auch in realistischen bzw. historisierenden Szenen. Das Feld der Motive ist nicht eingrenzbar im Sinne eines bestimmten „christlichen" Weltbildes, b) Semantische Prinzipien entstehen zunehmend aus Regeln, die einzelne stellvertretend für Gruppen und Gruppen stellvertretend für soziale Gesellschaften entwickeln. Daraus erwächst die Versuchung, entweder die Authentizität subjektiver Glaubwürdigkeit oder aber Regeln überredender Wirkung für eine größere Öffentlichkeit überzubewerten. Beides führt zu der eingangs erwähnten Spannung zwischen grüblerischem Tiefgang und apologetischer bzw. propagandistischer Verbreitung gängiger Topoi, deren sich Konfessionalisten, politische Propagandisten, aber schließlich auch der Kunsthandel bedienen. Der beliebte Begriff einer sog. „Objektivität" des Glaubens wird zum Instrument politischer Einheit, so daß schließlich selbst ehrenwerte Motive der Tradition - etwa das —»Kreuz - verkommen. Auch fragwürdige Anerkennung kann, wie z.B. das rassistische Rembrandt-Bild von Julius Langbehn (1890; 1963: 85. Auflage!), verheerende „Bedeutung" und Wirkung erlangen, c) Die praktische Dimension ist nur aufzuschlüsseln, wenn die unterschiedlichen Wirkungsfelder des Themas voneinander abgesetzt werden: im geistigen und künstlerischen Prozeß hat die Exkommunikation führender Künstler durch kirchliche Funktionäre die christlichen Kirchen in ein kulturelles Abseits laviert; binnenkirchlich jedoch setzte die Ideologie des Klerus Gebrauchsgraphik (Konfirmandenscheine; Andachtsbilder), „Schmuck" der Kirchenräume und schließlich die propagandistische Auswertung der Tageskunst durch. Die systemgebundene Theologie der Nazarener wirkte sowohl religiös wie auch ästhetisch durch Lehrbücher kurz- und langfristig zugleich. Es empfiehlt sich, Wertsetzungen über übliche Epochenbezeichnungen (Realismus, Idealismus, Impressionismus, Expressionismus) hinaus vorzunehmen. Sozialpsychologisch läßt sich, um einen Überblick zu gewinnen, folgendes vermuten: Die durch die „Dichterfürsten" (Goethe, Schiller u.a.) politisch aufgeheizten hohen Ideale versuchten viele zu verinnerlichen (Naturalismus), andere „wissenschaftlich" zu rechtfertigen (Historismus) und wieder andere zu überhöhen (Mythologeme und Symbolismus). Den Höhepunkt erreichte die Malerschule der Nazarener zwischen den 20er und 40er Jahren, ihr Einfluß reichte aber weit bis in das 20. Jh. hinein. Dieses wankende Kulturgeflecht wurde in der Mitte des Jahrhunderts unterlaufen durch den Impressionismus, aber auch durch einen z. T. kritischen, z. T. bürgerlichen Realismus, der zwischen den 50er und 70er Jahren herrschte. Empfindlichkeiten des politischen Systems gegenüber kritischen Unterströmungen schlugen in eine allgegenwärtige Domestizierung des Häßlichen um, so daß

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gegen Ende des 19. J h . ein neuer Idealismus zum Vorschein k a m , teils antikisierend (Beuroner Malerschule), teils aber auch in einer Replik a u f die Spätromantik unglaubwürdig überhöht und als Waffe im - » K u l t u r k a m p f eingesetzt. Über einen neuen Symbolismus sowie den Jugendstil floß eine vor allem an Goethe aufgetankte Religiosität in die Kunstszene ein, die sich im Expressionismus und dann vor allem in der Abstrakten M a l e rei auf Anstöße der F r ü h r o m a n t i k besann und zu einer neuen Konvergenz von Kunst und Religion im 2 0 . J h . führte. Quellen J o h a n n Bachofen, Versuch über die Gräbersymbolik der Alten (1859): GW, hg. v. E. H o w a l d , Basel, IV 1954. - Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetica, 2 Bde., 1750/1759, Nachdr. 1961. Hermann Beenken, D a s 19. J h . in der dt. Kunst, München 1944. - Helmut Börsch-Supan/Karl W i l helm Jähning, Caspar David Friedrich, München 1973. - Rüdiger Bubner (Hg.), Das älteste Systemprogramm. 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tik. Standorte, Innensichten, Entwürfe, Berlin 1 9 8 9 , 1 1 3 - 1 3 2 . - Michael Titzmann, Strukturwandel der phil. Ästhetik, 1 8 0 0 - 1 8 8 0 . Der Symbolbegriff als Paradigma, München 1978. - Rainer Volp, Transzendenz als Prüfstein. Die theol. Perspektiven v. Caspar D. Friedrich u. Philipp O . Runge: KuKi 4.1 (1978) 7 1 - 7 6 . - Ders., Kunst als Sprache der Religion. Zur Semiotik F. Schleiermachers: Int. Schleiermacherkongreß 1984, hg. v. Kurt-V. Selge, Berlin 1985 (Schleiermacherarchiv 1,1), 423 - 4 3 9 . - Ders., Wertewandel in der Architektur. Der Bau der Berliner Großkirchen im 19. J h . u. die Beurteilung des Wertewandels heute: Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg u. a. (Hg.), Neue Nutzungen v. alten Kirchen, Berlin 1988, 6 4 - 8 6 . - Stephan Watzoldt, Bemerkungen zur christl.-rel. Malerei in der zweiten Hälfte des 19. Jh.: Triviale Zonen in der rel. Kunst des 19. Jh., Frankfurt/M 1971, 3 6 - 4 9 . Rudolf Zeitler, Klassizismus u. Utopia: Figura. Studies ed. by the Institute of Art History, Univ. o f Uppsala 5, Uppsala 1954. - Ders., Die Kunst des 19. J h . , 1966 (PKG 10) (Lit.).

Rainer Volp VIII. Das 20. Jahrhundert 2. Die Religiosität des Expressionismus 1. Das Material und die Untersuchungskriterien 3. Die Glaubensmystik der Abstrakten Kunst 4. Die religiöse Metaphysik des Surrealismus 5. Der prophetisch-soziale Realismus 6. Religiöse Kontemplation in der neuen Objektkunst 7. Mythensuche und naive Frömmigkeit 8. Das religiöse Ritual in der Aktionskunst 9. Die Kirchen und die Künste 10. Kunsttheoretische Erklärungsmodelle des Problems (Quellen/Literatur S. 326)

1. Das Material und die

Untersuchnngskriterien

Europas und Nordamerikas Religionsgeschichte des 20. Jh. dokumentiert sich weniger in den Spuren der Kirche als in der professionellen Kunst, d.h. in Literatur, Film, Theater, Konzert und vor allem in der Bildenden Kunst. Lediglich der Kirchenbau sowie populäre Erbauungsliteratur und einige Schriften zur Theologie und politischen Kultur verdanken sich kirchlichen Institutionen. Diese, im wesentlichen durch eine bürgerliche Mittelschicht getragen, verkannten weithin bis heute jene geistigen Pilotprojekte religiöser Entwicklungen, die in der Mehrzahl abseits oder im Widerstand zu kirchlichen Institutionen entstanden, selbst wenn die Künstler getaufte Christen waren bzw. sind. Der für diesen Beitrag zur Verfügung stehende Raum erlaubt nur eine grobe Skizze der Religionsgeschichte im Spiegel der Bildenden Kunst. Doch: „Spätestens seit Ende des vergangenen Jahrhunderts legt die bildende Kunst Europas und auch Amerikas glaubhaft Zeugnis von ihrem Bedürfnis nach Religion, von ihrem Ringen nach Erkenntnis und Bekenntnis a b " (E. Roters 16). Die Struktur ihrer Individualität entspricht der in der Neuzeit konstitutiven Begründung von Religion durch individuelle Glaubenserkenntnis, welche „nach unmittelbarem Erleben von Gottes Gegenwart" ausgerichtet ist (ebd. 18). Im Bewußtsein vieler Künstler ist „der Christusimpuls innerhalb der Kirche nicht mehr gegenwärtig" (J. Beuys, bei W. Schmied 206), da die „Unmittelbarkeit des Geistes im kirchlichen Gottesdienst... vielfach nicht mehr zu finden" sei (E. Roters 18). Der in den Kirchen übliche Umgang mit schabionisierter Kunst und kunstgewerblichen Produkten repräsentiert nur gelegentlich naive Frömmigkeit, in der Regel jedoch eine unverbindliche Routine.

Methodisch sind zur Erkenntnis der zeitgenössischen Religionsgcschichte folgende Kriterien zu beachten: 1.1. Jedes Kunstwerk ist aufgrund seiner Zeichensyntax sowohl binnenstrukturell als auch im Feld ästhetischer und religiöser Horizonte wahrzunehmen. Die ganze Komplexität des Zeichenensembles, seiner Einheiten und Strukturen, ist als erstes zu berücksichtigen, will man das Spiel von Gestalt, Gehalt, Referent und Interpretant ästhetisch und theologisch sachgemäß erkennen (E. Panofsky; R. Volp, Kunstwerk). 1.2. Kunstwerke sind „christlich" bzw. „religiös" nicht im Sinne eines apriorischen Systems, sondern sie entwerfen bzw. interpretieren verbindliche Glaubensbezüge und somit originäre Systeme selbst und im Kontextbezug. Ikonographische und dogmatische Systeme sind für Urteile über die Religiosität eines zeitgenössischen Kunstwerks unzureichend (vgl. R. Volp, Rel. Erfahrung in der modernen Kunst; ders., Spuren; U. Eco, Semiotik 3 4 7 - 3 6 8 ) .

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1.3. Die Religiosität des Kunstwerks kann durch ästhetische Prinzipien solange nicht bestritten werden, solange diese keine zureichende Erklärung des Religionsbegriffs liefern. Häufig spiegeln sie lediglich die in der Sakralkunst abgelagerten und damit überholten theologischen Systeme. Eine Vielzahl der in diesem Jahrhundert unternommenen kunsttheoretischen Analysen bezieht sich auf den Religionsbegriff von P. Tillich: „Religion ist Erfahrung des Unbedingten und das heißt Erfahrung schlechthinniger Realität aufgrund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit..." aus dem Jahre 1919 (IX,18). Interpretationsmodelle der Kunst des 20. Jh. können demnach nicht gehindert werden, mit diesen oder ähnlichen Religionsvorstellungen die Wertsetzungen der Kunst zu bestimmen. Insofern ist nahezu die gesamte Kunstgeschichte als Religionsgeschichte greifbar (W. Schmied; D. Kampe u.a.). 1.4. Die historisch erhebbaren Regelprinzipien christlicher Religion billigen den Bildern seit jeher „Kunst" im Sinne der Transformation von Bildern zu, dem Sinn des Bilderverbots im Alten Testament entsprechend (s. o. S. 253ff). Das im 20. Jh. besonders häufig gestaltete Kreuzigungsmotiv steht für das Bestreben, festgelegte Gottes-, Menschen- und Weltbilder, zumal im Sinne vorgängiger Ideale des Wahren, Schönen oder Guten, auszuschließen - unter Berufung auf Jes 53,2, die jüdische Tradition interpretierend (s. T R E 7, 562). Die Künstler des 20. Jh. unterziehen die unbrauchbar gewordenen Bildwelten europäischer Kultur einer grundlegenden Metamorphose (R. Volp, Metamorphose 29-41). 1.5. Bemühungen, die kirchliche Praxis vor der Kraft dieser Bildmetamorphose zu immunisieren, scheitern ebenso als Vereinnahmung des einen durch das andere System wie der Versuch, profane und sakrale Kunst zu trennen. Die tatsächliche Funktion der Praxis - von privater Devotion bis zum Kult des Kunsthandels - klärt den Sinn; auch ein für den Kunsthandel bestimmtes Werk kann zum gottesdienstlichen Bild werden (so z.B. La flèche blanche 1987 von A. Tapies in Worms/Magnuskirche). 1.6. Die folgende Darstellung ordnet lediglich epochale Korrelationen zwischen ästhetischen und religiösen Tendenzen, abgesehen von den beiden letzten Abschnitten (9 u. 10) über den Problemhorizont zwischen nichtkirchlicher und kirchlicher Kultur. Selbstredend sind die Rubriken unzulänglich, da wichtige Maler wie z.B. Picasso, Beckmann oder Beuys nahezu alle die aufgelisteten Dimensionen durchschritten haben. Solche Einsicht erhöht aber die Legitimität, von „Religion" im Werk dieser Künstler zu reden. 2. Die Religiosität

des

Expressionismus

2.1. Die neuen Symbolwelten, die durch religiöse Betroffenheit um die Jahrhundertwende entstanden, wirkten als Katalysatoren religiöser Systeme. Man berief sich auf die reine Spiritualität eines Paul Cézanne (1839-1906), der zwar auf eine bekannte religiöse Symbolik verzichtete, zugleich aber die Inkarnation Gottes im Leben der Kunst zum Mittelpunkt seines Werks erklärte (G. Rombold, Streit 9 4 - 9 6 ) . Für den Künstler gelte, daß sein „ganzes Wollen" schweigen müsse, damit sich „eine Harmonie, parallel zur Natur" als „ein halb menschliches, halb göttliches Leben", als Leben der Kunst entfalten könne, indem sich Außen- und Innennatur durchdringen (zit. nach W. Hess 16 f). Während P. Gauguin (1848-1903) in seinen Christusbildern die ungebrochene Flächigkcit archaischer Kultobjekte evozierte, hat V. van Gogh (1853-1890) zu einer christlichen Neuinterpretation von Schöpfung und Erlösung maßgebliche Anstöße gegeben. Im Malen der Sterne symbolisiert er Gruppen „bewegter Gestalten von Freunden" (V. van Gogh, Briefe an seinen Bruder 111,238), und die „wahren Verhältnisse der menschlichen Gestalt" von Arbeitern bei der Olivenernte sollten Chiffren sein für Christus im Olivengarten (a.a.O. 404f). In Portraits kann er „Bilder von heiligen Männern und Frauen" erkennen (a. a . 0 . 3 8 7 ) . Auch E. Münchs (1863-1944) Bilder Das kranke Kind (1885), Der Schrei (1893) oder Tod im Krankenzimmer (1893) sind Signale religiöser Betroffenheit ohne die Symbolik des üblichen Repertoires. Im subjektiven Kosmos findet der Mensch

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das innere Universum des Absoluten, nicht die subjektive Absolutheit des Universums (gegen F. Fischer, Zeit 63). 2.2. Das Urbild Christus zieht sich wie ein roter Faden durch die Werke der wichtigsten Expressionisten, etwa von Ch. Rohlfs (1849-1938) und E. Nolde (1867-1956), dessen neunteiliges Kreuzigungstriptychon (1913-1914) zu den bedeutendsten Zeugnissen christlichen Glaubens in diesem Jahrhundert gehört, nie jedoch in einer Kirche Aufstellung fand, ja gegen dessen Präsentation auf der Brüsseler Weltausstellung der dortige Bischof Einspruch erhob (s. E. Nolde, Ich wußte nicht 219; weitere Literatur zu Noldes religiösem Werk bei J . Harten/K. H. Hering 256 f). Der mit dem Motiv von Tod und Eros zeitlebens befaßte Lovis Corinth (1858-1925) hinterläßt ähnlich überragende Dokumente christlicher Religion vor allem in seinen Kreuzigungsbildern. Eine frühe Kreuzigung hat in der evangelischen Kirche von Bad Tölz 1897 Aufstellung gefunden, doch die epochal bedeutenden Werke wie Der rote Christus (1922) oder Ecce homo (1925) sowie die letzten Radierungen Auferstehung verblieben außerhalb des kirchlichen Raums. Weitere christologische, ebenfalls mehr die Kunstentwicklung als die Kirche prägende religiöse Zeugnisse stammen von H.-G. Rouault (1871-1958), P. Modersohn-Becker (1876-1907), E. Heckel (1883-1950), K. Schmidt-Rottluff (1884-1976) und O. Kokoschka (1886-1980). Louis Soutter (1871-1942) gewann mit seiner Fingermalerei hohen Einfluß auf die spätere Kunstentwicklung: Für A. Rainer hat er „die wichtigsten Christusbilder unseres Jahrhunderts geschaffen" (z.B. Das höchste Symbol, 1939). 2.3. Eine mystische Komponente des Expressionismus resultiert aus der Spannung existentieller Betroffenheit und dem Gefühl des absoluten Abstands vom Lebensgrund. Max Beckmann (1884-1950), den man auch der neuen Sachlichkeit zugerechnet hat, findet in den biblischen Geschichten einen verbindlichen Mythos, den er durch apokalyptische Konnotationen als Signale der existentiellen Katharsis versteht. Insbesondere das Motiv des Raums erschließt ihm religiöse Dimensionen, sieht er doch im Raum „die unendliche Gottheit, die uns umgibt und in der wir selber sind", Bildchiffre für einen „gleichen metaphysischen Code" im Betrachter (zit. nach P. Beckmann 22.36). Seine Auferstehung (1916-18), Adam und Eva, Christus und die Sünderin, Kreuzabnahme (alle 1917) und vor allem die auf religiöse Kontemplation hin angelegten Triptychen mit der Anamnese antiker Mythen machen Beckmann zu einem der wichtigsten religiösen Künstler des Jahrhunderts, stark beeinflußt von der jüdischen -»Kabbala, aber orientiert an Fragen, die tiefe christliche Bindungen belegen (s. W. Schmied, Zeichen 1 9 9 - 2 0 2 ; vgl. R. Volp, Rel. Erfahrung 188 f; G. Rombold, Streit 1 0 7 - 1 1 8 und die dort erwähnte Literatur). Ernst Barlach (1860-1938) ist einer der wenigen Künstler, dessen Werke in Kirchen gerieten (z.B. Kruzifix in der Elisabethkirche Marburg, 1931; s. T R E 10,765,25ff) und der nennenswerte Mahnmale für die Opfer des Ersten Weltkriegs geschaffen hat. Doch das alles wurde im Sinne des Nationalsozialismus unter kirchlicher Billigung oder auf kirchliches Betreiben hin wieder entfernt. D i e R ü c k k e h r der Werke und ihre Popularität nach 1945, die G r ü n d u n g der Barlach-Gesellschaft und der Gedenkstätten an ihn hat die während der Nazizeit evidente Kunstfcindschaft kirchlicher Kreise nur beschönigt. Diese suchten in der Kunst eine Instrumentalisierung theologischer Formeln, was Barlach ablehnte: „ E s ist mein G l a u b e , daß dasjenige, w a s nicht durch das Wort auszudrücken ist, durch F o r m e n in den Besitz eines andern übergehen k a n n . I m m e r wieder kreist meine Lust und mein Schaffensdrang um die P r o b l e m e des Lebenssinns und der anderen großen Berge im geistlichen Bereich. D a s k a n n w o h l ein Gegenstand sein, w o r a n ich meine Z ä h n e zu Stücken zerbeiße - aber predigen, Lösungen präsentieren, Prädikate austeilen, G u t und B ö s e definieren, kurz gesagt: irgendetwas anderes als Gestalten aufstehen lassen aus dem geheimnisvollen Sein, Gestalten, die glaubwürdig sind und von mir nicht mehr m i t b e k o m m e n , als mir gewährt ist, ihnen mitzugeben, das darf sich in meine Kunst nicht e i n s c h l e i c h e n " (1932; zit. nach K . R u h r b e r g , H b . M u s e u m 7 2 ; vgl. J . Metzinger 2 2 0 - 2 2 2 , d o r t Literatur!).

Die Zeichnungen, Holzschnitte, Dramen und Romane Barlachs sind zwar nie beson-

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ders populär geworden, jedoch geben sie über die Tiefe einer bis in die äußersten Grenzen des Erlebens vorstoßenden Mystik unseres Jahrhunderts ausreichend Auskunft. G. Rouaults (1871-1958) Werke stehen zwar in der Tradition des mittelalterlichen Schmerzensmanns, der als „Christus im Elend" den Betrachter zur Kontemplation auffordert (zwei Glasfenster gelangten in Kirchenräume), doch die Christuspartizipation gilt nicht dem „Christus im Himmel, sondern jenem Christus, dessen Agonie so lange währt, so lange Menschen einsam sind, benachteiligt, geschändet und verurteilt, so lange es Hunger, Tod und Kriege gibt" (zit. nach G. Rombold, Streit 158). Seine Christusmystik (Radierungsfolge Miserere, 1927) weist - wie bei Barlach - auffallende Parallelen zur frühen -»Dialektischen Theologie auf („Alles, was Sie machen, ist religiös, selbst ihre Clowns, selbst eine trübselige Prostituierte . . . " [von Suares, nach G. Rombold, a . a . O . 155]). Weitere Künstler in diesem Zusammenhang: W. Lehmbruck (1881-1919), O. Pankok (1893-1966), E. Mataré (1887-1965), G. Mareks (1889-1981), E. Schuhmacher (geb. 1912) und R. Hoflehner (geb. 1916). 2.4. Die Religion Picassos wurde häufig in Frage gestellt (F. Gilot, 1967,79). Doch das gilt nur, wenn man sie oberflächlich von einem bloßen theologischen System her definiert. Längst ist erwiesen, d a ß die Motive von Eros und Tod sein ganzes Werk durchziehen, Anlaß zu starken mythologischen Anleihen; die numinose Dimension ist unbestreitbar (G. Rombold, a . a . O . 107). Sein wohl wichtigstes Bild Guernica von 1937 bezeichnete P. Tillich als das protestantischste Werk dieses Jahrhunderts (dazu: R. Volp, Das Kunstwerk als Symbol 29, vgl. ebd. 3 5 - 3 9 ; Lit.): das Ritual des Stierkampfs, der Kampf der Geschlechter, die Deutung menschlicher Existenz in Schuldbefangenheit und Chiffren der Erlösung haben das Bild zu einem religiösen und politischen Symbol des Jahrhunderts werden lassen. Schließlich interpretiert Picasso das tragische Verhältnis der Geschlechter mit seiner Großen Kreuzigung (1930), welche Elemente des Mithraskultes, kosmische Motive wie das der Sonne, Anspielungen auf die historischen Umstände der Kreuzigung Jesu und andere religiöse Elemente um das Verhältnis von Jesus und Maria und Maria Magdalena herum gruppiert. 2.5. Eine christologische Anamnese in der Fortführung expressionistischer Malerei findet sich in den Bildern von G. Sutherland (1903-1974) und F. Bacon (geb. 1909). Beide haben sich immer wieder mit dem Kreuzigungsbild befaßt, dessen Tradition Bacon in der Form des Triptychons (München 1965) aufgreift. Wenn dieser sich als „leichtgläubiger" bezeichnet, kritisiert er die auch in seinen Papstbildern zum Vorschein kommenden „Anhänger" der Kirche; ähnlich wie Barlach („Du darfst alles Dcinige, das Äußerste, das Innerste, Gebärde, der Frömmigkeit und Ungebärde der Wut, ohne Scheu wagen, denn für alles . . . gibt es einen Ausdruck...") chiffriert Bacon das „Verhalten eines Wesens einem anderen gegenüber", und zwar in der Verdeutlichung einer „Situation, die für mich der Realität der Kreuzigung sehr, sehr nahe k o m m t " (zit. nach W. Schmied,Zeichen 196). Gemeint ist die Situation, die Tiere empfinden kurz vor ihrer Schlachtung, exemplarisch als Kreuzigungsbilder. Die Symbolik einer bloß gegenständlichen Natur verschwindet damit. Das Kunstwerk präsentiert eine je neue Welt, die sich als Täter entdeckt: Erinnerung an mögliche Erfahrungen des Leids und ihrer Transformation. 3. Die Glaubensmystik

der Abstrakten

Kunst

Die sog. „Abstrakte" Malerei und Plastik reduziert die in naturalistischen und realistischen Strömungen überkommenen Welt- und Gottesbilder auf elementare Form- und Farbzusammenhänge. Ihre mystische Komponente ist unbestritten. Das mitunter Hermetische ist Symptom einer für den Glauben wie die moderne Weltauffassung unerläßlichen Individualstruktur, mit der aber auch ein Allgemeines erkennbar wird, das Abstrakte Kunst kennzeichnet: Chiffren einer unmittelbaren Gottesbeziehung, die sich des Abstands und der Unvorstellbarkeit Gottes bewußt wird.

3.1. Die idealisierende Mystik der russischen Maler und Freunde Alexej Jawlensky (1864-1941) und Wassily Kandinsky (1866-1944) war epochemachend: Von der Ikone

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der Ostkirche herkommend, suchte Jawlensky die „ U r f o r m " des Menschenbildes im Portrait durch Abstraktion der Formen und Verdichtung der Farben ins Leuchten hinein, die Christus als Schlüssel der Schöpfung chiffrieren. Der Betrachter sollte zur „Meditation" (so der Titel vieler Bilder zwischen 1934 und 1937) angeregt werden und im menschlichen Antlitz als „fernem Abdruck eines Göttlichen zeichenhaft" Christus erkennen (zit. nach W. H a f t m a n n 193). Kunst und Religion sind weder im Malakt noch bei der Betrachtung trennbar. Kandinsky, der als Begründer abstrakter Malerei gilt, kommt aus Symbolismus, Impressionismus und naiver Hinterglasmalerei: die innere Notwendigkeit des „Objektiven" zeigt sich als „weckende prophetische Kraft" (Kandinsky, Über das Geistige 43); seine Malerei will Spur einer Dynamik sein, welche, dem Schöpfungsakt entsprechend, das Chaos bindet. Da nach seiner Meinung die überlieferten Religionen - Juden, Katholiken und Protestanten - dem materialistischen Credo huldigen („in Wirklichkeit sind sie Atheisten" [ a . a . O . 36]), sucht Kandinsky „in der ungegenständlichen absoluten Malerei eine neue und entscheidende Entfaltung der christlichen Lehre überhaupt" (L. Schreyer, Erinnerungen 234 f; das folgende a. a. O. 230). Er beruft sich auf die Realität des auferstandenen Christus im heiligen Geist, der „mit seiner Gottheit und mit seiner Menschheit" lebt und dessen „Reich des Geistes" durch die ungegenständlichen Bilder verkündet wird. Die Erneuerung der Künste in einer neuen Religiosität unter Führung der Musik verspricht er sich durch eine umfassende Kritik des Materialismus in der sowohl großen Abstraktion wie großen Realistik, die beide zu einem Ziel führen (Kandinsky, Formfrage 82 f). Hellsichtig hat er in seiner epochemachenden Schrift Über das Geistige in der Kunst (1912) der Kunst eine Führungsrolle für den Aufbruch in eine „Epoche des großen Geistigen" vorausgesagt. Seine Bekanntschaft mit Rudolf Steiner (-»Anthroposophie) nährte in den Kirchen das unbegründete Mißtrauen gegenüber theosophischen Grundideen der abstrakten Malerei. 3.2. Die Aura der geometrischen Figur wurde in gleicher Weise von dem russischorthodoxen Christen Kasimir Malewitsch (1878-1935), von dem Protestanten Piet Mondrian (1872-1944) und dem Katholiken Josef Albers (1888-1976) ins Bewußtsein gehoben. Auch Malewitsch kommt aus Symbolismus, Impressionismus und russischer Volkskunst, doch kubistische Tendenzen ermöglichen ihm, ein Interpretationsmodell der Welt durch ein System geometrischer Form und möglichst reiner Farben zu entwerfen. Er sucht ein neues universales Konstruktionssystem, das sowohl metaphysische Zeichen der „Urmenschen" wie auch die Konstruktion von Kräften des neuen Bauens anregen sollte. Das Quadrat, als Urprinzip und Erkennungszeichen des sog. „Suprematismus" diskutiert, soll in einer gleichsam magischen Atmosphäre zum „Symbol von Anfang und Ende im Nichts" angesehen werden, eines unverwechselbaren Empfindungspunktes über dem Nichts, symbolisiert im weißen Untergrund. Obwohl Malewitsch in seinen zahlreichen theoretischen Schriften immer wieder das Formproblem behandelt, ist die mystische Komponente seines Werks unbestritten. Die „Aufgabe, eine Form aus dem Nichts zu schaffen" (Malewitsch, 1923), und die Euphorie, Kunst sei „grenzenlos", belegen idealistisches Pathos. Deutlich theosophische Züge trägt das Frühwerk von Mondrian (z. B. das dreistufig aufgebaute Triptychon Evolution von 1910/11). Auf dem Weg über Materie, Geist und spirituelle Klarheit erreichen die Formen höchste geometrische Abstraktion und die Farben „Reinheit". Die durch Mondrian beeinflußte Herrschaft der geometrischen Linie in der europäischen Architektur verfiel in einen zweckorientierten Funktionalismus, nachdem das Bewußtsein um die begründenden religiösen Vorgänge verloren war. Mondrian hatte die „auratische Hülle" der Grundkräfte des organischen und geistigen Lebens immer mitgedacht. Die Aura der geometrischen Figur, insbesondere des Quadrats als Zeichen elementarster Vorgänge, war auch Anliegen von Josef Albers. Ineinanderliegende Quadrate mit unterschiedlichen Farben sollen Wahrnehmung als Ehrfurcht vermitteln (s. u. Abschn. 3.4). Kunst wird wieder als wesentliche Sprache von Religion entdeckt, als offenbarte „Vision". Die Abstraktion ist Außenseite der Leidenschaft eines Mystikers.

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3.3. Eine kosmologische Mystik kann man bei Lyonel Feininger (1871-1956), Paul Klee (1879-1940) und Franz Marc (1880-1916) - sie waren mit Kandinsky Mitglieder des „Blauen Reiter" — als herausragendes Merkmal feststellen. Während Feininger letzte Formen durch eine vollkommene Ruhe im Bild erreichen wollte und den Farben metaphysischen Charakter zuschrieb, suchte Marc nach Zeichen des Empfindens für den organischen Rhythmus aller Dinge (Rhythmus als Bildungsgesetz des Einzelwesens und als Harmonie alles Geschaffenen gedacht). In seiner Kritik am Fortschrittsglauben der Technik und Wissenschaft postulierte er, daß es „keine große und reine Kunst ohne Religion" gebe. Paul Klee schuf Werke „zwischen den Polen träumender Naivität und höchster Spiritualität" (Horst Richter). Er führte die Kunst als konstruktive Mimesis auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurück, nämlich nicht das Sichtbare wiederzugeben, sondern das Unsichtbare sichtbar zu machen. In seiner Schrift Schöpferische Konfesston (1920) äußert Klee den Wunsch nach „einem Formkosmos, der der Schöpfung so ähnlich ist, daß der zarteste Atem ausreichte, religiöses Gefühl, Religion in die Realität zu verwandeln". Die geheimen Visionen des Künstlers (Klee: Wege des Naturstudiums, 1923) setzten bei intensivem Beobachten und Wahrnehmen abstrakte Formen frei, welche „die Natürlichkeit des Werks" ausmachen. Dieses habe Anteil „an der Schöpfung von Werken, die dem Werk Gottes ähnlich sind".

Auch Maler wie Frantisek Kupka (1871-1957), Johannes Iten (1888-1967), Georg Muche (geb. 1895) u. v. a. sowie die visionären Architektur-Phantasien aus dem Kreis um Bruno Taut (ca. 1920), die sog. Gläserne Kette (1983), sind hier zu erwähnen. Alle Architektur ist als Gesamtkunstwerk Bild des Kosmos, der gotische Dom nur das Präludium der Glasarchitektur überhaupt (Paul Scheerbart). Unter Berufung auf Meister Eckhart sucht man die Humanisierung der Welt als eine Art „Vergottung". 3.4. Die Entdeckung des Erhabenen in der amerikanischen Kunst nach der Jahrhundertmitte entzündet sich an der Verkehrung abstrakter Malerei zum bloßen Ornament (was schon Kandinsky befürchtet hatte). Berühmt wurde der 1943 an die New York Times gerichtete empörte Brief von Marc Rothko, Barnett Newman und Maurycy Gottlieb, die entgegen dem bloßen Asthetizismus der Diskussion um Form, Farbe und räumliche Anordnung sowie um Stilrichtungen die New Yorker Schule gründeten mit der These: „Der zeitgenössiche Maler befaßt sich nicht mit seinen eignen Gefühlen oder mit dem Mysterium seiner eigenen Persönlichkeit, sondern dringt in das Mysterium der Welt ein. Seine Imagination versucht daher, sich in metaphysische Geheimnisse zu vergraben. Insoweit hat seine Kunst es mit dem Erhabenen zu tun. Es ist eine religiöse Kunst, die durch Symbole der Grundwahrheit des Lebens eingefangen wird... der Künstler versucht der Leere die Wahrheit zu entreißen" (zit. nach Th. B. Hess 37; vgl. ebd. die Beziehungen zur jüdischen Mystik!). Während Tobey (1890-1976) mit Anleihen an den Zen-Buddhismus die Kontemplation der Bilder in Erinnerung rief, wollten die Juden Rothko (1903-1970) und Newman (1905-1970) mehr: eine genuine Erneuerung religiöser Malerei des 20. Jh. (R. Kudielka; W. Schmied, Alles ist im Fluß). Zwar verbinden sich in den monochromen Bildern von beiden Einflüsse des Zen-Buddhismus und jüdischer Mystik; doch die Behandlung der Farbflächen enthält eine völlig neue Idee: Der Betrachter soll - wie der Maler - seine vollständige Anwesenheit beim Kontemplieren erfahren. Die hypnotische Kraft des Farbraums will von Zerstreuung befreien und zu einer Bewußtheit erlöster Geschöpflichkeit hinführen. 1965-67 arbeitet Rothko an den „Chapel paintings" für die Kapelle des Instituts „for religion and human development" in Houston, die, von einem Privatmann gestiftet, 1971, nach seinem Tod, eingeweiht wurde. Von Newman stammt der wohl wichtigste Kreuzweg unseres Jahrhunderts, der sich jedoch in einer Privatsammlung befindet (siehe W. Schmied, Zeichen 176-179.274f). Die monochromen Schwarzbilder von Ad Reinhardt (1913-1967), häufig in Kreuzvariationen, belegen die bewußte Voraussetzung von Religion für alle Kunst, die selbst „nur Kunst" sein soll, aber deren Urheber in der kompromißlosen Entscheidung dessen, was wichtig und weniger

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wichtig und überhaupt nicht wichtig sei, eine religiöse Dimension treffen. Ihre Bilder beanspruchen eine außergewöhnliche Sensibilität, die dem Schöpfungsakt des rituellen Malens entsprechen soll. Auch führende Künstler Europas haben in ähnlichem Sinn das alte Motiv des Erhabenen wieder entdeckt, und zwar als Spur bewußter Vertiefung in Urbeziehungen von Bewegung, Körper und endlich-unendlicher Verweise. So z.B. Georg Meistermann und Alfred Manessier (beide geb. 1911), Wols (Alfred O . W . Schulze, 1 9 1 3 - 1 9 5 1 ) , Stanislaw Fijalkowski (geb. 1922), sodann Ruprecht Geiger (geb. 1908), Gotthard Graubner und Raimund Gierke (beide geb. 1930), Alexandre Hollan (geb. 1933) sowie die Bildhauer Karl Prantl (geb. 1923), Herbert Baumann (geb. 1927), Ulrich Rückriem (geb. 1938), Richard Long (geb. 1945) oder Abraham D. Christian (geb. 1952): abstrakte, aber körperhafte Flächen und Farbräume, Stelen und Malzeichen, in denen Leib und Kosmos zu Symbolen des Erhabenen verschmelzen.

3.5. Hieroglyphen des individuellen Credo finden sich in vielen Kunstwerken der 2. Jahrhunderthälfte. Schon Paul Klee, dann aber auch Joaquin Torres Garcia (1874-1949) und Emilio Vedova (geb. 1919) entwickelten individuelle Schriften als Symbolsprachen des Universums bzw. archaischer Religiosität, mit denen nicht nur Identität zwischen Individuum und Kosmos, sondern auch Kritik am Esoterischen der Religion geübt wurde. Religion ist für Garcia „die Verwirklichung des universalen Menschen . . . eine Trinität" im Sinne von Vernunft, Ethos in der Natur und Physis des Universums im Glauben (zit. nach J . Harten u.a. 265). Graffitiähnliche Spuren des individuellen Glaubens im bewußt christlichen Sinne finden wir bei Gerhard Hoeme (1920-1989), der die Erfahrungen des Spiels zwischen Zeichen und Bezeichnetem am Material, also Zustände seelischen Erinnerns in Spuren eine Art Psychogramm darstellt (z.B. Himmelfahrt 1968; Kreuzbild 1977 oder Jesus meine Zuversicht 1982). Im Werk von Antoni Täpies (geb. 1923), der sich schon früh assyrischer und ägyptischer Schriftzeichen bediente, um passende „Transscriptionen für seine Empfindung von der Rätselhaftigkeit des menschlichen Daseins" zu vermitteln, war Religion immer ein zentrales Thema und das Bild eine Art Meditationsgegenstand. Geheimschriften, die auch auf seinen Kreuzen auftauchen, gehören zu jenen lapidaren Ausdrucksweisen, mit denen Täpies innere Haltungen („statt eine Predigt über die Demut zu halten, ziehe ich es oft vor, die Demut selber darzustellen") und Erkenntnisse über das Sein im Kosmos vermittelt. Mit Glasmalereien (St. Gallen) und Reliefs (Worms, vgl. o. Abschn. 1.5) hat sein Werk auch in Kirchen Eingang gefunden. Die Brandkollagen von Johannes Schreiter (geb. 1930), Chiffren von Heil und Verwundung, werden selbst zu Interpretanten kultureller „Notationen" (z.B. Originaltexte des Alten und Neuen Testaments, philosophische Handschriften, Partituren, Elektrokardiogramm, Doppelhelix) in den berühmten Fensterentwürfen für die Heiliggeistkirche Heidelberg, zu einer „konkretisierten Theologie" (K. Ruhrberg). Der Raum, für die Bibliotheca Palatina mit reformiertem Gottesdienst erbaut, wird dadurch zum hervorragenden Dokument unserer Tage, weil das Kunstwerk mit starker spiritueller Kraft und sublimer Geistigkeit liturgische Situationen und Betrachtung (-»Andachtsbild) eigenständig mitgestaltet. Es definiert das menschliche und heilsgeschichtliche Universum zudem ikonographisch neu. Das Programm ist der „bisher wagemutigste Versuch..., die Spannung zwischen Erkennen und Glauben nicht nur auszuhalten, sondern... sie zur coincidentia oppositorum zu verbinden: ein Experiment von unbestreitbarer Kühnheit" (K. Ruhrberg 234; zum weiteren Werk Schreiters s. K. Hoffmann; H. Gercke/R. Volp). 3.6. Die Wiederentdeckung des Lichts gehört zu den herausragenden Merkmalen der Modernen Kunst, auch im kirchlichen Raum (vgl. J . Schreiter, Werkstoff; R. Volp, Spuren). Die Transformation überkommener Lichtsymbolik brachte neue theologische Dimensionen zum Vorschein: Die Einsicht der Ähnlichkeit individualer Empfindungen mit Ursprungsrelationen des Lichts etablierte sich in der allgemeinen Malerei (H. Liesbrock), im Kirchenbau (G. Rombold, Licht u. Farbe) und in der gegenseitigen Befruchtung beider in der Glasmalerei. Josef Albers (1954, St. John Kapelle in Collegeville), Georg Meister-

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mann und Johannes Schreiter führten die neuzeitliche Glasmalerei zu Höhepunkten, die weniger die Farbe als vielmehr das Licht (z. B. in Grisaille-Gläsern) thematisieren. Gegenüber den Blanlcverglasungen, die aus den Zufälligkeiten des Außenraums leben, gestaltet das Kunstwerk den Raum „zu Resonanzkästen" eines sich vielfältig wandelnden „Lichtgezeitenspiels", mit dem die Statik der Architektur zu einer vitalen und den Gottesdienst definierenden klaren Sprache werden kann (H. Gercke). Ästhetisch anspruchsvolle Gestaltungen vermeiden ebenso bloß Ornamentales wie Effekthascherei; ihre eigenständige Verkündigungsqualität ist unbestritten, zumal sich Erkenntnis zunehmend leiblicher und visueller Medien bedient. In der Malerei von Ben Willikens (geb. 1939) wird das Licht zu einem zentralen theologischen Thema, das tradierte Bildvorstellungen unterläuft (Abendmahl, 1979): Gegenüber der Objektivierung von Personen im Abendmahlsbild Leonardos erschließt die Lichtmetapher den Sinn durch Entfernung verbrauchter Vorstellungen und das Motiv der hellen Leere. 3.7. Der Einfluß östlicher Mystik war schon bei Tobey zu merken; Arakawa (geb. 1936), Jochen Gerz (geb. 1940), Katzuo Katase (geb. 1947) und vor allem Wolfgang Laib (geb. 1950) setzen auf die endlich-unendliche Verweiskette von Gesten, Dingen und Tönen, letzterer mit Pollen und Bienenwachs (H. Szeemann, Zeitlos), um den Zusammenhang von Natur und Kultur religiös neu zu definieren (R. Volp, Spuren). 4. Die religiöse Metaphysik

des

Surrealismus

4.1. Religiöse Imagination und Vision in Bildern wie z.B. Die Glorienscheine Christi oder die Sensibilitäten des Lichtes (1887) von James Ensor (1860-1949) stehen am Anfang des Surrealismus; sein großes Werk Einzug Christi in Brüssel (1888) bricht dank der Identifikation des Künstlers mit Christus die sozialkritische Oberflächc auf in psychologische Tiefen - so auch Alfred Kubin (1877-1959) in seinen Kreuzigungen zwischen 1909 und 1920. Die biblischen Traumvisionen, profiliert durch den -»Chassidismus und durchsetzt mit erotischen Motiven, beschäftigen ein Leben lang den gebürtigen Russen Marc Chagall (1889-1988), dessen Kreuzigung (1951 f f ) und Bibelillustrationen (1956ff) zu den wichtigsten Bibelauslegungen dieses Jahrhunderts gehören. Für Synagogen- und Kirchenfenster beider Konfessionen schuf er seit 1956 visionäre Malereien mit biblischen Motiven (Assy, Jerusalem, Zürich, Metz und Mainz). Die kritische Komponente von Ensor und Kubin nahmen René Magrittc (1898-1967), Paul Wunderlich (geb. 1927) und vor allem die Vertreter einer metaphysisch-visionären Landschaft auf. 4.2. Die „metaphysische Landschaft" - so der Titel eines bekannten Bildes von José C. Orozco (1883-1949) aus dem Jahre 1948 - ist bezeichnend für eine verbreitete Tendenz apokalyptischer Visionen mit z. T. mystischem, z. T. moralischem Einschlag: Scelenlandschaften und Weltsichten des verschütteten Unbewußten, Reaktionen auf die Traumanalysen von Sigmund -»Freud, aber auch metaphysische Chiffrierung von Bestürzung und Katharsis. Max Ernst (1891-1976), Richard Oelze (geb. 1900), Edgar Ende (geb. 1901), Salvadore Dali (1904-1989), Rudolf Hausner (geb. 1914), Ivan Vecenaj (geb. 1920) sowie Werner Tübke (geb. 1929, bes. die Lutherbilder!) und Ernst Fuchs (geb. 1930), letzterer mit vielen biblisch-phantastischen Bildern, sind hier zu nennen. Ihr weltanschaulicher Einfluß ist erheblich. 4.3. Pittura-Metafisica, Futurismus und Dadaismus stellen die Metaphysik als eine positive Kraft des Fortschritts dar, so z. B. bei Carlo Carra (1881-1966) oder Giorgio de Chirico (1888-1978), oder sind auf eine ganz neue Religion aus, wie etwa der Dadaismus, eine den ästhetischen Betrieb und die ästhetischen Kodes radikal ablehnende Bewegung, die durchaus mit dem Bildersturm früherer Jahrhunderte vergleichbar ist, auch wenn die aggressiven Mittel des Paradoxen und des Ulks Selbstbefreiung im Sinne einer subjektivistischen Religion propagieren. 4.4. In Visionen utopischer Kathedralen und Gesamtkunstwerke war die Kunst dieses Jahrhunderts besonders fündig (vgl. H. Szeemann, Gesamtkunstwerk). Die von Antonio

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C. Gaudi (1852-1926) projektierte Kirche der heiligen Familie in Barcelona, die den Kölner Dom an Größe übertreffen sollte, ist noch heute nicht vollendet. Formen aus Natur und geometrischen Regeln sind Ausdruck der Vision einer umfassenden, göttlich bestimmten Einheit unter Führung der „Hauptkunst der Architektur". Das Goetheanum von Rudolf Steiner (-» Anthroposophie) sollte Umsetzung der „Luftgebärde" (des Wortes) in „sichtbare Gliedgebärde" sein. Das 1914 erbaute erste Goetheanum wurde nach einem Brand 1924 in neuen, die Architekturentwicklung beeinflussenden organischen Formen ersetzt. Peter Behrens (1868-1940) sah im Theater das höchste Kultursymbol für das Fest des Lebens und der Kunst, Universum aller Anschauungen von Welt und ihrem Sinn. Noch die Festkultur besonders europäischer Städte während der 70er und 80er Jahre gebiert religiöses Pathos mit mythischer Erinnerung und ehrfurchtsheischenden Ritualen. Der Versuch, das Jenseits mit diesseitigen Mitteln darzustellen, schlägt häufig um in übersteigerte Projektionen nostalgischer Empfindungen. 5. Der prophetisch-soziale

Realismus

Religion im sozialen Realismus der Kunst zeigt sich sowohl in kritischen Weltbildern wie in einer verharmlosenden Überhöhung der Institutionen oder auch staatlicher Weltanschauungen. Deshalb ist eine historische Verortung besonders dieser Tendenzen - bislang noch unerforscht - sorgsam vorzunehmen. Einige wenige Andeutungen müssen genügen.

5.1. Die „proletarische Pietà" und der „Jesus der Armen" gehören zu den treibenden Motiven des klassischen Realismus im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund erst konfessioneller, dann anti-institutioneller Karikaturen der Jahrhundertwende, aber auch angestoßen durch den proletarischen Christus (Fritz von Uhde; Max Liebermann u. a.) und ermutigt durch den graphischen Zyklus Religions von Frantisek Kupka (1904), der mit Willkür und weltlicher Macht der Religionen abrechnen will, entstehen nach dem Ersten Weltkrieg starke, zumeist voneinander unabhängige Werke, deren Sozialkritik das Liebesgebot im öffentlichen Konflikt thematisiert. Für viele bestimmend wurden die Holzschnitte, Plastiken und Zeichnungen von Käthe Kollwitz (1867-1945), die in ihrer Pietà (1903), aber auch in dem Bild Aus vielen Wunden blutest Du, oh Volk (1896), Passionsbilder Jesu und seiner Mutter zum Schlüssel aktueller Ereignisse macht. Für sie war -»Sozialismus nicht nur „ersehnte Bruderschaft der Menschheit", sondern auch eine „Beziehung... zu Gott". Sic scheute sich, in den Thcologumena der damaligen Zeit von ihrem Glauben zu sprechen. „Lieben tat ich Gott nicht - er war mir viel zu unnahbar, aber ich hatte wohl Ehrfurcht vor ihm. Lieben tat ich Jesus" (zit. nach Schmied, Zeichen 255). Von ihr angeregt wurden Otto Dix (1891 -1969) und George Grosz (1893-1959). Dix hat ein ergreifendes Œuvre mit christlichen Themen hinterlassen: die Pietà von 1912 deutet die bevorstehenden Schrecken des Krieges in einer expressionistisch erschütternden Weise christologisch. Ähnlich die Kreuzigung von 1914, ein Thema, das mit einer Reihe von Kreuzigungs- und Auferstehungs-Bildern 1946 wieder aufgegriffen wird. Vor seinem Tod schuf er einen Zyklus zum Matthäus-Evangelium. Das Evangelium gehört zu den „Urthemen der Menschheit", unter denen er die biblischen Geschichten in besonderer Weise selber erleben, sehen und gestalten will. Seine Skepsis gegenüber den Dogmen machte ihn zum begeisterten Bibelleser. Die Leidensgeschichte Jesu war ihm der Schlüssel zur Interpretation des Leidens der Menschen unter dem Faschismus (R. Beck 229 f; ähnlich ist auch das Bild Kain, 1944, von G. Grosz zu interpretieren). Drei Kirchenfenster in Hemmenhofen zur Apostelgeschichte sowie Fresken zu biblischen Themen im Standesamt Singen konnte Dix vor seinem Tod noch vollenden. Der durch religiöse Motive mitgeprägte soziale Realismus ist auch in Frankreich (Jean Fautrier), in England (Edward Burra, Carl Weight), Italien (Ottone Rosai), in Litauen (Ben Shan) und in den USA (jack Levine) anzutreffen. Von besonderem Gewicht jedoch ist die durch Politik und Volkskunst aufgeladene Religiosität der mexikanischen Malerei, etwa von Francisco Goitia Garcia (1882-1960) oder von Saturnino Herran (1887-1918). Vor allem jedoch die drei großen Meister der mexikanischen Kunst José C. Orozco (1883-1949) mit dem wohl stärksten Werk Christus zerstört

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sein Kreuz (1943), Diego Rivera (1886-1957), der die Kapelle von Chapingo 1925 - 2 7 ausmalte, und David A. Siqueiros (1896-1974) mit seinen biblischen, aber kirchenkritischen Gemälden (besonders nach 1947). Orozco wie Siqueiros mußten sich während der politischen Kämpfe der 20er Jahre dem vom Klerus geschürten Kunstvandalismus erwehren, obwohl - oder weil - ihr Realismus schnell und emotional verstanden wurde.

5.2. Nationale und soziale Utopien, die auf den Beifall der Masse und die historische Legitimation des Bildungsbürgertutns setzten, bedienten sich der durch den Realismus erarbeiteten gegenständlichen Kunstauffassung, die lediglich zu idealisieren war, um die Heroik politischer Utopien plausibel zu machen. Noch im März 1934 fungierten Göbbels und Göring als Mitglieder eines Ehrenkomitees für die Ausstellung des Italienischen Futurismus in Berlin, und andere Nationalsozialisten versuchten, den -»Expressionismus „nordisch" zu interpretieren. Doch den herrschenden Ideologien kam die Heroik des Realismus mehr entgegen. Drittrangige Bildhauer und Maler eroberten in den 30er Jahren mit Hilfe der Regierung öffentliche Plätze wie auch Kirchen und Museen. Man diffamierte das „Kunstideal" der „vergangenen Jahre" als „ästhetische Kunst", während die der Gemeinde verständliche „Plastik und Malerei in den Dienst der Wortverkündigung" zu stellen sei (W. Wendland, Einleitung 33). Der Künstler habe seine „weltliche Haltung" abzulegen und sich „in das Leben der Gemeinde" einzugliedern. Die Folge war und ist bis heute ein Realismus der bloßen Anpassung, währenddessen das Gesamtkunstwerk bei Reichsparteitagen oder als Zelebration im Sinne der Bayreuther Festspiele auf Wiedergeburt hoffte. Totalitarismus und Totalkunst wurden zu Synonymen, um mit einem neuen Mythos das religiöse Fest in den Dienst der Staatsideologie zu stellen. Die Aufgabe des Künstlers, mit Mythen die Utopien von Wunschphantasien zu kritisieren, wurde durch den Kampf gegen die sog. „Entartete Kunst" bis 1945 in Deutschland unterminiert. Die „tobsüchtige Sehnsucht nach dem Ganzen" (H.W. Syberberg) versuchten Filmautoren durch Fragmente aus Theater, Literatur, Musik und Bildende Kunst zu unterlaufen und im Sinne der unbewältigten Trauerarbeit zu überholen. 5.3. Ein neuer kritischer Realismus hat in der zweiten Jahrhunderthälfte durch Psychogramme des Erschreckens und durch Kritik am oberflächlich christlichen Weltbild die Impulse der 20er Jahre wieder aufgenommen. Die Künstler Westeuropas und Amerikas blieben zwar zunächst reserviert, weil sie die im Dritten Reich verfehmten Kunstrichtungen aufzuarbeiten hatten; hier waren es erst die politischen Bewegungen Ende der 60er Jahre, die dem Realismus wieder zum Durchbruch verhalfen, so z.B. bei Edward Kienholz oder Peter Atanasow, beide USA, die Probleme des Vietnam-Krieges christologisch deuteten, in der Bundesrepublik Harald Duwe mit einer sadistischen Darstellung des Abendmahls (1977), Klaus Staeck mit kritischen Fotomontagen und Gisela Breitling (geb. 1940), die den Turm der Matthäus-Kirche Berlin mit Szenen des Matthäus-Evangeliums ausmalte (1989/90). Auch das Christopherabild der Feministin Elvira Bach (geb. 1951) oder die Judenschule von Ronald B. Kitaj (geb. 1932) markieren ikonographische Neuansätze im Rahmen des Realismus. Da dieser von den marxistisch geprägten Staaten Osteuropas nach 1945 weiterhin als ideologischer Leitstil angesehen wurde, diente er zunächst als Apotheose sozialistischer Mythen; aber auch hier kam seit den 70er Jahren das christliche Thema als kritisches Potential gegenüber den Institutionen und den herrschenden Ideologien zum Vorschein. Mehr als in den UdSSR, wo man sich der nicht-realistischen Traditionen erinnerte, war in der DDR das Erbe von Käthe Kollwitz, aber auch von Dix und Grosz wirksam. Bernhard Heisig (geb. 1925), Wolfgang Mattheuer (geb. 1926), Harald Metzkes (geb. 1929), Joachim John, Sigfried Krepp (beide geb. 1933), Karl Georg Hirsch (geb. 1938), Volker Stelzmann (geb. 1940), Sigmar Polke und Sighard Gille (beide geb. 1941) brachten Themen des Evangeliums kritisch in die öffentliche Diskussion (U. Arnold). Von Krepp stammt das Südportal des Berliner Doms (1987).

Von besonderem Gewicht für die Verhältnisbestimmung Kunst und Religion im 20. Jh. ist das Werk von Alfred Hrdlicka (geb. 1928 in Wien), der zwar aus dem Kubismus

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der Wotruba-Schule hervorging, mit seiner Radierungsfolge Roll over Mondrian (1968) jedoch so etwas wie ein Manifest gegen die Abstrakte Kunst und ein Bekenntnis zum realistischen Sozialismus abgab. Für Hrdlicka ist „die Weltgeschichte ein beständiges Golgatha" (G. Rombold, Streit 176), denn die Fleischwerdung Gottes, zugespitzt in zahlreichen Folgen zur Passion Jesu, ist der Schlüssel zu seinem bildhauerischen und graphischen Werk. Das „Fleisch", das er selbst in Abendmahlsszenen mit Problemen des Obszönen verbindet, ist ihm Symbol für das Todesschicksal des Menschen, so daß Tod und Eros, geschundenes Fleisch und Lustbeziehung zu den immer wiederkehrenden Bedeutungsachsen seiner Gleichnisse des Weltgesetzes werden. Besonders seine Blätter ecce homo, Karfreitag und Das allerneueste Testament zeigen Jesus als Symbol für alle Menschen, die ungerecht getötet wurden. Obwohl Hrdlicka einmal äußerte, daß „nicht das Wort, sondern das Fleisch im Zentrum des katholischen Denkens stehe, denn ohne seine Vergänglichkeit gebe es keine Auferstehung... alle Macht im katholischen Glauben gehe vom Fleisch a u s . . . " (zit. nach G. Rombold, Streit 176), ist es eine evangelische Kirche, in der sich sein vielleicht wichtigstes Werk, der Plötzenseer Totentanz (1969-1972; A. Hrdlicka, Wie ein Totentanz) befindet. In 15 hochformatigen Tafeln verbinden sich Themenkreise des politischen Widerstands und des kalkulierten Todes ( T o d im Boxring, Stripperin mit dem Tod) mit biblischen Erzählungen (von Kain und Abel bis zur Passion Jesu). Vor allem die Folge „Emmaus - Abendmahl - Ostern" gilt als „eines der bemerkenswertesten Auferstehungsbilder der Kunstgeschichte" (G. Rombold, a . a . O . 172): Die Gestalt des brotbrechenden Gefangenen vor der Hinrichtung wird mit Mitteln der Symmetrie und des an Rembrandt erinnernden Lichtes als Realpräsenz Christi symbolisiert.

Für Hrdlicka realisiert die Bibel eine Gottkonzeption durch den Menschen, „die ihren Höhepunkt in der Fleischwerdung Gottes im Neuen Testament findet"; der Kunst gilt die Aufgabe, darüber „Nachdenken zu schaffen" (zit. nach Rombold, a . a . O . 176). 6. Religiöse

Kontemplation

in der neuen

Objektkunst

Im Umgang mit Gegenständen, Materialien und den Bildobjekten entfaltet sich eine Kontemplationskultur: in der Betrachtung des Menschenbilds (6.1), sowie als Kontemplation elementarer Fragmente von Lebensgrundlagen (6.2).

6.1. Die Betrachtung des Menschenbilds ist ein Problem der Beziehung zwischen Gegenstand und Betrachter: Inwiefern wird das höchste Symbol, der Mensch, zum Spiegel, zur Identifikationsfigur oder zum Abbild und wovon? Schon C. D. Friedrich thematisierte die Relation des Betrachters vor dem Werk, dessen Autonomie gegenüber fremden Systemen Identitätsmöglichkeit und Ähnlichkeitsfunde garantiert; seit dem antiästhetischen Pathos des Dadaismus wurden Materialien und Collagen Aufforderungsfragmente einer permanenten Zerstörung idealistischer Menschenbilder, um Schönheit nicht als Stilprinzip, sondern als eschatologische Qualität zu finden. „Die Idee, daß man in Obskuritäten oder in einen subjektiven Nihilismus verfallen könnte, ist absurd. Solche Ideen werden nur von Leuten verfochten, denen es an Bezugsmöglichkeiten oder an Erfahrung fehlt" (Cy Twombly, ca. 1960, zit. nach H. Szeemann, Zeitlos 80). Während P. Picasso die existentielle Krise des Malers thematisierte, bestand Willem de Kooning (geb. 1904) darauf, daß auch die Wahrnehmung nicht aus der Ambivalenz des Eindrucks entlassen werde: Die Spuren des Malaktes sollten die Gestik beim Erkennen des Gegenübers selbst in der Monumentalität festhalten und Widersprüche der Kommunikation, deren Mißlingen die Regel ist, auf keinen Fall überhöhen. Diese Spannung unterwarf er - mit 81 Jahren noch einmal einer Transformation, als er für die Kirche St. Peter in New York sein größtes Bild (2 x 6 m), ein Altar-Triptychon, schuf. Die trinitarische Durchdringung von Eros und Tod irritierte die Gemeinde derart, daß sie - einer der übelsten Kunstskandale des Jahrhunderts — das Bild nach einem ersten Gottesdienst dem Künstler zurückgab (1988). Joseph Beuys ( 1 9 2 1 - 1 9 8 6 ) , dessen Skulpturen, Zeichnungen, Environments und Aktionen die deutsche Kunstszene wesentlich bestimmt haben, erklärte jeden Menschen zum Künstler, weil sein kreatives Potential auf Kunsttätigkeit angelegt sei. Abgesehen von seinen frühen Kreuzen für Grabmäler und Kirchen (1947-1952) sind die Arrangements Aufforderungen zu einer verdichteten religiösen Kontemplation und seine Aktionen Riten,

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deren Mythen neu definiert werden. Sie stehen fast durchweg mit religiösen Aufgaben in engem Zusammenhang, zumal Beuys den „Christusimpuls" in den Kirchen vermißt. Er signalisiert mit seinen Darstellungen eine „Realpräsenz Christi", die „jeden einzelnen Raum und jedes einzelne Zeitelement substantiell" durchweht. Im Ambiente Zeige Deine Wunde (1974/75) rufen die Gegenstände eine Stille hervor, die, Lebensspuren abschreitend, mit dem Tod und dessen Sinn konfrontiert. Beuys will den Christusimpuls in Anspielung auf christliche Riten darstellen, z.B. in der Aktion Celtic, bei der er in der Karwoche 1971 in einem Zivilschutzraum in Basel an 7 Personen die Fußwaschung vornahm und - in Anspielung auf die Taufe - sich mit Wasser übergießen ließ. 1982 baute er in einer New Yorker Galerie, mehrere Tage mit einem Koyoten, dem verachteten Tier Amerikas, zusammenlebend, in der Attitude des guten Hirten Beziehungsfiguren zur Kreatur auf. Kritischallegorische Elemente finden sich in Arrangements von Gegenständen wie Filz und Fett, den Grundlagen organischen Lebens, oder in der Skulptur Ich glaube (1985) mit Schwefel, Orangenblättern und Eisen, Anspielungen auf Ambivalenzen lebensspendender und lebenstötender Substanzen. Indem der Erkenntnisvorgang am Material entfaltet wird, soll der Mensch in seiner Würde und Freiheit als Interprétant des Glaubens evident werden: „das einfache Anschauen eines Menschenantlitzes ist schon etwas Sakramentales" (zit. nach W. Schmied, Zeichen 205).

Die Ermöglichung von Wahrnehmungsbezügen im Sinne religiöser Mimesis ist wahrscheinlich der Kern des Beuys'schen Werks. Das Menschenbild sub contrario des Augenscheins beschäftigte den praktizierenden Katholiken Andy Warhol (1930-1987), der mit seinen Stereotypenbildern die Heuchelei der anteilnehmenden Fotografie kritisierte („Himmel und Hölle sind nur ein Atemzug weit weg"): Klischees mit aufgesetzten Gesichtern, die selbst in sein wichtiges Abendmahlsbild einflössen (1985), sollten die personale Zuwendung im Abstand von ästhetischer Magie andeuten. Die rituelle Auseinandersetzung mit dem Christusbild dokumentiert das Werk von Arnulf Rainer (geb. 1929), der z.B. mittelalterliche Christusköpfe übermalte, zugleich jedoch starke Spuren der Mystik hinterläßt. Christus „entzieht sich mir, wenn ich ihn darstelle. Er ist vielleicht da in einer angedeuteten, verlöschten, fragmentarischen Weise. In gewissen Zeichen. Und doch entzieht er sich auch d o r t " (A. Rainer 51). Gottes Abwesenheit ist die notwendige Voraussetzung, um die Unverfügbarkeit des Absoluten in der Leere anzudeuten und mitzuteilen. Das 1957 für eine Grazer Hochschulkapelle geschaffene Weinkruzifix wurde bald verhängt, dann vom Maler zurückgekauft und übermalt; heute befindet es sich in der Tate-Gallcry, London. Zwei weitere Kreuzübcrmalungen gelangten in die evangelischen Kirchen St. Petri, Lübeck, und Geldersheim bei Schweinfurt.

Spuren des symbolischen Christusleidens beim künstlerischen Akt finden sich in den Werken von Jürgen Brodwolf, Herbert Falken, Werner Knaupp, Rainer Mang, Antoni Saura u.a. Insbesondere die Spannung zwischen spiritueller Kraft und künstlerischer Energie hat auch das Thema „Engel" wieder hoffähig gemacht (M. Richter [Hg.]). 6.2. Materialien als Kontemplationschiffren der Lebensgrundlagen sind gelegentlich von hohem theologischen Rang. Luise Nevelson (geb. 1900), aus Kiew nach New York übergesiedelt, baute monumentale Schreine aus Trödel und Zivilisationsabfall: Ein vielbeachtetes Werk beherbergt die St. Peter's Lutheran Church unter dem City Corp Center von H. Stubbins in New York City. Der Grieche Jannis Kounellis (geb. 1936) erinnert mit Bruchstücken antiker Mythen und christlicher Ritualelemente an Altäre, für die eine neue Aura gesucht wird. Markus Lüpertz (geb. 1941) gestaltet archaische Urbilder in monumentaler Größe, Dorothee von Windheim (geb. 1945) stapelt die Ergebnisse einer Begegnungssuche mit Christus als Spuren ritueller Annäherung (U. Arnold 86). Walter de Maria (geb. 1935, USA) verbindet „absolute Grundsymbole der Zivilisation" wie Dreieck, Quadrat, Kreis und Kreuz einerseits mit Inhalten historischer Religionen, andererseits mit Betroffenheit des Naturbezugs. Die Spannung zwischen Kultur und Naturerinnerung finden wir auch in den erdbezogenen Elementen bei Antoni Tapies und Ulrich Rückriem (vgl. o. Abschn. 3.5). Die religiöse Dimension von Archaik, menschlicher Aura und Proportionalität waren bestimmende Komponenten zweier wichtiger Ausstellungen: „ R a u m - Z e i t - S t i l l e " (W. Herzogenrath) und „Zeitlos" (H. Szeemann). Die gegenständ-

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liehen Objekte wie Holz, Metall, Bienenwachs, Rauch, „Künstlerfahne" und Bruchstein klagen durch die Aufforderung zur spirituellen Andacht verschüttete Beziehungen des Menschen ein. Auch die körperhaft spürbaren Motive von Feuer und Licht eröffneten eine neue Kontemplationskultur. Anknüpfend an C. D. Friedrich und W. Blake erfanden J. Schreiter (1958) und A. Buri (1959) die Brand-Collage, Symbole von Verwundung, Wärme, Zeit und Vergänglichkeit (zu J. Schreiter vgl. o. Abschn. 3.5). Günther Uecker (geb. 1930) verbindet mit seinen Nagelbildern Todesgefährdung und Lichtsymbolik, vgl. das Nagelboot Chichicastenango in der Pax-Christi-Kirche Krefeld (K.J. Maßen). Franz Bernhard (geb. 1934) verbindet Werkelement und menschliche Figuration in Eisen-HolzKombinationen, mit denen Lesepult, Altar und Kruzifixus eine eigenständige liturgische Symbolik entwickeln (K. Winnekes, Konzentrationen). 7. Mythensuche

und naive

Frömmigkeit

Angestoßen durch mexikanische Malerei, die Mythologien im Werk Picassos und die Suche nach verbindlichen Ursituationen, wurde der —• Mythos zum beherrschenden Thema seit ca. 1970. Die Zurückhaltung davor resultiert aus den Erfahrungen mit dem Mythos des 20. Jahrhunderts von A. Rosenberg; doch „die große Sehnsucht nach Göttern blieb" (Max Dvorák).

7.1. Das Mythische blieb keine bloße Gattung, sondern wurde auch als Sprache begriffen (R. Barthes 85; H. Bisanz 492). So konnten sich mit dem Mythischen auch existentielle, apokalyptische und religiöse Inhalte verbinden, so etwa bei Anne und Patrick Poirier (geb. 1942), Hansjörg Voth (geb. 1940). Christo (geb. 1935 in Bulgarien) irritierte den Alltagsmythos durch Verpackung (Mein Kölner Dom verpackt, 1980). Auratischen Respekt vor Christus- und Heiligenfiguren will Georg Baselitz (geb. 1938), selbst Leitbild der Bewegung „Neue Wilde", erreichen (W. Schmied, G. Baselitz). Anatol Herzfeld (geb. 1931) und Michael Buthe (geb. 1944) provozieren durch gegenständliche Verweise an Mythisches (vgl. F. Mennekes, 1986). Weitere Künstler: Vettor Pisani (geb. 1934), Herbert Klophaus (geb. 1938), Jürgen Goertz und A. R. Penk (beide geb. 1939), Martin Rosz (geb. 1945), Peter Böhmeis (geb. 1951) und Jiri G. Dokoupil (geb.1954).

Besonders bekannt wurde das Werk von Anselm Kiefer (geb. 1945), dessen Naturlandschaft als verwundete und geschändete Kulturlandschaft die Geschichte aufarbeitet, z.B. als Streit um die Auferstehung (Resurrexit, 1973), als christologischer Streit um Mythen (Vater, Sohn und heiliger Geist, 1973) oder als Bilderstreit (1978). In den 80er Jahren wandte sich Kiefer den Mythen der Kabbala zu, in der er „die unmittelbare Entsprechung zu jenem Prozeß des Bruchs und der Heilung" fand, „den für ihn der malerische Akt darstellt" (D. Le Vitte-Harten 151). Besonders die italienische Bewegung der sog. Transavantguardia machte die religiösen Mythen in der Kunstszene wieder populär. Bei Sandro Chía (geb. 1946), M i m m o Paladino (geb. 1948) und Enzo Cucchi (geb. 1950; letztere beide mit christlichen Themen wie z.B. im Abendmahl, 1979, einem Triptychon von Paladino) konvergieren christliche Uberlieferung und Kunstentwicklung (vgl. A. Pohlen). Schon seit den 60er Jahren ist der Mythos und das Medium als Mythos zu einem zentralen Problem des Kino- und Fernsehfilms geworden (H. Michel/R. Volp). 7.2. Öffentliche Embleme und Demonstrativ-Objekte sind seit jeher Merkmale des Christentums wie anderer Religionen gewesen, so z. B. Kirchengebäude und die Sprache ihrer Architektur (z.B. als Zelt, Höhle, Furche usw.), Grabkreuze und Embleme der Bestattung. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen hat sich die Sepulkralkultur, bedingt durch den Marktmechanismus von Steinmetzbetrieben und Bestattereien, von religiösen Inhalten gelöst, auch wenn in Kreuzen mit solchen geworben wird. Paramente, wie z.B. Altar- und Kanzelbehänge, Gewänder für Prediger, Liturgen und Sänger, in der ersten Jahrhunderthälfte handwerklich hergestellt, sind heute meist von industrieller Provenienz ohne künstlerischen Anspruch. Gelegentlich gab es Ausbrüche: die Kreuzwegfah-

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nen von Erich Huber von 1967 (vgl. H. Muck, Gegenwartsbilder 153) oder die EvaFahnen von Heidrun Borgwardt in der Marienkirche Lübeck (1985). Die Gottesdienstkultur seit den 60er Jahren nützt häufig Kreuz, Transparente, Masken, Gegenstände (Weltkugel) zur Demonstration usw. Von Kinderzeichnungen des Kinder- und Familiengottesdienstes bis hin zu der Kultur auf Rückenstickern (Embleme der Rocker-Kultur) gibt es ein breites Spektrum neu auflebender Symbolik bestimmter sozialer Schichten im kirchlichen Bereich. Die Emblematik brach in die Kunstszene ein durch Werke von Robert Indiana (geb. 1928) und Jasper Johns (geb. 1930). Indianas Totems bescheinigen den Dingcharakter von Emblemen der Wirtschaftskultur als Ende des Illusionismus der Malerei, was aber auch als Scheu vor dem gegenständlichen Absoluten gedeutet wurde. Jedenfalls hat der Einzug von Werbe-Emblemen in die Kunst die Brücke zu Umwelt und Bastelei (F. Droese) wieder geöffnet, auch wenn sie den Weg zur kirchlichen Emblematik nur selten fanden. Einige Ausnahmen: Klaus Rinkes Tor zur Ewigkeit oder Der zornige Heiland (beide 1986), das Kreuz von Erwin Heerich (1986) bzw. das Altarbild in der Gnadenkirche Hamburg von Harald Frackmann (1982). Die bekannten Graffiti-Malereien von Ben Vautier, Harald Naegeli und Keith Haring mischen H u m o r , metaphysische Skurrilität und politische Einsichten. Kirchliche Werbung hat sich die religiösen Topoi der Wirtschaftswerbung (Vorstellungen von Paradies, Erlösung, Fülle der Geschichte, Opferbereitschaft und eschatologische Vollendung) kaum zunutze gemacht (vgl. dazu H. Tremel). Die Selbstdarstellung in den öffentlichen Medien bewegt sich im Rahmen gruppenspezifischer Fähigkeiten(G. Brackert; H.-E. Thome; zum ganzen Problemkreis F. Kriwet). 7.3. Naive Frömmigkeit, soweit sie noch vorhanden ist, dokumentiert Hilflosigkeit gegenüber den Massenwaren der Industrieprodukte. Eine Reflexion des Problems auf dem Niveau der Kunst, etwa der Pop Art bei Roy Lichtenstein (geb. 1923), scheitert an der Koalition zwischen Traditionalisten und Kitschproduktion. Der Ausdruck -»„Kitsch" bezieht sich nicht auf Gegenstände, sondern den Umgang von Produzent bzw. Rezipienten mit Lesen: gemeint ist in der Regel der absichtsvolle, d . h . reflektierte Effekt, der sich aufdrängt und überwältigen will, also die innere Integrität des Adressaten durch Ausschaltung seiner Reflexion unterminiert. Dieses Symptom der Vermassung ist der äußerste Gegensatz zur Naivität, einem instinktiven und absichtslosen Individualismus (vgl. J. Schulte-Sasse).

Naive Malerei gibt es noch in vielen Ländern, vor allem in Afrika und Südamerika. Das Judentum (Shalom of Safed, 1885-1980; Jacob Kramer, 1892-1962), Osteuropa (Ivan L. L. Albright, geb. 1897, Gregovij D. Bruskin, geb. 1945), Mexiko (Maria Izkuierto, 1906-1955; Frida Kahlo, 1907-1954) sind besonders zu erwähnen (vgl. K. Diemer). 8. Das religiöse Ritual in der

Aktionskunst

8.1. Rituelle Darstellungen blieben immer mehr oder weniger latente Elemente Bildender Kunst. Im 20. Jh. sind sie im wesentlichen kritische Auseinandersetzungen mit überkommenen Bildern und zunehmend darauf bedacht, die Herstellung des Bildes selbst als rituelles Problem zu demonstrieren. Die Verletzungen der Leinwand durch L.'Fontana (1899-1968) und die Bilder des Action painting von Jackson Pollock (1912-1956) stehen für eine Generation von Malern, die nicht Träume darstellen, wie die Metaphysiker des Surrealismus, sondern tatsächliche Spuren im Produktionsvorgang hinterlassen. Viele Objekte erhalten ihren Sinn nur im Zusammenhang mit Riten, weil die kritisierten Symbole durch den Prozeß des Neuerschaffens in der Symbolhandlung aufblühen. Es sind z. B. „Bewältigungsriten" (R. Grainger), die mit psychoanalytischen Methoden religiöse Erfahrungen ästhetisch thematisieren. Ritualisierung als Körpersprache versucht, Ursprünglichkeit gegenüber Körperdressur und Beliebigkeit einzuspielen (R. Beck u . a . 136-140). 8.2. Die religiöse Zelebration, vom Dadaismus ironisch geübt, wird in der zweiten Jahrhunderthälfte zur Erkenntnis von Symbolhandlungen eingesetzt und gefordert (z. B.

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M . Paladino). Während F.E. Walther (geb. 1939) und J . Klauke (geb. 1943) allgemein psychische Ritualsituationen „erforschen", beinhalten die Aktionen von Joseph Beuys, James Lee Byars, Bianca Eshel-Gershuni, Milan Knizak, Jean Clareboudt, Hermann Nitsch, Walter Pichler, Rebecca Horn, Ulrike Rosenbach, Linda Christanell, Barbara Heinisch, Annegret Soltau, Helga Moehrke und Jochen Gerz ausdrücklich religiöse, zumeist sogar christologische Themen und Botschaften. Manche verstehen den Mythos auch als kreative Utopie, um dem „Erschrecken vor der ewigen Ausschließlichkeit des immer Neuen" zu entkommen (Pohlen 11). Die Offenheit und Unabgeschlossenheit der Riten ermöglicht Verständigung auch bei gegensätzlichen Weltbildern und unterschiedlichen Systemen; dadurch erhält die religiöse Erfahrung solcher Kunst Erklärungswert und gelegentlich Modellcharakter (!) auch für eine Erneuerung des symbolischen Heilshandelns christlicher Gottesdienste (vgl. H. Muck 157f¥). 9. Die Kirchen

und die

Künste

9.1. Die öffentliche Kultur hat im 20. Jh. wesentliche Probleme der Religion außerhalb der Kirchen erörtert. Deren geistige und politische Liaison mit Vatikan und Kaisertum gab den kulturell exponierten Kräften lange Zeit Anlaß zu tiefem Mißtrauen. In diesen wiederum sahen die meisten Kirchenvertreter keine „wahre" Kunst; sie versteckten sich hinter populären Kritikern wie K. Scheffler, der 1912 den italienischen Futuristen intellektuelle Unehrlichkeit, „Neid und andere unreine Instinkte", ja „ein recht übles Menschentum" vorwarf (zit. nach H.P. Thum 116). Den Begriff „Entartung", von einem freikonservativen Abgeordneten vor dem Preußischen Landtag gegen die neue Kunst ins Feld geführt, nahmen die Nationalsozialisten zum Anlaß, die freie Kunstproduktion zu vernichten und zu verbieten, obwohl sie gerade in Deutschland durch Künstlerkolonien (Worpswede), städtische Künstlergruppen (Der blaue Reiter), „Secessionen", Kunstvereine und den Deutschen Werkbund sowie durch einen einsatzfreudigen Kunsthandel (Cassirer, Kahnweiler, Flechtheim, Uhde) und neue Zeitschriften {Kunst und Künstler, Der Sturm, Kunst und Kirche) internationale Bedeutung errungen hatte. Noch 1934 erregte der Pavillon religiöser Kunst aus Deutschland auf der Weltausstellung in Chicago mit Architekturentwürfen und Originalen der Expressionisten begründetes Aufsehen, doch der Veranstalter (Verein für religiöse Kunst, der Herausgeber von Kunst und Kirche) wurde bald darauf „überführt" in den Deutschen Bund für christliche Kunst: Man instrumentalisierte die Kunst, die der Predigt zu „dienen" habe (vgl. R. Volp, Zur Aktualität). Ähnlich fühlten sich auch orthodoxe Christen in der Sowjetunion bestätigt, deren Ikonenmalerei in dem Maße erstarrte, wie der Stalinismus die instrumentelle Dimension des neuen Realismus gegen die mystischen Tendenzen der abstrakten Malerei durchsetzte. Der Rekurs auf historische Systeme der Ikonographie und vergangene Stile war die weltweit bequemste Lösung in allen Kirchen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die Werke der Expressionisten und abstrakter Maler (Barlachs Plastiken waren zwischen 1933 und 1936 aus den Kirchen von Güstrow, Magdeburg und Marburg entfernt worden) Wiedergutmachung im Sinne einer stilistischen Renaissance, die aber ihrerseits den offenen Umgang mit neuen Strömungen der Kunst erschwerte. 9.2. Die Verflechtung der Kunst mit den Mythen des 20. Jh. (Film, Medien, Politik, Sport und Kunsthandel) erzeugte kulturelle Leitbilder mit religiöser Aura, während sich die Kirchen in der Abwehr solcher Mythen auf ihre historisch gewachsenen Symbole zurückzogen. Um sie von Dämonen zu befreien, perhorreszierte man das Religiöse wie das Ästhetische als „vor- und außerchristlich". Historisch legitimierte Stile veranlaßten, von „christlicher Kunst" zu reden, Kunstgewerbe und Kunstgegenstände im Sinne kirchlicher Systeme wurden zum Inbegriff „kirchlicher Kunst". Währenddessen vollzieht sich ein öffentlicher Bilderstreit zwischen den Mythen der neuen Unterhaltungskultur einerseits und dem Kunstbetrieb mit seinen tempelartigen Museen andrerseits. Deren erklärte Aufgabe, „das Paradies zu rekonstruieren" (R. Fuchs 176), evoziert neuzeitliche Pilger-

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Mark Rothko, Schwarz über Grau (Black on Grey), 1970,162 x 173 cm, Privatbesitz

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Antoni Tapies, Flèche Blanche, 1986, Lavagestein mit Keramikglasur, 100 x 100 cm, Ev. Magnuskirche, Worms

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Arnulf Rainer, Aus der Serie 6 Christusköpfe, 1980/81, Mischtechnik, Photo ca. 60 x 50 cm

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Alfred Hrdlicka, Emmaus - Abendmahl - Ostern, 1972, Tafeln VÜ-IX. Zeichnung aus dem Plötzenseer Totentanz 1969-1972, Bleistift, Kohle, Tusche, Deckweiß, Bister je 350 x 99 cm. Ev. Kirchengemeinde ChaHottenburg-Nord. Gemeindezentrum Plötzensee, Berlin

Kunst und Religion VIII

321

fahrten zu den Ritualen internationaler Ausstellungen ( B i e n n a l e in Venedig bzw. Documenta in Kassel). Museen werden „Weiheorte" in Überhöhung des Alltags und Feierorte zur Sinnfindung, aber auch zum Unterhaltungskult in einer Mischung von Umtriebigkeit, Freizeitvergnügen und Voyeurismus mit beiläufigem Bildungseffekt (E. M a i 11). Im Unterschied zum 19. J h . will „Kultur für alle" den Kunstbegriff erweitern und demokratisieren, stößt aber auf immer engere Grenzen, da die wirtschaftlich orientierte Bildungspolitik nicht an Kunst und Religion, sondern an Marktwert und Einschaltquoten interessiert ist. Der neue Streit um Mythen instrumentalisiert die Kunst im Interesse von Wirtschaft (Werbung), Politik (Propaganda) und Sport (Unterhaltungsanreiz). So geraten die Kirchen in das Dilemma, sich mythenschaffender Bilder dank Massenmedien zu bedienen oder aber die Kunst in Konkurrenz zur religiösen Praxis als „ b l o ß " ästhetisches Problem zu respektieren (Volp, Post scriptum 276). 9.3. Die Bildende Kunst, in allen Kirchen das Opfer überholter Entscheidungsstrukturen, wird gegenwärtig faktisch exkommuniziert, da man sie dem Geschmacksurteil von Bischöfen und Kirchenvorständen unterwirft. Insbesondere Theologen, durch ihr Studium lediglich für alte literarische Texte disponiert, scheitern an diesem Problem, zumal sie zumeist im Gegensatz zu großbürgerlichen Galeristen aus kleinbürgerlichen Schichten stammen. Sie sind es auch, die die Sachkosten für bildende Künstler als „ L u x u s " einordnen, obwohl diese, durch freie Verträge verpflichtet, keine laufenden Personalkosten wie Pfarrer und Kantoren benötigen. Eine Rehabilitierung der Bildenden Kunst vollzieht sich seit der Mitte der 50er Jahre. Französische Dominikaner (P. Régamey) gewannen damals Braque, Matisse, Rouault, Léger u. a. für einzelne Kirchen, doch hier wie im übrigen Europa bleiben solche Kontakte punktuell. Erste Versuche von Ausstellungen bei Kirchentagen in den 50er Jahren wurden durch politische Themen verdrängt; doch angestoßen durch die Redakteure der Zeitschrift Kunst und Kirche organisierte Wieland Schmied im Rahmen des Berliner Katholikentags 1980 eine stark beachtete und wegweisende Ausstellung mit dem T h e m a Zeichen des Glaubens — Geist der Avantgarde. Unter dem Titel Mein künstlerisches Credo konnte der Evangelische Kirchbautag 1983 für die drei Innenstadtkirchen von Nürnberg 50 führende Künstler der B R D (von Joseph Beuys bis Anselm Kiefer) und der D D R in einer vielbeachteten Ausstellung versammeln. Doch weder diese Einzelausstellungen noch einzelne Werke von Barlach, Hajek, Hrdlicka, Manessier, Rückriem, Uecker oder Tapies in den Kirchen brachen das allgemeine gemeindliche Ghetto auf. Anders in der -»Glasmalerei, mit der sich renommierte Künstler wie Georg Meistermann, Ludwig Schaffrath und Johannes Schreiter befaßten. Sie sind inzwischen in England, Kanada, USA, Japan und Neuseeland schulbildend geworden. Immer wieder verhindern populistische Interessen und Unfähigkeit von Theologen die Ausführung guter Entwürfe. Der von Schreiter (s.o. Abschn.3.5) mit dem Presbyterium der Heiliggeistkirchengemeinde in Heidelberg entwickelte, ästhetisch wie theologisch überragende (K. Ruhrberg) Zyklus wurde z. B. Opfer unqualifizierter Kampagnen gegen moderne Kunst, so daß Museen einige Fenster ankauften. Dennoch wächst in den Gemeinden und unter Pfarrern zunehmend das Interesse am Kunstgeschehen. 9.4. Die Liturgie als Gesamtkunstwerk ist ein Postulat, das sich mit der Neuentdeckung Bildender Kunst und leiblicher Symbolhandlungen im letzten Drittel des Jahrhunderts wieder ins Bewußtsein brachte. Poesie und Rhetorik sind weithin Schlüssel liturgischer und ästhetischer Kompetenz. Die Musik, seit Herder auf das Poetische als gemeinsame Substanz aller Künste bezogen, doch immer wieder dem Vorwurf der Unverbindlichkeit ausgesetzt und auf Idealepochen wie Mittelalter, Reformation und Barockzeit eingeengt, hat sich als -»Kirchenmusik in unserem Jahrhundert nur punktuell schöpferisch entfaltet. Die kulturelle Stärke der Kirche zeigte sich besonders in der Architektur: zunächst in Kirchbauten, in denen liturgische Reformbestrebung und der ästhetische Aufbruch des Bauhauses konvergierten, sodann aber auch in der Thematisierung von Stadtentwicklung, Stadtsanierung und der Umgestaltung von Kirchenräumen selbst (Bürgel, Kirche und Stadt; ders./U. Conrads, Umgang).

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Citykirchen, die schon durch ihre Lage alternative Kulturangebote versprechen, bleiben trotz mancher Bemühungen vielfach kulturell gesichtslos, zumal, wenn sie verschlossen bleiben. Die römische Tradition verdankt dem -» Vatikanum II neue Impulse für den Umgang mit dem Raum, während im jüngsten Protestantismus der Sinn für räumliche Gestaltung noch geweckt werden müßte. Z w a r haben die seit 1946 veranstalteten Kirchbautage das Bewußtsein für qualitätsvolles Bauen und für die Kunst unter Fachleuten gehoben, doch die theologische Ausbildung pflegt eher manichäische Innerlichkeit.

Die Wiederentdeckung des Gesamtkunstwerks als Fest hat seit Beginn der 70er Jahre den Zusammenhang zwischen den Pilotprojekten der Kultur und dem weiten Feld der Basiskunst wieder zum Gegenstand kritischer Reflexion gemacht (H. Cox; R. Volp, Plädoyer u.a.). Auch Kultursoziologen erinnern an die zentrale Kategorie des Festes für die Kulturpolitik, da es nicht nur Entfremdung und Vereinzelung überwindet, sondern auch „statt Not und Mangel Fülle" sowie „Freiheit" vermittele; die Erfahrung von Katharsis, ja sogar „Wiedergeburt", ermögliche „eine sinnstiftende, das Dasein erst geistig erschaffende, in Form bringende und in Form haltende Funktion", die zugleich bewahre und verändere (W. Lipp 283-295; 286). Die Erfahrung unverdienten Glücks als Qualität des sola gratia und die Entlastung von Selbstrechtfertigung haben die der gesamten Kunst eigene Zweckfreiheit und zugleich theologische Qualität der Liturgie als Gesamtkunstwerk wieder diskursfähig gemacht. 10. Kunsttheoretische

Erklärungsmodelie

des

Problems

Zunehmend wird Kunst als eine Weise der Weltverständigung beschrieben, welche als „Verfahren der Welterzeugung" nicht nur in vieler Hinsicht der Wissenschaft überlegen erscheint, sondern .uich „den Zusammenhang von Erkenntnis (also auch: Form) und Dunkelheit zu einer Prägnanz bringen" kann, „die der Theorie versagt ist" (D. Heinrich 178). Daher erklärt sich, daß Theologien in Distanz zur Kunstpraxis verflachen. Wie aber nähern sie sich ihr?

10.1. Ontoiogische Systeme, deren Wesensbestimmungenden künstlerischen Kosmos erklären wollen, verfehlten häufig den auf Autonomie gegenüber Systemen bedachten Kunstcharakter. Karl -»Barths Rückführung aller Probleme auf „die Sache", nämlich Gottes eigenes „Wort", brachte einen durchweg platonisierenden Zug in die kirchliche Gestaltungserörterung, da man Bildern und Symbolen grundsätzlich meinte mißtrauen zu müssen (dazu R. Volp, Das Kunstwerk als Symbol 59ff; W. E. Müller). So lehnt auch H. Vogel eine „Theologie der Kunst" a limine ab: diese habe nur zu preisen, also Antwort, nicht Aussage zu sein, dem Zungenreden vergleichbar (so R. Bohren). Während Urs v. Balthasar, R. -»Guardini und W. Stählin den Kult als Orientierungspunkt nahmen, konzipierte P. -»Tillich eine Seinsdialektik zwischen dem, was „unbedingt angeht" und dem „Ausdrucksgehalt der Kunst", zwischen dem „Eigentlichen" und dem „Uneigentlichen". Die stark am -»Expressionismus orientierte Konzeption fing den Eigenwert der sich ständig verändernden ästhetischen Syntax, zumal im Zusammenhang des erweiterten Kunstbegriffs, jedoch nicht mehr auf. Viele theologische Beiträge zur Kunst sind immer wieder einem Idealismus verpflichtet, dem die Kunst lediglich als besonderes Medium dient, um die „Versöhnung im Streit" (H. Nohl 60) oder die „heile Welt" zu verkörpern (K.E. Müller 97). Doch mit der Auskunft, daß sich das Leben und das Göttliche nur wie Antwort und Wort verhalten, wurden die Probleme scholastisch verdeckt. 10.2. Entwicklungsgeschichtliche Erklärungsmodelle argumentieren durch den Vergleich epochaler Symbolsysteme, Anlaß zu gegensätzlicher Deutung der Entwicklung. 10.2.1. Die Symbol- und Mythenforschung erkundet Chiffren, Bilder und Erzählungen der Kunst mit dem Schlüssel verbindlich gewordener Motive. Ihre Ergebnisse schlagen sich unter anderem in Symbollexika und Ikonographien nieder (M. Lurkers Bibliographie zur Symbolkunde erfaßte allein zwischen 1900 und 1970 11466 Titel). Auch aktuelle Mythen werden dem Argument historischer Wertigkeit unterworfen (vgl. C. Wilhelmi,

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Hb. 1980 [Lit.]). Ob man in den Symbolen die „älteste Sprache der Menschen" (R. Huyghe, Ästhetische Erfahrung 147) oder aber in der Symbolisierung die wesentliche Aufgabe jedes Künstlers erblickt (S. K. Langer): In beiden Fällen wird Religion als Motivationspotential unterstellt, zumal Bildfiguren ästhetisch als Verschlüsselung, nicht als Offenbarung gelten. Trotzdem gaben exponierte Motive, in denen sich die Symbolsysteme bestimmter Epochen verdichteten, Anlaß zur Unterstellung, die Kunst betreibe einen Ausverkauf (H. Sedlmayr, Verlust), aber auch zu der gegenteiligen Behauptung, der neue ästhetische Raum entspreche im „Wesentlichen der Religion" (S. Schmidt-Wulffen). 10.2.2. Spekulative Geschichtsdeutungen wenden sich nicht nur gegen die Autonomie der Kunst oder propagieren diese als fortschreitenden Gewinn (W. Hofmann): Als „Profanisierung" wird sie für marxistische Autoren auch zum Indiz für die Uberwindung religiösen Mystizismus (K. Farner) und Irrationalismus des Glaubens (G. Lukacs). Dialektischer urteilt Th. W. Adorno: Nur in der asketischen Abstinenz von religiösen Themen könne Kunst ihre wahre Affinität zur Religion bewahren. Denn eine autonom gewordene Kunst verwandele jedes religiöse Thema in ästhetische Objekte, sei ihr Bestreben doch die reine Selbstbezüglichkeit im Gegensatz zur Religion. Sowohl die restaurative wie die der Revolution verpflichtete Kunstdeutung unterstellt festgelegte historische Liaisons von Religion und Kunst, so daß sich zwei unvereinbare Systeme gegenseitig bestreiten. Die hier noch wirksame Geschichtsspekulation Hegels vom Ende der Kunst bzw. Religion verdeckt die Frage nach Bedeutungskonstitution und Wertsetzung unterschiedlicher Systeme. 10.3. Pragmatische Erklärungsmodelle sehen in der Kunst ein Instrument der Sinnvermittlung, d.h. sinnlicher Darstellung des Übersinnlichen, dem üblichen Ausgangspunkt kirchlicher Erörterungen (-»Ästhetik III), beherrschendes Motiv kirchlicher Bildungsarbeit, aber auch im Blick auf Bibelillustrationcn und kirchliche Werbung. Die eklatanten Defizite ästhetischer Erziehung brauchen eine Vermittlung, die nicht wortreich das Sehen verhindert (zu Religionsbüchern G. Ringshausen). Unter den zahlreichen didaktischen Methoden sind vor allem die Museumsdidaktik zu benennen (K. Flemming), die Sehschule von G. Lange, die Methodik von A. Stock (Textentfaltungen; ders./M. Wichelhaus) sowie D. Rollers Semiotik. Kunsttheorien als bloße Wahrnehmungsanthropologie (-•Ästhetik III) müssen auch ihre philosophischen Implikationen mit einbeziehen. 10.4. Kompensations- und Korrelationsmodelle gelten in der Kirche zur Zeit als griffige Klammer zwischen Theorie und Praxis, da sie die historische Entwicklung, göttliche Transzendenz und psychische Wirklichkeit miteinander zu vereinen scheinen. 10.4.1. Die weltliche Interpretation religiöser Sprache, wie sie D. Solle und H.-E. Bahr herausgearbeitet haben (-»Ästhetik III), wird gewöhnlich als konkretisierte Kompensation des Verlangens nach dem Absoluten, nach „dem Vollkommenen" auf der Ebene der Erfahrung begriffen. Denn „der Wunsch, ganz zu sein", gilt als ästhetische Realisierung des religiös erkannten Mangels im Bedürfnis nach Gott (D. Solle). E.E. Boesch (299) beschreibt die religiöse Dimension der Kunst als „anwesendes Gegenüber von ungeheuerlicher Präsenz", als „das ganz Fremde", dem standzuhalten die Kunst durch Assimilation im Sinne von J. Piaget die Möglichkeit verleiht, indem sie das Innere in ein Außen transformiert (a.a.O. 306). Nach der in der Kunst kompensierten Religion fragt die Ästhetik - die „diensthabende Fundamentalphilosophie" der Moderne - nicht, um die Wirklichkeit zu ästhetisieren, sondern um Kunst zu erklären (so O. Marquard, Aesthetica 21). Mit der Ästhetisierung kompensiert die Moderne die „Entzauberung der Welt", denn der „eschatologische Weltverlust" bzw. die Emanzipation aus dem Kult muß davor bewahrt werden, daß Weltgericht und Gottes Gnade nicht vor der bloß vorhandenen Welt tribunalisiert wird. So wird selbst die Autonomie der Kunst zum Hilfsorgan der Theodizee und zum Katalysator der Rechtfertigung aus Glauben. Kunst rettet die guten Werke „unter Bedingungen des (lu-

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Kunst und Religion VIII

therischen) Protestantismus", um Religion nicht im Manichäismus verkommen zu lassen (a.a.O. 14f). 10.4.2. Die Korrelationsmethode, wie sie R Tillich (Substanz) als reziproke Frage- und Antworthaltung empfahl, förderte die Einsicht, daß religiöse Bilder nicht nur durch religiöse Themen evoziert werden; jede sinnliche Transzendenzerfahrung kann religiöse Transzendenzerfahrung anregen und mitkonstituieren. Dies läßt sich durch eine Hermeneutik der Bildmotive in der Reziprozität von Gestalt und Gehalt erweisen (R. Volp, Das Kunstwerk als Symbol), aber auch in allgemeinen anthropologischen Fähigkeiten: Wer das Unbedingte, d.h. die Erfahrung des Weltgrunds, in der Freiheit des Subjekts beschreibt, wird notwendigerweise die Kunst als Transzendenzschwelle üblicher Erfahrungskodes betrachten (K. Rahner; G. Rombold, Protest; ders., Streit; ähnlich H. Schwebel, Autonome Kunst, und F. Mennekes). 10.5. Semiotische Erklärungsmodelle, im gegenwärtigen Ästhetikdiskurs herrschend, entstanden aus der Beschäftigung mit Texten (10.5.1) und Symbolen (10.5.2); der Wahrnehmungsvorgang (10.5.3), die Bedeutungskonstitution (10.5.4) und das Problem des Gesamtkunstwerks (10.5.5) sind neue Felder, die sich hier erschließen. 10.5.1. Die Beachtung hermeneutischer Kategorien und linguistischer Einheiten durch R. -+Bultmann schärfte das Bewußtsein für Texte als Relationsgefüge von Bedeutungselementen und die strukturelle Tätigkeit ihrer Herstellung. Dan O. Via, der Begründer einer neuen Gleichnisforschung, entdeckte die Bedeutung der strukturierten Gestalt als ästhetisches Gefüge diverser Dispositionen und Relationen. Dieses vermittelt die Grundlage biblischer Literatur im Sinngebilde „Text", welches durch die grammatische Operation vor jeder intentionalcn (biographischen) und affektiven (wirkungsgeschichtlichcn) Operation zu berücksichtigen ist. A. J . Greimas, E. Güttgemanns, K. Berger u.a. entfalteten diesen Diskurs (vgl. J . Delorme; s. T R E 1 5 , 1 4 4 - 1 5 0 ) . A. Stock erweiterte den Textbegriff im Sinne künstlerischer Produktion für die Didaktik, so daß auch die praktische Dimension (Poetik, Rhetorik usw.) in den Blick kam. D. Patte sah in der der jüdischen Midrasch vergleichbaren Theopoesie Erklärungsmodelle für ästhetische Entitäten der Textdarstellung. 10.5.2. Das Problem der Bedeutungskonstitution, durch P. Tillichs Symboltheorien lange Zeit nur latent bewußt, nötigte zur Frage, wie Erschließungsereignissc über Grcnzund Entdeckungsgänge Auskunft geben. Das kritische Spiel der Signifikanten im Drama, die mythologische Energie und der hypothetische Charakter von Symbolen waren im Anschluß an Kenneth Burke für R. Volp (Riten) Anlaß, die Struktur religiöser Kongruenzen und ästhetischer Konsequenzen im paradigmatischen Austausch zu unterscheiden. Die klassischen Zeichentheoretiker wie Ch. W. Morris, J . Mukarovsky und U. Eco, aber auch schon W. Benjamin (Angelus Novus) machten auf die Funktionsänderung von Bedeutungen im Kunstwerk, die Konstitution ihrer Aura durch Konnotationen und die Differenzierung von taktilen, optischen und arbiträren Zeichenbeziehungen in jeder Wahrnehmung aufmerksam. G. Schiwy u.a. untersuchten interdisziplinär den Gottesdienst als Gesamtkunstwerk. Eine Reihe von Publikationen über räumliche Situationen (H. Muck; W. Schneider; F. Scheve), über Religion und Kunst (G. Schiwy; F. Kriwet; R. Volp, Sprache; ders., Zeichen. Semiotik . . . ; ders., Kunst u. Kirche) sowie Religion und Medien (H.E. Thome) entstanden in diesem Zusammenhang. Weitere Projekte über die ästhetische Dimension der Zeichentheorie bei Augustin, Luther, Calvin, Zwingli, Herder, Hamann und Schleiermacher bearbeitet die Mainzer Forschungsstelle für Semiotik. 10.5.3. Aisthesis wird in der -»Semiotik zunächst als rezeptives Interesse von Wahrnehmungsvorgängen reflektiert, was jedoch im Sinne der Hermeneutik die Diastase zwischen empirischen und spekulativen bzw. analytischen und synthetischen Zugängen zum Anlaß eines produktiven Interpretationsprozesses macht. Die Beachtung der Relation zwischen den Zeichen selbst garantiert Formanalysen und den Respekt vor dem Anderssein eines individuellen Werks, dessen Struktur- und Systemeigentümlichkeiten, aber auch dessen sinnlicher Erscheinung. Die Diskussion bewegt sich gegenwärtig um die Frage, inwieweit „Wahrnehmung" als Wahrnehmung von Funktionen zu definieren sei, und wie das Glück sinnlicher Betrachtung („Schönheit"?) als Einsicht in Sinnoffenbarung,

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325

d.h. als „Mimesis" von Tiefenstrukturen bzw. von Konstellationen metaphysischer Kräfte, beschrieben werden kann, ohne syntaktische Regeln zu verletzen (W. Welsch, Aktualität).

10.5.4. Die poietische Dimension der Kunst wird als Problem der Bedeutungskonstitution, d . h . der produktiven U m w a n d l u n g von Wille und Phantasie in neue Symbole diskutiert (R. Volp, Bildende Kunst 87f; H . R . J a u ß , Erfahrung; A. Grözinger 125). Der Rätselcharakter der Kunst (Th. Adorno), ihre Erschließungskraft für Wahrheit (-»Heidegger), die Aufdeckung unüberschreitbarer Grenzen zwischen Erfahrung und Entwurf (Derrida) und die Darstellung des Nichtsagbaren (L. -»Wittgenstein) bzw. des Nichtdarstellbaren als Suche nach dem Erhabenen (J.-F. Lyotard) verbieten es, die Erkundung nach Lebensstabilität anders als in Ambivalenzen und Gegenstrebigkeiten zu bezeichnen. So haben Kunsttheorien die Polysemie des Kunstwerks offen zu halten (U. Eco, Kunstwerk), damit aber auch auf der Vorläufigkeit von Menschen* und Gottesbildern zu bestehen. Vor diesem Hintergrund wird Kunst als Generator von Stilen und Kodes definiert, welcher befähigt, ungedeckte Aussagen zu überprüfen (R. Volp, Riten 292; ders., Sprache 298). Dem widerspricht nicht, daß Kunst - insbesondere die Musik - divergierende Bedeutungssysteme durch gemeinsame Regelrepertoires und also den Ritus auffängt, sofern er die permanente Entflechtung von Zeichen und Bedeutungen gewährleistet (ebd.).

Anders als der Forscher setzt der Künstler auf die Potentiale im Subjekt, in deren zum Allgemeinen differenten Kombination Eigenexistenz preisgegeben wird. Die Modifikationsmöglichkeit von Regeln erweist sich somit als Basisregel auch des religiösen Rituals, dessen Autor freilich im kollektiven Zusammenspiel je neu zur Sprache gebracht werden m u ß (D. L. Sayers, H o m o , 1953; R. Volp, Zeichen. Semiotik ...). Inwiefern die Interpretation von Lebensgeschichten und von Mythen als ästhetisches Modell der Ethik gelten k a n n , ist eine z . Z t . unabgeschlossene Frage. Die Klärung des Unterschieds und des Z u sammenspiels von Kunst und Religion als eigenständige Wertsysteme ist dazu unerläßlich. 10.5.5. Die kathartischc Dimension der Kunst wird in der Regel als komplexes Z u sammenspiel kommunikativer und kontemplativer Zeichen erfahren, welches Spielraum f ü r authentische Entscheidungen schafft (R. Volp, Bildende Kunst 88). Da dies die Einsicht in Grenzen der Mitteilungsfähigkeit und Darstellungsmöglichkeit voraussetzt, folgt d a r a u s eine realistische Integration möglicher Botschaften als G e s a m t k u n s t w e r k . Gegenüber dem Ideal eines perfektionierten Diskurses (R. Wagner) erforscht die Semiotik gegenwärtig Leistungsmöglichkeiten von Wort, Ton, Bild, Raumsituation und Handlung, um dem Diktat einzelner Zeichensysteme wie z. B. der Rede entgegenzuwirken. Im Horizont der zunehmenden elektronischen Medienkultur ist diese Einsicht vor allem liturgisch unerläßlich (vgl. R. Volp, Kunst u. Kirche; H . E. T h o m e , Gottesdienst). Die Kombination reiner Zeichen in der Musik, die Intentionalität der Rede, das Visionäre des Bildes und die Komplexion künftiger Situationen in der Architektur sind in ihrer unterschiedlichen Leistung nicht ohne den Rückbezug zum Fest zu verstehen, das gegenüber den segmentierten Alltagsbeziehungen zunehmend als wirklichkeitskonstituierendes Gesamtkunstwerk angesehen wird (s.o. Abschn.9.4; vgl. W. Lipp). Eine bemerkenswerte Metaphysik der Kunst stellt Helmut Kuhns Ontogenese der Kunst im Fest dar, weil sie entgegen idealistischer Metaphysik Kunst aus dem Werden, d.h. dem Zusammenwirken von Bildungs- und Einbildungskraft erklärt. Dieses kulminiert im Fest, indem die Gemeinschaft ihren Lebenssinn zur Darstellung bringt und transformiert. Inhalte, Zwecke und Interessen des Daseins werden von einem nicht definierbaren Zentrum aus gestaltet, ohne daß dieses die Eigengesetzlichkeit der Kunst verletzt. So ist das Fest selbst noch kein Kunstwerk, aber bereit, das Teil als Ganzes aus dem Verband zu entlassen (weiteres zum Fest: H. Cox; R. Volp, Plädoyer).

Kunst verändert Realität in den Zeichen als Ursprungsereignissen. Sie entwickelt jeweils neue Regeln, in denen die intendierten Selbsterfahrungen der überlieferten Symbole samt deren Regeln der Situation entsprechend neu zum Zuge k o m m e n . Deshalb sind „ K u n s t " als Inbegriff von Kunstwerken und die Kunst als Praxisdimension, welche Regeln verändert durch Umorganisation der Gestalt, bei aller Differenz darin identisch, d a ß sie Erfahrungen an der Grenze des Geregelten in Zeichen belegen. In beiden Fällen wird

326

Kunst und Religion VIII

Kunst als Schlüssel einer kirchlichen Kultur und ihres Ethos verstanden: als göttliches Wortgeschehen, dessen sich die Veranlasser und Verwender mehr oder weniger bewußt sind oder werden. Quellen Ulrich Arnold, Imago - D a s künstlerische Credo. Transzendenzen u. Spiritualität in der Kunst heute: Ausstellung zum 18. Ev. Kirchenbautag, H a m b u r g 1983. - Ernst Barlach, Die Wandlungen Gottes 1922, München 1954. - Peter B a u m / G ü n t e r R o m b o l d , Christusbild im 20. J h . , Linz 1981. Rainer B e c k , O t t o D i x 1 8 9 1 - 1 9 6 9 , München 1985. - Ders./Rainer Volp/Gisela Schmirber (Hg.), Die Kunst u. die Kirchen. D e r Streit um die Bilder heute, München 1984. - Peter Beckmann (Hg.), Sichtbares u. Unsichtbares, Stuttgart 1965. - Die Bibel in der Kunst des 20. J h . , hg. v. der D t . Bibelgesellschaft, Stuttgart 1988. - Erika Billeter, Imagen de M e x i k o . Der Beitr. M e x i k o s zur Kunst des 20. 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329

Kunst und Religion IX

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Rainer Volp IX. Philosophisch 1. Kunst und mittelalterliche - katholische K o n t e m p l a t i o n : C u s a n u s - Gesicht G o t t e s , Spiegelung der Schönheit 2. Kunst u n d neuzeitlicher - p r o t e s t a n t i s c h e r Geist: Hegel - d a s sinnliche Scheinen der Idee 3. Die Kunst in der G e g e n b e w e g u n g des Antichristen: Nictzsche - D i o n y s o s gegen den Gekreuzigten 4. Ausblick: Kunst als weltliche Religion (Literatur S. 336) Die Verschiedenartigkeit des philosophischen Verhältnisses von Kunst u n d Religion soll d u r c h unterschiedliche D e n k p o s i t i o n e n skizziert w e r d e n . Systematisch gesehen w e r d e n Katholizismus, Protestantismus u n d Atheismus d u r c h die A u s w a h l berücksichtigt. Es w i r d der Versuch u n t e r n o m m e n , d a s Verhältnis von Kunst u n d Religion d u r c h die K e n n z e i c h n u n g verschiedener Auffassungen des Verhältnisses von griechischer Kunstreligion und christlicher o f f e n b a r e r Religion n ä h e r zu bes t i m m e n . Historisch gesehen wird bei - » N i k o l a u s von Kues mit d e m E n d e des M i t t e l a l t e r s b z w . d e m A n f a n g der Neuzeit eingesetzt. -*Hegel wird als M i t t e l p u n k t d e r Philosophie des D e u t s c h e n Idealism u s betrachtet. M i t - > N i e t z s c h e bereitet sich die M o d e r n e v o r . Z u m Schluß soll t h e s e n h a f t verdeutlicht w e r d e n , d a ß sich in der Verschiedenartigkeit der Stellungen des G e d a n k e n s z u m Verhältnis von Kunst u n d Religion eine G e m e i n s a m k e i t e r k e n n e n läßt.

1. Kunst und mittelalterliche Spiegelung der Schönheit

- katholische

Kontemplation:

Cusanus - Gesicht

Gottes,

In der Schrift De visione Dei von 1453 versucht Cusanus gemäß dem Selbstverständnis der -»Renaissance als einer Zeit der philosophischen und künstlerischen Wiedergeburt der Antike durch die spekulative Betrachtung eines Werkes der Malerei dem Abt und den Brüdern vom Tegernsee einen Zugang zur mystischen Theologie zu eröffnen. Cusanus möchte durch die Kunst der Malerei auf dem Weg des Gleichnisses in menschlicher Weise zum Göttlichen führen. (Nikolaus von Kues, Philosophisch-Theologische Schriften, hg. u. eingel. v. Leo Gabriel, III, 94; die Kunst ist bis zum Ende der Schrift gegenwärtig. Vgl. den vorletzten Absatz des letzten Kapitels, 218.) Er wählt ein Bild des Alles-Sehenden (imago

330

Kunst und Religion IX

omnia videntis; vgl. Boethius, De cons. phil. V 4,33), das so wirkt, als ob es alles ringsherum überschaue, und nennt es ein Bild Gottes (icona Dei). Im Sehen Gottes (visio Dei) im Sinne des genitivus subiectivus und genitivus obiectivus ist videre videri, Sehen Gesehenwerden (III, 108 u. 134); Subjekt und Objekt des Sehens koinzidieren. Das Erblicken Gottes ist Blicken Gottes. (Meister Eckhart, der Cusanus nachhaltig beeinflußt hat und auf den Cusanus in seinen Schriften häufig verweist, sagt in der Predigt Qui audit me: „Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben" [Dt. Predigten u. Traktate, hg. u. übers, v. J . Quint]. Auf eben diese Stelle bezieht sich Hegel: SW, hg. v. H. Glockner, XV, 228.) Die visio Dei ist der Blick des Auges, in dem das Erblickte mit dem Blickenden koinzidiert. Das im Angesicht Gottes Gesichtete ist nicht lokal (localis) (III, 112). Der in den Blick kommende raumfreie Ort ist unräumlichräumlich. In diesem Hier ist der Raum als Ordnung des Nebeneinander aufgehoben. Es ist so im Raum, daß der Raum in ihm ist, sich in ihm erfüllt. Es nimmt so Raum ein, daß es Raum gibt. Es faltet das Nebeneinander ein und aus. Im Gesicht Gottes ist das Aussehen Einsehen. Die visio Dei ist der Augenblick der Ewigkeit, in dem Zukünftiges und Vergangenes mit Gegenwärtigem koinzidieren. (Zum nunc aeternitas vgl. u.a. Plato, Tim. 3 7 d - 3 8 c u. Symp. 210e; Plotin, Enn. III. 7,c.3; Augustin, Conf. XI, 13; Proklos, Inst. theol.c.52; Boethius, De cons. phil. V.6 und Meister Eckhart, Pred. in diebus suis...) Das im Angesicht Gottes Gesichtete ist nicht temporal (temporalis) (III, 112). Dieser zeitfreie Augenblick ist unzeitlich-zeitlich. In diesem Jetzt ist die -»Zeit als Ordnung des Nacheinander aufgehoben. Es ist so in der Zeit, daß die Zeit in ihm ist, sich in ihm erfüllt. Es ist so in der Zeit, daß es im Nu ist. Es faltet das Nacheinander ein und aus (III, 140). Im Gcsicht Gottes ist die Einsicht Aussicht. In diesem Augenblick ewiger Glückseligkeit (III, 94) und ewigen Genusses (III, 192) erfüllt sich die Zeit. (Vgl. Meisters Eckharts Predigt: Impletum est tempus Elizabeth, wo er sich auf Lk 1,57 bzw. Gal 4,4 bezieht.) Es ist der Augenblick der Erleuchtung (illuminatio, illustratio) (III, 136,162 u. 200), der Augenblick religiöser Epiphanie. Es ist der Augenblick, in dem der Stern der Liebe aufgeht. Der Augenblick Gottes ist Liebesblick (III, 104). Dieser Liebesblick Gottes ist nun für Cusanus nichts anderes als der Augenblick des Schönen selbst, weshalb das bisher über die Schau Gottes Gesagte eingeschränkt auch für die Schau des Schönen gilt. Jedes Gebilde der Kunst ähnelt insofern dem Bild Gottes, als mir auf einmal das Auge ins Auge fällt, zu dem die Kunst „das Erscheinende an allen Punkten seiner Oberfläche . . . umzuwandeln" hat (Hegel, SW [Glöckner] XII, 213). „Omnes facies pulchritudinem habent et non sunt ipsa pulchritudo. Tua autem facies Domine habet pulchritudinem et hoc habere est esse. Est igitur ipsa pulchritudo absoluta . . . " [Alle Gesichter haben Schönheit und sind nicht die Schönheit selbst. Dein Angesicht aber, Herr, hat die Schönheit und dieses Haben ist Sein. Es ist daher die absolute Schönheit selbst...] (III, 114). (Vgl. vor allem wiederum Plato, Symp. 2 1 0 e - 2 1 2 b . Der Augenblick, in dem plötzlich [E^aitpvrjq,] das Göttlich-Schöne [TÖ 9ETOV xaköv], das Schöne selbst [amö TÖ xcdöv], gesehen wird, ist der Augenblick der Berührung des Wahren. In ihm wird das Leben für den Menschen erst lebenswert. Vgl. ferner z. B. Plotin, Enn.V,8 u. Ps.-Dion. Areopagita, De div. nom.IV, 7.) Der Augenblick Gottes ist der Augenblick der absoluten Schönheit, und so wie der göttliche visus absolutus im visus contractus, d.h. im beschränkten Blick des Menschen ist (III, 100), so ist die pulchritudo absoluta in der pulchritudo contracta, der eingeschränkten Schönheit. So ist der Augenblick Gottes im Augenblick des Hervorleuchtendsten, im Augenblick dessen, was ästhetische Epiphanie genannt werden kann. Der Augenblick Gottes ist im en-thusiastischen Augenblick des Liebreizendsten. (Zum EKChiliasmus); apokalyptische Literatur, Orakeltexte überhaupt schätzt er hoch. Unter seinen Bibelzitaten gibt es manche —• Apokryphen, einige aus gnostischem Milieu. Auffällig sind Berührungen mit älteren judenchristlichen, z.T. häretischen Vorstellungen. In den Divinae institutiones (De opificio dei ist eine Vorarbeit - vgl. opif. 2 0 , 1 - 3 ; inst.2,10,15) will Lactanz die Heilslehre, für ihn die dem Menschen zur Erlangung der Unsterblichkeit von Gott durch Christus offenbarte Wahrheit, so darstellen, daß sie als allein „wahre Weisheit und Religion" ausgewiesen erscheint und christliche Gottesverehrung und Lebensführung als Ausübung wirklicher, Gottes Willen entsprechender Gerechtigkeit. Der Wcrktitel ist juristischen Lehrbüchern entlehnt, die Lactanz nach Gegenstand und Wirkungszweck überbieten will (inst.1,1,12). Der Aufbau entspricht seinem katechetischen Programm, den Leser stufenweise vom Irrtum zu Wahrheit und Gottesnähe zu führen, vom Aufweis der Gottesferne und des Irrtums in Götterkult und Philosophie (I-III) zum heilsgeschichtlichen Akt der Gottes- und Wahrheitsoffenbarung (IV), von dort, mit markiertem Neueinsatz, über Lage und Leben der Christen in der gegenwärtigen Welt (V-VI) zum letzten Ziel im künftigen Gottesreich (VII). Die 7 Bücher sind betitelt: 1. De falsa religione (Von der falschen Religion), 2. De origine erroris (Vom U r s p r u n g des Irrtums), 3. De falsa sapientia (Von d e r falschen Weisheit), 4. De vera sapientia et religione (Von d e r w a h r e n Weisheit u n d Religion), 5. De iustitia (Von der Gerechtigkeit), 6. De vero cultu (Von d e r w a h r e n G o t t e s v e r e h r u n g ) , 7. De vita beata (Vom glückseligen Leben).

Lactanz argumentiert als Anhänger strikter Offenbarungstheologie. Er geht davon aus, daß die mit Gottes- und Heilserkenntnis gleichgesetzte Wahrheit dem Menschen von sich aus unzugänglich, nur auf dem Wege göttlicher -»Offenbarung erreichbar ist. Diese These gehörte schon zu seiner heidnischen Weltanschauung, die geprägt war durch einen religiös-erbaulichen, mit hermetischen Lehren durchsetzten -> Piatonismus, den auch sein Lehrer Arnobius voraussetzt, Tertullian erstmals ausdrücklich bezeugt, aber schon Apuleius von Madaura, Platoniker und Isismyste, ähnlich vertreten und propagiert hatte. Charakteristisch für diese religiöse Philosophie oder philosophische Religiosität, die in der Hermetik (-»Hermetica) das Gepräge philosophischer -»•Gnosis zeigt, war: einerseits das Dogma der Geistigkeit und Transzendenz -»Gottes und seiner daraus folgenden Unerkennbarkeit, zu der als anthropologisches Korrelat die These der Erkenntnisunfä-

Lactantius

373

higkeit oder Verfinsterung des ursprünglich göttlichen Menschengeistes trat; andererseits das Festhalten an der menschlichen Bestimmung zu Erkenntnis und Verehrung Gottes als einzigem Weg zur Unsterblichkeit, so daß der Mensch zu seiner Vollendung auf göttliche Offenbarung und Erleuchtung angewiesen war. Lactanz fand die Lösung der Aporie im Christentum. Nach seiner Überzeugung war der erforderliche Offenbarungsakt generell durch -»Jesus Christus geschehen; er hatte der Menschheit als Gnadengabe Gottes das zur Heilsgewinnung nötige Wissen vermittelt, es seinen Jüngern, damit der christlichen Kirche anvertraut; durch sie konnte jeder daran teilhaben. Nur bei den Christen konnte es also verbürgte Wahrheit und Weisheit geben, nur sie hatten Maßstäbe, Wahrheit zu beurteilen, nur ihnen stand verbindliche Kritik zu. Dieser Ansatz führt Lactanz zu einer bemerkenswerten Gotteslehre. Die einzigen Gottesbezeichnungen, die er zuläßt, sind „Vater" und „Herr", pater et dominus (inst.4,3,14 ff u.ö.). Diese Gottesprädikate hat er im kirchlichen Sprachgebrauch vorgefunden, verbindet sie aber mit der festumrissenen römischen Vorstellung des pater familias, der je nach Erfordernis als pater oder als dominus tätig wird und außer der Fürsorgepflicht auch die Strafgewalt hat. In Analogie dazu begreift Lactanz Gottes Verhalten zur Welt als Ausüben einer quasimagistratischen Doppelfunktion, der des Schöpfers und Erhalters und der des Richters. Demgemäß ist für ihn das Verhältnis des Menschen zu Gott primär rechtlich fundiertes Abhängigkeitsverhältnis, bestimmt durch die Faktoren: göttliche Forderung, menschlicher Gehorsam, gerechter Lohn. Angesichts der Verfolgungssituation, im Rahmen der in den Institutionen stark hervortretender Märtyrerethik wird dafür häufig die Kriegsvorstellung benutzt. Gott ist der himmlische Feldherr, in dessen militia die Christen stehen, dem sie als seine Soldaten treue Ergebenheit schulden. In beiden Fällen erscheint Gott in Analogie zu römischen Imperienträgern als Inhaber höchster Herrschaftsgewalt, wird unter Verzicht auf Wesensaussagen im der Welt zugewandten Handeln, nach seinen Funktionen beschrieben. Hier hat Lactanz seine religionsphilosophischen und seine juristisch-römischen Denkvoraussetzungen erfolgreich zur Synthese gebracht. In der Epitome, wo er seine Ausführungen strafft und manches klarer erfaßt und weiterführt, ist die Gotteslehre von Anfang an konsequent auf der römischen Vatervorstellung aufgebaut und mit deren Hilfe praktisch ausgewertet (bes. epit.54,4, Beginn der Offizienlehre). Von dieser Gottesauffassung her kann Lactanz auch in einer eigenen Schrift die biblische Vorstellung von ,Gottes Zorn' verteidigen, für philosophisches, aufgeklärtes Denken, dem ein leidenschaftsloser, nur gütiger Gott selbstverständlich war, ein Widerspruch. Lactanz sieht in ihr ein Kernstück christlicher Theologie, ohne das die in seinem System wichtige Gerechtigkeit nicht bestehen kann. Er wird zum Anwalt des göttlichen Zornes, ordnet ihn als gerechten Zorn Gottes Richteramt und der damit verbundenen Straffunktion zu und erklärt ihn als zum Ausüben strafender Gerechtigkeit nötigen Impuls. Das Richteramt gehört für ihn zu Gottes Herrschaftsausübung. Diese Erklärung kommt römischem Denken entgegen, entspricht weitgehend der Religionsauffassung und Gotteserfahrung der Römer, in der die zornige Seite des primär als gebieterische Macht erfahrenen Göttlichen eine überragende Rolle spielte. Den Götterzorn sah man auch in der Weltgeschichte wirksam, als Ursache von Katastrophen und Plagen, die offiziell als Strafen der Götter für Mißachtung ihres Willens ausgelegt wurden. So machte man die den Götterkult verweigernden Christen für allgemeines Unglück verantwortlich und versuchte, sie zum Kultvollzug zu zwingen. In De mortibus persecutorum, kurz nach dem ,Sieg' des Christengottes geschrieben, wendet Lactanz diese Ideologie gegen die Feinde der Religion des einen Gottes: Er habe (mort.pers.1,5-7) seine Verächter durch gerechte Strafen vernichtet und so als Richter und Rächer seine Überlegenheit bewiesen. Gottes Strafgericht sieht Lactanz, vorhandener Topik vom Tode des Gottesverächters folgend, im schrecklichen Ende der Verfolger von Nero bis zu den .Bestien* seiner Zeit, besonders (mort.pers.33 nach II Makk 9 - S c h i c k s a l

374

Lactantius

des Judenverfolgers Antiochus IV. Epiphanes) des Galerius, für ihn Hauptakteur der großen Verfolgung. 3. Bedeutung

und

Rezeption

Die Bedeutung des Lactanz liegt nicht auf theologischem oder überhaupt spekulativem Gebiet. Hieronymus (epist.58,10,2; 70,5,2) rühmt erfolgreiches Bekämpfen gegnerischer Positionen und gelungene Ciceronachahmung. Neu und folgenreich in der christlichen lateinischen Apologetik ist die Verbindung von an paganer Literaturtradition orientiertem Klassizismus mit dem Programm einer Gebildetenmission durch Anknüpfen an die Bildungsstufe der Adressaten und Umsetzen christlicher Inhalte in ihre Vorstellungswelt. Auswirkungen: 3.1. Die Urnsetzung auch mittels traditioneller römischer Denkformen ergab beachtliche interpretatio Romana des christlichen Gottes- und Religionsbegriffs, womit Lactanz den gnostisierenden Ansatz überwand zugunsten der Weltzugewandtheit Gottes, die freilich sofort in den Dienst politischer Theologie unter christlichen Vorzeichen trat. Daß er so einer wesentlichen Seite der biblischen Gottesvorstellung gerecht wurde, beruht auf der Kommensurabilität biblisch-alttestamentlichen und römischen Denkens. 3.2. Umfangreiche Klassikerrezeption, Hochschätzung literarischer Form und kunstvoller sprachlicher Gestaltung und Verteidigen der Dichter machten Lactanz zum wichtigen Vermittler paganer Literatur und Bildungstradition. Seine Ansätze zu christlicher Poctologie und Ästhetik waren bahnbrechend und legitimierten wie sein christliches Phoenixgedicht die aufkommende christliche Dichtkunst, so das erste christliche Bibclepos, die .Evangelien* des Iuvencus. Als Theologe wurde Lactanz seit Hieronymus und im Decretum Gelasianum (->Gelasius I.) verworfen (im ,Kulturkampf' diente er als Pseudonym katholischer Kampfschriften im Sinne von De mortibus persecutorum). Den Humanisten war er Ciceronianer und Vermittler antiken Bildungsgutes (300 Handschriften im 14./15. Jh., über 50 Drucke im 15./16. Jh.). -»Petrarca beruft sich bei seiner Dichterkrönung auf die Definition des Dichtens als Allegorie, Verhüllen von Wahrheit (inst.1,11,24). Rudolph Agricola und der jüngere -»Pico della Mirandola prägen 1496 die bei Hieronymus vorgegebene Bezeichnung Cicero Christianus. Bibliographie Umfassender N a c h w e i s der Quellen sowie bibliographische Erfassung und Auswertung der Forschungslitcratur bei A n t o n i e W l o s o k , L. Caccilius Firmianus Lactantius: H b . der lat. Lit. der Antike, M ü n c h e n , V 1989, 3 7 5 - 4 0 4 ( § 5 7 0 ) .

Quellen Grundlegende Edition: Lactanti opera o m n i a , hg. v. Samuel B r a n d t , 1 8 9 0 - 1 8 9 7 ( C S E L 19: inst., epit.; ebd. 2 7 , 1 : opif., ira, P h o e n . , T e s t i m o n i a , F r a g m e n t e ; ebd. 2 7 , 2 : m o r t . pers., hg. v. G e o r g L a u b m a n n ; Indices). - Einzelausgaben (alle mit Übersetzung): opif., hg. v. M i c h e l Perrin (mit K o m m e n t a r ) , 2 Bde., 1973 ( S C 2 1 3 . 2 1 4 ) . - ira, hg. v. Christiane Ingremeau (mit K o m m . ) , 1982 ( S C 289); hg. v. Heinrich K r a f t / A n t o n i e W l o s o k (ausführliche Indices), D a r m s t a d t 1957 4 1 9 8 3 (Texte zur Forschung 4). - m o r t . p e r s . , hg. v. J o h n L . Creed (mit N o t e n ) , O x f o r d 1984; hg. v. J a c q u e s M o r e a u (mit K o m m . ) , 2 B d e . , 1954 (SC 3 9 ) . - epit., hg. v. M i c h e l Perrin (mit N o t e n ) , 1987 ( S C 3 3 5 ) .

Literatur E b e r h a r d H e c k , Die dualistischen Z u s ä t z e u. die Kaiseranreden bei L a c t a n t i u s , 1 9 7 2 ( A H A W . P H 1972,2). - V i n c e n z o L o i , Lattanzio nella storia del linguaggio e del pensiero teologico pre-niceno, Z ü r i c h 1970. - M i c h e l Perrin, L ' h o m m e antique et chretien. L ' a n t h r o p o l o g i e de L a c t a n c e , 1981 ( T h H 5 9 ) [dazu E . H e c k : G n . 5 7 ( 1 9 8 5 ) 5 2 3 - 5 2 6 ] , - A n t o n i e W l o s o k , L a k t a n z u. die phil. G n o s i s , 1960 ( A H A W . P H 1 9 6 0 , 2 ) .

Antonie Wlosok Lade Jahwes -+Jerusalem, -»Silo

Lagarde Lagarde, Paul Anton de 1. Leben

375

(1827-1891)

2. Werk u n d N a c h w i r k u n g

(Werke/Literatur

S. 376)

1. Leben Paul Anton de Lagarde, wie er sich seit der Adoption durch eine Tante 1854 nannte, wurde als Paul Bötticher am 2.11.1827 in Berlin geboren. Sein Vater, Wilhelm Bötticher, war Gymnasialprofessor am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin. Der frühe Tod seiner Mutter und das zeitlebens gespannte Verhältnis zu seinem Vater prägten in starkem Umfang die Entwicklung seiner Persönlichkeit (vgl. Anna de Lagarde). Nach dem Abschluß des Gymnasiums immatrikulierte sich Lagarde 1844 an der theologischen Fakultät in -»Berlin. In den ersten Semestern wurde er durch —» Hengstenberg und Friedrich Rükkert geprägt; bei letzterem hörte er orientalische Sprachen. 1849 promovierte er mit einer Arbeit über die arabische Farbenlehre zum Dr. phil. Im selben Jahr erhielt er das Evangelische Säkularstipendium der Stadt Berlin, das ihm in -»Halle die Habilitation an der philosophischen Fakultät ermöglichte (1851). Während dieser Zeit löste sich Lagarde immer stärker von seinen durch das spätpietistische Elternhaus und seine konservativen Lehrer vorgegebenen religiösen und politischen Uberzeugungen. Der skandalöse Verlauf des „Waldeck-Prozcsses", in dem sich konservative Kreise kompromittierten (1849), spielte bei der Abkehr Lagardes von seiner pietistischen Glaubenshaltung und vom parteipolitischen Konservativismus eine auslösende Rolle. 1852/53 hielt L a g a r d e als P r i v a t d o z e n t in Halle orientalische u n d alttestamentliche Vorlesungen. D e r Versuch, auf E m p f e h l u n g R ü c k e r t s in - » J e n a ein E x t r a o r d i n a r i a t zu e r h a l t e n , scheiterte. Ein R e i s e s t i p e n d i u m ermöglichte ihm 1852/53 einen F o r s c h u n g s a u f e n t h a l t in L o n d o n u n d Paris. D o r t w i d m e t e er sich t r o t z m a n c h e r Schwierigkeiten der Sicherung koptischer u n d syrischer H a n d s c h r i f ten. Eine F r u c h t a u s dieser Z e i t w a r die E n t d e c k u n g des historischen Werts der syrischen Didascalia (s. T R E 18,665,3 ff), die er 1854 a n o n y m h e r a u s g a b . N a c h einer w i e d e r u m erfolglosen B e w e r b u n g u m ein E x t r a o r d i n a r i a t , diesmal in Halle, arbeitete L a g a r d e von 1 8 5 4 - 1 8 6 6 als Lehrer an verschiedenen h ö h e r e n Schulen Berlins. In diese Z e i t fiel der Beginn seiner allgemein theologischen und politischen P u b l i k a t i o n e n . D a n e b e n setzte L a g a r d e seine streng wissenschaftlichen Veröffentlichungen mit der H e r a u s g a b e d e r meisten syrischen Texte, die er w ä h r e n d seines F o r s c h u n g s a u f e n t h a l t e s in L o n d o n u n d Paris abgeschrieben h a t t e , f o r t .

Während dieses langen und schwierigen Lebensabschnittes zerschlugen sich immer wieder Hoffnungen auf die Übernahme eines akademischen Lehramts. Erst 1866 befreite Wilhelm I. Lagarde bei Fortzahlung der Bezüge von allen schulischen Unterrichtsverpflichtungen. Lagarde konnte sich nun als Privatgelehrter ganz seinen wissenschaftlichen Forschungen widmen. 1869 wurde er als Nachfolger H. -»Ewalds zum ordentlichen Professor an der philosophischen Fakultät der Universität -»Göttingen berufen. Lagarde blieb auch als Professor eine umstrittene Persönlichkeit. In vielen häufig personalisierten Auseinandersetzungen fehlte ihm das rechte Augenmaß. Drei Tage nach einer schweren Operation starb Paul de Lagarde am 22.12.1891 in Göttingen. 2. Werk und

Nachwirkung

Lagarde verwandte einen großen Teil seiner Arbeitskraft auf die Herausgabe von Texten. Neben griechischen edierte er koptische, aramäische, arabische, persische und lateinische Ubersetzungen alttestamentlicher und neutestamentlicher Bücher, widmete sich der Herausgabe von patristischen Schriften und sorgte für eine Edition der Werke G. -»Brunos. Da Lagarde sich bei dieser Arbeit häufig auf die genaue Wiedergabe lediglich einer Handschrift beschränkte, blieb der Ertrag dieser stupenden Lebensleistung nicht unumstritten. Zweifellos regte er jedoch den Fortgang der Forschung an mehreren Stellen entscheidend an. So legte er einen Schwerpunkt auf die Wiederherstellung eines griechischen Textes des Alten Testaments (s. T R E 6,168,36 ff) und regte damit die moderne Septuaginta-Forschung an, die nach seinem Tod durch die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften weiterbetrieben wurde.

Lagarde

376

Die Bedeutung des griechischen Textes des Alten Testaments wurde von Lagarde mit Sicherheit überschätzt. Er ging davon aus, daß der hebräische Urtext unrettbar verderbt sei. Auch wurde seine Hypothese eines ursprünglichen einheitlichen Textes der Septuaginta bereits von seinem Schüler Alfred Rahlfs (1865-1935) nicht übernommen. Daneben verfolgte Lagarde den Plan einer Ausgabe des Neuen Testaments nach den orientalischen Handschriften und gab der Erforschung der syrischen Kirchengeschichte durch seine Textausgaben Impulse (Biblithecae Syriacae). Unbestritten ist sein Einfluß auf die Religionsgeschichtliche Schule (-»Religionsgeschichte des Urchristentums).

Hinter Lagardes religiösen und politischen Äußerungen steht ein Religionsverständnis (-•Religion), das in seinem Kern zwei disparate Momente umschließt: Auf der einen Seite ermöglichte ihm ein abstrakt-allgemeiner Religionsbegriff, religiöse Phänomene ohne Rücksicht auf dogmatische Voraussetzungen miteinander zu vergleichen. Für ihn war die Theologie „ausschließlich eine historische Disciplin" (Dt. Sehr. 74). Hierin wurzelte seine Nähe zum Historismus (s. T R E 12,652,45 ff) der Religionsgeschichtlichen Schale und seine heftige Kontroverse mit A. -» Ritschi. Lagarde bestritt die Möglichkeit, die Grundlehren des Christentums unter die Begriffe -»Rechtfertigung und -»Versöhnung zu subsumieren und negierte sowohl den normativen Wert des -»Kanons als auch den Satz von der ausschließlichen -»Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Auf der anderen Seite spiegelt sich in seinem Religionsbegriff ein konservativ-romantisches Verständnis menschlicher Realität, deren Wesenskern er im Freiheitsbedürfnis und in der individuellen -»Bildung des einzelnen sah. Lagarde forderte als ,Seele der Nation' (vgl. Dt. Sehr. 75.89) eine alles umgreifende „nationale Religion", die sich allein auf die Reinheit der Botschaft Jesu gründen sollte und die auf eine neue Moral zur Erneuerung der modernen Welt zielen sollte. Lagarde sah die paulinische Theologie in einem Gegensatz zur Botschaft Jesu. Paulus habe das Evangelium, das nur authentische Zeugen des Lebens Jesu wirklich vermitteln könnten (Dt. Sehr. 27), dadurch verändert, daß er es mit alttestamentlichen Vorstellungen verband (vgl. den Einfluß auf das Paulusbild von W. -»Wrede). -»Luther und die Reformation sah er als eine historische Erscheinung des 16. Jh., deren zentrale Lehre von der Rechtfertigung nicht evangelisch, sondern paulinisch sei und lediglich aus der polemischen Auseinandersetzung mit dem Katholizismus heraus Bedeutung erlangt habe. Lagarde ging in seiner Kritik an der Reformation so weit, der Bibelübersetzung Luthers jeden sprachschöpferischen Wert abzusprechen (vgl. Dt. Sehr. 222ff). Konkret forderte Lagarde die Abschaffung der konfessionell ausgerichteten theologischen -»Fakultäten, eine strikte Trennung von Staat und Kirche und die Gründung einer „nationalen Kirche", in der die Konfessionen zugunsten eines die Nation einenden Ideals überwunden werden sollten. Diese Haltung spiegelt sich auch in seinen politischen Schriften, die zum festen Bestandteil deutsch-nationaler Weltanschauung wurden. In ihnen verbanden sich romantisch-idealistische mit ausgeprägt kulturpessimistischen Zügen. Lagarde bekämpfte alle nivellierenden Tendenzen der Moderne, kritisierte den Merkantilismus und die Mechanisierung in Folge der ersten industriellen Revolution (-»Industrialisierung). Stattdessen sah er die Z u k u n f t Deutschlands in der Ostkolonisation. Der -»Antisemitismus Lagardes betonte weniger den religiösen als den nationalistischen Aspekt. Er ordnete die Unterscheidung zwischen Juden und Christen der zwischen Juden und Deutschen unter. Das Judentum war für ihn „Nation in der Nation". Die Suggestion jüdischer Vorherrschaft ermöglichte den Appell zur Befreiung von der Bevormundung durch die Juden in ökonomischer, finanzieller, politischer und intellektueller Hinsicht. Lagarde forderte die völlige Assimilierung der Juden oder deren Aussiedlung. Die Rezeption seiner politischen Schriften macht Lagarde zu einem Wegbereiter und Vordenker des Pangermanismus (s. TRE 8,555,14) und des -»Nationalsozialismus. Werke (in chronologischer

Reihenfolge)

1. Textausgaben und Philologisches (als P.A. Bötticher): Horae Aramaicae, Berlin 1 8 4 7 . - R u d i menta Mythologiae Semiticae Supplementa Lexici Aramaici, Berlin 1848. - lnitia chromatologiae

Lagarde

377

arabicae, Berlin 1849. - Arica, Halle 1851. - Wurzelforschungen von Paul Bötticher, Halle 1852. Acta apostolorum coptice, Halle 1852. - Episrulae novi tescamenti coptice, Halle 1852. (anonym): Didascalia apostolorum syriace, Leipzig 1854. - Zur Urgesch. der Armenier. Ein philol. Versuch, Berlin 1854. (als P. de Lagarde): De Geoponicon versione syriaca commentatio, Leipzig 1855. - Reliquiae iuris ecclesiastici antiquissimae graece, London 1856. - Reliquiae iuris ecclesiastici antiquissimae syriace, Leipzig 1856. - De Novo Testamento ad versionum orientalium fidem edendo, Berlin 1857. - Analecta Syriaca, Leipzig 1858. - Analecta appendix Arabica, Leipzig 1858. - Hippolyti Romani quae feruntur omnia graece, Leipzig 1858. - Titi Bostreni contra Manichaeos libri quatuor Syriace, Leipzig 1859. - T i t i Bostreni quae ex opere contra Manichaeos in cod. hamburgensu servata sunt graece accedunt Julii romani epistulae et Gregorii Thaumaturgi xaxä lipoq niatiq, Leipzig 1859. - Geoponicon in sermonem syriacum versorum quae supersunt, Leipzig 1860. - Clementis romani recognitiones syriace, Leipzig 1861. - Libri Veteris Testamenti apocryphi syriace, Leipzig 1861. - Libri Veteris Testamenti apocryphi syriace, Leipzig 1861. - Constitutiones apostolorum graece, Leipzig 1862. Anm. zurgriech. Übers, der Proverbien, Leipzig 1863.-Die vier Evangelien arab. aus der Wiener Hs. herausgegeben, Leipzig 1864.-Clementina, Leipzig 1865.-Der Pentateuch koptisch, Leipzig 1867.Materialien zur Gesch. u. Kritik des Pentateuch, 2 Bde., Leipzig 1867. - Genesis graece, Leipzig 1868. — Hieronymi quaestiones hebraicae in libro Geneseos, Leipzig 1868. - Beitr. zur baktrischen Lexicographie, Leipzig 1868. - Onomastica sacra, Göttingen 1870. - P r o p h e t a e chaldaice, Göttingen 1872. — Hagiographa chaldaice, Göttingen 1872. - Psalterium iuxta Hebraeos Hieronymi, Göttingen 1874. — Psalmi 1 - 4 9 in usum scholarum arabice, Göttingen 1875. - Psalterii versio memphitica, accedunt psalterii thebani fragmenta Parhamiana, Proverbiorum memphiticorum fragmenta Berolinensia, Göttingen 1875. - Psalterium Job Proverbia arabice, Göttingen 1876. - Armenische Stud., Göttingen 1877. - Semitica, Göttingen 1878/79. - Praetermissorum libri duo syriace, Göttingen 1879. - Veteris Testamenti ab Origene recensiti fragmenta apud Syros servata quinque, Göttingen 1880. — Ankündigung einer neuen Ausg. der griech. Ubers. AT, Göttingen 1882. - Johannis Euchaitorum metropolitae quae in codice vaticano graeco 676 supersunt Johannes Bollig descripsit, Göttingen 1882. — Die lat. Übers, des Ignatius, Göttingen 1882. - Juda Harizii makamae hebraice, Göttingen 1883. - Petri Hispani de lingua arabica libri duo, Göttingen 1883. - Librorum Vet. Test, canonicorum pars prior graece, Göttingen 1883. - Persische Stud.,Göttingen 1884. - Die Weisheiten der Hs. v. Amiata..., Göttingen 1884. - Probe einer neuen Ausg. der lat. Ubers, des AT, Göttingen 1885. - Catenae in Evangeliae Novae psalterii graeci editionis speeimen, Göttingen 1887. - Onomastica sacra alterum edita, Göttingen 1887. - Agathangelus u. die Akten Gregors v. Armenien neu hg., Göttingen 1887. Übersicht über die im Aramäischen, Arab. u. Hebr. übliche Bildung der Nomina, Göttingen 1889. Le opere italiane di Giordano Bruno ristampate, 2 Bde., Göttingen 1888. - Septuaginta-Stud., 1/1 Das Buch der Richter (c. 1 - 5 ) in zwei Recensionen, Göttingen 1891. — Psalterii Graeci Quinquagena prima e Paulo de Lagarde in usum scholarum edita, Göttingen 1892. - Bibliothecae Syriacae quae ad philologiam sacram pertinent, Göttingen 1892. 2. Gesammelte Studien und Aufsätze: Ges. Abh., Leipzig 1866. - Symmicta I, Göttingen 1877, II Göttingen 1880. - Dt. Sehr., I Göttingen 1878, II Göttingen 1881 (,GA letzter Hand' in einem Bd. Göttingen 1886). - Aegyptiaca, Göttingen 1883. - Mitteilungen I, Göttingen 1884, II Göttingen 1887, III Göttingen 1889, IV Göttingen 1891. 3. Sonstiges: Hymns of the old catholic church of England, Halle 1851. - Josephi Scaligeri poemata omnia ex museio Petri Scriverii, Leipzig 1864. - Nachrichten über einige familien des namens Bötticher, Berlin 1867. - Über das Verhältnis des dt. Staates zu Theol., Kirche u. Religion, Göttingen 1873. - Über die gegenwärtige Lage des Dt. Reichs, Göttingen 1876. - Aus einem dt. Gelehrtenleben. Aktenstücke u. Glossen, Göttingen 1880. - Gedichte, Göttingen 1885. - Die revidierte Lutherbibel des Halleschen Waisenhauses, Göttingen 1885. - Gedichte v. Paul de Lagarde. GA besorgt v. Anna de Lagarde, Göttingen 1897 (2. vermehrte Aufl. Göttingen 1911). - Purim. Ein Beitrag zur Gesch. der Religion, Göttingen 1887. - Juden u. Indogermanen. Eine Stud. nach dem Leben, Göttingen 1887. - Bemerkungen zu einem v. Herrn Prof. Felix Klein über die Reorganisation der Königl. Gesell, der Wiss. zu Göttingen abgegebenes Gutachten. Als HS. gedruckt, Göttingen 1889. - Bescheinigung über den richtigen Empfang eines v. Herrn Otto Ritsehl an mich gerichteten offenen Briefes, Göttingen 1890. - Über die von Herrn Paul Güssfeldt vorgeschlagene Reorganisation unserer Gymnasien, Göttingen 1890. - Altes u. Neues über das Weihnachtsfest, Göttingen 1891. — Erinnerungen an Friedrich Rückert. Über einige Berliner Theologen u. was von ihnen zu lernen ist. Zwei Aufsätze, Göttingen 1897. Literatur Jean-Jacques Anstett, Paul de Lagarde: ders., The Third Reich, London 1955,148 - 2 0 2 . - Joseph Becker, Paul de Lagarde, Lübeck 1935. - Richard Breitling, Lagarde u. der großdt. Gedanke,

378

Laie I

Wien/Leipzig 1972. - Otto Conrad, Paul de Lagarde. Ein Prophet dt. Bildung u. dt. Volkstums, Langensalza 1928. - Mario Crammer, Die Wiedergeburt durch Lagarde, Gotha/Stuttgart 1925. Georg Dost, Paul de Lagardes nationale Religion, Jena 1915 (Tat-Flugschr. 4). - Heinz Erich Eisenhuth, Die Idee der nationalen Kirche bei Paul de Lagarde: Z T h K 15 (1934) 1 4 5 - 1 6 6 . - Jean Favrat, La Pensée de Paul de Lagarde (1827-1891). Contributionà la étude des rapports de la religion et de la politique dans le nationalisme et le conservatisme allemands au XIXème siècle, Lille/Paris 1979. Karl Fischer, Das Paulus- u. Lutherbild Lagardes: Z Z 11 (1933) 7 8 - 9 3 . - Wilhelm Hartmann, Paul de Lagarde, ein Prophet dt. Christentums. Seine theol. Stellung, Religionsanschauung u. Frömmigkeit, Halle 1933. - Wanda Kampmann, Paul de Lagarde: dies., Deutsche u. Juden, Heidelberg 1963, 3 0 2 - 3 0 8 . - Friedrich Wilhelm Kantzenbach, F.W. Bötticher, W. Löhe u. P. de Lagarde. Beobachtungen zu ihren gegenseitigen Beziehungen: J B B K G 3 (1966) 1 1 2 - 1 2 1 . — Heinrich Karpp, Lagardes Kritik an Kirche u. Theol.: Z T h K 49 (1952) 3 6 7 - 3 8 5 . - Anna de Lagarde, Paul de Lagarde. Erinnerungen aus seinem Leben, Leipzig 2 1918. - Paul de Lagarde u. die syr. KG, hg. v. Göttinger Arbeitskreis f. syr. KG, Göttingen 1968. - Robert W. Lougee, Paul de Lagarde as critic. A romantic protest in an age of realism: Journal of Central European Affairs 13 (1953) 2 3 2 - 2 4 5 . - Ders., Paul de Lagarde, A study of radical conservatism in Germany, Cambridge/Mass. 1962. - Wilhelm Mommsen, Paul de Lagarde als Politiker, Göttingen 1927. - Friedrich Naumann, Ein Radikalkonservativer: Hilfe 18 (1912) 7 7 9 - 7 8 1 . - Alfred Prügel, Träumereien am großdt. Kamin, Paul de Lagarde: Propheten des Nationalismus, hg. v. K. Schwedhelm, München 1969, 5 6 - 7 1 . - Alfred Rahlfs, Paul de Lagardes wiss. Lebenswerk, im Rahmen einer Gesch. seines Lebens darg., Berlin 1928. - Hans Rollmann, Duhm, Lagarde, Ritsehl u. der irrationale Religionsbegriff der Religionsgesch. Schule. De Vita hospitis Heinrich Hackmanns als geistes- u. theologiegesch. Dokument: Z R G G 34 (1982) 2 7 6 - 2 7 9 . - Hans Eberhard Schaller, Die Stellung v. P. de Lagarde u. Constantin Frantz im Werdegang des dt. Nationalismus, Diss, phil., Göttingen 1953. - Jürgen Schriewer, Art. Lagarde: NDB 13 (1982) 4 0 9 - 4 1 2 . - Hans Walter Schütte, Lagarde u. Fichte. Die verborgenen spekulativen Voraussetzungen des Christentumverständnisses P. de Lagardes, Gütersloh 1965. - Ders., Theol. als Relgionsgesch. Das Reformprogramm P. de Lagardes: NZSTh 8 (1966) 15 - 2 3 . - F r i t z Stern, The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of the German Ideology, Berkeley 1961. R o m a n Heiligcnthal Laie I. Kirchengeschichtlich II. Systematisch - theologisch III. Praktisch - t h e o l o g i s c h . . .

385 393

I. Kirchengeschichtlich 1. Begriff und Geschichte 2. Altertum und Mittelalter 3. Neuansätze in der Zeit der Reformation 4. 17. bis 19. Jahrhundert 5. Die Stellung der Laien in der heutigen Ökumene (Literatur S. 383) 1. Begriff

und

Geschichte

Der Begriff des „ L a i e n " hat, zumal in seinem umgangssprachlichen Gebrauch, offenbar zwei verschiedene Wurzeln. Auf die eine führt die Etymologie. Der Begriff geht auf das griechische Xaikög (lat. laicus) zurück und ist von ).aöq ( = Volk) abgeleitet; er bedeutet d a n a c h so viel wie „ z u m Volke g e h ö r i g " . Bezeichnenderweise begegnet er nirgends im Neuen Testament und auch außerhalb desselben anfangs nur ganz vereinzelt (s. u.). Ist er d o c h von H a u s aus vorwiegend dem kultischen Bereich zugeordnet und bezeichnet speziell das kultisch abhängige „ V o l k " im Unterschied zu den Kultdienern (—»Priestern) bzw. die „ M e n g e " der nicht in die - » M y s t e r i e n Eingeweihten. Erst w o die neutestamentliche Sicht (besonders die des Hebräerbriefes: Christi Selbstopfer als E n d e allen Opferwesens) verlassen und das alttestamentliche Priestertum m e h r und mehr bestimmend zu werden beginnt für Deutung und Selbstverständnis der verschiedenen „ D i e n s t e " innerhalb der EKKhjaia ( - » K i r c h e ) , taucht der Begriff des Laien a u f (erstmals I Clem 4 0 , 5 ) . Den gleichen kultisch-kirchenrechtlichen Sinn behält er im wesentlichen in der Folgezeit, in der er sich seit Beginn des 3. J h . ( - » T e r t u l l i a n , - » C l e m e n s v. Alexandrien) allmählich eingebürgert zu haben scheint.

Laie I

379

Die zweite Wurzel verbindet sich mit dem griechischen Wort iöi(bxt}Spener stellte beim Versuch, das „geistliche Priestertum" zu erläutern, in seiner terminologischen Verlegenheit die Prediger den „ H ö r e r n " bzw. den „anderen Christen" gegenüber; 5 Johann Hinrich -»Wiehern setzte sich bei der Suche nach einer geeigneten Begrifflichkeit mit der Bezeichnung „Nichtgeistlicher" auseinander. 6 (c) Kann von einem „Weihestand" nicht ausgegangen werden, und führt der Einsatz bei der öffentlichen Beauftragung des Amtsträgers nicht zu einer Profilierung des Begriffs Laie, so scheint schließlich nur die Anleihe bei seiner heute säkularisierten Bedeutung übrig zu bleiben: Laie wäre dann der „ N i c h t - T h e o l o g e " , derjenige, dem die einschlägige Ausbildung und die entsprechende Kompetenz fehlt. 1

Laie II

387

Die genannten, sämtlich auf dem Wege der Negation gewonnenen Bestimmungen könnten es nahelegen, auf den (dogmatischen) Gebrauch des Begriffs überhaupt zu verzichten. 8 Dagegen spricht im Kontext evangelischer Ekklesiologie freilich die Notwendigkeit, die Rolle des nicht eigens mit dem Amt der öffentlichen Verkündigung und Sakramentsverwaltung betrauten Mitglieds der Kirche zu bezeichnen und sie damit theologisch reflektierbar und diskutierbar zu machen. Das Festhalten an einem (wenngleich problematischen) Begriff des Laien war immerhin eine Voraussetzung dafür, daß sich das Il.Vatikanum um eine positive Füllung und Würdigung des Laienstandes bemühen konnte (z.B. im Dekret über das Apostolat der Laien, in Lumen Gentium 31 oder Ad Gentes 21), während terminologische Unsicherheit im Umgang mit dem Begriff „Laie" die evangelische Theologie daran gehindert hat, ihre Einsichten in das Wesen des allgemeinen Priestertums zu explizieren und zu vertiefen. Schließlich fordert der Tatbestand, daß es nichtordiniertc und theologisch nicht ausgebildete Glieder der Kirche gibt, auch als kirchensoziologisch bedeutsames Faktum zu dogmatischer Klärung heraus. Insofern ist die angesichts des allgemeinen Priestertums der Gläubigen (s. u. 2.2) im Protestantismus zu beobachtende Scheu, den Begriff „Laie" zu verwenden, unbegründet. 2. Die Berufung

des

Laien

Evangelische Theologie hat zu fragen, worin die Berufung des Laien begründet liegt und wozu sie erfolgt. 2.1. Berufung

durch Wort, Sakrament

und

Charisma

2.1.1. Die Berufung des Laien kann in nichts anderem begründet sein als in seiner Zugehörigkeit zum Leib Christi. Diese manifestiert sich in seinem Getauft-Scin und in seinem Bleiben im Wort, „in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet" (Act 2,42). 2.1.2. Luther hat das Sakrament der Taufe besonders betont: „was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon (zum) priester, Bischoffund Bapst geweyhet sey" (WA 6,408,11 ff). Doch ist dabei nicht an den Taufakt isoliert zu denken: „semel es baptisatus sacramentaliter, sed Semper baptisandus fide" (WA 6,535,11 f). Die Berufung wird durch den Taufakt begründet; durch die im Glauben vollzogene Inanspruchnahme von Wort und Sakrament wird sie aktualisiert. Um eine ungerechtfertigte Isolation des Taufakts zu vermeiden, hat man daher gelegentlich die Konfirmation als „Ordination" der Laien zu verstehen vorgeschlagen (J.H. Wichern 9 , M. Thurian 1 0 ); das Herrenmahl bleibt merkwürdig unterbetont. Die Berufung des Laien ist nichts anderes als die durch Gottes Gnade gewährte Begründung eines Lebens in Glaube, Hoffnung und Liebe; sie ist als solche noch nicht zu profilieren gegen den Auftrag eines „rite vocatus" (CA XIV). 2.1.3. Gibt es innerhalb der gemeinsamen Berufung aller Christen durch die Taufe weitere, nun freilich nachzuordnende, aber doch spezifische Begründungselemente für die Berufung des Laien? Man wird in diesem Zusammenhang die paulinische Lehre von den Charismen beiziehen müssen (-»Charisma). Das Charisma als „Konkretion und Individuation der Gnade oder des Geistes" (E. Käsemann 1 1 ) begründet und profiliert die Funktion der einzelnen Glaubenden. Die Reformation hat in ihrer Fixierung auf das spätmittelalterliche Verständnis des Priesters und in Abgrenzung gegen spiritualistische Tendenzen diesen Gesichtspunkt vernachlässigt. Trotz zaghafter Versuche - etwa bei Johann Hinrich Wichern 1 2 - konnte dieses Versäumnis in der evangelischen Theologie bislang nicht wettgemacht werden. Interesse an den Charismen im Zusammenhang der Würdigung des Laien erwacht jedoch in charismatischen Gruppen und in den lateinamerikanischen Basisgemeinden. I 3 Die Entwicklung einer evangelischen Theologie der Charismen ist ein dringendes ekklesiologisches Desiderat. Dabei wäre das Verhältnis von „natürlichen Gaben" und Charismen sowie deren Beziehung zum Bedarf innerhalb einer gegebenen gemeindlichen oder gesellschaftlichen Konstellation zu bedenken. Zusammenfassend

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Laie II

kann also gesagt werden: Die Berufung des Laien läßt sich nach evangelischem Verständnis in einem allgemeinen Sinn kerygmatisch und sakramental, in spezifischer Hinsicht dagegen charismatisch begründen; nicht in Frage kommt dabei eine Profilierung durch ontologische Abgrenzung von einem „Weihestand". 2.2. Berufung zum allgemeinen,

gegenseitigen

und gemeinsamen

Priestertum

Die Berufung des Glaubenden erfolgt, ekklesiologisch gesehen, zur Gliedschaft am Leib Christi (I Kor 12,12 ff) und damit in die Zugehörigkeit zur „königlichen Priesterschaft" und zum „heiligen Volk" (I Petr 2 , 5 - 1 0 ) . Dem Gedanken eines priesterlichen Seins und Handelns kommt dabei besondere Bedeutung zu: Der eine Hohepriester Christus vermittelt zwischen Gott und Mensch. Er schließt damit einerseits jede anderweitige Vermittlung zwischen Gott und dem sündigen Menschen aus (I Tim 2,5; Hebr 7,27) und vermittelt andererseits Gott den sündigen Menschen so vollkommen, daß diese damit ihrerseits in einem abgeleiteten Sinne zu „Priestern" werden. 1 4 Luther hat dies in dem Bild vom „fröhlichen Tausch" zwischen Christus und der Seele zum Ausdruck gebracht (WA 7,25,26ff), aufgrund dessen ein Glaubender nun dem andern ein Christus werden kann, „wie Christus mir worden ist" (WA 6,35,35). 2.2.1. Dies gilt für jeden Glaubenden ohne Ausnahme. Insofern handelt es sich um die Berufung zum allgemeinen Priestertum. Sie begründet die „Freiheit eines Christcnmcnschen", zu der auch die Unabhängigkeit von menschlichen (kirchlichen) Vermittlungsinstanzen gehört. Diese Freiheit verwirklicht sich freilich im Dienst für den Nächsten, denn sie besteht wesentlich in der Freiheit vom Gesetz der Selbstbehauptung, wie denn priesterliches Sein und Handeln als solches nicht auf sein Subjekt beschränkt sein kann. Begründet durch den Hohenpriester Christus und an ihm orientiert, verwirklicht es sich im Zeugnis und in der Fürbitte. 2.2.2. Das allgemeine Priestertum zielt auf Gegenseitigkeit. Jeder Glaubende hat das Recht und die ihm selbstverständliche Pflicht, das in Christus allen Menschen verheißene Heil seinem Mitmenschen zu bezeugen, für ihn vor Gott einzutreten und, wenn die Situation es erfordert, sich auch um seine äußeren Belange zu bemühen. Andererseits ist jeder Glaubende selbst darauf angewiesen, daß das Heil ihm bezeugt wird, daß jemand vor Gott und den Menschen für ihn eintritt und daß gegebenenfalls andere für ihn sorgen. Die Gemeinschaft der Kirche ist somit nicht durch einen „Weihestand" begründet, der sich im Sinne eines Subjekts von Heilsvermittlung verstehen dürfte, und durch einen Laienstand, dessen Glieder dann als Objekte solcher Heilsvermittlung zu stehen kämen. Vielmehr dient einer dem andern „mit der Gabe, die er empfangen hat" (I Petr 4,10). Die priesterliche Struktur der Kirche bezieht sich nicht reduziert auf das Gegenüber von Hierarchie/Klerus und Laien, sondern sie prägt ohne Einschränkung die gesamte Gemeinschaft in allen ihren Gliedern und reproduziert sich überall, wo „zwei oder drei versammelt sind" in Christi Namen (Mt 18,20). Damit ist ein gegenüber dem hierarchischen Modell neues Kohäsionsprinzip der Kirche formuliert. Im Vergleich mit ihm bleibt auch die Konzeption des „Laienapostolats", wie sie vom II. Vatikanum vorgelegt wurde, im hierarchischen Grundmuster befangen. Allgemeines Priestertum ist prinzipiell und ohne jede Einschränkung gegenseitiges Priestertum. 2.2.3. Indem jeder Glaubende dazu berufen ist, jedem, der seiner Hilfe bedarf, priesterlich beizustehen, vollzieht sich zugleich gemeinsames Priestertum der Glaubenden, die ja in ihrer Gesamtheit „das auserwählte Volk, die heilige Priesterschaft" sind (I Petr 2,9). In Wahrnehmung dieses gemeinsamen Priestertums ergeben sich Aufgaben einerseits innerhalb der Gemeinschaft, andererseits denen gegenüber, die sich nicht zu ihr zählen. Im Rahmen eines als gemeinsam verstandenen Priestertums hat jeder einzelne Glaubende priesterliche Aufgaben nicht nur an anderen einzelnen Glaubenden, sondern auch im Blick auf deren Gesamtheit. Umgekehrt, von der Gesamtheit aus betrachtet, können ebendiese Aufgaben der Gesamtheit wiederum nur von einzelnen wahrgenommen werden. Es geht, reformatorisch gesprochen, um die „öffentliche" Verkündigung (und Sakra-

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mcntsverwaltung) (CA X I V ) . Erst an dieser Stelle wird für evangelische Ekklesiologie die Unterscheidung von „ L a i e n " und „Amtsträgern" sinnvoll, aber auch notwendig. Die Träger des allgemeinen, gegenseitigen und gemeinsamen Priestertums verwirklichen als Laien ihre Berufung (neben anderem, s. unten) darin, daß sie für die Ausübung des „ A m t e s " , das der gesamten Kirche aufgetragen ist und das deswegen eine kontinuierliche und auf die Gemeinschaft bezogene Ausübung verlangt, Sorge tragen. Sie tun es, indem sie dem Dienst der öffentlichen Verkündigung und Sakramentsverwaltung als einer besonderen Gestalt des allgemeinen, gegenseitigen und gemeinsamen Priestertums M e n schen zuführen, die geeignet und bereit sind, ihn zu versehen. Sie nehmen diesen Dienst, der wesentlich in der Leitung der Gemeinde besteht und damit ein einheitsstiftendes Element enthält, ihrerseits selbst in Anspruch, wissen sich aber auch für seine evangeliumsgemäße Durchführung verantwortlich. Das „ A m t " der Kirche als eine besondere und notwendige Ausdrucksform des allgemeinen, gegenseitigen und gemeinsamen Priestertums wird durch Delegation nicht geschaffen, aber beschickt. Insofern ist es ein Mißverständnis, „ A m t " und allgemeines Priestertum in Konkurrenz zueinander oder in Ableitung voneinander zu sehen. In der Wahrnehmung des gemeinsamen Priestertums durch den spezifischen Beitrag der Laien und durch das besondere Amt der Kirche wird das Zeugnis von der Gnade Gottes vernehmbar (nämlich hörbar und in gewisser Weise sichtbar) auch für diejenigen, die sich nicht zur Kirche zählen. Die Gemeinde wird damit selbst zur „Priesterin" (Wichern). 1 5 Sofern die Kirche sich in voneinander getrennten Konfessionen und miteinander um die Wahrheit ringenden Gruppen verwirklicht, können auch diese in ihren priesterlichen Aufgaben aneinander erfaßt werden. 3. Das Amt der

Laien

Das Amt der Laien besteht in dem Dienst, den sie aufgrund ihrer Berufung sowohl innerhalb der Gemeinde als auch in anderen Bereichen ausüben. In den verschiedenen Konfessionen werden, je nach deren ekklesiologischen Prämissen, die Aufgaben der Laien unterschiedlich gewichtet. 3.1. Das Amt der Laien

innerhalb

von

Gemeinde/Kirche

Der primäre Auftrag der Laien besteht, ekklesiologisch betrachtet, darin, daß sie ihre Berufung erfassen und leben. Zusammen mit den von ihnen bestellten Trägern der öffentlichen Verkündigung und Sakramentsverwaltung konstituieren und manifestieren sie die Gemeinde. 3.1.1. Sie vollziehen die durch ihre Berufung zum allgemeinen, gegenseitigen und gemeinsamen Priestertum begründete Kommunikation auf eine nicht institutionalisierte Weise, indem sie sich einander zuwenden, Verantwortung füreinander übernehmen, einander das Zeugnis von Gottes Gnade vermitteln und einander den Widerspruch gegen Mißverständnisse des Evangeliums oder ein dem Evangelium fremdes Verhalten nicht schuldig bleiben. Sie raten einander, sind bereit, miteinander und füreinander zu leiden, und dienen einander mit den ihnen von Gott geschenkten Gaben bzw. Charismen. Ihr Auftrag besteht nicht nur im Geben, sondern auch darin, einander in Anspruch zu nehmen. Ihre Berufung verwirklicht sich zwischen Eltern und Kindern ebenso wie zwischen Ehepartnern oder Berufskollegen und in zufälligen Begegnungen. 3.1.2. Laien nehmen ihr Amt aber auch auf eine institutionalisierte Weise wahr, indem sie unterschiedliche Formen der Partizipation am Gottesdienst (Kirchenmusik, Lektorenund Prädikantendienst) und am Gemeindeleben (Leitung von Gruppen und Initiativen, pädagogische und diakonische Aufgaben) entwickeln. Dabei können bei entsprechender Beauftragung einzelne Dienste auf Zeit oder auf Dauer in das Amt öffentlicher Verkündigung und Sakramentsverwaltung überführt werden, ohne daß eine dem evangelischen Denken fremde generelle Klerikalisierung von Laienämtern Platz greifen müßte. Laien nehmen ihr Amt ebenso dadurch wahr, daß sie zur Mitarbeit in offiziellen Gremien und Organen ihrer Gemeinden (Presbyterien, Synoden) tätig werden. Sie tragen dabei Sorge

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f ü r den Weg der gesamten Gemeinde bzw. Kirche. Auf diese Weise k o m m t es zur Ausübung des gemeinsamen Priestertums. 3.1.3. Evangelische Ekklesiologie sieht das spezifische Amt der Laien in erster Linie als einen Auftrag, der innerhalb der Gemeinde bzw. der Kirche verwirklicht werden soll. Hinsichtlich des missionarischen Zeugnisses gegenüber Anders- oder Nichtglaubenden läßt sich der Dienst der Laien von dem der öffentlichen Verkündigung und Sakramentsverwaltung nur pragmatisch, nicht aber theologisch abheben. Römisch-katholische Ekklesiologie hingegen spricht den Laien sowohl in der gottesdienstlichen Feier als auch in den Vertretungsorganen von Ortsgemeinde, Regional- und Gesamtkirche nur eine begrenzte Bedeutung zu (sie „wirken . . . an der eucharistischen Darbringung m i t " [Lumen Gentium 11], können „in verschiedener Weise zu unmittelbarer Mitarbeit mit dem Apostolat der Hierarchie berufen w e r d e n " [Lumen Gentium 33]). Trotz der positiv gefaßten Formulierung wird dies insbesondere von Laientheologen und - angesichts ihres Ausschlusses vom Amt - von Frauen zunehmend als dem Evangelium widersprechende Beeinträchtigung erlebt. 1 6 Die orthodoxe Ekklesiologie steht, ohne eine ontologische Differenzierung zwischen Hierarchie und Volk zuzulassen, vor ähnlichen Problemen. 1 7 3.2. Das Amt der Laien in anderen

Bereichen

Die spontane oder institutionalisierte Wahrnehmung des Laienamtes in der Gemeinde bzw. Kirche wirkt sich auch auf den Kontext aus, in dem ein Glaubender, eine Gemeinde oder eine Kirche lebt. Gibt es aber darüber hinaus ein spezifisches Amt der Laien, das sich außerhalb von Kirche und Gemeinde verwirklichen würde? Die Konfessionen urteilen hier unterschiedlich. 3.2.1. Während o r t h o d o x e Ekklesiologie zwischen Kirche und Welt nicht im westlichen Sinn differenziert, betont römisch-katholische Ekklesiologie den „Weltcharakter" der Laien. 1 8 Laien nehmen auf ihre Weise („pro parte sua", Lumen Gentium 31) an der Heilssendung der Kirche teil und üben insofern ihr Apostolat aus (Apostolicam Actuositatem 1,2). Sie gelten darin als unersetzbar, weil die Welt, in der sie aufgrund ihres Laienstandes zuhause sind, durch den Priester oft nicht mehr erreicht werden kann. Die besondere Aufgabe der Laien ist es daher, an ihrem O r t die Welt zu heiligen und mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen („Laienapostolat"). 1 9 3.2.2. Auch evangelische Ekklesiologie geht von der dem Christen selbstverständlichen Aufgabe des missionarischen Zeugnisses aus, aber sie kann hier kein Spezifikum des Laienamtes erkennen. Z w a r wurden besonders im Rahmen von Erweckungsbcwegungcn immer wieder die Laien besonders auf ihre Verpflichtung zum Zeugnis hin angesprochen („Innere M i s s i o n " 2 0 , J o h n M o t t 2 1 ) . Doch liegen hier praktisch-theologische und nicht dogmatische Erwägungen vor. Das Ziel evangelischer Verkündigung besteht zudem nicht darin, ein christliches, etwa protestantisch gefärbtes Milieu zu schaffen. Sie will vielmehr dazu beitragen, d a ß möglichst viele Menschen sich ihrer Freiheit vor G o t t und der d a r a u s resultierenden Konsequenzen bewußt werden und entsprechend zu leben lernen. Im Blick auf einen so verstandenen Auftrag können sich aber die Aufgaben des Laien von denen der öffentlichen Verkündigung nicht prinzipiell unterscheiden. 3.2.3. Der Glaubende, der sich in die Nachfolge gerufen weiß, wird f ü r die Gestaltung seines Alltags, o b dieser in einem professionellen Sinne mit der Kirche verbunden ist oder nicht, ein doppeltes Kriterium anzuwenden versuchen. Er geht davon aus, d a ß alles, was er tut, im N a m e n Jesu getan werden und insofern Gottesdienst sein darf (Kol 3,17). Er verwirklicht seine Berufung nicht erst dadurch, d a ß er seiner Tätigkeit einen kirchlichen Bezug gibt, sondern dadurch, d a ß er sie als solche ernst nimmt und nach bestem Wissen und Gewissen a u s f ü h r t . Der Laie (ebenso wie der Amtsträger) ist, so gesehen, der „sachliche M e n s c h " (von O p p e n ) . 2 2 Überlegungen zu einer besonderen Sendung des Laien in der Gesellschaft, wie sie im römisch-katholischen Bereich angestellt w e r d e n 2 3 , finden im R a h m e n evangelischer Theologie ihre Entsprechung auf dem Feld der Stände- und Be-

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r u f s e t h i k ( - » B e r u f I I ) . V o n d a h e r w i r d n o c h e i n m a l v e r s t ä n d l i c h , w i e s o d e r „ L a i e " in d e r evangelischen D o g m a t i k nur selten und allenfalls k n a p p thematisiert wird. I n s g e s a m t zeigt s i c h j e d o c h , d a ß d i e R e d e v o m L a i e n in d e r e v a n g e l i s c h e n T h e o l o g i e ( w i e d e r ) h o f f ä h i g w e r d e n sollte. S a c h g e m ä ß g e f a ß t , b e e i n t r ä c h t i g t sie d a s V e r s t ä n d n i s des allgemeinen, gegenseitigen und gemeinsamen Priestertums keineswegs. Die Entwicklung e i n e s L e h r s t ü c k s ü b e r d i e L a i e n in d e r e v a n g e l i s c h e n E k k l e s i o l o g i e ist g e e i g n e t , d i e S t e l l u n g des G l a u b e n d e n zu seinen M i t g l a u b e n d e n , zur G e s a m t g e m e i n d e u n d z u m A m t d e r ö f f e n t l i c h e n V e r k ü n d i g u n g u n d S a k r a m e n t s v e r w a l t u n g g e n a u e r zu b e s t i m m e n u n d s o m i t d i e E i g e n a r t e v a n g e l i s c h e r L e h r e v o n d e r K i r c h e p r ä z i s e r zu b e s c h r e i b e n .

Anmerkungen 1

2

3

4

5

6 7

9

9 10 11 12 13

14

15 16 17

18 19 20 21

22 23

Vgl. aber bereits I C l e m 4 0 , 5 (erste N e n n u n g des Begriffs „ L a i e " in christlichem K o n t e x t , allerdings mit unklarem Bezug zu alttestamentlicher T e r m i n o l o g i e ) : „ D e n n es sind dem Hohenpriester eigene Verrichtungen übertragen, den Priestern ist ihr eigener Platz verordnet und auch den Leviten obliegen eigene Dienstleistungen; der Laie ist an die Anordnungen für Laien g e b u n d e n . " Vgl. G . W i n g r e n , D e r Begriff „ L a i e " : V o m A m t des Laien in Kirche . . . , 3 - 1 6 . Eine umfassende sozialgeschichtliche Untersuchung fehlt bislang. Siehe K. B a r t h , K D 1/1,79; 1/2,899; I I I / 4 , 5 6 1 . 5 7 0 ; G . Ebeling, D o g m a t i k des christl. G l a u b e n s , T ü b i n g e n , III 1 9 7 9 , 3 5 3 ; H . - G . Fritzsche, L b . der D o g m a t i k , T. IV, Berlin 1 9 8 8 , 2 6 f.31 f; P. T i l l i c h , Systematische T h e o l . 111,221.231.241.431. J . M ö l l m a n n , K i r c h e in der Kraft des Geistes. Ein Beitr. zur messianischen Ekklesiologie, M ü n chen 1 9 7 5 , 3 2 7 f f ; P. Althaus, Die christliche Wahrheit. L b . der D o g m a t i k , Gütersloh ' 1 9 5 9 , 5 0 7 ff; K. Barth, K D I V / 2 , 6 9 5 - 8 2 5 ; H . - G . Fritzsche, a . a . O . 2 6 - 2 9 . Philipp J a k o b Spcner, D a s Geistliche Priesterthum Auf? G o t t l i c h e m Wort Kurtzlich beschrieben . . . , Frankfurt 1 6 7 7 : E . Beyrcuther (Hg.), Philipp J a k o b Spcner, Schriften, H i l d c s h c i m / N e w Y o r k , I 1979, 596. P. Meinhold (Hg.), J o h a n n Hinrich W i c h e r n , SW, B e r l i n / H a m b u r g 1 9 6 2 - 1 9 7 5 , 1,32; 111/2,125. Dieser Sprachgebrauch wiederum würde insbesondere im römisch-katholischen Bereich mit dem Begriff „ L a i e n t h e o l o g e " kollidieren, der einerseits durch die e r w o r b e n e Kompetenz, andererseits a b e r durch das Fehlen der Weihe gekennzeichnet ist. So zuletzt vorgeschlagen von B r . Forte, Laie sein. Beitr. zu einem ganzheitlichen Kirchenverständnis, M ü n c h e n u . a . 1987, 1 1 2 f , und P. Neuner, Der Laie u. das G o t t e s v o l k , Frankfurt a . M . 1988, 2 1 7 f . J . H . W i c h e r n , a . a . O . , Bd. III/2, 164ff. M . T h u r i a n , D i e Konfirmation. Einsegnung der Laien, Gütersloh 1961. E . K ä s e m a n n , E x e g e t i s c h e Versuche u. Besinnungen 1,117. S W 111/2,123. Vgl. C . P. Wagner, D i e G a b e n des Geistes für den G e m e i n d e a u f b a u . W i e Sie ihre G a b e n entdecken und einsetzen k ö n n e n . M i t einer Einf. v . C h r . A. S c h w a r z , Neukirchen-Vluyn 1987; L. Boff, Kirche. C h a r i s m a u. M a c h t . Stud. zu einer streitbaren Ekklesiologie, Düsseldorf 2 1 9 8 5 , 2 6 7 - 2 8 4 . Die dialektische Aussage, d a ß es einerseits neben dem Hohenpriester Christus in der Kirche keine Priester geben k ö n n e , d a ß aber andererseits alle G l a u b e n d e n Priester seien, k o n n t e als widersprüchlich erscheinen. Vgl. M . Schian, D a s „allgemeine P r i e s t e r t u m " und die kirchliche Praxis: ders., Stud. zur R e f o r m a t i o n s g e s c h . u. zur Prakt. T h e o l . Gustav Kawerau an seinem 7 0 . Geburtstage d a r g e b r a c h t , Leipzig 1917, 1 1 3 - 1 2 8 . SWIII/1,196. Vgl. P. Neuner, a . a . O . 1 9 1 - 2 0 3 (Lit.). Eine bereits 1971 formulierte Vorlage für das geplante P a n o r t h o d o x e Konzil wurde wieder zur ü c k g e n o m m e n ; vgl. A. J e n s e n , Die Z u k u n f t der O r t h o d o x i e . Konzilspläne und Kirchenstrukturen. M i t einem V o r w o r t von M e t r o p o l i t D a m a s k i n o s , Z ü r i c h u . a . 1986, 291 f . 1 7 7 - 1 7 9 . 3 2 3 . S o besonders das N a c h s y n o d a l e Apostolische Schreiben Christifideles Laici, N r . 1 5 - 1 7 . Apostolicam A c t u o s i t a t e m 4 , Christifideles Laici, N r . 4 4 . Vgl. z . B . J . H . W i e h e r n , a . a . O . , I I I / l , 1 2 2 f f . J o h n R . M o t t , Liberating the Lay Forces o f Christianity, N e w York 1932; dt.: Laienaufgebot der Christenheit, Stuttgart 1951. D . v. O p p e n , D e r sachliche M e n s c h . F r ö m m i g k e i t a m Ende des 2 0 . J h . , Stuttgart 1 9 6 8 . Vgl. A n m . 19, sowie W. Kasper, Berufung u. Sendung des Laien in K i r c h e u. Welt. G e s c h . u. syst. Perspektiven: S t Z 2 0 5 (1987) 5 7 9 - 5 9 3 .

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III. Praktisch-theologisch 1. Begriff und Problematik Aufgaben (Literatur S. 397) 1. Begriff

und

2. Neuere Entwicklungen und Tendenzen

3. Perspektiven und

Problematik

Der Begriff des Laien, der aus seiner Wortgeschichte (vgl. o. S. 3 7 8 f) zu erklären ist, ist gegenüber dem umgangssprachlichen Verständnis, das in dem Laien primär den Nichtfachmann sieht, abzugrenzen. Der Aspekt der Zugehörigkeit zum Volk Gottes ist zu akzentuieren. E r beinhaltet die Eingliederung in die Zeugnis- und Dienstgcmeinschaft des Glaubens. Diesem Grundverständnis zufolge sind alle Christen Laien, nämlich Glieder des Volkes Gottes. In der kirchlichen Praxis sind A m t , Aufgaben und R e c h t e der Laien vor allem im Rahmen der Lehre v o m -> Priestertum aller Gläubigen zu definieren. Sie gilt in der evangelischen Theologie als magna charta der Kirche, ist aber in der Geschichte der Kirche nur bedingt verwirklicht worden. N a c h evangelischem Verständnis begründet die Taufe die Zugehörigkeit zum allgemeinen Priestertum der Gläubigen. Die Lehre v o m Priestertum aller Gläubigen ist zu ergänzen durch eine Charismenlehre, die von den G a b e n und Begabungen handelt, die den einzelnen Christen für ihren Dienst in der Kirche gegeben sind. In der kirchlichen Tradition sind Laiendienst und A m t ( - » A m t / Ä m t e r / A m t s Verständnis) immer wieder gegeneinander abgegrenzt worden, s o daß der Begriff des Laien

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dann im Gegenüber zum Amt definiert wurde. Das (in der Regel hauptberufliche) Amt hat im Protestantismus primär einerseits die öffentliche Predigt und Verkündigung und andererseits die Austeilung der Sakramente zur Aufgabe. Das der Kirche eingestiftete Amt gliedert sich darüber hinaus in verschiedene Dienste (z.B. -»Mission, Unterweisung, -»•Seelsorge, -»Diakonie), die auch neben- oder .ehrenamtlich' versehen werden können. Denn das Christuszeugnis und die Christusnachfolge sind der Kirche insgesamt aufgegeben. Ebenso ist das priesterliche Amt der Fürbitte der ganzen Gemeinde und damit auch den Laien anvertraut. Die Definition der Rechte und Dienste der Laien einerseits und des Amtes der öffentlichen Verkündigung und der Sakramentsverwaltung andererseits ist deshalb unzulänglich, wenn sie nicht zumindest ansatzweise mit einer Beschreibung der Gestalt von Kirche und Gemeinde verbunden ist. Jeder hierarchische Gegensatz zwischen Amt und Laiendienst ist in einer solchen ekklesiologischen Grundlegung zu vermeiden. Die Pfarrerzentriertheit von nicht wenigen Gemeinden ist zudem eher sozialpsychologisch oder historisch als theologisch zu erklären. Die Partizipation der Laien an der Praxis des Glaubens vollzieht sich sodann in den verschiedenen Formen von Spiritualität und -»Frömmigkeit und damit in der Vielfalt gelebter -»Religion, aus der die Frage nach dem wesenhaft Christlichen erwächst. Die Pluriformität und die gestaltende Kraft der Laienfrömmigkeit sind für die Kirche unaufgebbar. Ohne diese würde sie verarmen. Die Gestaltungskräfte der Laienfrömmigkeit sind deshalb nicht nur an den traditionellen Modellen von Spiritualität und Frömmigkeit zu messen, sondern der Laienfrömmigkeit ist das Experiment von Freiheit und Neugestaltung zuzugestehen. In der vielfältigen Praxis der Frömmigkeit gewinnt der personale Gottes- und Weltbezug des Menschen Gestalt. Er wird manifest in religiösen und ethischen Einstellungen, aber auch in der Teilnahme an religiösen Ritualen, Handlungen und anderen Kommunikationsformen. - In bezug auf die Theologie besteht bei den Laien in der Regel der Wunsch nach einer katechismusfähigen Theologie, die der Vergewisserung über den christlichen Glauben dient. Ein herausgehobener Wirkungsbereich der Laien ist herkömmlich der Bereich von -»Beruf, -»Familie und -»Gesellschaft. Der Laie ist potentieller ,Fachmann' für die Erfahrungen mit dem christlichen Glauben im Alltag bzw. in der Diaspora der Welt (E. -»Lange). Er hilft zugleich, die notwendigen Anfragen an die Praxis des Glaubens zu formulieren. In einer immer differenzierter werdenden Welt ist sein Sachverstand bei der Überlegung gefragt, welche Konsequenzen sich aus dem christlichen Glauben für die praktische Ethik ergeben, speziell auch für die Benennung und Bewältigung der großen Gegenwartsprobleme, wie die Bewahrung der Schöpfung, die Förderung des Friedens und die schrittweise Lösung des weltweiten Hunger- und Armutsproblems. Grundsätzlich ist Laien auf den verschiedenen Ebenen kirchlichen Handelns Anteil an der Kirchenleitung zu geben. Auf der Ebene der Ortsgemeinde sollten tradierte pfarrerzentrierte Leitvorstellungen des Gemeindelebens abgebaut werden, sofern sie einem von der Gemeinde mitverantworteten Gemeindeaufbau entgegenstehen. Mitarbeit und Mitverantwortung der Gemeinde bzw. der Laien bedingen einander und geben beide den Laien die Möglichkeit, ihre Gaben und Kompetenzen in den Dienst der Gemeinde Jesu Christi zu stellen. Auf den verschiedenen Ebenen der kirchlichen Praxis sind deshalb pastorales Amt und Laiendienst kooperativ aufeinander zu beziehen. 2. Neuere Entwicklungen

und

Tendenzen

Das Laienthema als Frage nach der Struktur und Gestalt der Kirche ist in der Praktischen Theologie und in'der kirchlichen Praxis im 19. Jh. angesichts der beginnenden Traditionsbrüche-wiederholt thematisiert worden. C.I. -»Nitzsch hat mit seiner These, daß die Kirche bzw. die Gemeinde das ,actuose Subjekt' sei, die Parole für die Infragestellung des einseitig pfarrerzentrierten kirchlichen Handelns gegeben (Carl Immanuel Nitzsch, Prakt. Theol., Bonn, I 1847,111). Er thematisierte auf Grund der Lehre vom

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allgemeinen Priestertum der Gläubigen das Recht der Gemeinde und akzentuierte den Dienst der Christen (Laien) in Kirche und Gemeinde. Der Gedanke, daß nun auch die einzelnen Christen als mitverantwortliche Subjekte anzusehen sind, wurde in der kirchlichen Praxis freilich nicht genügend beachtet. Emil Sülze zog 1891 in seiner Schrift Die evangelische Gemeinde die Konsequenz aus dem protestantischen Gemeindegedanken, den auch F.D.E. -»Schleiermacher entfaltet hatte, und plädierte hinsichtlich des rapiden Anwachsens der Städte für die Aktivierung der Laienseelsorge, z.B. durch Presbyter und Hausvätervorstände. Martin Schian war bestrebt, die entstandene Gemeindebewegung zu festigen und auszubauen und sah ein enges Verhältnis zwischen der wachsenden kirchlichen Mitverantwortung der Laien auf der einen Seite und der Ablösung von der Pastorenkirche auf der anderen Seite. „Die Pastorenkirche muß zur Laienkirche werden. Unsere evangelischen Kirchen müssen, um den Stürmen der Zukunft trotzen zu können, Gemeindekirchen werden" (M. Schian, Kirchl. Jb. 1918, 3f). Eine stärkere Mitarbeit von Laien wurde auch in verschiedenen Volkskirchenkonzeptionen gefordert. Kontinuierlich setzte sich innerhalb des durch die liberale Theologie geprägten Protestantismus das ,für die gebildeten Glieder der Evangelischen Kirche' herausgegebene Gemeindeblatt Christliche Welt für eine Verstärkung des Laienelements in der kirchlichen Praxis ein. Laien sollten für ihr verantwortliches Handeln in der ,modernen Welt' theologische und ethische Zurüstung erfahren, weil die freie Präsenz des Christlichen in der Gesellschaft unverzichtbar ist. Zu den vielen Fragestellungen, die in der Christlichen Welt erörtert wurden, zählte auch das Problem der Laienpredigt. In der Zeit des Kirchenkampfcs (-»Nationalsozialismus und Kirchen) wurde in der III. These der Barmer Theologischen Erklärug zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche vom 31. Mai 1934 eine theologische Grundlage für das gemeinsame Wirken der evangelischen Christen gelegt. Die Gemeinde wurde als „Gemeinde der (Schwestern und) Brüder" definiert, „in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung . . . zu bezeugen, daß sie allein sein Eigentum ist." Die Bedingungen, unter denen diese normative These Gestalt annehmen soll und kann, wurden in der III. Barmer These freilich nicht entfaltet; deshalb wurde das Laienthema auch nicht eigens erörtert. Die These läuft jedoch auf eine diakonische und charismatische Grundstruktur der Gemeinde bzw. Kirche hinaus. Die Ordnung der Gemeinde ist eine Dienstordnung und keine Herrschaftsordnung. Die Ämter und Dienste in Kirche und Gemeinde sollen dem genannten Grundverständnis entsprechen. - Akzentuiert wurde in der Zeit der NS-Hcrrschaft und des Kirchenkampfes das Verständnis des Herrenmahls als Mahl der Gemeinde, wobei u.a. der Bekenntnischaraktcr und das Gemcinschaftsclement hervorgehoben wurden. In den Notzeiten des Zweiten Weltkriegs nahm auch die Zahl der Laienprediger(innen) zu. Dieser Laiendienst wurde als eine Aktualisierung des evangelischen Gemeindeverständnisses angesehen; er ist nach dem Zweiten Weltkrieg sehr schnell in kirchenamtlich vorgezcichnete Bahnen geleitet worden. In der Mehrzahl der deutschen Landeskirchen wurde das Lektorenamt aufgewertet, partiell mit Übergängen zu dem Amt des Prädikanten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Versuche, die Haushalterschaftsbewegung, die sich im nordamerikanischen Protestantismus entwickelt hat (stewardship), nach Deutschland zu übertragen. Impulse gab dafür die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Hannover im Jahr 1952. Die Haushalterschaftsbewegung hatte das Ziel, die Mitverantwortung der Laien in der Gemeinde auszuweiten und diese zu ermutigen, Aufgaben, den jeweiligen Gaben und Fähigkeiten entsprechend, zu übernehmen und Opfer an Zeit und auch an materiellen Gaben zu erbringen. Grundsätzlich diente die Haushalterschaftsarbeit dem Gemeindeaufbau; deshalb wurde ebenfalls der Aspekt der missionarischen Sendung der Gemeinde betont. E. -»Lange hat in den fünfziger und sechziger Jahren in Berlin die Konzeption einer

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,incarnierten Gemeindearbeit' entwickelt. Er forderte eine Erneuerung der Gemeinden und sah in einer lebendigen Gemeindeversammlung, im nachbarschaftlichen Dienst und der gegenseitigen Einübung im Glauben die Kennzeichen christlicher Haushalterschaft und mündiger Gemeinden. Zwischen Spiritualität und politisch-sozialem Dienst sah E. Lange eine enge Verbindung. Deshalb maß er dem Christsein im Alltag eine große Bedeutung zu und sah in den Laien die Sachkundigen der Diaspora, die in einer säkularisierten Welt ihren Glauben zu leben und zu bezeugen haben, aber auch ihre Welterfahrung in den kirchlichen Dialog einbringen sollen. Innerhalb der Kirchenreformdebatte, die in den sechziger Jahren geführt wurde, wurde ebenfalls erkannt, daß die Mitarbeit der Laien in der Kirche mit der Möglichkeit gesteigerter aktiver Mitverantwortung verbunden sein muß. Je mehr eine Kirche ,Laienkirche' ist, desto mehr gewinnt sie in der Regel an missionarischer Kraft. Das seit ca. 1980 wieder erstarkte Interesse an dem Gemeindeaufbau ist ebenfalls mit der Frage nach der Kompetenz und der Mitverantwortung von Christen (Laien) in Gemeinde, Kirche und Gesellschaft verbunden. Christian Möller hat die verschiedenen Ansätze seit dem 19. Jh. gesichtet und für eine Konzeption des Gemeindeaufbaus plädiert, welche hinsichtlich der Glaubenspraxis Freiheit und Verbindlichkeit in gleicher Weise berücksichtigt. - Neu akzentuiert wird in der Gegenwart die Gleichberechtigung der Frauen in der evangelischen Kirche. 3. Perspektiven

und

Aufgaben

Die Überlegung, ob die evangelische Kirche bewußt eine Kirche der Laien ist, führt zu der Frage nach der Struktur und Gestalt heutiger Praxis von Kirche und Gemeinde und zu dem Thema des Weltdicnstes der Christen. Der Weltdienst stellt eine Aktualisierung der Zeugnis- und Dienstgemeinschaft der Christen dar. Er ist die Domäne der Laien, obwohl die mit dem Amt der öffentlichen Verkündigung Beauftragten ebenfalls daran teilhaben. Allerdings ist bei dem Weltdienst der Christen der katechetische und missionarische Auftrag nicht selten vernachlässigt worden. Er gewinnt heute jedoch an Gewicht, da die Weitergabe des christlichen Glaubens an die nachfolgende Generation nicht mehr selbstverständlich ist. Die Tradierung des christlichen Glaubens ist darum in besonderer Weise auch zu einer Aufgabe der Laien geworden. Zu den Hauptaufgaben in der kirchlichen Praxis zählen heute u. a. die Herausbildung eines kooperativen Leitungsstils, die weitere Ausformung der kommunikativen Strukturen in den Gemeinden sowie die Förderung einer religiösen Praxis, bei der die Laien (Männer und Frauen) über ihren Frömmigkeitsstil und ihre Mitarbeit in Gemeinde und Kirche eigenverantwortlich entscheiden können. Das schließt nicht aus, sondern ein, daß in den Gemeinden Hilfen für die Gestaltung von Spiritualität und Frömmigkeit angeboten und spezielle Einladungen für die Mitarbeit in den Gemeinden ausgesprochen werden. Unverzichtbar ist die grundsätzliche Orientierung an dem Evangelium von Jesus Christus; aus ihm ergibt sich zugleich die Freiheit für die Gestaltung personaler Glaubenspraxis. - Christoph Bäumler hat für die notwendige diskursive Kultur und kommunikative Praxis in den Gemeinden vier Merkmale genannt: Offenheit, Herrschaftsfreiheit, Partizipation und Solidarität (Bäumler 44). In den Kirchengemeinden ist die Zahl der ,ehren'-, neben- und hauptamtlichen LaienMitarbeiter(innen) seit dem 19. Jh. angestiegen. Jeder zu starke Trend zur Professionalisierung ist allerdings kritisch zu hinterfragen. Die Fähigkeiten und Gaben der Gemeindeglieder sollten in der Gemeinde Jesu Christi nicht ungenutzt bleiben. Eine Professionalisierung von Tätigkeiten, welche die Mitarbeit der Laien nicht fördert oder verhindert, ist für die Kirche von ihrem Selbstverständnis her nicht akzeptabel. Die Professionalisierung muß deshalb jeweils von den speziellen sachlichen Notwendigkeiten her begründet werden. (Vgl. z.B. die Bereiche des Unterrichts, der Seelsorge und Beratung, der Diakonie und der Kirchenmusik.) - Einen Laiendienst tun in der Kirche u.a. die Lektor(inn)en, Kindergottesdiensthelfer(innen), Prädikant(inn)en, Jugendmitarbeiter(innen) sowie die

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Mitarbeiter(innen) in den Besuchsdiensten und Gottesdienstvorbereitungskreisen. An dem kirchenleitenden Handeln sind vor allem die (Laien-)Mitglieder der Kirchenvorstände (Presbyterien) und die Mitglieder der verschiedenen Synoden beteiligt. Aus ekklesiologischen Gründen ist das Miteinander aller Dienste und Begabungen sowie die Solidarität der Älteren und Jüngeren, der .Starken' und der ,Schwachen', der Gemeinde Jesu Christi aufgegeben. Die Gaben, die nicht den anderen dienen, sind Problemfälle und Beispiele eines selbstbezogenen und selbstgenügsamen Christentums. Konkret wird die Mitarbeit der Laien auch in der Mitverantwortung für die -»Predigt. Die Predigt braucht, nach Einschätzung von G. -»Krause, das Laienurteil. Die Predigt des Evangeliums soll zudem nicht nur gemeindeorientiert sein, sondern auch aus Gemeinden heraus entstehen. Laien können durch ihre Beteiligung an Predigtvor- und -nachgesprächen dazu beitragen, daß Klischeebildungen vermieden werden, der Mut zu unkonventioneller Sprache gestärkt und die biblische Uberlieferung im Zusammenhang mit bzw. in Konfrontation zu der heutigen Wclterfahrung ausgelegt wird. Der Laie ist nicht nur als Hörer der Predigt anzusehen. Für die Gestaltung der -»Seelsorge ist die ekklesiologische Perspektive unaufgebbar, denn Seelsorge ist ein wechselseitiger Dienst der Christen untereinander. Es gibt zahlreiche Gesprächssituationen, in denen - stellvertretend für die Gemeinde - ein ausgebildeter Seelsorger das Seelsorgegespräch mit dem jeweiligen Gemeindeglied führen sollte. Aber die professionelle Seelsorge sollte nicht die Praxis der Laienseelsorge einschränken, nämlich das alltägliche mutuum colloquitim der Christen untereinander. Ein weiteres Aufgabengebiet der Laien bildet die kirchliche Erwachsenenbildung. Auch hier ist der Weg von der betreuten zur mitarbeitenden Gemeinde weiter zu beschreiten. Der Sachverstand der Laien ist hier gefragt, speziell auch im weiterführenden Austausch über das Christsein in einer sich stetig verändernden Welt. - Viele Erwartungen und Möglichkeiten der Laien gibt es schließlich im Bereich der Gemeindediakonie. Für die -»Praktische Theologie stellt sich heute die Aufgabe, eine Praxistheorie zu entwerfen, in der die Dienste des pastoralen Amtes und die Dienste der Laien aufeinander bezogen sind. Zu den hier zu nennenden Konkretionen zählt auch die gemeinsame Gestaltung von Gottesdiensten. Die Impulse aus der Ökumene sind ebenfalls aufzunehmen, auch wenn sie wegen des anderen soziokulturcllen Kontextes oft nicht unverändert rezipiert werden können, wie die Debatte über die lateinamerikanischen Basisgemeinden zeigt. Gewandelt hat sich in diesem Jahrhundert auch das Verständnis der Laien in der katholischen Kirche, besonders im Zusammenhang mit dem Gedanken des Laienapostolats. Er wurde von dem -»Vatikanum II in dem Decretum de Apostolatu laicorum „Apostolicam actuositatem" mit Entschiedenheit vertreten. Literatur Vom Amt des Laien in Kirche u. Theol. FS Gerhard Krause. Hg. v. Henning Schröer/Gerhard Müller, 1982 ( T B T 39). - F r a n z Xaver Arnold, Kirche u. Laientum: T h Q 134 (1954) 2 6 3 - 2 8 9 . - Hans Asmussen, Das Priestertum aller Gläubigen, Stuttgart 1946. - Alfons Auer, Weltoffener Christ. Grundsätzliches u. Geschichtliches zur Laienfrömmigkeit, Düsseldorf 1960 4 1966 (Lit.). - Hans Urs v. Balthasar, Gibt es Laien in der Kirche?: IKZ 8 (1979) 9 7 - 1 0 5 . - Ders., Im Grenzbereich des Laientums: ebd. 1 8 7 - 1 8 9 . - Johannes Baptist Bauer, Die Wortgesch. v. „Laicus": Z K T h 81 (1959) 2 2 4 - 2 2 8 . - Die Basisgemeinden. Ein Schritt auf dem Weg zur Kirche des Konzils. Hg. v. Elmar Klinger/Rolf Zerfaß, Würzburg 1984. - Otto Baumgarten, Laienpredigt: ChW 2 (1889) 4 1 8 - 4 2 1 . Christoph Bäumler, Kommunikative Gemeindepraxis. Eine Unters, ihrer Bedingungen u. Möglichkeiten, München 1984. - Werner Becher, Ausbildung v. Laien für die Seelsorge. Ein Ber. aus dem Institute of Religion in Houston, USA: WzM 31 (1979) 3 4 1 - 3 5 2 . - Klaus v. Bismarck, Die Stellung des Laien in den Kirchen der Ökumene: Ö R 17 (1968) 1 3 9 - 1 4 8 . - Leonardo Boff, Die Neuentdeckung der Kirche. Basisgemeinden in Lateinamerika, Mainz 1980. - Rudolf Bohren, Die Laienfrage als Frage nach der Predigt: EvTh 26 (1966) 75 - 9 5 . - Walter Brandmüller, Laien auf der Kanzel. Ein Gegenwartsproblem im Licht der KG: ThGl 63 (1973) 3 2 1 - 3 4 2 . - Heinz Brunotte, Das Amt der Verkündigung u. das Priestertum aller Gläubigen, Berlin 1962 (Luthertum 26). - Elfriede Büchsei,

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399

Laínez

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Friedrich Wintzer Laienbrüder -»Benediktiner, -»Mönchtum Laienkelch -»Abendmahl Laienpredigt -»Homiletik, -»Lektor Laienquelle -» Literaturkritik, -»Pentateuch

Laínez, Jakob / Diego

(1512-1565)

1. Leben 2. Teilnahme am Konzil von Trient Quellen/Bibliographie/Biographic/Literatur S. 403)

3. Werk

4. Bedeutung

(Anmerkungen/

1. Leben Diego Laínez wurde 1512 zu Almazán in Kastilien geboren. Zu seinen Vorfahren zählten auch Juden. Im seinerzeitigen Spanien, in dem die Vorstellung von einer „Reinheit" des Blutes" großes Gewicht besaß, war das ein Makel, und im Orden sollten sich daraus später Schwierigkeiten ergeben (MHSJ 55,831-855). Seine Grundbildung erhielt er zunächst in Almazán und dann in Soria und Siguenza. Von 1528 bis 1532 studierte er die Artes in Alcalá. Am 26. Oktober 1532 wurde er hier zum Magister promoviert. Unter dem Eindruck der in Alcalá immer noch lebendigen Erinnerung an -»Ignatius von Loyola faßte er gemeinsam mit seinem Freund Alfonso Salmerón (1515-1585) den Entschluß, Ignatius selbst in Paris aufzusuchen und dort Theologie zu studieren. Seit 1533 teilte er so die Geschicke des ignatianischen Freundeskreises, der später die Gesellschaft Jesu (-»Jesuiten) bilden sollte. Zusammen mit Ignatius empfing er am 24. Juni 1537 in Venedig die Priesterweihe. Nach der Niederlassung der Gefährten in Rom 1537 übertrug ihm Papst Paul III. einen Lehrauftrag für dogmatische Theologie an der Sapienza-Universität. Er kam dem nach mit einer Erläuterung des Canon Missae von Gabriel -»Biel. Von 1539 bis zu seiner Wahl zum Ordensgcneral nahm er in Italien eine Vielzahl unterschiedlicher geistlicher Aufgaben wahr. 1552/53 war er Provinzial der italienischen Ordensprovinz. Im Februar 1555 brach er zusammen mit Kardinal - » M o r o n e zum Augsburger Reichstag auf, doch fand diese Mission infolge des Todes von Papst Julius III. (23. März 1555) ein vorzeitiges Ende. Im Dezember 1555 wollte Papst Paul IV. (1555—1559) Laínez zum großen Unbehagen von Ignatius zum Kardinal ernennen. Nach Ignatius' Tod wählten ihn die in Rom gegenwärtigen Professen am 4. August 1556 zum Generalvikar, und am 2. Juli 1558 wurde er von der ersten Generalkongregation zum Generaloberen gewählt. Im Konklave von 1559 zur Wahl des Nachfolgers von Paul IV. entfiel ein Dutzend Stimmen auf ihn. Seine Amtsführung als Generaloberer war belastet durch längere Abwesenheit infolge seiner Teilnahme an dem Religionsgespräch von Poissy und an der dritten Tagungsperiode des Konzils von Trient. Auf ausdrückliches Verlangen von Papst -»Pius IV. nahm Laínez im September/ Oktober 1561 im Gefolge des päpstlichen Legaten, des Kardinals Ippolito d'Este, an dem Religionsgespräch teil, das Katharina von Medici in Poissy durchführen ließ. Am 26. September 1561 griff er in maßgeblicher Weise in die Diskussion ein. Er wies das Auftreten der Reformierten als bloße Nachahmung der Katholiken zurück (MHSJ 55,759-768). Grundsätzlich machte er geltend, daß die Beschlußfassung in Glaubenssachen nicht bei den weltlichen Amtsträgern, sondern bei den Priestern, näherhin beim

400

Laínez

Papst und dem Konzil liege. D a h e r forderte er Katharina auf, das Konzil von Trient zu beschicken. In Entgegnung auf die Darlegungen von Pietro —• Vermigli und T h e o d o r -•Beza ging er dann ausführlich auf die Fragen des Amtes und der Realpräsenz Christi im Abendmahl als Erinnerung und Vergegenwärtigung seines Leidens ein. Dieser Beitrag führte zum Abbruch des ohnehin bereits zu scheitern drohenden Gesprächs. Bis zum 11. Februar 1562 wurde es in einem begrenzten Kreis in Saint-Germain fortgesetzt. Neben einer pastoralen Tätigkeit n a h m Laínez auch an dieser Fortsetzung teil und verfertigte d a f ü r eine Denkschrift gegen die Eröffnung von Gebetshäusern für Protestanten (MHSJ 55,775-785) und eine eingehende Darlegung zur Verehrung von Heiligenbildern ( C T 13,583 f). Erschöpft von der Teilnahme an der dritten Tagungsperiode des Konzils von Trient, starb er am 19. Januar 1565 in R o m . 2. Teilnahme

am Konzil von

Trient

Laínez ist einer der wenigen, die an allen drei Tagungsperioden des -»Tridentinum teilgenommen haben. Z u s a m m e n mit Alfonso Salmerón w a r er von den Päpsten als päpstlicher Theologe entsandt und w a r d e m g e m ä ß in der Kongregation der Theologen teilnahmeberechtigt. Nach einer Auseinandersetzung um die Rangfolge der verschiedenen Ordensgenerale n a h m er während der dritten Periode als generalis lesuitarum mit beratender Stimme auch an den allgemeinen Kongregationen teil (CT 8,773,8-13). Sein Wirken in der Versammlung der Theologen und seine Beiträge zu vielen Fragebcreichen zeigen, d a ß er eine beträchtliche Autorität und Sachkunde einzubringen wußte. Das wurde auch - nicht immer ohne Mißgunst - von den Konzilsteilnehmern anerkannt. Z u d e m übte er einen großen Einfluß durch seine persönlichen Beziehungen und seine Trienter Predigttätigkeit aus. Während der ersten Tagungsperiode (1545-1547) erregte er vor allem durch seinen Beitrag zur Frage der doppelten Gerechtigkeit am 26. O k t o b e r 1546 Aufmerksamkeit. Seine gründliche und umfassende Widerlegung dieser auf dem Konzil von einzelnen Prälaten verteidigten Lehre ist von einer aristotelisch-scholastischcn Auffassung getragen. Sie hat maßgeblich zur Verwerfung der bei vielen schon wegen ihrer Neuheit und der Aushöhlung der überkommenen Verdienstlchre Argwohn weckenden Lehre von der doppelten Gerechtigkeit beigetragen. Mira stupemus, nova cavemus, falsa convicimus, lautet das abschließende Augustinzitat (CT 5 , 6 1 2 - 6 2 9 ; Grisar II 1 5 3 - 1 9 2 [über Befremdendes staunen wir, vor Neuem sind wir auf der H u t , Falsches widerlegen wir]). Weiterhin leistete er in Trient und anschließend in Bologna (1547/48) Beiträge zur allgemeinen Sakramentenlehre, zum Abendmahl ( C T 6 / 3 , 3 - 5 9 ) , zur Buße ( C T 6/3, 6 1 - 1 3 8 ) , zur letzten Ölung (CT 6/3,139-150) und zur Ehe als Sakrament ( C T 6/3, 191-238). Auch während der zweiten Tagungsperiode (1551-1552) ist Laínez verschiedentlich als eine der „theologischen Koryphäen" (Jedin 111,345) in der theologischen Kommission bei der Erarbeitung und Diskussion der Dekrete und Kanoncs in Erscheinung getreten, so zu den Fragen des Abendmahls (CT 7 / 1 , 1 1 5 - 1 1 8 ) , der Buße und letzten Ölung (CT 7/1,241-244) und des M e ß o p f e r s ( C T 7 / 1 , 3 7 9 - 3 8 3 ) . Z u r dritten Tagungsperiode (1562-1563) w u r d e Laínez von Pius IV. aus Frankreich zurückgerufen. Als General des jungen Jesuitenordens n a h m er jetzt auch an den Generalkongregationen teil. Am 27. August 1562 behandelte er das M e ß o p f e r ( C T 8,786-788). Am 6. September 1562 gibt er ein ausführliches Votum über das Zugeständnis des Laienkelches ab. Er sieht zwar keine dogmatischen Bedenken gegen ein solches Zugeständnis, widersetzt sich ihm aber entschieden aus pastoralen Erwägungen; es ist ohne Nutzen, da es sein Ziel, die Wiederherstellung der Einheit, doch nicht erreicht und nur größere Verwirrung stiftet ( C T 8 , 8 7 9 - 8 9 8 ; Grisar 11,24-69). In der Diskussion über das Weihesakrament befaßte er sich am 20. O k t o b e r 1562 mit der Frage, o b die Unterscheidung zwischen Bischöfen und Presbytern göttlichen Rechtes sei: das Bischofsamt sei im Blick auf die Weihe {quoad ordinem) göttlichen Rechtes, nicht aber hinsichtlich der Jurisdiktion

Lainez

401

(quoad jurisdictionem) (CT 9 , 9 4 - 1 0 1 ; Grisar 1,371-382). Auf diese Unterscheidung kam er am 9. Dezember 1562 nochmals zurück (CT 9 , 2 2 4 - 2 2 5 ; Grisar 1,382-385). Während dieser Monate entstand auch seine wichtige Disputatio de origine jurisdictionis episcoporum et de Romani pontificis primatu (Grisar 1,1-370). Am 16. Juni 1563 gab er sein Urteil über die Reformdekrete im Zusammenhang mit dem Weihesakrament ab (CT 9, 5 8 7 - 5 8 9 ; Grisar 11,214-220). Das Dekret Tametsi über die heimlichen Ehen wies er zunächst in einem schriftlichen Votum und dann in einem Diskussionsbeitrag vom 23. Oktober 1563 zurück (CT 9,740-741; Bressan, Oberhofer). Bei der Verhandlung der Kanones zur Kirchenreform sprach er freimütig von den Mißbräuchen, trat aber sehr entschieden für die päpstliche Monarchie ein (CT 9 , 8 7 7 - 8 7 9 ; Grisar 11,221-224). Zum Schluß griff er am 27. November 1563 noch in die Verhandlung der Reform des Klosterwesens ein (CT 9,1066). 3. Werk Lainez ist nicht durch veröffentlichte Schriften wirksam geworden. Zwar kamen einzelne Ausarbeitungen als Manuskript unter den Jesuiten in Umlauf, doch veröffentlicht hat er zeit seines Lebens nichts. Seine umfangreiche Tätigkeit machte es ihm unmöglich, begonnene Arbeiten auch zu Ende zu führen. Es gibt keine in jeder Hinsicht zuverlässige Bibliographie dessen, was später herausgegeben oder in Archiven erhalten ist. H. Grisar hat in den Disputationes Tridentinae zusammen mit Konzilseingaben einzelne Abhandlungen herausgebracht. Diese Ausgabe ist jedoch kritisch zu benutzen, da sie auch einiges enthält, das Lainez fälschlich zugeschrieben wird (Gilmont 142). Der Briefwechsel ist in den MHSJ veröffentlicht (Zubillaga 3 7 - 5 2 ) . Das in den Zusammenhang des Trienter Konzils gehörige Material findet sich in CT. Eine Ausgabe der Schriften von Lainez wird dadurch sehr erschwert, daß seine Handschrift nicht nur für seine Zeitgenossen, sondern auch für moderne Spezialisten äußerst schwer zu lesen ist. Die meisten Ausgaben beruhen daher auf zeitgenössischen Abschriften (Gilmont 141). Neben dem Briefwechsel und den Diskussionsbeiträgen und Abhandlungen im Zusammenhang des Religionsgesprächs von Poissy (MHSJ 55,748-807) und des Konzils von Trient liegt eine Reihe von Schriften zur Geschichte und Leitung des Jesuitenordens vor, so ein Zeugnis über Ignatius von Loyola für Juan de Polanco (MHSJ 25,70-145) und eine Reihe von Mahnschriften über das Examen Constitutionum, in denen er 1559 als Generaloberer für die römischen Jesuiten die Wesensmerkmale des Ordens beschreibt (de Dalmascs). In den von Grisar herausgebrachten Disputationes Tridentinae findet sich auch eine Reihe ethischer und asketischer Abhandlungen. Sie gehen zumeist auf Predigten und geistliche Ansprachen zurück und lassen eindrücklich die Ausgreifsweite des pastoralen Bemühens von Lainez erkennen. Mit Fragen der Wirtschaftsethik befaßt sich die Disputatio de usura et variis negotiis mercatorum (Grisar II, 2 2 7 - 3 2 1 ; Gallego). Sie ist Anfang 1554 in Genua entstanden und behandelt in sehr traditionsverhafteter und durch die tatsächliche Entwicklung überholter Art die Praxis der Handels- und Wechselgeschäfte, insbesondere das Ziehen von Wechseln auf die Messe von Besançon. Immerhin kommt in der einigermaßen rigoristischen Einstellung eine Besorgnis um maßvolles Verhalten und eine gerechte Verteilung des Reichtums zur Geltung. De fueo et ornatu mulierum (Grisar 11,464-500) ist ein Zeitdokument, in dem Lainez recht streng über die Verwendung von Kosmetika und Schmuck bei den Frauen urteilt. Sein Eintreten für Bescheidenheit stützt sich auf eine Ermunterung zur Nachfolge Christi. Andere Arbeiten behandeln die Kirchenreform, die Simonie, die Abgaben, die kirchlichen Benefizien und die Ausübung des Bischofsamtes. Außerdem finden sich noch Richtlinien für die christliche Erziehung von Schülern, zur rechten Auslegung der Heiligen Schrift und für die Predigt. Archivalisch liegen noch unveröffentlichte geistliche Ansprachen und Predigten über Leiden und Ungemach, über das Gebet (Auszug bei Grisar

402

Laínez

11,543—560) und eine kurze Abhandlung über die Selbsterkenntnis (Scaduto 11,469-505) vor. Eine besondere Stellung nimmt die Vorarbeit für eine Summa theologiae scholasticae ein. 1551 hatte der Römische König -»Ferdinand I. den Wunsch geäußert, Jesuiten möchten für die theologischen Fakultäten ein Compendium doctrinae christianae erstellen, in dem auch die modernen Irrtümer widerlegt werden sollten. Die Aufgabe wurde zunächst Claude Le Jay übertragen, fiel aber bald Laínez zu, der unter seiner vielfältigen anderen Tätigkeit eine derartige Summe der scholastischen Theologie in Angriff nahm. Nach einem Brief an Ignatius war sie auf sechs Teile veranschlagt (MHSJ 44,223). Ausgearbeitet, aber nicht veröffentlicht wurden indessen nur die drei Bücher über die Dreieinigkeit. 1 Die Handschriften sind verloren. Die Zensoren hielten das gelehrte Werk für viel zu ausführlich und drangen auf eine auch als Handbuch verwendbare Zusammenfassung. Dazu ist Laínez jedoch infolge seiner vielfachen Inanspruchnahme nicht gekommen. 4.

Bedeutung

Laínez und sein Freund Alfonso Salmerón waren die hervorstechendsten Theologen im Kreis der ersten Gefährten um Ignatius von Loyola. Die Arbeiten von Laínez sind eingebunden in die aktuellen Aufgabenstellungen der Ordensleitung, theologischer Konsultation und konziliarer Diskussion. Sie belegen nicht nur seine theologische Sachkunde, sondern auch eine große pastorale Bemühtheit und reiche Erfahrung. Praktische Weisheit gibt ihm ein Augenmaß für das Mögliche und Wesentliche. Alles das entspricht in vollem Umfang der pastoralen Ausrichtung, die den jungen Orden und seine Arbeit kennzeichnete. Mögen seine weitgespannte Wirksamkeit und die päpstlichen Beauftragungen für Poissy und Trient ihn auch daran gehindert haben, seine ganze Kraft der Ordcnslcitung zu widmen, so hat doch die Hochschätzung, die ihm seine Sachkundigkeit und Einsatzfreude hat zuwachsen lassen, dazu beigetragen, daß der Orden 1562 in Frankreich seine gesetzliche Registrierung und auf dem Tridentinum eine konziliare Anerkennung gewinnen konnte (CT 9,1083,22-24). Mit seinem Namen verbindet sich auch der Anfang der Kollegicnarbeit(MHSJ 25,220 §138; -»Jesuiten 2.2.1). Als Mitglied einer Gesellschaft reformierter Geistlicher (preti riformati) war Laínez zweifellos Vorkämpfer einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. Davon zeugen seine Diskussionsbeiträge in Poissy und Trient. Man hat bei ihm jedoch auch einen recht auffälligen und unvermittelten Meinungsumschwung festgestellt (Rupert). In Poissy tritt er für eine Reform von Papsttum und Kurie durch das Konzil ein 2 . In Trient erklärt er dagegen, daß diese Reform des Hauptes weder de iure noch de facto auf einem allgemeinen Konzil geschehen könne. In einer kleinen Abhandlung An pontifex reformandus sit per concilium macht er geltend, daß die Reform nicht auf Kosten der päpstlichen Autorität erfolgen dürfe (Grisar II, 7 4 - 8 8 ) . Auf jeden Fall ist er überzeugt, daß die kirchlichen Mißstände der Grund für die protestantische Bewegung seien. Beständig tritt er für eine allgemeine und kirchliche Reform ein, die die Einheit der Kirche und den Gehorsam dem Papst gegenüber sichern müsse. In Poissy ist er der Auffassung, daß ein Ubereinkommen zwischen Papst und Fürsten diese Reform dem Konzil übertragen könne. Durch seine Erfahrungen, die Dringlichkeit der Reform und die Drohung von -»Episkopalismus, -•Konziliarismus und nationalkirchlicher Bestrebungen gelehrt, verficht er in Trient nachdrücklich eine Reform von Papsttum und Kurie durch den Papst selbst. Allerdings läßt der Briefwechsel erkennen, daß er den tatsächlichen Reformwillen in Rom skeptisch einschätzt. Im Innersten aber ist er überzeugt, daß die päpstliche Autorität die sicherste Gewähr für eine die Universalität und Einheit gleichermaßen verbürgende kirchliche Reform bietet. Laínez' theologische Beiträge zeugen von einer guten Kenntnis der Scholastik, großer Bildung und Vertrautheit mit der kirchlichen Überlieferung. In Lehrfragen verficht er die katholische Rechtgläubigkeit mit strikter Unbedingtheit ohne Gesprächsbereitschaft gegenüber Verfechtern neuer Auffassungen, seien es nun Glaubensgenossen oder Protestan-

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ten. Das bestimmt selbstverständlich auch seine ausgesprochen gegenreformatorische H a l t u n g . Archivalisch sind noch Acturi contra Lutherana dogmata erhalten, Abrisse wöchentlicher Unterweisungen, die er 1 5 4 3 in Padua gehalten hat. D a s schließt indessen nicht aus, d a ß er noch 1562 die Hoffnung auf eine Wiederherstellung der Einheit durch das Konzil hegt: „ S o ist zu hoffen, d a ß der Heilige Geist ebenso, wie er auf anderen Konzilien g r o ß e Unterschiede im Glauben in Einklang gebracht hat, auch die derzeitigen Unterschiede in Einklang bringen wird und d a ß seine göttliche M a j e s t ä t aus dem Übel der Trennung das Gut der Einheit und der R e f o r m seiner Kirche bewirken w i r d " ( M H S J 55,787). Anmerkungen Das von Grisar in seiner Liste der Schriften von Lainez unter Nr. 34 aufgeführte Werk De Trinitate libri HI ist wahrscheinlich mit der unter Nr. 37 als Summa theologiae scholasticae bezeichneten Schrift (Grisar 1,29*; Dudon 370) identisch. 2 Die wichtigsten Reformschriften aus der Zeit von Poissy sind: Remedia instantium Ecclesiae malorum (MHSJ 55,785-788), Remedia Galliae malis adhibenda principi Condaeo ... proposito (MHSJ 55,788-790), Remedia ecclesiae in Callia episcopis... oblata (MHSJ 5 5 , 7 9 0 - 7 9 2 ) , Rationes cultus divini in Gallia reficiendi (MHSJ 5 5 , 7 9 2 - 7 9 4 ) , Praxis Reformations regni Galliae (MHSJ 55,794-800). Ein sechster Text, De Universae ecclesiae reformatione (MHSJ 5 5 , 8 0 0 - 8 0 5 ) ist wahrscheinlich nicht von Lainez, sondern bietet eher Polancos Anschauung (Scaduto: AHSJ 23 [1954] 161). 1

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Laizismus

und

2. Geschichtliche Beispiele

3. Möglichkeiten wirkli-

Laizität

Die Begriffe Laizismus und L a i z i t ä t , deren griechische Wurzel Aaög, Volk ist ( - » L a i e ) , verweisen a u f die umfassendere soziokulturelle E r s c h e i n u n g der —»Säkularisierung, des R ü c k z u g s der Religion - und das heißt im vorliegenden Z u s a m m e n h a n g : des C h r i s t e n tums - aus dem öffentlichen in den privaten L e b e n s b e r e i c h . S ä k u l a r i s a t i o n findet e t w a statt, w o die W i s s e n s c h a f t zur U n a b h ä n g i g k e i t gegenüber kirchlicher und theologischer Kontrolle findet o d e r sich ein vom k a n o n i s c h e n R e c h t (—»Recht, Kanonisches) unterschiedenes, ihm gelegentlich a u c h entgegenstehendes bürgerliches - » R e c h t bildet. G a n z allgemein kann eine G e s e l l s c h a f t als säkularisiert gelten, wenn sich ihre sittlichen Vorstellungen, ihre sozialen Verhaltensweisen und ihre Leitideen o h n e R ü c k s i c h t a u f eine kirchliche Regulierung a u s f o r m e n . Laizität ist lediglich ein T e i l a s p e k t der Säkularisierung. Es ist überdies oft recht schwierig, diesen Teilaspekt genauer zu b e s t i m m e n ; denn im englischen, deutschen und skandinavischen S p r a c h b e r e i c h hat der die Laizität einschließende Begriff Säkularisierung sich durchgesetzt, w ä h r e n d in den r o m a n i s c h e n L ä n dern der die Säkularisierung in sich schließende Begriff Laizität G e l t u n g erlangt h a t . D a h e r rührt es, d a ß S o z i o l o g e n , H i s t o r i k e r oder J u r i s t e n beide Begriffe unterschiedslos verwenden. Ihre Unterscheidung ist insofern e t w a s willkürlich. Es m a g j e d o c h als a n g e b r a c h t erscheinen, den Begriff der Laizität dem im engeren Sinn politischen Aspekt der S ä k u l a r i sierung v o r z u b e h a l t e n : Ein Staat ist laizistisch, wenn er der K i r c h e keinerlei K o n t r o l l e seines H a n d e l n s zuerkennt und sich nicht gebunden sieht, in diesem H a n d e l n dem von der Kirche im politischen Bereich angemeldeten G e l t u n g s a n s p r u c h R e c h n u n g zu tragen. Insbesondere zwei staatliche Bereiche sind seit dem 19. J h . E r p r o b u n g s f e l d e r staatlicher Laizität gewesen, das R e c h t s w e s e n - G e s e t z g e b u n g und G e r i c h t s b a r k e i t - und die Schule. D i e Laisierung des R e c h t s w e s e n s hat dabei besonders leicht zum Z u g e k o m m e n k ö n n e n ; denn seit J a h r h u n d e r t e n s c h o n hatten die weltlichen H e r r s c h e r , Fürsten wie k ö r p e r schaftliche H e r r s c h a f t s t r ä g e r , auch wenn sie sich g e h o r s a m e S ö h n e der K i r c h e n a n n t e n , in einer u m f a n g r e i c h e n gesetzgeberischen T ä t i g k e i t R e c h t s o r d n u n g e n geschaffen, die sich von dem R e c h t unterschieden, für das die K i r c h e seit d e m 13. J h . universale G e l t u n g behauptete. In den bürgerlichen R e c h t s o r d n u n g e n des 19. J h . sind n u r n o c h R e s t e l e m e n t e des k a n o n i s c h e n R e c h t s zur Bestätigung der -»Privilegien der jeweils vorherrschenden Religion sowie einzelne S y m b o l e - das Kruzifix in den G e r i c h t s s ä l e n k a t h o l i s c h e r S t a a t e n oder die Eidesleistung a u f die Bibel in protestantischen L ä n d e r n — verblieben. Viel h ä r t e r w a r dagegen der K a m p f u m die Laisierung der - » S c h u l e , denn sie gilt d e m S t a a t w i e den Kirchen als erstrangiger W i r k u n g s b e r e i c h . Ihre Laisierung hat zahlreiche Konflikte hera u f b e s c h w o r e n , zumal in L ä n d e r n , deren r e p u b l i k a n i s c h e und d e m o k r a t i s c h e S t a a t s o r d nung der Vatikan im 19. J h . nicht a n e r k a n n t e . D a b e i ging es für die K i r c h e d a r u m , ihre Kinder v o r e i n e m Unterricht zu b e w a h r e n , der G o t t und der christlichen Lehre keinen Raum bot.

Laizismus

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Der Laizismus unterscheidet sich von der Laizität insofern, als er ein ideologisches Prinzip ist. Die Laizität stellt für ihn nicht lediglich eine politisch-rechtliche Ordnung dar, die die Gewissensfreiheit wahrt und keine Rechtsunterschiede aufgrund der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession macht. Sie ist für ihn vielmehr ein Leitbild, das unter der ausgesprochenen Zielvorstellung einer Befreiung der Menschen von religiöser Entfremdung anzustreben ist. Der Laizismus ist eine Waffe, die gegen die Kirche schlechthin gerichtet ist, insbesondere aber gegen die katholische Kirche, deren Einfluß in stärkerem Maß als entfremdend gilt als der der anderen Kirchen. Der Laizismus kann sich auf die -» Aufklärung des 18. Jh. berufen - écraser l'infâme [die Abscheuliche zerschmettern] lautet ein bekanntes Wort -»Voltaires im Blick auf die römische Kirche - , insbesondere auf die -»Französische Revolution, die allerdings vergeblich versucht hat, die überkommene Religion durch die Verehrung des Höchsten Wesens zu ersetzen, nachdrücklich aber noch auf Ludwig -»Feuerbach und Karl Marx (-•Marx/Marxismus). Es ist auch daran zu erinnern, daß für Marx die religiöse Entfremdung ein Ergebnis (ein Uberbau) der sozio-ökonomischen ist und mit deren Beseitigung durch die proletarische Revolution verschwinden soll, so daß die Aufnahme eines Kampfes gegen die Religion gänzlich nutzlos ist. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh. bestand zudem auch eine starke geistige Strömung, die ihren Ursprung im -» Positivismus von Auguste Comte und danach auch in der Soziologie von Emile Dürkheim hatte. Sie sagte den unausweichlichen Verfall der großen Religionen der Vergangenheit und ihre Ersetzung durch eine Menschheitsreligion (Comte) oder eine Religion gesellschaftlicher Solidarität (Dürkheim) voraus. Dürkheim nahm an, daß in Europa der Katholizismus im Verlauf eines halben Jahrhunderts verschwunden sein werde. Der Laizismus ist jedoch nicht allein von solchen philosophischen Vorstellungen gespeist worden. Die neu in Erscheinung tretende zahlenmäßig starke, um die industriellen Zentren im Umkreis der Großstädte konzentrierte, aus den Beziehungen ihrer ländlichen Heimat gelöste Arbeiterschaft besaß keine kirchlichen Bindungen mehr. Sie war der Meinung, daß die Geistlichkeit, zumal die höhere, die herrschende Klasse stütze und überhaupt die Kirche stets gemeinsame Sache mit der bestehenden Macht im politischen wie wirtschaftlichen Raum mache. Dieses durchaus nicht ganz unbegründete Gcschichtsverständnis rief eine antiklerikale Strömung wach. Sie traf sich paradoxerweise mit dem Antiklerikalismus eines großen Teils des Bürgertums. Naturgemäß war der Antiklerikalismus als Speerspitze des Laizismus in den überwiegend katholischen Ländern ausgeprägter als in denen mit protestantischer Mehrheit. Die Laizität k o n n t e auch andere Wurzeln haben als den militanten religionsfeindlichen Laizismus. Sie k o n n t e in einer von den R e f o r m a t o r e n des 16. J h . , insbesondere von - » L u t h e r entfalteten Vorstellung, der - » Z w e i r e i c h e l e h r e , wurzeln. Ihr ging es darum, der weltlichen O b r i g k e i t gegenüber die völlige geistliche Freiheit der Kirche in Verkündigung und Lehre sicherzustellen. Z w a r galten für sie die Kirche wie der Fürst oder der R a t jeweils als T r ä g e r eines Amtes im Dienste G o t t e s , aber sie waren es in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen M i t t e l n . D e n R e f o r m a t o r e n erschien es wesentlich, d a ß zwischen beiden Ämtern ein echter Unterschied bestand. G e w i ß hielten sie es für in der O r d n u n g , d a ß der Fürst oder R a t auch weltlicher H e r r der Kirche w a r , eine Art von B i s c h o f für die äußeren Angelegenheiten mit Eingriffsrechten in die kirchliche O r d n u n g und die Verwaltung des Kirchengutes und auch die Besetzung geistlicher Stellen. Keinesfalls aber b e s a ß er eine Lehrvollmacht. In den von der R e f o r m a t i o n betroffenen Ländern wurde die Lehre von den beiden R e g i m e n ten in die Praxis umgesetzt, in Deutschland konsequent bis zum Ende des Landesherrlichen - » K i r chenregiments (1918/19). Seitdem haben die Kirchen ihre äußere O r d n u n g selbst zu regeln. Es trifft jedoch zu, d a ß in den von der R e f o r m a t i o n betroffenen und daher der Lehre von den beiden Regimenten verpflichteten Ländern die Laisierung des Staates im allgemeinen leichter vonstatten ging als in solchen Ländern, in denen die Verbindung von T h r o n und Altar stärkeres G e w i c h t hatte.

2. Geschichtliche

Beispiele

Als Beispiel lassen sich die -»Vereinigten Staaten von Amerika anführen. Hier gilt seit der Unabhängigkeit und der Inkraftsetzung der Verfassung von 1787 der Grundsatz der

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Laizismus

Trennung von Kirche und Staat. Faktisch bedeutet das, daß der Staat die Religionsgemeinschaften nicht finanziell unterstützt. Dabei besteht keinerlei Feindseligkeit zwischen den Kirchengemeinschaften und dem Staat, wenn auch katholische Einwanderer längere Zeit mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet wurden. Bekanntlich hat es bis zur Wahl von John F. Kennedy (1961-1963) gedauert, ehe ein Katholik das höchste Staatsamt übernehmen konnte, und ohne den Zweiten Weltkrieg wäre es sicherlich nicht zur Einrichtung diplomatischer Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Vatikan gekommen. Wie aber Will Herberg (Protestant, Catholic, Jew, Garden City, N.Y. 1955) gezeigt hat, gilt es nicht nur als normal, daß jeder amerikanische Bürger einer Religionsgemeinschaft zugehört; es hat sich vielmehr darüber hinaus in den Vereinigten Staaten aus dem Zusammenleben der unterschiedlichen monotheistischen Religionen auch eine Art von Gemeinreligion entwickelt mit der Bejahung der Existenz eines einzigen Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und der menschlichen Freiheit als grundlegender Überzeugung. Man kann sie gewiß nicht als eine Art öffentlich verbindlicher Religion bezeichnen; doch sie verdeutlicht, daß Laizität sich hier außerhalb jedweden aggressiven und antireligiösen Laizismus verwirklicht hat. Gelegentlich stellen sich allerdings auch kleinere Schwierigkeiten ein wie etwa in der Frage des Gebetes in öffentlichen Schulen. Dem amerikanischen Modell läßt sich das französische gegenüberstellen. In Frankreich war das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat vom 9. Dezember 1905 (s. T R E 11,371,20ff) bei einer Mehrzahl von Parlamentsabgeordneten von einem entschiedenen Laizismus getragen, und es richtete sich im wesentlichen gegen die katholische Kirche (die Mehrheit der protestantischen Kirchen begrüßte das Trennungsgesetz, denn die für sie bis dahin geltenden Organischen Artikel beschränkten sie häufig in ihrer Bewegungsfreiheit, insbesondere im Blick auf die Einrichtung neuer Gemeinden, die Evangelisation, das Zusammentreten von Synoden und anderes mehr). Der erste Paragraph des Gesetzes bestimmt ausdrücklich, daß die Republik die Gewissensfreiheit wahrt und freie Religionsausübung gewährt, sofern sie nicht die öffentliche Ordnung berührt. Der zweite Paragraph aber fügt ausdrücklich hinzu: „Die Republik anerkennt, besoldet oder subventioniert keine Religionsübung." Religion ist mithin eine Privatangelegenheit. Wenn bislang anerkannte Religionsübungen die Übertragung ihres in ihrer bisherigen Stellung zugehörigen Vermögens oder die Nutzung von in Staatsbesitz stehenden Kultstätten verlangten, mußten sie sich in der privatrechtlichen Form von Kultvereinigungen organisieren. Als solche hatten sie ein Leitungsgremium zu wählen, das sie vertrat. Sie hatten die Möglichkeit, regionale Zusammenschlüsse zu bilden, und diese wiederum konnten sich auf nationaler Ebene zusammenschließen. Die Protestanten konnten eine solche Ordnung ohne größere Schwierigkeiten akzeptieren, der katholischen Kirche aber war das nicht in gleicher Weise möglich; denn es war deutlich, daß die Forderung der freien Wahl von Leitungsgremien für die Kultvereinigungen ein ganz bestimmtes Ziel hatte, die Ausschaltung der katholischen Hierarchie und zumal der bischöflichen Amtsgewalt. Hier gibt sich der die Verfechter dieses Gesetzes bestimmende Laizismus klar zu erkennen. Sie wollten die Amtsgewalt der Geistlichkeit in der römischen Kirche abbauen und diese Kirche ohne Rücksicht auf ihr ekklesiologisches Selbstverständnis demokratisieren. Eigentlich aber müßte Laizität heißen, daß der Staat sich völlig neutral verhält und den Kirchen die Freiheit läßt, sich ihrem eigenen Selbstverständnis gemäß zu organisieren. Das Gesetz von 1905 ist ein Beispiel, an dem sichtbar wird, daß Laizismus Laizität zu Tode bringen kann. Es ist verständlich, daß der Heilige Stuhl unter diesen Voraussetzungen der Kirche in Frankreich untersagt hat, diesem Gesetz Folge zu leisten, so daß das Problem der Vermögensübertragung eine Reihe von Jahren in der Schwebe blieb. Zudem erkennt das Gesetz von 1905 den Kirchen lediglich eine Zweckbestimmung zu, „die Kultausübung". Die diakonische und karitative Tätigkeit wurde bewußt außer acht gelassen. Sie sollte ihren Fortbestand in von der Kirche unabhängigen Vereinen finden. Schließlich muß auch die ganze Paradoxie des zweiten Paragraphen bewußt gemacht werden: Die Republik erkennt keine Religionsausübung an. Es sieht ganz so aus, als

Laizismus

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ignoriere hier der Staat die soziale Existenz der doch recht bedeutenden Körperschaften und Institutionen, die die Kirchen darstellen. Indessen k a m es, z u m a l n a c h d e m Ersten Weltkrieg, zu einer W e i t e r e n t w i c k l u n g . Seit 1921 n a h m F r a n k r e i c h seine diplomatischen Beziehungen z u m Vatikan wieder a u f . D a s h a t t e zur Folge, d a ß der S t a a t s r a t 1923 erklärte, d a ß die Bildung diözesaner Kultvereinigungen, deren r e c h t m ä ß i g e r Vorsitz e n d e r der Bischof ist, d e m Gesetz von 1905 e n t s p r ä c h e . Seit 1926 w u r d e der Begriff K u l t a u s ü b u n g in e i n e m weiteren Sinn v e r s t a n d e n , u n d ein Gesetz von 1942 (unter der R e g i e r u n g von M a r s c h a l l Pétain) g e s t a n d den Kirchen d a s R e c h t zu, E r b s c h a f t e n u n d Vermächtnisse a n z u n e h m e n ; es ist n a c h 1945 in Geltung geblieben. In der Folgezeit k a m es zu weiteren A u f w e i c h u n g e n , die eine mittelbare finanzielle U n t e r s t ü t z u n g von Religionsgemeinschaften in F o r m von S u b v e n t i o n e n zur W i e d e r h e r stellung von Kirchen o d e r d u r c h Vermittlung d e r Sozialversicherung o d e r der Familienbeihilfekassen e r m ö g l i c h t e n . Es ist zur festen E i n r i c h t u n g g e w o r d e n , d a ß die Vertreter der Religionsgemeinschaften nicht n u r zu g r o ß e n offiziellen Veranstaltungen eingeladen w e r d e n , s o n d e r n d a ß sie auf ihren W u n s c h auch Z u g a n g z u m S t a a t s p r ä s i d e n t e n , d e m M i n i s t e r p r ä s i d e n t e n u n d d e n M i n i s t e r n h a b e n . D a r ü b e r h i n a u s h ö r e n Regierung und P a r l a m e n t bei E n t s c h e i d u n g e n , die in b e s o n d e r e r Weise ethische Fragen u n d P r o b l e m e des Familien- und Geschlechtslebens b e r ü h r e n , kirchliche Instanzen a n . Diese bei w e i t e m nicht vollständige A u f z ä h l u n g von A u f w e i c h u n g e n zeigt, d a ß sich die Vorstellung von Laizität entwickelt h a t hin zu einem wesentlich offeneren Verständnis u n d zur U b e r w i n d u n g eines ideologisch v e r b o h r t e n Laizismus. Die Republik e r k e n n t sehr w o h l die Religionsgemeinschaften a n . Die S u b v e n t i o n i e r u n g der kirchlichen Schulen h a t nicht n u r in die G e s e t z g e b u n g , s o n d e r n a u c h in den politischen Stil Frankreichs Eingang g e f u n d e n .

Das französische Modell ist hier so ausführlich behandelt worden, weil gerade an ihm die Entwicklung vom Laizismus zu Laizität sich verdeutlichen läßt. Anläßlich der offiziellen Gedenkfeiern zum 300. Jahrestag der Aufhebung des Edikts von Nantes (vgl. T R E ll,376,28ff) hat der französische Staatspräsident François Mittcrand erklärt, d a ß die Republik, wenn sie die Religionsgemeinschaften nicht in ihren Haushaltsplan a u f n i m m t , dies nicht „ a u s Indifferenz den Kirchen gegenüber" tut, die mit den ihnen eigenen Mitteln zur nationalen Einheit beitragen, sondern d a r u m , weil das staatliche Handeln sich anderer Mittel bedient" (Revue Information - Evangélisation 8 [1985]). Klingt eine solche Erklärung nicht - bei allen nötigen Abstrichen - wie eine W i e d e r a u f n a h m e der Lehre von den beiden Regimenten? Gewiß ließen sich auch noch andere in der westlichen Welt übliche Modelle untersuchen. M a n könnte zumal das Modell der Bundesrepublik Deutschland anführen. Hier besteht die Trennung von Kirche und Staat, doch der Staat bekundet sein Interesse am Wirken der Kirchen d a d u r c h , d a ß er ihnen ein Besteuerungsrecht ihren Mitgliedern gegenüber einräumt und für sie von allen Steuerpflichtigen, die nicht förmlich ihren Kirchenaustritt erklärt haben, die Kirchensteuer einzieht. 3. Möglichkeiten

wirklicher

Laizität

Es gibt noch manche andere Möglichkeit, die T r e n n u n g von Kirche und Staat zu wahren und dabei wirkliche Laizität zu gewährleisten. Auch die Konkordatsregelung (-»Konkordat) ist dabei nicht von vornherein auszuschließen, vorausgesetzt, es handelt sich nicht um eine Konkordatspolitik im Stile Napoleons, Mussolinis und anderer. Denn bei solcherart Konkordatsabschlüssen geht es stets um den Versuch der weltlichen Gewalt, sich die geistliche zu unterwerfen. Es ist nicht schlecht, wenn die Beziehungen zwischen Kirche und Staat rechtlich festgelegt werden, sofern eine solche Festlegung der Kirche volle Freiheit nicht nur für ihr gottesdienstliches H a n d e l n , sondern auch f ü r ihre übrigen Tätigkeitsfelder, für ihre Mission und Evangelisation und f ü r ihre auswärtigen Beziehungen gewährleistet. Eine rechte Kirche soll keine, sei es auch noch so geringe, Beteiligung an der Staatsgewalt anstreben, sie soll sich aber das Recht vorbehalten, innerhalb des Volkes ein aufmerksames Wächteramt w a h r z u n e h m e n , das im N a m e n des Evangeliums Unrecht, Beeinträchtigung der Menschenrechte, Bedrohungen des Friedens und anderes mehr anprangert. Des öfteren ist gesagt worden, d a ß sich eine Säkularisierung nur in christlichen Ländern entfalten kann ( - » G o g a r t e n , -»Bonhoeffer u.a.); die Säkularisierung besagt, d a ß

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Laizismus

alle irdischen Gegebenheiten weltliche Gegebenheiten sind und jede Sakralisierung irdischer Gegebenheiten Götzendienst ist. Man kann Gleiches auch im Blick auf die Laizität behaupten. Auch sie ist nur in Ländern zustande gekommen, die zumindest eine starke christliche Tradition aufzuweisen haben. Überall sonst findet man ein tiefverwurzeltes Bündnis zwischen der herrschenden Religion und der politischen Macht, und wenn gelegentlich auch Minderheitsreligionen, insbesondere das Christentum, toleriert werden, so ist es ihnen doch untersagt, ihren gottesdienstlichen Bereich zu verlassen, die Bibel zu verbreiten, zu evangelisieren. Kennzeichnend sind in dieser Hinsicht die islamischen Länder (-»Islam). Selbst in einem Land wie Marokko, in dem der Islam weniger unduldsam ist als anderwärtig und christliche wie jüdische Gemeinden ein friedliches Leben führen können, besteht keineswegs völlige Religionsfreiheit; denn es ist für einen Moslem faktisch unmöglich, zum Christentum, geschweige denn zum Judentum überzutreten. Der Wert einer Laizität, die nicht mehr von einem Laizismus bestimmt wird, der seinerseits eine Art von Säkularreligion darstellt, liegt darin, daß sie die Gewissensfreiheit sich voll entfalten läßt, nicht nur als innere, sprachlose Freiheit, sondern als eine Freiheit, die sich im Reden und Handeln Ausdruck verschaffen kann, als eine Freiheit, die es erlaubt, sein religiöses Bekenntnis oder auch kein Bekenntnis frei zu wählen, und zugleich auch einen ungehinderten Bekenntniswechsel ermöglicht. Wie der ökumenische Rat der Kirchen verschiedentlich ins Bewußtsein gerufen hat, ist es eine Pflicht der Kirchen, diese Freiheit nicht nur für sich selbst einzufordern, sondern auch für die nichtchristlichen Religionen und die Atheisten. Die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils (-»Vatikanum II) über die Religionsfreiheit geht bedauerlicherweise nicht so weit. Die Behauptung, daß sich Laizität nur in christlichen Ländern habe entfalten können, bedarf allerdings noch einer wichtigen Näherbestimmung. Das Christentum hat erst sehr spät und unter Mühen die Notwendigkeit einer Trennung von weltlicher Macht und Kirche erkannt. Das Bündnis von Thron und Altar war lange eine einmütig geduldete und als segensreich angesehene Gegebenheit, auch wenn die politischen Herrscher seit dem Ausgang des Mittelalters bestrebt waren, sich möglichst von dem Joch zu befreien, das ihnen der Papst und seine Legaten auferlegten. Kaiser und Könige (-»Königtum) wiederum waren zumeist von der Kirche durch eine -»Salbung geweiht und übten daher eine „Schutzherrschaft über die Kirche" aus. Zur Genüge bekannt ist, welche blutigen Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber Abweichlern der Grundsatz: Cuius regio eins religio [der Landesherr bestimmt den Religionsstand] oder das Prinzip Ludwigs XIV.: „ U n e foi, urte loi, urt roi", nach sich gezogen haben (die Aufhebung des Ediktes von Nantes ist dafür ein gutes Beispiel). Es scheint jedoch, daß die im 16. Jh. aufgerissene Spaltung der Christenheit in dem hier zur Diskussion stehenden Bereich auch positive Folgen gehabt hat. Mit ihrem unbeabsichtigten Zerbrechen der religiösen Einheit hat die Reformation tatsächlich einen religiösen Pluralismus begründet und legitimiert. Allein das Bestehen dieses Pluralismus, die Notwendigkeit des Zusammenlebens von Angehörigen unterschiedlicher Kirchen innerhalb ein und desselben Volksganzen hat das Aufkommen des Gedankens der -»Toleranz gefördert. In einem mehrere Jahrhunderte währenden Prozeß mußte dieser - inhaltlich übrigens eher negative - Gedanke der Toleranz im Denken und Handeln der Menschen Wurzeln schlagen, damit im 19. Jh. die Vorstellung der Laizität auftauchen konnte: die freie Kirche im freien Staat, wie es Cavour formuliert hat. Immer noch aber ist, auch im Westen, die rechte Laizität im Sinne einer Trennung und nicht Gegnerschaft von Kirche und Staat, ohne Nichtanerkennung der (einzigen für ihn wahrnehmbaren) sozialen Wirklichkeit der Kirche durch den Staat, ein zerbrechliches Gut, stets bedroht durch totalitäre Anwandlungen des Staates oder, in feinerer, aber keineswegs ungefährlicherer Weise, durch einen ideologischen Laizismus.

Lamaismus

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Literatur M . Audibert u. a., Laïcité, Paris 1960. - Paul Blanshard, American Freedom and catholic Power, Boston 1949. - Dietrich Bonhoeffer, Ethik, München 1949 8 1975. - Harvey Cox, The Secular City, 1965; dt.: Stadt ohne Gott, Stuttgart 1966 6 1 9 7 1 . - Friedrich Gogarten, Der Mensch zw. Gott u. Welt, Heidelberg 1952, Stuttgart 4 1967. - P. Jouguelet, Laïcité, Liberté et Vérité, Tournai 1970. - L.V. Méjan, La Séparation des Eglises et de l'Etat, Paris 1959. - Karl Rahner u.a., Religionsfreiheit, München 1966. - J. Robinson, Human Rights and fundamental Freedom in the Charter of United Nations, New York 1946. - Georges Weill, Histoire de l'idée laïque en France au XIXe siècle, Paris 1925.

Roger Mehl

Lamaismus 1. Begriff 2. Buddhisierung Tibets 3. Die Reformation des Tsong-kha-pa 4. Die chubilghanische Sukzession 5. Weitere Charakteristika des Lamaismus 6. Eine Religion im Untergang? (Anmerkung/Literatur S. 414) 1.

Begriff

Der Begriff „ L a m a i s m u s " , mit dem die tibetische Sonderform des -»Buddhismus bezeichnet wid, leitet sich a b von dem tibetischen Wort bla-ma (Aussprache: Lama 1 ), das zunächst f ü r den buddhistischen „ O b e r e n " , dann aber als Ehrentitel f ü r alle Geistlichen Verwendung fand. Eine zweite, ebenfalls üblich gewordene Bezeichnung des tibetischen Buddhismus wurde von außen an diesen herangetragen. Mongolen und Chinesen nannten ihn als erste die „Gelbe Kirche" (mongolisch shirasbasin, chinesisch huangchiao). Sie nahmen damit Bezug auf die gelbe Kopfbedeckung, die die Ordensangehörigen der in Tibet zur Vorherrschaft gelangten Sekte der „ T u g e n d h a f t e n " (dGe-lugs-pa) von den nicht-reformierten „ A l t e n " ( r N y i n g - m a - p a ) , die rote Mützen tragen und kein zölibatäres Leben führen, ebenso unterscheidet wie von den „Schwarzmützen", den Anhängern der autochthonen -»Bon-Religion. Beide Richtungen wurden von der Gelben Kirche nicht völlig verdrängt und halten sich bis heute in Grenzgebieten Tibets. Hinsichtlich seiner Z u o r d n u n g zu einer der drei großen buddhistischen Schulrichtungen, dem M a h ä y ä n a - , Hinayäna- und Vajrayäna-Buddhismus, ist der Lamaismus dem „ D i a m a n t f a h r z e u g " {Vajrayärta)zuzuordnen, das durch synkretistische Tendenzen, Dämonenglauben und Übernahmen magischer Elemente aus dem indischen Tantrismus gekennzeichnet ist. Ein weiteres Charakteristikum des Lamaismus besteht darin, d a ß er im völligen Widerspruch zu den ursprünglichen Intentionen des Buddhismus eine staatstragende Funktion übernahm. 2. Buddhisierung

Tibets

O b w o h l Tibet d e m indischen Ursprungsland des Buddhismus benachbart ist, w u r d e d o r t die buddhistische Lehre spät bekannt, nämlich erst im 7. Jh. n. C h r . und damit über ein Jt. nach dem Wirken des Buddha. Z u jener Zeit war Tibet noch nicht das durch fast unüberwindliche geographische Schranken geheimnisvoll abgeschlossene Land, sondern ein Großreich, das sich weit über das Hochland zwischen den Bergmassiven des Himalaya und Kuen-lun hinaus auf anliegende asiatische Gebiete erstreckte und mit seiner militärischen M a c h t einen gefährlichen Rivalen des Universalitätsanspruchs der seit 618 n. Chr. in China herrschenden T'ang-Dynastie darstellte. Die Buddhisierung dieses tibetischen Großreichs begann unter d e m von 629 bis 649 herrschenden König Srong-btsan sgam-po [Von geradem Tiefsinn]. Er hatte den von seinem Vater gNam-ri srong-btsan um 607 geeinten Staat ü b e r n o m m e n und die H a u p t stadt nach Lhasa verlegt, dem schon in vor-buddhistischer Zeit heiligen „ O r t (sa) der Götter (Iba)", w o er auf dem später auch für den Lamaismus bedeutenden „ r o t e n Berg"

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Lamaismus

(dMar-po-ri) seine Königsburg errichten ließ. Auf Bitten seiner beiden Gemahlinnen, der nepalesischen Prinzessin BhrikutT und der chinesischen Prinzessin Wen-ch'eng, soll sich Srong-btsan sgam-po zur Einführung des Buddhismus entschlossen haben. Er sandte im Jahre 632 seinen Minister Thon-mi Sambhota nach Kaschmir, um den Buddhismus und die indische Kultur zu studieren. Mit der Rückkehr des Ministers, der nach indischen Vorbildern angeblich die tibetische Schrift entwickelt hatte, begann die Übersetzung buddhistischer Texte ins Tibetische. Auch die erste Errichtung buddhistischer Heiligtümer fällt in die Regierungszeit des Königs Srong-btsan sgam-po. Er ließ für die neue Religion Tempel erbauen, aber noch keine Klöster. Ein durchgreifender Erfolg war diesem ersten Versuch einer buddhistischen Missionierung Tibets noch nicht beschieden. Er leitete vielmehr eine Epoche religionspolitischer Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der Bon-Religion und denjenigen des Buddhismus ein, die zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führten und die Großmachtstellung Tibets schwächten. Dabei standen die konservativen Adelsfamilien, die die hohen Staatsbeamten und Heerführer stellten, auf Seiten des angestammten Böntums, während im allgemeinen die Könige, gestützt auf Teile des niederen Volkes, die Interessen des Buddhismus vertraten. Nur König gLan-dar-ma, der den Buddhismus bekämpfte, bildete eine bemerkenswerte Ausnahme; er wurde 842 von einem buddhistischen Mönch ermordet. Die auf Srong-btsan sgam-po folgende Epoche ist aber auch gekennzeichnet durch eine sukzessive Ausbildung der für Tibet charakteristischen Form des Buddhismus. Diese geistige Entwicklung erfolgte durch buddhistische Gelehrte, die zunächst als Missionare und später, nach der islamischen Eroberung Indiens im Jahre 1193, als Flüchtlinge nach Tibet kamen. Ihrem Wirken ist es zuzuschreiben, daß der tibetische Begriff für „Geschichte" mit „Entstehung der Religion" (chos-'byung) wiedergegeben wird. Diese Entwicklung wurde von König Khri-srong lde-btsan (755-797) entscheidend und in mehrfacher Hinsicht gefördert. Zunächst galt es, den mächtigen Führer der Adelspartei, den Minister Ma-zhang, der während der Minderjährigkeit des Königs ein Verbot des Buddhismus durchgesetzt hatte, zu entmachten. Dies geschah, indem ein Orakel bestellt wurde, das die dringende Empfehlung aussprach, der Minister müsse für das Staatswohl eine Zeitlang meditierend in einem unterirdischen, nach seinem Eintritt vermauerten Grabraum verweilen. Daraus wurde er niemals wieder befreit. Nunmehr hatte der König freie Hand, im Jahre 791 ein Edikt zu erlassen, das den Buddhismus als Staatsreligion anerkannte. Außerdem berief er den berühmten buddhistischen Gelehrten Shäntirakshita nach Tibet, um dort das Werk der Ubersetzung heiliger Schriften ins Tibetische zu fördern. Da jedoch der stille Gelehrte Shäntirakshita dem Widerstand der antibuddhistischen Partei in keiner Weise gewachsen war, riet er selbst, mit dem großen Zauberer und Dämonenbeschwörer Padmasambhava (tib. Pad-ma 'byutig-gnas) eine energischere Persönlichkeit ins Land zu rufen. Padmasambhava [Der aus dem Lotos Geborene] entstammte der nordwestindischen Provinz Udyäna, die damals eine Hochburg tantristischer Magie und einen Hexenkessel des Synkretismus bildete, in dem die verschiedensten indischen Lehren mit iranischgnostischen Ideen durchsetzt waren. Padmasambhava soll sich selbst den „größten Zauberer und Beschützer aller Lebewesen" genannt, von Buddha jedoch, dem Stifter seiner Religion, verächtlich als einem nur „kleinen Zauberer" gesprochen haben. In Tibet verlegte der seltsame Heilige seine Wirkungsstätte in das etwa 80 Kilometer südöstlich von Lhasa gelegene Kloster bSam-yas, in dem er nächtliche Kultfeiern veranstaltete, die den magischen Riten des Böntums überlegen waren. Gleichzeitig gelang es ihm, in einer für die Entwicklung des Lamaismus entscheidenden Weise alte Bon-Traditionen dem Buddhismus zu integrieren. Er griff eine alte Bon-Vorstellung auf, nach der die Seele eines Verstorbenen auf ihrer vorläufigen Jenseitsreise relativ hilflos umherirrend gedacht wird, und er führte im Sinne dieser Idee buddhistische Rezitationen zur „Befreiung aus dem Zwischenzustand" (Bardo t'os-grol) ein, die die Grundlage für die in Europa

Lamaismus

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als „tibetisches Totenbuch" bekannt gewordenen Texte bilden. Sie werden entweder dem Sterbenden oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, an seiner Leiche verlesen. Die für die Folgezeit wichtigste Tat Padmasambhavas aber bestand darin, daß er es vermochte, die zahlreichen Götter und Geister der Bon-Religion zu „bannen". Dies geschah, indem er zu ihnen keine negative Stellung bezog, sie vielmehr in das buddhistische Pantheon aufnahm, vornehmlich indem er sie zu „Beschützern der (buddhistischen) Lehre" (Sanskrit dharmapäla, tib. chos-skyong) erklärte. Die Konsequenz dieses Verfahrens bestand in einer enormen Erweiterung des lamaistischen Pantheons, das mit seinen etwa 2000 numinosen Wesen das bei weitem größte der Religionsgeschichte bildet. Die Aufenthaltsdauer Padmasambhavas in Tibet ist unbekannt. Als er sich entschloß, das Land zu verlassen, sah er entweder sein Werk als vollendet an oder er fürchtete wachsenden Widerstand gegen seine Zauberpraktiken. Es wird berichtet, daß er sich mit großem Gefolge zur südwestlichen Grenze Tibets begab, dort sein Wunderroß bestieg und durch die Lüfte zum Land der menschenfressenden Räkshasa-Dämonen flog, um ihnen die Lehre des Buddha zu verkünden. Eine weitere Herausbildung des lamaistischen Systems erfolgte in mehrfacher Weise durch den „adligen Herrn" (Jo-bo-rje), wie ihn die Tibeter gern nennen, den indischen Fürstensohn AtTsha (982-1054), der, als Vater von neun Kindern, im 29. Lebensjahr der Welt entsagt und sich dem Studium der buddhistischen Philosophie zugewandt hatte. In Tibet führte er das tantristische Kälacakra- (tib. Dus-kyi 'khor-lo = Rad der Zeit) System ein, das auf der Idee einer Korrelation von —»Makro- und Mikrokosmos beruht und die Verehrung des Ädi-Buddha, des seit Urzeiten existierenden Buddha-Wesens, in den Mittelpunkt stellt. Im Zusammenhang mit dem Kälacakra-System stand im Wirken des AtTsha die Herausbildung des tibetischen Kalenders, der auf einem 60jährigen Zyklus beruht und mit dem Jahr des Feuerhasen (1027 n. Chr.) beginnt. AtTsha verwarf das im damaligen Tibet wild wuchernde Zauberwesen, und er bemühte sich um eine Förderung von Moral und Ordensdisziplin. In dieser Hinsicht kann er als Vorreformator des Lamaismus angesehen werden. J. Die Reformation

des

Tsong-kha-pa

Als Fortführer von AtTshas Werk verstand sich Tsong-kha-pa, der „Mann aus dem Zwicbeltal". Er wurde im Feuerhennenjahr des 6. Zyklus (1357 n. Chr.) im osttibctischen Distrikt Tsong-kha, dem „Zwiebeltal", geboren und hat Tibet niemals verlassen. An der Stätte seines Geburtshauses wurde später das berühmte Kloster Kumbum errichtet, das in seinem Hof einen Wunderbaum bergen soll, dessen Blätter angeblich Gebetsformeln und Buddhabildcr aufweisen. Die Bedeutung Tsong-kha-pas liegt auf moralischem und organisatorischem Gebiet. Er bekämpfte den sittlichen Verfall des Klosterlebens seiner Zeit, wandte sich gegen den Genuß berauschender Getränke und forderte die Ausschaltung tantristischer Magie, die Reinheit des mönchischen Wandels und die strikte Einhaltung des zölibatären Lebens der Kleriker. Für die Anhänger seiner Lehre, die „Tugendhaften" (dGe-lugs-pa), gründete er 1409 auf einem 35 Kilometer nordöstlich von Lhasa gelegenen Berg das Kloster dGa-ldan [Das Wonnereiche], das zum Zentrum der von ihm begründeten Schule bestimmt war, die bald einen erstaunlich großen Zustrom von Mönchen erhielt und in der Folgezeit prägenden Einfluß auf den Lamaismus gewann. Kurz vor seinem Tod im Jahre 1419 prophezeite Tsong-kha-pa seinen beiden vornehmsten Schülern, dem mKhas-grub-rje und seinem eigenen Neffen dGe-'dun grup-pa, sie würden sich als Oberpriester ständig neu verkörpern. Er begründete damit, bedingt durch die Tatsache, daß das zölibatäre Leben der Kleriker eine natürliche Erbfolge ausschloß, eine rein geistliche Übertragung priesterlicher Ämter, die als chubilghanische Sukzession bezeichnet wird.

412 4. Die chubilghatiische

Lamaismus Sukzession

Die chubilghanische Sukzession, deren N a m e sich von chubilghan, dem mongolischen Äquivalent des Sanskrit-Begriffes nirmäna [Verwandlung] ableitet, beruht auf der dogmatischen Grundlage der im Mahäyäna-Buddhismus ausgebildeten trikäya-Lehre. N a c h ihr werden die zahlreichen, ins buddhistische Pantheon aufgenommenen Heilsgestalten auf einen seit je existierenden Urbuddha (Adi-Buddha) zurückgeführt, der sich in drei verschiedenen Aspekten oder Körpern (Sanskrit käya, tib. sku, chines. sheri) manifestiere. Diese drei Aspekte sind 1. die letzte geistige Essenz, der Körper des dharma (dharmakäya), 2. die übermenschliche, in der jenseitigen Welt verehrte Wesenheit des Buddha, der Körper des Segens oder des Genusses (sambhoga-käya), und 3. der nirmäna-käya, der „Verwandlungskörper", der sich in zahlreichen irdischen Inkarnationen manifestiert, zu denen auch diejenige des historischen G a u t a m a Buddha zählt. Allein im Lamaismus hat die Idee von nirmäna-käya eine für das religiöse wie auch f ü r das politische Leben konstitutive Bedeutung erlangt. Sie besteht darin, daß nicht nur die Hierarchen des tibetischen Priesterstaates als buddhistische Inkarnationen verstanden werden, sondern auch Äbte und Äbtissinnnen bedeutender Klöster und ausländische Geistliche wie insbesondere der lamaistische C h u t u k t u [der heilige Erhabene] von Urga in der Mongolei. Die russischen Zaren sind seit der Zeit Katharinas d. Gr. als Verkörperungen der weißen Tara angesehen worden, des nach tantristischer Auffassung weiblichen Korrelats des Bodhisattva Avalokiteshvara. In erster Linie besitzt das Inkarnationsdogma Bedeutung für die beiden Oberpriester des Lamaismus. Unter ihnen nimmt der Pan-chen Lama, gegenwärtig der zehnte in der Sukzessionsreihe, gegenüber dem Dalai Lama den religiös höheren Rang ein, weil er als Verkörperung eines Buddha, letzterer aber nur als solche eines Bodhisattva gilt. Der Panchen rin-po-che, wie sein vollständiger Titel lautet, ist das „Juwel (rin-po-che, Sanskrit ratna, mong. erdeni) eines Gelehrten" (pan-chen, Sanskrit pandita). Er gilt als Inkarnation des Buddha Amitäbha [unendlichen Lichtglanz besitzend]. Sein Residenzkloster ist Tashilhunpo [Segensberg] bei Shigatsc. Politisch tendieren die Pan-chen Lamas seit je nach China, während die Dalai Lamas sich an Indien und, in der Zeit des britischen Kaiserrreichs, an England anschlössen. Die Dalai Lamas gelten als Inkarnationen des Bodhisattva Avalokiteshvara des „gnädig heranblickenden H e r r n " , mit dem Beinamen Padmapäni, „der den Lotos in der H a n d hält". Sie stehen damit im geistlichen Rang unter dem Pan-chen Lama, wobei jedoch in Betracht zu ziehen ist, d a ß ihre Stellung durch den Glauben erhöht wird, Tibet sei von Avalokiteshvara geschaffen worden. Die chubilghanische Sukzession findet bei der Suche nach einer neuen Wiedergeburt des Avalokiteshvara in der Weise Anwendung, d a ß man 49 Tage nach dem Tode eines Dalai Lama, jener Zeit, während der seine Seele umherirrend gedacht wird, die Geburt einer neuen Inkarnation erwartet. Die Gegend, in der das Kind zu suchen ist, hat oftmals der verstorbene Dalai Lama noch vor seinem Tode durch Andeutungen zu erkennen gegeben. Ist dies nicht der Fall, so muß das Staatsorakel befragt werden. Gewisse Körpermerkmale des Neugeborenen sind d a n n für seine endgültige Bestimmung von Bedeutung sowie auch Wundererscheinungen, die sich zur Zeit seiner Geburt ereignet haben. Schließlich m u ß das Kind eine Probe der Echtheit seiner Inkarnation damit bestehen, d a ß es aus einer Fülle ihm vorgehaltener Gegenstände nach solchen greift, die zum persönlichen Besitz des verstorbenen Dalai Lama gehörten. Der erste Hierarch von Lhasa w a r dGe-'dun grup-pa, der Neffe des Tsong-kha-pa. Er und sein unmittelbarer Nachfolger trugen noch nicht den Titel eines Dalai Lama, der ihnen jedoch postum von ihrem Nachfolger bSod-nams rgya-mts'o verliehen wurde, nachdem dieser nunmehr nach offizieller Z ä h l u n g 3. Dalai Lama bei seinem Besuch der Mongolei im J a h r e 1578 von dem mongolischen Teilfürsten Altan Khan mit diesem Ehrentitel begrüßt worden war, der im Sinne von „ O z e a n (mong. dalai) des gelehrten

Lamaismus

413

Wissens" zu verstehen ist. Der erste Europäer, der später Lhasa betrat, der Jesuitenpater Johann Grueber, gab ihn mit „Gevatter des Teufels" wieder. Die hierarchische Struktur des tibetischen Staates mit dem Dalai Lama als politischer Spitze wurde vollendet unter dem 5. Dalai Lama Ngag-dbang blo-bzang (1617-1682), einer sowohl durch außergewöhnliche Energie als auch durch große Gelehrsamkeit ausgezeichneten Persönlichkeit. Er organisierte endgültig das System der chubilghanischen Sukzession. Als Regierungssitz ließ er auf dem „roten Berg" (dMar-po-ri) bei Lhasa auf den Ruinen der alten Königsburg des Srong-btsan sgam-po mit Beginn des Jahres 1643 den Potala errichten, dessen Namensbedeutung nicht eindeutig geklärt ist. Die Rotmützen veranlaßte er zur Auswanderung nach Bhutan, setzte sich aber selbst über das zölibatäre Gebot der Gelbmützen hinweg. Sein Tod wurde zunächst geheimgehalten. Der 6. Dalai Lama Ts'ang-dbyangs rgya-mts'o (1683-1706) unterlag offenbar tantristischen Einflüssen. Er führte ein ausschweifendes Leben, veranstaltete mit seinen Freundinnen Zechgelage und verfaßte glühende Liebesgedichte. Die meisten seiner Nachfolger erreichten nicht das Alter der Volljährigkeit; einige von ihnen wurden vorher ermordet. Bedeutung besaß erst wieder der 13. Dalai Lama Thub-ldan rgya-mts'o (1876-1933), dem das Verdienst zukam, seinem Lande im Streit rivalisierender Großmächte die Unabhängigkeit erhalten zu haben. Der gegenwärtige 14. Dalai Lama ist bsTan'dzin rgyamts'o (heutige Lhasaer Aussprache: Tändzin Gyamtsho). Er wurde 1935 geboren und 1950 inthronisiert. 5. Weitere Charakteristika

des

Lamaismus

Der Lamaismus besitzt eigene heilige Schriften. Sie beruhen zum Teil, aber nicht ausschließlich auf Übersetzungen von Sanskrit- und Pali-Texten des indischen Buddhismus. Sie sind zusammengefaßt in den beiden voluminösen Textsammlungen des Kandschur (hKa-'gyur = Übersetzung der Vorschriften), zu dem 108 Bände gehören, und des Tandschur (bsTan-'gyur = Ubersetzung der Lehre) mit seinen 225 Bänden. Die Kanonisierung dieser Literaturmasse beruhte auf der kompilatorischcn Arbeit des tibetischcn Gelehrten Bu-ston (1289-1364). Zur religiösen, wenn auch nicht kanonisierten Literatur gehören ferner in erster Linie die bis in die Gegenwart in Tibet außerordentlich beliebten 100000 Gesänge von Tibets größtem Dichtcr, dem asketischen Einsiedler Mi-la ras-pa (1040-1123). Der lamaistische Kult wird täglich fünfmal vollzogen. Im Mittelpunkt stehen psalmodierende Gesänge, begleitet von Glöckchen und Trompeten, sowie Darbringungen von Weihrauch, Reis und Wein. Die Verehrung von Reliquien und das Umschreitcn von Klöstern im Uhrzeigersinn gehören ebenso zur kultischen Praxis wie das Beten des mit 108 Perlen versehenen Rosenkranzes, das Hissen von Gebetsfahnen und das unablässige Rotieren der sogenannten Gebetsmühlen (mani 'khor-lo), in deren Zylindern sich zusammengerollte Papierstreifen befinden, auf denen meist die an Avalokiteshvara gerichtete Adorationsformel Om mani padme hüm [O Juwel im Lotos] aufzeichnet ist. 6. Eine Religion

im

Untergang?

Die Religionsgeschichte kennt zahlreiche Religionen, die zum Untergang verurteilt waren, weil sie entweder missionarisch überwunden oder machtpolitisch vernichtet wurden. Es erhebt sich die bislang noch nicht eindeutig zu lösende Frage, ob letzteres für den Lamaismus zutrifft. Feststehendes Faktum ist einerseits die 1950 eingeleitete chinesische Okkupation des lamaistischen Kirchenstaates, die ebenso der traditionellen chinesischen Politik gegenüber Tibet entsprach wie die Entweihung buddhistischer Klöster, deren Existenz nicht nur mit der bolschewistischen Doktrin, sondern bereits mit der auf dem Leben in der Großfamilie aufbauenden konfuzianischen Ethik unvereinbar ist. Andererseits besitzt auch die tiefgreifende Animosität der Tibeter gegenüber China eine lange Tradition. Im Jahre 1959 führte sie zu einem Volksaufstand, in dessen Gefolge

414

Lamaismus

der Dalai L a m a nach Indien floh. Von dort und auf vielen Weltreisen setzte er sich energisch für die Erhaltung von Religion und Kultur seines Landes ein. Daß er jedoch 1976 in der kaschmirischen Hauptstadt Srinagar erklärte, eine fünfzehnte, ihm nachfolgende Inkarnation werde es vermutlich nicht geben, läßt auf eine pessimistische Prognose für die Zukunft des Lamaismus schließen. Anmerkung Die wissenschaftliche Transkription des T i b e t i s c h e n ist eine W i e d e r g a b e der traditionellen, bis heute gültigen O r t h o g r a p h i e . Sie unterscheidet sich o f t wesentlich von der modernen, zudem in zahlreichen Dialekten unterschiedlichen Aussprache. In anlautenden Konsonantengruppen wird meist nur der letzte K o n s o n a n t ausgesprochen und deshalb bei der T r a n s k r i p t i o n von Eigennamen mit einem G r o ß b u c h s t a b e n geschrieben. 1

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Günter Lanczkowski

Lambert von Avignon Lambert von Avignon, Franz 1. Leben

1.

2. Werk

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(1487-1530)

3. Nachwirkung

( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 4 1 7 )

Leben

Lambert wurde 1487 (manche Forscher ziehen auch 1486 in Erwägung) in Avignon geboren. Sein Vater war Sekretär und am päpstlichen Palast beschäftigt, starb allerdings, als Franz noch ein Kind war. Dies mag mit dazu beigetragen haben, daß er mit 15 Jahren Franziskaner-Observant in Avignon wurde; mit 16 Jahren legte er die Profeß ab. Es kam zu Unstimmigkeiten im Kloster, die wohl nicht nur auf Lamberts Forderung nach strikter Observanz, sondern auch auf seine ungestüme und häufig unverträgliche Art zurückgeführt werden müssen. Seit 1221 hatten nicht mehr alle Minoriten das Recht zu predigen, sondern nur dazu berufene. Lambert wurde einer von ihnen und hatte offenbar Erfolg, denn er wurde sogar Praedicator apostolicus, womit er wohl „die größte Auszeichnung" erhielt, die ihm in dieser Tätigkeit zuteil werden konnte (vgl. Holzapfel 490): Diese Prediger hatten erhebliche Vorrechte, die ihnen zwar 1521 vom Kapitel des Ordens wieder abgesprochen wurden, aber das hinderte Lambert nicht, noch 1522 eine Predigtreise durchzuführen. Er legte seinen Ansprachen Bibeltexte zugrunde, was „seine spätere Fruchtbarkeit an exegetischen Schriften und Vorlesungen verständlich" macht (Maurer 212/322). Lambert berichtet, er habe Schriften M. -»Luthers gelesen, die gefunden und verbrannt worden seien. Trotzdem konnte er im Mai 1522 zu einer Predigtreise aufbrechen, die ihn über Aix-lesBains, Genf, Lausanne, Fribourg und Bern nach Zürich führte. Hier kam es am 16. Juli 1522 zu einer Diskussion mit U. -»Zwingli, aus der hervorging, daß Lambert nur ganz geringe Kenntnisse von reformatorischen Vorstellungen besaß. Zwingli erhielt - im Gegensatz zu B. -»Haller - von Lambert einen schlechten Eindruck, was ihn zeitlebens ihm gegenüber zurückhaltend sein ließ. Der Franziskaner zog nach Basel, von wo er unter einem Pseudonym nach Eisenach weiterreiste, wo er im November 1522 ankam. Er schrieb an G. -»Spalatin, der ihn Kurfürst -»Friedrich dem Weisen und Luther empfehlen möge. Er fügte antirömische Thesen bei, um nachzuweisen, wo er stand. Trotzdem war Luther zurückhaltend, widersetzte sich aber aufgrund eines Briefes Lamberts an ihn nicht, daß er nach -»Wittenberg kommen könne. Dort traf er Mitte Januar 1523 ein, legte sein Pseudonym ab und teilte dem Kurfürsten mit, daß er an der Seite Luthers am begonnenen Werk mitarbeiten wolle. Obwohl Luther von seinen theologischen Qualitäten nicht viel hielt, unterstützte er den Fremden und nahm ihn in das Augustiner-Eremitenkloster auf, in dem er nach wie vor wohnte. Lambert durfte an der Universität Vorlesungen halten: über Hosea, über das Lukasevangelium, den Römerbrief, das Hohelied, Ezechiel und die Genealogie Christi. Er erhielt dafür aber so wenig Geld, daß seine wirtschaftliche Situation nach seiner Heirat am 15. Juli 1523 mit einer Herzberger Bäckerstochter namens Christine unerträglich wurde. Lambert, der stolz war, weil er als erster französischer Mönch so gehandelt habe, mußte den Kurfürsten um Hilfe bitten. Er wollte nach Straßburg gehen, um dort durch Vorlesungen und Ubersetzungen sein Brot zu verdienen und sich für die Reformation in -»Frankreich einzusetzen. Er reiste aber im Februar 1524 nach Metz, wo er Vorlesungen halten, predigen und öffentlich diskutieren wollte. All das wurde dem Verheirateten verwehrt, der nach nicht einmal zwei Wochen die Stadt wieder verlassen mußte. Damit war der erste Versuch einer Verbreitung reformatorischer Gedanken im deutsch-französischen Grenzgebiet fehlgeschlagen. Ab Mai 1524 finden wir ihn in Straßburg, wo er Vorlesungen hielt und eine reiche publizistische Tätigkeit entfaltete. Er erwarb dort am 3. November 1524 das Bürgerrecht (vgl. Bodenmann 192 Anm. 143); er war freundlich aufgenommen worden und hatte auch selbst gut mitgearbeitet. Aber es kam bald zu Spannungen, z.B. mit W. -»Capito. M. -»Bucer berichtete Zwingli am 29. Januar 1526, daß Lambert von den Wittenbergern

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ohne Empfehlungsschreiben geschickt worden sei (Corr. de M . Bucer 11,96 f). Er war von dort abgereist, da er sich von Gott „gerufen und gedrängt" gefühlt habe, wie er dem Kurfürsten im März 1525 berichtet hatte. Der Straßburger Rat erlaubte ihm 1526, noch ein Jahr zu bleiben, gestattete ihm Publikationen aber nur noch nach vorheriger Billigung. Es war deswegen für ihn eine große Erleichterung, als er im Herbst 1526 nach -»Hessen berufen wurde. Er nahm an der Disputation in Homberg/Efze über die Einführung der Reformation in der Landgrafschaft teil, für die er die Diskussionsgrundlage erstellt hatte. Auch gehörte er zu den Verfassern der Reformatio ecclesiarum Hassiae, die aufgrund eines Beschlusses in Homberg erarbeitet wurde. Obwohl diese nicht eingeführt wurde, weil Luther den „Haufen Gesetze" ablehnte, berief Landgraf -»Philipp ihn an die neue Universität in —»Marburg. Dort las er über die Johannes-Apokalypse, die Apostelgeschichte (wahrscheinlich erst kurz vor seinem Tod) und möglicherweise auch über Genesis, Jeremia und die Klagelieder Jeremias. Er veranstaltete die erste Disputation an der Universität, bei der der Schotte Patrick Hamilton seine Kenntnis evangelischer Lehre darlegte. Am -»Marburger Religionsgespräch konnte er als Zuhörer teilnehmen, was ihn veranlaßte, sich Zwingiis Abendmahlslehre anzuschließen und erneut Kontakte zu Bucer zu suchen. Obwohl die Universität wegen einer Seuche nach Frankenberg/Eder verlegt wurde, starb er dort am 18. April 1530. Seine Frau und seine Kinder überlebten die Krankheit ebenfalls nicht. 2. Werk Von Lambert sind 20 gedruckte Werke überliefert. Davon stammt eines aus seiner vorreformatorischen Zeit, das wohl zwischen 1512 und 1517 in Lyon publiziert wurde. Es handelt sich dabei möglicherweise um ein Meditationsbuch für Ordensbrüder (Haas, Corone 300). Die reformatorischen Schriften begannen mit einem Rechenschaftsbericht über seine Abwendung von den Franziskanern - das einzige Werk Lamberts, das in Wittenberg gedruckt wurde. Es folgte ein Kommentar über die franziskanische Regel, der in Straßburg erschien. Der Vermittlung Spalatins verdankte er den Druck seines Lukaskommentars in Augsburg, der zu seinem Bestseller wurde, denn innerhalb von 21 Monaten erschienen fünf Auflagen. Folgende Auslegungen biblischer Bücher schlössen sich an: das Hohelied, die zwölf kleinen Propheten (in 5 Bänden) und die Apokalypse des Johannes (vgl. T R E 7,737,37ff). Hinzu traten eine Schrift über die Ehe (zuerst 1524 in Straßburg erschienen), eine über die Frage, warum das Evangelium jahrhundertelang verborgen geblieben sei, und eine weitere über die Berufung der Gläubigen in die Kirche. Lambert hat eine Vielzahl von Fragen aufgegriffen, die er für wesentlich hielt. Von grundsätzlicher Bedeutung sind seine Commentarii de prophetia, eruditione et Unguis, in denen er dem Zusammenhang von Buchstabe und Geist nachgeht. Manches klingt antihumanistisch, so daß er für dieses Werk herbe Ablehnung erntete. Aber es stieß von neuem im 17. Jh. auf Interesse, wie fünf Nachdrucke zwischen 1666 und 1693 beweisen. Auszüge aus dieser Schrift kommen hinzu, die zwischen 1697 und 1707 publiziert wurden. Wenn es stimmt, daß es Lambert um das ging, was wir heute „existentiale Interpretation" nennen (Schoch 60), dann ist das Interesse um 1700 verständlich. Denn Lambert wehrte sich gegen eine Uberbetonung des Buchstabens und trat für die rechte Achtung des Glaubens ein. Damit schnitt er ein Thema an, das in seiner Zeit nur deswegen nicht stärker beachtet wurde, weil ihm eine Abwertung von Bildung und Sprachen nachgesagt wurde. Politisch brisant wurde eine in französischer Sprache -»Karl V. gewidmete Zusammenfassung der reformatorischen Lehre. Landgraf Philipp hatte sich davon eine positive Einstellung des Kaisers gegenüber der Reformation versprochen und diese angeregt. Aber Lambert hatte mit dieser Widmung so wenig Glück wie mit derjenigen seiner Eheschrift an -»Franz I. von Frankreich: Keiner von ihnen wurde dadurch für die neue Bewegung

Lambert von Avignon

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gewonnen. Karl V. ließ sogar den Überbringer der Schrift gefangensetzen, und seine Beziehungen zu Philipp kühlten noch mehr ab. Das größte Werk, an dem Lambert während seiner letzten Lebensjahre arbeitete, De regno, civitate et domo Dei, erschien nur teilweise und postum. Der M a r b u r g e r Professor hatte sich eine umfassende Theologie vorgenommen, die aber bei seinem Tod wohl noch nicht vollständig geschrieben war. O b alles, was Lambert erarbeitet hatte, publiziert w u r d e , ist unsicher. Das literarische Werk weist den Franzosen als eine eigenwillige Persönlichkeit aus, die zu Selbstüberschätzung neigte, aber immer wieder neue T h e m e n aufgriff, um das als richtig Erkannte publik zu machen. Lambert vertrat reformatorische Positionen - z.B. auch in der Frage des unfreien Willens - , bekannte es aber offen, als er in der Abendmahlslehre zu neuen Erkenntnissen gelangt war. Seine Schriften waren recht stark verbreitet, auch in -»England, wie Verbotslisten beweisen. Von den vorwiegend in lateinischer Sprache verfaßten Büchern wurden einige auch in Volkssprachen übersetzt. Aber nicht nur durch seine publizistische Arbeit wurde er wichtig, sondern auch durch seine Vorlesungen in Wittenberg, Straßburg und M a r b u r g und durch seinen praktischen Einsatz. Hier ist vor allem seine M i t w i r k u n g bei der Einführung der Reformation in Hessen zu nennen. N a c h seinen unsteten und teilweise auch unglücklichen Wanderjahren hatte er hier eine bedeutende Wirkungsmöglichkeit gefunden, die aber durch seinen frühen Tod jäh beendet wurde. 3.

Nachwirkung

Lambert fühlte sich als eigenständiger Theologe, der sich keiner der reformatorischen Gruppierungen anschloß. Das begrenzte seine Wirkung im 16. Jh. Auch f ü r den -»Pietismus ist trotz der Aufmerksamkeit, die seine Commentarii de prophetia, eruditione et linguis fanden, seine Bedeutung gering. Nach Anfängen historischer Arbeit im 18. Jh. fand im 19. und 20. Jh. der Franzose Interesse, der sich so früh der Reformation anschloß und der ein breites litcrarischcs Werk hinterließ, das lange unbeachtet geblieben war. Es wurde auch gefragt, woher die ekklesiologischen Vorstellungen stammen, die die Reformatio ecclesiarum Hassiae kennzeichnen und die sicher auf Lambert zurückgehen: Sind es franziskanische Einflüsse oder selbständige Entwicklungen aufgrund reformatorischer Gedanken? Dieses Konzept wurde in Hessen jcdoch nicht verwirklicht, sondern man schloß sich d o r t dem kursächsischen Weg des Aufbaus der Kirche durch -»Visitationen an. Dennoch sicherten Lamberts Mitarbeit bei der Einführung der Reformation in Hessen, seine akademischen Tätigkeiten und seine publizistische Arbeit ihm einen wichtigen Platz in der Reformationsgcschichte. Quellen Reinhard Bodenmann, Bibliotheca Lambertiana: Pour retrouver François Lambert. Bio-bibliographie et études, hg. v. Pierre Fraenkel, 1987 (BBAur 108), 9 - 2 1 3 [Verzeichnis v. ungedruckten Quellen, der gedruckten Briefe Lamberts u. seiner Werke]; vgl. auch die Briefeditionen der genannten Reformatoren, zuletzt: Correspondance de Martin Bucer, hg. v. Jean Rott, Leiden, 11979, II 1989. Otto Clemen, Zwei Gutachten F. Lamberts v. Avignon: ZKG 22 (1901) 129-143. - EKO VIII/I, 43 - 6 5 (Reformatio ecclesiarum Hassiae). - A.L. Herminjard, Correspondance des Réformateurs dans les pays de langue française, Genf, I 1866, II 1868. - Jean Rott, Un recueil de correspondances strasbourgeoises du XVI e siècle: BPH 1971, 749-818 = ders., Investigationes historicae, hg. v. Marijn de Kroon/Marc Lienhard, Straßburg, I 1986, 243-312. - Ders./Olivier Millet, Miettes historiques strasbourgeoises: Actes du Colloque Guillaume Farel, Genf 1983,253-267 = ders., Investigationes, II 1986, 1 - 1 5 .

Literatur Johannes Wilhelm Baum, F. Lambert v. Avignon, Straßburg 1840. - Philippe Denis, La prophétie dans les Eglises de la Réforme au XVI e siècle: RHE 72 (1977) 289-316. - Pierre Fraenkel, François Lambert, son commentaire sur l'Evangile de Luc et certaines traditions exégétique de son ordre: Pour retrouver F. Lambert, s.o., 215 - 2 5 0 . - Rainer Haas, F. Lambert u. Patrick Hamilton in ihrer Bedeu-

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Lambethkonferenzen

tung f. die ev. Bewegung auf den Britischen Inseln, Diss. Marburg 1973. - Ders., La Corone de nostre Saulueur: ZKG 84 (1973) 2 8 7 - 3 0 1 . - Ders., Lamberts „Paradoxa" u. die hessischen KO: Pour retrouver F. Lambert, s.o., 2 5 7 - 2 7 2 . - F.W. Hassencamp, Franciscus Lambert v. Avignon, 1860 (LASRK 9). - R. Gerald Hobbs, François Lambert sur les langues et la prophétie: Pour retrouver F. Lambert, s.o., 2 7 3 - 3 0 1 . - Heribert Holzapfel, Hb. der Gesch. des Franziskanerordens, Freiburg 1909. - Edmund Kurten, F. Lambert v. Avignon u. Nikolaus Herborn, 1950 ( R G S T 72). - Wilhelm Maurer, F. Lambert v. Avignon u. das Verfassungsideal der „Reformatio ecclesiarum Hassiae": Z K G 48 (1929) 2 0 8 - 2 6 0 = ders., Kirche u. Gesch. GAufs., Göttingen, I 1970, 3 1 9 - 3 6 4 . - Andres Moser, Franz Lamberts Reise durch die Schweiz im Jahre 1522: Zwing. 10 (1957) 4 6 7 - 4 7 1 . Gerhard Müller, Die Anfänge der Marburger Theol. Fakultät: H J L G 6 (1956) 1 6 4 - 1 8 1 . - Ders., F. Lambert v. Avignon u. die Reformation in Hessen, 1958 (VHKHW 24,4) (mit Abdruck v. 2 Briefen Lamberts u. seiner an Karl V. gerichteten „Somme chrestienne"). - Ders., Die Synode als Fundament der ev. Kirche in Hessen: J H K G V 27 (1976) 1 2 9 - 1 4 6 . - Ders., F. Lambert: NDB 13 (1982) 435 - 4 3 7 . Ders., Protestant Theology in Scotland and Germany in the early days of the Reformation: RSCHS 22 (1985) 1 0 3 - 1 1 7 . - Rodolphe Peter, F. Lambert, éditeur de l'„Epistre chrestiene envoyée à tresnoble Prince, monseigneur le duc de Lorayne"?: Pour retrouver F. Lambert, s. o., 2 5 1 - 2 5 6 . - Wilhelm Schmitt, Die Homberger Synode u. ihre Vorgesch., Homberg 1926. - Max Schoch, Verbi Divini Ministerium, Tübingen, 11968. - N. Weiss, F. Lambert d'Avignon: BSHPF 75 (1926) 4 7 7 - 4 8 5 . - Roy Lutz Winters, F. Lambert of Avignon, Philadelphia 1938. - William J . Wright, The Homberg Synod and Philip of Hesse's Plan for a New Church-State Settlement: SCJ 2 (1973) 2 3 - 4 6 . Gerhard Müller Lambethkonferenzen 1. Lambethkonferenz 1867 2. Lambethkonferenz 1878 3. Lambethkonferenz 1888 4. Lambethkonferenz 1897 5. Lambethkonferenz 1908 6. Lambethkonferenz 1920 9. Lambethkonferenz 1958 7. Lambethkonferenz 1930 8. Lambethkonferenz 1948 10. Lambethkonferenz 1968 11. Lambethkonferenz 1978 12. Lambethkonferenz 1988 13. Die Zukunft der Lambethkonferenz (Quellen/Literatur S. 423) L a m b e t h k o n f e r e n z e n sind Z u s a m m e n k ü n f t e von B i s c h ö f e n aus der weltweiten - • A n glikanischen G e m e i n s c h a f t , die vom E r z b i s c h o f von C a n t e r b u r y einberufen werden und unter seinem Vorsitz stehen. Sie wurden seit 1867 g e w ö h n l i c h alle zehn J a h r e a b g e h a l t e n . O b w o h l m a n sie m a n c h m a l mit den zwei V a t i k a n i s c h e n Konzilien und früheren ö k u m e nischen Konzilien verglichen h a t , unterscheiden sich L a m b e t h k o n f e r e n z e n von ihnen d a d u r c h , d a ß ihre R e s o l u t i o n e n nie als S y n o d e n d e k r e t e angesehen wurden und k i r c h e n rechtlich nicht bindend sind. D i e Konferenzentscheidungen h a b e n a b e r im L a u f e der J a h r e zunehmend an G e w i c h t g e w o n n e n , und ihre R e s o l u t i o n e n besitzen g r o ß e m o r a l i sche Geltung innerhalb der G e m e i n s c h a f t . L a m b e t h k o n f e r e n z e n stellen ein Z e n t r u m der Identität d a r für eine ausgedehnte G e m e i n s c h a f t a u t o n o m e r K i r c h e n p r o v i n z e n . Ihre B e richte werfen ein L i c h t a u f anglikanisches Verhalten in einem breiten B a n d l e h r m ä ß i g e r , ethischer und sozialer F r a g e n . 1. Lambethkonferenz

1867

Hintergrund der E i n b e r u f u n g der ersten Konferenz w a r ein Verständnis des B i s c h o f s amtes und seiner R o l l e in der Leitung der - » K i r c h e von E n g l a n d , das von der h o c h k i r c h l i chen - » O x f o r d b e w e g u n g kraftvoll unterstützt w o r d e n w a r . D i e Ausdehnung des E p i s k o pats über die G r e n z e n des englischen S t a a t s k i r c h e n t u m s hinaus n a c h A m e r i k a , A f r i k a , dem Pazifik und Südasien b r a c h t e unvermeidlich neue P r o b l e m e mit sich, wie m a n im E i n k l a n g miteinander h a n d e l n k ö n n t e . O f t ist b e h a u p t e t w o r d e n , die erste L a m b e t h k o n f e r e n z sei z u s a m m e n g e r u f e n w o r d e n , um eine g e m e i n s a m e A n t w o r t des anglikanischen E p i s k o p a t s zu bieten a u f den Fall des B i s c h o f s J . W. C o l e n s o v o n N a t a l . D i e s e r w a r vom S t a a t s r a t in L o n d o n , einer weltlichen J u s t i z k ö r p e r s c h a f t , wieder in sein A m t eingesetzt w o r d e n , n a c h d e m er von seinem eigenen E r z b i s c h o f wegen seiner progressiven Ansichten über die Bibelkritik abgesetzt w o r d e n w a r . G e w i ß h a t t e die S y n o d e der K o l o nialkirche in - » K a n a d a eine S y n o d e von B i s c h ö f e n , Presbytern und L a i e n gefordert, um sich dieser Situation a n z u n e h m e n , a b e r eine detaillierte U n t e r s u c h u n g der Beweislage

Lambethkonferenzen

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durch Stephenson (The First Lambeth) erbrachte, daß der Fall Colenso nicht der einzige Faktor für die Einberufung der ersten Konferenz war. Stephenson wies auf die Spannungen hin, die durch die Expansion des Episkopates und die Entwicklung der Beratungsmechanismen in der Anglikanischen Gemeinschaft entstanden waren, wie auf die Tatsache, daß Colenso nicht einmal auf der Tagesordnung stand. Colenso beschäftigte aber jeden, und die Probleme, die sein Fall schufen, beherrschten die Konferenz. Auf den 24. September 1867 wurden 76 Bischöfe zum Lambeth-Palast, der Londoner Residenz des Erzbischofs von Canterbury, Charles Longley, zu einem viertägigen informellen Meinungsaustausch eingeladen. Der Erzbischof von York und die meisten Bischöfe aus Nordengland weigerten sich zu kommen, und der Dekan von Westminster, A. P. Stanley, ein Anhänger Colensos, verweigerte die Benutzung der Abteikirche. Ausschüsse wurden eingesetzt, aber ihre Berichte wurden erst elf Jahre später, auf der nächsten Konferenz, beraten. Am ersten Tag kam es zum Zusammenstoß zwischen Evangelikaien und Hochkirchlern, bei dem es den Evangelikaien gelang, Hinweise auf die ersten vier ökumenischen Konzilien am Anfang der vorgeschlagenen Erklärung zu tilgen. Als die Frage nach Colenso gestellt wurde, protestierte Connop Thirlwall, Bischof von St. David's: Die Vereinbarung, aufgrund derer er und andere sich einverstanden erklärt hatten, der Konferenz beizuwohnen, sei gebrochen worden. Erzbischof Longley ließ es aber zu, daß ein Ausschuß ernannt wurde, der sich der Natalfrage annehmen sollte. Als dieser eine Resolution zustande brachte, die die Absetzung Colensos akzeptierte, weigerten sich 17 Bischöfe, sie zu unterzeichnen. Weitere Themen, die diskutiert wurden, waren die Errichtung neuer Bischofsstühle, bischöfliche Jurisdiktion in Missionsgebieten und die Einrichtung eines „freiwilligen geistlichen Gerichtshofes", um lehrmäßige Zwistigkeiten zu schlichten.

2. Lambethkonferenz

1878

Für die zweite Konferenz nahmen 100 Bischöfe die Einladung Erzbischof A.C. Taits an. Diesmal wollte man sich mit den Unfehlbarkeitsdekreten des —• Vatikanum I und dem Gesetz zur Regulierung des Gottesdienstes von 1875 befassen. Romantischen, auf ein Patriarchat von Canterbury gerichteten Wunschvorstellungen von Hochkirchlern stand als Gegengewicht im eigenen Kreis die berechtigte Befürchtung gegenüber, ein zentrales kirchliches Leitungsamt könne in den Missionsgebieten, in denen die hochkirchliche Seite eine beherrschende Stellung gewonnen hatte, auch gegen sie verwendet werden. Außerdem waren amerikanische Bischöfe strenge Gegner jedweder Einschränkung ihrer Autonomie. Schließlich einigte man sich darauf, daß man Übereinstimmung im Handeln nicht durch ein Patriarchat oder einen zentralen Gerichtshof erreichen könne, sondern durch Fortsetzung der Lambethkonferenzen, wobei Uneinigkeiten durch von den Provinzen errichtete freiwillige Schlichtungsstellen gelöst werden sollten. Man kam überein, daß die Jurisdiktion für die Mission beim Ortsbischof liegen solle. Es gab eine anregende Diskussion über moderne Formen des Unglaubens, aber keine endgültige Übereinstimmung darüber.

3. Lambethkonferenz

1888

Erzbischof Edward White Benson stand der Konferenz von 145 Bischöfen vor, deren wichtigste Aussprache das Lambeth Quadrilateral war; heute wird es allgemein das Chicago-Lambeth Quadrilateral genannt, weil es auf einem Bericht aufbaute, den die Bischöfe der Protestant Episcopal Church in den Vereinigten Staaten 1886 in Chicago angenommen hatten. Dieses Quadrilateral setzte eine vierfache Grundlage für kirchliche Wiedervereinigung fest: die Bibel, das apostolische und das nizänische Glaubensbekenntnis (-»Apostolisches Glaubensbekenntnis; -»Nicaeno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis), die Sakramente der Taufe und des Herrenmahls und das historische Bischofsamt (vgl. T R E 6, 687,31 ff), „das in den Methoden seiner Verwaltung den örtlichen Gegebenheiten angepaßt wird". Man bot hier, was H. Chadwick „eine Ekklesiologie der

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Lambethkonferenzen

,eisernen Ration' als ein Mindestmaß für eine Annäherung an christliche Wiedervereinigung" nannte (1). Weitere Tagesordnungspunkte, zu denen Resolutionen a n g e n o m m e n wurden, waren u . a . T r u n k sucht, geschlechtliche R e i n h e i t , Scheidung, Polygamie, Sonntagsheiligung, Sozialismus, Auswandererfürsorge, die gegenseitigen Beziehungen der anglikanischen Diözesen und Beziehungen zu skandinavischen Kirchen, den Altkatholiken und den O r t h o d o x e n Kirchen.

4. Lambethkonferenz

1897

Die vierte Konferenz wurde einberufen von Erzbischof Edward-White Benson; ihr stand, nach dessen Tod, sein Nachfolger Frederick Temple vor; 194 Bischöfe nahmen teil. Im Jahr zuvor hatte Papst -»Leo XIII. entschieden, anglikanische Weihen seien „gänzlich ungültig und völlig nichtig" (DS 3319). Lambeth reagierte, indem es darauf bestand, daß die anglikanische Kirche nicht ein örtliches englisches Phänomen sei; ihre besondere Berufung sei vielmehr, christliche Einheit zu verdeutlichen. Es zitierte zustimmend die Sicht „eines hervorragenden Katholiken" (Joseph de Maistre), die anglikanische Kirche habe eine „Qualität analog der, die chemische Zwischenprodukte besitzen, nämlich unversöhnliche Substanzen zu kombinieren". Beziehungen zur östlichen Orthodoxie und den Altkatholiken wurden aufs neue diskutiert, und man überlegte die Position der Kirchen, die nicht den historischen Episkopat für sich beanspruchten. Verdächtigungen, Canterbury übe ein Patriarchat aus, wurden aufs neue geweckt. Man beugte sich amerikanischen Befürchtungen und schwächte Vorschläge für einen zentralen „Schiedsgerichtshof" zu einem „Beratenden Ausschuß" ab. Es wurde empfohlen, der Metropolitan einer jeden Provinz solle den Titel eines Erzbischofs annehmen. Die Einrichtung neuer erzbischöflicher Stühle schwächte unvermeidlich jegliche Forderung ab, die für Canterbury gestellt werden könnte. Die Konferenz hieß die Wiederbelebung von Ordensgemeinschaften (-»Mönchtum) und des Amtes der Diakonisse gut. 5. Lambethkonferenz

1908

Die fünfte Konferenz, zusammengerufen von Erzbischof Randall T. Davidson, sah 241 Bischöfe als Teilnehmer. Ihr ging ein Pananglikanischer Kongreß voraus, eine massive Demonstration der Kraft ,englisch-imperialen Anglikanismus', an der jeden Tag 17000 Menschen teilnahmen. Einige Anliegen des 20. Jh. wurden in Lambeth beraten, darunter Ehcproblcme, geistliche Dienste der Heilung, Nachwuchs und Ausbildung des Klerus und Zugehörigkeit zu einem -»Volk als Grundlage für eine Kirche (die Bischöfe verwarfen dies). Alte beliebte T h e m e n wurden pflichtgemäß aufs neue behandelt, wie z . B . nochmalige Beratung der Vertretung auf dem Beratenden Ausschuß, den die Konferenz von 1897 eingesetzt hatte, Wiedervereinigung und I n t c r k o m m u n i o n . Ein vielbeachteter Besucher war B i s c h o f T o t t i e von K a l m a r , der vom Erzbischof von Uppsala entsandt worden war, um den Dialog zwischen den Kirchen von England und Schweden fortzusetzen.

6. Lambethkonferenz

1920

Die Konferenz von 1920 ist oft für die bedeutendste der langen Serie gehalten worden. Ihr „Appell an alle Christen" wurde veröffentlicht im Geist des Optimismus nach dem Ersten Weltkrieg. Erzbischof Randall Davidson saß 252 Bischöfen vor. Die diskutierten Themen spiegeln die dringenden Probleme der Nachkriegswelt wider: Christenheit und internationale Beziehungen (besonders der Völkerbund), Missionen und Verwaltungen, die Rolle der Frauen in der Kirche, Ehe und sexuelle Probleme (Verhütungsmittel wurden verurteilt), der christliche Glaube und Kulte wie Spiritismus (-»Okkultismus), -»Christian Science und -• Theosophie. Siebzig Bischöfe bildeten den Ausschuß zur Wiedervereinigung unter Erzbischof Cosmo Gordon Lang von York. Neue Entwicklungen in Südindien wurden diskutiert (s. T R E 4,192), ein Streit entbrannte aber über die anglikanische Einstellung zu presbyterianischen Weihen. Um aus der Sackgasse zu kommen, schlug

Lambethkonferenzen

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Lang vor, einen Brief an alle Christen - und nicht eine Erklärung an andere Kirchen - zu entwerfen. Der durch Bischof A . C . Headlams Bampton Lectures von 1920 beeinflußte Aufruf verfocht das Leitbild einer geeinten Kirche mit unterschiedlichen Gottesdienstordnungen. Obwohl die Meinung zum Ausdruck kam, daß Bischöfe das beste Mittel seien, Einheit und Kontinuität zu gewährleisten, enthält der Aufruf nicht den Ausdruck „Historischer E p i s k o p a t " - eine Unterlassung, die später von Hochkirchlern kritisiert werden sollte (vgl. T R E 6,688,5ff).

7. Lambethkonferenz

1930

Die Konferenz von 1930, an der 308 Bischöfe unter Vorsitz von Erzbischof Cosmo Gordon Lang teilnahmen, war von allen, die im 20. J h . abgehalten wurden, wahrscheinlich die am meisten am innerkirchlichen Leben interessierte. Diskussionen ergaben sich zur christlichen Lehre von Gott, zu Leben und Zeugnis der christlichen Gemeinde, zur Jugend und ihrer Berufung. Später gab es Klagen darüber, daß die englischen Bischöfe die Sitzungen beherrscht hätten, und Vertreter der Freikirchen ließen vernehmen, daß sie nicht entgegenkommend behandelt worden seien. Die Konferenz von 1930 ging aber über die von 1920 hinaus und erlaubte eine Geburtenkontrolle für Verheiratete in außergewöhnlichen sozialen oder medizinischen Notlagen. Das am kontroversesten diskutierte Thema war das vorgeschlagene Wiedervereinigungsvorhaben in Südindien, das von Anglokatholiken angegriffen, aber mit beträchtlichem Geschick von Erzbischof William -•Temple von York verteidigt wurde.

8. Lambethkonferenz

1948

Dies war unter Vorsitz von Erzbischof Geoffrey Fisher und bei Teilnahme von 329 Bischöfen die Konferenz, in der sich die amerikanischen Bischöfe zum ersten M a l besonders hervortaten. Die Tagesordnung folgte weitgehend der Planung für die eigentlich 1940 abzuhaltende Konferenz. In mancher Hinsicht führt sie die Konferenz von 1930 fort. Während man 1930 die Lehre von Gott diskutierte, erwog man 1948 die christliche Lehre vom Menschen, was relevant scheinen mußte in einer Nachkriegswelt, in der Stalin Osteuropa beherrschte und zum ersten M a l ein Labour-Kabinett in Großbritannien an der Macht war. Die kirchliche Einheit war wiederum Grund zur Kontroverse. Nach etlichen Debatten hieß Lambeth den Weltrat der Kirchen (->Ökumene/Ökumenismus) gut, bei dessen Errichtung einige der Bischöfe in Amsterdam zugegen waren; aber die neu ins Leben gerufene Kirche von Südindien weckte stärkere Emotionen, so daß Lambeth nicht in der Lage war, volle Gemeinschaft mit ihr zu empfehlen. Ein Beratergremium über Missionsstrukturen wie auch ein zentrales College wurden empfohlen.

9. Lambethkonferenz

1958

Diese Konferenz, an der 310 Bischöfe teilnahmen, stand wiederum unter dem Vorsitz von Fisher. Bischof O t t o ->Dibelius aus Berlin war einer der brüderlichen Beobachter, aber die griechisch-orthodoxe Delegation zog sich nach der Kritik an einer Einladung an Erzbischof Makarios von Zypern zurück, den viele in Großbritannien der Unterstützung von Guerillaaktivitäten gegen britische Truppen verdächtigten. Der bedeutendste Bericht war über Die Familie in der modernen Gesellschaft; in ihm wurde die Familienplanung unterstützt. Eine weitere wichtige Äußerung gab es zur Autorität der Bibel, in der der Ausschuß unter Vorsitz von Erzbischof Michael Ramsey von York die Interpretationen eines optimistischen Liberalismus verwarf und stattdessen das Merkmal göttlichen Eingreifens in die Geschichte betonte. Zwei Entwürfe kirchlicher Einheit wurden gebilligt: Mit der Kirche von Sri Lanka wurde volle, mit der Kirche von Nordindien und Pakistan dagegen nur eine beschränkte Gemeinschaft empfohlen. Der Ausschuß über Versöhnung „zwischen und in den Nationen" verurteilte Rassendiskriminierung, konnte sich aber nicht einigen über den Gebrauch von Atomwaffen.

422 10. Lambethkonferenz

Lambethkonferenzen

1968

An dieser Konferenz nahmen 459 Bischöfe teil, zum ersten Mal unter Einschluß von Suffragan- und Hilfsbischöfen; ihr stand Erzbischof Michael Ramsey vor. In einer Zeit außergewöhnlichen Umbruchs war das Thema der Tagung Die Erneuerung der Kirche in Glaube, Amt und Einheit. Es war ebenso eine Zeit dunkler Stimmung in der Kirche. Ein Bischof hat das Treffen beschrieben als „eine sehr unbefriedigende Konferenz" (Brown 217), zum Teil, weil die gestiegene Zahl bedeutete, daß die Bischöfe weit gestreut untergebracht waren. Die Diskussion über den Glauben mußte sich beschäftigen mit der Debatte über Gott, die von John Robinson, Bischof von Woolwich, begonnen worden war. Im Hinblick auf das Amt akzeptierte die Konferenz, man müsse erneut über den Diakonat nachdenken, und forderte stärkere Einbeziehung der Laien bei Beratungen. Als klaren Sieg für die Konservativen weigerte sie sich aber, die Ordination von Frauen zum Priesteramt zu unterstützen. Bei den Vorschlägen zu einer anglikanisch-methodistischen Wiedervereinigung (-»Methodistische Kirchen) kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, als Lukdasa de Mel, Bischof von Kalkutta, einen weiteren Versuch, eine Entscheidung zu verzögern, als „zahnlos, blutlos, farblos" brandmarkte. Diesmal waren es die Konservativen, die unterlagen. Ein Ergebnis der Beratungen über gegenseitige Verantwortung und Abhängigkeit war die Schaffung des Anglikanischen Beirats (Anglican Consultative Council [ACC]), der alle zwei Jahre zusammenkommen sollte.

11. Lambethkonferenz

1978

Diese Konferenz wurde zusammengerufen von Erzbischof Donald Coggan und hatte 400 Bischöfe als Teilnehmer. Zum ersten Mal fanden sie eine gemeinsame Unterkunft auf dem Campus der Universität von Kent. Die Frauenordination war das kontroverseste der diskutierten Themen. Der Anglikanische Beirat hatte 1971 die Sondergründe akzeptiert, die der Bischof von Hongkong für die Ordination zweier Frauen zu Priestern vorgelegt hatte. Seitdem hatten die Provinzen von Neuseeland, Kanada und den USA jeweils einseitig entschieden, mit der Tradition zu brechen und Frauen zu ordinieren. Lambeth akzeptierte die vollendeten Tatsachen und weigerte sich unter dem Einfluß von John Macquarries Auffassung von „einer Hierarchie der Wahrheiten", ein Urteil darüber festzuschreiben; man ersuchte jede Provinz, die Überzeugung der jeweils anderen zu respektieren. Lambeth drückte auch seine Besorgnis aus über die Ausbeutung der natürlichen Vorräte und eine gerechte Verteilung des Reichtums in der Welt. Den Weltrat der Kirchen unterstützte man trotz einiger Kritik an seiner finanziellen Beihilfe für die Patriotische Front in Rhodesien enthusiastisch.

12. Lambethkonferenz

1988

Unter Vorsitz von Erzbischof Robert Runcie nahmen 525 Bischöfe an dieser 12. Konferenz teil. Runcie befürchtete, die Ordination von Frauen stelle für die Gemeinschaft „eine wirkliche und ernsthafte Bedrohung" dar, und wies darauf hin, der Preis der Einheit könne ein gewisser Verlust von Autonomie für die 27 Provinzen sein. Die erste Woche war beherrscht von dieser Thematik, die dadurch entschärft wurde, daß man von der Internationalen anglikanisch-römisch-katholischen Kommission (ARCIC) die Vorstellung der „Akzeptanz" entlieh. Sie verlangt, daß die Frauenordination geduldet wird, während man versucht, in Erfahrung zu bringen, ob die neue Entwicklung von der Gesamtkirche angenommen werden kann. Uber die Zulassung von Frauen zum Bischofsamt wurde ein Kompromiß geschlossen, der erneut die Autonomie der Provinzen bestätigte, aber die Einsetzung einer Kommission über die Beziehungen zwischen den Provinzen forderte, um den Prozeß der Annahme zu erleichtern. Lambeth pflichtete Berichten über verschiedene Dialoge zwischen Anglikanern und anderen Kirchen bei, einschließlich des Schlußberichtes der ARCIC. Diese ekklesiologischen Fragen beanspruchten viel Zeit und Energie und veranlaßten

Lambethkonferenzen

423

die a f r i k a n i s c h e n B i s c h ö f e zu protestieren, da sie viel dringendere m e n s c h l i c h e P r o b l e m e wie Apartheid, R a s s i s m u s , H u n g e r , Flüchtlinge, D r o g e n , A I D S und Schulden der D r i t t e n W e l t verdrängten. D i e T a g e s o r d n u n g wurde g e ä n d e r t , u m ihre Anliegen zu berücksichtigen. E i n e längere D e b a t t e über P o l y g a m i e modifizierte die A n s i c h t der K o n f e r e n z von 1888 und erlaubte, d a ß Polygamisten getauft und gefirmt w e r d e n . L a m b e t h b e j a h t e , d a ß die K i r c h e den O p f e r n von A I D S Unterstützung z u k o m m e n lassen soll, a b e r es herrschte g r o ß e Uneinigkeit zwischen A m e r i k a n e r n und A f r i k a n e r n über H o m o s e x u a l i t ä t . Ein A b s c h n i t t in der E r k l ä r u n g über die christliche H a l t u n g zur G e w a l t , der Verständnis für jene zeigte, die zum bewaffneten K a m p f greifen, w e n n andere M i t t e l , Ungerechtigkeiten zu beseitigen, nicht fruchten, w u r d e v o m E r z b i s c h o f von A r m a g h mit d e m Argum e n t kritisiert, er unterstütze die I r i s c h - R e p u b l i k a n i s c h e A r m e e ( I R A ) ( - + Irland). A u f seine Initiative hin wurde ein A n t r a g a n g e n o m m e n , der alle G e w a l t in N o r d i r l a n d verurteilt. E i n e lange E r k l ä r u n g zum Verhältnis zwischen C h r i s t e n , J u d e n und M o s l e m s wurde a n g e n o m m e n , wie auch Appelle, den Konflikt in der G o l f r e g i o n und im L i b a n o n zu beenden. 13. Die Zukunft

der

Lambethkonferenz

D i e Unzufriedenheit ü b e r die K o n f e r e n z von 1968 ließ F r a g e n nach der Nützlichkeit von L a m b e t h a u f t a u c h e n , die gestellt wurden, sobald die jeweils nachfolgenden Konferenzen a m H o r i z o n t a u f t a u c h t e n . Wechsel bei den Personen h a b e n Änderungen in der F o r m der K o n f e r e n z mit sich g e b r a c h t . Ein Viertel der B i s c h ö f e k o m m t jetzt aus Afrika. N u r 1 0 % k o m m e n aus der K i r c h e von E n g l a n d . Westliches D e n k e n und H a n d e l n d o m i nieren aber weithin. N a c h der K o n f e r e n z von 1988 standen 9 9 % der B i s c h ö f e , die einen F r a g e b o g e n ausfüllten, positiv zur K o n f e r e n z , a b e r m a n w a r allgemein der M e i n u n g , Stil und T a g e s o r d n u n g sollten weniger englisch sein ( C h u r c h T i m e s , 1 8 . 1 1 . 1 9 8 8 ) . Die K o n f e renz veröffentlicht keine E n z y k l i k a mehr, und die A n z a h l der E n t s c h l i e ß u n g e n ist von einem H ö c h s t s t a n d von 131 1958 b e m e r k e n s w e r t zurückgegangen. Ein langgedienter T e i l n e h m e r , B i s c h o f J o h n H o w e , ehemaliger G e n e r a l s e k r e t ä r der Anglikanischen G e m e i n s c h a f t , meint dazu: „ L a m b e t h k o n f e r e n z e n sind weniger b e d e u t s a m g e w o r d e n als sie es w a r e n " (100). Quellen Conference of Bishops of the Anglican Communion, holden at Lambeth Palacc September 2 4 - 2 7 , 1 8 6 7 , London 1867. - Randall T. Davidson, Origin and History of the Lambeth Conferences of 1867 and 1878, with the Official Reports and Resolutions, London 1888. - Walter Hobhouse, A Sketch of the First Four Lambeth Conferences, 1867-1897, London 1908. - Lambeth Conferences (1867-1948), London 1948. - William Stevens Perry, The Second Lambeth Conference. A Personal Narrative, Davenport, Iowa 1879. - The Lambeth Conference 1958, London 1958. - The Lambeth Conference 1968, London 1968. - The Report of the Lambeth Conference 1978, London 1978. James B. Simpson/Edward M . Story, The Long Shadow of Lambeth X . A Critical Eye-Witness Account of the Tenth Decennia I Conference of 462 Bishops of the Anglican Communion, New York 1969. - Trustworthy and True. Pastoral Letters from the Lambeth Conference 1988, London 1988. The Truth Shall Make You Free. The Lambeth Conference 1988, The Reports, Resolutions and Pastoral Letters from the Bishops, London 1988. - Michael Marshall, Church at the Crossroads. Lambeth 1988, London 1988. - Vinay Samuel and Christopher Sugden, Lambeth. A View from the Two-Thirds World, London 1989. Literatur Leslie Brown, Three Worlds - One World. Account of a Mission, London 1981. - Henry Chadwick, Introduction, Communion and Episcopacy. Essays to Mark the Centenary of the ChicagoLambeth Quadrilateral, hg. v. Jonathan Draper, Oxford 1988. - William Redmond Curtis, The Lambeth Conference. The Solution for Pan-Anglican Organization, New York 1942. - Sydney Dark, The Lambeth Conferences. Their History and their Significance, London 1930. - David L. Edwards,

424

Lamennais

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Lambruschini, Luigi

-»Restauration

L a m e c h / L a m e c h l i e d - » B l u t , - » N o m a d e n t u m im Alten Testament Lamennais (de L a Mennais), Hugues 1. Leben und Werk 1. Leben

und

2. Wirkung

Félicité

Robert

(1782-1854)

(Quellen/Literatur S. 426)

Werk

Lamennais - so zeichnete er seit 1 8 3 6 unter Aufgabe seines Adelsprädikats - , dem sich die katholische Erneuerung des 19. J h . in Frankreich in nicht unbeträchtlichem M a ß e verdankt, wurde am 19. Juni 1782 in S a i n t - M a l o geboren. N a c h dem frühen Verlust seiner Mutter wuchs er in der O b h u t seines älteren Bruders J e a n - M a r i e auf, d e m späteren Gründer der Bruderschaft der Frères de l'Institution chrétienne. Bedingt durch die Folgen der Revolution empfing er erst im Alter von 2 2 J a h r e n seine erste K o m m u n i o n . Unter dem Einfluß seines geistlichen Beistandes, des Abbe C a r r o n ( 1 7 6 0 - 1 8 2 1 ) , t r a t er 1816 als Autodidakt, ohne eine theologische Ausbildung an einem Kolleg oder Priesterseminar erhalten zu haben, in den Priesterstand. Ungeeignet für die Aufgaben des pastoralcn Dienstes, widmete er sich einer intensiven schriftstellerischen Tätigkeit, durch die er rasch ein breites Publikum gewann, das ihn in den R a n g eines .neuen Kirchenvaters' erhob. Wahrscheinlich - schlüssige Beweise fehlen - geht d a r a u f a u c h im J a h r e 1826 eine Ernennung zum Kardinal in petto durch L e o XII. zurück. Die ersten beiden Bände seines Essai sur l'Indifférence en matière de Religion, ursprünglich betitelt Esprit du Christianisme (1817 und 1820, insgesamt erschienen 4 Bde. bis 1823) wurden mit großer Begeisterung aufgenommen. Die französischen Katholiken sahen in Lamennais denjenigen, der Voltaire und den Enzyklopädisten im 18. Jh. als Gegenüber gefehlt hatte und der sie auf ihrem eigenen Gebiet widerlegte. Er machte deutlich, daß der vom Individuum aus denkende philosophische Geist im Grunde eine Häresie gegenüber dem Menschengeschlecht darstelle, ja diesem letzten Endes nicht gemäß sei, weil er sich außerhalb der allgemeinen Vernunft (sens commun), des einzigen Wahrheitskriteriums überhaupt, stelle. Dem eine Zeitlang abgewerteten, sogar ins Lächerliche gezogenen Christentum versuchte Lamennais Ansehen und Wertschätzung zurückzugewinnen: Das Christentum vereinige in sich alle der Menschheit je zugeflossenen Bereicherungen, es habe seine Wurzel in der noch vor der Redaktion der beiden biblischen Testamente liegenden Tradition, deren Elemente man verstreut bei den verschiedenen Völkern des Altertums finden könne. Selbst die Heiden trügen durch ihre philosophische und moralische Reflexion zu diesem gemeinsamen Gebäude bei. Das Christentum sei somit nicht mehr eine Religion unter anderen, sondern die Krönung aller geistigen Gesamtkonzeptionen der Menschheit überhaupt. Die Offenbarung sei nicht Bruch, sondern Vollendung. Das Ziel des Essai war es, die individuelle Vernunft einer der Menschheit gemeinsamen allgemeinen Vernunft als Richtschnur der Wahrheit unterzuordnen und sie dazu zu bewegen, sich vor Gott zu beugen. Darüber hinaus hatte es sich Lamennais zur Aufgabe gemacht, durch die Congrégation de St. Pierre, die seit ihrer Gründung 1828 in Malestroit Novizen aufnahm, und deren Generalsuperior er wurde, Frankreich mit einem Klerus zu versehen, der nicht nur in Theologie, Philosophie und

Lamennais

425

Geschichte eine solide Ausbildung genossen hatte, sondern sich auch in den alten und neuen Sprachen, in Mathematik und Physik, den Natur- und Gesellschaftswissenschaften auskannte. Die hier herangebildeten Theologen standen unmittelbar im Dienst des Heiligen Stuhls, dessen Autorität Lamennais in dem vom —»Gallikanismus stark geprägten Frankreich wiederherstellen wollte. Seine 1826 erschienene Schrift De la Religion considérée dans l'ordre politique et civil, die Lamennais Prozeß und Verurteilung eintrug, formulierte einen scharfen antigallikanischen Angriff (-•Ultramontanismus). Die Minderung der Autorität des Papstes bedeute nichts anderes als die geistliche Gewalt in die Abhängigkeit der politischen zu bringen und damit letzten Endes auch die Grundlagen der Gesellschaft zu unterlaufen.

Vor allem als Journalist zeigte Lamennais die ganze Größe seines Talents. Noch während seine religiösen Schriften erschienen, darunter seine Ubersetzung der Imitatio Christi, welche im 19. und 20. Jh. eine breite Leserschaft fand, war Lamennais Mitarbeiter bei den ultraroyalistischen Zeitungen Le Conservateur, Le Défenseur und Le Drapeau Blanc. Sein Engagement im politischen Zeitgeschehen gewann allmählich etwas Prophetisches, wenn er in seinen Artikeln Priester und Bischöfe dazu aufrief, zu einem echten, von Barmherzigkeit und Armut bestimmten Christentum zurückzukehren, und die Katholiken insgesamt aufforderte, ihre Belange von denen des Absolutismus zu trennen und sich der Bewegung anzuschließen, die in den Jahren um 1830 die Völker für ihre Freiheit kämpfen ließ. In seiner Zeitung L'Avenir (1830-1831), die unter dem berühmten Motto „Gott und die Freiheit" erschien, forderte Lamennais die Trennung von Kirche und Staat, Religionsund Gewissensfreiheit, Presse-, Versammlungs- und Unterrichtsfreiheit sowie die Ausweitung des Wahlsystems und Denzentralisicrung. Als er in seiner „Unionsakte" (Acte d'Union) vom 15. November 1831 die im Kampf um ihre Freiheiten stehenden liberalen Katholiken Frankreichs, Belgiens, Irlands, Deutschlands und Polens zu einem weitgefaßten Zusammenschluß aufrief, war ihm selbst nicht bewußt, daß er damit die Führung einer eher politischen als religiösen Bewegung übernahm und mehr als Revolutionär und Agitator in Erscheinung trat, denn als Prophet. Aufgebracht und erschüttert durch die oppositionellen Kräfte, die ihm in Frankreich entgegenschlugen, sprach Lamennais nach seiner zweiten Romreise im Jahre 1832, von wclcher er in den Affaires de Rome vier Jahre später berichtet (seine erste Romreise, auf der er sehr herzlich von Leo XII. empfangen wurde, datiert aus dem Jahre 1824), vom Verrat der Hierarchie und von einer schändlichen Allianz zwischen der Kirche und den Mächtigen dieser Welt. Es steht außer Zweifel, daß die religiöse Krise, in die Lamennais geriet, mehr noch durch die Ereignisse in —»Polen heraufbeschworen und vertieft wurde, als durch die Enzyklika Mirari vos, die im Jahre 1832 seine liberalen Ideen verurteilte, und die Enzyklika Singulari nos, die Lamennais' Schrift Paroles d'un Croyant (1834), einen der größten Bucherfolge des 19. Jh., verdammte. Die grausame Unterdrückung des Aufstandes des katholischen Polen im Jahre 1831 durch russische Truppen und die indirekte Unterstützung, die der sich auf die orthodoxe Kirche stützende Zar Nikolaus I. von Gregor XVI. durch dessen Breve vom 9. Juni 1832 erfuhr (in welchem der Papst die üblen Agitatoren brandmarkte, die ihr Vaterland ins Unglück gestürzt hätten und zum Gehorsam gegenüber den rechtmäßigen Regierungen anhielt), leiteten eine Entwicklung ein, die Lamennais schließlich zum endgültigen Bruch mit Rom führte (vgl. T R E 11,370,38ff). Nach und nach von seinen Anhängern verlassen, zuerst im Dezember 1832 von Lacordaire, dann von Gerbet etc., zog sich Lamennais auf das bretonischc Landgut La Chênaie zurück. Er war fest entschlossen, bis zuletzt dem christlichen Bekenntnis treu zu bleiben, war aber nicht bereit, über Ungerechtigkeiten, deren Zeuge er wurde, zu schweigen. Seine Schriften Livre du Peuple (1837), De la Religion (1841), Esquisse d'une Philosophie (4 Bde., 1840-1846) und sein Evangelienkommentar (1846) plädieren für die Freiheit des aufrichtigen Gewissens, einer tyrannischen Gewalt den Gehorsam zu verweigern, sie betonen die einem jeden Menschen zukommenden Rechte und die Vorrangigkeit einer Gesinnung, die von Liebe getragen wird und frei ist von H a ß und engstirnigem Dogmatismus. Diese Vorstellungen versuchte Lamennais in die Wirklichkeit umzusetzen, als 1848 die Revolution losbrach. Lamennais wurde zunächst Abgeordneter der Assemblée Con-

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Lamennais

stituante, dann der Assemblée Législative, schließlich Journalist der Zeitungen Le Peuple Constituant und Réforme, nachdem er im Jahr 1837 das nur kurz bestehende Blatt Le Monde geleitet hatte. Er starb am 27. Februar 1854. Seine Beisetzung erfolgte am 1. März in dem Gemeinschaftsgrab des Pariser Friedhofs Père Lachaise. Es war sein Wunsch gewesen, so das Los der Unterprivilegierten der Gesellschaft zu teilen. Es war ein tragisches Schicksal, das diesen M a n n traf, der als der „Papst der französischen Romantik" galt, und der die bekanntesten Persönlichkeiten des 19. Jh. zu seinen Freunden zählte, darunter Chateaubriand, Victor Hugo, Lamartine, Sainte-Beuve, Maurice de Guerin, George Sand, Michelet, Quinet, Liszt, David d'Angers, Lacordaire, Rohrbacher, Bore, Montalembert, um nur einige zu nennen. Durch seinen vorbehaltlosen Einsatz für die Freiheit geriet er in Opposition zu den etablierten geistlichen und weltlichen Mächten. Halbheiten und diplomatisches Kalkül verabscheuend, lehnte er es ab, sich auf Kompromisse oder Verrat am eigenen Gewissen einzulassen, getreu seiner Devise: „Je romps et ne plie pas"\ 2.

Wirkung

Lamennais versuchte den seit dem 18. Jh. und der -»Französischen Revolution abgerissenen Dialog zwischen -»Kirche und Welt wiederherzustellen. Sein klarer Blick für die historischen und sozialen Entwicklungen seines Jahrhunderts hatte ihn erkennen lassen, daß Freiheit, Unabhängigkeit und Armut die notwendigen Bedingungen für eine Präsenz der Kirche in der neu gestalteten und sich neu gestaltenden Welt seien. Sein philosophisches System - eine der brillantesten Synthesen seit der mittelalterlichen Scholastik - , das den Ordre de foi, in sich statisch und Garant der Stabilität, und den Ordre de Conception als schlechthin relativ und relativierbar gegenüberstellt, ermöglichte ihm, an eine Versöhnung von Wissenschaft und Glauben zu denken. Da es für ihn keinen Widerspruch zwischen Vernunft und Gott geben konnte, bemühte sich Lamennais, die Gegensätzlichkeiten rational zu lösen, die - wie er meinte - die Philosophie des 18. Jh. zwischen Religion und Wissenschaft, Freiheit und Autorität, weltlicher und kirchlicher Gesellschaft, Natur und Übernatur in überzogener Weise aufgebaut hatte. Aber dieses in seiner existentiellen Analyse des Zeitgeschehens so exzellente System stellte die Art und Weise in Frage, wie der Katholizismus stets und traditionsgemäß die Beziehung von Vernunft und Glauben begriffen hatte.

Die an der Theorie Lamennais' vom sens commun erwachsene Behauptung, daß die Gesellschaft auf den „unwandelbaren Grundsatz von Recht und Pflicht, dieses allen Völkern gemeinsame Gesetz, gegründet sei" und nicht auf ein variables und relativierbares „theologisches oder philosophisches Lehrgebäude", bedeutete andererseits, daß die Kirche in ihrer Bewertung der Tradition ins Unrecht gesetzt und damit gleichzeitig der Begriff der Offenbarung problematisicrt wurde. Hat Lamennais noch an die Gottheit Christi geglaubt, war Jesus für ihn nur „ein Mensch, durch den Gott gesprochen h a t " , ein „inspirierter Prophet" oder aber Gott selbst? Es ist schwierig, dies mit letzter Sicherheit zu beantworten. Jedenfalls verstand sich Lamennais selbst als Jünger Christi in einer Religion der Liebe und des Friedens. Wie Luther und Calvin hat er nie einen Bruch mit der Kirche heraufbeschwören wollen und noch viel weniger wollte er deren Einheit, die er gerade erstrebte, zertrennen. Die Lebensgeschichte Lamennais' ist mehr als eine schlichte Episode der Kirchengeschichte. Wie sich in der Verurteilung -»Galileis das Unverständnis der zeitgenössischen Theologie für die moderne Wissenschaft abzeichnet, so spiegelt die Verurteilung Lamennais' die unvermeidbaren Anpassungsschwierigkeiten einer religiös geprägten Gesellschaft an die Erfordernisse der heutigen Welt. Im Blick darauf hat sie durchaus Symbolwert. Quellen Oeuvres complètes de Lamennais, 11 Bde., Genf 1981 (Reprint der Edition v. Daubrée - C a i l l e u x , Paris 1836/37, die ergänzt ist durch die Original-Edition der Werke von 1854), Neudr. F r a n k f u r t / M .

Landeskirche

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1967. - Correspondance générale de Lamennais, hg. v. Louis Le Guillou, 9 Bde., Paris 1971-1981. La condamnation de Lamennais, hg. v. M . J . Le Guillou/Louis Le Guillou, Paris 1982. Literatur L'Actualité de Lamennais, Straßburg 1981. - Ch. Boutard, Lamennais, sa vie et ses doctrines, 3 Bde., Paris 1905-1913.-Cahiers mennaisiens 1 - 1 7 (1971-1984).- Axel v. Campenhausen, Staat u. Kirchein Frankreich, 1962 (GRWS41). - J . R . Derré, Lamennais, ses amis et le mouvement des idées à l'époque romantique 1824-1834, Paris 1962. - Ders., Metternich et Lamennais, Paris 1963. - F. Duine, La Mennais, sa vie, ses idées, ses ouvrages, Paris 1922. - Ders., Essai de bibliographie de F. R. de La Mennais, Paris 1923. - Johann Finsterhölzl, Die Kirche in der Theol. Ignaz v. Döllingers bis zum ersten Vatikanum. Aus dem Nachlaß hg. v. Johannes Brosseder, mit einem Geleitwort v. Heinrich Fries, 1975 (StThGG 9). - G. Hourdin, Lamennais, prophète et combattant de la liberté, Paris 1982. - K. Jürgensen, Lamennais u. die Gestaltung des belgischen Staates. Der liberale Katholizismus in der Verfassungsbewegung des 19. Jh., Wiesbaden 1963. - T. Kenec'hdu, Lamennais, un prêtre en recherche, Paris 1982. - Jacques Lebrun, Lamennais ou l'inquiétude de la liberté, Paris 1981. - Louis Le Guillou, L'Evolution de la pensée religieuse de Lamennais, Paris 1966. - Ders., „Les Discussions critiques", journal de la crise mennaisienne, Paris 1967. - Ders., Lamennais, Paris 1969. - Ders., Félicité de Lamennais: Gestalten der KG, Bd. 9,1, hg. v. Martin Greschat, Stuttgart u.a. 1985, 187-199. - M . J . Le Guillou/Louis Le Guillou, s.o. Quellen. - Hans Maier, Revolution u. Kirche. Stud. zur Frühgesch. der christl. Demokratie (1789-1901), Freiburg i. Br. 2 1965. - G. Marconi, Félicité Lamennais, Coscienza religiosa e problema sociale, Mailand 1980. - M. A. Rubat du Mérac, Lamennais et l'Italie, Lyon 1978. - M. Mourre, Lamennais ou l'hérésie des temps modernes, Paris 1955. - J. Oldfield, The problem of tolérance and social existence in the writing of F. Lamennais, Leiden 1973. - B. A. Pocquet du Haut-Jussé, La Mennais. L'évolution de ses idées politiques jusqu'en 1832, Rennes 1955. - G. Valerius, Dt. Katholizismus u. Lamennais. Die Auseinandersetzung in der Kath. Publizistik 1817-1854, Mainz 1983 (Lit.). - R. Vallery-Radot, Lamennais ou le prêtre malgré lui, Paris 1931. - L. de Villefosse, Lamennais ou l'occasion manquée, Paris 1945. Louis Le G u i l l o u

Landeskirche 1. Allgemeine Begriffsbestimmung 2. Zur Begriffsgeschichte 3. Historische Begriffsbestimmung 3.1. Vorreformatorische Entwicklungstendenzen 3.2. Das Landeskirchcntum 1526-1555 3.3. 17. und 18. Jahrhundert 3.4. 19. Jahrhundert (bis 1918) 3.5. Neuere Entwicklungen (seit 1918) (Anmerkungen/Literatur S.433) 1. Allgemeine

Begriffsbestimmung

D e r Begriff Landeskirche ist die historisch ü b e r k o m m e n e (Selbst-)Bezeichnung f ü r eine seit d e r R e f o r m a t i o n in D e u t s c h l a n d u n d in d e r - » S c h w e i z e n t s t a n d e n e b e s o n d e r e E r s c h e i n u n g s f o r m d e r „ K i r c h e als I n s t i t u t i o n " 1 , die d a d u r c h g e k e n n z e i c h n e t ist, d a ß die ä u ß e r e n G r e n z e n dieser K i r c h e u r s p r ü n g l i c h m i t e i n e m s t a a t l i c h e n H o h e i t s g e b i e t (z.B. L a n d , K a n t o n 2 , Stadt) z u s a m m e n f i e l e n . Schon in dieser allgemeinen F a s s u n g e n t h ä l t d e r Begriff d i e zusätzliche Aussage, d a ß die O r d n u n g (und m ö g l i c h e r w e i s e a u c h d a s t h e o l o g i s c h e S c l b s t v e r s t ä n d n i s ) d e r so bezeichneten Kirche d u r c h die geschichtliche Beziehung zu d e m jeweiligen T e r r i t o r i u m u n d dessen politischer L e i t u n g m i t g e s t a l t c t u n d g e p r ä g t w u r d e n . K i r c h e n r e c h t s s y s t e m a t i s c h verweist d e r Begriff L a n d e s k i r c h e a l s o auf ein b e s t i m m t e s historisches Beziehungsgcflccht von - » K i r c h e u n d Staat. A u s ekklesiologischer Sicht gesehen, wollen die L a n d e s k i r c h e n in einer g e n a u u m s c h r i e b e n e n R e g i o n als P a r t i k u l a r k i r c h e n d i e ecclesia universalis repräsentieren. A u c h bei Konfessionsgleichheit bleibt d i e einzelne L a n d e s k i r c h e g e g e n ü b e r (angrenzenden) Schwesterkirchen grundsätzlich selbständig. Werden besondere Formen d e r K o o p e r a t i o n z w i s c h e n solchen L a n d e s k i r c h e n v e r e i n b a r t u n d k o m m t es zu Vereinig u n g e n (mit u n t e r s c h i e d l i c h e r R e c h t s - u n d K i r c h e n q u a l i t ä t ; vgl. H a m m e r 337), d a n n w i r d in d e r Regel s o r g f ä l t i g d a r a u f g e a c h t e t , d a ß b e s t i m m t e h i s t o r i s c h g e w a c h s e n e Eigent ü m l i c h k e i t e n d e r einzelnen L a n d e s k i r c h e a u c h im Z u s a m m e n s c h l u ß b e w a h r t bleiben. D e r b i s l a n g n u r g a n z allgemein u m s c h r i e b e n e Begriff e r h ä l t j e d o c h erst d a n n Präg-

428

Landeskirche

n a n z , w e n n seine h i s t o r i s c h e n A u s f o r m u n g s v a r i a n t e n d e u t l i c h h e r a u s g e a r b e i t e t w e r d e n . D e n n d u r c h d i e g e s c h i c h t l i c h e E n t w i c k l u n g h a t d e r S i n n g e h a l t d e s Begriffs e i n e n s t a r k e n Bedeutungswandel erfahren (s.u. 3 . 1 - 5 ) . 2. Zur

Begriffsgeschichte

E i n e b e g r i f f s g e s c h i c h t l i c h e U n t e r s u c h u n g liegt n o c h n i c h t v o r . D e n n o c h l ä ß t sich m i t einiger Sicherheit s a g e n : D a s d e u t s c h e W o r t Landeskirche (ein u r s p r ü n g l i c h l a t e i n i s c h e s Ä q u i v a l e n t g i b t es n i c h t ) ist als k i r c h e n r e c h t l i c h e r T e r m i n u s u n d als S e l b s t b e z e i c h n u n g e i n z e l n e r K i r c h e n e r s t im f r ü h e n 19. J h . a u f g e k o m m e n . E i n e d e n g e m e i n t e n S a c h v e r h a l t b e r e i t s b e z e i c h n e n d e Z u o r d n u n g des W o r t e s „ L a n d " z u m t e r r i t o r i a l b e g r e n z t e n k i r c h e n r e f o r m e r i s c h e n u n d k i r c h e n o r d n e n d e n H a n d e l n findet sich j e d o c h s c h o n in f r ü h e n T e x t e n der Reformatoren. In der Vorrede zum Unterricht der Visitatoren (1528) bezeichnet -»Luther die Anordnung einer -•Visitation „ynn S(einer) K(ur)F(ürstIichen) G(naden) landen" als einen Liebesdienst seines Landesherrn an der Kirche (WA 26,197,27f). In der Vorrede zum -»Augsburger Bekenntnis (sowohl in den Entwürfen -»Melanchthons als auch in der von Kanzler Gregor Brück verantworteten Fassung) heißt es, man wolle dem Kaiser über die Lehre und Kirchcngcbräuche berichten, „so in des Kurfürsten zu Sachsen Landen und Gebieten gefihrt und gehalten werden" (BSLK 35,8f; vgl. 37,8; 46,1). Gelegentlich treten die Worte „ L a n d " und „Kirche" ganz dicht zusammen, ohne allerdings schon das Wort „Landes-Kirche" zu bilden. So heißt es in der Vorrede zum -»Konkordienbuch (1580), man möge aus diesem Werk ersehen, „ d a ß wir in unsern Landen, Kirchen und Schulen keine andere Lehre zu gedulden gemeint" (BSLK 9,26ff; vgl. 1 l,59f; 12,60f). Ganz ahnlich heißt es in der Einleitung zur Kirchenordnung des Kurfürsten August von Sachsen (1580; s. TRE 18,682,24 ff), die hier zusammengestellten Schriften seien „nicht allein unserer landen kirchen und schulen, sondern auch allermcniglich . . . offenbar gemacht" (EKO 1,360). Obwohl derartige Stellen der Sache nach das Vorhandensein rcformatorischer Landeskirchen voraussetzen und beschreiben (Maurer, Kommentar 1,51 — 53. 121-124), ist der geprägte Begriff noch nicht gefunden. In den für das zeitgenössische Verständnis des Landeskirchentums wichtigsten Dokumenten des ausgehenden 18. Jh. - dem Woellnerschen Religionsedikt von 1788 und dem Allgemeinen landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (zu beiden s. T R E 5,499,17-22) - fehlt das Wort Landeskirche immer noch. Erst im Zuge der Neuregelung des Kirchenverfassungswesens nach dem Reichsdeputationshauptschluß (1803) und insbesondere im Zusammenhang mit den Stein-Hardenbergschen Reformen in -»Preußen (nach 1808) kommt der Begriff auf und bürgert sich schnell in offiziellen Dokumenten wie in der theologischen und kirchenrechtlichen Literatur ein (ältester Beleg noch nicht nachgewiesen; man vgl. das Konstitutions-Edikt zur kirchlichen Staatsverfassung des GroßherzogGeistlichen tums Baden vom 14. Mai 1807 [Hubcr/Huber 1,81] und das Gutachten der preußischen Kommission, die Kirchenverfassung betreffend vom 4. Juni 1815 [Foerster 1,319]). -»Schleiermacher benutzt den Begriff in seinen kirchenrechtlichen Arbeiten bis 1813 noch nicht; seit 1821 ist das Wort in seinen Schriften häufig anzutreffen. 3 Im Verlauf des 19. Jh. haben mehrere evangelische Kirchen in Deutschland das Wort Landeskirche in ihre offiziellen Verlautbarungen und in ihre Sclbstbczcichnung aufgenommen (vgl. die „Statistik des deutschen evangelischen Landeskirchentums" bei Kahl 6 2 - 6 4 ) . Von den 28 im Deutschen Evangelischen Kirchenhund zusammengeschlossenen „deutschen evangelischen Landeskirchen" (s. T R E 10,662-665) führten während der Zeit der Weimarer Republik 16 den Begriff auch in ihrem Namen (Hosemann 9f). Von den 17 Gliedkirchen der EKD bezeichnen sich derzeit 7 als Landeskirchen; von den 8 Mitgliedskirchen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR führen drei das Wort Landeskirche in der offiziellen Selbstbezcichnung (s. T R E 7,411,1-6). 3. Historische

Begriffsbestimmung

3.1. Vorreformatorische

Entwicklungstendenzen

In d e r k i r c h e n g e s c h i c h t l i c h e n u n d k i r c h e n r e c h t l i c h e n L i t e r a t u r w e r d e n a u c h v o r r e f o r m a t o r i s c h e K i r c h e n g e b i l d e h ä u f i g als L a n d e s k i r c h e n b e z e i c h n e t . S o h a b e e t w a d i e B e k e h rung der Franken und Westgoten zum Christentum „das Entstehen der Nationalkirchen d e s f ü r d e n g e r m a n i s c h e n Bereich t y p i s c h e n s o g . f r ü h m i t t e l a l t e r l i c h e n L a n d e s k i r c h e n t u m s z u r F o l g e " g e h a b t , „ d a s in e i n e r S y m b i o s e z w i s c h e n K i r c h e u n d w e l t l i c h e r H e r r s c h a f t b e s t e h t " ( F i n k e n z e l l e r : T R E 1 8 , 2 2 7 , 3 7 f f ) . U n t e r - » K a r l d . G r o ß e n sei d a n n a u s d e r „ f r ä n k i s c h e n L a n d e s k i r c h e d i e R e i c h s k i r c h e " h e r v o r g e w a c h s e n (Feine 212). Diese - w e i t

Landeskirche

429

verbreitete - Verwendung des Begriffs Landeskirche für Organisationsformen der Kirche im frühen und hohen Mittelalter ist problematisch: Der mittelalterliche Personenverbandsstaat war trotz der aufkommenden nationalstaatlichen Bestrebungen von der kirchenrechtlichen Auffassung einer „im Sakrament und in der Liebe begründeten Einheit der ecclesia universalis" bestimmt, „wiewohl schon das Unionsdekret des Konzils von Florenz vom 6.7.1439 von der Aufhebung der Trennwand zwischen zwei Kirchen spricht" (Scheuncr 222). Insbesondere aber zeigt die Frühgeschichte des -»Gallikanismus, daß die Ansätze zu nationaler Selbständigkeit in kirchlichen Angelegenheiten nur Teilbereiche des Kirchenwesens betrafen. Sie waren als Abwehr- und Einschränkungsmaßnahmen gegen eine weitere Ausdehnung kurialer Zentralisation der geistlichen Gerichtsbarkeit und der klerikalen Privilegien gerichtet. In zahlreichen Fällen handelten die Landesherren (Fürsten oder Magistrate) in Notsituationen, wenn etwa Abteien dringliche Klosterreformen versäumten oder Bischöfe Stellenbesetzungen unerledigt ließen. Rechtliche Grundlagen für ein solches Eingreifen in kirchliche Belange, das sogar bis zur Anordnung von -»Visitationen reichen konnte, boten den Landesherren verschiedene Einzelbefugnisse, die sich noch bis in das Spätmittelalter hinein aus dem alten -»Eigenkirchenwesen ableiteten (vgl. auch T R E 19,123,43 ff) oder im Patronatsrecht (-»Patronat) und im generellen Schutzrccht der Kirchenvogtci (-»Vogtei; advocatia ecclesiae) wurzelten. Alle diese Ansätze und Entwicklungstendenzen haben dazu beigetragen, d a ß es um die Wende des 15. J h . ein vorreformatorisches , L a n d e s h e r r l i c h e s K i r c h e n r c g i m c n t ' g a b , dessen wichtigste Elemente waren: Verstärkung des Einflusses des Landesherren a u f die Besetzung kirchlicher Ämter; Eingriffe in die Kontrolle und Visitation der Klöster (s. Schulze); Einschränkung der räumlichen und sachlichen Zuständigkeit der geistlichen Jurisdiktion zugunsten der eigenen Gerichtsbarkeit und Zugriff auf die kirchlichen Finanzen (landesherrliche Besteuerung der Geistlichen; Anteil am kirchlichen Zehnten und an den Erträgen des Ablasses). Dieses vorreformatorische Kirchenrcgimcnt der Landesherren kann jedoch noch nicht mit jener umfassenden Verantwortungsübernahme in kirchlichen Fragen in eins gesetzt werden, die in der M i t t e des 16. J h . möglich wurde.

3.2. Das Landeskirchentum

1526—1555

Die Rechtsgrundlage fiir die Errichtung von Landeskirchen schuf 1526 der 1. Reichstag von Speyer (-»Reichstage der Reformationszeit), der Fürsten und Magistraten gestattete, in der Durchführung des Wormser Ediktes so zu verfahren, „wie ein jeder solches gegen Gott und kaiserliche Majestät hoffet und vertrauet zu verantworten" (Ney 5). Diese Formel bedeutete keineswegs die Setzung eines ins reformandi für die Reichsstände, sondern sie wollte als ein Aufschub fiir die strittige Religionsfrage verstanden werden. Tatsächlich kam es aber aufgrund dieses Beschlusses zu den ersten Kirchen- und Schulvisitationen und damit zu einer umfassenden Neuorganisation des Kirchenwesens und zur Gründung der ersten reformatorischen Landeskirchen. Die Landesherren nahmen das ihnen interimistisch zugesprochene - » K i r c h e n r e g i m e n t dazu in Anspruch, in insgesamt sechs Bereichen das Kirchenwesen in ihrem Territorium verbindlich neu zu ordnen (zu den kirchlichen Finanzen vgl. T R E 1 8 , 5 6 9 - 5 7 2 ) : 1. Festigung der Lehrgrundlagc; 2. N e u o r d n u n g des Gottesdienstes; 3. Sicherung der Versorgung der Gemeinden mit tüchtigen Pfarrern ( - » A m t / Ä m t e r / A m t s v e r s t ä n d n i s VI); 4. M a ß n a h m e n zur H e b u n g des - » S c h u l w e s e n s ; 5. Neuregelung der - » A r m e n f ü r s o r g e ; 6 . Neugestaltung der Rechtsverhältnisse in der Kirche (hierzu Sprengler-Ruppenthal: T R E 1 8 , 6 8 6 - 6 9 9 und R a b e 243).

Diese Neuordnungen sind keineswegs überall gleichzeitig oder mit gleicher Intensität durchgeführt worden. Dennoch war die prinzipiell in alle Bereiche des kirchlichen Lebens eingreifende Reformarbeit die Voraussetzung für das Entstehen der reformatorischen Landeskirchen, die bei gleichzeitiger Aufhebung der alten Bistumseinteilungen nun mit dem weltlichen Territorium flächengleich waren. Der Begriff Landeskirche bezeichnet jetzt die in einem Territorium allein anerkannte, im Grundsatz alle Landesangehörigen umfassende öffentliche Kirchenorganisation.

Landeskirche

430

In den Jahren bis zum 2. Reichstag von Speyer (1529) entstanden außer in Kursachsen (vgl. T R E 19,60,28ff) derartige Landeskirchen in -»Preußen (1528; nach Hubatsch 1,35-63 die „erste deutsche evangelische Landeskirche"), im fränkischen Brandenburg unter Georg dem Frommen (1528; s. T R E 7,132,34ff), in Braunschweig-Lüneburg unter Herzog Ernst dem Bekenner (1527/28; s. T R E 14,439,14f), in der Grafschaft Mansfeld unter Albrecht VII. und Gebhardt VI. (1526/28) und in -•Schleswig-Holstein unter Prinz Christian (1527/28). In -»Hessen wurde im Oktober 1526 ein synodales Beratungsorgan in die Neuordnungsvorgänge eingeschaltet, aber aufgrund einer Mahnung Luthers erfolgte die Bildung der Hessischen Landeskirche in den Jahren 1526/29 dann doch durch Einzelentscheidungen des Landesherrn (-»Philipp von Hessen; vgl. T R E 15,266,9ff). Die Entwicklung in den Städten (-»Reichsstädte) ging weithin nach eigenen Gesetzen voran (Moeller; Press: SVRG 194 [1983] 78f; Rabe 2 3 7 - 2 4 7 ) . Der für das Ergebnis dieser „Stadtreformation" in die Literatur eingeführte Begriff Stadtkirchentum hat sich noch nicht durchsetzen können.

Der -»Augsburger Religionsfriede (1555) wandelte das zunächst als Notrecht aufgefaßte Kirchenregiment der Landesherren in ein ordentliches Reichsrecht um. Dem laikalen Landesherrn steht nun in aller Form das ius reformandi zu, die Befugnis, den Konfessionsstand des Territoriums und damit der Landeskirche festzulegen, unabhängig von allen anderen Kirchengewalten. „Die Folge war, daß die universalkirchliche Zuordnung der territorialen Kirchen, die durch die Einbeziehung des Kirchenwesens in die Reichsvcrfassung theoretisch noch fortbestand, als rechtlich relevantes Element entfiel" (Pirson 1956). Die Landeskirchen begannen sich unterschiedlich zu entwickeln und gewannen jene charakteristische individuelle Prägung, die für ihr langes Bestehen von großer Bedeutung ist. Die enge Verflechtung mit dem Staatsorganismus brachte es mit sich, daß viele Gestaltungsimpulse von außen auf die Landeskirche zukamen. Die Landeskirche selber besaß keine eigene Rechtspersönlichkeit und kein Organ, das die Willensbildung von der Gemeinde her hätte fördern können (zur grundsätzlichen Kritik vgl. M. Heckel, GS 1,89-96). Doch die dem Augsburger Religionsfrieden inkorporierten Konzessionen des ius emigrandi und der Declaratio Ferdinandea (s. T R E 4,642,8 ff) signalisierten bereits im Jahre 1555 einen bevorstehenden Wandel im Grundverständnis des Wesens einer Landeskirche. 3.3. 17. und 18.

Jahrhundert

Bereits im ausgehenden 16. Jh. war ein Grundprinzip des Landeskirchcntums in der Praxis vielfach durchbrochen worden, die Vorstellung nämlich, daß alle Einwohner eines Territoriums Mitglieder der einen Landeskirche seien. In vielen deutschen Ländern und Städten lebten religiöse und konfessionelle Minderheiten, deren rechtlicher Status von den politischen Obrigkeiten allerdings sehr unterschiedlich festgelegt wurde. Aber auch die theoretisch behauptete bekenntnismäßige Einheit von Obrigkeit und Einwohnerschaft war inzwischen durchbrochen worden. Als Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg 1613 aus persönlichen Gründen vom Luthertum zum reformierten Bekenntnis übertrat - also seine eigene Landeskirche verließ schlössen sich die Stände und das Volk diesem Schritt nicht an. Vielmehr zwangen Unruhen und andere Formen des Widerstandes den Landesherrn, durch die Confessio Sigismundi (1614) und durch zusätzliche Erklärungen das lutherische Bekenntnis als erste Landeskonfession neben dem reformierten Glauben bestehen zu lassen. Seither „war Brandenburg ein paritätischer protestantischer Landesstaat, in dem der Grundsatz ,Cuius regio, eius religio' nicht mehr galt" (Heinrich: T R E 7,114,21 ff).

Der -»Westfälische Friede von 1648 gab den Minderheiten der seit der Reformation bestehenden Konfessionskirchen in den einzelnen Territorien eine rechtlich gesicherte Stellung, indem er ihnen den Schutz einer reichsrechtlich garantierten -»Toleranz zusprach. Wie unterschiedlich diese Tolerierung der konfessionellen Minoritäten in der Praxis auch immer ausfiel:der „Begriff" Landeskirche hatte seither seine ursprüngliche Bedeutung verloren und mußte mit einem neuen Sinngehalt versehen werden. Durch Erbfolge (z. B. in der -»Pfalz [1685]) und durch den Übertritt des Landesherrn zum Katholizismus (z.B. in -»Sachsen [1687]; in -»Württemberg [1733]; in Hessen-Kassel [1754; s. T R E 15,271,44ff]) erhielten im Verlauf des 17. und 18. Jh. mehrere evangelische Landeskirchen katholi-

Landeskirche

431

sehe Obrigkeiten. Nach dem geltenden Reichsrecht konnten diese die bestehenden Landeskirchen nicht beseitigen, wohl aber war es möglich, innerhalb eines Territoriums de facto mehrere Landeskirchen zu errichten. Durch das Woellnersche Religionsedikt wurden zum ersten Mal in Preußen 1788 das lutherische, das reformierte und das katholische Bekenntnis gleichrangig als die „drey Hauptconfeßionen der christlichen Religion . . . in Unsern sämmtlichen Landen . . . geschützt" (Hubatsch 111,254). Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten erklärte 1794 diese Konfessionen zu „vom Staate ausdrücklich aufgenommenen Kirchengesellschaften" und verlieh ihnen „die Rechte privilegirter Corporationen" (ALR T . l I . T i t . l l § 17: Huber/Huber 1,4). Obgleich der Begriff in beiden Texten nicht vorkommt, kann man davon sprechen, daß es nun in Preußen drei Landeskirchen gab (Gescher 762).

Die neue Bedeutung, die der „Begriff" Landeskirche im ausgehenden 18. Jh. erhält, wird durch die öffentlich-rechtliche Privilegierung dieser Kirchen durch den Staat bestimmt. Der „Begriff" Landeskirche bezeichnet jetzt diejenige(n) Kirche(n), die gegenüber den nur privatrechtlich nach Vereinsart organisierten oder bloß geduldeten religiösen Gemeinschaften einen besonderen Schutz und vor allem eine besondere Förderung durch den jeweiligen Staat erhalten. 3.4. 19. Jahrhundert

(bis

1918)

Im Verlauf des 19. Jh. ist die öffentlich-rechtliche Privilegierung der evangelischen Landeskirchen in den traditionell protestantischen Ländern Deutschlands weiter ausgebaut und rechtlich gesichert worden. Die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 garantierte die bürgerliche Gleichberechtigung der Angehörigen der drei christlichen Hauptkonfessionen und forderte die „bürgerliche Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens in Deutschland" (BA Art. 16: Huber/Huber 1,115; Boldt 207). Auf dieser Grundlage sind in den konstitutionellen Verfassungen der deutschen Länder (-»Konstitutionalismus) Parität und Gleichbehandlung der drei christlichen Konfessionen für das jeweilige Territorium zugesichert worden. Diese Entscheidung führte charakteristischerweise jedoch nicht zu einem Nebeneinander von drei Landeskirchen, das sich im ausgehenden 18. Jh. noch andeutungsweise abgezeichnet hatte. Vielmehr wurde das erst jetzt aufkommende Wort Landeskirche (s.o. 2) ausschließlich der Kirche zuerkannt, als deren Summepiscopus sich der Landesherr vornehmlich verstand. Zwei Entwicklungen förderten diesen - geradezu exklusiven - Gebrauch des Begriffs: 1. Durch die 1817 neu einsetzenden Bemühungen um eine Union zwischen Reformierten und Lutheranern (-•Unionen, Kirchliche; vgl. T R E 10,678,15 ff) wurden die Inhaber des Landesherrlichen Kirchenregiments davon entlastet, ein Nebeneinander von zwei protestantischen Landeskirchen in ihrem Territorium dulden zu müssen. Unter den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des aufkommenden Pluralismus und der zunehmenden -»Säkularisierung konnte die eine Landeskirche als Prinzip einer einheitlichen kirchlichen Ordnung stabilisierend wirken. Der Landeskirche wuchs auf diese Weise eine über die innerkirchlichen Aufgaben im engeren Sinne hinausgehende Integrationsfunktion z u . - 2 . Die „synodale Verfassungsdiskussion des 19. J h . " (Ris 1 7 7 - 2 1 8 ) führte in einem langwierigen Prozeß zu einer teilweisen Lösung der evangelischen Landeskirchen aus dem Staatsapparat; es entstand ein gemischtes System, in dem ein Gleichgewicht konsistorialer und synodaler Elemente angestrebt wurde (s. Landau: T R E 19,151,31 ff). Auch bei diesem Vorgang konnte das Festhalten an der Idee einer einheitlichen Landeskirche integrativ wirken und einen drohenden Bruch zwischen der vom -»Liberalismus favorisierten Synodalbewegung (-»Synodalverfassung; -»Synode) und dem konsistorialen Kirchenregiment (-»Konsistorium) vermeiden helfen, weil sich beide Seiten mit vielen Eigentümlichkeiten der geschichtlich herangewachsenen Landeskirche identifizieren konnten. Auch in diesem Zusammenhang wuchs der Landeskirche eine Integrationsaufgabe zu.

Im Verlauf des 19. Jh. hat es mehrere Veränderungen der Grenzen von Landeskirchen gegeben, die durch politische Gebietsneuordnungen veranlaßt wurden. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts führte der Landesherr die Gebietskirche eines Eingliederungsgebietes noch unangefochten dadurch seiner Landeskirche zu, „daß er sie in die Kirchenregiments-Organisation seines Landes einfügte" (K. Müller 17). Dieses Verfahren erwies sich bei den Neuerwerbungen des preußischen Staates von 1866 als undurchführbar. Die Kirchen von Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt a . M . be-

432

Landeskirche

hielten ihre Selbständigkeit und wurden nicht in die preußische Landeskirche inkorporiert (Besier 340.424). Damit deutete sich das Ende der Zeit an, in der das Landeskirchentum als das Prinzip einer einheitlichen kirchlichen Ordnung im Territorialstaat verstanden werden konnte. Die Bedeutung des Begriffs Landeskirche reduzierte sich also schon vor 1918 staatskirchenrechtlich auf die Privilegierung der Landeskirchen durch den Staat und kirchenrechtlich auf die Beschränkung der einzelnen Landeskirche auf ein umgrenztes Gebiet, das mit dem des Staates nicht mehr identisch sein mußte (K. Müller 34). 3.5. Neuere

Entwicklungen

(seit 1918)

Nach dem Fortfall des Landesherrlichen Kirchenregiments durch den Thronverzicht der deutschen Fürsten im November 1918 verlor der Begriff Landeskirche endgültig seine staatskirchenrechtliche Legitimation. Nach Art. 137 Abs. 5 der Weimarer Reichsverfassung war es den Landeskirchen grundsätzlich freigestellt, die bisherige Bindung an ein Territorium aufzugeben und sich zu einem neuen „Verband" zusammenzuschließen, der die Rechtsstellung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft erhalten konnte. Von diesem Angebot ist in der Zeit der Weimarer Republik bis auf geringfügige Ausnahmen (-»Thüringen) kein Gebrauch gemacht worden. Vielmehr gaben sich die Landeskirchen in den folgenden Jahren neue Verfassungen (Giese/Hoscmann), in denen der Begriff Landeskirche ausdrücklich festgeschrieben wurde. An die Stelle des ursprünglichen Territorialprinzips trat eine geschichtliche Begründung des Landeskirchcntums, die in den Präambeln der neuen Verfassungen oft durch die Wendung zum Ausdruck gebracht wurde, man erlasse diese Kirchenverfassung „getreu dem Erbe der Väter". In der Zeit zwischen 1933 und 1945 (-»Nationalsozialismus und Kirchen) haben von völlig unterschiedlichen theologischen bzw. ideologischen Voraussetzungen her sowohl die -»Deutschen Christen als auch die Bekennende Kirche die herkömmliche Gliederung des deutschen Protestantismus in der Gestalt von Landeskirchen in Frage gestellt. Trotzdem ist es auch nach 1945 zu keiner wirklich tiefgreifenden Veränderung des Bestandes und des Umfangs der Landeskirchen gekommen, obwohl sich schon damals und weiterhin nur im Ausnahmefall die Grenzen einer Landeskirche mit den Grenzen der seit 1949 neu entstandenen deutschen Länder deckten (z. B. -»Bayern). Eine wie auch immer geartete Definition des Begriffs von territorialen Gegebenheiten her ist - zumal nach den Bevölkerungsbewegungen der Nachkriegszeit (-»Flucht) - unzureichend. Die gegenwärtige Bedeutung der Landeskirchen kann man wohl nur rein pragmatisch oder mit historischen und theologischen Argumentationsreihen begründen. Bei einer historischen Begründung wäre sichtbar zu machen, welche besonderen geschichtlich herangewachsenen Traditionen das Profil der jeweiligen Landeskirche bis in die Gegenwart hinein so unverwechselbar prägen, daß ein Verzicht auf diese Gestalt der „Kirche als Institution" einer Verarmung des Erscheinungsbildes der Gesamtkirche gleichkäme. Solche Nachweise haben bemerkenswerterweise bei der fast zehnjährigen Debatte über die Strukturreform der EKD kaum eine Rolle gespielt, obwohl das Scheitern des Reformversuchs auf die Besorgnis zurückgeführt werden muß, es drohe eine Nivellierung der in den Landeskirchen bewahrten lebendigen Vielfalt des reformatorischen Erbes. Eine theologische Bestimmung der gegenwärtigen Bedeutung des Landeskirchentums in Deutschland kann nur im Zusammenhang mit der Erörterung der Frage nach dem Wesen und dem besonderen Auftrag der -»Volkskirche gegeben werden (vgl. die Problemanalyse bei Härle: T R E 18,306,20-308,37). Wenn es den Landeskirchen gelingt, den Unitarismus der Volkskirche vielfach aufzubrechen und aufzugliedern, dann können sie dazu beitragen, daß die viva vox evangelii - die allein Kirche begründet, erhält und durch die Zeit trägt - möglichst lebendig und vielgestaltig verkündigt wird. In dieser Perspektive gesehen, liegt möglicherweise die besondere theologische Aufgabe der Landeskirchen „als Hüterinnen geschichtlich gewachsenen Lebens" (Maurer, Ende des Landeskirchentums? 472).

Landeskirche

433

Anmerkungen 1

2

3

Zu den systematisch-theologischen und semantischen Aspekten dieser Formel vgl. Härle: T R E 18,278,15-281,14. In der Schweiz sind die Begriffe Kantonalkirche und ILandeskirche zugleich in Gebrauch; vgl. Handbuch der Reformierten Schweiz, hg. v. Schweizerischen Protestantischen Volksbund, Zürich 1962; Gotthard Schmid, Die evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich, Zürich 1954; Hans Heinrich Schmid, Umbau der Kirche. Die Revision der Zürcher Kirchengesetzgebung 1943-1967 aus der Sicht eines ihrer Väter: Gotthard Schmid, Zürich 1988, 40f. 72f. Ein kleiner Diskurs über den Unterschied zwischen einer Landeskirche und einer Hofkirche findet sich: [F.D.E. Schleiermacher], Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift. Luther in Bezug auf die neue preußische Agende. Ein letztes Wort oder ein erstes, Leipzig 1827, 70. Literatur

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434

Lanfrank von Bec

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Joachim Mehlhausen

Landwirtschaft -•Bauerntum, -»Wirtschaft Lanfrank von Bec (ca. 1. Leben

2. Schriften

1010-1089) 3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 435)

1. Leben Lanfrank wurde ca. 1010 als Sohn einer eingesessenen städtischen Familie in Pavia geboren. Sein Vater war Mitglied des Stadtgerichtes, Lanfranks eigene Geltung als Rechtsgelehrter dagegen ist kaum festzumachen. Ordericus Vitalis (1075—1142) rühmt zwar, möglicherweise in Aufnahme einer älteren normannischen Überlieferung, seine juristische Gewandtheit und Argumentationskraft, doch erst im späten 12. Jh. wird er von einem anderen normannischen Chronisten, Robert von Torigny (gest. 1186), als Rechtslehrer zusammen mit Irnerius von Bologna (ca. 1055 - nach 1125) aufgeführt. Gegen 1030 hatte Lanfrank Italien für dauernd verlassen. Nach einem Jahrzehnt der Tätigkeit als Grammatik-, Logik- und Rhetoriklehrer im Loiretal und in der Normandie (und möglicherweise noch anderwärts in Nordfrankreich) hatte er ein Bekehrungserlebnis und trat daraufhin 1042 in die neubegründete Einsiedlergemeinschaft von Bec im Bistum Roucn ein. Als deren Prior (1045-1063) hat er zu ihrer geistlichen wie wirtschaftlichen Fundierung beigetragen. Er beschaffte Geldmittel durch Aufnahme externer Schüler in die Klosterschulc und lernte seinerseits, Mönch zu sein. In seinen Lehrplan bezog er die Schriftauslegung ein, indem er biblische und patristische Beispiele zur Erläuterung grammatischer und rhetorischer Fragen heranzog. Auf diese Weise erläuterte er den Psalter und die paulinischen Briefe. 1059 trat Anselm von Aosta (-»Anselm von Canterbury) in Bec ein; er sollte der berühmteste unter Lanfranks zahlreichen Schülcrn werden. 1049/50, zu der Zeit, als -»Leo IX. die Abendmahlslehre -»Berengars von Tours untersuchen ließ, weilte Lanfrank für nahezu ein Jahr am päpstlichen Hof. Seine eigene Rechtgläubigkeit war zwar alsbald bestätigt, doch die zentrale Frage, wie die Elemente bei der Konsekration gewandelt werden, blieb. Zur Fortführung der Auseinandersetzung darüber steuerte er Anfang der sechziger Jahre seinerseits die Abhandlung De corpore et sangnine domini bei. Sie ist eine Satz für Satz einem verlorenen Werk Berengars entgegentretende Aufreihung herkömmlicher patristischer Belegstellen. Ein Abschnitt jedoch (c. 18) bringt die aristotelische Lehre von Substanz und Akzidenz zur Sprache. Diesen versuchsweisen und vielleicht rein analogisch gedachten Rückgriff Lanfranks auf -»Aristoteles sollten spätere Theologen zur Transsubstantiationslehre fortbilden. 1063 wurde Lanfrank Abt von St. Stephan, einer der beiden Klostergründungen in dem zur Hauptstadt Herzog Wilhelms von der Normandie (1035—1087) sich entfaltenden Caen. Hier in Caen fiel auch Wilhelms Entscheidung zum Einfall nach —»England 1066. Nach erfolgter Sicherstellung der normannischen Eroberung des Landes wurde die Regelung seiner kirchlichen Verhältnisse in erheblichem Umfang von Lanfrank geleitet. Er selbst wurde Erzbischof von -»Canterbury (1070-1089) und blieb Ratgeber des Herzogs und nunmehrigen Königs von England Wilhelm. 1072 sicherte er sich die Primatialrechte gegenüber Erzbischof Thomas von York und die gleichermaßen bedeutsame Eingliederung der Bistümer Worcester, Lichfield und Dorchester-on-Thames (welches letztere bald nach Lincoln verlagert wurde) in die Kirchenprovinz von Canterbury. Durch ein Diplom Wilhelms des Eroberers wurden diese Rechte bestätigt. Während der Abwesenheit des

Lanfrank von Bec

435

Königs in Frankreich hielt Lanfrank 1075 eine größere Synode, die unter anderem die Verlagerung dreier Bischofssitze seiner Kirchenprovinz, nämlich des von Selsey nach Chichester, des von Sherbourne nach Old Sarum (Salisbury) und des von Lichfield nach e h e s t e r verfügte. Während der gefährlichen Erhebung der Baronie im gleichen J a h r trat er zudem als „Justitiar", als vornehmlichster Vertreter des Königs auf. Dieses Bündnis von König und Erzbischof hatte bis zum Tode Wilhelms des Eroberers (1087) festen Bestand und dauerte auch unter Wilhelm Rufus ( 1 0 8 7 - 1 1 0 0 ) an, für dessen Thronfolgeanspruch Lanfrank während der Erhebung der Baronie von 1088 eintrat. Der päpstliche Einfluß in England nahm von der Unterstützung Wilhelms des Eroberers mit einem päpstlichen Banner 1066 und der Entsendung von Legaten 1070 durch -»Alexander II. über den fehlgeschlagenen Versuch -»Gregors VII., von Wilhelm den Lehnseid zu erhalten (1080), bis zu einer geflissentlichen Uneindeutigkeit Lanfranks hinsichtlich der Anerkennung des Gegenpapstes Clemens III. (Brief 52: 1080/85) rapide ab. Als Erzbischof war Lanfrank von Amts wegen zugleich auch Abt des Domklosters von Christ Church in Canterbury. Er hat die Kathedrale und das Kloster wieder aufgebaut, das Grundvermögen der Gemeinschaft wiedergewonnen und ihre Einkünfte gesichert, so wie er es auch für Bec getan hatte. Seine Konstitutionen regelten ihr gottesdienstliches und klosterinternes Leben. Am 28. M a i 1089 ist Lanfrank gestorben. 2.

Schriften

Aus Lanfranks weltlicher Lehrtätigkeit ist praktisch nichts erhalten, und - mit Ausnahme des Kommentars zu den paulinischen Briefen - nur sehr wenig ist von seiner Kirchenväter- und Bibelerklärung überkommen (Gibson 2 3 9 - 2 4 1 ) . Seine Abhandlung De corpore et sanguine domini erfuhr von 1528 bis 1618 mindestens zehn Ausgaben. Seine monastischen Konstitutionen wurden 1626 gedruckt und liegen jetzt vor in der Ausgabe von David Knowles, London 1951 (Nelson's Medieval Classics), Nachdruck mit erweiterter Einleitung von Kassius Hallinger, 1967 (CC Mon.III). Die Briefe wurden zuerst 1648 von d'Achcry im Druck herausgebracht (s.u.); kritische Ausgabe von Helen Clover und Margaret Gibson, 1979 ( O M T ) . Die grundlegende Gesamtausgabe der erhaltenen Schriften ist die von Luc d'Achcry, Beati Lanfranci Cantuariensis Archiepiscopi Opera Omnia, Paris 1648, mit einzelnen Änderungen nachgedruckt von J o h n Allen Gilcs, Oxford/Paris 1844 sowie unabhängig davon in PL 150, Paris 1854. 3.

Wirkung

Das Gedächtnis Lanfranks hat zu Recht lange in Canterbury fortgelebt, seine ungeteilte Ergebenheit dem König gegenüber jedoch konnte von seinen Nachfolgern, die der päpstlichen Politik wie dem internationalen Kirchenrecht Rechnung zu tragen hatten, nicht beibehalten werden. Gleichermaßen ist auch sein wissenschaftliches Werk schnell in den Hintergrund getreten mit Ausnahme des Abendmahlstraktates, der gelegentlich als Beleg dafür angeführt wurde, daß ein angesehener Erzbischof im „richtigen" theologischen Lager gestanden hatte. Quellen Das zuverlässigste Zeugnis bietet die Vita Herluini (des ersten Abtes von Bec) von Gilbert Crispin (ca. 1046-1117): The Works of Gilbert Crispin Abbot of Westmister, hg. v. A.S. Abulafia/G.R. Evans, 1986 (ABMA 8). Ergänzend dazu steuert die anonyme, ca. 1140-1056 wahrscheinlich in Canterbury entstandene Vita Lanfranci (PL 150,19-58) wesentliches Material aus mündlicher Uberlieferung bei. Für Lanfranks erzbischöfliche Amtszeit sind in erster Linie seine Briefe sowie zeitgenössische und spätere Chronisten heranzuziehen (Gibson 205 -225). Literatur Frank Barlow, The English Church 1066-1154, London 1979 (Lit.). - Margaret Gibson, Lanfranc of Bec, Oxford 1978 (Lit.). - Richard William Hunt, Studies on Priscian in the eleventh and twelfth centuries: MRSt 1 (1943) 194-231. - Gary Macy, The Theologies of the Eucharist in the

436

Lange

Early Scholastic Period, Oxford 1984. - J e a n de Montclos, Lanfranc et Bérénger. La controverse eucharistique du XI® siècle, Louvain 1971. - Beryl Smalley, La Clossa Ordinaria quelques prédécesseurs d'Anselme de Laon: R T h A M 9 (1937) 3 6 5 - 4 0 0 . - Richard William Southern, The Canterbury Forgeries: EHR 73 (1958) 1 9 3 - 2 2 6 .

Margaret Gibson Lange, Ernst

(1927-1974)

1. Leben und Schriften

1. Leben

und

2. Eigenart und Wirkung

(Quellen/Literatur S.439)

Schriften

Ernst Lange wurde am 1 9 . 4 . 1 9 2 7 in München geboren. Seine jüdische Mutter war Ärztin, sie starb 1937 durch Suizid; der Vater, seit 1930 Professor für Psychiatric in Breslau, starb 1938. Unter zunehmendem Druck der Illegalität mußte Lange die Schule 1943 abbrechen und arbeitete bis Kriegsende als Optikerlehrling in Berlin; dort machte er 1946 Abitur. Er studierte bis 1950 Theologie in Berlin und Göttingen und wurde Vikar im Berliner Landesjugendpfarramt ( 1 9 5 0 - 1 9 5 2 ) . Seit 1954 war er Lektor im Burckhardthaus-Verlag (Gelnhausen) und zugleich Dozent am dortigen Seminar für Gemeindehelferinnen. Er publizierte bereits seit 1951 eine Vielzahl von Auslegungen und Praxishilfen für die Jugendarbeit sowie einige Laienspiele (vgl. Liedtke: PTh 76). 1957 erschien eine höchst erfolgreiche Jugendethik: Von der Meisterung des Lebens. Im Kontext der Jugendarbeit standen auch die bereits im Studium begonnenen ökumenischen Aktivitäten; 1954 war Lange Delegierter bei der Zweiten Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen ( Ö R K ) in Evanston und nahm in der Folge an einer Reihe weiterer internationaler Begegnungen teil. In seinem bekanntesten Laienspiel Halleluja, Billy (1956) verarbeitete er die Begegnung mit der East Harlem Protestant Parish, einer christlichen „Dienstgruppe" in den städtischen Elendsgebieten der USA. Im Zusammenhang mit der ökumenischen Theologie der „missionarischen Verkündigung" führten diese Erfahrungen zur Planung eines „kirchlichen Experiments", das angesichts der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse neue Formen der Gemeindearbeit erproben sollte. In Gestalt der „Ladenkirche" wurde dieses Projekt von Lange und einigen Freunden ab 1960 in BerlinSpandau realisiert; es hat der —• Kirchenreform in Deutschland wichtige Impulse gegeben. Langes Leitvorstellungen und deren Wandlung unter dem Eindruck der parochialen Praxis dokumentieren sich in der wesentlich von ihm verfaßten Bilanz 65 (vgl. Edition Ernst Lange [EEL] 2,66ff). Die deutlichsten Unterschiede gegenüber der herkömmlichen Parochie bestehen in einer flexiblen und dialogischen Gestaltung des Gottesdienstes sowie in einer differenzierten Bildungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen (vgl. auch Butenuth). In allgemeinerer Form entfaltete Lange seine Einschätzung der Ortsgemeinde in dem Buch Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart (1965), das Impulse aus seiner Teilnahme an der ökumenischen Studienarbeit über „Missionarische Strukturen der Gemeinde" aufnahm (vgl. Hermelink 141 ff). Trotz ihrer sozialen Randstellung bleibt die Ortsgemeinde der „Normalfall" kirchlicher Arbeit; sie hat sich den in ihr versammelten „Opfern der Zeit" zuzuwenden und Glauben und gegenwärtige Wirklichkeit in eine vielfältige „Kommunikation" zu bringen. Bleibendes Zentrum ist ihr Gottesdienst, der als zugleich entlastendes und neu beauftragendes Gegenüber zum alltäglichen „Ernstfall" des Christseins entfaltet wird.

Die die beiden genannten Publikationen kennzeichnende Vermittlung von theologischer Tradition und Wahrnehmung kirchlicher Praxis vertrat Lange auch in seiner Professur für Praktische Theologie, in die er 1963 an die Kirchliche Hochschule Berlin berufen wurde. 1965 gab er dieses Amt aus gesundheitlichen Gründen auf. 1967/68 initiierte Lange zusammen mit D. Rössler und P. Krusche die Predigtstudien und entfaltete in zwei Aufsätzen (EEL 3, 9 - 6 7 ) das dabei leitende neue „homiletische Verfahren": Die Predigt zielt auf die „Relevanz" der biblischen Überlieferung im Leben der Hörer; sie soll die „homiletische Situation" klären, die als eine vom Prediger allererst zu erschließende, je individuelle Lebenswirklichkeit und zugleich als Situation der „Anfechtung" angesichts der „Verheißungslosigkeit der Wirklichkeit" erscheint. Der Prediger muß „Tradition und Situation" exemplarisch, als „Anwalt des

Lange

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Textes und der Hörer" vermitteln und das jeweils „neue Wort" für die Hörer verständlich artikulieren. - Der weiteren Erläuterung dieses Predigtverständnisses diente auch Langes Publikation eigener Predigten (Die uerbesserliche Welt). Von 1968 bis 1 9 7 0 arbeitete L a n g e als Direktor der Division of Ecumenical Action (Laien-, Jugend- und Frauenarbeit) des Ö R K in Genf; zugleich w a r er beigeordneter Generalsekretär. Im Gefolge der Vierten Vollversammlung des Ö R K (Uppsala 1968) w a r L a n g e maßgeblich an einer Studienarbeit beteiligt, die einer neuen, an der globalen Vera n t w o r t u n g der Zukunft orientierten M o r a l galt (vgl. Leben im Wandel). F ü r das in diesem Z u s a m m e n h a n g eingerichtete Bildungsbüro g e w a n n er den brasilianischen Volkspädagogen P. Freire. Dem Bildungsauftrag der Kirche gelten auch eine Reihe programmatischer Vorträge und Aufsätze seit 1969, in denen Lange seine im Rahmen der Parochie formulierten Einsichten weiterentwickelt (EEL 1). Als entscheidendes Problem sieht er das „provinzielle Gewissen", das auf seine engste Umgebung und deren Tradition fixiert ist. Dieses Gewissen soll erwachsen werden, es soll eine „von der Hoffnung belehrte" Selbständigkeit erlangen. Lange entwirft Leitlinien einer „Sprachschule der Freiheit", in der sich die Sprache des Evangeliums mit der Aufklärung der eigenen Situation verbindet. Indem die Kirche in der liturgischen „Feier des Lebens" die Verheißung antizipiert und zugleich exemplarisch die Konflikte „inszeniert", in denen Emanzipation des Gewissens stattfindet, ermöglicht sie eine permanente Verschränkung von Erfahrung und Praxis der Freiheit. Z u n e h m e n d häufige Depressionen und Angstzustände veranlaßten Lange, sein Genfer A m t im Frühjahr 1 9 7 0 aufzugeben. Neben einer Reihe von Rundfunkansprachen und Predigtstudien entstanden aber in den folgenden J a h r e n mehrere T e x t e zur ökumenischen T h e m a t i k ( E E L 2, 297ff), insbesondere das Buch Die ökumenische Utopie oder Was bewegt die ökumenische Bewegung? ( 1 9 7 2 ; E E L 5). Anhand einer Konferenz der Kommission Faith and Order (Löwen 1971) analysiert Lange den mittlerweile erreichten ökumenischen Konsensus und fragt nach dessen faktischer Wirkung. Die Ökumene zielt, in einer in sich spannungsvollen Weise, zugleich auf Einheit und auf Erneuerung der Kirche, wodurch sie zur Antizipation einer Utopie und zur notwendigen Provokation der getrennten Kirchen wird. In diesem Horizont entfaltet Lange den Begriff der „Konziliarität" (EEL 5, 246ff.285ff): Die ökumenische Bewegung muß sich als Prozeß eines Ringens um die gemeinsame Wahrheit verstehen, der Pluralität und Auseinandersetzung einschließt und auf den Geist der Versöhnung hofft. In der exemplarischen Verwirklichung konziliarcr Gemeinschaft gewinnt die Kirche als Kirche Bedeutung für die globalen Überlebensprobleme. Anhand des deutschen Streits um das Antirassismus-Programm des ÖRK (1970/71; EEL 2,215 ff) weist Lange nach, daß die Krise der Ökumene aus der „Unschlüssigkeit" der Mitgliedskirchen resultiert. So fordert er „mehr ökumenische Verbindlichkeit in Westdeutschland" (ebd. 316 ff) durch eine Veränderung des „parochialen Bewußtseins" und der entsprechenden Strukturen. 1 9 7 3 wurde Lange in die Planungsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland berufen. Hier w a r er an der Auswertung der U m f r a g e Wie stabil ist die Kirche? (1974) beteiligt. Die Ergebnisse dieser Befragung ( „ D e r Spielraum möglicher R e f o r m der Kirche ist begrenzter, als die R e f o r m e r und die Leitungsgremien bisher gemeint h a b e n " [ebd. 258]) veranlaßten den E n t w u r f einer „ T h e o r i e kirchlichen H a n d e l n s " , die die C h a n c e n des Wandels unter den Bedingungen eines konservativen „Konsenses der E r w a r t u n g e n " zu beschreiben sucht (vgl. E E L 2, 197ff). Lange begreift die vorfindliche Kirche als Ergebnis eines „Kartells" zwischen der institutionalisierten „Lebenspraxis Jesu" und den gesellschaftlichen Erwartungen. Die Religion hat eine ambivalente Funktion, indem sie zugleich die herrschende Moral sanktioniert und die emanzipatorischen Kräfte der Gesellschaft „aufhebt". Ein verantwortliches, auf das „Lernen der Mehrheit" zielendes kirchliches Handeln muß darum zwischen „Rechnern" und „Träumern" vermitteln. Lange empfiehlt auch hier den „konziliaren Streit": Bestehende Konflikte sind aufzudecken und produktiv zu organisieren, um Bestehendes und Erneuerung, „Ende und Anfang zu verknüpfen". Die durch die Umfrage bestätigte Schlüsselrolle des Pfarrers hat Lange dadurch aufgenommen, daß er den Pfarrer als den „Bürgen der Verheißung" beschreibt, der in seiner Person den Widerspruch unterschiedlicher Bedürfnisse austrägt. Lange gelingt damit, u.a. 1972 in einem Vortrag anläßlich der Verleihung des theologischen Ehrendoktors in Tübingen, eine einzigartig differenzierte Deutung des pastoralen Berufsfeldes (EEL 3 , 1 4 2 - 1 9 1 ) .

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Lange

Am 3.7.1974 starb Lange durch Suizid während eines Urlaubs in Windhaag (Oberösterreich). 2. Eigenart und

Wirkung

Langes theologische Prägung läßt sich nur schwer an einzelnen Personen festmachen. Neben der -»Dialektischen Theologie und -*¥. Gogarten (Gestrich 39ff) ist-»D. Bonhoeffers Einfluß unverkennbar (vgl. EEL 2, 19ff), wenn auch nicht überzubetonen (Gestrich 40f; Liedtke, Wirklichkeit 384ff). Weiter dürfte die Beobachtung führen, daß Lange Grundanliegen der ökumenischen Bewegung aufgenommen hat, nämlich zum einen die Wahrnehmung der Säkularisierung wie des daraus resultierenden Pluralismus und des zunehmenden Traditionszerfalls, die für Christentum und Kirche tiefgreifende Konsequenzen haben. Fundamental ist für Lange zum anderen die ökumenische Artikulation des Widerspruchs zwischen dem kirchlichen „Mandat", wie es in Bonhoeffers Formel „Kirche für andere" zusammengefaßt ist, und der unzureichenden Wirkung kirchlichen Handelns, die auf eine selbstgenügsame Struktur und Theologie zurückgeht. Langes theologische Leistung kann darin gesehen werden, daß er diese und andere Einsichten in die deutschen Verhältnisse übertragen hat. Dadurch werden die ökumenischen Anliegen konkretisiert und die vorfindlichen Institutionen und Traditionen einer differenzierten Kritik unterzogen. Dazu hat Lange den politisch-sozialen Kontext so aufgenommen, daß seine Arbeiten auch als Dokumente des „Zeitgeistes" der 60er Jahre gelesen werden können, wie er durch die Stichworte „Freiheit", „Emanzipation" und „Verantwortung für die Zukunft" gekennzeichnet ist. Der kirchliche Zeitgeist erfährt jedoch eine theologische Vertiefung, indem - stets am Leitfaden des Christusgeschehens - das Verhältnis von Glauben und Wirklichkeit zum Thema wird: Lange legt die „Verheißung" als Glaubenserfahrung und zugleich als Qualifikation der Wirklichkeit aus, wodurch der Glauben den Auftrag empfängt, sich dieser Wirklichkeit in einer personalen „Bürgschaft für die Verheißung" zuzuwenden. Andererseits erscheint die moderne Wirklichkeit jedoch als „gottlos" und als Anfechtung des Glaubens, der darum auf die vom Alltag distanzierende Erfahrung des Gottesdienstes angewiesen ist. Diese beiden Perspektiven sind von Lange nicht immer ausreichend vermittelt worden.

Die Bedeutung von Langes Arbeiten beruht weiterhin auf seiner großen sprachlichen Gestaltungskraft und dem darin zum Ausdruck kommenden persönlichen Engagement. Exemplarisch sind seine Predigten, die meist eine - oft neu geprägte - Metapher in verschiedenen Dimensionen auslegen (v.d. Laan 265ff). Auch in den eher theoretischen Texten eröffnet die sprachliche Vermittlung historischer, soziologischer und theologischer Perspektiven eine Fülle neuer Einsichten und Handlungsmöglichkeiten, auch wenn diese einer genauen Uberprüfung nicht immer standhalten. Das Interesse an der Wahrnehmung und Veränderung der Situation impliziert zwei weitere Akzente von Langes Arbeit. Zum ersten ist er durchgehend an den Verfahren des kirchlichen Handelns interessiert. Während die Wort-Gottes-Theologie die Verkündigung ausschließlich inhaltlich bestimmen will, insistiert Lange auf den humanwissenschaftlich zu erhellenden Bedingungen und Möglichkeiten der „Kommunikation des Evangeliums". Funktion und Auftrag der Kirche sind nur in der beständigen Verbindung theologischer und empirischer Betrachtungsweisen zu bestimmen. Dabei hat Lange zunehmend die Ambivalenz des kirchlichen Handelns und seine Konfliktträchtigkeit hervorgehoben. Zum zweiten zielt die Reflexion der Praxis auf deren Subjekt: Die Erneuerung der Ortsgemeinde wie der Gesamtkirche ist ein Problem und eine Aufgabe der Pfarrer (bzw. der Bischöfe: EEL 2, 312ff) und wird aus deren Sicht beschrieben. So verwundert es nicht, daß Langes Arbeiten zur Predigt als der zentralen pastoralen Aufgabe die stärkste Wirkung gehabt haben. Die Fragen nach dem Verfahren der individuellen Predigtarbeit und nach dem Gewicht der „homiletischen Situation", wie sie sich im Konzept der Predigtstudien niederschlugen (Hasselmann 135 ff; Wiedemann 111 ff), haben zu der erneuten Thematisierung der empirischen Bedingungen von Predigtproduk-

Lange

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tion und -rezeption entscheidend beigetragen (vgl. T R E 15,550,8-40). Die damit einhergehende Vernachlässigung eines dogmatischen Predigtbegriffs ist Lange wohl zu Unrecht angelastet worden (vgl. Bohren; Krusche; Lubkoll/Schröer). Weniger g r e i f b a r ist Langes W i r k u n g auf die E n t w i c k l u n g des G o t t e s d i e n s t e s . Im Z u s a m m e n h a n g mit der L a d e n k i r c h e d ü r f t e n seine Arbeiten die in den 60er J a h r e n b e g i n n e n d e n liturgischen E x p e r i m e n t e mit angeregt h a b e n (vgl. C o r n e h l , N a c h w o r t ) . Seine vielschichtige Verhältnisbestimm u n g von Gottesdienst und Alltagswirklichkeit (zuletzt EEL 3 , 8 3 ff) h a t hier freilich nicht selten eine gewisse Trivialisierung e r f a h r e n .

Als Exponent der -»Kirchenreform hat Lange auch Anteil an den Veränderungen der kirchlichen Selbsteinschätzung, die sich seit ungefähr 1965 vollzogen haben. Dies gilt hinsichtlich der Wahrnehmung des parochialen Funktionswandels und ebenso für den Versuch, die „Stabilität" der Volkskirche als Rahmen gleichwohl möglicher Erneuerung wahrzunehmen (vgl. J. Schmidt). Schließlich kann Lange als ein Initiator der allmählichen ökumenischen Öffnung der deutschen Kirchen gelten. Seine Überlegungen zu einer auf Grenzüberschreitung und globale Verantwortung zielenden ökumenischen Didaktik und zur konziliaren Struktur des ökumenischen Prozesses gewinnen in letzter Zeit an Bedeutung. Quellen Die wichtigsten Texte sind in der Edition Ernst Lange (EEL) g e s a m m e l t : 1. Sprachschule f ü r die Freiheit. Bildung als P r o b l e m u. F u n k t i o n der Kirche, hg. u. eingel. v. R ü d i g e r Schloz, M ü n c h e n / G e l n h a u s e n 1980. - 2. Kirche f ü r die Welt. Aufs, zur T h e o r i e kirchl. H a n d e l n s , hg. u. eingel. v. Rüdiger Schloz, M ü n c h e n / G e l n h a u s e n 1981. - 3 . Predigen als Beruf. Aufs, zu H o m i l e t i k , Liturgie u. P f a r r a m t , hg. u. mit einem N a c h w . v. R ü d i g e r Schloz, M ü n c h e n 1982 (zuerst Stuttgart 1976). - 4. C h a n c e n des Alltags, hg. u. mit einem N a c h w . v. Peter C o r n e h l , M ü n c h e n 1984 (zuerst 1965 [ H C i W 8]). - 5. Die ö k u m . Utopie, M ü n c h e n 1986 (zuerst Stuttgart 1972). - Außerdem von Bedeutung: Von d e r M e i s t e r u n g des Lebens. Eine Besinnung f ü r junge M e n s c h e n , B e r l i n / G e l n h a u s e n 1957 '1966. - Leben im W a n i k l . Überlegungen zu einer zeitgemäßen M o r a l , G e l n h a u s e n / B e r l i n 1 9 7 1 . - W i e stabil ist die Kirchs r In stand u. E r n e u e r u n g . Ergebnisse einer M e i n u n g s b e f r a g u n g , hg. v. H e l m u t Hild, Gelnhausen/Berlin 1974. - Die Predigten Langes sind noch nicht g e s a m m e l t , vgl. vorläufig: Die verbesserliche Welt. Möglichkeiten christl. R e d e e r p r o b t an der Gesch. v o m P r o p h e t e n J o n a , Stuttgart/Berlin 1968. - N i c h t an den T o d g l a u b e n , hg. v. R ü d i g e r Schloz, Bielefeld 1975 = 1982 ( K T 67). Literatur R u d o l f Bohren, Die Differenz zw. M e i n e n u. Sagen. A n m . zu Ernst Lange, Predigen als Beruf: W P K G 70 (1981) 4 1 6 - 4 3 0 . - Alfred B u t e n u t h , Die L a d c n k i r c h e in Berlin-Spandau u. die ev. Kircheng e m e i n d e a m Brunsbütteler D a m m 1 9 6 0 - 1 9 8 5 : P T h 75 (1986) 5 8 - 7 0 . - Peter C o r n e h l , H o m i l e t i k u. Konziliarität: W P K G 65 (1976) 4 9 0 - 5 0 6 . - Ders., N a c h w o r t : EEL 4 ( s . o . Q u e l l e n ) , 3 4 6 - 3 5 7 . Christof Gestrich, Die H e i l u n g einer d o p p e l t e n E n t f r e m d u n g . Ernst Lange ü b e r Kirche u. eine „ T h e o r i e kirchl. H a n d e l n s " : B T h Z 2 (1985) 3 3 - 5 2 . - Wolfgang G r ü n b e r g , D e r T a n z f ü r alle. Ernst Langes rel.-politische Pädagogik der H o f f n u n g : P T h 76 (1987) 5 2 1 - 5 3 4 . - Niels H a s s e l m a n n , Predigthilfen u. Predigtvorbereitung, G ü t e r s l o h 1977. - J a n H e r m e l i n k , Die h o m i l e t . Situation. Varianten empirischer H o m i l e t i k n a c h 1945, Diss. theol. Heidelberg 1990. - Fritz K r o t z , Im Licht der Verheißung. Die h o m i l e t . T h e o r i e E. Langes: W P K G 69 (1980) 1 4 - 2 5 . - Peter Krusche, Die Schwierigkeit, Ernst L a n g e zu verstehen: W P K G 70 (1981) 4 3 0 - 4 4 1 . - J a c o b H e n d r i k van der L a a n , Ernst Lange en d e Prediking, K a m p e n (NL) 1989 (Lic.). - Kurt Liedtke, Vor u n s d a s Leben. Die A n f ä n g e Ernst Langes: P T h 76 (1987) 4 8 7 - 5 0 2 . - Ders., Wirklichkeit im Licht der Verheißung. D e r Beitr. Ernst Langes zu einer T h e o r i e kirchl. H a n d e l n s , W ü r z b u r g 1987. - Klaus L u b k o l l / H e n n i n g Schröer, Die Predigt im S p a n n u n g s f e l d von Text u. Situation: An den G r e n z e n kirchl. Praxis. FS Peter Krusche, hg. v. Peter Stolt, H a m b u r g / M ü n c h e n 1983, 1 9 9 - 2 2 1 . - G e r r i t Willem N e v e n , Voor a n d e r e n . De systematische g r o n d s t r u e t u u r in het w e r k van Ernst Lange: G T h T 82 (1982) 1 9 5 - 2 2 0 . - K o n r a d Raiser, Bürge f ü r die Kirche - im Licht ihrer ö k u m . Möglichkeit: Ö R 36 (1987) 2 7 7 - 288. - G e r h a r d Rein, Das Fremde soll nicht m e h r f r e m d sein. Auf den Spuren Ernst Langes: P T h 76 (1987) 5 3 4 - 5 5 6 . H a n s Peter S c h m i d t , Kirchl. E r n e u e r u n g im ö k u m . H o r i z o n t : W P K G 64 (1975) 4 9 2 - 5 1 1 . - J o a c h i m Schmidt, Parteilichkeit in d e r Volkskirche. Ein Beitrag z u m K i r c h e n v e r s t ä n d n i s Ernst Langes: P T h 76 (1987) 5 0 3 - 5 2 0 . - T h e o p h i l Vogt, Christsein in W i d e r s p r ü c h e n : Ref. 2 6 (1977) 6 5 3 - 6 5 9 . - H a n s G e o r g W i e d e m a n n , Die Praxis der P r e d i g t v o r b e r e i t u n g , Stuttgart 1975. i Hermelink

440 Lange, Joachim

Laos -* Pietismus

Langobarden -»Germanenmission (arianische)

Laos 1. Stammesreligionen u n d T h e r a v a d a B u d d h i s m u s sion u n d Kirche 4. Evangelische Mission u n d Kirche

2. Religionspolitik (Literatur S.445)

3. Katholische Mis-

Vorbemerkung Laos (Lan Xang = Reich der 1 Mill. Elefanten) ist mit ca. 4,3 Mill. Einwohnern (1987) eine demokratische Volksrepublik in Südostasien. Sie löste am 3. Dezember 1975 die Monarchie ab. König Fa Ngum hatte das Königreich Laos im Jahre 1353 gegründet. Im Laufe seiner Geschichte wurde es vorübergehend von seinen Nachbarn Birma und Thailand beherrscht, seit 1893 von Frankreich als Kolonie annektiert und 1945 von Japan besetzt. Es erhielt seine Unabhängigkeit am 22.7.1954 (Genfer Indochinakonferenz). Die Bevölkerung besteht aus ca. 70 verschiedenen ethnischen Gruppen. Das staatstragendc Volk sind die Laoten (48 % der Gesamtbevölkerung), ihnen folgen die Mon-Khmer (25 %), die Thai (14%) und sinotibetische Stammesgruppen (13%), darunter die Meo und Yao. Z u m Theravada Buddhismus werden 57,8 % der Bevölkerung gerechnet. Am stärksten ist der Theravada unter den Tiefland-Laoten und den Mon-Khmer vertreten. Ein großer Teil der Bevölkerung (1980: 33,6%) lebt in den jeweiligen Stammesreligionen. Kleine Minderheiten bestehen aus sunnitischen Muslims (1%) unter den Cham u.a., sowie aus katholischen und evangelischen Christen (1,8% bzw. 67.000). Die Bevölkerung ist durch den 30-jährigen französischen und amerikanischen Krieg, vor allem durch die U.S.-Bombardements, schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. 1977 wurden 700.000 Flüchtlinge im Lande gezählt. Bis 1980 floh ein Zehntel der Bevölkerung, teils vor der Sozialisierung, teils vor militärischen Aktionen, über den Mekong ins Ausland, darunter viele Akademiker, Fachleute und Unternehmer. 1. Stammesreligionen

und Theravada

Buddhismus

Mündlich überlieferte Glaubensformen und Kulte prägten die Religionen der Stämme in frühgeschichtlicher Zeit. Die Kulte dienten der Gewährleistung der harmonischen Ganzheit von Makrokosmos und Mikrokosmos. Sie hatten so durch Verehrung der Ahnen* und Schutzgeistcr (Phi und Deva), die als Volksreligiosität im Theravada weiterlebt, Leben und Zukunft zu sichern. Auch Feste der Stammesreligionen, z.T. mit Büffelopfer als Höhepunkt, haben sich erhalten. Unter ihnen spielt das Fest der Feuerwerke eine besondere Rolle, insofern es in die buddhistische Glaubenspraxis der staatstragenden Laoten integriert worden ist. Es dient der Segnung eines neuen Reisanbaujahres und wird mit der Ordination von buddhistischen Mönchen verbunden. Fruchtbarkeit bei Mensch und Vieh soll auch durch das Wasserfest und das Neujahrsfest von den Geistermächten erlangt werden. Der Askese der Mönche wird das Vermögen zugeschrieben, übermenschliche Kräfte aus dem Reich der Toten und der Geister vermitteln zu können. „Obwohl die rezitierten buddhistischen Texte den Weltverzicht beinhalten, überträgt ihr Rezitieren Segenskraft für sehr weltliche Anliegen" (Sarkisyanz 486). Stammesreligionen überleben in abgeschlossenen Gebirgssiedlungen. Theravada Buddhismus geht auf Beeinflussung und Vermittlung durch die kolonialindische Hochkultur der Mon, die „religiöse Indisierung" (Sarkisyanz), zurück. König Fa Ngum führte 1353 in der für Südostasien typischen religiösen Legitimierung politischer Macht den Theravada Buddhismus als .Staatsreligion' ein, indem er die wunderkräftige Buddha-Statue Prabang aufstellen ließ und nach ihr den bisherigen Vorort verschiedener Lao Kleinstaaten in Luang Prabang umbenannte. Für ungefähr zweihundert Jahre wurde

Laos

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die Stadt zum Zentrum eines der bedeutendsten buddhistischen Königreiche (Herrschaften) der Region. Das religiös-politische Königsritual (s. T R E 17, 536, 25 ff) manifestiert die kultische Verbindung der Gesellschaftsordnung mit Theravada-,,Weltbild und Bauform in S.O. Asien" (Robert Heine-Geldern: Wiener Beitr. zur Kunst u. Kultur Asiens, 1930), die E.R. Reynolds auf dem Hintergrund bis heute bewahrter Volksreligion erhellend interpretiert hat {Ritual and Social Hierarchy. Bardwell L. Smith; s. H . Bechert, Religion and Legitimation 294). Doch der Buddha Prabang ist bis heute „Palladium und Schutzgeist" der historischen Königsstadt (Sarkisyanz, der mit umfassender Sachkenntnis den Buddhismus in Laos bis zum Anfang der siebziger Jahre dieses Jahrhunderts dargestellt hat). Für die Weiterentwicklung des Buddhismus ist nach wie vor der Sangha ( = Mönchsgemeinschaft) bestimmend. Auf dem Wege über ein „Aktionsprogramm" der LUBA ( = Lao United Buddhist Association) haben Partei und Regierung den Mönchen fünf Aufgaben gestellt: (1) Die Mönche haben die Laien-Gläubigen zu unterweisen, daß die buddhistischen Tugenden mit der Staatspolitik, d . h . Buddhismus mit Marxismus, vereinbar sind. (2) Sie haben sich aktiv am Grundschulunterricht und der Alphabetisierungskampagne zu beteiligen. Hierin können sie ihre traditionelle Wirksamkeit, allerdings ohne ihr früheres Monopol- und ihr Bestimmungsrecht über die Bildungsinhalte, fortsetzen. Das Erziehungsministerium unterhält in der O n g Tu Pagode in Vientiane, dem 1975 geschlossenen Institut für Buddhismus Studien (s. Zt. 700 Studenten) Lehrerbildungskurse für 285 Mönche. Weitere 120 Mönche werden in Luang Prabang ausgebildet (1988). Buddhistische Glaubenslehre wird getrennt während der Feiertage und der Fastenzeit untcrrichtct. (3) Die Mönche sind im naturheilkundlichen Gesundheitsdienst tätig. (4) Sie müssen die buddhistischen Gebäude erhalten, die in vielen Orten nach wie vor Zentren für religiöse Übungen und gesellige wie politische Anlässe bilden. (5) Die LUBA soll sich außenpolititsch auf dem Gebiet der Friedenspolitik engagieren, insbesondere für die „Asiatische Buddhistische Konferenz für den Frieden" (ABCP), Ulan Bator. (Oskar Weggel, SOAse aktuell März '86,146).

Der Bedeutung dieser Aufgabenstellung entsprechend ist dem Sangha in Laos allgemeine Bewegungsmöglichkeit gewährt worden. Die Mönchen dürfen wieder Gaben sammeln. Es gibt einschließlich Novizen 16.000 Mönchc in 2000 Pagoden (1975: 19000 und 2200). Allein in Luang Prabang leben 2000 Mönche und in Vientiane 1200 (n. Vizepräsident Pa Achat Pong: FEER 24.3.88). O b die gesellschaftliche Integration des Sangha als harmonische Lösung der Zukunftsfrage des Buddhismus bestehen kann, hängt von seiner Nützlichkeit für die politischen Ziele der Pathet Lao Regierung ab. Vielleicht müssen sich doch „die Marxisten auf längere Sicht stärker an die überkommenen Werte anpassen, als es umgekehrt der Fall ist" (Weggel a . a . O . 148). 2.

Religionspolitik

Seit 1975 ist die Lage in allen Religionsgemeinschaften nachhaltig von der Religionspolitik der sozialistischen Pathet Lao ( = Lao Land-Bewegung) Regierung bestimmt worden. Zwar wurde der Sangha, wie in -»Kambodscha und Thailand, schon in der Zeit der Monarchie vom Staat beaufsichtigt. Der König hatte als Protektor des Glaubens den Höchsten Patriarchen eingesetzt. Nach einer Periode allgemeiner harter Eingriffe, wie der Schließung religiöser Institutionen und Gebäude sowie der Inhaftierung vieler Geistlicher, ist es nach 1978 zu einer Koexistenz gekommen, die staatlicherseits von taktischem Nützlichkeitsstandpunkt, religiöserseits vom Interesse am Überleben und von Tradition und Gemeinschaft orientiert zu sein scheint. (Schon um 1960 sympathisierten buddhistische Mönche im Norden aus nationalen und antiamerikanischen Motiven mit der Pathet Lao.) Hohe Parteifunktionäre nehmen an hohen religiösen Festen teil und beteuern, daß Buddhisten und Christen die Lehren ihrer Religion ernstnehmen sollten, um gute Glieder der sozialistischen Gesellschaft zu sein. Da ein Buddhist nicht ,austritt' oder abfällt wie Christen oder Muslime, fällt es ihm nicht schwer, als Parteikader eine religiöse Zeremonie zu führen. Die Religionsabteilung der National Front for the Reconstruction of Laos (Neo Lao Sang Sat - NFRL), deren Direktor der frühere Mönch Maha Khamtan Thepbu-

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Laos

ali ist, kontrolliert die Religionsgemeinschaften nach dem Ermessen des Zentralkomitees. Es gibt keine Grundartikel bzw. allgemeinen Gesetze zur Ordnung des Religionswesens. Doch befaßt die Regierung sich mehr mit der staatlich anerkannten Lao United Buddhist Association (LUBA) als mit den - noch - nicht vereinigten christlichen Gruppen. In dieser Ungleichbehandlung macht sich nicht nur der überwältigende numerische Stärkeunterschied, sondern vielleicht auch das Beharrungsvermögen der nationalen buddhistischen Kultur geltend. Was Religionsfreiheit ist, kann nur umschrieben werden. Nichtöffentlich kann ein Laote seine Religion .wechseln'. Aber es ist ihm untersagt, andere dazu zu motivieren (UCA News, Hong Kong 456 [1.6.88]). Geistlicher zu werden, ist möglich, aber unterliegt einer doppelten Genehmigung und befreit nicht vom Arbeitseinsatz. Teilnahme an kultischen Verpflichtungen ist ungehindert, aber die Religionsgemeinschaften haben für ihre Neu-Anerkennung „patriotische" Zusammenschlüsse, wie die LUBA, zu bilden und über ihren Bestand zu berichten. Buddhisten werden offizielle Auslandsreisen Geistlicher gestattet, Christen nur in Ausnahmefällen (UCAN 436 [13.1.88]). Die Herstellung kirchlicher Druckerzeugnisse ist schwierig. Beziehungen evangelischer Kirchenvertreter zu Parteiführern werden vorwiegend als gut bezeichnet. Die Toleranz gegenüber den religiösen Organisationen und ihrer Praxis setzt die Unterordnung (subordination) unter die Regierung voraus (lt. Lao Diplomaten in UCAN 456 [1.6.88]). Thepbualis Feststellung könnte die regierungsamtliche Haltung gegenüber Christen wiedergeben: „Niemand in diesem Land wird irgendetwas gegen die Religion oder Kultur unternehmen. Jemand mag Ihnen sagen wollen, keine Gottesdienste zu halten. Aber Sie werden doch zu Hause Gottesdienst halten" (UCAN 456 [1.6.88]). Das Ziel einer Privatisierung der Religionsgemeinschaften bei Zulassung interner Praxis ihrer religiösen Bekenntnisse und - als Konzession? - noch einiger Feste als religiös-kultureller Unterstützung für die der Partei wichtige sozialpolitische Stabilisierung, ist schwer zu verkennen. Die Frage, wie unter diesen Umständen das Unverwechselbare in Buddhismus und Christentum gewahrt und weiter überliefert werden kann, wird von den Religionsgemeinschaften in je eigener Weise aufgenommen und beantwortet. Entsprechend unterschiedlich ist auch die Reaktion auf den -»Marxismus. Nach empfindlicher gegenseitiger Entfremdung zwischen dem Sangha und der Pathet Lao Regierung in den Jahren 1976-1978, die den Höchsten Patriarch 1979 nach Thailand fliehen ließ, ist die Lage des Buddhismus in Laos in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre durch eine Wiedererstarkung gekennzeichnet. Die Regierung duldet, anerkennt oder stützt sogar die gegenseitige Grundbeziehung zwischen Mönchen und Laien. So führte der amtierende Staatspräsident Phoumi Vongvichit in der höchsten buddhistischen Zeremonie That Luang im November 1987 das gläubige Volk als höchstgestellter Laie in der Darbietung der Gaben an die Mönche - zugleich symbolisch für die nicht selten zu beobachtende Erfüllung buddhistischer Religionspflichten durch sozialistische Führungskräfte der Pathet Lao in diesem Jahrzehnt, ganz im Unterschied zum Verhalten ihresgleichen in Vietnam und Kambodscha. Schon 1976 hatte er als Erziehungsminister den Mönchen erklärt, „revolutionäre Politik und die von dem Lord Buddha praktizierte Politik haben die gleichen Ziele " (FEER [Far Eastern Economic Review, Hong Kong] 24.3.88,46). Der Vizepräsident der nach 1975 auf staatliche Veranlassung gegründeten Lao United Buddhist Association sagte: „Vor einigen Jahren definierten wir, was Buddhismus ist. Jetzt lesen wir nur Buddhismus, der mit Marxismus-Leninismus zusammengeht" (ebd.). 3. Katholische

Mission und

Kirche

Erste Berührungen katholischen Christentums mit Laos sind durch einen Besuch von Jesuiten aus Tongking, Vietnam, im Jahre 1630 und J . M . Lerias SJ Wirksamkeit von 1641 bis 1647 entstanden. Die Société des missions étrangères de Paris (MEP) begann 1876 eine kontinuierliche Evangelisierung. Die Errichtung der Missionsstation auf der Insel Don im Mekongfluß am 8.12.1885 ist zum Gründungsdatum der katholischen Kirche in

Laos

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Laos erklärt worden. Seit 1935 wandte sie sich ganz dem Süden des Landes mit der Stadt Savannakhet zu, während der Orden der Oblaten der unbefleckten Empfängnis Mariens (OM1) die Evangelisierung in Nordlaos fortsetzte. Seit 1950 wurde die Arbeit für die nicht-buddhistische Bergbevölkerung intensiviert. 1970 gehörten zwar nur 21 % der Katholiken zu dieser Gruppe. Sie stellte aber 80 % aller Taufbewerber. Die erste Weihe eines einheimischen Priesters (OMI) fand 1963, die eines Weihbischofs (Vientiane) 1974 statt. Die katholische Kirche hatte 1970 acht einheimische Priester. Ihre Organisation umfaßt die vier Apostolischen Vikariate (Erstgründung 1899) Luang Prabang, Vientiane, Savannakhet und Pakse. Sie besteht vorwiegend aus vietnamesischen Einwanderern, zu denen auch die Erstgetauften gehörten, was ihr den - teils taktisch motivierten - Vorwurf der Fremdheit eingebracht hat. Die Gemeinden unter den Bergstämmen der Kha, Man, Mhong u. a. gewinnen zunehmend an Gewicht, auch weil sie zu den nationalen Minderheiten gehören. 1971 errichtete die Kirche eine Stelle für den Dialog mit dem Buddhismus. In zehn Jahren (1975-1985) hat die katholische Kirche ihre Uberlebensfähigkeit unter der Herrschaft der Pathet Lao erwiesen. Ihre institutionellen Verluste und personelle Reduzierung nötigte sie zu einer stärker laotischen, national-kontextuellen Umstellung. Zunächst wurden 1976 alle Schulen, Krankenhäuser und Heime - ,ausländische' Gründungen - vom Staat übernommen, sowie die Kirchen geschlossen bzw. zu Viehstallungen und Scheunen entfremdet. Alle Frauenklöster wurden aufgelöst. Die 80 ausländischen Priester wurden 1976 ausgewiesen. Das Übergewicht der Vietnamesen in der Kirche schwächte deren Einfluß gegenüber Tiefland-Laoten und Bergstämmen. Die Flucht vor dem von der Regierung aufgezwungenen „Normalisierungsprozeß" dezimierte die Gemeinden vor allem unter den Hmong. Wiederholt wurden Priester für längere oder kürzere Dauer gefangen oder in Umerziehungslager verschickt. Acht von 18 Priestern konnten 1986 — wenn auch begrenzt scelsorgerisch tätig sein, soweit der allen Geistlichen von der Regierung auferlegte Arbeitseinsatz, vor allem in der Landwirtschaft, es ihnen gestattete. Mit mehreren Hundert Häftlingen der Umerziehungslager wurden 1987 auch Priester entlassen. Die drei verbliebenen laotischen Bischöfe versorgten die vier Apostolischen Vikariate, soweit sie nicht unter Hausarrest gestellt oder inhaftiert waren. Über hundert Ordensfrauen dreier verschiedener Gemeinschaften arbeiten verstreut in den Gemeinden. Ihre Zahl soll wachsen. Aber der Zugang zu geistlichen Berufen ist auch in den christlichen Kirchen erheblich erschwert, da er von einer kommunalen (Arbeitskraftverlust) und einer politischen Genehmigung (Konformitätskontrollc) abhängig ist. So halten berufliche und freiwillige Katecheten als Prediger und Seelsorger die Gemeinden der 30 bis 36 Tausend Katholiken zusammen, deren Zahl sich gegenüber der Zeit vor 1975 nur wenig verändert zu haben scheint. Der Apostolat der Kirche steht und fällt mit Zeugnis und Dienst der Mitglieder (Laien) selbst, die ihrerseits von den Bischöfen aufgefordert werden, ihren Beitrag zum Aufbau eines sozialistischen Vaterlandes zu leisten. Die christlichen Kirchen insgemein seien in ihrer internen Religionsausübung „relativ unbehelligt", absichtsvolle Glaubensverbreitung und Evangelisierung seien hingegen nicht gestattet (Khamse Vithavong OMI, Bischof von Vietiane 1987, lt. KNA/Tagesspiegel 5.2.1987). „Lebendige Diasporakirche" ist mit Bischof Nantha 1984 so zu verstehen: „Unsere Christen leben unauffällig in ihren kleinen Häusern, im Herzen mit Gott und einander vereint" (F. Hamma SJ KM 3.86,105). Die Kathedrale der Hauptstadt kann „arbeiten". In vielen Dörfern und Gemeinden können keine Sakramente gefeiert werden. Die Regierung strebt den Zusammenschluß aller christlichen Gruppen an. Eine hierfür von ihr gegründete „Nationale Christliche Vereinigung" wird für eine „eher papierne Maßnahme" gehalten (F. Hamma). Diese Beurteilung faßt die in- und ausländischen Nachrichten und die offiziellen Stellungnahmen von kirchen- wie regierungsamtlicher Seite zusammen. Die Bischofskonferenz von Laos gehört zur Far Eastern Bishops Conference in Hong Kong. Diplomatische Beziehungen zum Vatikan werden über den Nuntius in Bangkok wahrgenommen.

Laos

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4. Evangelische

Mission und

Kirche

Evangelisches Christentum vermittelte zuerst Gabriel Contesse von den Schweizer Darbisten (Swiss Brethren, O p e n ) , der sich 1902 unter laotischen Buddhisten in SongK h ö n e in der M e k o n g Ebene südlich Pakse niederließ. Als er 1932 die Übersetzung der Bibel in die L a o Sprache veröffentlichte, waren 6 M i s s i o n a r e tätig und zwei Gemeinden gegründet worden. Die Overseas Missionary Fellowship ( O M F ) evangelisierte seit 1957 ebenfalls in Südlaos, zählte 1967 31 Mitarbeiter/innen und schloß sich mit den Schweizer Brüdern zusammen. Bis 1975 entstanden mehr als 2 0 , nach kongregationalem Prinzip selbständige Gemeinden mit 1500 Mitgliedern und über 1500 Interessenten. Weitere 20—30 Gemeinden waren im Entstehen. Als Mission Evangélique au Laos wurden sie in regionalen Verbänden von Savannakhet und Pakse organisiert. Eine jährliche Ältestenkonferenz trug auch die Bibelschule (1975 geschlossen) und die Kommission für Evangelisation. Angesichts befürchteter oder einsetzender Repressionen durch die Pathet Lao Regierung gingen einheimische Führungskräfte ins Ausland. Sieben verbliebene überseeische Mitarbeiter wurden ausgewiesen. Pastorale und Führungs-Krisen in den Gemeinden waren die Folge. Eine gewisse Unabhängigkeit von statistischen Erfolgsperspektiven, Betonung persönlicher Übergabe an Christus und soziale Zuwendung zu ihren buddhistischen Mitbürgern zeichneten die kontextuelle Eigenart beider Gruppen aus. Die Eglise Evangélique du Laos entstand durch eine anders verlaufende Erstverkündigung und einen ganzheitlichen Gemeindeaufbau der Christian and Missionary Alliance mit zeitweise 28 Mitarbeiter/innen bei den Berglandstämmen der Meo, Khmu und Kha. M i t 93 Gemeinden (1968: 3 0 8 6 Mitglieder [ W C h H 1968]) und 6 0 0 0 Interessenten bildet sie die größte evangelische Kirche in Laos. Z u n e h m e n d e Kontrolle der nördlichen Gebirgsregion durch die Pathet Lao störte seit 1962 die Entwicklung nachhaltig. Der allgemeine Abzug ausländischer Missionsmitarbeiter/innen und die politischgesellschaftliche Entwicklung führten unter evangelischen Christen zu einer kontextuellen Ausprägung ihres Weges, der eine politische Relevanz in der christlichen Botschaft anzeigte und sich dem laotischen Sozialismus nicht verschließen wollte. Die neue Bestimmung ihrer Beziehungen zur Regierung wurde für sie zur Existenzfrage. Die Situation der Christen ist einerseits durch die verbreitete Auflage beeinflußt, die Pastoren hätten sich ,linientreu' im Sinne der Pathet L a o zu verhalten. Andererseits kann Maha Khamtan Thepbuali als geladener Gast 1987 auf der Weihnachtsfeier der Watty-Kirchc, Vientiane, sagen: „Ihr Christen müßt den Weg eures Meisters und eurer christlichen Lehre folgen und halten, was Jesus Christus euch l e h r t " (UCA News 4 3 6 [1988]). (Der Pfarrer der Gemeinde war erst 1986 nach elfjähriger Haft in Umerziehungslagern freigelassen worden.) Einerseits sind Evangelisationen im Sinne von religiöser Werbung für Andersgläubige nicht gestattet. Andererseits ist die Abhaltung öffentlicher Gottesdienste nicht eingeschränkt. R u h t die relative religiöse Arbeitsmöglichkeit der Christen, die ja durch die buddhistische M o n a r c h i e mit einer strikten Kontrolle allen (!) Religionswesens vertraut waren, auf der Bereitschaft loyalen Verhaltens und stabilisierender Mitarbeit im sozialistischen Laos? Neben der Lao Bibel gibt es Übersetzungen des Neuen Testamentes in neun weitere Sprachen von Laos. - Drohender Vereinsamung der evangelischen Christenheit sollte schon 1967 mit einer in Vientiane abgehaltenen Konsultation entgegengewirkt werden. Die G e f a h r bleibt latent. Weder der Ökumenische Rat der Kirchen noch die Christian Conference of Asia haben in Laos eine Vertretung. Entwicklungshilfe amerikanischer Q u ä k e r und Mennoniten in H ö h e von jährlich einer Million US Dollar umfaßte Arzneimittel, Schulmöbel, 100 Kühe, eine Reismühle für eine Invalidensiedlung u . ä . Grundbedürfnisse. Unter der Last der Geschichte faßte der Präsident der L U B A , T h e M o s t Venerable Thonghune Anantasounthone, die Zukunftsperspektive gläubiger Laoten zusammen: „ W i r rüsten uns auf das 5. Zeitalter [buddhistische J t . ] . Dann werden wir alle sein wie ein

Las Casas

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Volk, und dann wird Friede sein" (L.a.T. Peachy, Religion in Socialist Laos: S.E.A. Chronicle No. 91 [1983] 19). Literatur

(-»Buddhismus, -»Kambodscha)

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Lothar Schreiner

Las Casas, Bartoloméde

(1484-1566)

1. Leben 2. Entwicklung (Quellen/Bibliographien/Literatur S.447)

3. Interpretation

4. Werke

5. Bedeutung

1. Leben Nach neuesten Forschungen wurde Bartolomé de Las Casas 1484 (nicht 1474) in Sevilla geboren (Fernández, Cronología 89). Als Schüler erlebte er 1493 die Rückkehr von Christoph Kolumbus, den sein Vater begleitet hatte. Vor seiner Abreise mit der Expedition von Nicolás de Ovando empfing er 1502 in Sevilla die Tonsur, um eine Doctrina übernehmen zu können. Zuerst arbeitete er in den Goldminen am Fluß Haina und Cibao auf Española (Haiti); später nahm er an militärischen Feldzügen teil. 1504 beteiligte er sich an der „Befriedung" einiger Provinzen. Wahrscheinlich empfing er 1507 die Priesterweihe in Rom. Als Belohnung für seine Verdienste erhielt er 1507 einen Repartimiento (Zuteilung von Indios) in Cibao und einen weiteren bei Xagua. Mehrere Faktoren führten zu seiner Bekehrung: die Verweigerung der Absolution in der Beichte wegen des Unrechtes, das er den Indios zugefügt hatte; die Betrachtung seines Lebens im Lichte von Sir 34,21 und vor allem die Predigten von Antonio de Montesinos O. P. Von diesem Augenblick an wurde er ein unermüdlicher Verteidiger der Rechte der Indios und ein entschiedener Gegner der Encomenderos. 1516 überreichte er dem Reichsvsrweser Kardinal Cisneros Denkschriften über die Mißstände und unterbreitete den Räten -»Karls V. Missions- und Kolonisationspläne, die von einigen wohlwollend aufgenommen, von anderen jedoch bekämpft wurden. Dennoch wurde er mit der friedlichen Kolonisierung von Cumaná beauftragt, die jedoch am Widerstand der staatlichen Stellen scheiterte. 1522 trat er in den Dominikanerorden ein, in dem er 1527 zum Prior des Konventes Puerto de Plata gewählt wurde. Als er 1534 nach Peru zu reisen beabsichtigte, wurde er von einem Sturm nach Nikaragua verschlagen, von wo er weiter nach Guatemala und

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Las Casas

Mexiko aufbrach (1536). Es gelang ihm, bei den kriegerischen Indios von Tezulutlan (später Vera Paz) den Frieden zu vermitteln. Nach Spanien zurückgekehrt, schrieb er 1542 für die 4. Junta von Valladolid eine Denkschrift. An der Formulierung der Leyes nuevas war er in entscheidendem Maße beteiligt; sie wurden am 20. November 1542 in Barcelona beschlossen und ein Jahr später auf seinen Rat hin vervollkommnet. Nach der Ablehnung der reichen Diözese Cuzco nahm er 1544 das arme Bistum Chiapa an. Wegen seiner Mitarbeit an den Leyes nuevas und seiner Forderung, die Tribute der Indios herabzusetzen, geriet er in -»Mexiko in Schwierigkeiten. Als er einen Hirtenbrief über die Zurückerstattung allen zu Unrecht erworbenen Gutes veröffentlichte, erhob sich in Chiapa ein Aufstand gegen ihn. 1546 nahm er an der Junta in Mexiko teil, die zwar einige Maßnahmen zugunsten der Indios annahm, aber auch Widerstand gegen seine Pläne offenbarte. Deshalb dankte er als Bischof ab und kehrte 1547 nach Spanien zurück, wo er die Politik des Indienrates entscheidend beeinflußte. 1548 widerlegte er die Thesen von Juan Gines de Sepülveda (vgl. 2). Höhepunkt des Streites war 1550 die Disputation mit Sepülveda in Valladolid (s.u.). Während seiner letzten Lebensjahre, die er im Konvent San Gregorio in Valladolid verbrachte, veröffentlichte er zahlreiche Werke. Er starb im Juli 1566 in Madrid. 2.

Entwicklung

In den ersten Jahren nach seiner Bekehrung hielt er es für möglich, daß die Mängel des Kolonialsystems durch die Gesetze von Burgos (1512) beseitigt werden könnten. Er entwarf Pläne, nach denen Indios und Spanier in Ehen zusammenleben sollten und stellte Arbeitsbedingungen auf, welche die Rechte der Indios garantierten. In dieser Phase akzeptierte er die Legitimität des spanischen Besitzes, die nach ihm auf der Verleihung der Länder durch den Papst begründet war. - In der zweiten Periode (1530-1544) legte er seine theoretischen Abhandlungen vor, in denen er eine Synthese zwischen der Tatsache der politischen Macht und der päpstlichen Verleihung ausarbeitete. Danach konnten die Rechte der einheimischen Herrscher ausreichend gewahrt werden. Die Conquista verwarf er jedoch als gewaltsame Eroberung. In den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens (1545-1566) nahm er eine radikale Position ein, nach der er die spanische Besetzung der Kolonien verurteilte. Danach waren die Spanier im Gewissen zur Wiedergutmachung verpflichtet (Restitution). - Im Streit mit Sepülveda widerlegte er dessen Thesen (s. Hanke, All mankind is onc): die Indios seien Barbaren; sie begingen Verbrechen gegen das Naturgesetz; sie töteten unschuldige Personen. Dagegen argumentierte er, daß es keine Sklaven von Natur aus gebe (wie man unter Berufung auf Aristoteles behauptete) und daß alle Menschen und Völker von Natur aus gleich seien. Jedes Volk müsse man im Lichte der eigenen Geschichte, Kultur und Religion beurteilen. So könne man auch die Menschenopfer verstehen, die das Beste Gott darbringen sollten, auch wenn man sie als Christ ablehne. Las Casas war ein Gegner des Krieges, den er nur zur Verteidigung billigte. Man dürfe die Indios nicht zuerst unterwerfen, um sie dann zu missionieren. Er lehnte die dahingehende Interpretation der Bulle Pauls III. Sublimis Dens (1537) durch Sepülveda ab. Der Glaube dürfe nur auf eine Art und Weise ausgebreitet werden, die mit den Geboten Jesu Christi übereinstimme. Nach ihm rechtfertigt nur die Evangelisierung auch die Kolonisierung und gibt ihr verpflichtende Normen für ihre Durchführung. 3.

Interpretation

Da er kein Berufstheologe war, sondern ein Autodidakt, fehlte ihm gelegentlich die Präzision. Als Polemiker behandelte er vorwiegend strittige Punkte und ließ andere außer acht. Sein Blick war auf die Mißstände gerichtet, die er aus einer anderen Perspektive betrachtete als ein Encomendero. Übertreibungen, die wir in seinen Werken finden, zerstören nicht die innere Logik seiner Gedankengänge. Beweise für eine angebliche Geistesgestörtheit von Las Casas konnte Menendez Pidal nicht liefern. Er neigte dazu, die Indios

Las Casas

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zu idealisieren, während sein Urteil über die Spanier hart ausfiel. Bei anscheinenden Widersprüchen ist der Charakter des jeweiligen Werkes zu berücksichtigen, ob es sich um eine polemische, historische oder eine theoretische Schrift handelt. Für die Herkunft seiner Thesen ist zu beachten, ob sie von ihm selbst oder gemeinsam mit Ordensbrüdern erarbeitet wurden. 4. Werke Las Casas verfaßte zahlreiche Denkschriften (memoriales), an denen zum Teil auch seine Dominikanermitbrüder beteiligt waren. 1527 begann er die Historia general de las Indias, ein umfangreiches Werk zur Kolonial- und Missionsgeschichte Lateinamerikas. Es handelt sich um eine erstklassige Quelle dazu, die wichtige Berichte wie z.B. über die Reisen von Christoph Kolumbus enthält (BiblMiss 1,36-38; Colección de Documentos inéditos T.62/66 [Madrid 1875/1876]). 1537 begann er De unico vocationis modo, ein bedeutendes Werk für Missionstheologie, -methode und -Spiritualität, das die friedliche Evangelisierung der Indios behandelt (BiblMiss 1,109-110; span. s. Miliares Carlo). 1543 begann er das am weitesten verbreitete, polemische Werk, Brevissima relación de la destrucción de las Indias (gedruckt Sevilla 1552), das gegen die Spanier gebraucht wurde (Leyenda Negra; BiblMiss 1,24). 5.

Bedeutung

Unverkennbar ist der Einfluß von Las Casas auf die staatliche Gesetzgebung (s. o.) und auf die Provinzialkonzilien von Mexiko (1585) und Lima (1582/83) zugunsten der Indios. Viele Völker, vor allem in Amerika, betrachten ihn als Vorläufer ihres Kampfes um Unabhängigkeit. Das außergewöhnlich große Interesse an Las Casas und seine Aktualität erklärt Hanke aus der Ähnlichkeit der Situation, in der viele unterentwickelte Völker heute leben, mit jener, die Las Casas vorfand. Diese streben nach Gleichberechtigung und Fortschritt. Las Casas wird als Anwalt der Menschenrechte betrachtet. Zu den Grundrechten gehören das Recht auf Besitz, auf Freiheit und politische Selbstbestimmung. Seine Ideen vom Fortschritt der Menschen und Völker finden großen Anklang bei jenen, die ihren Anteil am Fortschritt der industrialisierten Völker erstreben. In den letzten Jahren wurde er von den Befreiungstheologen (E. Dussel, G. Gutiérrez, H. Assmann) als Prophet gewürdigt. Er gilt schließlich als ein Pionier des Indigenismus, der die Integrierung der Indios befürwortete. Seine Grundintuition ist das Bild von Jesus Christus, der durch das den Indios zugefügte Unrecht in diesen leidet (I. André-Vincent). Quellen Del único m o d o de atraer a todos los pueblos a la verdadera religión, hg. v. Agustín M i l l a r e s C a r i o , M é x i c o 2 1 9 7 5 . - L o s tesores del Perú, hg. v. Angel L o s a d a , M a d r i d 1959. - O b r a s escogidas, hg. v. J u a n Pérez de T u d e l a / E m i l i o L ó p e z O t o , M a d r i d 1 9 5 7 - 1 9 5 8 (Biblioteca de Autores Españoles 9 5 . 9 6 . 1 0 5 . 1 0 6 . 1 1 0 ) . - T r a t a d o s de Fray B a r t o l o m é de L a s C a s a s , hg. v. J u a n Pérez d e T u d e l a , 2 Bde., México 21974.

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Laski

1970. - Ramón Menéndez Pidal, El Padre Las Casas. Su doble personalidad, Madrid 1963. - Isacio Pérez Fernández, Inventario documentado de los escritos de Fray Bartolomé de Las Casas, Bayamón 1981. - Ders., Cronología documentada de los viajes, estancias y actuaciones de Fray Bartolomé de Las Casas, Bayamón 1984. - Stafford Poole (Hg.), In defense of the Indians, DeKalb 1974. -Teofilo Urdánoz, Las Casas y Francisco de Vitoria: REP 198/199 (1974) 115-191. 199-224. - Henry Raup Wagner/Helen Rand Parish, The Life and Writings of Bartolomé de Las Casas, Albuquerque 1967.

Willi Henkel

Laski, Jan 1. Leben

(1499-1560) 2. Werk und Nachwirkung

(Quellen/Literatur S.450)

1. Leben Jan Laski (Johannes a Lasco) wurde 1499 in Lask, einer Kleinstadt westlich von Lodz in Polen geboren. Der Bruder seines Vaters war als Jan VII. von 1510-1531 Erzbischof von Gnesen und Primas von Polen sowie Kanzler des Königs Sigismund I. Dieser nahm entscheidenden Einfluß auf den Werdegang seines Neffen. Nach Schulbesuch in Krakau sind für Jan Laski als Studienorte ab 1513 Wien und Rom nicht sicher belegt, wohl aber Bologna (1515-1518) und Padua (1518/19). Er studierte vor allem kanonisches Recht und befaßte sich gründlich mit den lateinischen Klassikern, weniger mit Theologie. Im Frühjahr 1524 kam er nach Basel zu -»Erasmus von Rotterdam und nach Paris, wo er sich in der Sorbonne einschreiben ließ. Er setzte seine Studien ab 1525 in Basel fort. Dort lebte er im Hause des Buchdruckers Froben mit Erasmus zusammen, dessen Bibliothek er 1537 erwarb. Bei Konrad Pellikan lernte er Griechisch und Hebräisch. Bevor er 1526 über Padua und Venedig nach Polen zurückkehrte, hatte er Begegnungen mit Ulrich Zwingli, Farel, Oekolampad und Camerarius. Schon ab 1517 erhielt er einträgliche geistliche Bcncfizien. So wurde er Dekan von Gnesen, Domherr von Krakau, 1526 Propst von Leczyce und Gnesen und erhielt noch 1538 das Warschauer Archidiakonat der Posener Kirche. 1521 zum Priester geweiht, wurde er königlicher Sekretär und später Administrator der Erzdiözese Gnesen. Er war fest in die Kirche eingebunden durch die Familie, Pfründen und Ämter sowie durch seine Ausbildung in Italien und Frankreich. In Basel zum Erasmusschüler geworden, war er als Humanist wohl für Reformen der Kirche offen, aber gegen die aus Deutschland kommende Reformation Martin Luthers. Für seinen Bruder Jaroslaw, der auf der Seite Johann Zäpolyas, des Fürsten von Siebenbürgen, gegen die Habsburger um die ungarische Königskronc rang, war er diplomatisch tätig. Dafür sollte Jan Laski Bischof von Vesprem in Ungarn werden. Zäpolya verbündete sich mit den Türken, die Ofen eroberten und 1529 Wien belagerten. Die Laskis scheiterten auf dem Balkan und wurden wegen der Zusammenarbeit mit den Türken des Verrats am Christentum bezichtigt. Der Ubergang zu den Habsburgern milderte kaum ihren finanziellen und politischen Ruin. So wurde Jan Laski 1531 nicht als Nachfolger seines Onkels Erzbischof von Gnesen und kam dort auch 1535 nicht zum Zuge. Bemühungen um einen Bischofssitz in Krakau, Kamieniec, Kujawien, Posen und Olomonc zwischen 1536 und 1540 scheiterten. 1537 reiste er nach Breslau zu Jan Heß und über Dresden ins damals noch katholische Leipzig, wo er sich im Haus von Julius Pflug mit Philipp Melanchthon traf. Er verließ Polen 1539, befreundete sich in Frankfurt am Main mit Albertus Hardenberg, damals noch Ordensgeistlicher, und studierte mit diesem zusammen in Mainz und Löwen. Hier schloß er sich der -*Devotio moderna an und heiratete 1540 eine Löwener Bürgerstochter. Danach entwich er nach Emden, wo er als Privatmann lebte. Von hier reiste er an das Sterbebett seines Bruders Jaroslaw nach Krakau. Dort leistete er noch nach dem Tode seines Bruders 1542 einen Reinigungseid, er habe die katholische Kirche nicht verlassen und bekenne sich auch nicht zu Luthers Lehre. (So zuletzt Oskar Bartel; Dalton u.a. verlegen dieses Ereignis in das Jahr 1526.) Erst danach verzichtete er auf seine kirchlichen

Laski

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Ä m t e r und Benefizien und brach, im Sommer 1542 nach Emden zurückgekehrt, mit der katholischen Kirche. Im November 1542 w u r d e er von der Gräfin Anna zum ersten und einzigen Superintendenten von ganz ->Ostfriesland berufen, hier die kirchlichen Verhältnisse aufgrund der lutherischen Kirchenordnung von 1535 zu ordnen. Weil er bei seinen Ordnungsbemühungen bald auf Widerstand stieß, wollte er bereits Anfang 1546 resignieren. Laski reiste 1545 von Ostfriesland nach O s n a b r ü c k , Köln, Bonn, Worms und Heidelberg, korrespondierte mit Herzog Albrecht von Preußen und a b 1548 mit König Sigismund August II. von Polen sowie nach dem Tode Heinrichs VIII. von England 1547 mit dem Erzbischof von Canterbury, T h o m a s C r a n m e r , einem Erasmusschüler, und dem Herzog von Somerset. Von September 1548 bis M ä r z 1549 war er in London und leistete d o r t Hilfe bei der kirchlichen Erneuerung. Im Sommer 1549 hielt er sich bei Herzog Albrecht in Ostpreußen auf, führte vor allem politische Verhandlungen und strebte seine Rückkehr nach Polen an. Auf kaiserlichen Druck wurde Laski als Superintendent von Ostfriesland entlassen und verließ Emden am 7. O k t o b e r 1549. Nach Aufenthalten in Bremen bei Albertus Hardenberg und in H a m b u r g bei J o h a n n Alpinus k a m er am 13. Mai 1550 wieder in London an. Hier w u r d e er am 24. Juli 1550 Superintendent der französischen, deutschniederländischen und italienischen Fremdengemeinde mit vier Pastoren, einer weitgehend vom Staat unabhängigen a u t o n o m e n Gemeinschaft, in der er seine Idealvorstellung von Kirche zu verwirklichen suchte. Nach dem Tode König Eduards VI. m u ß t e Laski mit vier Pastoren und 175 Gemeindeglicdcrn im September 1553 das Land verlassen. Im lutherischen D ä n e m a r k wurde ihm kein Asyl gewährt, wohl aber in Emden. Dort w u r d e 1554 d a r a u f h i n eine wallonische Gemeinde gegründet. Laski w u r d e aber nicht wieder zum Superintendenten in Ostfriesland bestellt. Im April 1555 verzog Laski über Köln nach F r a n k f u r t am Main. Dort gründete er eine für die hier lebenden Niederländer flämischer H e r k u n f t bestimmte Gemeinde und bekannte sich zur Augsburgischen Konfession von 1540. Hier hatte er 1556 eine persönliche Begegnung mit Calvin, reiste zu Unterredungen mit Herzog Ottheinrich von der Pfalz nach Speyer und mit Herzog Christoph von Württemberg und Johannes Brenz nach Stuttgart. Im Oktober 1556 verließ er F r a n k f u r t und kam über Kassel, w o er Landgraf Philipp von Hessen traf, Erfurt und Wittenberg, blieb dort drei Tage bei Mclanchthon, und Breslau im Dezember 1556 nach Kleinpolen. Dort erwarteten die Protestanten, d a ß er sich an ihre Spitze stellte. Gespräche mit König Sigismund August II. und Fürst Radziwill in Wilna führten nicht weiter. Im Sommer 1557 n a h m Laski seinen Wohnsitz in Pinczow und versuchte, das in Polen stark zerstreute evangelische Lager zu einen und gegen Antitrinitarier (F. -+Stancaro) und Wiedertäufer abzugrenzen. Auf allen Kirchenversammlungen und Synoden in Kleinpolen w a r er bestrebt, die Genfer Richtung durchzusetzen. Ziel w a r eine polnische evangelische Nationalkirche für Calvinisten, Lutheraner und Böhmische Brüder. Die Z a h l der evangelischen Gemeinden in Kleinpolen verdoppelte sich in drei Jahren. Einigungsbemühungen in Großpolen und Verhandlungen mit Herzog Albrecht in Ostpreußen waren ohne Erfolg. Eine Einigung auf der Basis der Confessio Augustana von 1540 kam nicht zustande. Lutheraner und Böhmische Brüder ließen sich nicht d a f ü r gewinnen. Die erfolglosen Auseinandersetzungen mit Stancaro schadeten der evangelischen Sache sehr und halfen den gegenreformatorischen Bemühungen des ermländischen Bischofs Stanislaus ->Hosius. Sein letztes Lebensjahr w a r Laski ständig krank und starb am 8. J a n u a r 1560 in Pinczow, w o er in der Kirche vor dem H o c h a l t a r begraben wurde. Sein G r a b wurde 1884 zerstört. 2. Werk und

Nachwirkung

Einen wesentlichen Teil des Lebenswerkes des katholischen Priesters und auch des späteren evangelischen Superintendenten n a h m seine diplomatische und politische Tätig-

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Laski

kcit ein, die allerdings o h n e Erfolg blieb. Seine Bemühungen, mit seinem Bruder J a r o s l a w f ü r die Familie Laski in Siebenbürgen und Ungarn eine Herrschaftsgrundlage a u ß e r h a l b Polens zu erlangen, scheiterten vollständig. Die Folge davon w a r , d a ß er entgegen seinen Bemühungen auch in der katholischen Kirche in Polen nicht die Stellung erhielt, um im Sinne seines Lehrers Erasmus von R o t t e r d a m R e f o r m e n durchsetzen zu k ö n n e n . Knapp zwei Jahrzehnte um die Mitte des Reformationsjahrhunderts als evangelischer Theologe wirkend, waren seine Hauptanliegen die lehrmäßige Einheit der evangelischen Kirche, ihre O r d n u n g und ihre Gestaltung. Dem dienten seine Schriften, die vor allem in der Zeit von 1544 bis 1554 entstanden, und seine Tätigkeit als Kirchenorganisator. Dabei löste er sich bewußt aus der Welt des H u m a n i s m u s . Er grenzte sich ab gegen Katholiken und T ä u f e r , namentlich gegen - » M e n n o Simons und David -+ Joris, aber auch gegen Luther und Zwingli. Schrittweise vollzog er den Ubergang zu Calvin, ohne allerdings dessen Prädestinationslehre zu übernehmen. Bei seinem Bestreben um die Lehreinheit der Evangelischen in Ostfricsland klammerte er zunächst die Abendmahlslehre aus. Später lehnte er sich schrittweise fast vollständig an Calvins Abendmahlsauffassung an und wurde u. a. durch seinen maßgeblichen Einfluß auf den Emder Katechismus zu einem der Verursacher der Trennung Ostfrieslands in die beiden evangelischen Hauptkonfessionen. In Polen gelang es ihm auch nicht, die lehrmäßige Einheit der Evangelischen herzustellen. Hier wurde er zum Begründer der reformierten Kirche. Für sein Kirchenordnungswerk erhielt er starke Impulse von -»Bucer. In Emden gründete er 1544 aus Predigern und Ältesten den Kirchenrat, dessen H a u p t a u f g a b e die Kirchenzucht war. Für die Erörterung der Lehre richtete er im selben J a h r den Coetus, eine Versammlung aller Prediger Ostfrieslands, ein, die aber schon bald nur noch von Reformierten besucht wurde. Kirchenrat und Coetus überdauerten den Gründer und w u r d e n , wie auch deren Weiterentwicklung unter freikirchlichen Bedingungen in London, beispielhaft f ü r reformierte -»Kirchenordnung. Seine Bemühungen um den Katechismus mündeten zu einem nicht unerheblichen Teil in den -»Heidelberger Katechismus ein. Auch seine Gottesdienstordnung, die er aus ostfriesischen Sonderformen weiterentwikkelte, hatte Folgewirkungen für die Gestaltung des Gottesdienstes in der reformierten Kirche. Wie k a u m jemand in der Reformationszeit w a r er international und interkonfessionell ausgerichtet und hat am Ende doch nur wesentliche Bedeutung für die reformierte Kirche auch über seinen Tod hinaus erlangt. Quellen Joannis a Lasco opera tarn edita quam inedita duobus voluminibus comprehensa, ed. Abraham Kuyper, Amsterdam 1866. - BDG, 10329-64. 47339-45. 55470-74.

Literatur Oskar Bartel, Jan Laski, Czesc 1,1499-1556, Warschau 1955 (poln.; dazu Arnold Starke: ARG 47 [1956] 279f). - Ders., Johannes a Lasco u. Erasmus v. Rotterdam: LuJ 32 (1965)48-66. - Ders., Jan Laski, aus dem Poln. übers, v. Arnold Starke, Berlin 1981 (Lit.).-W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei Johannes a Lasco, Greifensee 1951. - Hermann Dalton, Johannes a Lasco, Beitr. zur Reformationsgesch. Polens, Deutschlands u. Englands, Gotha 1881. - Ders., Lasciana nebst den ältesten Synodalprotokollen Polens 1555-1561, Berlin 1898. - Ders., Miscellaneen zur Gesch. der ev. Kirche in Rußland nebst Lasciana NF, Berlin 1905. - EKO VII/1. - Ulrich Falkenroth, Gestalt u. Wesen der Kirche bei Johannes ä Lasco, Diss. theol. Göttingen 1957. - K. Hein, Die Sakramentslehre des Johannes a Lasco, Diss. theol. Bonn 1904. - Ernst Kochs, Vier Jh. Coetus der ref. Prediger Ostfrieslands. Ein Querschnitt durch die ref.KG Ostfrieslands u. ein Beitr. zur Verfassungsgesch. der ref. Kirche, 1943 (ungedr.). - Ders., Zur Theol. Johannes Laskis. Ein Beitr. zur Theologiegesch. des 16. Jh., o. J. (ungedr.) - P. Kruske, Johannes ä Lasco u. der Sakramentsstreit. Ein Beitr. zur Gesch. der Reformationszeit, 1901 (SGTK VII/1). - O t t o Naunin, Zur Laskikontroverse der Gegenwart, Deutsch-Eylau 1906. - Ders., Die KO des Johannes Laski: DZKR 41 (1909) 2 4 - 4 0 . 196 - 236. 348-375. - Alfred Rauhaus, Unters, zur Entstehung, Gestalt u. Lehre des Kleinen Emder Katechismus v. 1554, Diss. theol. Göttingen 1977. - Menno Smid, Ostfriesische KG, Pewsum 1974. - Anneliese Sprengler-Ruppenthal, Mysterium u. Riten nach der Londoner KG der Niederländer (ca.

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Lateinamerika

1 5 5 0 - 6 6 ) , 1967 ( F K R G 7). - J a n W e e r d a , D e r E m d e r K i r c h e n r a t u. seine G e m e i n d e . Ein Beitr. zur G e s c h . der ref. K O in D e u t s c h l a n d , ihre Grundsätze u. ihre Gestaltung. 1. T. Die Grundlegung der K O durch a L a s c o , Diss. theol. Göttingen 1 9 4 4 (ungedr.), 2 . T . D i e Dienste u. die G e m e i n d e , H a b S c h r . M ü n s t e r 1948 (ungedr.). - D e r s . , Entstehung u. E n t w i c k l u n g der Gottesdienstordnungen der ref. G e m e i n d e zu E m d e n . Eine Stud. zur G e s c h . der ref. Liturgie in D e u t s c h l a n d : J a n R e m m e r s Weerda, N a c h G o t t e s Wort ref. Kirche. Beitr. zu ihrer G e s c h . u. ihrem R e c h t , M ü n c h e n 1964 (Neudr. u. B e r . aus dem 2 0 . J h . 2 3 ) , 1 1 - 4 9 .

Menno Smid Lasterkataloge -»Formgeschichte/Formenkritik Latein -»Kirchensprache Lateinamerika 1. Der Begriff Lateinamerika 2 . Iberische Ausgangspunkte für Conquista und Mission 3. Die a u t o c h t h o n e Bevölkerung und ihre Religionen 4 . Kolonialismus und M i s s i o n 5 . Missionskirche und Kolonialkirche 6 . Aufklärung und politische Emanzipation 7 . Kirche und Gesellschaft im Z e i t a l t e r von Spätliberalismus und Szientismus (ca. 1 8 5 0 - 1 9 6 0 ) 7 . 1 . Die römisch-katholische Kirche 7 . 2 . Die Ausbreitung des Protestantismus 7 . 3 . O r t h o d o x e Kirchen 8. Die lateinamerikanische Christenheit vor den Herausforderungen der G e g e n w a r t 8 . 1 . Die katholische Kirche 8.2. D e r Protestantismus 8 . 3 . Die missionarische Neubesinnung 8.4. Kontcxtuelle P r o b l e m e und ö k u m e n i s c h e Z u s a m m e n a r b e i t 9 . Sekten, Synkretismen und andere Religionen (Bibliographien/Literaturberichte/Quellen/Literatur S. 4 7 7 )

1. Der Begriff

Lateinamerika

Lateinamerika ist ursprünglich ein kulturgeschichtlicher Begriff, der erst im 19. Jh. in Frankreich geprägt worden ist, um den ganzen Bereich amerikanischer Länder, die bleibend von der lateinischen Zivilisation durch Spanier, Portugiesen, Franzosen und Italiener geprägt sind, zu bezeichnen. Er ist unbefriedigend, weil er Ausdruck eines kulturellen -•Kolonialismus ist, der das indo-afrikanische Kulturerbe verschweigt. Er kann nur in anachronistischem Sinn auf die Kolonialzeit angewandt werden, in der die Spanier von „dem westlichen Indien" und die Portugiesen von Brasilien sprachen, da sich sogar der Begriff „Amerika", den erstmals der Freiburger Kosmograph Martin Waldsecmüller 1507 in einem Kartenwerk zu Ehren Amerigo Vespuccis angewandt hatte, in den iberischen Sprachen nur sehr zögernd durchsetzte. Die räumliche Ausdehnung dessen, was der Begriff Lateinamerika abdeckt, hat sich im Laufe der Geschichte verschoben. Erstreckte sich der spanische bzw. mexikanische Herrschaftsbereich bis weit in das Gebiet der heutigen USA (Florida und die Golfküste bis zur Mündung des Mississippi bis 1819, Texas bis 1845, Kalifornien bis 1848/1853), so reicht er heute von Feuerland bis zur Nordgrenze Mexikos, umfaßt also in geographischem Sinn Südamerika, Zentralamerika und den Südteil Nordamerikas. Unter kulturgeschichtlichen Aspekten müßte man Teile der Karibik ausgrenzen. Da aber ein enger geschichtlicher und auf sozio-ökonomischem Gebiet auch ein enger problemgeschichtlicher Zusammenhang zwischen der ganzen Karibik und dem Subkontinent besteht und sich z.B. katholischerseits heute alle Bistümer der Karibik einschließlich derjenigen des von den USA annektierten Puerto Rico dem Lateinamerikanischen Bischofsrat (CELAM) angeschlossen haben, ist es sinnvoll, unter dem Begriff Lateinamerika, der heute immer mehr auch im geographischen Sinn gebraucht wird, die gesamte Landmasse südlich der USA einschließlich der Karibik mit Puerto Rico zu verstehen, also ein Gebiet, das heute 21.341.136 km 2 mit mehr als 368 Mill. Einwohnern im Jahr 1980 (1990 schätzungsweise 400 Mill.) umfaßt. 2. Iberische

Ausgangspunkte

für Conquista

und

Mission

Die Mentalität der Eroberer war von der Tradition der „Reconquista" (-»Spanien), der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel von den Mauren, geprägt, die 1492, kurz vor

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Lateinamerika

der sogenannten Entdeckung Amerikas, mit der Unterwerfung des Königreichs von Granada durch die katholischen Könige Ferdinand von Aragón und Isabella von Kastilien, die durch ihre Heirat erst die spanischen Territorien vereint hatten, ihr Ziel erreicht hatte. Man kann die Eroberung der Neuen Welt als Fortsetzung der Reconquista verstehen, zumindest hinsichtlich der Kontinuität von Methoden und Personen. Bei der Conquista ging es brotlos gewordenen Landadeligen und Abenteurern, die auf der Iberischen Halbinsel kein Betätigungsfeld mehr fanden, um alles andere als um die Ausbreitung des Evangeliums bei den Indios. Immer wieder ist in den Quellen von der unersättlichen Gier der Spanier nach Reichtümern die Rede (vgl. Konetzke, Christentum u. Conquista). Ein weiteres Moment der Kontinuität liegt darin, daß die Schwarze Madonna des Benediktiner-Klosters Montserrat, die als Schirmherrin des Kampfes der Spanier gegen den Islam verehrt wurde, im 16. Jh. auch zur Schirmherrin der Mission auf amerikanischem Boden gemacht wurde (Benz 132). Zur völkerrechtlichen Absicherung ihrer Entdeckungen bedienten sich die portugiesischen und spanischen Kronen des päpstlichen Universalismus, für den heidnische Staaten überhaupt keine Daseinsberechtigung hatten, so daß eine Bulle wie das Motu proprio Alexanders VI. Inter cetera von 1493 wie eine päpstliche Weltverschenkung wirken mußte. Die Abgrenzung der Interessensphären Spaniens und Portugals wurde 1494 durch den Staatsvertrag von Tordesillas untermauert und modifiziert. Allerdings sollte bald Portugal den 310. Längengrad nicht mehr als Grenze seiner Expansion in Brasilien anerkennen, wie auch die übrigen europäischen Seemächte England, Holland und Frankreich den Vertrag nicht anerkannten. Die vordergründige Unterwerfung der Kronen unter die päpstliche Theokratic schon Alfonso Henriquez ( f l l 8 5 ) hatte 1179 Papst -»Alexander III. den Lehnscid geschworen, um von ihm die Anerkennung Portugals als Königreich zu erlangen - hat freilich ein durch Patronatsrccht begünstigtes Staatskirchentum auf der Iberischen Halbinsel und in Amerika ermöglicht, das im damaligen Europa seinesgleichen suchte und den effektiven Einfluß des Papsttums minimalisieren sollte. Die gotische Landcskirchcntradition und die besonderen Verhältnisse der Reconquista hatten auf der Iberischen Halbinsel zu einer hochgradigen Verbindung lind Vermischung beider G e w a l t e n geführt, die durch päpstliche Privilegien, die zur Förderung des Krieges gegen die M a u r e n gewährt worden waren, noch gesteigert wurden. Hier sind die juristischen Wurzeln für das königliche Patronat über viele Kirchen zu suchen, das dann im I.aufe der Zeit zu einem generellen königlichen Patronatsrecht über die Kirche in Amerika ausgeweitet werden sollte. Übrigens entsprach die Vermischung des zivilen und religiösen Bereichs, das messianische Bewußtsein und die kriegerische G l a u bensauffassung der Spanier weitgehend der M e n t a l i t ä t der von ihnen bekämpften M a u r e n .

Durch das Motu proprio Inter cetera erhielten die spanischen Kronen die in ihrem Auftrag entdeckten Gebiete als päpstliches Lehen, verbunden mit der Verpflichtung der Mission, nachdcm Portugal ein ähnliches Auftragslehen schon 1454 von -»Nikolaus V. erhalten hatte. Auf eine solche gigantische missionarische Aufgabe war die iberische Kirche keineswegs vorbereitet. War es doch bei der Reconquista wesentlich um die Wiedererrichtung oder Erweiterung kirchlicher Strukturen in den eroberten Gebieten gegangen, in denen noch eine christliche Minderheit lebte. Ansätze zu interkultureller Mission, wie sie der Franziskaner Ramón Llull (-»Lullus, Raimundus) im 13. Jh. entwickelt hatte, waren in Vergessenheit geraten. Der Sieg von 1492 bedeutete das Ende der Toleranz auf der Iberischen Halbinsel. M i t dem berüchtigten Edikt vom 3 1 . M ä r z 1492 wurden die spanischen J u d e n vor die Alternative T a u f e oder Auswanderung gestellt ( - » J u d e n t u m ) . Die jüdischen Neuchristen ( - » M a r r a n e n ) wurden von der 1478 in Kastilien, 1482 in Aragón und 1536 auch in Portugal, wohin viele Juden geflüchtet waren, wiedererrichteten -»Inquisition ü b e r w a c h t . Entgegen den Kapitulationsbedingungen von 1492 wurden 1 5 0 2 auch die M a u r e n vor die Alternative T a u f e o d e r Auswanderung gestellt. Bezeichnenderweise wurden solche Z w a n g s m a ß n a h m e n von denselben Kräften gefördert, die für die innere R e f o r m der spanischen Kirche eintraten, z. B . vom franziskanischen Beichtvater Königin Isabellas, F r a n c i s c o - » X i m é n e z de Cisneros, E r z b i s c h o f von T o l e d o , Kardinal und Primas der spanischen

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Kirche, der für eine gewaltsame Bekehrung der Mauren eintrat und mit Bücherverbrennungen und Massentaufen in Granada 1499 allererst jene Unruhen hervorgerufen hatte, die den Vorwand für das Gesetz von 1502 lieferten. Das Ergebnis war eine fanatisierte südspanische Kirche auf der einen und oberflächlich oder dem Schein nach bekehrte Juden (conversos) und Mauren (moriscos), die nun der Inquisition unterstanden, auf der anderen Seite. D e r äußere Schein w a r im neuen Spanien wichtiger als die innere Überzeugung. Bei der E r o b e r u n g Amerikas k o n n t e k a u m m e h r Verständnis und T o l e r a n z g e g e n ü b e r anderen R e l i g i o n e n erwartet werden, als in Spanien und w e n i g später auch in Portugal gegenüber J u d e n t u m und Islam praktiziert wurde. Die - » R e n a i s s a n c e ging in Spanien eine Verbindung mit dem T r a d i t i o n a l i s m u s , d . h . mit dem scholastischen Katholizismus ein ( M e n é n dez 1 3 5 ) . D e r C o n q u i s t a d o r ist die R e n a i s s a n c e - F o r m des spanischen R i t t e r s der R e c o n quista-Periodc ( G r o s s m a n n 16). D a s von italienischen J u r i s t e n seit d e m 14. J h . p r o k l a mierte Ideal einer laikaien G e s e l l s c h a f t , in der Gesellschaft und K i r c h e von der staatlichen O b r i g k e i t kontrolliert w e r d e n , setzte sich in Spanien im 16. J h . d u r c h . M i t der Niederschlagung des Aufstands der Comuneros (des „ g e m e i n e n M a n n e s " ) 1 5 2 0 unterlag der ständischc Feudalismus und m a c h t e dem zentralistischen T e r r i t o r i a l s t a a t Platz, dessen historisch-bürokratisches H e r r s c h a f t s s y s t e m das M o d e l l des s t ä n d i s c h - k o r p o r a t i v e n S t a a t s mit seiner zutiefst ungleichen und traditionellen Gesellschaft a u f die ÜberseeT e r r i t o r i e n übertragen sollte (vgl. Phelan, T h e k i n g d o m ) . 3. Die autochthone

Bevölkerung

und ihre

Religionen

Z a h l e n m ä ß i g e A n g a b e n zur B e v ö l k e r u n g A m e r i k a s a m V o r a b e n d der C o n q u i s t a sind schwierig. Lange Z e i t galten R o s e n b l a t s B e r e c h n u n g e n , die a u f 13,3 M i l l . Indios hinausliefen, als zuverlässig. N a c h neueren F o r s c h u n g e n hingegen ist mit c a . 100 M i l l . zu rechnen (vgl. B o r a h / C o o k sowie neuerdings: N . S á n c h e z - A l b o r n o z , T h e p o p u l a t i o n o f c o l o nial Spanish America u. M . L. M a r c i l i o , T h e population o f c o l o n i a l Brazil: C a m b r i d g e H i s t o r y 2 , 3 f f . 3 7 f f ) , davon allein 2 5 M i l l . im a m dichtesten besiedelten z e n t r a l m e x i k a n i schen H o c h l a n d . Z u r Zeit der C o n q u i s t a kann m a n g r o b drei Kulturstufen mit jeweils eigenen religiösen Ausprägungen bei den V ö l k e r n der Neuen Welt unterscheiden: 1. Jäger, Fischer und Sammler mit oder ohne beginnende Landivirtschafl, d. h. einerseits Marginalstämme lind andererseits Urwaldstämme des tropischen Tieflands mit ausgebildeter Landwirtschaft mit der Kultivation tropischcr Wurzeln wie des bitteren Maniok, Herstellung von Flußfahrzeugen, Hängematten und Keramik. Die Vorstellung eines Hochgottes, eines Schöpfungsgottes und Stammesvaters ist bei fast allen Naturvölkern Amerikas vorhanden (-»Gott). Die Verehrung dieses Kulturheros kann nicht nur in direkter Anrufung, sondern genauso in magisch-kultischen Riten ihren Ausdruck finden. Typisch für die religiösen Vorstellungen des Jägertums sind die Tiergeister, für die Ackerbauvölker zusätzlich die Vegetationsgottheiten. Die verbreiteten Mythen über Kopfgeistcr, also Geister, die sich in Form eines menschlichen Kopfes fortbewegen, stammen fast alle aus dem typischen Kulturhorizont der Jäger. Aber das diesen Mythen entsprechende Kultinstrument, die Kürbisrassel, findet sich vorwiegend bei Ackerbauvölkern. Erst bei ihnen entwickelte sich die Assoziation Kopf - Hohlfrucht. Der Schamane hingegen, der sich als Hauptinstrument der Kürbisrassel bedient, stammt aus dem religiösen Bereich der Jäger. Er hat Einfluß auf die Wildgeister, die dem Jäger nach entsprechendem Opfer bei Androhung von Strafen nur die Erlegung einer beschränkten Anzahl von Tieren erlauben, so daß überall, wo diese Völker ungestört von Weißen lebten, das ökologische Gleichgewicht erhalten blieb. Der Schamane hat ebenfalls wichtige Funktionen im Zusammenhang mit der Ermittlung der Herkunft der verschiedenen Seelen bei Neugeborenen und bei der Vernichtung der gefährlichen Tierseele des Menschen nach seinem Tode. Die den tropischen Urwaldvölkern eigene endokannibalische Bestattungsweise weist sowohl auf den Zusammenhang zwischen Menschenopfern, Kannibalismus und Fruchtbarkeit der Pflanzen hin wie auf einen Auferstehungsglauben. Denn dieser nur bei Ackerbauvölkern übliche Genuß von Totcnaschc bezeichnet ein Auferstehungsritual innerhalb einer Weltanschauung, die den Vorgang von Werden und Vergehen vom Bilde der Pflanze her versteht. Materielle Darstellungen übernatürlicher Wesen sind in diesen Kulturen selten. 2. Völker der intermediären Kulturstufe im zirkum-karibischen und subandinen Gebiet, deren kulturelles Niveau der formativen Phase der Hochkulturen entspricht.

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Merkmale: beginnende klassenmäßige Differenzierung der Gesellschaft, Entwicklung einer überregionalen Organisation, Kriegführung zu sakralen und politischen Zwecken, Bau bestimmter Grabtypen, teilweise auch Tempel, verbesserte Technologie. Die religiöse Vorstellungswelt der Jäger und Ackerbauer wirkt weiter, wird aber ergänzt durch einen differenzierten Kult nach dem Muster der Hochkulturen mit der Dreiheit: Tempel - Priester - Idole. Wenn der höchste Gott bisweilen als deus otiosus gedacht wird, der nicht in das Weltgeschehen eingreift, dann tun das andere Götter. Ihrem Eingreifen entspricht der Kult als antwortendes Handeln der Menschen u.a. in Form von Opfergaben. Die Vorstellung der Einheit des Lebendigen steht im Vordergrund, so daß der Übergang zwischen Göttern, Menschen und Tieren fließend gedacht ist. Die Annahme von „Verwandlungen" der persönlich gedachten Numina, die auch anthropomorph, zoomorph oder dendromorph dargestellt werden können, ist der Nährboden aller „totemistischen" Phänomene. Der Ahnenkult ist meistens verbunden mit dem Animismus, also der Vorstellung von der Beseelung der gesamten Natur, wobei je nach Einstellung zu den Menschen gute und böse Geister unterschieden werden. 3. Völker der Stufe der Hochkultureti: die Chibcha in der Mesa Central des heutigen Kolumbien an der Schwelle zur Hochkultur und die eigentlichen Hochkulturen der Maya und der Azteken in Mesoamerika - um nur die bekanntesten zu nennen - und der Inka in Südamerika. Merkmale: Stärkere Ausbildung der Klassengesellschaft und einer politischen Organisation bis hin zu regelrechten Staatsgebilden oder gar Imperien mit rational durchdachter Kriegsführung, die auf Eroberung oder Tributverpflichtung abzielt, Herausbildung einer besonderen Priesterklasse für den Tempelkult, die sich vom Schamanentum abhebt, hohe Produktivität in der Landwirtschaft mit Hilfe von Bewässerungssystemen, so daß die Ausweitung der Siedlungen zu regelrechten Urbanen Zentren möglich wurde. Höhere handwerkliche und künstlerische Leistungen in Keramik (ohne Töpferscheibe), Malerei, Bildhauerei, Weberei, die jedem Vergleich mit Kunstwerken der Alten Welt standhalten können. Ausbildung des Fernhandels. Während die andinen Hochkulturen führend waren in der Metallurgie bis zur Erfindung der Bronze, ferner in Weberei, Bewässerungssystemen und Terrassierungen und speziell der Verwaltungsaufbau und die Wirtschaftslenkung des Inkareiches im übrigen Altamerika unerreicht blieben, dominierte in Meso-Amerika eindeutig die Entwicklung von Zahlensystemen mit der Entdeckung der Null, sowie des Kalenders, worin namentlich die Maya alle Kulturen der abendländischen Antike übertrafen, der Astronomie sowie ideographischer Schriften. Die Religion der Hochreligioncn ist komplex, weil sie Elemente der anderen Stufen mit einbezieht. So bildete im Inka-Reich der Kult des Sonnengottes Inti, zu dem der regierende Inka im Kindschaftsverhältnis gedacht wurde, die Rcichsreligion, während die Verehrung der Götter der unterworfenen Staaten und die Religiosität der Sippen mit der Verehrung der Ahnengeister und der Schutzgeistcr fortdauerte. Für die christliche Mission sollten F.thik, Sündenvorstellung, Beichte und Absolution wichtig werden, was auch für den mesoamerikanischen Bereich gilt. Dort galt Blut als ein Faktor, durch den der Mensch zum Mitarbeiter der Götter bei der Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung wird. Von hier aus ergibt sich eine Verbindung zum Menschenopfer, dem namentlich bei den Toltckcn und Azteken eine zentrale Bedeutung zukam. In den Hochreligioncn spielte die Annahme, daß die Toten noch am Tun der Überlebenden teilhaben, zwar noch eine gewisse Rolle, aber der Glaube siedelte sie auch in bestimmten Totenreichen an (vgl. Séjourné, Steward, Zerries, Girard, Trimborn, Krickeberg). 4. Kolonialismus

und

Mission

I m B o r d t a g e b u c h des C h r i s t o p h K o l u m b u s w u r d e n die E i n w o h n e r der ersten v o n i h m e n t d e c k t e n Insel in V e r k e n n u n g der g e o g r a p h i s c h e n R e a l i t ä t e n s c h o n a m 13. O k t . 1 4 9 2 als Indios

b e z e i c h n e t , n a c h d e m er tags z u v o r n i e d e r g e s c h r i e b e n h a t t e : „ S i e sind s i c h e r

h e r v o r r a g e n d e A r b e i t s k r ä f t e " (servidores

- Diener). Kann man koloniale Ausbeutungsab-

sichten p r ä g n a n t e r a u s d r ü c k e n als d u r c h diese G l e i c h u n g : Indios

= A r b e i t s k r ä f t e ? S o ist

es k a u m v e r w u n d e r l i c h , d a ß I n d i o ein S c h i m p f n a m e w u r d e . Es g i b t k e i n e i n d i a n i s c h e R a s s e , kein k o n t i n e n t a l e s Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t s g e f ü h l und f o l g l i c h a u c h keinen S a m m e l n a m e n für die E i n w o h n e r d e r N e u e n W e l t . E r s t im 5 . J h . i h r e r D i s k r i m i n i e r u n g sollte ein s o l c h e s Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t s g e f ü h l

e n t s t e h e n , w e s h a l b V e r t r e t e r der h e u t i g e n

E m a n z i p a t i o n s b e w e g u n g b e w u ß t den S c h i m p f n a m e n „ I n d i o " als Z e i c h e n d e r g e m e i n s a men S i t u a t i o n aller an d i e s e m K a m p f Beteiligten b e n u t z e n . D e s h a l b und in E r m a n g e l u n g eines a n d e r e n Begriffs sollen a u c h im F o l g e n d e n die U r e i n w o h n e r A m e r i k a s als Indios bezeichnet werden. Bei der C o n q u i s t a ging es v o n v o r n h e r e i n u m U n t e r w e r f u n g und u m A n e i g n u n g der G ü t e r und d e r A r b e i t s k r a f t d e r I n d i o s . D i e s e p r o f a n e n Z i e l e w u r d e n zu ihrer R e c h t f e r t i g u n g i d e o l o g i s c h v e r b r ä m t (vgl. M i r e s ) , z . B . d u r c h die K o n q u i s t a d o r e n p r o k l a m a t i o n der

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spanischen Kronen von 1514, die den indianischen Völkern vor ihrer militärischen Unterwerfung zu verlesen war. Durch diese wurde ihnen implizit unter Bezug auf Inter cetera mitgeteilt, der Papst habe die neuentdeckte Welt den spanischen Königen geschenkt, die nun Unterwerfung unter ihre Herrschaft und Anerkennung des Papstes als Stellvertreter Christi verlangten, andernfalls sie berechtigt seien, die Völker zu versklaven (vgl. den Text bei B. Biermann, Das Requerimiento). Schon der Schein von Widerstand oder Unbotmäßigkeit seitens der Indios wurde von den Spaniern als crimen laesae majestatis und damit automatisch auch als „Beleidigung Gottes" interpretiert, was den Vorwand zur Versklavung lieferte. In Brasilien bedurfte es oft dieses Vorwandes gar nicht, da die Paulistaner Bandeiranten ihre Sklavenfangzüge ins Landesinnere nach eigenem Gutdünken unternahmen. Die Einheit von iberischer Zivilisierung und katholischer Mission im Zeichen des Kirchenpatronats der Könige führte also dazu, daß das Evangelium von Anfang an als Religion der grausamen Eroberer in Mißkredit geriet, die sich der einheimischen Bevölkerung mittels Versklavung oder Tributauflagcn und Zwangsarbeit (repartimiento) (vgl. exemplarisch für Neu-Spanien die Untersuchung von Gibson) im Rahmen der Kommende zu wirtschaftlichen Zwecken bedienten. D i e K o m m e n d e hat sich schon in der ersten G e n e r a t i o n zur T e r r o r e i n r i c h t u n g entwickelt, wie G i b s o n für - » M e x i k o nachgewiesen hat. Die G r a u s a m k e i t e n bei Unterwerfung, Versklavung und Z w a n g s a r b e i t und bisher in A m e r i k a u n b e k a n n t e K r a n k h e i t e n , gegen die die Urbevölkerung nicht resistent war, sowie der aus moralischen Gründen bei Tieflandindios verordnete Kleiderzwang, der ebenfalls zu Infektionen führte, ließen die indianische Bevölkerung a u f den Antillen binnen weniger J a h r z e h n t e völlig aussterben und bis 1570 auf dem Kontinent auf c a . 1 0 - 1 2 M i l l . zurückgehen, also fast a u f ein Z e h n t e l . W ä h r e n d von da an in M e x i k o , Z e n t r a l a m e r i k a und dem nördlichen Andenraum wieder ein lcichter Anstieg einsetzte (vgl. statistisches M a t e r i a l bei K o n e t z k e , Süd- und M i t t e l amerika 1 , 1 0 2 ff), sollte die Urbevölkerung in Peru hingegen erst Anfang des 18. J h . ihren niedrigsten Stand erreichen, um sich anschließend auch hier wieder langsam zu erholen. D e r Prozeß der Auslöschung der Ticflandindios hingegen, besonders im A m a z o n a s b c c k c n , scheint bis heute irreversibel zu sein. Eine genauso verheerende R o l l e wie die Ausbeutung der Arbeitskraft der Indios und bald auch der schwarzen Sklaven spielte deren sexuelle Ausbeutung (vgl. z . B . M a r t i n e z Pcläez zu G u a t e m a l a , Wcischet zu Chile und bezüglich der Schwarzen in Brasilien G . Freyrc, Herrenhaus bzw. D a s L a n d ) , die zum Kennzeichen der luso-spanischen Zivilisation in der Neuen Welt wurde und zur Bildung des großen Bevölkerungskontingents der Mestizen lind M u l a t t e n führte, die zu diskriminierten Werkzeugen der Kolonisatoren wurden. M a n kann mit M a r t i n e z Peldez von einem in feudalistischer Abhängigkeit gezeugten Mestizentum sprechen. Die menschliche Identität und die Familienstruktur der Indios wie auch der Schwarzen haben hierdurch einen nahezu irreparablen Schaden erlitten.

Die Kirche ließ sich dazu mißbrauchen, diese primären wirtschaftlichen Interessen christlich zu legitimieren, etwa durch die Auflage an die Kommendeninhaber, die Indios zu missionieren. Durch ihre Abhängigkeit vom Staat im Rahmen des königlichen Patronats konnte sich die Kirche kaum aus der Rolle eines Instruments der königlichen Politik befreien, die die Expansion der iberischen Staaten im spätmittelalterlichen Geist als Ausdehnung des regnum christianum verstand - speziell bei den Franziskanern des 16. Jh. spielten dabei auch chiliastische Erwartungen eine Rolle (vgl. Phelan, The millenial kingdom), wobei zwei Ziele unlösbar miteinander verbunden waren: die Beherrschung der Weiten Amerikas und ihrer Einwohner durch die potestas temporalis der Kronen und ihre Unterstellung unter die potestas spiritualis des regnum christianum, also Eingliederung in die Kirche durch Evangelisierung. Damit ist der generelle Bezugsrahmen der Mission, bei der von den Orden zunächst die -»Franziskaner und dann die -»Jesuiten die Hauptrolle spielten (schon bis zum Jahre 1600 sind ca.5400 Ordensleute nach Spanisch-Amerika ausgereist; Durän, a . a . O . 40, nennt folgende Zahlen für Ordensleute aus Spanien bis 1822: 15585 auf 1068 Reisen, wovon 337 ihr Ziel nicht erreichten), angedeutet: Sie erfolgte zwar keineswegs immer im Schutz der Waffen der Eroberer, aber sie verfolgte immer den Zweck der Eingliederung in deren Herrschaftsbereich, auch dort, wo die vom Evangelium her gebotene Freiwilligkeit der Verkündigung nicht mißachtet wurde, etwa in den Jesuiten-Reduktionen von Para-

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guay bis Nordmexiko vom 17. Jh. an, die gleichzeitig der Grenzsicherung dienten. Eine Alternative zur Annahme des Christentums gab es langfristig nicht. Massentaufen waren in der Anfangszeit gang und gäbe. Indianische Kultstätten wurden vernichtet (tabula rasa) bzw. von Kirchen überbaut, indianische Religiosität wurde unterdrückt, denn indianische Religiosität wurde besonders in der Anfangsphase pauschal als Teufelszeug verdammt. Satan, der die protestantische Ketzerei in Europa beflügelte, wurde als Herrscher der einheimischen Kulturen ausgemacht. Die indianischen Götter galten als satanische Geister - so schon in der überarbeiteten Fassung des ersten auf Pedro de Cordoba OP zurückgehenden Katechismus von 1544. (Der vor 1521 verfaßte Katechismus Pedro de Córdobas dürfte von Domingo Betanzos OP und Erzbischof Juan de Zumárraga O F M überarbeitet worden sein. Auf Kosten und im Auftrag Zumárragas erschien er 1544 in Mexiko erstmals im Druck. Zumárraga hat unter seinem Namen auch einen Katechismus für die Spanier veröffentlicht. Diese Doctrina breve stellt praktisch eine Übersetzung des Enchiridioti und der Paraclesis des Erasmus dar, wobei Zumárraga die Herkunft geflissentlich verschweigt, weil diese Arbeiten des Erasmus bei den Vertretern der Inquisition nicht als orthodox galten; vgl. Durán 208 f.) Wo indianische Riten christlichen glichen, etwa bei Azteken und Inkas hinsichtlich Taufe und Beichte, wurde dies von Missiologen wie dem Jesuiten José de Acosta in Peru als teuflische Verdrehung disqualifiziert. Der enorme Abstand zwischen dem iberischen Christentum und den amerindischen Kulturen wurde zwar seitens der Eroberer durch die Identifizierung der amerikanischen Götter mit dem Tcufelsverständnis der Renaissance überbrückt (vgl. Correa 41 ff), aber diese Verteufelung der indianischen Religionen verhinderte tiefergehende Akkomodationsversuche. Geduldige Verständigungsversuche über religiöse Fragen, z. B. mit den Azteken (vgl. Wißmann), sind eher die Ausnahme, so daß ein bekannter mexikanischer Schriftsteller wie Fuentes sagen kann: „ M e x i k o streifte C o r t é s Q u e t z a l c ó a t l s M a s k e über. Cortés stieß sie vori sich und setzte M e x i k o Christi M a s k e auf. Seit dieser Zeit ist es unmöglich zu wissen, wen man auf den B a r o c k a l t ä r e n Pueblas, T l a x c a l a s und O a x a c a s anbetet. D o c h die Verwirrung ist durch das Blut überwunden worden: Die Indios, daran g e w ö h n t , daß^die M e n s c h e n zu Ehren der G ö t t e r sterben, fühlten sich verwundert von einem G o t t besiegt, der zu Ehren der M e n s c h e n gestorben w a r . Christus oder Q u e t z a l c ó a t l , der d o r n e n g e k r ö n t e Galiläer oder die federgekrönte S c h l a n g e ? " (vgl. Nebel, der dieses Wort als Leitmotiv gewählt hat; zu Q u e t z a l c ó a t l vgl. Lafaye).

Statt tiefergehender Akkomodation bestimmte das mittelalterliche Modell des -» Corpus Christianum, der Integration von Kirche, Gesellschaft und Staat wesentlich die Missionsmethoden, was dazu führte, daß die Priorität auf die Schaffung christlicher Strukturen und einer christlichen Umwelt gelegt wurde, mit Kirchen, Kapellen, Wcgkreuzen, Heiligenfiguren und vielfältigen Festen. Der Besuch von Katechese und Messen wurde mit Zwangsmitteln einschließlich körperlicher Züchtigung sichergestellt (vgl. J. Baumgartner, Der Gottesdienst). Die christliche Religiosität kam in Verbindung mit einem völlig neuen Zeitgefühl und wurde den Indios mit Hilfe von Glocken buchstäblich „eingeläutet". Der Missiologe Acosta rechtfertigte dieses Vorgehen: „ M a n muß die G ö t z e n aus ihren Herzen entfernen; man m u ß aber auch dafür sorgen, d a ß sie aus den Augen und aus den B r ä u c h e n verschwinden. J e d e Spur m u ß vernichtet werden. D o c h d a r f man dabei nicht stehenbleiben. Z e r e m o n i e n müssen durch Z e r e m o n i e n in Vergessenheit gebracht werden. Weihwasser, Bilder, R o s e n k r a n z , Kerzen, Palmen und dergleichen sind deshalb für die Mission von g r ö ß t e r B e d e u t u n g " (De p r o m u l g a t i o n e , I.ib. V c . 11, 4 8 1 ff).

Die Schaffung einer christlichen Umwelt war Teil der Menschenbildung, die als Voraussetzung zur bzw. Teil der Mission angesehen wurde. Hier mischte sich iberischer Messianismus, ein Sendungsbewußtsein, bei dem Evangelium und iberisch-abendländische Kultur eine selbstverständliche Verbindung eingegangen waren, Weltverständnis der Renaissance, für das das Menschsein von einem gewissen zivilisatorischen Standard abhing - Bataillon weist diesbezüglich auf den Einfluß von Erasmus auf die Franziskaner des 16. Jh. in Mexiko hin, durch den für die Missionare das Bestreben zu alphabetisieren,

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spanische Werte und christliches Denken zu vermitteln, eine Einheit darstellten - , das Christentum aber auch als „eine Vervollkommnung sogar in der N a t u r o r d n u n g " verstanden werden konnte (Borges 203 ff ordnet die fünf von ihm erwähnten Stufen nicht in das scholastische Stockwerkschema ein), sowie scholastisches Stockwerkdenken. Danach werden dem unteren Stockwerk zugeordnet: die Schaffung eines Klimas von Bereitwilligkeit, dem Missionar zuzuhören (captatio benevolentiae), damit dieser die Neigung zum Christentum bewirken k a n n , und die Menschenbildung im Sinne von fides generalis (notitia et assensus). Dem oberen Stockwerk werden zugeordnet: Bekehrung, E i n f ü h r u n g einer moralischen O r d n u n g , Bekämpfung der Laster im Sinne von fides specialis seit fiducia. In diesem Sinne sah z. B. das III. Limcnser Provinzialkonzil (1582/83) in der „körperlichen O r d n u n g " ein unaufgebbares Fundament f ü r das Christentum (vgl. Vargas U.). Es verstand u n t e r „ e i n e r h u m a n e n u n d p o l i t i s c h e n " Lebensweise u . a . , d a ß m a n nicht dreckig und u n o r d e n t l i c h in die Kirche geht, s o n d e r n g e w a s c h e n , g e k ä m m t u n d s a u b e r , die Frauen m i t einem Schleier, d a ß m a n zu H a u s e Tische zum Essen b e n u t z t u n d Betten z u m Schlafen, d a ß die H ä u s e r nicht Viehkralen gleichen, s o n d e r n ordentliche, s a u b e r e und menschliche Behausungen darstellen. Der soziale u n d hygienische Aspekt u n d nicht der moralische steht dabei also im V o r d e r g r u n d .

Acosta (vgl. seine Historia) systematisierte 1589, was in der Praxis unvollkommen als Menschenbildung durchgeführt wurde, und machte daraus die Theorie der modelación humana del indio. Bei der „körperlichen O r d n u n g " ging es im G r u n d e um die Frage, o b die Indios im vollen Sinne zur Spezies des homo sapiens gehörten. Um im gesellschaftlichen Sinn als Menschen zu gelten, w u r d e von den Eingeborenen nämlich erwartet, d a ß sie zwei Bedingungen erfüllten: 1. aus ihren verstreuten Wohnsitzen in organisierte Siedlungen iberischen Stils und Zuschnitts zogen, d . h . in der Sprache der Zeit reducción a pueblos, 2. in diesen Siedlungen (spanisch pueblos, portugiesisch aldeias) nach Gesetzen lebten, von denen die Kolonialherren meinten, sie seien der menschlichen N a t u r angemessen. Dieses R e d u k t i o n s p r o g r a m m wurde im 16. Jh. in weiten Teilen Amerikas mit mehr oder weniger großem Z w a n g durchgezogen. Soweit es nicht zu einer regionalen Organisation in der H a n d von Orden k a m , bildeten die pueblos Missionsdörfer (doctrinas) mit Ordens- und später zunehmend Weltpriestern, die oft kaum missionarisch und sprachlich f ü r ihre Aufgabe vorgebildet waren. Staatlichcrscits lag das Hauptinteresse für das Prog r a m m in der Verfügbarmachung und Kontrolle der indianischen Arbeitskraft, obgleich nach außen missionarisches Interesse vorgeschoben wurde (vgl. H o o r n a e r t , Das Reduiöes). Eine gewisse Schutzfunktion erlangten regional von den O r d e n , in erster Linie von den Jesuiten organisierte Gruppen von pueblos abseits von den iberischen Siedlungsschwerpunkten, die d a n n Reduktionen genannt w u r d e n . Einen völligen Sonderstatus mit Befreiung von jeglichen Arbeitsleistungen für Siedler und völlige Selbstverwaltung erlangten nur die Jesuiten-Reduktionen in Paraguay (vgl. Armani [Lit.]). Nachdem die Z a h l der Indios rapide zurückgegangen w a r oder sie sich auch durch Flucht ins Landesinnere der Verfügung der Kolonisten entzogen (z. B. in Brasilien), bzw. von ihrer Konstitution her den Arbeitsanforderungen nicht genügten, begann schon im 16. Jh. die Einfuhr schwarzer Sklaven in die Anrainergebiete von Karibik und Atlantik. Im ungünstigsten Fall ist damit zu rechnen, d a ß nur ein Drittel der Schwarzen lebend in Lateinamerika a n g e k o m m e n ist. Ein Drittel ist schon auf dem Weg in den afrikanischen Verschiffungshafen und ein weiteres Drittel durch die unmenschlichen Transportbedingungen auf der Uberreise nach Amerika u m g e k o m m e n (Tannenbaum 16.28f). Willeke (16) spricht davon, d a ß 1 6 % auf dem Seetransport starben und 3 0 % bald den M i ß h a n d lungen und äußerst harten Arbeitsbedingungen in Brasilien erlagen. Vom 18. Jh. an hatte übrigens Großbritannien, das im 19. Jh. aus ethischen und wirtschaftlichen G r ü n d e n (Stärkung der Binnenmärkte f ü r seinen Export) die Sklaverei bekämpfte, praktisch das M o n o p o l des Sklavenhandels errungen. Wenn also während der Kolonialzeit ca. 3 Mill. Schwarze nach Spanisch-Amerika und bis ca. 18504 Mill. nach Brasilien geschleppt worden sind, so waren nicht 7 Mill. Schwarze O p f e r der Versklavung, sondern mehr als doppelt so viele - ein Verbrechen, das in seiner Ungeheuerlichkeit bisher keineswegs die

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gebührende Beachtung in der Historiographie gefunden hat. (Mörner, The history 20 f nennt diese Zahlen, die wahrscheinlich viel zu niedrig sind, da sie den enormen illegalen Handel mit Schwarzen nicht berücksichtigen, weshalb Zelinsky zu viel höheren Zahlen kommt.) Die Millionen afrikanischer Sklaven wurden in den Anrainergebieten von Karibik und christianum Atlantik nach der Entladung durch einen Doppelakt in das koloniale corpus integriert: Sie wurden zuerst staatlicherseits mit dem glühenden Eisen gebrannt und dann kirchlicherseits ohne große Vorbereitung getauft und damit dem kanonischen Recht und der Inquisition unterstellt. Die pastorale Versorgung der Schwarzen war noch schlechter als die der Indios (vgl. zu Brasilien: Leite, Willeke und Hell; zu Peru: Kilger und Bowser; zur Karibik: Turner und Gisler; allg. CEHILA: Escravidäo), so daß sich bei ihnen wie bei den Indios eine Volksfrömmigkeit auf synkretistischer Grundlage entwickeln konnte, die es ihnen erlaubte, etwas von ihrer Identität zu bewahren. Sklaven waren nach iberischem Recht nicht eo ipso Untermenschen, sondern konnten theoretisch durch Ablösung ihres Kaufpreises die Freiheit erlangen, was auch kirchlicherseits gefördert wurde, so daß die Zahl freier Schwarzer gegen Ende der Kolonialzeit nicht unerheblich war. Im allgemeinen wurde die Negersklaverei in kirchlichen Kreisen während der Kolonialzeit nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Pfarrer und Ordensinstitutionen hielten selbst Sklaven. -»Las Casas hat bekanntlich seinen unüberlegten Rat, indianische Zwangsarbeit durch Negerarbeit zu ersetzen, später bitter bereut und die Versklavung von Schwarzen als genauso ungerecht bezeichnet wie die von Indios. Einige Theologen sind ihm darin gefolgt und haben die Negersklaverei verdammt, z.B. Bischof Vasco de Quiroga/Michoacän, der Lizenziat Juan Calvo de Padilla OP, Erzbischof Alonso de Montüfar OP/Mexiko und Alonso de Sandoval SJ. Letzterer hat sich zusammen mit Pedro Claver SJ in der ersten Hälfte des 17. Jh. in Cartagcna, dem größten festländischen Sklaveneinfuhrhafen Spanisch-Amerikas, im Dienste der Sklaven und in der nachgehenden Seelsorge auf den Haciendas bis zum letzten Atemzuge verzehrt (zur Haltung der Kirche vgl. Markgraf und Heininger). Nur Claver (1580-1654), der zum Sklavenproblem nicht literarisch Stellung genommen hatte, wurde schließlich 1888 von -»Leo XIII. heiliggesprochen, nachdem auch in Brasilien als letztem Staat Amerikas der Rest der Sklavengesetzgebung abgeschafft war, so daß von der Kanonisation keinerlei kritischer Impuls mehr ausging. (Zur Frage der ethischen und ideologischen Bedeutung von Kanonisationen vgl. Prien, Heiligenvcrehrung.) Die Schwarzen waren das „Erdöl der Kolonialzeit", das der „Energicmeiler" Afrika nach Lateinamerika lieferte, das in der Kolonialzeit „Teil eines dreikontinentalen politisch-ökonomischen Verbundsystems differenzierter Art zwischen Europa, Afrika und Lateinamerika" war. Die amerikanischen „Plantagengesellschaftcn waren letztlich ausgelagerte europäische Produktionskomplexe, ökonomische Außenstellen der messianisch-salvationistischen Imperien des Merkantilismus" (vgl. Ribeiro), „die die Monokulturgüter zuzubereiten und den Metropolen anzuliefern hatten. Europa unterhielt in den Plantagen-Gesellschaften ein ,externes Proletariat', eine quasi kostenlose und als subhuman angesehene Energiequelle" (vgl. F. Fernandes). „Das Dreikontinente-System, kennzeichnend für das 18. Jh., war nach Westen hin gegen die Hacienda-Ökonomic abgesetzt, die von Mexiko bis Paraguay reichte. Der nördliche Endpunkt war die mexikanische Hacienda-Wirtschaft, auf das stärkste durch die Jesuiten bestimmt; eine großflächige Überlagerung der aztekischen Landwirtschaft durch umfassende Produktionseinheiten, die nach modernsten Wirtschaftlichkeitsprinzipien arbeiteten... Der südliche Endpunkt war der Jesuiten,Staat' in Paraguay, seit dem Ende des 17. Jh. ebenfalls zur ökonomischen Großmacht entwickelt, die jedoch nach genau entgegengesetzten Prinzipien organisiert war: ihr Charakteristikum war die vollständig durchgeführte Vergesellschaftung der Arbeit, von der dann ihrerseits wieder Viehzucht-estaticias abhingen" (Sandner/Steger 20; vgl. auch G. Otruba).

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Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen Interessen von Staat und Siedlern, die nur mit Hilfe der Arbeit von Sklaven oder in feudaler Abhängigkeit Stehender gewahrt werden konnten, und der missionarischen Aufgabe und damit auch zwischen verpflanzten Strukturen der luso-spanischen Kirche und der Missionskirche war im Grunde unüberbrückbar. Es fehlte nicht an Bischöfen, Ordensleuten und auch Laien, die das mehr oder weniger deutlich erkannten und für die Menschenrechte der Farbigen eintraten, wenn auch solche unbequemen „Protestanten" im Rahmen der in jeder Hinsicht vom Staat abhängigen Patronatskirche, in der sogar Bischöfe quasi Staatsbeamte waren, von der Obrigkeit zum Schweigen gebracht werden konnten. Männer wie Torribio de Mogrovejo (Erzbischof von Lima) oder Vasco de Quiroga (Bischof von Michoacán/Mexiko) versuchten den Widerspruch durch ihren Einsatz zugunsten der Indios zu überbrücken; Antonio Valdivieso (Bischof von León/Nikaragua) wurde 1550 von spanischen Siedlern deshalb sogar ermordet (zum Einsatz der Bischöfe für die Menschenrechte der Indios vgl. Dussel, El Episcopado), genau wie Antonio de Montesinos OP, der 1540, von -»Karl V. als königlicher Protektor der Indios der Truppe Federmanns beigegeben, die in Venezuela im Auftrag des Bankhauses der Welser cxplorierte, sein Leben von der Hand deutscher, großenteils protestantischer Landsknechte verloren hat. Montesinos hatte 1511 in Santo Domingo, getragen von den dominikanischen Mitbrüdern unter Prior Pedro de Córdoba, in den berühmten Adventspredigten erstmals die Indio-Sklaverei als mit dem Evangelium unvereinbar angeprangert. Ein Mann wie der Militärkaplan Bartolomé de -»Las Casas (zu Las Casas vgl. Specker, Biermann, Kahle, Friede [Lit.]) bekehrte sich zur Sache der Unterdrückten, gab seinen Besitz in Kuba auf, schloß sich den Dominikanern in Santo Domingo an und kämpfte bei Hofe für Indianerschutzgcsetze, um dann zu erleben, daß nicht einmal er selbst als Bischof von Chiapas die „Neuen Gesetze" von 1542 gegen die Siedler durchzusetzen vermochte. Päpstliche Breves zugunsten der Menschenrechte der Indios - 1537 und 1639 - letzteres wesentlich von Ruiz de Montoya durch seine „Conquista Espiritual" zum Schutz der Reduktionen vor den Bandeiranten bewirkt - waren zur Bewußtseinsbildung hilfreich, bewirkten aber, abgeschwächt durch den Filter des Patronatsrechts, wenig, ja das Breve von 1639 wurde von Lissabon für Brasilien nicht einmal in Kraft gesetzt (vgl. Thomas 145 f). Ferdinand II., der Katholische, hatte die Kirche der Neuen Welt als eine religiöspolitische Organisation nach demselben Plan konzipiert wie die im 1492 eroberten Königreich Granada. Genau wie im politischen Bereich die cabildos (Stadträte) wurden im kirchlichen die spanischen Domkapitel nach Amerika verpflanzt, für deren Mitglieder zahlreiche Pfründe erforderlich waren. Sie konnten zwar der Kolonialkirche in den Siedlungszentren dienen, stellten aber für eine missionarische Kirche eher ein schweres Hindernis dar. Mit 69 bis Ende des 18. Jh. gegründeten Bistümern (davon allerdings nur 7 in Brasilien, von denen 3 erst im 18. Jh. gegründet wurden; vgl. die Bistumstabelle bei Prien, Die Geschichte 108ff) waren die kirchlichen Strukturen beachtlich ausgebaut, der Anteil der Indios und Farbigen am Ordens- und Weltklerus aber völlig ungenügend (vgl. Spekker, Der einheimische Klerus). Nirgendwo gelang der Aufbau spezieller Missionsbistümer. Bei ersten Versuchen auf Hispaniola war nach Las Casas' Angaben die Insel durch die Folgen der Zwangsarbeit und Sklaverei schneller entvölkert, als die Missionsbistümer aufgebaut werden konnten. Kurz nach dem Ende des -»Tridentinums (1563) wurde 1568 durch die Junta Magna, deren Beschlüsse dem neuen Vizekönig von Peru, Toledo, als Geheiminstruktionen mit auf den Weg gegeben wurden, der Einfluß Roms auf die spanisch-amerikanische Kirche durch den konsequenten Ausbau des Patronatsrechts stark reduziert und die Liquidierung der im Entstehen begriffenen indianischen Kirche zugunsten einer einheitlich spanisch geprägten Kolonialkirche beschlossen. Während die Bischöfe zur Zeit Karls V. das besondere Vertrauen des Königs genossen hatten und ihnen deshalb auch häufig zivile

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Aufgaben übertragen worden waren und sie insbesondere für den Schutz der Indios zuständig gewesen waren (vgl. Dussel, El episcopado), ging diese Aufgabe jetzt an die staatlichen audiencias (Gerichtsbehörden) über, und die Bischöfe wurden im Rahmen des Patronatsrechts in ihren Kompetenzen immer mehr limitiert. Die M i s s i o n a r e des O r d e n s - und Weltklerus wurden zu ausführenden Organen der staatlichen Instanzen degradiert, die nun zu den eigentlichen G a r a n t e n des M i s s i o n s w e r k s wurden. Sollte sich die fast völlige Ausschaltung R o m s und damit auch der 1622 gegründeten Propaganda-Kongregation schon lähmend auf missionarische Initiativen auswirken, so tat die nun beschlossene Z e n s u r ein übriges. Sie sollte alles unterdrücken, was den R u f der E r o b e r e r schädigte, u. a. auch die Publizierung von Konflikten mit staatlichen B e h ö r d e n , und erzwingen, daß die Indios als tiefstehende M e n s c h e n rasse o h n e Kultur dargestellt wurden. D a m i t wurde die Diskriminierung der Indios zum Ziel erhoben und die Ausbildung eines einheimischen Klerus, d. h. das zentrale M o m e n t für den A u f b a u einer indianischen Kirche, fast unmöglich g e m a c h t , zumal die verschärften Ausbildungsbestimmungen des Tridentinums für Priester ( u . a . Weihehindernisse) in L a t e i n a m e r i k a auch noch in einem für Indios und Farbige restriktiven Sinn angewandt wurden. Auch das starre Festhalten an der lateinischen Liturgie und die Ablehnung von Bibelübersetzungen in die Volkssprachen sollte eine inkulturierende Mission erschweren. Die Berufung auf die Tridentiner Beschlüsse sollte reformeifrigen Prälaten zwar einigen R ü c k h a l t gegenüber den staatlichen Behörden bieten, aber der Konzilsbeschluß, die Ordensleute in der Scclsorgc der Jurisdiktion der Bischöfe zu unterstellen und das Pfarramt grundsätzlich dem Weltklerus vorzubehalten, der o h n e alle Kenntnis der Verhältnisse in Amerika gefaßt worden w a r - Karl V. hatte den Bischöfen der Neuen Welt die Teilnahme am Konzil auch nicht erlaubt - , sollte zu einem unheilvollen, beinahe bis ans Ende der Kolonialzeit währenden Streit zwischen Ordens- und Weltklerus führen, der dem M i s s i o n s w e r k sehr schadete. Eine der greifbarsten Folgen des Konzils w a r die G r ü n d u n g der Tridentinischen Seminare in den Diözesen (vgl. Tabelle bei Prien, Geschichte 2 4 7 f ; zur Durchführung der Tridentiner Beschlüsse vgl. Villegas).

Für Lateinamerika sind weniger die Konzilsdekrcte, die sich mit kontrovcrstheologischen Fragen befassen, wichtig geworden, als der „tridentinische Geist" (vgl. Comblin), der die Reorganisation der römischen Kirche bestimmte. Und wie der Protestantismus in Nordamerika seine schärfste Ausprägung fand, wo der katholische Hintergrund fehlte, wurde der tridentinische Geist in Lateinamerika am deutlichsten, wo der protestantische Hintergrund fehlte. Mit der Übernahme der Beschlüsse von Trient durch die Provinzialsynoden von Lima (Limensis III, 1582/83; vgl. Vargas I, 259ff) und Mexiko (Mexicanum III 1585; vgl. Henkel 83 ff) und deren Genehmigung durch Philipp II. entstand in der Neuen Welt eine religiös uniformere Gesellschaft, als es sie je im mittelalterlichen Europa gegeben hatte. Bis ins 18. Jh. wurden von der Krone entgegen den Bestimmungen von Trient weitere Provinzialsynoden verhindert, um den Bischöfen keine Plattform für eventuelle Kritik an den Behörden zu geben. In Brasilien wurde in der ganzen Kolonialzcit nur eine Provinzialsynode abgehalten (Salvador Bahia 1707). Angesichts des Fehlens von Häresien - die wenigen während der Kolonialzeit eingedrungenen Protestanten wurden der -»Inquisition überstellt - entwickelte sich ein Kulturkatholizismus, dem die Einhaltung der äußeren Formen der Frömmigkeit genügte. Die Inquisition lag zunächst in der Hand der Bischöfe. 1570/71 wurden auch Inquisitionstribunale in M e x i k o und Lima errichtet. In Brasilien g a b es außer der sich nur schwach b e m e r k b a r machenden bischöflichen Inquisition nur zwei Visitationen von Inquisitionskommissionen 1 5 8 0 f f und 1618ff. M e h r als der Verfolgung von Protestanten widmete sich die Inquisition der Verfolgung von Kryptojuden und - m o h a m m e d a n e r n sowie politischen Verrätern. Denn wie für die iberischen M o n archien bis zur Aufklärung Religion und Politik eine untrennbare Einheit bildeten, so unterschied auch die Inquisition kaum zwischen politischer und religiöser Häresie. „ D a s hl. Offizium klagte Häretiker als Verräter und Verräter als H ä r e t i k e r a n " (Greenleaf, Z u m á r r a g a zu M e x i k o , ähnlich M o n t e n e g r o , E v o l u c ä o zu Brasilien).

Während sich in der offiziellen Kirche auf den Gebieten von Dogma, liturgischen Formen, Kirchenrecht und administrativen Strukturen ein starrer Formalismus breitmachte, lebte die mittelalterliche Frömmigkeit in Amerika ungebrochen weiter als Volksfrömmigkeit, vermischt mit indianischen (vgl. Prien, Volksfrömmigkeit, Lit.) und afrikanischen Elementen (vgl. Bastide; Gates). Sie fand ihre besondere Heimat in den zahlrei-

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c h e n B r u d e r s c h a f t e n (vgl. a m Beispiel Peru: C e l e s t i n o / M e y e r s ) . Als A n t w o r t auf die H e r a u s f o r d e r u n g des P r o t e s t a n t i s m u s w u r d e n Prozessionen, H e i l i g e n v e r e h r u n g , F ü r b i t ten f ü r die Seelen im Fegfeuer, A b l a ß etc. g e r a d e z u zu Z e i c h e n t r e u e n k a t h o l i s c h e n G l a u b e n s , g e n a u wie das s t a r r e Festhalten an der Scholastik (zur theologischen E n t w i c k l u n g vgl. C E H I L A , H i s t ö r i a ; R i c h a r d ) . W ä h r e n d in S p a n i s c h - A m e r i k a d a s h ö h e r e u n d mittlere Bildungswesen sowie d a s D r u c k w e s e n zeitig a u f g e b a u t w u r d e n ( G r ü n d u n g d e r Universitäten von S a n t o D o m i n g o 1538, M e x i k o u n d Lima 1551 u . a . ) , w u r d e Brasilien von d e r portugiesischen K r o n e bew u ß t u n t e r e n t w i c k e l t gehalten. Hier e n t s t a n d e n n u r Priesterseminare. N i c h t einmal d e r B u c h d r u c k w a r gestattet. V o m 17. J h . an w u r d e die k a t h o l i s c h e Kirche i m m e r m e h r z u r Stütze des nicht m e h r h i n t e r f r a g t e n Kolonialsystems. „ W a r die Kirche des 16. J h . in H i s p a n o a m e r i k a a r m , d a f ü r a b e r von g r o ß e m geistigen R e i c h t u m , so w a r es n u n m e h r eher u m g e k e h r t " , urteilt P i e t s c h m a n n ( E i n f ü h r u n g zu H e n k e l 38), wenngleich dies so p a u s c h a l nicht zutrifft, w i e e t w a die J e s u i t e n r e d u k t i o n e n zeigen. 6. Aufklärung

und politische

Emanzipation

Im Z e i t r a u m von M i t t e des 18. bis M i t t e des 19. J h . sollte es in L a t e i n a m e r i k a zu einer völligen U m g e s t a l t u n g d e r Verhältnisse k o m m e n . 1713, n a c h d e m E n d e des spanischen Erbfolgekrieges, hatten die B o u r b o n e n mit Philipp von A n j o u d e n s p a n i s c h e n T h r o n bestiegen u n d Spanien und A m e r i k a d e n Ideen d e r A u f k l ä r u n g g e ö f f n e t . M i t d e m K o n k o r d a t v o n 1753, mit d e m F e r d i n a n d VI. v o n R o m den universalen K i r c h e n p a t r o n a t d e r s p a n i s c h e n K r o n e in allen ihren Reichen erlangte, w a r d e r H ö h e p u n k t des spanischen A b s o l u t i s m u s erreicht. Die Kirche w u r d e endgültig politischen Zielen u n t e r g e o r d n e t . D a ß die rigorose regalistische, i m m e r stärker von ö k o n o m i s c h e n G e s i c h t s p u n k t e n b e s t i m m t e Politik d e r iberischen K r o n e n z u n e h m e n d mit d e m bisherigen Konzept des corpus christianum (modelo de cristiandad) u n v e r e i n b a r w a r , signalisiert die Vertreibung d e r —»Jesuiten - bei der a u c h d e r Einfluß des a u f k l ä r e r i s c h e n D e i s m u s u n d des J a n s e n i s m u s ( - • J a n s e n / J a n s e n i s m u s ) m i t w i r k t e - aus Brasilien 1759 u n d aus S p a n i s c h - A m e r i k a 1767 (vgl. M ö r n c r , E x p u l s i o n ) . D i e a b M i t t e des 18. J h . z u n e h m e n d e D i s k r e p a n z zwischen d e n Leitvorstellungen von K i r c h e u n d Staat rechtfertigt es, in d e r Kirchengeschichte die t r a d i t i o n e l l e E p o c h e n t e i l u n g zwischen Kolonialzeit u n d politischer E m a n z i p a t i o n zu ü b e r g e h e n u n d stattdessen A u f k l ä r u n g u n d E m a n z i p a t i o n als eine Einheit zu b e t r a c h t e n . ( Z u m P e r i o d i s i e r u n g s p r o b l e m vgl. Prien, P r o b l e m a s 36 ff b z w . K G L a t e i n a m e r i k a s : T h L Z 111 [1986] 792ff.) Die Vertreibung der Jesuiten stand in Z u s a m m e n h a n g mit d e n B e m ü h u n g e n des sich a l l m ä h l i c h entwickelnden e u r o p ä i s c h e n F r ü h k a p i t a l i s m u s , d a s o b e n e r w ä h n t e , vielfältig in sich verschachtelte, p o l i t i s c h - ö k o n o m i s c h e d r e i k o n t i n e n t a l e V e r b u n d s y s t e m der iberischen M ä c h t e aus den Angeln zu h e b e n . Die Vernichtung dieses Systems begann mit d e m britischen Eindringen in den karibischen R a u m (1655 endgültige Übernahme von J a m a i k a ) , w a s f r ü h zur Umoricnticrung des karibischen R a u m s und z u m „Drcieckhandc! Ncucngland ( N e w p o r t ) - G o l d k ü s t e - J a m a i k a / B a r b a d o s - N e u e n g l a n d " f ü h r t e (vgl. Gilbert, American History Atlas). Im siebenjährigen Krieg e r o b e r t e G r o ß b r i t a n n i e n Trinidad und Kuba. Die P a r a g u a y - R e d u k t i o n e n der Jesuiten w u r d e n schon entscheidend durch die K ä m p f e u m den Grenzvertrag von 1752 geschwächt, die erhebliche P r o d u k t i o n s k r a f t von deren Amazonas-aMe/iJS durch die Vertreibung der Jesuiten aus Brasilien 1759 zerstört und die ö k o n o m i sche Einheit der Paraguay-Reduktionen d a n n durch die Vertreibung der Jesuiten aus SpanischAmerika auch vernichtet (vgl. Furlong). Deren mexikanische H a c i e n d a - W i r t s c h a f t w u r d e m e h r u n d m e h r „privatisiert", w o m i t sie a u f h ö r t e , mit ihren Überschüssen eine Stütze des Erziehungssystems zu sein. „Es w a r das tragische Geschick der Jesuiten, d a ß sie im 17./18. J h . mit den durch h o c h m o d e r n e M e t h o d e n erwirtschafteten Profiten ein Erziehungssystem finanzierten, das strukturell u n d inhaltlich noch im 16./17. Jh. verhaftet w a r ; d e r O r d e n hat d a d u r c h die w a c h s e n d e Kluft zwischen der S t r u k t u r des Erziehungswesens und der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst finanziert" (vgl. Steger; Dignath). Der wirtschaftliche Verfall setzte sich f o r t mit dem A u s b r e n n e n d e r M e h r w e r t m e i ler in M e x i k o und Potosi in der 2. H ä l f t e des 18. J h . , mit der Auflösung d e r Plantagen-Gesellschaft

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von Pernambuco Ende des 18. Jh., durch die Verlagerung des ökonomischen und politischen Zentrums Brasiliens in den Raum Minas Gerais (Zyklus von Gold und Diamanten - ein wesentlicher Faktor für die Einwanderung von 300000 Portugiesen nach Brasilien im 18. Jh.) - Rio de Janeiro (1763 wurde der Sitz des Vizekönigs von Salvador Bahia nach Rio verlegt, nachdem der Generalgouverneur definitiv 1714 nach spanischem Vorbild Vizekönig geworden war) - Säo Paulo, ein Prozeß, den G. Freyre in Das Land in der Stadt beschrieben hat. Im karibischen Raum sollten die PlantagenGesellschaften durch Napoleons Politik zerbrechen und die spanische Macht durch den spanischamerikanischen Krieg von 1898 mit dem Verlust von Kuba und Puerto Rico endgültig in der westlichen Hemisphäre untergehen (Sandner/Steger 19ff). D a s G e d a n k e n g u t der A u f k l ä r u n g , das a u f vielfältige Weise n a c h L a t e i n a m e r i k a gelangte, und die R e f o r m p o l i t i k des spanischen K ö n i g s Karl III. und des portugiesischen Premierministers P o m b a i , die sich gegen etablierte Interessen der kreolischen O b e r schicht richtete, hätten o h n e die n a p o l e o n i s c h e Besetzung der Iberischen Halbinsel und die Absetzung Ferdinands V I I . k a u m so schnell die U n a b h ä n g i g k e i t s b e w e g u n g e n in L a teinamerika hervorgerufen. D i e Flucht des portugiesischen H o f e s nach Brasilien 1808 erhielt dieses L a n d zunächst der K r o n e , die nun hier eine E n t w i c k l u n g s p o l i t i k b e g a n n , bzw. e r m ö g l i c h t e die Bildung des brasilianischen Kaiserreichs ( 1 8 2 2 - 1 8 8 9 ) nach der U n a b h ä n g i g k e i t s e r k l ä r u n g durch den Königssohn Pedro I. Die U n a b h ä n g i g k e i t s b e w e gung in S p a n i s c h - A m e r i k a , die 1 8 2 4 mit der endgültigen Niederlage der spanischen T r u p pen bei A y a c u c h o / P e r u ihr Ziel erreichte, verlief wesentlich blutiger. Führer der Befreiungsbewegung wie Bolivar, San M a r t i n und S a n t a n d e r waren stark von freimaurerischem Geist geprägt, wenn a u c h alle s c h o n aus o p p o r t u n i s t i s c h e n G r ü n d e n die k a t h o l i sche K i r c h e stützten ( M e c h a m 4 2 f f ) und sich ihrer für ihre Z w e c k e zu bedienen versuchten. Wie Alexander von Humboldt 1 7 9 9 - 1 8 0 4 vorausgesagt hatte, sahen die Kreolen (AmerikaSpanier) in einer gesellschaftlichen Revolution nur Nachteile, nämlich „den Verlust von Privilegien, den Verlust von Sklaven, den Verlust von Status und Reichtum. Vor allem haßten sie Gleichheit und befürchteten die Herrschaft ihrer sozial Untergeordneten" (Voyage, zit. nach Johnson 35), was verständlich wird, wenn man bedenkt, daß sich z.B. in Neu-Spanien (Mexiko), dem volkreichsten Vizekönigreich, 9 0 % der Bevölkerung im Zustand völliger sozio-ökonomischer Abhängigkeit von nur 1 0 % Spaniern und Kreolen befanden. Deshalb war der Unabhängigkeitskampf wesentlich eine politische Revolution der kreolischcn Oligarchie und keine gesellschaftliche Revolution. Mestizen, Mulatten und Indios dienten nur als Kanonenfutter. Das damalige Ausbleiben einer gesellschaftlichen Umwälzung, wenn man von gewissen Anpassungen wie der Milderung und stufenweisen Abschaffung der Sklaverei absieht, die nicht von flankierenden sozialen Maßnahmen wie Bildungsprogrammen oder Überlassung landwirtschaftlicher Produktionsmittel begleitet war, belastet die gesellschaftliche Entwicklung bis heute. H i e r a r c h i e und Klerus waren stark in die Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit involviert. So lag es nahe, d a ß der niedere Klerus, und z w a r besonders der Weltklerus, der in h ö h e r e m M a ß e aus K r e o l e n b e s t a n d , eher der U n a b h ä n g i g k e i t s b e w e g u n g zuneigte als die H i e r a r c h i e , die h o c h g r a d i g aus H a l b i n s c l s p a n i e r n bestand und sich aufgrund ihres T r e u e s c h w u r s zum König als P a t r o n a t s h e r r e n der K i r c h e in einem Loyalitätskonflikt b e f a n d . Eine echte Volksrevolution ( 1 8 1 0 - 1 8 1 5 ) w u r d e in M e x i k o von der O l i g a r c h i e blutig niedergeschlagen. An ihrer Spitze hatten die P f a r r e r H i d a l g o und M o r e l o s gestanden, die zahllose S y m p a t h i s a n t e n im Klerus h a t t e n , von denen 2 0 0 ihr Leben für die S a c h e des einfachen Volkes lassen m u ß t e n , d a v o n 125 als z u m T o d e Verurteilte (vgl. M u r r a y 115 bzw. L. M e d i n a Ascensio: M E X I K O 1 7 7 f f ; zur R o l l e des Klerus in weiteren Rebellionen vgl. Prien, G e s c h i c h t e 3 6 8 f f [Lit.]). Besonders in Brasilien e r f a ß t e a m V o r a b e n d der U n a b h ä n g i g k e i t freimaurerischer Einfluß einen nicht unerheblichen Teil des Klerus (zur R o l l e der - » F r e i m a u r e r e i in Brasilien im 19. J h . vgl. Viera). Insgesamt hat die Krise der Befreiungsepoche die P a t r o n a t s k i r c h e A m e r i k a s in die tiefste Krise seit ihrer G r ü n d u n g geführt, eine Krise, die fast alle G e b i e t e kirchlicher Arbeit berührte. E s entstand in weiten Teilen der Neuen Welt eine a k e p h a l e K i r c h e . Kompetenzstreitigkeiten zwischen K a p i t u l a r p r o v i s o r e n , die von geflüchteten o d e r verbannten B i s c h ö f e n und a n d e r e n , die u n k a n o n i s c h von revolutionären

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O b r i g k e i t e n eingesetzt w o r d e n w a r e n , s c h w ä c h t e n zusätzlich Disziplin und M o r a l des W e l t k l e r u s , die durch die langen bischöflichen V a k a n z e n und die W i r r e n der Z e i t o h n e h i n erheblich nachgelassen h a t t e n . Z a h l r e i c h e O r d e n s l e u t e säkularisierten sich, j a in B r a s i lien löste sich das M ö n c h t u m fast auf. H i n z u k a m e n finanzielle S c h w i e r i g k e i t e n , n a c h d e m die K i r c h e jahrelang von beiden sich bekriegenden Parteien häufig zur Kasse gebeten worden w a r . D i e soziale und kulturelle Arbeit der kirchlichen E i n r i c h t u n g e n k a m in weiten Landstrichen zum Erliegen. Während seiner absolutistischen Restauration (1814-1820) gelang es Ferdinand VII., 28 der 42 Diözesen Spanisch-Amerikas mit absolut königstreuen Bischöfen zu besetzen, was die Krise bei deren Flucht oder Verbannung noch verschärfte - 1 8 2 9 - 1 8 3 1 gab es in Zentralamerika und Mexiko keinen einzigen Bischof mehr. O b g l e i c h die politische Krise von 1 8 0 8 - 1 8 2 4 d a u e r t e , b r a u c h t e R o m bis in die dreißiger J a h r e , e h e es sich über den D r u c k Spaniens, unterstützt von der H l . Allianz mit ihrem Legitimismus-Prinzip, hinwegsetzte und der F o r d e r u n g der u n a b h ä n g i g e n Staaten nach Z u e r k e n n u n g des P a t r o n a t s r e c h t s n a c h g a b , so d a ß die bischöflichen Vakanzen im Pontifikat G r e g o r s X V I . ( 1 8 3 1 - 1 8 4 6 ) wieder verschwanden (vgl. L e t u r i a ) . D a ß es nicht zur Bildung u n a b h ä n g i g e r N a t i o n a l k i r c h e n in g r o ß e m Stil g e k o m m e n ist, ist wesentlich der Einsicht und G e d u l d der L a t e i n a m e r i k a n e r und n a m e n t l i c h B o l i v a r s zu verdanken. D i e M e h r h e i t der höheren G e i s t l i c h k e i t , die nach der U n a b h ä n g i g k e i t im A m t blieb, k o n n t e sich nach j a h r h u n d e r t e l a n g e r G e w ö h n u n g an das staatliche P a t r o n a t eine W i e d e r a u f r i c h tung der kirchlichen Strukturen o h n e die g e w o h n t e staatliche Hilfe k a u m vorstellen. S o w u r d e aus der K o l o n i a l k i r c h e keine für alle S c h i c h t e n in gleichem M a ß e offene K i r c h e , vielmehr wurde sie, weiterhin in A b h ä n g i g k e i t gehalten durch das P a t r o n a t s r e c h t , ein Instrument der neuen H e r r e n , d . h . der kreolischen O l i g a r c h i e . D i e speziellen P r o b l e m e der Indios, M e s t i z e n , N e g e r und M u l a t t e n k a m e n in K i r c h e und Gesellschaft nicht in den Blick und k o m m e n erst heute durch die kirchlichen Basisgemeinden langsam ins Bewußtsein. D e s h a l b nennt K o n c t z k e (Staat 165) die U n a b h ä n g i g k e i t s b e w e g u n g sogar eine „ R e a k t i o n gegen den geschichtlichen F o r t s c h r i t t " . D a s M i s s i o n s w e r k brach in L a t e i n a m e r i k a infolge der E m a n z i p a t i o n praktisch zus a m m e n . E s sollte bis ins 2 0 . J h . hinein d a u e r n , bis mit Hilfe ausländischer O r d e n s k r ä f t e die M i s s i o n s s t r u k t u r e n im erforderlichen U m f a n g wieder aufgerichtet werden k o n n t e n . Hierarchie und Klerus h a b e n , wie B i s c h o f L a r r a i n von T a l c a / C h i l e , der spätere Präsident des L a t e i n a m e r i k a n i s c h e n B i s c h o f s r a t s ( C E L A M - a b 1963) 1 9 5 6 gesagt h a t , viel zu früh das Bewußtsein einer „fertigen K i r c h e " erlangt, so d a ß der missionarische Eifer nach der E m a n z i p a t i o n stark n a c h l i e ß (nach P r o m p e r l l O f ) . D e n von der liberalen Ideologie und f r e i m a u r e r i s c h e m G e i s t beeinflußten Befreiern schwebte die E r r i c h t u n g d e m o k r a t i s c h e r O r d n u n g e n vor. Als Voraussetzung für eine d e m o k r a t i s c h e G e s e l l s c h a f t s o r d n u n g m u ß t e n die Liberalen geistige Freiheit durchsetzen, was n o t w e n d i g e r w e i s e zu Konflikten mit der r ö m i s c h e n H i e r a r c h i e führen m u ß t e , die mit ihrem traditionellen D e n k - und G l a u b e n s m o d e l l weiterhin die Gesellschaft b e s t i m m e n wollte. D a s führte zu der p a r a d o x e n S i t u a t i o n , d a ß es nach den W o r t e n des M e x i k a n e r s F r a n c i s c o Bulnes in den l a t e i n a m e r i k a n i s c h e n N a t i o n e n „ k e i n e (bürgerlichen) Freiheiten gab, solange es L i b e r a l e g a b " , weil die Liberalen ihre Auffassungen gegen die konservative k a t h o l i s c h e M e h r h e i t mit m e h r o d e r weniger Z w a n g durchsetzen m u ß t e n ( Q u i r a r t e 358). Als V o r k ä m p f e r für p h i l o s o p h i s c h e und religiöse T o l e r a n z sollten die Liberalen und die F r e i m a u r e r indes direkt oder indirekt auch zu Wegbereitern des P r o t e s t a n t i s m u s werden, dies u m so m e h r , als die Liberalen sich in gewissem G r a d e das Verständnis von „ Z i v i l i s a t i o n " der neuen p r o t e s t a n t i s c h e n H e g e m o n i a l m a c h t G r o ß b r i t a n n i e n zu eigen m a c h t e n , so d a ß ihnen die k o l o n i a l - s p a n i s c h - m e s t i z i s c h e Kultur wie die B a r b a r e i erschien. ( Z u r D i a l e k t i k von „ Z i v i l i s a t i o n und B a r b a r e i " a m L a Plata vgl. Büntig: B o r rat/Büntig, El I m p e r i o 6 9 f . ) Als R o h s t o f f m ä r k t e sollten die jungen S t a a t e n , die sich im

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Sinne des wirtschaftlichen Liberalismus d e m britischen Kapitalismus geöffnet h a t t e n , o h n e die Hilfe von Schutzzöllen bald in die d u r c h h o h e Auslandsschulden noch verstärkte Abhängigkeit vom britischen Weltreich geraten. D a s heutige Problem der hohen Auslandsverschuldung setzte bereits d a m a l s ein (vgl. a m Beispiel Argentinien dazu R o s a ) . Im R a h m e n von H a n d e l s - und Freundschaftsverträgen sicherte sich G r o ß b r i t a n n i e n f ü r seine Untertanen in R i o de J a n e i r o —die Abhängigkeit Portugals von G r o ß b r i t a n n i e n w u r d e durch den 1703 abgeschlossenen M e t h u e n - H a n d e l s v e r t r a g , die entscheidende Flottenhilfe bei der Flucht des H o f e s 1808 und die Militärhilfe in den napoleonischen Kriegen begründet - und Buenos Aires - die Abhängigkeit der La Plata-Provinzen von G r o ß b r i t a n n i e n begann d u r c h englische Hilfe im U n a b h ä n g i g k e i t s k a m p f - d a s Recht zur G r ü n d u n g von anglikanischen Auslandsgemeinden, so d a ß 1819 in Rio und 1829 in Buenos Aires die ersten nicht-katholischen Kirchengebäude in Südamerika eingeweiht werden k o n n t e n . Schon vorher h a t t e der Protestantismus in britischen, niederländischen und dänischen Kolonialgebieten im karibischen R a u m F u ß gefaßt. Die holländischen Kolonisationsversuche w ä h r e n d des 30jährigen Krieges in Brasilien ( 1 6 3 0 - 1 6 5 4 „ N c u h o l l a n d " im brasilianischen N o r d o s t e n ) unter dem evangelischen deutschen G r a f e n J o h a n n M o r i t z von Nassau-Siegen mit holländischer A u f k l ä r u n g und Toleranz, holländisch-rcformierter Kirche und Indianer-Mission w a r e n eine Episode geblieben. Pionierarbeit der protestantischen Mission in Lateinamerika leistete die - » B r ü d e r unität seit den Zeiten - » Z i n z e n d o r f s : auf den dänischen Antillen seit 1732, in niederländisch Surinam seit 1735 und in Berbice, dem späteren Britisch-Guayana, auf den englischen Antillen (Antigua, Barbados, St. Kitts, Tobago) a b 1738 (vgl. Staehelin; H a h n ) und an der unter britischem Protektorat stehenden Misquito-Küste N i c a r a g u a s ab 1847, w o sie in ein M i s s i o n s v a k u u m der katholischen Kirche eindrang. D o r t entwickelte sich die lglesia Morava mit 1975 über 3 2 0 0 0 Gliedern (vgl. Wilson). Im allgemeinen w a r die protestantische Arbeit im Z e i t r a u m bis 1850 indes auf die ausländischen Residenten b z w . auf die E i n w a n d e r e r - z. B. in Brasilien auch die deutschen evangelischen E i n w a n d e r e r (Gemeindebildung a b 1824), ferner im La P l a t a - R a u m und in Chile - beschränkt. D a s gilt auch f ü r die früheste d a u e r h a f t e protestantische Gemeindebildung im 19. Jh., die 1807 von englischen M e t h o d i s t e n in Haiti begonnen w u r d e , jenem Land, das 1803 als erstes in Lateinamerika die Unabhängigkeit erlangt hatte. Die M e t h o disten widmeten sich hier nicht der französischsprachigen farbigen Bevölkerung, sondern englischsprachigen N e g e r n , die auf der Suche nach Freiheit von der Sklaverei aus den USA nach Haiti geflüchtet w a r e n . 1836 faßten die M e t h o d i s t e n in Argentinien und 1839 in Uruguay Fuß, die Presbyteriancr ebenfalls 1836 in Argentinien und 1846 in Chile. Die Vorhut des Protestantismus bildeten in den festländischen Republiken zumeist Kolporteure der Bibelgesellschaften (British and Foreign Bible Society; American Bible Society), die o h n e proselytische Absichten k a m e n , um die Bibel in einer a n e r k a n n t e n katholischen Übersetzung - in den spanischsprachigcn Republiken der von Scio de San Miguel, in Brasilien der von Figueiredo - zu verbreiten. In der f r ü h e n liberalen Periode fanden sie vielfach s o w o h l beim Klerus wie bei den Politikern freundliche A u f n a h m e , w a r doch die Bibel in der Volkssprache auch begehrt als T e x t b u c h zur Alphabétisation in den Schulen. M a n c h e Kolporteure traten sogar gleichzeitig als Bibelagenten und als R e f o r m e r des Schulwesens auf wie der schottische Baptist J a m e s T h o m s o n , der das LancasterSystem propagierte, bei d e m die Bibel das T e x t b u c h bildete (vgl. Mitchel). Die Situation im damaligen Lateinamerika w a r indes keineswegs m e h r so offen wie in der ersten H ä l f t e des 16. Jh., so d a ß die Verbreitung der Bibel in den Volkssprachen keine innerkatholische R e f o r m b e w e g u n g auslösen k o n n t e , zumal sie auch noch vor M i t t e des J a h r h u n d e r t s in den meisten L ä n d e r n von Hierarchie und konservativer Reaktion stark behindert oder zeitweise ganz u n t e r b u n d e n w u r d e - nicht zuletzt bewirkt d u r c h die Enzyklika Leos XII. Ubi primum (1824) gegen die Bibelgesellschaften und die Verteilung der Bibel in Volkssprachen - , so d a ß auch die in Kolumbien schon gelungene G r ü n d u n g einer einheimischen Bibelgesellschaft z u m Scheitern verurteilt w a r . In der 2. H ä l f t e des 19. J h . sollte

465

Lateinamerika

dann die Arbeit von Bibelagenten immer mehr zum Ausgangspunkt des protestantischen Proselytismus werden. (ca.

7. Kirche und 1850-1960)

Gesellschaft

im Zeitalter

von

Spätliberalismus

und

Szientismus

Während in Europa der -»Positivismus, einmal im allgemeinsten Sinn verstanden, ein philosophischer Versuch war, die voraufgegangene wissenschaftliche Revolution zu bewältigen, führte er in Lateinamerika wissenschaftliches Denken und wissenschaftliche Kultur allererst ein, was seine überragende Bedeutung auf dem Gebiet des Erziehungswesens erklärt. Die von naturwissenschaftlicher Methodik geprägte Wissenschaftsgläubigkeit des Szientismus trug sodann dazu bei, daß die in den führenden Staaten Europas im 19. Jh. als Konsequenz der wissenschaftlichen Revolution ausgebrochene technisch-industrielle Revolution auch in Lateinamerika rezipiert wurde. In den sechziger Jahren des 20. Jh. sollte die politische und wirtschaftliche Konzeption des Spätliberalismus sich mit einer technokratischen Entwicklungsideologie paaren, die dem positivistischen Szientismus gar nicht so unähnlich ist (vgl. Prien, Geschichtc 512ff). 7.1. Die römisch-katholische Kirche. Ab 1840 machte sich in Lateinamerika eine jüngere Generation von Liberalen bemerkbar, die bald durch die europäischen Ereignisse von 1848 und die Uberzeugung der Intellektuellen, der Liberalismus sei die Politik der Zukunft, ermutigt, die Konservativen in den Jahren 1 8 4 8 - 1 8 6 0 in die Defensive drängten und außer in Zentralamerika fast überall die Macht ergriffen oder kurz davor standen. Dabei kam es zu einer gegenläufigen Bewegung zwischen der politischen Position des Klerus und derjenigen der Intellektuellen. Hatte eine Vielzahl von Klerikern z.T. unter freimaurerischem Einfluß in der Epoche der politischen Emanzipation auf Seiten der Liberalen gestanden, so verließen sie ab 1835, enttäuscht über den „Zusammenbruch der Moral" zunehmend die Reihen der Liberalen und setzten auf autoritäre konservative Führer, die unter kirchlicher Anleitung die öffentliche Moral wiederherstellen sollten. Gleichzeitig kam ab 1840 die erste Welle klerikaler Einwanderer nach Lateinamerika, die dem Pricstermangel abhelfen sollten und die Romanisierung der lateinamerikanischen Kirche einleiteten. Sie brachten eine konservative bis reaktionäre politische Einstellung mit und bemühten sich, die einheimischen Kleriker, soweit sie noch liberalen Ideen zuneigten, für die konservative Sache zu gewinnen. Im Namen des Föderalismus und des Prinzips der nationalen Souveränität bekämpften die „Jungliberalen", die Vertreter der zweiten Generation des Liberalismus, der hier „Spätliberalismus" genannt werden soll, verstärkt die kirchlichen Leitungsansprüche des Vatikanstaats als einer ausländischen Macht. Und während sich der konservative Schwenk im Klerus vollzog, zeigten die Jungliberalen zunehmend antiklerikale Tendenzen, die sich zwar nicht gegen das Christentum als Religion, wohl aber gegen die katholische Amtskirche und ihren gesellschaftlichen Machtanspruch richteten. Da sie in ihr einen Hort der feudalen Gesellschaft sahen, deren kolonialzeitliche Strukturen einer Reform bedurften, trachteten jungliberale Regierungen danach, solche Reformen ohne Rücksicht auf das kanonische Recht gewaltsam durchzusetzen. Dabei gingen die Jungliberalen weiter als die meisten vom —»Gallikanismus beeinflußten Geistlichen des 18. Jh., indem sie eine vollständige staatliche Kontrolle der Kirche anstrebten, was sie z.T. mit Verweis auf das Urchristentum begründeten, wonach Reichtum und weltliche Macht den Idealen des Christentums widersprächen. Da nach liberaler Auffassung das karitative Wirken ohnehin die Trägheit der Bedürftigen erhöhe und damit die Verbreitung kapitalistischer Wettbewerbsideen, die allein den Fortschritt bewirken können, behindere, bedürfe die Kirche keiner Reichtümer für karitative Aufgaben. Ein Beispiel für einen besonders hartnäckigen Kampf um die liberale Reform ist -»Mexiko, wo die Reform schon in den zwanziger Jahren versucht, aber von der konservativen Reaktion wieder außer Kraft gesetzt wurde. Die Folge war der „Reformkrieg"

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Lateinamerika

der fünfziger J a h r e , in d e m die Liberalen eine säkulare Gesellschaftsordnung durchzusetzen versuchten. 1857 e x k o m m u n i z i e r t e n die Bischöfe pauschal alle Staatsbeamten, die d i e neue Verfassung b e s c h w o r e n hatten. Die von der Hierarchie begrüßte französische Intervention (1861/62), die zur Etablierung des Kaiserreichs Erzherzogs M a x i m i l i a n s f ü h r e n sollte, verhalf der R e a k t i o n vorübergehend zum Sieg. 1867 w a r die kirchliche „ P a r t e i " zerbrochen, Benito J u á r e z triumphierte endgültig, und M a x i m i l i a n m u ß t e für sein ephemäres Kaisertum mit d e m Tode zahlen. M i t d e r von Tejada durchgesetzten Verfassungsä n d e r u n g von 1873 k a m die von G o m e s Farías angefangene u n d von Juárez wieder a u f g e n o m m e n e antiklerikale R e f o r m b e w e g u n g an ihr Ziel. Als V o r k ä m p f e r des Individualismus meinten die Jungliberalen, es gebe genug gesellschaftliche Aufstiegschancen f ü r die T ü c h t i g e n . Dieses D e n k e n w u r d e noch verstärkt, als sich Liberalismus und Positivismus verbanden. In d e m M a ß e , wie der Positivismus C o m tes vom sozialen D a r w i n i s m u s Spencers überlagert w u r d e , begannen die Jungliberalen, die unteren Schichten f ü r rassisch m i n d e r w e r t i g anzusehen und f ü r unfähig, ihre eigene Lage zu verbessern. Der konservative Klerus hingegen wollte die weltliche Gesellschaft der idealen O r g a n i s a t i o n s f o r m der kirchlichen Einrichtungen angleichen, d . h . den Prinzipien von O r d n u n g , A u t o r i t ä t u n d Hierarchie zum D u r c h b r u c h verhelfen, Individualismus reduzieren und Profitdenken b e k ä m p f e n . Im Zeichen der Soziallehre des Paternalismus, nach d e r eine natürliche soziale O r d n u n g einer unbeweglichen Unterklasse bedarf, deren M e n s c h e n w ü r d e durch paternalistische M a ß n a h m e n zu schützen ist, k a m es u m die J a h r h u n d e r t m i t t e zu einem Bündnis von konservativen Politikern und katholischem Klerus. W o dieses Bündnis die Regierungsmacht erlangte, w u r d e n K o n k o r d a t e mit dem Vatikan geschlossen, die einerseits die Rechte d e r katholischen Kirche sicherten, dem Staat aber d a s P a t r o n a t s r e c h t bestätigten, andererseits gesetzlichen Schutz gegen protestantische Missionsversuchc boten. Ein typischer E x p o n e n t dieses Bündnisses w a r der D i k t a t o r G . G a r c i a M o r e n o , der E c u a d o r von 1860 bis zu seiner E r m o r d u n g 1875 beherrschte, ein machtbesessener Präsident, zugleich ein religiöser F a n a t i k e r und ein W o h l t ä t e r , der sich als Verwalter eines päpstlichen I.chcns betrachtete.

Um die J a h r h u n d e r t w e n d e beeinflußte der soziale D a r w i n i s m u s Spencers (s. T R E 8, 372,44ff) auch die Konservativen dergestalt, d a ß sie patcrnalistischen Schutz für die Unterschichten a b b a u t e n , die nach dessen Lehre wirtschaftliche Fähigkeiten besaßen. Um diese Zeit schien es so, als o b „die Erben des alten Gegensatzes zwischen Konservativen und Liberalen" sich n u r in der Uneinigkeit d a r ü b e r unterschieden, „wieviel politische M a c h t m a n der katholischen Kirche zugestehen w o l l e " . In dieser Lage begann die soziale Frage gefährliche A u s m a ß e a n z u n e h m e n , und sehr bald im 20. J h . m u ß t e n die herrschenden Klassen, o b konservativ oder liberal, ihre Lösung a n p a c k e n o d e r mit einer unvermeidlichen Revolution rechnen (vgl. Pike 116ff). Z u einer erfolgreichen Revolution sollte es in der ersten H ä l f t e des 20. J h . indes n u r in M e x i k o a b 1910/11 k o m m e n (vgl. Q u i r k [Lit.]; C. Alvear Acevedo: M E X I C O 313 ff [Lit.]), w ä h r e n d in a n d e r e n L ä n d e r n , z.B. in El Salvador 1932, E r h e b u n g e n des Volkes blutig niedergeschlagen w u r d e n (vgl. V. Sieglin: Z e n t r a l a m e r i k a 129ff). Besonders in Brasilien h a t t e n sich soziale S p a n n u n g e n u n t e r der a r m e n L a n d b e v ö l k e r u n g schon im 19. J h . in messianischen Bewegungen e n t l a d e n , die mit Billigung der katholischen Kirche d u r c h militärische Mittel erstickt w u r d e n (vgl. Quciroz) u n d keineswegs ausschließlich u n t e r d e m Aspekt der V o l k s f r ö m m i g k e i t b e t r a c h t e t w e r d e n d ü r f e n (vgl. Prien, Volksfrömmigkeit).

In der katholischen Kirche g e w a n n der den römischen Z e n t r a l i s m u s bejahende und f ö r d e r n d e U l t r a m o n t a n i s m u s auch in Lateinamerika im 19. J h . als einzige e r k e n n b a r e Alternative zur Abhängigkeit der Kirche vom Staat immer m e h r an Boden. Der ->Ultram o n t a n i s m u s u n d ein verstärkt a b M i t t e des 19. J h . einsetzender Z u s t r o m von Priestern und Kongregationen a u s Italien und Frankreich f ü h r t e n zur R o m a n i s i e r u n g der lateinamerikanischen Theologie und Kirche, die aus einer iberisch-amerikanischen nun immer

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m e h r zu einer römisch-universalen und d a m i t weniger bodenständigen Kirche wurde. D u r c h die Ausbildung der Priesterelite im römischen Collegium Pio Latinoamericanum und durch die mechanische Übertragung der Ergebnisse des - » Vatikanums I a u f dem 1 8 9 9 in R o m von - » L e o XIII. abgehaltenen I. Lateinamerikanischen Plenarkonzil wurde die Entfremdung v o m lateinamerikanischen K o n t e x t noch gefördert. Eine Folge w a r , d a ß die Hierarchie das sich zuspitzende soziale Problem in Lateinamerika k a u m erkannte. Auch die Neuformulierung der katholischen Soziallchre durch L e o X I I I . ( K e r u m novarum 1891) und - » P i u s X I . ( Q u a d r a g e s i m o anno 1931) w u r d e kaum zur Kenntnis g e n o m m e n , geschweige denn in die andersartige Situation übersetzt. Vereinzelte Ausnahmen bestätigen die Regel. So gehören die drei Katholischen Sozialkongresse in Mexiko in den Jahren 1 9 0 3 - 1 9 0 6 in die Wirkungsgeschichte von Kerum novarum. Auf dem ersten Kongreß wurden strukturelle Probleme erkannt, etwa der Alkoholismus aus der Notwendigkeit, den Hunger zu betäuben, und als Folge von Ausbeutung und Unwissenheit erklärt und das Konkubinat mit ständig wechselnden Partnerschaften, eine typische Erscheinung der Unterschicht, als Konsequenz von Elendslöhnen gesehen. Statt diese Ursachen hartnäckig anzuprangern, wurde auf den folgenden Kongressen empfohlen, verstärkt gegen den Alkoholismus zu predigen oder die Trunkenheit zum Kapitalverbrechen zu erklären. In Argentinien hatte es schon 1884 einen Kongreß von Arbeiterkreisen (Ctrculos Obreros) gegeben, der der Forderung nach Beibehaltung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen Nachdruck verleihen wollte, die von katholischen Politikern indes nicht aufgenommen wurde. Nach 1891 wurde die kirchliche Sozialarbeit von Pater Friedrich Grote, der die Arbeiterkreise aus Deutschland kannte, belebt. Grote forderte eine staatliche Sozialgesetzgebung und gründete nach dem Vorbild der katholisch-sozialen Bewegung Giuseppe Toniolos eine Democracia Cristiana im Geiste von Kerum novarum. Was könnte den Widerstand der Amtskirche gegen eine effektive Sozialarbeit mehr verdeutlichen, als das Verbot der „Democracia Cristiana", das Erzbischof Espinosa 1919 aussprach (vgl. Auza). Die ab 1929 auch in den Kirchen Lateinamerikas ins Leben gerufene - » K a t h o l i s c h e Aktion diente weniger effektiver Sozialarbcit als dem Versuch der Amtskirche, aus dem gesellschaftlichen G h e t t o herauszukommen und Einfluß auf die Gesellschaft zurückzugewinnen. Die nach außen als eine Laienorganisation erscheinende Katholische Aktion war strikt der bischöflichen Autorität unterstellt. Etwa von 1930 bis in die fünfziger Jahre hinein diente sie einer Kirchenpolitik, die von Land zu Land mit verschiedenem Erfolg versuchte, den Eliten das Projekt einer neuen lateinamerikanischen Christenheit schmackhaft zu machcn. Dies gelang teilweise, weil den Eliten kirchlicher Traditionalismus und sozialer Konservatismus als zwei Seiten derselben Münze dargestellt wurden. Um den Preis der Stützung eines ungerechten sozio-ökonomischen Status quo gelang es der katholischen Kirche, ihre Strukturen zu stärken und einem Triumphalismus zu frönen, der in gigantischen Veranstaltungen wie nationalen und internationalen Eucharistischen Kongressen seinen Ausdruck fand, wobei leicht das, was Maritain das „Dekorativ Christliche" in der Gesellschaft nennt, mit dem Wesen des Christentums verwechselt wurde. 1 9 4 5 hat der Bischof von M a u r a , C a r l o s Duarte C o s t a , nachdem er e x k o m m u n i z i e r t worden war, die „Brasilianische katholische apostolische K i r c h e " ins Leben gerufen, die heute bereits ca. 2 Mill. Anhänger und eine kleine Schwesterorganisation in Argentinien hat. Sie ist in weiterem Sinne der Tradition der altkatholischen Kirche zuzurechnen. Ähnlich wie die Altkatholikcn in Europa hat sie frühzeitig die Muttersprache in der Messe eingeführt, erkennt die Infallibilität des Papstes und seinen Jurisdiktionsprimat nicht an, wohl aber eine Art Ehrenprimat. Sie versteht sich als eine Hüterin der alten katholischen Traditionen, insbesondere der überkommenen Volksfrömmigkeit, bezichtigt die nachvatikanische Kirche der Gegenwart der „Anarchie", des Anthropozentrismus, des Marxismus und der Subversion und hat auf politischem Gebiet zur Zeit der Militärdiktatur eine extrem rechte Position eingenommen. Es liegt auf ihrer Linie der Hochschätzung der Volksfrömmigkeit, daß sie 1973 den Führer einer messianischen Bewegung des Nordostens, Pater Cicero (1844-1934), „heilig gesprochen" hat. 7 . 2 . Die Ausbreitung des Protestantismus. 1 8 5 0 - 1 8 8 0 , in den „goldenen J a h r e n " des europäischen Einflusses in Lateinamerika im allgemeinen und des englischen im besonderen, k a m es durch massive europäische Einwanderung speziell in den ABC-Staaten und in Uruguay zu gesellschaftlichen Umformungsprozessen. Die W o g e protestantischer Ein-

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wanderer führte zur Verstärkung der Gemeinden europäischer protestantischer Tradition und zu Neubildungen. Es kamen auch neue Gruppen hinzu wie 1858-1861 die Waldenser nach Uruguay und Argentinien. In Brasilien hat die Mission der historischen angelsächsischen Denominationen einen wesentlichen Impuls durch die Einwanderung einer größeren Anzahl von -»Presbyterianern, -»Methodisten und -»Baptisten aus den Südstaaten der USA nach dem für sie enttäuschenden Ausgang des Sezessionskrieges (1863—1865) erfahren, da sich die Organisationen der Heimatkirchen in den Südstaaten der Auswanderer annahmen, ihnen bei der Bildung von Kongregationen halfen und diese dann als Ausgangspunkte für ihre Missionsarbeit benutzten. Diese protestantischen Einwanderer fühlten sich durch die feudalen Gesellschaftsstrukturen Brasiliens angezogen, das als einziger Staat Lateinamerikas Reste der Negersklavcrei bis 1888 bewahrte. Die Presbyterianer faßten 1856 in K o l u m b i e n , 1859 in Brasilien, 1872 in M e x i k o und 1882 in G u a t e m a l a F u ß , die M e t h o d i s t e n 1873 in M e x i k o , 1886 in Brasilien, 1890 auf den Antillen und gegen Ende des 19. J h . auch in C o s t a R i c a , P a n a m a und Bolivien. Abgesehen von den englischen Besitzungen, breiteten sich die Anglikaner und Episkopalen langsamer aus und setzten sich hauptsächlich a n den strategisch bzw. handelspolitisch wichtigsten Punkten des S u b k o n t i n e n t s fest.

Stellenweise kann man in der 2. Hälfte des 19. Jh. einen gewissen Synchronismus zwischen dem Aufkommen liberaler, antiklerikaler Regierungen und dem Beginn der protestantischen Missionstätigkeit beobachten. Ihre Missionare - als solche betätigten sich nun auch die Bibelkolporteure - suchten häufig Kontakt mit Freimaurern, um in die Gesellschaft einzudringen, und waren nicht selten selbst Freimaurer (vgl. zu Brasilien: Vieira). Den historischen angelsächsischen Denominationen folgten freikirchliche Missionen der Baptisten (ab 1871 in Brasilien, ab 1880 in Mexiko, ab 1884 in Argentinien), der Disciplcs of Christ, einiger -»Quäker, der -»Heilsarmee (zuerst 1890 in Argentinien), der Kirche der Brüder (Free Brethren 1882 zuerst in Argentinien - zur Missionstätigkeit der Brüdcrunität in der Kolonialzeit s.o.), der Adventisten des 7.Tages (1894 in Brasilien, kurz darauf in Chile, 1906 in Peru) und seit der Jahrhundertwende Glaubensmissionen (faith missions), überkonfessionelle Missionsvereinigungen nach dem Vorbild der englischen China-Inland-Mission, die z. T. direkt für die Mission in Lateinamerika in den USA gegründet worden sind - z.B. die South American Evangelical Mission (1897), die Help forBrazil Mission (1892 organisiert zur Unterstützung der Kongrcgationalen in Brasilien) und die Südamerika-Sektion der Regions Beyond Missionary Union (1890 Arbeitsbeginn in Peru), die sich 1911 zur Evangelical Union of South America mit Hauptsitz in London zusammenschlössen (Missionsfelder: Brasilien, Argentinien, Peru), ferner die Christian Missions in Many Lands (Plymouth Brüder), die American and Foreign Christian Union (1853 Kolumbien, später Peru), die Christian and Missionary Alliance (Ekuador ca. 1900), die Peniel Missionary Society (1906 Bolivien), die Inland South American Society, die Central American Mission, die Gospel Missionary Society, die Latin America Mission etc., sowie interdenominationelle Jugendgesellschaften (CVJM - ab 1890 in Argentinien, ab 1896 in Brasilien). Die Pfingstbewegung (-»Pfingstkirchen/Charismatische Bewegungen), die vor dem Ersten Weltkrieg zuerst in Chile als Abspaltung von der Methodistischen Kirche Fuß faßte, sollte sich etwa ab 1930 im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise verstärkt ausbreiten und den Protestantismus, der bis dahin vornehmlich in den unteren Mittelschichten Fuß gefaßt hatte, in Chile, Brasilien, Guatemala, Mexiko und Haiti zu einer echten „Massenreligion" der Unterschichten machen. Brasilien bildet heute den S c h w e r p u n k t der lateinamerikanischen Pfingstbewegung. D o r t entstanden 1910 die „ G o t t e s v e r s a m m l u n g e n " , 1978 mit einer G e s a m t g e m e i n d e von 5 , 6 M i l l . die g r ö ß t e Pfingstkirche des Kontinents (vgl. Prien, Assembleias de Deus n o Brasil: E K L 3 1 , 2 9 2 - 2 9 5 [Lit.], bzw. zu Chile: Kliewer).

Die Schwerpunkte der vielschichtigen protestantisch-missionarischen Arbeit lagen in

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Brasilien und Mexiko, im karibischen Raum und in den La Plata-Staaten. Die andinen Staaten von Venezuela bis Bolivien waren ziemlich vernachlässigt. Eine Ausnahme bildet Chile, wo es 1914 mehr Protestanten gab als in allen anderen andinen Staaten zusammen, was daran liegen mag, daß hier das Ancien Régime nicht mehr so stark war wie in den die katholische Tradition stark bewahrenden übrigen Andenstaaten, weil in Chile der durch Urbanisierung und Industrialisierung eingeleitete gesellschaftliche Umbruchsprozeß, der auch die Ausbreitung der Pfingstbewegung förderte, schon weiter fortgeschritten war. Die nordamerikanischen Missionsbemühungen im karibischen Raum stehen in ursächlichem Zusammenhang mit dem US-Imperialismus, der von gewissen protestantischen Kreisen ideologisch legitimiert wurde. Wie schon der Krieg mit Mexiko (1845-1848), so wurde auch der Krieg mit Spanien (1898-1900), der mit der Annexion Puerto Ricos und der Gewinnung der Vormundschaft über Kuba endete, als ein providentieller Akt gewertet (vgl. Beach 91). Auch die Interventionen in Panama, Nikaragua, Haiti und Santo Domingo erleichterten nordamerikanische Missionsvorhaben. Der Protestantismus ist also einerseits durch die Einwanderer zur Aufstockung der Bevölkerung oder zur Umstellung von Sklavenarbeit auf die Arbeit freier Landwirte und Handwerker nach Lateinamerika gekommen und andererseits durch gezielte Mission, wobei deren Träger vielfach als Vertreter einer überlegenen Zivilisation und eines Ethos der Arbeit begrüßt wurden und sich ab Ende des 19. Jh. in Ubereinstimmung mit dem nordamerikanischcn Sendungsbewußtsein auch so fühlten. Dabei läßt sich ein Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Expansion der USA nicht übersehen. Der fortgesetzte Einwandererstrom brachte auch im 20. Jh. weitere protestantische Gruppierungen nach Lateinamerika: Wolgadeutsche, die schon ab 1876 nach Brasilien und Argentinien kamen und sich dort einer der deutschen evangelischen Synoden anschlössen; Mennoniten, die Rußland ab 1917 verließen, kamen ab Ende der zwanziger Jahre über Kanada nach Paraguay, nachdem Altmennoniten aus den USA schon 1917 Missionsarbeit in Argentinien angefangen hatten, die sich später nach Uruguay, Paraguay, Brasilien, Peru und Kolumbien ausdehnte. Nach dem Ende des Burenkrieges (1902) kamen holländische Reformierte aus Südafrika nach Argentinien und Brasilien, nach der Auflösung der Donaumonarchie (1918) auch ungarische Reformierte. Bis zum Ersten Weltkrieg waren indes in Brasilien noch die vier Synoden deutscher Einwanderergenieinden, die sich 1949/54 zum Bund der Synoden. Evangelische Kirche lutherischen Bekenntnisses in Brasilien zusammenschließen sollten, das zahlenmäßig stärkste Element des Protestantismus. Ab 1864 erfuhren die Gemeinden Hilfe von Barmen, von der späteren Evangelischen Gesellschaft für die protestantischen Deutschen in Amerika, und vom Evangelischen Oberkirchenrat (EOK) in Berlin. 1886 gelang Pfarrer W. Rotermund in Rio Grande do Sul die erste dauerhafte Synodengründung. Das preußische Kirchengesetz von 1900 erlaubte generell den Anschluß von Auslandsgemeinden, was von den meisten Einwanderergemeinden in Brasilien wahrgenommen wurde. Ab 1911 vertrat ein Propst den EOK in Brasilien. Ende des 19. Jh. begann eine intensive Arbeit der lutherischen Gotteskastenvereine in Brasilien, die zur Gründung einer Lutherischen Synode führte. 1928 schlössen sich die Riograndenser Synode und 1933 auch die Evangelisch-lutherische Synode, die zuvor zu einem Anschluß an das nordamerikanische Luthertum tendiert hatte, dem Deutschen Evangelischen Kirchenbund als Auslandssynoden an. Die schon vor dem Ersten Weltkrieg stark gepflegte Deutschtumstradition führte in den dreißiger Jahren im Zeichen der nationalsozialistischen Ideologie zu theologischen Irrwegen, die die Synoden ab 1937 im Zeichen der nativistischen luso-brasilianischen Politik des Estado Novo mit dem Verbot der Benutzung der deutschen Sprache unter dem diktorialen Präsidenten Getülio Vargas in eine schwere Krise stürzen sollten (vgl. Prien, Ev. Kirchwerdung in Brasilien).

Am La Plata kam es 1899/1900 zu einem übernationalen Zusammenschluß deutscher Einwanderergemeinden in Argentinien, Uruguay und Paraguay in Gestalt der Deutschen Evangelischen La Plata Synode und in Chile 1906 zur Bildung der Deutschen Evangelischen Chile Synode. Innerhalb der traditionellen Denominationen nordamerikanischen Ursprungs machten sich mit zunehmender Einwurzelung in Lateinamerika auch Unab-

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h ä n g i g k e i t s b e s t r e b u n g e n b e m e r k b a r , die ihren A n f a n g in Brasilien, d e m wichtigsten M i s sionsfeld, n a h m e n . Dort kam es bereits 1903 zu einem Schisma der Presbyterianer, das die Entstehung der Igreja Presbiteriana Independente zur Folge hatte, während ähnliche bei den Methodisten 1924 einsetzende Bestrebungen 1930 zur Unabhängigkeit der ganzen methodistischen Kirche führten. Ein Schisma trennte 1925 auch die nordbrasilianischen Baptisten von den übrigen Baptisten, konnte aber Mitte der dreißiger Jahre weitgehend überwunden werden. Ein neues P h ä n o m e n d e s b e g i n n e n d e n 20. J h . ist d i e Ü b e r s c h n e i d u n g des v o l k s k i r c h l i chen Protestantismus der Einwandererkirchen mit dem nordamerikanischen „Bekchrungsprotestantismus". Während erstere sich schon wegen ihrer völlig ungenügenden Zahl meist ausländischer Pastoren damit begnügen mußten, ihre Gemeinden recht und schlecht zusammenzuhalten, legten Missionare von Einwandererkirchen aus den USA, die sich an dieselben ethnisch-religiös bestimmten Gruppen wandten, großen Nachdruck auf die Belebung des Glaubens unter den nominellen Protestanten im Sinn der pietistischen Forderung der Wiedergeburt. Durch ihren Lernprozeß in der religiös pluralistischen Gesellschaft der USA und durch aus Europa mitgebrachte pietistische Traditionen hatten sich diese nordamerikanischen Kirchen bereits vom volkskirchlichen Modell gelöst. Von diesen K i r c h e n f a ß t e n als erste d i e Missouri-Lutheraner in L a t e i n a m e r i k a F u ß , u n d z w a r a b 1900 in Brasilien u n d a b 1905 in A r g e n t i n i e n . I h n e n f o l g t e n in A r g e n t i n i e n a b 1908 b z w . s y s t e m a t i s c h a b 1919 M i s s i o n a r e v e r s c h i e d e n e r l u t h e r i s c h e r S y n o d e n d e r USA, die sich 1960 z u r Lutheran Cburch in America (LCA) z u s a m m e n s c h l i e ß e n sollten. A u s ihrer Arbeit in A r g e n t i n i e n sollte 1948 die s y n o d a l o r g a n i s i e r t e Iglesia Evangélica Unida h e r v o r g e h e n . D a s 20. J h . ist f ü r d e n P r o t e s t a n t i s m u s in L a t e i n a m c r i k a g e k e n n z e i c h n e t d u r c h B e m ü h u n g e n u m i n t e r k o n f e s s i o n e l l e Z u s a m m e n a r b e i t , d i e m i t d e m Cottgress ort Christian Work in Latin America in P a n a m á b e g a n n . N a c h d e m 1910 auf d e r E r s t e n W e l t m i s s i o n s k o n f e r e n z in E d i n b u r g h d a s l a t e i n a m e r i k a n i s c h e M i s s i o n s f e l d w e g e n d e r b e h e r r s c h e n d e n Stellung d e r k a t h o l i s c h e n Kirche a u s g e s c h l o s s e n w o r d e n w a r , hielten d i e U S - M i s s i o n e n die K o n f e r e n z o h n e R ü c k s i c h t auf die englischen M i s s i o n e n 1916 m i t t e n im Ersten Weltkrieg a b . F ü r d a s M i s s i o n s v e r s t ä n d n i s d e r N o r d a m e r i k a n e r s c h l o ß d i e Bes c h r ä n k u n g E d i n b u r g h s auf die M i s s i o n „ u n t e r nicht-christlichen V ö l k e r n " L a t e i n a m e rika nicht aus, d e n n m a n h a t t e in d e r eifrigen P r o p a g a n d a f ü r d i e L a t e i n a m e r i k a - M i s s i o n v o m neglected continent g e s p r o c h e n , „ d e m S p a n i e n w o h l d a s Kreuz, nicht aber d e n H e i l a n d b r a c h t e " (zum p r o t e s t a n t i s c h e n Bild v o m l a t e i n a m e r i k a n i s c h e n K a t h o l i z i s m u s vgl. Prien, G e s c h i c h t e 7 7 9 f f [Lit.]). Die M i s s i o n s b e g e i s t e r u n g des n o r d a m e r i k a n i s c h e n P r o t e s t a n t i s m u s h a t t e seit d e n a c h t z i g e r J a h r e n d u r c h die v o n einer E r w e c k u n g a u s g e l ö s t e Studenten-Freiwilligen-Bew e g u n g w e i t e r e n A u f t r i e b e r f a h r e n . J o h n R . M o t t h a t t e ihr 1888 d a s M o t t o gegeben: „ D i e E v a n g e l i s a t i o n d e r Welt in dieser G e n e r a t i o n " . Der Panamä-Kongreß sollte indes dazu dienen, ein objektiveres Bild des damals von 80 Mill. Menschen bewohnten Subkontinents zu bekommen. Um der Gefahr zu begegnen, daß der Kongreß das Bild einer Kreuzzugsveranstaltung gegen den Katholizismus annehmen könnte, wurden katholische Beobachter eingeladen. Die katholische Kirche reagierte indes nicht auf die Einladung, vielmehr bedrohte der Ortsbischof eventuelle katholische Teilnehmer mit der Exkommunikation. Der Einwanderungsprotestantismus war am Kongreß nicht beteiligt. Trotz der in Panamá wie in Edinburgh vorgenommenen Beschränkung auf die praktische Missionsarbeit bezeichnet der Kongreß das Ende der enthusiastischen Phase der protestantischen Lateinamerika-Mission und den Beginn der kritischen Reflexion auf einem traditionell katholischen Kontinent. Es folgten weitere Kongresse 1925 in Montevideo und 1929 in Havanna. Veranstalter war das 1913 in den USA gegründete Committee on Cooperation in Latin America (CCLA). Man sah die Lösung der sozio-ökonomischen Probleme Lateinamerikas in der Übernahme des nordamerikanischen Erziehungssystems und gründete die ökumenischen Erwartungen auf die Schaffung nationaler evangelischer Räte und die gegenseitige Abgrenzung von Missionsfeldern. 7.3. Orthodoxe Kirchen. D i e E n t s t e h u n g o r t h o d o x e r G e m e i n d e n u n d Kirchen in Lat e i n a m e r i k a ist eine E r s c h e i n u n g des 20. J h . u n d h ä n g t m i t d e r v e r s t ä r k t e n A u s w a n d e r u n g

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orthodoxer Christen nach der Auflösung des Osmanischen Reiches (1918) — besonders Syrer, Libanesen und Armenier-und dem Untergang des Zarenreiches (1917) zusammen, aber auch mit Auswanderungsbewegungen von Griechen, Rumänen, Serben und Kopten. Im wesentlichen sind antiochenische, griechische und russische bzw. ukrainische Traditionen in der Orthodoxie (-»Orthodoxe Kirche) vertreten. Man kann mit knapp 1/2 Million orthodoxer Christen in Lateinamerika rechnen. Schwerpunkte sind Argentinien (ca. 140000), Brasilien (ca. 110000), Mexiko (ca. 80000), Chile (ca. 20000), Venezuela (ca. 16000), Guayana (ca. 10000). In Mexiko ist die russisch-orthodoxe Kirche am stärksten vertreten und bildet ein Exarchat der Orthodoxen Kirche in Amerika. Auch mit Rom unierte arabisch-orthodoxe Kirchen sind in einigen Ländern vertreten (vgl. Zahlenangaben in der World Christian Encyclopedia). 8. Die lateinamerikanische

Christenheit

vor den Herausforderungen

der

Gegenwart

Die ökumenische Herausforderung zur Zusammenarbeit zunächst im katholischen und im protestantischen Lager und heute auch zwischen beiden hat den Kirchen geholfen, auch den sozio-ökonomischen und politischen Herausforderungen der Situation Lateinamerikas besser zu begegnen. 8.1. Die katholische Kirche. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden nationale Handlungsinstrumente innerkatholischer Zusammenarbeit in Gestalt nationaler Bischofskonferenzen. Im Zusammenhang mit dem 36. Internationalen Eucharistischen Kongreß 1955 in Rio de Janeiro beschloß die Erste Allgemeine Konferenz des Lateinamerikanischen Episkopats die Gründung eines kontinentalen Koordinationsinstruments, des Lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM). Anlaß der Konferenz war die „protestantische Gefahr", die sich vergrößerte, nachdem das chinesische Missionsfeld den nordamerikanischen Missionsgesellschaften verschlossen war und diese sich seit 1949 verstärkt Lateinamerika zugewandt hatten. Die Forderungen lauteten jetzt: Kampf gegen den Priestermangel in Lateinamerika durch internationale Priesterhilfe und Ausbau der Seminare, sowie die Schaffung kirchlicher Hilfswerke für Lateinamerika. Auch die Orden organisierten sich kontinental im Lateinamerikanischen Verband der Ordensleute (CLAR), der bis zur römischen Intervention 1989 eine wichtige Rolle im Zusammenhang der Herausbildung und Verteidigung der Theologie der Befreiung als eine nicht von Rom gesteuerte Organisation und als Gegenüber zum CELAM spielen sollte. Nichts hat die weltlichen und kirchlichen Eliten der Neuen Welt so erschüttert wie der Sieg der Kubanischen Revolution 1959. Die USA unter Präsident Kennedy riefen daraufhin die Allianz für den Fortschritt als kontinentales Entwicklungshilfeprogramm zur Abwehr des Kommunismus ins Leben. Auch der CELAM sah auf seiner Sitzung 1959 in erster Linie die kommunistische Gefahr von Kuba ausgehen, kam aber doch nicht umhin, sich eingehender mit den wirtschaftlichen und sozialen Problemen des Subkontinents zu befassen. Im Vorfeld des 2. Vatikanums setzte sich unter Federführung von François Houtart (Löwen) die soziologische Analyse der lateinamerikanischen Wirklichkeit durch (Studienreihe von FERES). Aber junge lateinamerikanische Priester wie Camilo Torres Restrepo (Kolumbien), die an der Universität Löwen Soziologie studiert hatten, stießen in der ersten Hälfte der sechziger Jahre in der Hierarchie ihrer Heimatkirchen noch oft auf Unverständnis. Zur Abkehr von der rein erbaulichen Analyse der lateinamerikanischen Familie trug nicht zuletzt die Sozialenzyklika Papst -»Johannes XXIII. Mater et magistra (1961) bei, die bereits den Dreischritt „sehen, urteilen, handeln" anwendet, der für die Theologie der Befreiung grundlegend werden sollte. In Pacem in terris verband der Papst 1963 die gesellschaftliche Entwicklung mit der Entwicklung von Freiheit und Menschenwürde. Auch die pastorale Konzilskonstitution Gaudium et spes widmete zwei Abschnitte der Entwicklung dem Fortschritt ( 6 4 - 6 6 ) und der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit ( 8 5 - 8 6 ) . Aber noch wichtiger für die Bewußtseinsbildung der peripheren Kirchen war die konsequente Hinwendung der Kirche zur Welt, die Übernahme von Verantwortung in der Welt von heute, die Priorität, mit der die Kirche der Menschheit dienen will, und zwar besonders den sozio-ökonomisch marginalisierten Völkern der Welt (40).

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Diese Impulse wurden vom CELAM 1966 in Mar dcl Plata aufgenommen. Im Generalthema der Versammlung „Aktive Präsenz der Kirche in der Entwicklung und Integration von Lateinamerika" schwingen konziliarc Euphorie und Freude über den Triumph der chilenischen Christdemokraten unter Eduardo Frei (1964) mit. So übernahmen die Bischöfe auch weitgehend deren jesuitisch inspirierte Entwicklungskonzeption, die mit den Schlüsselbegriffen wie „Entwicklung" (desarrollo) und „Integration" noch vom technokratischen Entwicklungsmodell bestimmt war. Nur Erzbischof Helder Cämara sprach schon von der herrschenden Ordnung Lateinamerikas als „Unordnung", die auf „internem Kolonialismus" beruhe und eine „kollektive Sünde" darstelle. Z u m K o n t e x t von M a r dcl Plata bzw. Mcdellin ist der H ö h e p u n k t des lateinamerikanischen Guerilla-Kampfes um 1965 mit dem Tod C a m i l o T o r r e s ' in Kolumbien 1966 und der E r m o r d u n g des gefangenen Ernesto „ C h e " G u e v a r a s durch die Militärs in Bolivien 1967 zu berücksichtigen. Weiter ist zu bedenken, daß der Begriff „ B e f r e i u n g " , der von den Sozialwissenschaftlern, die die Dependenztheorie entwickelten, a u f g e n o m m e n worden war, vom brasilianischen Volkspädagogen Paulo Freire in die Pädagogik übertragen wurde, der durch Konszientisation (Bewußtseinsbildung) und A l p h a b e tisierung einen Befreiungsprozeß auslösen wollte. Auch in zahlreichen kirchlichen D o k u m e n t e n tauchte der Begriff Befreiung im allgemeinen Sinn auf, wurde a b e r erst im Juli 1968 von dem peruanischen Priester G u s t a v o Gutierrez im spezifischen Sinn von Glauben als O p t i o n für die Armen auf der Suche nach einem neuen, in dieser Weltgeschichte Befreiung wirkenden P r o j e k t in das theologische Denken eingeführt und damit die G r u n d l a g e für die T h e o l o g i e der Befreiung gelegt.

Auf der Zweiten Allgemeinen Konferenz des lateinamerikanischen Episkopats 1968 in Medellin wurden in einer gegenüber Mar del Plata überraschenden Weise die Impulse des 2. Vatikanums schöpferisch in die lateinamerikanische Wirklichkeit umgesetzt. Medellin ist gekennzeichnet durch die Entdeckung „des Elends, das große Menschcngruppen marginalisiert", durch die Anklage von Ungerechtigkeit und Unterdrückung, durch die Entdeckung einer „Situation der Sünde" auch in den Strukturen, die auch als „institutionelle Gewalt" charakterisiert werden kann, durch die vorzugsweise Option der Kirche für die Armen, d. h. Medellin versteht die Hinwendung der Kirche zu den Armen und Ausgebeuteten, die Solidarität mit ihnen und die Identifizierung mit ihren Problemen als die zentrale Aufgabe der Kirche und als Wesen ihrer evangelisatorischen Arbeit. Dementsprechend werden auch die kirchlichen Basisgemeinden zum Leitbild einer armen Kirche erhoben. Gestützt durch die innere Erneuerung von den Basisgemeinden her wurde die katholische Kirche mit ihrem Verständnis von Frieden als gesellschaftlicher Gerechtigkeit in den siebziger Jahren zu einem Faktor sozio-politischer Erneuerung, allerdings in einem von Bistum zu Bistum und Land zu Land sehr verschiedenen Maße. Die Basisgemeinden, die immer mehr auch zur Basis der -»Theologie der Befreiung wurden, kamen dort zur Blüte, wo Bischöfe und Priester bereit waren, auf die Artikulicrung der Frömmigkeit des Volkes in den Basisgemeinden zu hören, die neue Art der Bibellese (re-lectura) als ein neues Fragen nach dem Sinn der biblischen Botschaft aus der Situation der Misere heraus zuzulassen und sich durch neue Antworten in Frage stellen zu lassen. Wo ein solcher offener Prozeß möglich war, etwa in vielen brasilianischen Bistümern, da wuchs Kirche von unten, iglesia populär, Kirche des Volkes (vgl. dazu Zambrano), die mehr ist als ein neues Strukturelement der Parochien. In Brasilien hat sich seit 1975 auf den nationalen Basisgemeindetreffen (Mitte der achtziger Jahre ca. 100000 Basisgemeinden in Brasilien und noch einmal so viele im übrigen Lateinamerika) eine neue Form von Konziliarität in Gemeinschaft mit den Bischöfen und nicht gegen sie entwickelt. Das erste Nationaltreffen stand unter dem programmatischen Thema: „Kirche, die aus dem Volk durch den Geist Gottes geboren wird", womit Vorwürfe konservativer Kritiker, zu denen in Puebla auch der Papst zählte, hier würde eine horizontale Ekklesiologie gepredigt, widerlegt werden. Je konsequenter die erneuerte katholische Kirche sich selber treu blieb, d. h. speziell ihrem Erneuerungsprogramm von Medellin, desto größer war der Blutzoll, den die Konfrontationen zwischen Gläubigen und Militärdiktaturen mit totalitären Zügen (Doktrin der nationalen Sicherheit; vgl. Dressel) forderten. Mit Unterstützung Roms versuchte der

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1972 zum Generalsekretär des CELAM gewählte Alfonso Lopez Trujillo durch subtile Abschwächung der Aussagen von Medellin und durch eine Kampagne gegen die Theologie der Befreiung die Konfrontationen mit Unterdrückungsregimen zu vermeiden (vgl. Dussel/Comblin: Lateinamerika, hg. v. Prien, I 80ff, II 27ff). Auf der Dritten Allgemeinen Konferenz in Puebla 1979 wurde indes u.a. dank des Eingreifens des damaligen CELAM-Präsidenten, des brasilianischen Kardinals Aloisio Lorscheidcr, Erzbischofs von Fortalcza, eine Tabuisierung des Begriffs „Befreiung" vermieden und Erlösung definiert als „integrale Befreiung" oder „befreiende Evangelisierung", nämlich als ein prozeßhaftes, in dieser Welt beginnendes, individuell und gesellschaftlich relevantes Geschehen, das in enger Verbindung mit dem Aufbau des Reiches Gottes zu sehen ist, und damit das zentrale Anliegen der Vertreter einer Theologie der Befreiung aufgenommen, der es im Anschluß an Dietrich -»Bonhoeffer um die Welthaftigkeit des Glaubens, um die Überwindung des Dualismus zwischen Kirche und Welt, um Verwirklichung von Nachfolge als „Dienst für andere" geht (vgl. Prien, Lateinamerika 195 ff). Die Diskussion um die Schaffung notwendiger neuer kirchlicher Ämter im Zusammenhang mit den schon 1979 ca. 160000 Basisgemeinden scheiterte in Puebla an der ekklesiologischen Intransigenz von Papst und Kurie. Unter der Leitung von Kardinal Ratzinger nahm die Glaubenskongregation die Theologie der Befreiung und einen ihrer führenden Vertreter, den brasilianischen Franziskaner Leonardo Boff, Mitte der achtziger Jahre aufs Korn (Verordnung eines einjährigen „Bußschweigens"). Die ad limina-Besuche von mehr als 200 brasilianischen Bischöfen von Januar bis März 1986 und eine anschließende Zusammenkunft der Führungsspitze der brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB) mit Papst Johannes Paul II. und Vertretern der Kurie führten zu einer Erneuerung der bischöflichcn Kollegialität und einer Neubewertung der Theologie der Befreiung, die der Papst in einem Schreiben an die CNBB kurz nach diesem Treffen nicht nur als „opportun", „sondern nützlich und notwendig" bezeichnete (vgl. HerKorr 40 [1986] 77ff). In der Folge mußte Kardinal Ratzinger seinen Widerstand gegen das Erscheinen der auf 53 Bände angelegten Bibliothek Theologie der Befreiung einstellen, ein Basiswerk, das weit mehr als einhundert lateinamerikanische Bischöfe unterstützen. Hieraus erhellt, wie schwer Rom sich mit der Erkenntnis tut, daß auch die katholische Christenheit in ein Zeitalter des Polyzentrismus eingetreten ist, für das kontcxtuelle Theologien charakteristisch sind. Die in den achtziger Jahren andauernde, nicht auf Lateinamerika beschränkte Tendenz des Vatikans, vakante Bistümer mit konservativen Klerikern zu besetzen, zeigt, wie schwer es der Kurie fällt, sich vom ekklesiologischen und theologischen Zentralismus zu lösen. 8.2. Der Protestantismus. Seit den fünfziger Jahren kann man zwei neue Phänomene beobachten: einerseits die Entstehung einer Vielzahl von Ablegern kleiner und kleinster Kirchen bzw. Sekten aus den USA, die teilweise als Neu-Pfingstler bezeichnet werden, so daß es z. B. in Guatemala heute mehr als 200 verschiedene „protestantische" Gruppierungen gibt (vgl. zu Guatemala: Schäfer), andererseits die Entstehung multinationaler religiöser Unternehmen: der Tiefenevangelisation, der Church Growth-Bewegung, der Massenevangelisationsorganisationen eines Billy Graham, des von Bill Bright ins Leben gerufenen Studenten-Kreuzzugs für Christus und World Vision mit ihrem z. T. über die staatliche Entwicklungshilfe der USA finanzierten Hilfsprogrammen. Der Anteil von Protestanten an der Gesamtbevölkerung in Lateinamerika nimmt ständig zu, wenn auch von Land zu Land sehr verschieden. Er dürfte insgesamt noch unter 10% liegen, wenn er auch in manchen kleineren Staaten wie Guatemala schon 20% überschritten hat. Eine Vielzahl fundamentalistischer Kirchen und Sekten sowie die religiösen „Multis" stützen mit ihrer vom Kontext abgehobenen Verkündigung bewußt oder unbewußt nordamerikanische sozio-ökonomische Interessen, denen an der Aufrechterhaltung des Status quo in Lateinamerika liegt. Dasselbe gilt freilich auch für den „konservativen" Teil der katholischen Hierarchie.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg schloß sich nur eine kleine Minderheit dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) an. Die 1 . - 3 . Conferencia Evangélica Latinoamericana (1949 Buenos Aires, 1961 Lima, 1969 Buenos Aires) setzte das Streben nach Einheit jetzt auch unter Teilnahme der Einwandererkirchen fort und war gekennzeichnet von wachsender Auseinandersetzung mit der lateinamerikanischen Wirklichkeit, der auch die beiden 1961 gegründeten Kommissionen Kirche und Gesellschaft (ISAL) und Christliche Erziehung (CELADEC) dienten. Auch diese Konferenzen konnten nur einen Teil des Protestantismus zusammenführen, da die Zusammenarbeit mangels eines theologischen Minimalkonsenses angesichts der neuen sozio-politischen Herausforderungen auch zu innerkirchlichen Polarisierungen führte. Der Versuch, eine kontinentale Organisation über die Nationalen Räte zu schaffen (UNELAM), scheiterte Mitte der siebziger Jahre. 8.3. Die missionarische Neubesinnung. Die missionarische Herausforderung scheint kurz vor dem 500. Jahrestag der „Entdeckung" bzw. Invasion der Neuen Welt nicht mehr groß zu sein, da sich die Mission auf die letzten noch nicht christianisierten Mikroethnicn des Amazonasbeckens beschränken kann. Seit den sechziger Jahren hat indes nicht nur die Kritik an den traditionellen Missionsmethoden eingesetzt, sondern auch die Erkenntnis Platz gegriffen, daß die unzulängliche Mission der Makroethnien in der Kolonialzeit eine neue Evangelisierung heute und in Zukunft erforderlich macht. Mehr und mehr nimmt der Konsens zu, daß jeder Mensch ein Recht darauf hat, daß die seine Identität bestimmende Religion und Kultur geachtet wird, so daß traditionelle Missionspraktiken wie die Verbringung von Eingeborenenkindern in kirchliche Internate als Übergriff gegen die Menschenrechte gewertet werden. Katholischerseits sind entscheidende Anstöße von der Konstitution Ad gentes des 11. Vatikanums ausgegangen, die zwei Wege für Mission aufzeigt: Man erforscht die religiösen Werte eines Volkes und versucht in ihnen die Gegenwart Christi aufzuzeigen, oder man beschränkt sich darauf, durch die eigene Präsenz christliches Handeln zu bezeugen. Wie Bischof Samuel Ruiz/San Cristóbal de Las Casas (Chiapas, Südmexiko), der frühere Leiter der Missionsabteilung des CF.LAM, betont, muß Mission das historische Bewußtsein des jeweiligen Volkes beachten. Drückt sich seine Weltanschauung in Mythen aus, dann müssen sie in die christliche Verkündigung einbezogen werden. Ist kein historisches und religiöses Bewußtsein mehr vorhanden, dann muß die Katechese im lebendigen Dialog von den vitalen Problemen der gegenwärtigen Kultur ausgehen. Diese Impulse des II. Vatikanums haben in Lateinamerika zu zahlreichen Konsultationen über die Praxis der Indianermission und über die kirchliche Arbeit in oberflächlich christianisierten M a kroethnien geführt. Dabei ist auch das Verständnis für die schweren kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme aller indianischen Gruppen gewachsen, die mit den Stichworten Marginalisierung, Unterdrückung, Ausbeutung und Vertreibung aus angestammten Siedlungsräumen angedeutet werden können. Progressive Kräfte innerhalb der katholischen Kirche, etwa der Missionsrat der Brasilianischen Bischofskonferenz, betrachten die Indios als Teil der Bewegung der Armen, die für die Befreiung Lateinamerikas kämpft.

Auf protestantischer Seite hat sich ein Bewußtseinswandel durch die Erkenntnis der IV. Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen 1968 in Uppsala angebahnt, daß die Kirchen den Kampf gegen den -»Rassismus in vielen Teilen der Welt unterstützen müssen, so daß auch die Indianermission nicht absehen kann von der gesellschaftlichen Situation, in die sie die Indios durch die Mission integriert. Zum Antirassismusprogramm des ÖRK gehören auch Untersuchungen über die Lage der Urbevölkerung in Nord- und Lateinamerika. Die weltweiten Proteste gegen den durch die überstürzte Erschließung des Amazonasbeckens ausgelösten Völkermord (Genozid) an Tieflandindios oder zumindest deren kulturelle Vernichtung (Ethnozid) waren der Auslöser für die erste derartige Untersuchung auf dem Barbados-Symposion 1971. Die kritischen Anfragen von Ethnologen an die kirchliche Missionspraxis in der Barbados-Erklärung wurden 1972 auf der Konsultation von Asunción aufgenommen, die von der Bewegung für Evangelische Einheit in Lateinamerika (UNELAM) und dem ÖRK veranstaltet worden ist. Daran nahmen Vertreter ökumenisch offener protestantischer Kirchen und der römisch-katholischen Kirche teil.

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D a s D o k u m e n t von Asunciön enthält auch ein Schuldbekenntnis: „ T r o t z einiger Beispiele für k o n k r e t e Aktionen hartnäckiger und m a n c h m a l gefährlicher Verteidigung indianischer Gruppen erkennen wir an, daß, geschichtlich gesehen, unsere Kirchen die lateinamerikanische Gesellschaft mit befreiender Liebe, o h n e Diskriminierung nach R a s s e , G l a u b e o d e r Kultur nicht zu durchdringen vermochten".

Dieses mutige Bekenntnis hat sich freilich weder im großen Rahmen der römischkatholischen Kirche Lateinamerikas - etwa auf der III. Allgemeinen Konferenz des lateinamerikanischen Episkopats in Puebla 1979 (vgl. Noggler, Die Stellung der Indianer) durchsetzen können, noch in der breiten Gruppe evangelikaler Missionen. Aber auch die evangelikalen Missionen haben sich auf Dauer dem Aufruf von Asunciön, daß die Kirchen unverzüglich in ein offenes Gcspräch über die Kultur der Indios, interethnische Konflikte, Rassendiskriminierung, Landenteigung und Lohnausbeutung eintreten müssen, nicht gänzlich verschließen können, wie der Willowbank-Report, der II. Lateinamerikanische Evangelisationskongreß 1979 in Lima und auch die Generalversammlung der Evangelischen Weltallianz 1980 in Hoddesdon zeigen. (Vgl. „Aus dem Willowbank-Rep o r t " : Zs. für Mission [Basel] Jg. IV/1978, 1 7 8 - 1 8 4 ; zu Hoddesdon vgl. „Beschluß über ethnische Gruppen in Lateinamerika". Anhang zu „Eine evangelikale Verpflichtung zum einfachen Lebensstil": EMW-Informationen, Materialdienst Nr. 19, 1981, 9 f ; zu der bei den Evangelikaien noch immer weithin unkritisch gesehenen Arbeit der Wyclif-Bibelübersetzer bzw. des Summer Institut of Linguists vgl. Schulze, Menschenfischer; insgesamt vgl. die im „Indianer-Reader" veröffentlichten Dokumente.) Es gibt auch neuere Ansätze zu ökumenischer Neubesinnung über die Indianer-Pastoral wie etwa das 1980 in Manaus abgehaltene Ökumenische Treffen für lndianerpastoral in Amazonien, das gemeinsam von der Evangelisch-lateinamerikanischen Kommission für christliche Erziehung und dem katholischen Indianer-Missionsrat organisiert worden ist und die Indios gemeinsam um Vergebung für entfremdende Mission gebeten hat, die Kultur und Identität der Indios nicht respektiert hat. 8.4. Kontextuelle Probleme und ökumenische Zusammenarbeit. Neuere Einigungsversuche im evangelischen Raum führten zur kontinentalen Institutionalisierung der Polarisierung zwischen dem ökumenisch offenen gesellschaftskritischen Teil des Protestantismus, der sich 1978/82 zum Lateinamerikanischen Kirchenrat (CLAI) zusammenschloß und der katholischen Kirche dabei die Zusammenarbeit anbot, und dem evangclikalfundamentalistischcn Teil, der sich 1982 zur Evangelisch Lateinamerikanischen Bruderschaft (CONELA) in bewußter Abgrenzung zum Ö R K zusammenfand. Es gibt allerdings auch Beispiele dafür, daß trotz fundamentalistischer Theologie ein gesellschaftskritischer Bewußtseinsprozeß in Gang kommt. In Brasilien ist 1982 mit der Gründung des Nationalen Rates christlicher Kirchen (CONIC) auch erstmals die evangelisch-katholische Zusammenarbeit institutionalisiert worden, die informell an vielen Orten existiert, nicht zuletzt unter den Vertretern einer -•Theologie der Befreiung. Die Kirchen sind sich in den siebziger und achtziger Jahren in wachsendem Maße der gravierenden Strukturprobleme Lateinamerikas bewußt geworden, die sich in Landflucht, Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, Hungerlöhnen, Wohnungsnot, Unterernährung, zerstörten Familien, elternlos herumstreunenden Kindern und Jugendlichen sowie Analphabetismus äußern, so daß in den meisten Staaten zeitweise nur noch Militärdiktaturen, die nach der Ideologie der „nationalen Sicherheit" jede Opposition mit allen Mitteln, einschließlich Folter und Mord, zum Schweigen bringen, die soziale Unruhe eindämmen konnten. Man muß mit Tausenden von Todesopfern in den siebziger Jahren rechnen, die wegen ihres Eintretens für soziale Gerechtigkeit zu Blutzeugen, Märtyrern neuer Art wurden, von den zahllosen Eingesperrten und Gefolterten ganz zu schweigen (vgl. Lange/Iblacker/Dressel). Selbst katholische Bischöfe wie Angelelli/La Rioja (Argentinien) 1976 oder Romero/San Salvador (El Salvador) 1980 wurden kaltblü-

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tig wegen ihres Engagements für die Armen und Entrechteten ermordet. (Zu Angelelli vgl. Mignone 245ff.) Inflationäre Prozesse, die die Kaufkraft der Massen immer mehr verringerten, steigerten Misere und Ausbeutung derart, daß die Interessen der nationalen Oligarchien, der multinationalen Unternehmen und der internationalen Finanzwelt gegen die aufbegehrenden Völker seit Mitte der sechziger J a h r e nur durch immer brutalere Militärregimes gesichert werden konnten: in Brasilien Militärdiktatur seit 1964, in Argentinien ab 1966, unterbrochen von einer peronistischen Phase, in Peru eine linke Militär-Reformdiktatur ab 1968, in Bolivien Militärdiktatur ab 1971, in Ekuador Militärdiktatur ab 1972, in Uruguay Militärdiktatur ab 1973, in Chile seit 1973, in Paraguay Fortdauer der Diktatur Stroessners (bis 1989) mit dauerndem Ausnahmezustand seit 1954. In Südamerika blieben nur Kolumbien und Venezuela von direkten Militärdiktaturen verschont, wenngleich auch dort die soziale Frage keineswegs gelöst ist. In Zentralamerika blieben praktisch nur Costa Rica und Belize von Militärdiktaturen frei, deren Repression sich besonders in El Salvador, Guatemala und Nikaragua verstärkte, während M e x i k o weiterhin in den Händen der „Institutionellen Revolutionären Partei" blieb. (Vgl. Zentralamerika; Krisenregion Zentral-Amerika, Wuppertal 1985; Dussel, Geschichte 394ff; CEHILA, America Central: Historia General VI, Koordinator, Rodolfo Cardenal, Salamanca 1985, und zur aktuellen Lage in Zentralamerika vgl. das ökumenische Dokument, das ca. 100 T h e o l o gen und kirchliche Mitarbeiter unterschrieben haben: „Der Zentralamerikanische Kairos. Eine Herausforderung an die Kirche und an die Welt", in deutscher Ubersetzung als EMW-Informationen Nr. 82 v. August 1988.) D i e F ä l l e d e r R e v o l u t i o n e n v o n K u b a u n d N i k a r a g u a l a s s e n sich i n s o f e r n s c h w e r v e r g l e i c h e n , a l s d e r K a t h o l i z i s m u s in K u b a w e s e n t l i c h s c h w ä c h e r v e r w u r z e l t ist als in N i k a r a g u a . W ä h r e n d d a s z u m M a r x i s m u s ü b e r g e s c h w e n k t c R e g i m e F i d e l C a s t r o s es w a g e n k o n n t e , d i e k a t h o l i s c h e K i r c h e z u m a r g i n a l i s i e r e n , w a r e n s i c h d i e S a n d i n i s t e n s t e t s b e w u ß t , d a ß die R e v o l u t i o n n i c h t g e g e n d i e M a s s e d e r ü b e r z e u g t e n k a t h o l i s c h e n C h r i s t e n d u r c h g e f ü h r t w e r d e n k a n n , d i e a u ß e r d e m in d e r s a n d i n i s t i s c h e n B e w e g u n g w e s e n t l i c h s t ä r k e r m i t g e a r b e i t e t h a b e n als in d e r k u b a n i s c h e n R e v o l u t i o n s b e w e g u n g . W ä h r e n d d e r V a t i k a n in K u b a den D i a l o g m i t C a s t r o s c h o n in d e n s e c h z i g e r J a h r e n g e f ö r d e r t h a t , h a t e r in N i k a r a g u a l a n g e die D i a l o g - u n w i l l i g e M e h r h e i t d e r H i e r a r c h i e g e s t ü t z t , so d a ß es zu schweren Spannungen zwischen Hierarchie und pro-sandinistischer Basisgemeindenbewegung gek o m m e n ist. ( Z u K u b a v g l . N o g g l e r , L a t e i n a m e r i k a 1, 2 7 3 ff, u n d zu N i k a r a g u a vgl. N i c a r a g u a b z w . Z c n t r a l a m e r i k a und La Iglcsia.)

Die Ursachen der seit den sechziger Jahren verstärkten Repression in Lateinamerika liegen in einer korrupten Herrschaftsklasse, die sich zur „Staatsklasse" entwickelt hat (vgl. Hünermann), in der Verzerrung der Welthandelsbedingungcn, die die rücksichtslose Ausbeutung der periphären Wirtschaftssysteme zur Folge hat, falschen Entwicklungskonzepten, die nicht den Grundbedürfnissen der Masse des Volkes entsprechen, sondern von den Interessen der Industriestaaten und des gehobenen Bürgertums bestimmt sind und die zu einer ungeheuren Verschuldung der Volkswirtschaften Lateinamerikas geführt haben, die M e x i k o , Brasilien und Argentinien an den Rand der Zahlungsfähigkeit gebracht hat. Weiter wird die Entwicklung behindert durch ein Schulsystem, das genauso wenig an den Notwendigkeiten Lateinamerikas orientiert ist wie die Industrie oder die Agrarstruktur, die mit ihrer exzessiven Bodenkonzentration auf die Exportproduktion fixiert ist, statt durch Bodenreform einem möglichst großen Teil der Landbevölkerung eine Existenz und die Möglichkeit zur Lebensmittelproduktion für den Inlandsbedarf zu geben. Mittelschichten und Oligarchien, die den europäischen oder nordamerikanischen Lebensstil kopieren, blockieren vielfach die Entwicklungsmöglichkeiten für die Masse der Bevölkerung, die kaum am politischen Meinungsbildungsprozeß beteiligt ist, auch wenn eine demokratische Fassade diesen Anschein erweckt. Dies gilt in erhöhtem M a ß e für die indianischen Minderheiten. Die Erstarrung der Strukturen, die Ausdruck institutioneller Ungerechtigkeit sind und mit repressiver Gewalt von oben verteidigt werden, provoziert die Entstehung von Guerilla-Bewegungen, die ihrerseits die Entwicklung hemmen und teilweise vom Ausland her gefördert werden. Durch eine bloße Rückkehr zu

Lateinamerika

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demokratischen Formen, wie sie in den achtziger Jahren in den meisten Staaten des Subkontinents erfolgt ist, lassen sich diese Probleme nicht bewältigen. Die Rolle der Kirchen in den Diktaturen ist vielfach unerforscht. In Argentinien hat Mignone gezeigt, d a ß die katholische Hierarchie mehrheitlich stark mit der letzten Militärdiktatur (1976-1983) sympathisiert hat. In Brasilien hat die Menschenrechtsarbeit Kardinals P.E. Arns im Erzbistum Säo Paulo zu einer umfassenden Dokumentation über die brasilianische Militärherrschaft und ihre Foltermethoden geführt. (Vgl. Brasil: Nunca mais, Petrópolis 15 1986 - eine von Kardinal Arns veranlaßte Auswertung der Prozesse wegen Verstößen gegen die Menschenrechte nach dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien.) In Chile ist die Arbeit des Solidaritätsvikariats des Erzbistums Santiago für die Verfolgten des Militärregimes Pinochets ein Zeichen christlicher Nächstenliebe. 9. Sekten, Synkretismen

und andere

Religionen

Von den Sekten entfalten die -»Mormonen (Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage) und die -»Zeugen Jehovas die stärkste Aktivität. Aber Lateinamerika ist mit der starken Religiosität seiner Volksmassen, die weit weniger von der Säkularisierung erfaßt sind als die europäische Bevölkerung, auch ein fruchtbarer Nährboden für neureligiöse Bewegungen, seien sie von außen hineingetragen wie die Vereinigungskirche (Moon-Sekte), die auch mit ihrem prononcierten Antikommunismus wirbt und über enorme Finanzmittel verfügt, so daß sie z.B. in Uruguay durch den Aufkauf von großen Wirtschaftsunternehmcn und Kommunikationsmitteln zu einem wichtigen Machtfaktor zu werden scheint, seien sie in Lateinamerika selbst entstanden wie z.B. der Spiritualistisch-Christliche Orden vom Tal der Morgenröte in Brasilien (vgl. Wulfhorst). In gewissem Grade besteht bei noch kaum berührten indianischen Mikro-Ethnicn, aber auch als Parallelkult bei formell christianisierten Makro-Ethnien etwa in Bolivien oder Guatemala indianische Religiosität weiter. Außerdem sind in den Volkskatholizismus in erheblichem Maße Elemente indianischer, z.T. auch afro-amerikanischer Frömmigkeit eingedrungen, so daß hier Synkretismen zu beobachten sind. Afro-amerikanische Religiosität ist verstärkt in der Karibik - z.B. Wodu in Haiti oder in Symbiose mit dem Spiritismus in Venezuela im Maria Lionza Kult (vgl. Pollak-Eltz) oder in Brasilien als - • U m b a n d a (vgl. Weingärtner) - virulent. Man rechnet in Brasilien damit, daß über 20% der nominellen Katholiken im Umbanda-Kult gefühlsmäßig beheimatet sind. Unabhängig davon spielen spiritistische Vereinigungen etwa in Brasilien und Argentinien eine erhebliche Rolle. Durch Einwanderer aus dem Vorderen Orient, aus China und Japan oder den Import von Arbeitskräften aus Indien, z. B. nach Guayana, sind im 20. Jh. auch die großen Weltreligionen wie Islam, Konfuzianismus, Buddhismus und Hinduismus nach Lateinamerika gekommen. Nicht zuletzt haben Juden seit dem 19. Jh. in Lateinamerika Fuß gefaßt. Ihre Einwanderung verstärkte sich unter dem Druck politischer Ereignisse des 20. Jh., so daß die verschiedenen jüdischen Gemeinschaften in allen größeren Staaten Lateinamerikas vertreten sind. Bibliographien/Literaturberichte John Sinclair, Protestantism in Latin America, South Pasadena 1976. - Bibliografía Teológica Comentada de! área iberoamericana, hg. v. Instituto Superior de Estudios Teológicos, Buenos Aires 1973 ff. - Duncan A. Reily, Historia Documental do Protestantismo no Brasil (ASTE), S. Paulo 1984. - Hans-Jürgen Prien, KG Lateinamerikas. Ein Forschungsber.: T h L Z 111 (1986) 785-799. Quellen José de Acosta, De p r o m u l g a t o n e Evangelii apud barbaros sive de procuranda indorum salute libri sex., Salamanca 1589. - Ders., Historia natural y moral de las Indias, Sevilla 1590, Madrid 1894. - J o s é Guillermo Duran, Monumenta Catechètica Hispanoamericana (Siglos X V I - X V I I I ) , Buenos Aires, I 1984. - Bartolomé de Las Casas, Historia de las Indias, 3 Bde., México D.F./Buenos Aires 1951. - Ders., Tratados de Fray B. de Las Casas, 2 Bde., México D.F. 2 1974. - Ders., Brevissima relación de la destruyción de las indias, 1552 = Umstandige u. wahrhafftige Beschreibung Der

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r a k t e r d e r E n t d e c k u n g u. E r o b e r u n g A m e r i k a s d u r c h d i e E u r o p ä e r , S t u t t g a r t 1 9 2 5 - 1 9 3 6 , N a c h d r . O s n a b r ü c k , I—III 1 9 6 9 . - G i l b e r t o F r e y r e , H e r r e n h a u s u. S k l a v e n h ü t t e , S t u t t g a r t 1 9 8 2 ( C a s a G r a n d e e S e n z a l a , R i o d . J a n . 1 9 3 3 ) . - D e r s . , D a s L a n d in d e r S t a d t . D i e E n t w i c k l u n g d e r Urbanen G e s e l l s c h a f t B r a s i l i e n s , S t u t t g a r t 1 9 8 2 ( S o b r a d o s e M u c a m b o s , R i o d. J a n . 1 9 3 6 ) . — J u a n F r i e d e , B . d e L a s C a s a s : p r e c u r s o r del a n t i c o l o n i a l i s m o , M e x i c o D . F . 1 9 7 4 . - G u i l l e r m o F u r l o n g , M i s i o n e s y sus p u e b l o s de G u a r a n í e s , B u e n o s Aires 1 9 6 6 . - C . F u e n t e s , L o s R e i n o s O r i g i n a r i o s , B a r c e l o n a 1 9 7 1 . E d u a r d o G a l e a n o , D i e o f f e n e n Adern L a t e i n a m e r i k a s . D i e G e s c h . eines K o n t i n e n t s v. d e r E n t d e c k u n g bis zur G e g e n w a r t , W u p p e r t a l l 3 1 9 8 8 . - Pius B o n i f a c i u s G a m s , D i e K G v. S p a n i e n , 3 B d e . , R e g e n s b u r g 1 8 6 2 - 1 8 7 9 , N a c h d r . G r a z 1 9 5 6 (vgl. die e n t s p r e c h e n d e n A b s c h n i t t e zu A m e r i k a a b B d . 3 ) . - C h a r l e s G i b s o n , T h e A z t e c s u n d e r S p a n i s h rule. A h i s t o r y o f t h e i n d i a n s o f t h e Valley o f M e x i c o 1 5 1 9 - 1 8 1 0 , Stanford 1964. - Brian Edward G a t e s (Hg.), Afro-Carribbean Religions, Lond o n 1 9 8 0 . - R a f a e l G i r a r d , H i s t o r i a de las C i v i l i z a c i o n e s A n t i g u a s d e A m é r i c a , 3 B d e . , M a d r i d 1 9 7 6 . - A n t o i n e G i s l e r , L ' E s c l a v a g e a u x Antilles F r a n ç a i s e s ( X V I I ' - X I X * siècle). C o n t r i b u t i o n a u P r o b l è m e de L ' E s c l a v a g e , F r i b o u r g 1 9 6 5 (Studia F r i b u r g e n s i a , N o u v e l l e Série 4 2 ) . - R i c h a r d E . G r e e n l e a f , Z u m á r r a g a and the M e x i c a n Inquisition 1 5 3 6 - 1 5 4 3 : A c a d e m y o f American Franciscan History, W a s h i n g t o n 1 9 6 2 , 2 6 - 3 2 . - R u d o l f G r o s s m a n n , D a s E r b e d e r M ö n c h e u. C o n q u i s t a d o r e n : Idee u. W i r k l i c h k e i t in I b e r o - A m e r i k a , H a m b u r g 1 9 6 9 , 1 3 - 2 4 . - H . C h . H a h n , D i e H e r r n h u t e r P i o n i e r m i s sion in M i t t e l - u. S ü d a m e r i k a im 18. J h . , K ö n i g s t e i n 1 9 7 4 . - C y r i l H a m s h e r e , T h e British in t h e C a r i b b e a n , C a m b r i d g e ( M a s s . ) 1 9 7 2 . - E r n s t p e t e r H e i n i n g e r , I d e o l o g i e des R a s s i s m u s . P r o b l e m s i c h t u. e t h i s c h e Verurteilung in der k i r c h l . S o z i a l v e r k ü n d i g u n g , I m m e n s e e 1 9 8 0 . - J ü r g e n H e l l , S k l a v e n m a n u f a k t u r u. S k l a v e n e m a n z i p a t i o n in B r a s i l i e n 1 5 0 0 - 1 8 8 8 , B e r l i n 1 9 8 6 . - W i l l i H e n k e l , D i e K o n z i lien in L a t e i n a m e r i k a , T . 1 M e x i k o 1 5 5 5 - 1 8 9 7 . M i t e i n e r E i n f . v. H o r s t P i e t s c h m a n n , P a d e r b o r n u. a . 1 9 8 4 ( K o n z i l i e n g e s c h . , h g . v. W . B r a n d m ü l l e r ) . - J o s e p h H ö f f n e r , K o l o n i a l i s m u s u. E v a n g e l i u m . S p a n . K o l o n i a l e t h i k im G o l d e n e n Z e i t a l t e r . 2 . A u f l . v. „ C h r i s t e n t u m u. M e n s c h e n w ü r d e " , T r i e r 1 9 6 9 . - E d u a r d o H o o r n a e r t , T h e C a t h o l i c c h u r c h in c o l o n i a l B r a z i l : C a m b r i d g e H i s t . I, s . o . , 5 4 1 - 5 5 6 . - D e r s . ( H g . ) , D a s R e d u ç ô e s L a t i n o - A m e r i c a n a s às L u t a s I n d í g e n a s A t u a i s ( C E H I L A ) , S . P a u l o 1 9 8 2 . - P e t e r H ü n e r m a n n , L a t e i n a m e r i k a s S t a a t s k l a s s e u . d i e A r m e n : H e r K o r r 3 8 ( 1 9 8 4 ) 4 7 5 ff. - A l e x a n d e r v. H u m b o l d t , V o y a g e a u x r é g i o n s é q u i n o x i a l e s d u N o v e a u C o n t i n e n t . . . , 3 0 B d e . , P a r i s 1 8 0 7 - 1 8 3 3 . - J o h n J . J o h n s o n , S i m ó n B o l í v a r and S p a n i s h A m e r i c a n i n d é p e n d a n c e : 1 7 8 3 - 1 8 3 0 , N e w Y o r k 1 9 6 8 . - G ü n t e r K a h l e , B . de las C a s a s , K ö l n / O p l a d e n 1 9 6 8 . - L a u r e n z K i l g e r , D i e N e g e r i n Peru um 1 6 0 0 n a c h d e r B i l d e r c h r o n i k des Phelipe G u a r n a n P o m a d e A y a l a : N Z M ( 1 9 4 8 ) 1 1 0 - 1 1 6 . H e r b e r t S. K l e i n , A f r i c a n Slavery in L a t i n A m e r i c a a n d in t h e C a r i b b e a n , O x f o r d / N e w Y o r k 1 9 8 6 . G . U . K l i e w e r , D a s neue V o l k d e r Pfingstler, B e r n / F r a n k f u r t 1 9 7 5 . - R i c h a r d K o n e t z k e , S t a a t u. G e s e l l s c h a f t in H i s p a n o - A m e r i k a a m V o r a b e n d d e r U n a b h ä n g i g k e i t : S a e c . 12 ( 1 9 6 1 ) 1 5 8 - 1 6 8 . D e r s . , Süd- u. M i t t e l a m e r i k a , F r a n k f u r t / M . 1 1 9 6 5 ( F i s c h e r W e l t g e s c h . 2 2 ) . - D e r s . , C h r i s t e n t u m u. C o n q u i s t a im s p a n . A m e r i k a : S a e c . 2 3 ( 1 9 7 2 ) 5 9 - 7 3 . - W a l t e r K r i c k e b e r g , D i e R e l i g i o n e n des Alten A m e r i k a , 1961 ( R M 7 ) . - E r n e s t o L a c l a u , F e u d a l i s m o y c a p i t a l i s m o en A m e r i c a L a t i n a : C u a d e r n o s A n a g r a m a . S o c i o l o g í a y A n t r o p o l o g í a 63 ( B a r c e l o n a 1 9 7 3 ) 1 7 8 - 1 9 2 . - J a c q u e s L a f a y e , Q u e t z a l c ó a t l et G u a d a l u p e (La f o r m a t i o n de la c o n s c i e n c e n a t i o n a l e a u M e x i q u e ) , P a r i s 1 9 7 4 . — M a r t i n L a n g e / R e i n h o l d I b l a c k e r ( H g . ) , C h r i s t c n v e r f o l g u n g in S ü d a m e r i k a , F r e i b u r g 2 1 9 8 1 . - L a t e i n a m e r i ka P l o e t z , G e s c h . d e r l a t e i n a m e r i k a n i s c h e n S t a a t e n z u m N a c h s c h l a g e n , W ü r z b u r g 1 9 8 9 . - S e r a f i m Leite, H i s t o r i a da C o m p a n h i a d e J e s u s n o B r a s i l , R i o d e J a n e i r o / L i s b o a , I - X 1 9 3 8 f f . - P e d r o L e t u r i a , R e l a c i o n e s e n t r e la S a n t a S e d e e H i s p a n o - A m é r i c a , 3 B d e . , R o m / C a r a c a s 1 9 5 9 . - W i l f r i e d L i e h r , K a t h o l i z i s m u s u. D e m o k r a t i s i e r u n g in B r a s i l i e n , S a a r b r ü c k e n 1 9 8 8 . - J o h n L y n c h , T h e C a t h o lic C h u r c h in L a t i n A m e r i c a , 1 8 3 0 - 1 9 3 0 , C a m b r i d g e H i s t . IV, s . o . , 5 2 7 - 5 9 5 . - J . M a r k g r a f , K i r c h e u. Sklaverei seit der E n t d e c k u n g A m e r i k a s , T ü b i n g e n 1 8 6 6 . - S e v e r o M a r t í n e z P e l á e z , L a p a t r i a del c r i o l l o . E n s a y o de i n t e r p r e t a c i ó n d e la r e a l i d a d c o l o n i a l g u a t e m a l t e c a , G u a t e m a l a 1 9 7 1 . — J . L o y d M e c h a m , C h u r c h a n d S t a t e in L a t i n A m e r i c a . A h i s t o r y o f p o l i t i c o - e c c l e s i a s t i c a l r e l a t i o n s , C h a p e l Hill 2 1 9 6 6 . - B a r t o l o m é M e l i à , El G u a r a n í C o n q u i s t a d o y R e d u c i d o . E n s a y o s d e E t n o h i s t o r i a , A s u n c i ó n 1 9 8 6 . - G a b r i e l M é n d e z P l a n e a r t e ( H g . ) , H u m a n i s m o M é x i c a n o del S i g l o X V I , M é x i c o D . F . 1 9 4 6 . - R a m ó n M e n é n d e z P i d a l , T h e S p a n i a r d s in t h e i r h i s t o r y , L o n d o n 1 9 5 0 . - M E X I C O , H i s t o r i a G e n e r a l d e la Iglesia en A m é r i c a L a t i n a V, K o o r d i n a t o r . A . A l c a l á A l v a r a d o ( C E H I L A ) . F e r n a n d o M i r e s , E n n o m b r e d e la c r u z , S a n J o s é 1 9 8 6 . - D . R . M i t c h e l l , T h e e v a n g e l i c a l c o n t r i b u t i o n o f J a m e s T h o m s o n t o S o u t h A m e r i c a n life 1 8 1 8 - 1 8 2 5 , u n v e r ö f f . 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Lateinamerika

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Lateransynoden I Lateransynoden I. Lateran I - I V II. Lateran V . . .

481

489

I. Lateran I - I V 1. Quellcnlage 2. Gegenstand 3. Lateran I - I V als Konzilien 4 . Lateran I - I V als GeneralIconzilien 5 . Lateran 1—IV als ö k u m e n i s c h e Konzilien (Quellen/Literatur S. 4 8 7 )

1.

Quellenlage

Als Lateransynoden bezeichnet man diejenigen unter den mehr als 2 5 0 römischen -•Synoden, die in der Kirche des hl. Johannes vom Lateran abgehalten wurden. Unter ihnen k o m m t eine besondere Bedeutung den Konzilien von 1123 unter Calixt II., 1139 unter Innocenz II., 1179 unter -»Alexander III. und 1215 unter - » I n n o c e n z III. zu; denn es sind die ersten abendländischen Synoden, die von der römisch-katholischen Kirche als ökumenisch anerkannt wurden. Leider entspricht die Quellenlage in keiner Weise ihrem theologischen Rang. Während von zahlreichen, auch nicht-ökumenischen Konzilien der Alten Kirche und des Mittelalters amtliche Protokolle (acta) überliefert sind, fehlen dieselben für alle vier Lateransynoden. An offiziellen Quellen sind außer einigen Ansprachen (vor allem des Papstes) und Einladungsschreiben lediglich die Kanones erhalten (Kritische Ed. nur für Lateran IV, s. Quellen, sonst vorläufige Ausg. C O D ) . Die übrigen Informationen sind erzählenden Quellen, hauptsächlich Chroniken, zu entnehmen, die meist nicht nur sehr knapp, sondern auch unkritisch und einseitig berichten. Eine Rekonstruktion des Konzilsablaufcs ist deswegen nur für Lateran IV in etwa möglich, w o zusätzlich zu den Chroniken (vor allem Richards von S. G e r m a n o ) ein relativ ausführlicher, privater Augenzeugenbericht zur Verfügung steht (Anonymus von Gießen). Eine wichtige Ergänzung bringen Ordericus Vitalis und Hesso Scholasticus mit ihren anschaulichen und ausführlichen Berichten über das päpstliche Konzil von Reims (1119), das zumindest den ersten drei Laterankonzilien in Ablauf und T h e m a t i k sehr ähnlich gewesen ist. Schließlich gibt auch der Abschnitt Ordo Romanus qualiter concilium agatur des Pontificale Romanum saecult XII eine gewisse Vorstellung vom Ablauf eines römischen Konzils im 12. und beginnenden 13. J h .

2.

Gegenstand

2.1. Während sich die ökumenischen Konzilien der Alten Kirche in erster Linie mit Fragen des Glaubens beschäftigten und nur in zweiter mit solchen der Sitte, ist es bei den mittelalterlichen, so auch bei den Latcransynoden, umgekehrt. Bei keinem von ihnen standen Glaubensfragen im Zentrum; diese fehlten entweder ganz (Lateran I), oder das Konzil vermied eine Stellungnahme (Lateran III hinsichtlich des sog. christologischen Nihilianismus), oder es begnügte sich nach einem allgemeinen, umfassenden Glaubensbekenntnis mit der namentlichen Verurteilung einer einzigen bestimmten Irrlehre (Lateran IV, can. 1 u. 2). Im Mittelpunkt stand vielmehr die konkrete christliche Lebensordnung: das Verhältnis von - » K i r c h e und Staat, politische Streitfragen, die nach damaliger Auffassung in die Kompetenz der Kirche fielen, die Bekämpfung des Islam, die endgültige Durchsetzung und Verwirklichung der Gregorianischen Reform ( - » P a p s t t u m ) , soziale Fragen, sittliche Probleme der einzelnen christlichen Stände. 2.2. Im einzelnen ergeben sich für Lateran l ( 1 8 . 3 . - 6 . 4 . 1 1 2 3 ) , zunächst aufgrund der Kanones, folgende Konzilsgegenstände: Drei Kanones betreffen zentrale Anliegen der Gregorianischen Reform ( 1 . 7 . 2 1 ) , fünf Fragen im Kontext des -»Investiturstreites (3.4.8.12.20), drei den Kreuzzug (-»Kreuzzüge) und seine Voraussetzung, den Gottesfrieden (10.14.15) (-»Frieden), sechs das kirchliche Amt, die Seelsorge und das Mönchswesen (2.5.6.16.18.19), drei konkret den Kirchenstaat (11.17.22). Nur zwei Kanones befassen sich speziell mit der M o r a l der Laien (9.13). Nach dem Zeugnis sonstiger Quellen stand

482

Lateransynoden I

auf der Tagesordnung von Lateran I die feierliche Bestätigung des Wormser Konkordates, also die Beilegung des Investiturstreites. Weitere Konzilsgegenstände waren die Heiligsprechung Konrads von Konstanz, die Wiedereinsetzung des Erzbischofs von BremenHamburg in seine Rechte, der Primatstreit zwischen -»Canterbury und York, die Neufestlegung von Jurisdiktionsbereichen im Mittelmeerraum und schließlich mehrere Konflikte zwischen Klöstern und Bischöfen. 2.3. Auch auf dem 2. Lateranense ( 3 . - 8 . 4 . 1 1 3 9 ) , das durch das Schisma des Gegenpapstes Anaklet II. veranlaßt wurde, standen nach wie vor Anliegen der Gregorianischen Reform auf der Tagesordnung (can. 1.2.6.7.10.16.21.24.25). Sieben Kanones befassen sich näherhin mit dem kirchlichen Amt und der Seelsorge (3—5.15.22.28.30), vier speziell mit Mönchen und Nonnen (8.9.26.27). Erheblich größer als in Lateran I ist das Interesse für das sittliche Leben der Laien ( 1 1 - 1 4 . 1 7 - 2 0 . 2 9 ) . Can. 23 verurteilt Häresien wie die des -•Petrus von Bruys und des Mönches -»Heinrich. Außerdem erfolgte auf dem Konzil die Heiligsprechung des ersten Abts von Fulda, Sturmi. 2.4. Folgende Gegenstände ergeben sich, wiederum zunächst auf der Basis der Kanones, für Lateran III. (5.-19.5.1179), das zur Befestigung des Friedens zwischen Papst und Kaiser einberufen worden war: Im Mittelpunkt stand eindeutig das kirchliche Amt und seine Ordnung (1-6.8.12.13.15-19), von besonderer Wichtigkeit dabei die Neuregelung der -»Papstwahl (1). Um zukünftig Doppelwahlen zu vermeiden, wird bestimmt, daß zur gültigen Wahl eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Zwei Kanones betreffen ausschließlich die Mönche (9.10), drei greifen wiederum zentrale Anliegen der Gregorianischen Reform auf (7.11.14), sieben beziehen sich auf die Moral der Laien (20-26). Can. 27 verurteilt die Häretiker (-»Katharer) und ihre Sympathisanten. Außerdem regelt das Konzil die Nachfolge auf dem Bremer Stuhl. 2.5. Was Umfang, Anzahl, inhaltliche Weite, Sorgfalt der Formulierung und systematische Anordnung der Kanones angeht, so ist von Lateran I bis IV eine stetige Steigerung zu beobachten. Zu Recht gilt das Lateranense IV (11.-30.11.1215), dem von Innocenz III. die Vorbereitung eines neuen Kreuzzuges und die Reform der Kirche als Aufgabe gestellt war, als das bedeutendste Konzil des Mittelalters, und Lateran I—III sind gewissermaßen nur Vorstufen zu diesem eigentlichen Gipfel. Im Aufbau den fünf Teilen der Dckretalicnsammlungen entfernt folgend, behandeln die insgesamt 70 (71) Kanones, die dem Umfang nach die Kanones von Lateran I—III zusammengenommen um ein Drittel übertreffen, etwa folgende Gegenstände: Glaube, Häresie, Schisma ( 1 - 5 ) , Reform des Klerus, der Klöster, der Seelsorge ( 6 - 1 8 ) , Sakramente und kirchliche Ämter (19-34), Gerichtswesen ( 3 5 - 4 9 ) , Ehe ( 5 0 - 5 2 ) , Zehnt, Sanktionen ( 5 3 - 7 0 ) . Besondere Beachtung verdienen neben der Konstitution De fide catholica (1) mit der ersten kirchenamtlichen Verwendung des Begriffs transsubstantiatio (-»Abendmahl) die Rangfolge der Patriarchalsitze (5), die Mehrsprachigkeit des Gottesdienstes und der Seelsorge in mehrsprachigen Nationen (9) (-•Kirchensprache), die jährlichen Provinzialsynoden (6) und Generalkapitel der Orden (12) als Zentralinstanzen für die Durchführung der Reform, die Anstellung eines hauptamtlichen Theologen an den Metropolitankirchen zur Unterweisung der Seelsorgepriester (11), die sorgfältige Auswahl letzterer (26), Verbot neuer Ordensgründungen (13), jährliche Beichte vor dem sacerdos proprtus und Osterkommunion (21), Einschränkung der Ehehindernisse (50). Ein trauriges Kapitel stellen die diskriminierenden Kleidervorschriften für Juden und Sarazenen dar ( 6 7 - 7 0 ) . Von großer Bedeutung ist schließlich die Konstitution Ad liberandam terram sanetam mit einem konkreten Maßnahmenkatalog für den geplanten Kreuzzug (71). Auf den Sitzungen des Konzils befaßt man sich jedoch nicht mit den zu promulgierenden Kanones, sondern hauptsächlich mit eher politischen Fragen (Streit um die Kaiserkrone, Aufstand der englischen Barone gegen den König, Besitzrechte auf die Markgrafschaft Provence). Außerdem wurden Probleme der kirchlichen Jurisdiktion (Toledaner Primat) behandelt (zu den einzelnen Kanones s. Lit. und Maccarrone, Div. 5 , 2 8 5 - 2 9 2 ; Tillmann 152-185).

Lateransynoden I 3. Lateran I-IV

als

483

Konzilien

3.1. Die Frage, ob die Laterankonzilien, mit denen die Serie der mittelalterlichen allgemeinen Synoden beginnt, überhaupt als Konzilien im strengen Sinn des Wortes betrachtet werden dürfen, hängt weitgehend davon ab, ob sie dem sie einberufenden, sie leitenden und ihre Dekrete promulgierenden Papst gegenüber zumindest ein gewisses M a ß an Selbständigkeit bewahrt haben. Sehr instruktiv für das Verhältnis zwischen Papst und Konzil ist zunächst schon der Bericht des Ordericus über das den Lateranensia durchaus verwandte Konzil von Reims (1119). Natürlich war die beherrschende Figur Papst Calixt II. (1119-1124). Aber das Konzil behielt ihm gegenüber seine Selbständigkeit. So verweigerte es z. B. die Annahme eines Kanons in der vom Papst vorgeschlagenen Form (Hesso 4 2 7 - 4 2 8 ) . Für die Lateranensia ihrerseits ist belegt, daß der Papst keineswegs alle Entscheidungen fällte. Es wurden vielmehr Kommissionen gebildet, deren Voten der Vollversammlung des Konzils zur endgültigen Abstimmung vorgelegt wurden. Das Konzil äußerte seine Zustimmung mit Placet (Caffaro 16). Auf dem 3. Lateranense untersuchte eine Kardinalskommission die Gültigkeit der Weihen Bertholds von Bremen. Auf dem gleichen Konzil konnte der Papst die von ihm geplante Verurteilung des sog. christologischen Nihilianismus wegen des Widerstandes eines Teiles der Teilnehmer nicht durchsetzen (s. Chatillon 8 3 - 8 8 ) . 3.2. Besser sind wir, wie oben angedeutet, über die Rollenverteilung und das eigentliche Konzilsgeschehen auf dem 4. Laterankonzil informiert. Natürlich war auch hier die das ganze Konzil dominierende Gestalt der Papst. Er war es, der in den meisten Fällen die Entscheidung der anstehenden Streitfragen selber vornahm. Zuvor jedoch setzte er sich für die Redefreiheit und die Anhörung beider Seiten energisch ein (Anonymus nr. 9). Es konnte auch zu tumultartigen Szenen kommen, die den Papst zwangen, die Sitzung abzubrechen (Richard v. S. Germano). Andererseits gab es Streitigkeiten, in denen es dem Papst nicht gelang, dem Konzil seine Meinung aufzunötigen. Einer förmlichen Abstimmung wurden die Glaubenskonstitutionen unterworfen (Anonymus nr. 11). Daß bei Abstimmungen das Mchrheitsprinzip angewandt wurde, ist sehr wahrscheinlich; denn schon das 3. Latcrankonzil hat es für kirchliche Wahlen vorgeschrieben (1.16). Die Zustimmung des Konzils erfolgte in einigen Fällen, so bei der Konstitution über den Kreuzzug, erst nach Überarbeitung der ursprünglich vorgelegten Fassung. Im übrigen lagen die Konstitutionen zu Beginn des Konzils schon fertig vor. Freilich darf man sich durch die Formel sacro universali synodo approbante saneimus (o.ä.) auch nicht zu dem Urteil verleiten lassen, daß sie völlig ohne Mitwirkung der Konzilsteilnehmer entstanden sind und ausschließlich das Werk des Papstes bzw. seiner Kanzlei darstellen. In der Tat, bei ihrer Erarbeitung bediente sich Innocenz III. eines Verfahrens, das vorher und nachher in dieser Form nicht angewendet wurde: Drei Jahre vor Zusammentritt der Synode waren die Bischöfe der ganzen Welt aufgefordert worden, ihre Anliegen und Reformvorschläge schriftlich nach Rom zu schicken. Wieweit die vom Konzil verabschiedeten Kanones tatsächlich auf der Basis dieser schriftlichen Umfrage und der eingesandten Antworten erarbeitet wurden, entzieht sich freilich unserer Kenntnis (s. jedoch can. 60.63.65.66.70). Aufschlußreich für die Berücksichtigung der Anliegen der einzelnen Ortskirchen ist auch der Vergleich der Kanones von Lateran IV mit denen der unmittelbar vorausgegangenen Partikularsynoden (s. Garcia, AHC 1; Foreville, RSCI 19, 2 9 - 3 7 ; Maccarrone Div. 5,282-285). 4. Lateran 1—1V als

Generalkonzilien

Auf den Lateransynoden war eine stattliche Anzahl von Bischöfen und sonstigen geistlichen Würdenträgern und Laien versammelt. Ihre Zahl wuchs von ungefähr 200 Bischöfen und Äbten zusammen (Lateran I) auf allein 100 Bischöfe (Lateran II) und dann noch einmal von 300 Bischöfen (Lateran III) auf über 400 (Lateran IV) (s. Foreville, Procedure 23 —24). Die eigentliche Neuerung auf letztgenanntem Konzil sind die Vertreter

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Lateransynoden I

der Kathedral- und Kollegiatskirchen, ferner der großen Orden und der weltlichen M ä c h te. Aus den erhaltenen Teilnehmerlisten (für Lateran III s. Mansi 2 2 , 2 1 3 - 2 1 7 . 2 3 9 - 2 4 0 . 4 5 8 - 4 6 8 ; für Lateran IV s. Werner 5 8 4 - 5 9 4 ) ergibt sich, daß die Laterankonzilien zunehmend zunächst aus dem ganzen Westen (Wilhelm von Tours 841 über Lateran III: per universum Latinorum orbem Romae synodus generalis [indicta esf]), schließlich sogar, in gewisser Weise, aus dem Osten beschickt waren. Denn zumindest in westlicher Sicht galten die auf dem vierten Lateranense anwesenden lateinischen östlichen Patriarchen als legitime Vertreter des Ostens (s. sogar die dem Papst keineswegs wohlwollende Chronica regia Coloniensis 237: nihil dignum memoriae quod commendari possit (!) ibi Romanae actum est nisi quod orientalis ecclesia, quod antea inauditum fuit, se subditam ecclesiae exhibuit [Es trug sich dort nichts Gedenkenswertes zu, das erwähnt werden könnte, außer, daß - was zuvor unerhört war - die östliche Kirche als der römischen Kirche unterworfen in Erscheinung trat]). Synoden dieses Ausmaßes und dieser Repräsentativität wurden von den Zeitgenossen zurecht magnum concilium (Suger 1316 über Lateran I), synodus maxima (Otto v. Freising 374 über Lateran II), celeberrimum concilium (Albertus v. Stade 348 über Lateran III), ingens concilium (Ordericus 528 über Lateran II) genannt. Aber selbst Bezeichnungen wie concilium generale (Wilhelm von Tours 841), synodus universalis (Alberich von Troisfontaines 903; Burchard von Ursberg 378), oecumenicum concilium (Chronicon Amalphitanum 218), universalis ecclesiae principale concilium (Chronicon Mauriniacense 43) stellen die genannten Konzilien nicht ohne weiteres auf eine Stufe mit den acht ökumenischen Konzilien der Alten Kirche. Das nähere Verhältnis dieser Synoden zu den allgemeinen Kirchenvcrsammlungen der ungeteilten Kirche blieb nämlich nicht nur bei den Chronisten, sondern im Grunde auch bei den Kanonisten unbedacht und uncrörtert. Die Frage wurde höchstens einmal gestreift, so z. B. wenn Huggucio einen doppelten Sinn von concilium universale unterscheidet ([textus] videtur innuere quod universalia concilia dicantur solummodo octo prineipalia ... vcl omnia illa dicantur universalia, quae habent locum in universa ecclesia [(der Text) deutet offenbar darauf hin, daß allein die acht Hauptkonzilicn allgemeine Konzilien genannt werden . . . oder aber die Konzilien als allgemeine bezeichnet werden, die in der universalen Kirche stattfinden], zit. bei Sieben, MA 259, Anm. 119) oder wenn der Hostiensis das 4. Latcrankonzil als consimile der ökumenischen Konzilien der Alten Kirche bezeichnet (ebd.). Es ist wahr, Innocenz III. versuchte mit seinem Konzil ausdrücklich an die altkirchliche Tradition der ökumenischen Konzilien anzuknüpfen (vgl. seine weltweite Einladung und seine Formel generale concilium iuxta priscam sanetorum patrum consuetudinem [allgemeines Konzil nach der alten Gepflogenheit der heiligen Väter], Mansi 22,961), aber dieser Anspruch wurde von den Zeitgenossen und von den folgenden drei Jahrhunderten entweder nicht verstanden oder absichtlich zurückgewiesen. Nirgendwo wird vor dem Konzil von Konstanz das 4. Laterancnsc in aller Form den ökumenischen Konzilien des Altertums konnumeriert. Die Laterankonzilien werden nicht nur nicht auf eine gemeinsame Liste mit den saneta octo der Alten Kirche gesetzt, sie stellen auch untereinander keine homogene und zusammenhängende Reihe von Konzilien dar. Dazu ist ihre Autorität viel zu sehr verschieden. Lateran III und IV standen in sehr hohem Ansehen, denn ihre Kanones und Konstitutionen wurden (bis auf 2 bzw. 4) unter dem Titel Alexander III. (bzw. Innocenz III-) in concilio in die neu entstandenen Sammlungen päpstlicher Dekretalen, zunächst in die Compilatio IV antiqua, dann in die Dekretalen -»Gregors I X . aufgenommen (s. die Zusammenstellung in der Ausg. Friedberg, Leipzig 1881, XII). Die Kanones von Lateran I und II hatte —• Gratian dagegen nur zum Teil und nur unter dem Namen der beiden Päpste ohne die Präzisicrung in concilio in sein Dekret übernommen, was zur Folge hatte, daß sie sehr bald als Konzilskanones in Vergessenheit geraten sind und zu Beginn des 17. J h . sogar als verschollen galten. Eine repräsentative Vorstellung des verschiedenen Ranges der Laterankonzilien untereinander gibt u . a . das Trienter Konzil (-»Tridentinum). Auf ihm wurde das 1. und 2. Lateranense nie, das 3. einige Male, das 4. aber sehr oft, und zwar in wichtigen Fragen, meist unter der Bezeich-

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nung Lateranense concilium sub Innocetitio III. o.a., einmal ausdrücklich als oecumenicum concilium (CT 6,2; 157,21) zitiert. Dieser Zustand, das beziehungslose Nebeneinander der sancta octo und der nicht als Einheit aufgefaßten Lateransynoden, hielt bis zum Ende des 14. Jh. an; denn das wohl aus den Jahren 1378/89 stammende sog. Glaubensbekenntnis Bonifaz' VIII. nennt immer noch lediglich die sancta octo (ACCon 11,617). Eine erste vorsichtige Annäherung der mittelalterlichen Generalsynoden an die ökumenischen Konzilien der Alten Kirche findet 1417 auf dem Konzil von - * Konstanz statt: in dem vom Papst abzulegenden Glaubensbekenntnis werden im Anschluß an die concilia universalia der Alten Kirche drei abendländische concilia generalia aufgezählt, darunter neben —•Lyon und -»Vienne ein Lateranense, worunter nur das 4. verstanden werden kann (COD 442; vgl. auch 496). Mehrere Theologen schlössen sich diesem Präzedenzfall an (Johannes von Ragusa, DRTA 13,259; Johannes von Segovia, M C G 11,129; Silvio Piccolomini, zitiert bei Sieben, Traktate 127). Einen weiteren Schritt tat dann der Chronist Andreas von Regensburg; er schlägt 1438 vor, das 4. Laterankonzil als 9. allgemeines Konzil zu bezeichnen (Chronicon, TAN 4,3;523). Aber er ist mit diesem Vorschlag den Theologen um anderthalb Jahrhunderte voraus! Historisches und kirchenrechtliches Interesse führte bei Antoninus von Florenz 1477 zur Aufstellung einer 48 Generalkonzilicn umfassenden Liste; auf ihr erscheinen neben Lateran IV auch schon Lateran II und III (Summa theologica 23,2, Verona 1760,1267-1268). Die Kanonisten D. Jacobazzi und M. Hugoni führten in ähnlichem Zusammenhang zu Beginn des 16. Jh. jedoch nur Lateran III und IV auf (De concilio, Venedig 1728,11b. C und De conciliis, ebd. 1563,22v.b und 24 r.a). Der päpstliche Theologe -»Contarini rechnete um 1536/37 noch lediglich Lateran IV unter die „bedeutenderen" Konzilien; die Bezeichnung ,ökumenisches Konzil' behielt er den Ost und West gemeinsamen Synoden, also den sancta octo und Florenz (-»Bascl/Fcrrara/Florenz), vor (Concilium magis illustrium summa, Opera, Paris 1571, Nachdr. 1968,561). Thomas Campcggio schließlich setzte neben Lateran IV auch Lateran III auf seine Liste der ökumenischen Konzilien im strikten Sinne des Wortes (De auetoritate et potestate conciliorum: Tractatus . . . iurisconsultorum XIII,1, Venedig 1584,401), desgleichen der berühmte Kanonist Antonio Agustín in einem seiner früheren Werke (Opera omnia VII, Lucca 1772,4). 5. Lateran I-IV

als ökumenische

Konzilien

5.1. Die Versuche der gegcnrcformatorischen Theologen, den Reformatoren ein geschlossenes System des katholischen Glaubens entgegenzusetzen, machten u.a. auch die Aufstellung einer Liste der von der römischen Kirche als ökumenisch anerkannten Konzilien notwendig. In dem relativ kurzen Zeitraum eines halben Jahrhunderts bildete sich diesbezüglich eine opinio communis. Den entscheidenden Fortschritt brachten ein Italiener und ein Franzose. Der Leiter der Bibliotheca Vaticana, Onufrio Panvinio, faßte im Quellenverzeichnis seines Chronicon ecclesiasticum schon 1557 alle vier Laterankonzilien als eine zusammenhängende Reihe von Generalkonzilien auf (veröffentlicht 1568 in Köln). Einer der Vorkämpfer für die Rezeption des Tridentinums in Frankreich, Arnauld de Pontac, ging noch einen Schritt weiter: Er gab den vier Laterankonzilien die bis heute gültige Ordinalzahl: 9. bis 12. allgemeines Konzil (Chronographia, Paris 1567). Als Robert -»Bellarmin 1570 seine erste Liste der ökumenischen Konzilien aufstellte, hielt er sich noch an die traditionelle Auffassung: Nur Lateran IV galt ihm als ökumenisches Konzil (Arch. Rom S . J . Opp. NN 234, fol 32v; zit. bei Th. Lohr, Die Lehre Robert Bellarmins vom allg. Konzil, Diss. Rom, Gregoriana 1982, 323). Ab 1577/79 machte er sich die neue Auffassung zu eigen: Außer Lateran IV zählte er auch Lateran I—III unter die ökumenischen Konzilien. Die betreffende Liste erschien 1586 unter seinem eigenen Namen (Controversiae IV,1,5, Paris 1870,11,199-204), ein Jahr später auch unter dem seines Mitbruders Possevino (Moscovia et alia opera, Dillingen 1587,335). Die Liste ist offensichtlich das Ergebnis einer Zusammenarbeit der beiden Jesuiten. Die Anerkennung der Lateranensia als ökumenischer Konzilien fällt zeitlich zusammen mit der Verteidigung des Tri-

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dentinums als ökumenisches Konzil. Wahrscheinlich besteht aber auch ein innerer Zusammenhang. Gegenüber dem Einwand der Reformatoren, Trient sei, weil vom Papst beherrscht, kein echtes ökumenisches Konzil, stellen Lateran 1-IV, zusätzlich zu den ökumenischen Konzilien der Alten Kirche, wichtige Präzedenzfälle dar. Am 21.10.1595 faßte die Congregatio super editione conciliorum generalium jedenfalls den Beschluß, in der geplanten Editio Romana der ökumenischen Konzilien die Reihe der abendländischen Generalsynoden mit Lateran I—IV zu beginnen (s. Peri 494). Schon vor dem Erscheinen der Editio Romana (1608-1612) hielt sich S. Binius in seiner Konziliensammlung von 1606 an die genannte Liste und bezeichnete entsprechend die vier Lateransynoden als 9. bis 12. allgemeines Konzil (Köln 1606,111,1; 1317.1324.1345.1449). Davon hielt ihn auch der Umstand nicht ab, daß er zu Lateran I—II keine Kanones veröffentlichen konnte, weil dieselben noch verschollen waren. Seine Auskunft: Acta concilii non exstant (ebd. 1317 u. 1324), ist dabei jedenfalls weniger irreführend als das Gemisch aus echten und falschen Kanones, die die Magdeburger Zenturien (1559-1574) Lateran I und II zugeschrieben hatten (Basel 1624,XII,586/87 und 589/90). Die verschollenen echten Kanones des 1. und 2. Lateranums entdeckte schließlich Baronius und veröffentlichte sie nach einem vatikanischen Codex, der auch die Kirchenrechtssammlung des Anselm von Lucca enthält, im 12. Band seiner Annalen bzw. wies darauf hin, daß ein Teil von ihnen im Decretum Gratiani (Ausg. Friedberg, Leipzig 1879,XXV zusammengestellt) enthalten ist (Ausg. Theiner 18,343-344.566). Baronius setzte übrigens die Latcrancnsia I—III, trotz des Beschlusses der oben erwähnten Congregatio, nicht auf die Liste der ökumenischen Konzilien. Sie sind für ihn lediglich Generalkonzilien wie zahlreiche andere abendländische Papstsynoden auch. Wie er das 4. Laterankonzil einschätzte, wissen wir nicht, da es nicht mehr von ihm selber, sondern von seinem Nachfolger, Oderich Raynald, behandelt wurde, der es in der Tat u.a. unter Hinweis auf zeitgenössische Zeugnisse eindeutig als ökumenisches Konzil bezeichnete und zu rechtfertigen suchte (Theiner 20,340). Außer dem summus historicus lehnte auch ein führender Jesuit, Juan Azor, zusammen mit Bellarmin, Professor im collegiitm Romantim und enger Berater des Ordensgenerals Aquaviva, die Ökumenizität der ersten beiden Laterankonzilien ab (Institutiones [1605], Ausg. Köln 1608,11,848). Der Spanier Antonio Perez vertrat noch später die gleiche Ansicht (Pentateuchum fidei, Madrid 1620, auch in Roccaberti, Pont.Bibl.Max., IV,727). Aber diese abweichenden Meinungen blieben ohne Nachwirkung. Für alle nach der Editio Romana erschienenen Konzilicnsammlungcn und für die überwältigende Mehrheit der Theologen stellen die vier Laterankonzilien fortan ökumenische Konzilien dar (vgl. u.a. Jacques Gaulthier SJ, Tabula chronographica [1609], Köln 1616; Baudouin de Jonghe, Demonstratio fidei catholicae, Antwerpen 1611; Franciscus Longus de Coriolano, Summa conciliorum omnium, Antwerpen 1623 usw.; vgl. Sieben, Kath. Konzilsidee 181-222). Selbst gemäßigte Gallikaner wie Alexander Natalis, Jacques-Benigne -»Bossuet usw. schlössen sich gegen die strengen Gallikaner Edmond Richer und Jean de Launoy dieser sententia communis an. 5.2. Es stellt sich nun die Frage, was eine erst 400 bis 500 Jahre nach der Zusammenkunft selber erfolgende Anerkennung als ökumenisch für den theologischen Stellenwert des betreffenden Konzils im Rahmen der römisch-katholischen Synodaltheorie (-»Synoden) bedeutet. Einerseits ist sicher die Ansicht auszuschließen, daß wegen des Zeitabstandes die ökumenizität rückgängig zu machen ist. Denn auch mehrere Konzilien der Alten Kirche, so das 5. und 7., mußten zumindest in Teilen der Kirche lange auf ihre Anerkennung als ökumenische Synoden warten. Außerdem würde durch diese Auffassung das lebendige Lehramt als letztes Kriterium für die Wahrheit in der Kirche aufgelöst zugunsten des Alters einer Tradition. Andererseits kann eine verzögerte Aufnahme in die Liste der ökumenischen Konzilien auch nicht ohne Wirkung sein für den theologischen Rang der betreffenden Konzilien. Vielleicht hilft hier die Unterscheidung zwischen juridischer und faktischer ökumenizität weiter. Die mit großem zeitlichen Abstand von ihrer Feier als ökumenisch anerkannten Konzilien besitzen aufgrund ihres juridisch einwandfreien

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Zustandekommens, vor allem wegen ihres Zusammenhangs mit dem Papst, zwar absolut verpflichtenden Charakter, sie sind insofern Stimme der ecclesia universalis, trotzdem stellen sie eine defiziente Äußerung dieser ecclesia universalis dar, weil de facto weite Teile der Kirche bei ihrer Entstehung nicht mitgewirkt haben. Sie stellen einen gültigen, aber inhaltlich der Ergänzung bedürftigen Ausdruck der ecclesia universalis dar. Quellen Lateran I: CGP 111,1; 1317-1319. - ACED VI,2; 1 1 0 9 - 1 1 1 8 . - Labbe X I I , 1 3 3 2 - 1 3 4 6 . - Mansi X X I , 2 7 8 - 3 0 4 . - C O D 3 1 9 0 - 1 9 4 . - Caffaro, Annales Genucnses, MHG.SS XVIII,16. - Calixtus II., (Briefe), Ausg. 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Lateransynoden II

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Hermann J o s e f Sieben

II. Lateran V (1512-1517)

(Quellen/Literatur S . 4 9 2 )

Die als achtzehntes allgemeines Konzil angesehene fünfte Lateransynode wurde am 1 8 . 7 . 1 5 1 1 durch die Bulle Sacrosanctae Romanae Ecclesiae - » J u l i u s ' II. mit dem vorrangigen Ziel einberufen, das gegen ihn gerichtete Konzil von Pisa (1511/12) für nichtig zu erklären, das Ludwig XII., - » M a x i m i l i a n I. und mehrere oppositionelle Kardinäle beru-

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fen hatten. Zu den offiziellen Zielvorgaben für das Konzil gehörten zudem das Ausrotten von Ketzerei, die Reform der Kirche, die Herstellung des Friedens unter den Christen und die Ausrufung eines -> Kreuzzuges gegen die Ungläubigen. Den Eröffnungsfeierlichkeiten am 3.5.1512 folgten zunächst vier Sitzungen unter dem Vorsitz von Julius II., dann die fünfte wegen der Krankheit des Papstes unter Kardinal Raffaele Riario und die letzten sieben unter —• Leo X . Förmliche Sitzungen wurden immer im conciliabulum, der im Schiff der Lateranbasilika errichteten Konzilskammer, gehalten. Mehr als 430 namentlich aufgeführte Personen, von denen mindestens 280 einen bischöflichen oder höheren Rang innehatten, besuchten das Konzil. Durchschnittlich waren bei den zwölf Sitzungen etwa 115 Geistliche mit Bischofswürde anwesend. Von den 350 durch einen Bischof oder Prokurator vertretenen Diözesen lag zumindest ein Drittel außerhalb Italiens. Außer Ungarn, Schottland und Navarra schlössen sich schließlich alle bedeutenden Länder der Lateinischen Christenheit formell dem Konzil an. Julius II. ernannte die Inhaber der Konzilsämter und richtete einen Ausschuß aus 24 Prälaten und einigen Kardinälen zur Vorbereitung der Verhandlungen ein. Leo X . nahm eine Neuordnung vor, indem er drei Konzilsdeputationen (Glaube, Friede, Reform) einrichtete und ihnen jeweils acht gewählte Prälaten sowie acht Kardinäle, zwei Bischöfe und zwei Ordensobere seiner eigenen Wahl zuordnete. Bis zur achten Sitzung übten Julius II. und Leo X . eine strikte Kontrolle über die Tagesordnung und die Verhandlungen aus; danach setzten sich die Bischöfe in ihrem Konflikt mit den Kardinälen und den exemten Orden durch. Verschiedene Beratungsvorschläge wurden dem Konzil unterbreitet. Der spanische Episkopat und die spanische Krone drängten unter anderem auf eine Beendigung von Simonie, Reservationen und Expektanzen, auf die Ernennung von qualifizierten Prälaten und auf eine Aufhebung des Dekrets Haec Sancta des Konzils von -»Konstanz, aber doch eine häufige Abhaltung von Konzilien. Die Denkschriften für Leo X . von Paolo Giustiniani und Pietro Querini sowie von Stefano Taleazzi, die kunstvollen Reden von Gianfranccsco Pico und Raffaele Brandolini und die zwölf auf dem Konzil gehaltenen Predigten stimmten darin überein, daß eine konservative Reform der Kirche unter päpstlicher Leitung nötig sei, die dem Recht und Brauch der Kirche Geltung verschaffte und für eine moralisch einwandfreie und gebildete Geistlichkeit sorgte. Eine Reform der kurialen Praxis forderten Raffaele Riario, während die Bischöfe eine Beschneidung der Ordensprivilegien und die Einrichtung eines ständigen Bischofskollcgiums in Rom verlangten. Während der Amtszeit Julius II. machte das Konzil nur langsam Fortschritte. In der ersten Sitzung am 15.5.1512 wurden die vom Papst ausersehenen Amtsträger des Konzils vereidigt. Das Konzil von Pisa, seine Verhandlungen und die seiner schismatischen Kardinäle wurden wiederholt für nichtig erklärt, so in der zweiten Sitzung am 17.5.1512, der dritten am 3.12.1512 und der vierten am 10.12.1512. Die vierte Sitzung forderte auch alle Verfechter der Pragmatischen Sanktion von Bourges (s. T R E 12,18,1 ff) auf, vor dem Laterankonzil zu erscheinen und zu bekunden, warum diese nicht aufgehoben werden sollte. Diese Sitzung bestätigte auch das die Kurialbehörden und ihre Gebühren reformierende päpstliche Breve vom 30.3.1512. In der fünften Sitzung am 16.12.1513 wurde die Konstitution Julius' II. von 1506, veröffentlicht 1510, gegen Simonie bei Papstwahlen vom Konzil bestätigt. Als Julius starb, hatte er sichergestellt, daß Spanien, England, Florenz, Skandinavien, das Reich, Venedig, die Schweizer Kantone, Parma und Lucca sich offiziell zu seinem Konzil bekannten. Unter Leo X . kam das Konzil bei der Verwirklichung seiner Ziele gut voran. Die sechste Sitzung am 27.4.1513 sicherte den zum Konzil Geladenen freies Geleit zu. Während der siebten Sitzung am 17.6.1513 wurde ein Brief von Bernardino Lopez de Carvajal und Federigo de Sanseverino verlesen, den vormaligen Leitern des Konzils von Pisa, dem sie nun abschworen. Es wurde verfügt, daß die Verfechter der Pragmatischen Sanktion bei der nächsten Sitzung zu erscheinen hätten oder wegen Nichterscheinens unter Anklage gestellt würden. Desgleichen wurde der Papst ermächtigt, Friedensboten zu den Herr-

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Schern der Christenheit zu senden, um die Kriege zwischen den Christen zu beenden und einen Kreuzzug gegen die Ungläubigen vorzubereiten. Die achte Sitzung am 19.12.1513 billigte die ständigen Bemühungen des Papstes um den Frieden und den Kreuzzug sowie die Entsendung von Tamas Bakocz zu einem Ausgleich mit den Hussiten (-•Hus/Hussiten). Die Konzilsväter setzten auch strengere Bußen fest, um die Bulle Pastoralis officii über die Kurienreform vom 13.12.1513 durchzusetzen. Ein Lehrdekret verdammte diejenigen, die behaupteten, daß die Vernunftseele sterblich und für alle Menschen eine einzige (unica) sei, daß das Universum ewig sei und daß eine philosophische Wahrheit einer theologischen widersprechen könne. Die Professoren der Philosophie wurden angewiesen, die Glaubenswahrheiten zu verteidigen, und Geistliche sollten nicht mehr als fünf Jahre für das Studium der Poesie und Philosophie verwenden, bevor sie das Studium der Theologie oder des kanonischen Rechts aufnahmen. Die achte Sitzung wurde auch Zeuge des feierlichen Beitritts Frankreichs zum Laterankonzil und der endgültigen Aufgabe des Konzils von Pisa. Zu diesem Zeitpunkt hätte Leo das Konzil beenden können, da er geltend machen konnte, daß er seine vorrangigen Ziele erreicht habe; doch er hoffte noch immer auf die Aufhebung der Pragmatischen Sanktion durch das Konzil. In den letzten vier Sitzungen drängten die Bischöfe auf die Wiederherstellung der bischöflichen Autorität. Zusätzlich zu Verfügungen über eine Reform der Haushaltung der Kardinäle, der Römischen -»Kurie, der Lebensführung der Geistlichkeit, der religiösen Erziehung der Jugend usw. traf die Große Reformbulle der neunten Sitzung am 5.5.1514 gesetzliche Regelungen, um die Ernennung würdiger Bischöfe zu gewährleisten und um ihre ungerechtfertigte Amtsenthebung oder Versetzung zu verhindern, und sie untersagte es, Bischöfe zu niedrigen Dienstleistungen in Kardinalshaushaltungen heranzuziehen. In der zehnten Sitzung vom 4.5.1515 wurde eine Bulle bestätigt, die das bischöfliche Aufsichtsrecht über zahlreiche exemte Weltgeistliche und Nonnen, diözcsanc Benefizien und über örtliche Rechtsfälle wiederherstellte. Ein weiteres Dekret erteilte den Bischöfen Zcnsurrcchte gegenüber den Druckereien in ihren Diözesen. In der elften Sitzung am 19.12.1516 wurden den Bischöfen gewisse Aufsichtsbefugnisse über Prediger sowie über Bettclmönchc verliehen, die in ihren Diözesen seelsorgerlich tätig waren. Um die Zustimmung des Papstes zu diesen Reformen sicherzustellen, waren die Bischöfe gezwungen, ihre Forderung nach einem Bischofskollegium fallenzulassen. In dieser Sitzungsperiode wurden zwei Verfügungen zu Lehrfragen verabschiedet. In der zehnten Sitzung wurden montes pietatis (gemeinnützige Leihhäuser) genehmigt, und in der elften Sitzung wurden den Predigern Beschränkungen hinsichtlich der Art ihrer Schriftauslegung und Prophezeiungen auferlegt. Wie bereits bei dem früheren Dekret über die Unsterblichkeit der Seele gehörten vermutlich die Kardinäle Bernardino Lopez de Carvajal, Domcnico Grimani und Marco Vigerio (gest. 1516), die Franziskaner Antonio Trombetta und Juraj Dragisic und der Dominikaner Tommaso de Vio zu den in erster Linie an der Formulierung des Lehrdekrets beteiligten Theologen. Leos geduldige Bemühungen um die Aufhebung der Pragmatischen Sanktion durch das Konzil waren schließlich erfolgreich. In der neunten Sitzung nahm er die Entschuldigungen der französischen Delegation für ihr Fernbleiben hin. In der zehnten Sitzung bestand er darauf, daß die Befürworter der Pragmatischen Sanktion die nächste Sitzung besuchten. In der Zwischenzeit handelte er in Bologna mit -»Franz I. die Umrisse eines Ubereinkommens zur Aufhebung der Pragmatischen Sanktion sowie ihrer Ersetzung durch ein neues Konkordat aus. Als der endgültige Wortlaut ausgearbeitet war, ließ er das Konzil während der elften Sitzung (zu der die französischen Gesandten allerdings nicht erschienen) die Aufhebung und das Konkordat feierlich bestätigen. In dem Dekret über die Aufhebung bekräftigte Leo erneut die Bulle Unam satictam -»Bonifatius' VIII. sowie die Macht und das Recht des Papstes, ein Konzil einzuberufen, zu verlegen und aufzulösen. Nachdem er diese Maßnahmen abgesichert hatte, arbeitete er auf die Beendigung des Konzils hin. Die zwölfte und letzte Sitzung am 16.3.1517 war nicht gut vorbereitet. Das Dekret,

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das die Plünderung von Kardinalspalästen w ä h r e n d K o n k l a v e n v e r b o t , m u ß t e wegen Meinungsverschiedenheiten revidiert werden. B e a n t r a g t e Beschlüsse zur K a l e n d e r r e f o r m und zum Schutz kirchlichen E i g e n t u m s wurden nie erlassen. Ein abschließendes D e k r e t e r h o b eine Kreuzzugssteuer, betraute die O r t s o r d i n a r i e n mit der A u s f ü h r u n g der Konzilsdekrete und löste das Konzil formell auf. D a viele V ä t e r das Konzil fortsetzen w o l l t e n , wurde dieses D e k r e t nur mit k n a p p e r M e h r h e i t verabschiedet. Bis zum E n d e des Konzils hatte L e o den offiziellen Beitritt nicht nur F r a n k r e i c h s sichergestellt, sondern auch den Polens, M a s o w i e n s , M a i l a n d s , M a n t u a s , M o n f e r r a t o s , B r a n d e n b u r g s , Portugals, S a voyens und des P a t r i a r c h s der - > M a r o n i t e n . Die D e k r e t e des Konzils wurden als päpstliche B u l l e n , sacro approbante concilio, veröffentlicht und als solche in die Register a u f g e n o m m e n . Sic wurden in der traditionellen Art und Weise an den K i r c h e n p o r t a l e n in R o m p r o m u l g i e r t . Ihre A u f n a h m e w a r sehr unterschiedlich und ihre D u r c h f ü h r u n g so w i r k u n g s l o s , d a ß die meisten von ihnen bald unbeachtet blieben. D a s - » T r i d e n t i n u m wiederholte einige der Verfügungen der D e k r e t e über die Predigttätigkeit und die Buchzensur. Quellen Concilium Lateranense V. Generale novissimum sub Julio II. et Leone X. celebratum. Hg. v. 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Latitudinarismus

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L a t i t u d i n a r i s m u s (Quellen/Literatur S. 495)

„Latitudinarismus" umschreibt in geeigneter Form das herrschende Ethos der -»Kirche von England im späten 17. und 18. Jh. „Von Tillotson (1630-1694) bis Paley (1743-1805) können die meisten führenden Theologen in England zur nur schlecht zu definierenden latitudinarischen Schule gerechnet werden" (Cragg, Reason and Authority 40). Der Latitudinarismus war geprägt von einer toleranten und irenischen Haltung gegenüber Gleichförmigkeit in religiösen Glaubens- und Praxisfragen, der Abkehr von Kontroverse und religiösem „Fanatismus" und einer liberalen, rationalistischen Theologie. Diese Auffassung gründete in einem Optimismus über die moralischen Möglichkeiten der Menschen und einem zuversichtlichen Glauben an das Wohlwollen Gottes. Der ursprünglich als Schimpfwort benutzte Terminus „latitudinarisch" stammte vom Wort latitude ab, das Breite bedeutet, und implizierte, daß man willens war, sein eigenes Gewissen für persönlichen Fortschritt zu dehnen. Er wurde zuerst um 1650 von Puritanern (-»Puritanismus) an der Universität Cambridge gebraucht, um jene jungen Kleriker zu verleumden, deren Übereinstimmung mit dem puritanischen Regime und seinen Idealen halbherzig war. Als die Kirche von England wiedererrichtet wurde (1660-1662) und diese jüngeren Theologen die kirchlichen Seiten wechselten, fanden sie sich selbst von strenggläubigen Anglikanern (-»Kirche von England; T R E 9 , 6 4 2 - 4 3 ) des Latitudinarismus angeklagt. Als Gefangene zwischen den beiden Welten suchten etliche der beschuldigten latitude-men innerhalb des anglikanischen Klerus ihre persönliche Integrität und ihre sich selbst auferlegte religiöse Mäßigung zu verteidigen. „S.P." (vielleicht Simon Patrick), Edward Fowler und Joseph Glanvill waren sich in groben Zügen eins in ihrer Widerlegung der puritanischen Gnadenlehre und ihrer seelsorgerlichen Implikationen. Sie bestanden darauf, weder Calvinisten (-»Reformierte Kirchen) noch Arminianer (-»Arminius/Arminianismus) zu sein. Obwohl sie hofften, daß die Dissenters (-»Kirche von England) sich wieder mit der Kirche vereinigten, blieben sie glühende Verteidiger des Bischofsamtes und einer grundlegenden liturgischen Einheitlichkeit und eifrige Gegner der römisch-katholischen Kirche. Trotz neuerer Versuche, den Latitudinarismus mit der frühen Geschichte der New Science (-»Naturwissenschaften) und besonders der Royal Society in Verbindung zu bringen, gibt es wenig Beweise, daß diese Theologen der Wissenschaft mehr Interesse entgegenbrachten als ihre Kollegen. Der Latitudinarismus war keine ihrer selbst bewußte, der Zeit vorauseilende, intellektuelle Bewegung in der Zeit der Restauration (1660-1688; vgl. T R E 18,350), sondern eine beleidigende Bezeichnung, die man bei religiöser Auseinandersetzung verwandte, um zu brandmarken, was man für Gleichförmigkeit in eigenem Interesse, betrügerische Mäßigung und theologischen Moralismus einiger der jüngeren anglikanischen Kleriker hielt. Das Wort selbst wäre vermutlich ausgestorben, wenn es nicht für die kirchlichen Auswirkungen der Revolution von 1688 gebraucht worden wäre. Der heftige politische Streit zwischen den Parteien der Whigs und Tories wütete auch in der Kirche: die Bischöfe waren vorwiegend Whigs und der Pfarrklerus Tories. Die hochkirchliche Partei der Tories (-»Anglokatholizismus) und die Nonjurors schauten zurück und sahen eine langandauernde Verschwörung, um die Position der Kirche von innen her zu schwächen. Sic waren überzeugt, daß die Revolution zur Beförderung von latitudinarischen Bischöfen der Whig-Partei geführt hatte, wie z.B. G. -»Burnet, die bereit waren, die Kirche durch Zugeständnisse an das Dissentertum und Unterordnung unter den Staat zu verraten. Obwohl die Führer der Kirche nie so latitudinarisch waren, wie ihre Kritiker behaupteten, gehörten zu den in deren Augen offensichtlichen Zeichen des Verrats die Toleranzakte und die Kommission für liturgische Revision 1689. Unter der Schirmherrschaft der Whigs waren die Bischöfe im 18. Jh. weiterhin mehr dem Erastianismus, der völligen Integration der Kirche in den Staat, zugeneigt, waren skeptisch gegenüber der apostolischen Sukzession des Bischofsamtes und kümmerten sich kaum um Adiaphora. Bischof Hoadly von Bangor (1676-1761) provozierte 1717 eine bittere Kontroverse, weil er die

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Latitudinarismus

Lehre von der sichtbaren Kirche in Frage stellte und verneinte, daß Christus irgendeine menschliche Autorität hinterlassen habe, um die Kirche zu leiten, oder daß die Kirche irgendeine Macht über die Gewissen oder die Lebensführung ihrer Mitglieder habe. In den siebziger Jahren des 18. Jh. warben Erzdiakon Francis Blackburne (1705-1787) und andere latitudinarische Kleriker für eine Milderung der Vorschriften über die Zustimmung zum -»Book of Common Prayer und den 39 Artikeln, die vom anglikanischen Klerus gefordert wurde. Der Feldzug gegen die Zustimmung spiegelte den Einfluß des intellektuellen und theologischen -»Rationalismus des Latitudinarismus wider. Latitudinarianer waren stolz darauf, „rational" zu sein und das Gewicht der Tradition und ungerechtfertigter Autorität zu verwerfen, und sie waren oft sehr blind für den Wert der theoretischen Durchdringung des Glaubens und der mystischen Tradition. Sie glaubten implizit an die fundamentale Harmonie zwischen Glauben und Verstand. Teilweise war dieser Rationalismus das Erbe einer früheren englischen Tradition, die z. B. vertreten wurde durch William —»Chillingworth und dem Great Tew-Kreis und durch die Platoniker von -»Cambridge, bei denen einige der ersten Latitudinarianer in die Schule gegangen waren; teilweise war er eine Manifestation der weitverbreiteten Reaktion gegen den religiösen Enthusiasmus und die Inspiration in der Mitte des 17. Jh. Die optimistischen und rationalistischen Latitudinarianer waren durch die natürliche Theologie und die Weltsicht der Newtonschen Wissenschaft (-»Newton) angezogen, die sie mit dem Hauptziel, den Atheismus zu widerlegen, in den Boyle Lectures (s. TRE 7,101 -104) 1692—1714 weiter verbreiteten. Atheismus und -»Deismus waren die größten Herausforderungen, denen sich die Verteidiger der Offenbarungsreligion zu jener Zeit gegenübersahen. Aber latitudinarische Überzeugung, Religion solle sich selbst aufgrund der Rationalität empfehlen, diente oft nur dazu, genau den Deismus zu ermutigen, den zu bekämpfen sie sich vorgenommen hatte, und trug zweifellos zur englischen Aufklärung bei. Eine der wichtigsten Konsequenzen des latitudinarischen Rationalismus war die Kontroverse über die Trinität im späten 18. bzw. im frühen 19. Jh. Eine rationale Verteidigung des Mysteriums der -»Trinität förderte mehr Probleme zutage, als sie löste, und führte verschiedene führende anglikanische Theologen zu unterschiedlichen Formen der Verwerfung der Trinitätsdogmas. Samuel -»Clarke und die Bischöfe Hoadly, Clayton von Clogher (1695-1758) und Watson von Llandaff (1737-1816) folgten der Regel des Verstandes bis zu dem Punkt, an dem sie die Trinitätslehre in Frage stellten oder behaupteten, die Lehren des Athanasius und Arius seien gleichermaßen gültig. Der Arianismus Erzdiakon Blackburnes war einer der Motive für den Feldzug gegen die Zustimmung zu den 39 Artikeln und dem Common Prayer Book. Der oberflächliche „Rationalismus" einiger Latitudinarianer des 18. Jh. verführte sie zu Heterodoxie oder Semideismus, aber die Masse des Klerus hielt an einem gemäßigten und in mancherlei Hinsicht attraktiven Glauben fest. Sic glaubten an den Aufbau der Kirche mehr durch gegenseitige Liebe als durch Einheitlichkeit der Meinungen; an das Recht auf persönliches Urteil; an die Reduzierung der notwendigen Glaubenssätze auf einige Fundamentalartikel (fundamentals); und sie hielten dafür, daß Tugend und Heiligkeit wichtiger seien als theologische Linientreue. Dieser diffuse Latitudinarismus ist oft als „moralistisch" verschrieen worden, als eine Lehre ethischer Grundsätze unter dem Vorwand, das Evangelium zu predigen. Dieses fälschliche Urteil mag der Tatsache entspringen, daß der Latitudinarismus durch das Mittel der volkstümlichen Predigt verbreitet wurde, vor allem durch die Predigten Erzbischof Tillotsons, die von Laien weithin gelesen und von Predigern nachgeahmt wurden. Diese Predigten vermeiden bewußt schwerverständliche Theologie, waren oft in besonnener Sprachform verpackt, um den Sünder anzuziehen und nicht abzustoßen, und betonten sicherlich die Notwendigkeit, Buße zu tun und der Sünde zu widersagen als Vorbedingung für Vergebung. Dieselben Prediger ließen sich aber auch aus über die Greuel der Sünde, die Liebe Gottes und das Opfer Christi, und es wäre ungerecht, ihre Theologie als nicht mehr denn einlullenden Semipelagianismus abzutun.

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Latomus

Z u r M i t t e des 19. J h . hatten die evangelikalen ( L o w Church) und katholischen {High Church) Gruppen die Latitudinarier überdeckt, die ihrerseits jetzt als Broad ChurchGruppe bekannt waren. Der unterschwellige Einfluß der latitudinarischen Tradition ist bei T h o m a s Arnold ( 1 7 9 5 - 1 8 4 2 ) , S . T . - » C o l e r i d g e und der liberalen Theologie von Essays and Reviews (1860) zu finden, aber er sollte bald durch die gründlichere kritische M e t h o d e des europäischen -»Liberalismus und - » M o d e r n i s m u s abgelöst werden. Quellen A Brief Account of the New Sect of Latitude-men together with Some Reflections upon the New Philosophy. By S. P. of Cambridge, hg. v. T. A. Birrell, London 1662 2 1963 (Augustan Reprint Society 100, University of California). - Richard Baxter, Reliquiae Baxterianae. Hg. v. M . Sylvester, London 1696. - G i l b e r t Burnet, History of my Own Times, hg. v. Osmund Airy, 2 Bde., Oxford 1897-1900. Edward Fowler, The Principles and Practices of Certain Moderate Divines of the Church of England, London 1670. - Joseph Glanvill, Essays on Several Important Subjects in Philosophy and Religion, London 1676. - John Tillotson, Sermons, 12 Bde., London 1742. Literatur Dudley W. Bahlmann, The Moral Revolution of 1688, New Haven 1957. - Gareth V. Bennett, Conflict in the Church: G. Holmes (Hg.), Britain after the Glorious Revolution, London 1969. Ders., King William III and the Episcopate: ders./J.D. Walsh (Hg.), Essays in Modern English Church History, London 1 9 6 6 , 1 0 4 - 1 3 1 . - S . C. Carpenter, Eighteenth Century Church and People, London 1959. — Jackson I. Cope, „The cupri-cosmits". Glanvill on latitudinarian anti-enthusiasm: Huntington Library Quarterly 17 (1954) 2 6 9 - 2 8 6 . - Ders., Joseph Glanvill, Anglican Apologist, St. Louis 1956. - Gerald R. Cragg, From Puritanism to the Age of Reason, Cambridge 1966. - Ders., Reason and Authority in the Eighteenth Century, Cambridge 1964. - George Every, The High Church Party, London 1956. - Timothy J . Fawcett, The Liturgy of Comprehension 1689,1973 (ACP 54). - John Gascoigne, Cambridge in the Age of the Enlightenment, Cambridge 1989. - Michael Hunter, Science and Society in Restoration England, Cambridge 1981. - James R. Jacob, Robert Boyle and the English Revolution, New York 1977. - Ders., Restoration, Reformation and the Origin of the Royal Society: British Journal for the History of Science 13 (1975) 1 5 5 - 1 7 6 . -Ders./Margaret C. Jacob, The Anglican Origins of Modern Science: Isis 71 (1979) 2 5 1 - 2 6 7 . - Margaret C. Jacob, The Newtonians and the English Revolution, Hassocks 1976. - John Wickham Legg, English Church Life from the Restoration to the Tractarian Movement, London 1914. - John Marshall, The Ecclesiology of the Latitude-men 1 6 6 0 - 1 6 8 9 . Stillingfleet, Tillotson and .Hobbism': J E H 36 (1985) 4 0 7 - 427. - Henry R. McAdoo, The Spirit of Anglicanism, London 1965. - Roy S. Porter, The Enlightenment in England: ders./M. Teich (Hg.), The Enlightenment in National Context, Cambridge 1981. — Henry D. Rack, „Christ's kingdom not of this world". The Case of Benjamin Hoadly versus William Law Reconsidered: SCH(L) 15 (1975) 2 7 5 - 2 9 1 . - John A. Redwood, Reason, Ridicule and Religion. The age of Enlightenment in England 1660-1750, London 1976. - Ernest Gordon Rupp, Religion in England 1 6 8 8 - 1 7 9 1 , Oxford 1986. - Barbara J . Shapiro, John Wilkins 1614-1679, Berkeley/Los Angeles 1969. - Dies., Latitudinarianism and Science: PaP 40 (1968) 1 6 - 4 1 . - Dies., Probability and Certainty in Seventeenth-Century England, Princeton 1983. - John Spurr, „Latitudinarianism" and the Restoration Church: HistJ 31 (1988) 6 1 - 8 2 . - Ders., „Rational Religion" in Restoration England: JHI 49 (1988) 5 6 3 - 5 8 5 . - Roland N. Stromberg, Religious Liberalism in Eighteenth-century England, London 1954. - Norman Sykes, Church and State in England in the Eighteenth Century, Cambridge 1934. - Ders., Edmund Gibson, Bishop of London 1669-1748, London 1926. - Ders., From Sheldon to Seeker, Cambridge 1969. - John Tulloch, Rational Theology and Christian Philosophy in England in the Seventeenth Century, Edinburgh 1874. - Dewey D. Wallace, Puritans and Predestination. Grace in English Protestant Theology 1525-1695, Chapel Hill 1982. J o h n Spurr L a t o m u s , Jacobus 1. Leben S.498) 1.

(eigentlich

2. Schriften

Jacques

Masson,

ca.

3. Zur Theologie des Latomus

1475-1544) (Bibliographien/Quellen/Literatur

Leben

U m 1 4 7 5 in C a m b r o n im belgischen Hennegau geboren, studierte L a t o m u s zunächst die artes in Paris als Alumne des 1 4 8 3 gegründeten Collège Montaigu ( - » P a r i s , Universi-

496

Latomus

tät; -»Erasmus; -»Ignatius von Loyola; -»Calvin). Jan Standonck, der Begründer dieses Kollegs (1443-1504), holte seinen ehemaligen Schüler nach Erlangung des Magistergrades nach -»Löwen (1500). Hier hatte Standonck inzwischen ein für arme Schüler bestimmtes Studienhaus gegründet (Domus Standonica). Dessen Leitung übernahm Latomus bis zum Jahre 1504 und studierte zugleich Theologie. Zu derselben Zeit hielt er an der Artistenfakultät Vorlesungen (Collège du Pore). Seit dem 3. November 1510 Mitglied des akademischen Rates, promovierte er am 16. August 1519 zusammen mit Ruard Tapper (1487-1559) zum Doktor der Theologie und wurde anschließend dem Professorenkollegium der Theologischen Fakultät inkorporiert. In der Manier der Zeit betätigte er sich als Hauslehrer der Familie de Croy. Mehrfach wurde er zum Dekan der Theologischen Fakultät gewählt (1520, 1526, 1529), 1537 auch zum Rektor der Universität. Sein früherer Privatschüler Robert de Croy, inzwischen zum Bischof von Cambrai designiert, machte ihn 1526 zum Chorherren der Licbfrauenkirche in seiner zukünftigen Bischofsstadt. Ab 1535 hatte Latomus eine ordentliche Professur der Theologie in Löwen inne; als Nachfolger Johannes Driedos (ca. 1480-1535) erhielt er auch dessen Pfründe, den Andreasaltar in St. Peter. Latomus hat sich mehrfach als theologischer Sachverständiger der Inquisitionsbehörde betätigt, so in den Verfahren gegen Jacobus Praepositus (1522) und William Tyndale (1535-1536). Der Tod ereilte ihn am 29. Mai 1544. 2.

Schriften

Seit 1517 hatte Erasmus von Rotterdam mit seiner Ausgabe des Novttm Instrumentum und seinen Bemühungen um die Organisation des Unterrichts in den drei Sprachen das Mißtrauen der meisten Professoren der Löwener Theologischen Fakultät auf sich gezogen (-»Erasmus; -»Löwen, Universität). Hieronymus van Buslcidcn, Mitglied des Großen Rates in Mccheln und mit Erasmus befreundet, hatte testamentarisch eine große Stiftung hinterlassen, aus der das berühmte Collegium trilingue hervorging. Nicht zuletzt aufgrund dieser Aktivitäten verschlechterte sich im Laufe des Jahres 1518 das Klima. Anfang 1519 führte die wachsende Spannung zu kleinen Scharmützeln zwischen Erasmus und verschiedenen Theologen: neben Jean Briard (Atensis), der das Encomium matrimoni! des Erasmus einer Kritik unterzog, vor allem mit Latomus. Dieser hatte im März, noch vor seiner Promotion, eine Schrift unter folgendem Titel herausgegeben: De trium linguarum et studii theologici ratione dialogus (Opera 157 v -168 v ; BRN 3 , 2 8 - 8 4 ) , einen Dialog zwischen einem Rhetor, einem Scholastiker und einem „Parteilosen" über die Frage, ob die Kenntnis des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen für einen Theologen vonnöten sei. Die Schrift richtete sich nach außen gegen die Oratio de variarum linguarum cognitione paranda des Leipziger Humanisten Petrus Mosellanus (August 1518), kritisierte aber die Lehrmethode des Löwener Collegium trilingue als gefährlich für die wahre Theologie. Die kirchliche Tradition sei der Philologie vorzuziehen. Im Grunde aber galt der Angriff Erasmus, und zwar der im Herbst 1518 erstmals erschienenen Ratio verae theologiae (hg. v. H. Holborn, Ausgewählte Werke [lat.], München 1964). Im März 1519 antwortete Erasmus in Gestalt der Gegenschrift Apologia reiieiens quorundam suspiciones ac rumores natos ex dialogo figurato, qui Jacobo Latomo Sacrae Theologiae Licentiato inscribitur (LB 9,79-106). Von nun an galt Latomus fälschlich als Gegner der humanistischen Studien überhaupt. Seine Antwort, die Apologia pro dialogo de tribus Unguis, ist wohl erst postum erschienen (Opera 169 r -171 r ). Der Markstein für die kontroverstheologische Wirksamkeit des Latomus aber war das Verdammungsurteil der Löwener Fakultät gegen eine Baseler Sammlung Lutherischer Schriften (Froben, Februar 1519) vom 7. November 1519, die Condemnatio doctrinalis Lovaniensis. Die Kölner Theologen, an die sich die Löwener zunächst mit einer Anfrage gewandt hatten, hatten bereits am 30. August die erwähnten Schriften Luthers für häretisch erklärt. Kardinal Adrian von Tortosa, dem die Löwener eine Sammlung von Errores excerpti zusammen mit theologischen Qualifikationen der inkriminierten Luthersätze zugesandt hatten, äußerte sich am 4. Dezember 1519 zustimmend zur Löwener Verurteilung; er forderte

Latomus

497

aber eine philologisch exakte Wiedergabe der Lutherzitate (Kalkoff, Forschungen zu Luthers römischen Prozeß, Rom 1905, 194-202). Obgleich Luther bereits am 26. März 1520 eine Erwiderungsschrift vorlegte (Condemnatio doctrinalis librorum M. Lutheri per quosdam magistros nostros Lovanienses et Colonienses facta. Responsio Lutheriana ad eandertt damnationem: WA 6,[170] 1 7 4 - 1 8 0 ) , kam es erst zu Beginn des Jahres 1521 zu einer detaillierten theologischen Rechtfertigungsschrift für die Condemnatio aus der Feder des Latomus: Articulorum doctrinae fratris Martini Lutheri per theologos Lovanienses damnatorum ratio, ex sacris literis et veteribus tractatoribus (Opera l r - 5 3 v ) . Besonders in Auseinandersetzung mit zwei Lutherischen Axiomen (Omne opus bonum esse peccatum veniale; In puero post baptismum peccatum remanens negare, hoc est Paulum et Christum simul concidcare [Jedes gute Werk ist läßliche Sünde; im Kind nach der Taufe die bleibende Sünde zu leugnen, ist so, als träte man Paulus und Christus zugleich mit Füßen]) entwickelt Latomus hier seine Sünden- und Gnadenlehre und sucht aufzuzeigen, daß sich Luther nicht immer zu Recht auf die Schrift und die Väter gestützt habe. Luther, der die Schrift des Latomus bereits am 26. Mai in Händen hatte, sah sich zu einer umgehenden Replik veranlaßt: Rationis Latomianae pro incendiariis Lovaniensis scholae sophistis redditae Lutheriana Confutatio [Lutherische Zurückweisung der Rechtfertigung des Latomus für die sophistischen Brandstifter der Universität Löwen] (WA 8,[36]43-128). Latomus antwortete zunächst nicht auf diesen Antilatomus (so Melanchthon: CR 1,160). Im August wies ihn Johannes -»Oekolampad in seinem Elleboron pro Iacobo Latomo daraufhin, daß er von Luther, in dem Latomus Paulus selbst verfolgt habe, widerlegt worden sei und trotzdem neue Streitereien beginne. Latomus antwortete zwischen 1525 und 1526 mit der von Oekolampad herausgeforderten Replik auf den Antilatomus: Responsio ad Lutherum (Opera 5 4 r - 5 9 r ) . Diese erschien 1526 in Antwerpen zusammen mit weiteren Schriften im Druck: De primatu pontificis adversus Lutherum (Opera 6 1 v - 8 6 v ) und Responsio ad Elleboron Joannis Oecolampadii (Opera 1 1 8 r - 1 3 2 v ) . Bereits 1525 waren in einem weiteren Sammelband erschienen: 1. De confessione sccreta (Opera 9 8 v - 1 1 8 r ; gegen Oekolampads De ratione confitendi mit den Anmerkungen des Beatus Rhenanus über Tertullian), 2. De quaestionum generibus quibus Ecclesia certat intus et foris (Opera 8 6 r - 9 3 r ; die zweite Hauptschrift des Latomus zur theologischen Hermeneutik) und 3. De Ecclesia et humanae legis obligatione (Opera 93 v -104 r ). Die letztgenannte Schrift richtet sich im Schlußteil gegen -»Gersons Theorie vom verpflichtenden Charakter der menschlichen Rechtsordnung. Im Jahre 1530 erschien, ebenfalls in Antwerpen, der Libellus de fide et operibus et de volis atque institutis monasticis, mit dem Latomus das Werk De oeconomia christiana des Bartholomaeus Batnus widerlegen wollte (Opera 134 r -157 r ). Kurz vor seinem Tode konnte er noch zwei kurze Briefe publizieren: Duae Epistolae: una in libellum de Ecclesia, Philippo Melanchthoni inscriptum; altera contra orationem factiosorum in Comitiis Ratisbonensibus habitam (1544). Es handelt sich um eine Antwort auf Melanchthons Traktat De Ecclesia et de Auctoritate Verbi Dei sowie Melanchthons Entgegnung auf die Rede Thomas Campeggios auf dem Regensburger Reichstag von 1541. Drei weitere Schriften des Latomus sind schließlich erst postum bei B. Gravius in Löwen erschienen: Confutationum adversus Guilelmum Tindalum libri tres, das Ergebnis der Gespräche, die er als Inquisitor mit dem gefangenen englischen Reformator W. Tyndale (1484-1536) über Rechtfertigung, Verdienste, Buße, gute Werke und Sakramente geführt hatte; De substantia ac natura sacramenti matrimonii über die Unauflöslichkeit der Ehe; De quibusdam articulis in Ecclesia controversis über das Gebet für die Toten, die Fürsprache der Heiligen, die Bilder- und Reliquienverehrung; Disputatio quodlibetica tribus quaestionibus absoluta. Eine Schrift Adversus librum Erasmi de sarcienda Ecclesiae concordia blieb bis zum Tode des Latomus unvollendet.

498 3. Zur Theologie

Latomus des

Latomus

Latomus hat die hermeneutischen Prinzipien seiner Theologie vor allem in Auseinandersetzung mit der Ratio verae theologiae des Erasmus herausgearbeitet. Im Gegensatz zu Erasmus und seiner Consensus-Lehre sowie seiner Bevorzugung der Philologie bei der Schriftauslegung bevorzugte Latomus den „scholastischen" Weg, der neben der Heiligen Schrift und den Vätern auch die Dialektik, Logik, Metaphysik und Moralphilosophie in den Dienst der Theologie stellt (Guelluy 65 f; Chantraine; Vinken; -»Scholastik). Fundament der Theologie ist ihm die regula fidei, die Artikel des Glaubens und die definierten Dogmen (Opera 86 v ; 89 r ). Gegenüber der Schrifterklärung vorrangig ist Latomus die Annahme des christlichen Credo, das sich nicht nur auf den Glauben im strikten Sinne, sondern auch auf die Sakramente, die Morallehre und die Praxis der Kirche in allen Lebensbereichen erstreckt, auch wenn Einzelbegründungen nicht immer ausdrücklich aus den kanonischen Schriften abgeleitet werden können (Opera 91 r ). Bei den theologischen Schlußfolgerungen aus den priticipia fidei kommt der Heiligen Schrift, deren sublimitas Latomus immer wieder hervorhebt (Opera 24 v ), eine entscheidende, mit keiner anderen Autorität vergleichbare Bedeutung zu. Trotzdem bedarf die Schrift wesentlich der Erläuterung, da manchcs an ihr dunkel oder gar widersprüchlich ist. Daher ist die Interpretation durch die Väter und das von Papst und Konzilien ausgeübte Lehramt vonnöten (Opera 47 v ). Bei der Exegese ist stets auf Kontext, Redefigur und literarische Gattung Rücksicht zu nehmen (Opera 7 r v , 8V, 23 r , 55 r , 58 r ). In seinen antilutherischen Schriften sucht Latomus die in De variis quaestionum generibus (Opera 8 6 r - 9 3 r ) entwickelten hermeneutischen Prinzipien zur Anwendung zu bringen. In deren Licht erschienen ihm beispielsweise Luthers Aussagen über die Sünde zu absolut und radikal formuliert (Opera 47 v ). Er glaubt nicht wie Luther, ihre abweichende Auffassung von der Sünde beruhe allein auf der unterschiedlichen Begrifflichkeit (vgl. dazu Iserloh: Kirche - Ereignis und Institution 11,75ff; Rogge 141 f. 147-151); die Abweichungen seien vielmehr grundsätzlicher Natur (Opera 57 v ). Mit Luthers Unterscheidung von donum und gratia, bonum internum und externum kann Latomus nichts anfangen (Opera 59 r ). Luther habe nie richtig über Gnade und Sünde nachgcdacht und gesprochen (Opera 60"). Weiterhin sei es ein Zeichen von Eigensinn und mangelnder Konsequenz, wenn Luther die Schrift anerkenne, die Väter aber ablehne (Opera 54"). Über die Redefiguren äußere er sich sehr widersprüchlich (Opera 5 4 v - 5 5 v ) . Luther hat wiederholt seine Abneigung gegen Latomus zum Ausdruck gebracht (WA 8,110,35 f;l 15,29f;l 16,23f). Trotzdem fällt auf, daß sowohl er wie auch Melanchthon später Worte der Anerkennung für den Löwener Theologen fanden (WA.TR 1,202 Nr. 463; 5,75 Nr. 5345; 2,189 Nr. 1709; 4,145 Nr. 4119; CR 5,453 = Ep. 3000 und CR 5,452 = Ep. 2999). Ein allgemein anerkanntes Urteil über die Theologie des Latomus steht noch aus. Amann (DThC 8,2626 f) rechnet ihn methodisch zu den Vorläufern Robert Bellarmins. Für Joachim Rogge (139f) gehört Latomus zu den „sehr wenigen römisch-katholischen Theologen, die sich überhaupt mit Luther wissenschaftlich und ernsthaft auseinandersetzten" und sich nicht mit einem Anathem begnügten. Bibliographien D T h C 8 , 2 6 2 6 f f . - J a c q u e s Etienne (s.u. 2.), 1 4 - 1 9 . - W i l b i r g i s Klaiber (Hg.), Kath. Kontroverstheologen u. R e f o r m e r des 16. J h . Ein Werksverz., 1978 ( R G S T 116) 1 6 8 f (Nr. 1 7 9 0 - 1 8 0 4 ) .

Quellen Iacobi L a t o m i Sacrae T h e o l o g i a e apud Lovanienses professoris celeberrimi o p e r a , quae praecipue adversus h o r u m t e m p o r u m haereses eruditissime ac singulari iudicio conscripsit, ab innumeris vitiis, quibus s c a t e b a n t , diligenter repurgata, L ö w e n 1550 ( O p e r a ) . - D e trium linguarum et studii theologici ratione, Antwerpen 1519; Neuausg.: B R N 3 (1905) 4 1 - 8 4 . - D e primatu pontificis adversus Lutherum, Antwerpen 1 5 2 5 ; Neuausg.: B R N 3 (1905) 1 1 1 - 1 9 5 .

Laud

499

Literatur 1. Lexikonartikel: E. Amann, Art. Latomus, Jacques: D T h C 8 (1925) 2 6 2 6 - 2 6 2 8 . - Jacques Etienne, Art. Latomus, Jacobus: LThK 2 6 (1961) 822. - Felix Nève, Art. Latomus, Jacques: BNBelg 11 (1890/91) 4 3 4 - 4 3 8 . - Fredrik Pijper, De oudste Roomse bestrijders van Luther: B R N 3 (1905) 1 - 3 9 . 8 5 - 1 1 0 (Einf. in die Sehr, des Latomus). - Ders., Art. Latomus: Bibliotheca belgica, 2 e sér. 17 (1908) L 6 0 9 - L 6 1 6 . 2. Zu Leben und Werk des Latomus: Valère André, Fasti academici Lovanienses, Louvain 1625, 34.69. - Karel Blockx, De Veroordeling van Maarten Luther door de Theologische Faculteit te Leuven in 1519, Brüssel 1958. - Edmond van Eijl, Louvain's Faculty of Theology during the fifteenth and sixteenth centuries: LouvSt 5 (1975) 2 1 9 - 233. - Jacques Etienne, Spiritualisme érasmien et théologiens louvanistes, Louvain/Gembloux 1956, X V 1 I I - X I X . 1 6 3 - 1 6 8 (Werke u. Lit.). - Robert Guelluy, L'évolution des méthodes théologiques à Louvain d'Erasme à Jansenius: R H E 37 (1941) 5 2 - 7 1 . - Henri de Jongh, L'ancienne faculté de théologie de Louvain au premier siècle de son existence (1432-1540), Louvain 1 9 1 1 , 1 7 3 - 1 8 0 . - Paul Kalkoff, Die Anfänge der Gegenreformation in den Niederlanden, 2 Bde., Halle 1903. - Johannes Lindeboom, Het bijbels Humanisme in Nederland, Leiden 1913, Leeuwarden 2 1 9 8 2 . - J e a n Noël Paquot, Mémoires pour servir à l'histoire littéraire des dix-sept provinces des Pays-Bas, de la Principauté de Liège et de quelques contrées voisines, Louvain, 111 1770,11 - 1 5 . - Pierre François Xavier de Ram, Disquisitio historica de iis, quae contra Lutherum Lovanienses theologi egerunt anno M D X I X , Brüssel 1843. - Jos Vercruysse, Jacobus Latomus: Gr. 64 (1983) 5 1 5 - 5 3 8 , Neudr.: Kath. Theologen der Reformationszeit, hg. v. Erwin Iserloh, H. 2, 1985 (KLK 45) 6 - 2 6 . - H. de Vocht, History of the Foundation and the Rise of the Collegium Trilingue Lovaniense 1 5 1 7 - 5 0 , Louvain, II 1953 III 1954. 3. Zur Theologie des lMtomus: Georges Chantraine, L'Apologia ad Latomum. Deux conceptions de la théologie: Scrinium Erasmianum, hg. v. der Universiteit te Leuven, Leiden, II 1 9 6 9 , 5 1 - 7 5 . - Jacques Etienne, Spiritualisme (s.o. 2.). - Robert Guelluy (s.o. 2.), 3 1 - 1 4 4 . - Rudolf Hermann, Zur Kontroverse zw. Luther u. Latomus: ders., Stud. zur Theol. Luthers u. des Luthertums. Ges. u. nachgelassene Werke, hg. v. Horst Bcintker, Göttingen, II 1981,256 - 268 = Luther u. Melanchthon. Referate u. Ber. des 2. Int. Kongresses f. Lutherforschung, hg. v. Vilmos Vaita, Göttingen 1961, 1 0 4 - 1 1 8 . - E r w i n Iserloh, Gratia u. Donum. Rechtfertigung u. Heiligung nach Luthers Sehr. „Wider den Löwcner Theologen Latomus" (1521): FS für Ernst Bizer, hg. v. Luise Abramowski/J.F. Gerhard Goeters, Neukirchen 1969, 1 4 1 - 1 5 6 = ders., Luther u. die Reformation, Aschaffenburg 1974, 8 8 - 1 0 5 = Cath (M) 24 (1970) 6 7 - 8 3 = ders., Kirche - Ereignis u. Institution. Aufs. u. Vortr., II Gesch. u. Theol. der Reformation, 1985 (RGST.S 3/11), 7 0 - 8 7 . - P o n t i e n Polman, L'Elément historique dans la controverse religieuse du XVIe siècle, Gembloux 1932 (passim).-Joachim Rogge, Gratia u. donum in Luthers Sehr, gegen Latomus: Theol. Versuche 2, hg. v. Joachim Rogge/Gottfried Schille, Berlin 1970, 1 3 9 - 1 5 2 (Bibliogr. 140f). - Leopold Vinken, Jacobus Latomus en Maarten Luther. De botsing van twee visies op theologie: Facultas S. Theologiae Lovaniensis 1432-1797, 1977 (BEThL 45), 2 9 9 - 3 1 1 . Peter F a b i s c h / E r w i n Iserloh

Laubhüttenfest —»Feste und Feiertage L a u d , William 1. Leben 1.

(1573-1645)

2. Werk

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 501)

Leben

Geboren als Sohn eines Schneiders in Reading, Berkshire, w u r d e Laud 1 5 8 9 a m St. J o h n ' s College in O x f o r d immatrikuliert, w o er 1593 Fellow wurde (Bacchalaureus Artium 1594, Magister Artium 1598, Bacchalaureus Divinitatis 1604, D o c t o r Divinitatis 1608). E r wurde a m 4. J a n u a r 1601 zum Diakon und a m 5. April desselben J a h r e s zum Priester geweiht. 1604 wurde er Hausgeistlicher bei Charles Blount, dem Grafen von Devonshire. Ein J a h r später wurde Laud in einen Skandal verwickelt, als er die Eheschließung von Blount mit der geschiedenen F r a u von L o r d Rieh vollzog, ein Akt, der das Mißfallen des Königs J a k o b I. erregte. L a u d bedauerte seine Beteiligung so sehr, d a ß er sich später einmal im J a h r einen speziellen Bußtag auferlegte. Seine Karriere wurde durch seine Kontakte mit einer G r u p p e von M ä n n e r n gefördert,

500

Laud

die als beginnende arminianische Partei (-»Arminius/Arminianismus) oder als G r u p p e , die gegen den o r t h o d o x e n Calvinismus der Kirche von England a u f t r a t , charakterisiert werden k a n n . Z u dieser G r u p p e gehörten John Buckeridge (1562—1631), Lauds Tutor in O x f o r d , und Richard Neile (1562-1640). Dieser Kirchenpartei gelang es in den zwanziger Jahren des 17. Jh., die Aufmerksamkeit des alternden Königs J a k o b I. und von George Villiers, des Herzogs von Buckingham, ebenso auf sich zu ziehen wie des zukünftigen Königs Karl I. 1608 wählte Neile als Bischof von Rochester Laud als seinen persönlichen Geistlichen. Neiles Einfluß verschaffte Laud eine Reihe von angesehenen kirchlichen Positionen: Rektor von Cuxton (Kent) 1610; Präbend von Buckden und königlicher Kaplan 1614; Archidiakon von H u n t i n g d o n 1615 und Dekan von Gloucester 1616. 1611 wurde er als Nachfolger von Buckeridge, der Neile nach Rochester folgte, Präsident des St. John's College in O x f o r d . Am 22. J a n u a r 1622 ü b e r n a h m er das Amt eines Präbenden an Westminster Abbey. Am 29. Juni desselben Jahres w u r d e er zum Bischof von St. David's, Wales, ernannt und gab das Amt als Präsident des St. J o h n ' s College, trotz königlicher Erlaubnis beide Ämter zu besetzen, auf. Laud erlangte öffentliches Ansehen im J a h r 1622, nachdem Buckingham J a k o b I. überredet hatte, ihm die Führung der Debatte mit dem Jesuiten John Fisher (1569-1641) anzuvertrauen. 1625 verteidigte er die Rechtgläubigkeit von Richard M o n t a g u (1577-1641) gegen die Anklage des Arminianismus und des Papismus. N a c h der Thronbesteigung Karls I. im selben J a h r nahm Lauds Einfluß weiter zu. 1626 wurde er Bischof von Bath und Wells, 1627 Privy Councillor ([Geheimer] Staatsrat), 1628 Bischof von London und 1629 Kanzler der Universität O x ford. Er formte die Kirchcnpolitik vom Beginn der Herrschaft Karls, wobei ihm die politische Schwäche seines Gegners aus der O x f o r d e r Zeit, George Abbot (1562-1633), eines entschiedenen Calvinistcn, zuhilfe k a m . N a c h Abbots Tod 1633 w u r d e Laud dessen Nachfolger als Erzbischof von Canterbury. Neile war 1632 zum Erzbischof von York ernannt worden. Eine Kampagne für Einheit durch Einheitlichkeit, die den Gebrauch des -*Book of Common Prayer und seiner liturgischen O r d n u n g e n durchsetzte und die calvinistische Predigt und Polemik zu unterdrücken suchte, wurde durch königliche Anordnung, durch Lauds Visitationen als Metropolit und durch den Court of High Commission (Behörde zur Aufsicht über das Kirchcnwesen) und die Star Chamber (Gerichtsorgan, nur dem König verantwortlich) in Gang gesetzt. Ein Wendepunkt wurde im J a h r 1637 mit dem Vcrsuch erreicht, ein revidiertes Book of Common Prayer in -» Schottland durchzusetzen. Die „Kriege der Bischöfe" folgten 1639 und 1640. Auf der Konvokation von 1640 führte Laud neue kanonische Rechtsbestimmungen ein, die das göttliche Recht der Könige bestätigten und die Ungesetzmäßigkcit des Widerstandes der Untertanen festhielten. Ein anderer Kanon forderte die Anerkennung der Hierarchie der „Erzbischöfe, Dekane und Archidiakone etc.": Die Ungenauigkeit der Formulierung führte dazu, d a ß die Rechtsbestimmung als et cetera-Eid lächerlich gemacht wurde, und Laud sah sich genötigt, die A n w e n d u n g des Gesetzes im O k t o b e r 1640 auszusetzen. Vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges wurde er am 18. Dezember 1641 von dem sog. „langen P a r l a m e n t " des Hochverrats angeklagt. Sein Prozeß begann am 12. M ä r z 1644. Am 4. J a n u a r 1645 w u r d e das Todesurteil gesprochen und am 10. J a n u a r vollstreckt. 2. Werk Laud war nicht in erster Linie Theologe oder Gelehrter, sondern Administrator, der von dem Willen beseelt war, O r d n u n g durchzusetzen. Abgesehen von der Darstellung seines Treffens mit dem Jesuiten Fisher (gedruckt aufgrund des Insistierens von J a k o b I.) und Verteidigungsschriften, die er publizierte, als er später kritischen Angriffen ausgesetzt w a r , bestehen seine Veröffentlichungen aus Predigten und Artikeln, die aus Anlaß von Visitationen geschrieben wurden. Er zog es vor, mit Entschiedenheit zu handeln, statt sich in Kontroversen zu verwickeln oder eine bestimmte Politik zu erklären: Dies w a r ein Charakteristikum von Lauds Politik in den dreißiger J a h r e n des 17. J h . und deutete sich

Laud

501

schon in seinen R e f o r m m a ß n a h m e n in O x f o r d als Präsident von St. J o h n ' s College und als Kanzler der Universität an. Er verfolgte Reformbestrebungen in einer Richtung, die schon von M ä n n e r n wie R. H o o k e r , L. - » A n d r e w e s und Neile vorgezeichnet war. Diese generelle Ausrichtung wurde in den dreißiger J a h r e n im politischen Kontext der H e r r s c h a f t Karls I. und durch die persönlichen religiösen Vorlieben des Königs bestärkt. Zeremonien und die äußerlichen Aspekte der Religionsausübung, wie z. B. das Aussehen der Kirchengebäude, schützten und bezeugten die Substanz des Glaubens: Die Kirche von England müsse gegen protestantischen Eifer verteidigt werden, der all dies hinwegfegte, u m dem römischen Aberglauben entgegenzutreten. Geordnete und allgemeine Religionsa u s ü b u n g war, mehr als Einheit in der Lehre, das Mittel, um Achtung für die w a h r e Religion sicherzustellen. Lauds Politik w a r von einem starken Klerikalismus motiviert, der Bischöfe durch göttliches Recht herrschen sah und darauf abzielte, die Autonomie der Kirche vor Eingriffen durch die Laien seit der R e f o r m a t i o n zu retten: vor den Aktivitäten säkularer Juristen, vor der Aneignung von Kirchenpfründen durch Laien und vor der Spontaneität der Freiwilligkcitsreligion der Puritaner (-»Puritanismus). Wie weit seine Theologie arminianisch war und in welchem M a ß e die Anklage des Arminianismus wie die des Papismus berechtigt war oder eine Verleumdung seiner puritanischen Gegner, ist umstritten. Einige Gelehrte (Sharpe und White) interpretieren den Vorwurf in diesem Sinne und sehen Laud als jemand, der weit verbreitete Auffassungen in Opposition zum Hochcalvinismus vertrat, die im Common Prayer Book und in den Neununddreißig Artikeln (-»Kirche von England) begründet waren, o h n e jcdoch arminianisch zu sein. Andere erkennen die Unterschiede zwischen dem englischen und dem niederländischen Arminianismus ausdrücklich an, interpretieren aber die Gegnerschaft gegenüber Laud als eine Reaktion auf die arminianischen Attacken seiner Partei auf den calvinistischen Konsens in der englischen Kirche. 3.

Wirkung

Die Revision der Forschungsansätze in bezug auf die dem Bürgerkrieg vorausgehende Periode haben ein modifiziertes Bild von Laud entstehen lassen. O b w o h l die zerstörerische Wirkung des Puritanismus immer noch betont und auf Lauds maßvolle Haltung hingewiesen wird (White), hat sich die Auffassung, d a ß Lauds Politik der Störfaktor war, der den etablierten Calvinismus der englischen Kirche durcheinanderbrachte (Morrill, Tyacke), weitestgehend durchgesetzt. Es gab in Lauds Zeit weniger Amtsenthebungen als in früheren Jahrhunderten; aber es w a r die Usurpation des königlichen Supremats durch die Bischöfe mehr als die Verfolgung anders Gesinnter, die den Anstoß des Parlaments erregte (Morrill). Lauds positives Verhältnis zu den Naturwissenschaften ist nachgewiesen (Tyacke, Arminianism) und der Einfluß einer laudianischen Partei auf die Restauration in Frage gestellt worden (Green). Laud wurde später von Latitudinariern (—»Latitudinarismus) und Anglokatholikcn (—• Anglokatholizismus) hoch verehrt. Quellen Peter Hcylyn, Cyprianus Anglicus, L o n d o n 1668. - T h e Works of William Laud. Hg. v. W. Scott/J. Bliss, 7 Bde., O x f o r d 1 8 4 7 - 1 8 6 0 (LACT). - Calendar of State Papers Domestic, J a m e s I, Charles I, London 1857-1872, 1858-1897. - William E. Collins (Hg.), Lectures on Archbishop Laud, London 1895, New York 1969 (Lit.). Literatur C. Carlton, Archbishop William Laud, L o n d o n / N e w York 1 9 8 4 . - W i l l i a m E. Collins, s . o . (Lit.). - S . R . Gardiner, Art. William Laud: D N B 32 (1892) 1 8 5 - 1 9 4 . - Ian M . Green, T h e Re-Establishment of the Church of England, 1660-1663, O x f o r d 1 9 7 8 . - W . H . H u t t o n , William Laud, L o n d o n 1895 u. ö. - J. S. M c G e e , William Laud and the O u t w a r d Face of Religion: Leaders of the R e f o r m a tion, hg. v. R. D e M o l e n , Susquehanna, Penns. 1 9 8 4 , 3 1 8 - 3 4 4 ( L i t . ) . - J o h n S. Morrill, T h e Religious C o n t e x t of the English Civil War: T H S 5 Ser. 34 (1984) 1 5 5 - 1 7 8 . - T. M . Parker, Arminianism and Laudianism in Seventeenth-Century England: SCH(L) 1 (1964) 2 0 - 3 4 . - Kevin Sharpe, Archbishop

502

Lausanne,

Universität

Laud and the University of Oxford: History and Imagination, hg. v. Hugh Lloyd-Jones/Valerie Pearl/Blair Worden, London 1984, 146-164. - Margaret Stieg, Laud's Laboratory. The Diocese of Bath and Wells in the Early Seventeenth Century, Lewisburg/Philadelphia 1982. - Hugh R. TrevorRoper, Archbishop Laud, London 1940 2 1962. - Ders., The Church of England and the Greek Church in the Time of Charles I: SCH(L) 15 (1978) 213-240. - Nicholas Tyacke, Puritanism, Arminianism and Counter-Revolution: The Origins of the English Civil War, hg. v. Conrad Russell, London 1973, 119-1943. - Ders., Arminianism and English Culture: Britain and the Netherlands VII, hg. v. A. C. Duke/C. A. Tamse, The Hague 1981,94-117. - Ders., Anti-Calvinists, Oxford 1987. - Peter White, The Rise of Arminianism Reconsidered: PaP 101 (1983) 34-54. Susan H a r d m a n M o o r e

Laudes —•Stundengebet Lausanne,

Universität

1. Die Anfänge 1. Die

2. Das 18. und 19. Jahrhundert

3. Das 20. Jahrhundert

(Literatur S. 506)

Anfänge

Im J a h r e 1536 e r o b e r t e n die Berner d a s bis d a h i n z u m H e r z o g t u m Savoyen g e h ö r e n d e W a a d t l a n d (Pays d e Vaud) u n d f ü h r t e n sogleich a u c h die R e f o r m a t i o n ein ( L a u s a n n e r D i s p u t a t i o n , O k t o b e r 1936). In Sorge u m die Bildung d e r B e v ö l k e r u n g u n d die Ausbild u n g v o n f r a n z ö s i s c h s p r e c h e n d e n P r e d i g e r n g r ü n d e t e n sie im J a n u a r 1537 die Schola Lansannensis, eine m i t einer L a t e i n s c h u l e (collège) v e r b u n d e n e t h e o l o g i s c h e L e h r s t ä t t e (lectio divina). Diese w u r d e mit d e r Z e i t allgemein „ A k a d e m i e " g e n a n n t . Sie sollte bis 1559 ( G r ü n d u n g d e r G e n f e r A k a d e m i e ) die einzige p r o t e s t a n t i s c h e Schule f r a n z ö s i s c h e r S p r a c h e bleiben. Vorgesehen w a r e n v o r allem ö f f e n t l i c h e Vorlesungen ü b e r biblische S p r a c h e u n d biblische T h e o l o g i e . Im ersten J a h r z e h n t t r u g d i e A n s t a l t d a s G e p r ä g e d e r s t a r k e n P e r s ö n l i c h k e i t des W a a d t l ä n d c r s Pierre Virct ( 1 5 1 1 - 1 5 7 1 ) , d e n d e r Z ü r c h e r N a t u r k u n d l e r u n d Hellenist C o n r a d G e s s n e r ( 1 5 1 6 - 1 5 6 5 ) u n t e r s t ü t z t e . N a c h d e m sie 1547 ihre n a c h Berner u n d S t r a ß b u r g e r V o r b i l d e r n v e r f e r t i g t e n Leges e r h a l t e n h a t t e , welche die Z a h l der L e h r s t ü h l e auf vier festlegten (Philosophie, H e b r ä i s c h , G r i e c h i s c h u n d T h e o l o gie), g e w a n n sie 1549 d u r c h die W i r k s a m k e i t des Hellenisten u n d Exegeten T h e o d o r - » B e z a i n t e r n a t i o n a l e s A n s e h e n . N e b e n d i e e i n g e s c h r i e b e n e n S t u d e n t e n h a b e n sich a u c h d u r c h r e i s e n d e M ä n n e r wie K. - » O l e v i a n a u s T r i e r , Z . - » U r s i n u s a u s Breslau - beide s p ä t e r an d e r A b f a s s u n g u n d E i n f ü h r u n g des - » H e i d e l b e r g e r K a t e c h i s m u s m a ß g e b e n d beteiligt - u n d G u y d e -»Brès, d e r z u k ü n f t i g e Verfasser d e r Confessio belgica (1561), u n t e r die H ö r e r d e r L a u s a n n e r P r o f e s s o r e n gesetzt. D a z u w a r e n n e b e n e i n e m G r u n d s t o c k v o n F r a n z o s e n a u c h P o l e n , H o l l ä n d e r u n d E n g l ä n d e r in d e r S t u d e n t e n s c h a f t v e r t r e t e n . Indessen k a m es b a l d zu einer Krise. Diese h a t t e i h r e n G r u n d in sich v e r s c h ä r f e n d e n M e i n u n g s v e r s c h i e d e n h e i t e n ü b e r F r a g e n des K i r c h e n b e g r i f f s u n d d e r Kirchenzucht. Eine strengere calvinistische R i c h t u n g s t a n d einer e t w a s g r o ß z ü g i g e r e n , die B e d ü r f n i s s e d e r B ü r g e r g e m e i n d e m e h r b e r ü c k s i c h t i g e n d e n z w i n g l i s c h - b e r n i s c h e n T e n d e n z gegenü b e r . I m L a u f e des J a h r e s 1558 k a m es z u m o f f e n e n Konflikt: Beza verließ L a u s a n n e freiwillig u n d zog n a c h Genf z u r ü c k ( w o im J a h r e d a r a u f die G e n f e r A k a d e m i e g e g r ü n d e t w u r d e ) , Viret w u r d e abgesetzt u n d ging n a c h F r a n k r e i c h , g e f o l g t v o n einer R e i h e f r a n z ö sischer P f a r r e r . Der Schlag war schmerzlich für die junge, blühende Akademie. Sie erholte sich nur langsam, erhielt aber schließlich doch wieder hervorragende Lehrer, wie Claude Aubery (gest. 1594 in Dijon), einen streng aristotelischen Philosophen (lehrte 1576-1593), und Jean Chandieu (1534-1591), der sich 1568-1570 als Student in Lausanne aufhielt und hier 1573-1583 Theologie lehrte. Im Jahre 1587 bezog man ein großartiges neues Gebäude im Schatten der gotischen Kathedrale, das noch heute das Gymnasium beherbergt - ein eindrückliches Zeugnis für den Willen der Berner, den waadtländischen Pfarrern eine tüchtige Ausbildung zu sichern. N a c h k u r z e r G l a n z z e i t s a n k d i e A k a d e m i e indessen im 17. J h . in eine gewisse M i t t e l -

Lausanne,

503

Universität

m ä ß i g k e i t z u r ü c k , w e l c h e r R e f o r m v e r s u c h e und die Schaffung eines g e n a u e n Studienprog r a m m s ( 1 6 1 6 ) n i c h t w e s e n t l i c h a u f h e l f e n k o n n t e n . Z u n e n n e n ist i n d e s s e n d e r p f ä l z i s c h e Philosoph und Theologe Georg Müller, der 1 6 2 8 - 1 6 5 0 T h e o l o g i e u n t e r r i c h t e t e u n d d e m e i n e Metaphysik

Philosophie und

1650-1684

( 1 6 5 2 ) z u v e r d a n k e n ist.

G e g e n E n d e d e s J a h r h u n d e r t s b e g a n n e n n e u e S t r ö m u n g e n in P h i l o s o p h i e u n d R e l i g i o n d e n a u f aristotelisch g e p r ä g t e O r t h o d o x i e verpflichteten B e h ö r d e n S o r g e n zu bereiten: E i n e r s e i t s d r a n g e n c a r t e s i a n i s c h e u n d a u f k l ä r e r i s c h - r e l i g i o n s k r i t i s c h e G e d a n k e n ein, a n d e r e r s e i t s w u r d e n p i e t i s t i s c h e E r w e c k u n g s b e w e g u n g e n in d e r W a a d t h e i m i s c h . V o r l ä u f i g v e r s c h l o ß sich die A k a d e m i e n o c h allen d e r a r t i g e n T e n d e n z e n . 2 . Das

18. und

19.

Jahrhundert

D a s 18. J h . b r a c h t e t r o t z d e m N e u e r u n g e n . Es begann im J a h r e 1 7 0 8 mit der Erricht u n g eines L e h r s t u h l s für R e c h t u n d G e s c h i c h t e , a u f den 1 7 1 1 d e r b e g a b t e F r a n z o s e J e a n B a r b e y r a c ( 1 6 7 4 - 1 7 4 4 ) berufen wurde. Barbeyrac hatte bereits in L a u s a n n e studiert, w a r a b e r 1693 von den Bernern ausgewiesen worden und hatte sich schließlich (1697) in Berlin als Professor für alte Sprachen a m Collège français etabliert. Er interessierte sich vor allem für Fragen des N a t u r r e c h t s und w a r ein Vorkämpfer des Toleranzgedankens. In L a u s a n n e unterrichtete er teilweise in französischer Sprache, was eine Neuerung darstellte. Leider nahm er bereits 1 7 1 7 einen R u f an die hochgeschätzte Universität G r o n i n g e n an. G r o ß e U n r u h e v e r u r s a c h t e n in d i e s e r Z e i t S t r e i t i g k e i t e n u m d e n s o g . Consensus ticus

helve-

(1675), der vor allem die Lehren v o n der doppelten - » P r ä d e s t i n a t i o n und der wörtli-

c h e n Inspiration des A l t e n T e s t a m e n t s sichern sollte. Alle P f a r r e r h a t t e n ihn u n t e r s c h r i e b e n , t a t e n es a b e r , u n t e r s t i l l s c h w e i g e n d e r B i l l i g u n g d u r c h d i e A k a d e m i e , m i t d e m Z u s a t z quatenus

Sanctae

Scripturae

consentit.

D e r unvermeidliche Konflikt mit den bernischen Exzellenzen brach 1715 aus, als die Sache r u c h b a r wurde. Der Streit dauerte 7 J a h r e ; a b e r schließlich g a b die A k a d e m i e nach und tat Abbitte, sehr zum Schaden ihres Ansehens unter der Bevölkerung. Inzwischen war B a r b e y r a c durch einen seiner Schüler, C h a r l e s - G u i l l a u m e Loys de B o c h a t ( 1 6 9 5 - 1 7 5 4 ) , ersetzt w o r d e n , der 1 7 1 8 - 1 7 4 0 - wieder nur auf lateinisch - R e c h t und G e s c h i c h t e vortrug und dessen N a m e darum E r w ä h n u n g verdient, weil er 1738 vorschlug, die Akademie nach französischem Vorbild in eine wirkliche Universität zu verwandeln — eine Idee, die ihrer Z e i t weit voraus war. N a c h B o c h a t s R ü c k t r i t t - er nahm seitdem politische Aufgaben w a h r - wurde sein Lehrstuhl nicht mehr besetzt; dafür aber begannen die Naturwissenschaften in die A k a d e m i e Einzug zu halten. Im J a h r e 1784 erhielt Henri Struve, Sohn eines in Lausanne w o h n h a f t e n J e n a e r Arztes (der bereits 1772 die Schaffung eines chemischen Institutes vorgeschlagen hatte), die Erlaubnis, C h e m i e zu lehren, und 1776 hatte auch J e a n - S a m u e l François ( 1 7 4 4 - 1 8 0 0 ) b e g o n n e n , Physik zu unterrichten. Wenig später w a r die R e d e d a v o n , einiges über Medizin in den Lehrplan aufzunehmen. D e m Z u g der Z e i t folgend, wagte man es gegen Ende des J a h r h u n d e r t s wieder, sich gelegentlich der französischen Sprache zu bedienen. Für die Popularität der A k a d e m i e im 18. J h . zeugt die G e g e n w a r t bedeutender ausländischer Studenten. Z u nennen wären etwa der zukünftige G r o ß h e r z o g von B a d e n - D u r l a c h , Karl Friedrich, und sein Bruder W i l h e l m Ludwig, Söhne des Gründers von Karlsruhe ( 1 7 1 5 ) , deren Porträts den Saal zieren, in welchem sich bis vor kurzem der Senat der Universität versammelte. E i n e neue Z e i t b a h n t e sich an im J a h r e 1 7 9 8 mit d e m E n d e des bernischen R e g i m e s und der M a c h t ü b e r n a h m e d u r c h die F r a n z o s e n . D e r G e b r a u c h des F r a n z ö s i s c h e n verallg e m e i n e r t e sich (letzte V o r l e s u n g a u f L a t e i n : 1 8 3 5 ) ; die Studien w u r d e n f ü r d e r h i n m i t d e m Lizenziat a b g e s c h l o s s e n , und 1 8 0 6 regelte ein G e s e t z die O r g a n i s a t i o n d e r A k a d e m i e neu. Es sah 14 Lehrstühle vor: drei für die Ausbildung zum kirchlichen Dienst (Exegese, D o g m a t i k , Praktische T h e o l o g i e ) , drei für Literaturwissenschaften (Griechisch, Lateinisch, Französisch), vier für Naturwissenschaften (theoretische Physik, experimentelle Physik, C h e m i e , M i n e r a l o g i e ) , zwei für Medizin (Medizin und Chirurgie) und zwei für Rechtswissenschaften - also bereits eine kleine Universität. Wenn auch keine Lehrstühle für m o d e r n e Fremdsprachen eingerichtet wurden, so begannen doch langsam auch d a s Deutsche und das Englische heimisch zu werden. H ö h e p u n k t e a k a d e m i s c h e n Lebens ereigneten sich im J a h r e 1 8 3 7 . D a m a l s eröffnete

504

Lausanne,

Universität

der französischen Kritiker und Schriftsteller Sainte-Beuve seine berühmte Vorlesung über das Kloster Port-Roy al (gedruckt in Paris, 1840 ff, mit schöner Widmung an seine Hörer in Lausanne). Im selben Jahre wurde der bedeutendste waadtländische Theologe, Alexandre Vinet, auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie berufen; etwas später unterrichtete der polnische Dichterund Gelehrte Adam Mickiewicz (1798-1855) lateinische Literatur, und der Basler Johann Jakob Herzog, der zukünftige Herausgeber der Realencyklopädie für Theologie und Kirche (1805-1882), lehrte während mehrerer Jahre (bis 1846) Kirchengeschichte. 1837 war auch das Jahr einer Neuordnung der Universität: Sic sollte hinfort der Ausbildung für alle Berufe dienen, die höhere Kenntnisse erforderten und gleichzeitig die wissenschaftliche und literarische Kultur fördern; sie wurde eingeteilt in drei Fakultäten (Theologie, Recht, Literatur- und Naturwissenschaften); es wurden mehrere neue Lehrstühle geschaffen; die Bindungen der Theologischen Fakultät an die Kirche wurden entscheidend gelockert. Indessen kündete sich im waadtländischen Staat eine Krise an. Widerspruchsvolle Tendenzen machten sich geltend. Einerseits regierte eine liberale, eher aristokratische Partei, mit der sich die meisten Professoren der Akademie solidarisch wußten. Andererseits drängte sich eine konsequent demokratische Bewegung vor, getragen von der „radikalen", d.h. freisinnigen Partei. Neben ihr regten sich in der Bevölkerung verschiedene Erwcckungsbewegungcn. Und schließlich verlangten einige Denker, allen voran Vinet, aber auch der Philosoph Charles Secrétan (1815-1895), völlige Freiheit der Religionsübung und weitgehende Unabhängigkeit der Kirche vom Staat. Im Jahre 1845 kam eine radikale Regierung an die Macht, für welche die Einheit von Volk, Staat und Kirche grundlegendes Prinzip war. Als sich viele Pfarrer weigerten, von der Kanzel im Auftrage der Regierung einen Aufruf zur Annahme einer neuen Verfassung zu verlesen, wurden sie entlassen, mit ihnen auch eine Anzahl Professoren der Akademie, u.a. Vinet und Secretali. Ein neues Gesetz annullierte die Neuerungen von 1837 und brachte die Akademie auf einen früheren Zustand zurück. Die dissentierenden Pfarrer gründeten eine vom Staat unabhängige Kirche, die Eglise libre, der es wenig später (1847) gelang, eine unabhängige Theologische Fakultät ins Leben zu rufen. An ihr haben später namhafte Gelehrte gewirkt, wie der Philosophiegeschichtier Philippe Bridel (1852—1936) und der Neutestamentier RenéGuisan (1874-1934), der von 1928 an auch an der Universitäts-Fakultät lehrte. Die Akademie erholte sich und entwickelte sich weiter. Zur Ausbildung von Ingenieuren wurde eine F.cole speciale geschaffen (1853), zunächst als Privatinstitution, jedoch u.a. getragen von zwei Professoren der Akademie. An der Akademie selber hielt mit dem Literaturwissenschaftler Kugène Rambert (1830-1886) der Positivismus Einzug (1855).

1869 wurde zum letzten Mal ein Gesetz über die alte Akademie erlassen. Virtuell wurde damit die Institution bereits zur Universität. Sic wurde eingeteilt in fünf Fakultäten: Theologie, Recht, Literaturwissenschaften, Naturwissenschaften, technische Wissenschaften, und sie erhielt das Recht, neben dem Lizenziaten- auch den Doktortitel zu verleihen. Unter diesem Gesetz nahm die Akademie erfreulichen Aufschwung. 1870 schuf der weitsichtige Staatsmann Louis Ruchonnet (1834-1893) für den Franzosen Léon Walras (1834-1910) einen Lehrstuhl für politische Ökonomie. Walras unterrichtete bis 1892. Sein Nachfolger wurde der Italiener Vilfredo Pareto (1848-1923), der jedoch bald die Bedeutung der Soziologie für die Erkenntnis des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens entdeckte und sich vor allem als Soziologe einen Namen machte. Walras und Pareto werden gern zusammengefaßt als die bedeutendsten Vertreter der international anerkannten sog. Ecole de Lausanne. 1873 wurde eine Ecole de pharmacie gegründet und 1881 ein propädeutisches medizinisches Examen eingeführt. Die Akademie befand sich so auf dem Wege zur Voll-Universität. Alles schien anzuzeigen, daß die Hohe Schule von Lausanne in eine Universität verwandelt werden sollte. Das geschah dann auch - nach Uberwindung mancher Widerstände des vorwiegend landwirtschaftlich orientierten Kantons - am 18. Mai 1890. Das Neue bestand vornehmlich in der Schaffung einer medizinischen Fakultät.

Lausanne, 3. Das 20.

Universität

505

Jahrhundert

Die Universität vergrößerte sich zusehends. 1895 wurde für fremdsprachige Studenten eine Ecole de français moderne, und 1911 eine Ecole des hautes études commerciales zugefügt. Das Jahr 1909 sah die Schaffung eines Instituts für Polizeiwissenschaft. Die Studentenzahl nahm ebenfalls zu und erreichte kurz vor dem Ersten Weltkrieg (1913) die Höchstzahl (1192), um dann infolge Abwesenheit der Ausländer während des Krieges wieder zurückzugehen. Das rasche Wachstum der Universität nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die sozialen Veränderungen der sechziger Jahre machten es notwendig, nach einer neuen Ordnung zu suchen. Die 1954 zur Ecole polytechnique de l'Université de Lausanne (EPUL) gewordene technische Schule wurde 1969 von der Eidgenossenschaft übernommen (jetzt: Ecole polytechnique fédérale de Lausanne, EPFL). 1968 wurde ein Provisorium eingerichtet mit mehrköpfigem, auf vier Jahre gewähltem Rektorat; der Universität wurde die Verantwortung für das Budget übertragen und es wurde ihr der Auftrag erteilt, ihre Weiterentwicklung sorgfältig zu planen.

Aufgrund der so gemachten Erfahrungen wurde das heute noch geltende Gesetz vom 6.12.1977 promulgiert, das sieben Fakultäten errichtete: Theologie, Recht (mit angeschlossenem Institut für Polizeiwissenschaft und Kriminologie), Medizin, Literaturwissenschaft (mit angeschlossener Ecole de français moderne), Naturwissenschaften (mit angeschlossener Ecole de pharmacie), Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft, Handelshochschule (mit Zentrum für europäische Forschungen). Als Zwischeninstanz zwischen den verantwortlichen Gremien (Senat, Rektorat, Fakultätsräte) und den Studenten wurden von Studenten, .Mittelbau' und Professoren beschickte Kommissionen eingesetzt, mit beratender und empfehlender Stimme. 1970 wurde auf dem weiten Gelände von Dorigny am Ufer des Lac Léman das erste Gebäude eines modernen Universitätszentrums eingeweiht. Weitere Gebäude schlössen sich im Laufe der Jahre an, zuletzt (1987) ein zweites Gebäude für Humanwissenschaften. Gekrönt ist die Anlage von einem neuen Bibliotheksgebäude, dem Stolz der Universität. In der Nähe befinden sich auch die Technische Hochschule und das Eidgenössische Institut für vergleichendes Recht.

Innerhalb der Universität nahm die Entwicklung der Theologischen Fakultät einen crfrculichen Verlauf. Neben den traditionellen Hauptfächern existierte während vieler Jahre ein Lehrstuhl für Apologetik. Die Ethik, bisher mit der Dogmatik verbunden, wurde zu einer besonderen Disziplin ausgebaut, sekundiert von Lehrstühlen für Sozialethik, Religionssoziologie und Psychologie. Schließlich wurde eine Teilzeitprofessur mit der Behandlung der zwischcntestamentlichen Literatur betraut. Einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte der Fakultät bildete die 1966 erfolgte Fusion der seit 1847 bestehenden Eglise libre mit der waadtländischen Landeskirche, welche das Ende der freien Fakultät zur Folge hatte. Deren Professoren wurden dem Lehrkörper der Universität einverleibt, was während mehrerer Jahre die Doppelbesetzung der wichtigsten Lehrstühle erlaubte. 1974 konnte deswegen eine der alttestamentlichen Professuren in eine religionswissenschaftliche umgewandelt werden. Wichtig waren weiter die 1968 erfolgte Gründung eines gut eingerichteten Instituts für Bibelwissenschaften, dem 1987 ein Institut romand de théologie pastorale folgte. Eine Konvention regelt die Zusammenarbeit mit den Theologischen Fakultäten von Neuenburg und Genf. Zusammen mit der Katholischen Fakultät von ->Freiburg/Ue. organisieren alle drei Fakultäten regelmäßig Graduiertenseminare in allen theologischen Disziplinen. 1987 verließ die Fakultät die altvertrauten Räume der Ancienne Academie, im Schatten der Kathedrale, und siedelte sich in der neuen Universität Dorigny an. Gegenwärtig besteht der Lehrkörper aus acht vollzeitlichen und vier teilzeitlichen Professoren (von denen einer dazu noch mit der Leitung des Bibel-Institutes betraut ist) sowie zwei Privatdozenten, wovon einer, ein jüdischer Spezialist, rabbinische Exegese lehrt. Der Lehrkörper der Universität bestand im Wintersemester 1987/88 aus 200 vollzeitlichen und 133 teilzeitlichen Professoren. Es waren 6519 Studenten eingeschrieben (davon 1591 Ausländer). Die Theologische Fakultät war von 91 Studenten besucht (davon 11 Ausländer).

506

Lavater

Literatur Françoise Belperrin/Patrick Schaefer, Les portraits professoraux de la Salle du S é n a t , Palais d e R u m i n e , Lausanne 1987. — A n n e B i e l m a n n , Histoire de l'histoire ancienne et de l'archéologie d a n s l'Université de Lausanne, L a u s a n n e 1987. - Jean-Pierre B o r i e , Le latin à l'Académie de L a u s a n n e , du X V I e au X I X e siècle, L a u s a n n e 1987. - G i o v a n n i Busino/Pascal Bridel, L ' E c o l e de Lausanne, de Walras à Pasquale Boninsegni, L a u s a n n e 1987. - Centenaire de la Faculté de théologie de l'Eglise évangélique libre du C a n t o n de Vaud, L a u s a n n e 1 9 4 7 . - Daniel Christoff/Gabriel W i d m e r / A n d r é J e a n Voelke/Pierre J a v e t , L a philosophie dans la H a u t e E c o l e de L a u s a n n e , L a u s a n n e 1987. - E n c y clopédie vaudoise, V Les Institutions, L a u s a n n e 1974, 1 8 0 - 1 9 8 . - N a t h a l i e G a r d i o l , Le coup d ' E t a t académique du 2 décembre 1846, Lausanne 1987. - 1 5 3 7 - 1 9 8 7 : D e l'Académie à l'Université de Lausanne (Catalogue de M u s é e historique de l'Ancien Evêché), Lausanne 1 9 8 7 . - J e a n H u g l i , L ' E c o l e de pharmacie de l'Université de Lausanne, Lausanne 1973. - Louis J u n o d / H e n r y M e y l a n , L ' A c a d é m i e de Lausanne au X V I e siècle, L a u s a n n e 1947. - Henry M e y l a n , L a H a u t e E c o l e de L a u s a n n e , 1 5 3 7 - 1 9 3 5 , L a u s a n n e 2 1 9 8 6 . - J e a n François Poudret/Philippe C o n o d / J a c q u e s Haldy/Willy H e i m , L'enseignement du droit à l'Académie de L a u s a n n e aux X V I l I e et X I X e siècles, Lausanne 1987. - G u y Saudan (Hg.), L'éveil médical vaudois, 1 7 5 0 - 1 8 5 0 - Auguste T i s s o t , J e a n André Venel, M a t h i a s M a y o r , L a u s a n n e 1987. - C a t h a r i n e Saugny, L ' E c o l e de français moderne de l'Université de Lausanne, 1 8 9 2 - 1 9 8 7 , L a u s a n n e 1987. - Weitere Literatur: Encyclopédie vaudoise 12, Lausanne 1987, 1 8 6 - 1 8 8 (Bibliogr.).

Carl-A. Keller

Lavater, Johann

Kaspar

(1741-1801)

1. Leben 2. Grundzüge seines D e n k e n s sowie seine Werke Literatur S . 5 0 9 )

3 . Nachwirkungen

(Werke/

1. Leben Lavater, geboren am 15. November 1741 in Zürich, wo er seine Kindheit und Schulzcit verbrachte sowie sein Theologiestudium am Collegium Carolinum (Lehrer u.a. Johann Jakob Breitingcr) absolvierte, begab sich 1763 auf eine dreizehnmonatige Studien- und Bildungsreise nach Barth in Schwedisch-Pommern zu Probst Johann Joachim -»Spalding. Auf ihr lernte er viele bedeutende Zeitgenossen (u.a. Geliert, Gleim, Moses Mendelssohn [vgl. Moses Mendelssohn, GS VII, Stuttgart 1974], -»Klopstock) kennen, öffnete sich verstärkt aufklärerischem Gedankengut, verhielt sich jedoch gegenüber Neologic und -»Rationalismus ablehnend. 1764 in seine Vaterstadt zurückgekehrt, betätigte sich der Exspektant Lavater, der infolge des Theologenübcrschusses dort erst im Frühjahr 1769 eine Anstellung als Diakon an der Waiscnhauskirche erhielt, als Autor von Zeitschriftenbeiträgen, als religiöser Dichter und Schöpfer von z.T. sehr populären patriotischen Liedern sowie als Herausgeber (u.a. der moralischen Wochenschrift Der Erinnerer, 3 Bde., Zürich 1765/67). Im Jahre 1768 vollzog sich bei Lavater eine gewichtige theologische Umorientierung: Zum alles beherrschenden Zentrum seines Denkens und Wirkens wurde nun Christus, das Medium, durch das allein die völlig transzendent verstandene Gottheit auf Schöpfung und Menschheit einzuwirken vermag. In der Folgezeit ging es Lavater darum, diesem Fortwirken Gottes bzw. Christi in Vergangenheit und Gegenwart nachzuspüren, um so die Wahrheit des christlichen Glaubens zu verifizieren. Deshalb suchte er Kontakt zu medial veranlagten Personen (z.B. zu Catharina Helena Riedmeier, Jakob Hermann Obereits Empyräa), zu ,Wunderheilern' (z.B. zu dem katholischen Geistlichen Johann Joseph Gaßner) und zu Scharlatanen (z.B. zu Alexander von Cagliostro). Dieses Ausschauhalten nach Wahrnehmung von Christuserfahrung war begleitet von großer literarischer Produktivität, durch die übrigens seine tiefe Beziehung zur Bewegung des -»Sturm und Drang deutlich wird. Es waren insbesondere drei Publikationen, die Lavater in den Jahren von 1768 bis 1775 in nahezu ganz Europa bekannt werden ließen. Die in Briefform an Johann Georg Zimmermann konzipierten Aussichten in die Ewigkeit (3 T., Zürich 1768/1773; 4. T., Zürich 1778), wodurch er 1772 mit -»Herder in Verbindung kam; sein

Lavater

507

1771 anonym, ohne sein Wissen und seinen Willen, in Leipzig gedrucktes Geheimes Tagebuch sowie schließlich das monumentale Werk Physiognomische Fragmente (4 Bde., Leipzig/Winterthur 1775/1778; hiervon zahlreiche fremdsprachige Ausgaben, u.a. eine französische und mehrere englische). Sein großer Bekanntheitsgrad sowohl bei Aufklärern und Spätpietisten als auch bei Vertretern des Sturm und Drang trat eindrücklich während seiner triumphalen Reise zur Kur nach Bad Ems im Sommer 1774 zutage. Diese Fahrt (z.T. zusammen mit Goethe und Johannes Bernhard Basedow) hat, wie übrigens auch seine zahlreichen späteren Reisen, seinen Freundes- und Bekanntenkreis ungemein vertieft und erweitert. Ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre geriet Lavater (seit 1775 Pfarrer an der Waisenhauskirche; seit 1778 Diakon und seit 1786 Pfarrer an der Kirche zu St. Peter) immer stärker in das Kreuzfeuer der Kritik von Neologen und Rationalisten, die er allerdings auch seinerseits zunehmend stärker angegriffen hat. Sie polemisierten gegen seinen Irrationalismus, der sich für sie insbesondere in seiner Wundersucht zeigte. Daneben stießen sie sich an der exzentrischen Art seiner Selbstdarstellung, die auch für die damalige Zeit auffällig war. Sodann haben viele Spätpietisten, zu denen Lavater selbst immer wieder Distanz zu schaffen versuchte, an seinem Abweichen von traditionellen, orthodoxen Lehraussagen sowie an seiner Weltoffenheit und Kulturbcgeisterung Anstoß genommen. Im Sommer 1785 lernte Lavater auf der Reise in die Westschweiz den sog. animalischen Magnetismus in Theorie und Praxis kennen. Da er ihn als „einen wohlthätigen Strahl der Gottheit" (Staehelin III, 192) verstand, propagierte er ihn alsbald enthusiastisch, so z.B. 1786 auf seiner Reise nach Bremen. Deshalb lenkte er zahlreiche polemische Angriffe auf sich, besonders von Seiten des Berliner Aufklärers Friedrich Nicolai. Nach einer sich seit längerem abzeichnenden Entfremdung (s. Auseinandersetzung mit Lavaters Pontius Pilatus 4 Bde., [Zürich 1782/1785]), brach übrigens 1786 auch Goethe mit I.avater, als er auf seiner Italienreise dessen F.pos Nathanael (Basel 1786) las.

Seit der -»Französischen Revolution, die er anfänglich emphatisch begrüßt, aber seit dem Sturm auf die Tuilerien immer leidenschaftlicher verurteilt hat, engagierte sich Lavater verstärkt politisch, zugleich brach sich jedoch in dieser Zeit sein gesteigertes Verlangen nach unvermittelter Christuserfahrung neu Bahn (s. besonders seine Reise nach Kopenhagen im Jahre 1793 und seine skurrile Idee von dem noch auf Erden wandelnden Lieblingsjünger Johannes, vgl. Joh 21,22). Seine äußerst kritische Anteilnahme an der Entstehung der Helvetik erregte den Argwohn der Behörden; es kam 1799 deshalb zu seiner vorübergehenden Deportation nach Basel. Nach der zweiten Schlacht um Zürich wurde er von einem angetrunkenen Grenadier angeschossen; nach fünfzehnmonatigem Krankenlager starb er am 2. Januar 1801. 2. Grundzüge

seines Denkens sowie seine

Werke

Im Zentrum von Lavaters Denken und Wirken stand, zumindest seit dem Jahre 1768, die religiöse Erfahrung und zwar nicht nur die innerliche, spirituelle, sondern vor allem die äußerliche, materielle. Es ging ihm darum, das seiner Auffassung nach in der Heiligen Schrift verheißene fortdauernde Wirken Gottes bzw. Christi sinnenfällig wahrzunehmen und gleichsam experimentell zu demonstrieren. „Ich w i l l . . . Gewißheit eines Gottes, der aller seiner unendlichen Erhabenheit ungeachtet - mir Beweise seines Daseyns für mich giebt" (Brief Lavater an Martin Crugot, 24.2.1776, ZBZ, FA Lav. Ms. 556, Nr. 81). Dieses Fortwirken Gottes in Natur und Geschichte ist für ihn aber allein durch Christus, der auch bei der Schöpfung als Mittler tätig gewesen ist, möglich. Gott ist nämlich absolute Jenseitigkeit und Unfaßbarkeit eigen. Deshalb vermag Gott nicht unvermittelt, sondern nur durch Vermittlung Christi, „dieses Urphänomens, Urmenschen, Ursohns der Gottheit" (Staehelin 111,193), mit der Welt und den Menschen erhaltend und entfaltend (Wunder!) zu handeln. Christus ist aber nach Lavater auch der Ermöglichungsgrund, daß die Menschen mit Gott in Verbindung treten können. Hierbei ging er davon aus, daß grundsätzlich in allen

508

Lavater

Menschen Spuren von Kraft, Erkenntnis und Liebe - entsprechend den drei wesentlichen Eigenschaften Gottes bzw. Christi („Allmacht, Allweisheit, Allgüte") — vorhanden sind. Jeder Mensch hat demnach als das „Bild der Gottheit . . . alle Kräfte der Gottheit wenigstens verschloßen, wenigstens schlummernd und unentwickelt in sich" (Entwurf einiger Gedanken zu meinem Religionsbegriff ¡ 1785], §73, Z B Z , FA Lav. Ms. 56, Nr.4a). Insofern sich nun der Mensch dem Wirken Christi nicht verschließt, kommen die in ihm existierenden göttlichen Kräfte zur Entfaltung und Entwicklung. „Je mehr diese drey Qualitäten sich entwikeln und in gleichem Maaß entwikeln, je mehr sie durch jede Art von Entwiklung harmonisch werden, desto vollkommner ist der Mensch, das ist, desto beßer, froher, glüklicher, existenter, oder (um es noch klarer zu sagen) desto genießender und genießbarer. Denn je genießender der Mensch, desto glüklicher; je genießbarer, desto beßer; je genießender und genießbarer zugleich, desto existenter, edler, göttlicher" (Entwurf §37).

Diese Entwicklung führt schon im irdischen Leben zur Christusähnlichkcit: „Der Christ ist ein Gottmcnsch wie Christus - Nicht dem Wesen, nur dem Grade nach von Ihm verschieden" (Entwurf §33). Zum Abschluß gelangt dieser Prozeß, an dem letztcndlich alle Menschen partizipieren werden (-> Wiederbringung aller), jedoch erst in der Auferstehung. Dabei war aber Lavater davon überzeugt, daß bereits im sog. Zwischcnzustand zwischen dem Sterben des einzelnen und der Auferstehung eine weitere, allerdings die Grenzen der Vorstellung überschreitende Vervollkommnung (z. B. Ausstattung mit einem ätherischen Leib, der nicht mehr den Gesetzen von Raum und Zeit unterliegt) stattfindet. Alle diejenigen, die in einer solchcn unvermittelten Christusbeziehung stehen, d.h. „insofern sie Christum über Alles lieben und sich nach seinem Sinne bilden" (Staehelin, III, 243), sind Glieder der wahren, unsichtbaren Kirche, gleichviel welcher Konfessionskirche sie angehören. Die „rechte" Kirche ist aber nach Lavater „das Aggregat aller von Christus allein beseelten Menschen" (ebd.); ihr anzugehören ermöglicht ökumenische Haltung. Diese religiösen Vorstellungen begegnen unsystematisch in Lavaters umfangreichem Œuvre, das sich vom Theologischen (Predigten, pastoraltheologische und dogmatische Schriften, geistliche Lieder) über das Poetische, Pädagogische, Psychologische bis hin zum Politischen erstreckt. Lavaters zahlreiche poetischen Werke behandeln in dezidierter Abgrenzung gegen die Anakrcontik ausschließlich biblische Stoffe, da er letztlich nur diese für den angemessenen Gegenstand der Dichtung hielt. Hierbei lehnte er sich, wie vor allem seine religiösen Epen zeigen, im Unterschied zu dem von ihm hoch verehrten Klopstock, möglichst eng an die alt- oder neutestamentlichen Vorlagen an. Dagegen sind seine von der Forschung bislang zu wenig beachteten pädagogischen Schriften, die sich mit kinder- und jugendliterarischen sowie allgcmeinpädagogischen Problemen beschäftigen, zahlenmäßig wesentlich geringer. Allerdings ist bei einer Gesamtwürdigung des Pädagogischen bei Lavater auch sein Engagement bezüglich pädagogischer Strömungen (z.B. Basedow, Johann Heinrich Pestalozzi, Gottlieb Konrad Pfeffel, Jean-Jacques Rousseau) sowie bei Erziehungseinrichtungen (z.B. Philanthropin zu Marschlins) einzubeziehen. Hinsichtlich der physiognomischen und psychologischen Werke Lavaters sind einerseits seine programmatische Abhandlung Von der Physiognomik (Leipzig 1772) sowie seine Physiognomischen Fragmente von großer Bedeutung. Davon ausgehend, daß sich das Psychische im Physischen manifestiere, richtete er seine physiognomische Aufmerksamkeit nicht nur auf das Antlitz des Menschen, sondern auf dessen gesamtes Äußeres, von der Gestik bis zur Mimik, vom Gang bis zur Handschrift. Diese Vorstellungen haben allerdings bereits zu seinen Lebzeiten im In- und Ausland Kritik hervorgerufen (u.a. von Georg Christoph Lichtenberg, Johann Karl August Musäus). Andererseits sind Lavaters Werke mit psychoanalytischen Fragestellungen, insbesondere seine Tagebuchfragmente (besonders Geheimes Tagebuch, Leipzig 1771 und Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773), von Relevanz. Schließlich hat Lavater, vor allem während der Französischen Revolution sowie zur Zeit der Entstehung der Helvetik, auch mehrere politische Schriften verfaßt (z.B. Frey-

Lavater

509

müthige Briefe über das Deportationswesen, 2 Bde., W i n t e r t h u r 1800/01). Allerdings ist a n ihnen unübersehbar, d a ß Lavater, der trotz aller Kritik am Ancien régime diesem verhaftet geblieben ist, letztlich kein Scnsorium für d a s Politische gehabt hat. 3.

Nachwirkungen

Z u konzedieren ist, d a ß die Wirkung Lavaters zu seinen Lebzeiten zweifelsohne wesentlich stärker gewesen ist als nach seinem Tod. Sie beruhte wohl vor allem auf der Aura seiner Persönlichkeit, der man sich kaum entziehen k o n n t e (vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3. T., 14. Buch). Sie erschloß ihm einen k a u m überschaubaren Freundes- und Bekannten- sowie Verehrer- und vor allem Verehrerinnenkreis, den er durch seine zahlreichen Schriften zu einer Lesegemeinde zusammengeführt, durch persönliche Begegnungen intensiv gepflegt und durch rege Korrespondenz untereinander vernetzt hat. Im R a u m von Theologie und Kirche lassen sich direkte Nachwirkungen Lavaters vor allem in der Evangelischen Erweckungsbcwegung des 19. Jh. aufzeigen (-»Erweckung/ Erweckungsbewegungen). Deren Anhänger haben nachweislich Schriften des Zürichers gelesen und auch einzelne von ihnen zum N a c h d r u c k gebracht (z. B. Handbibel für Leidende, Winterthur 1788 u. Sammlung Christlicher Gebether, N ü r n b e r g 1801). Dadurch hat Lavater zweifelsohne der Erweckungsbcwegung gewisse theologische und frömmigkeitsgeschichtliche Impulse vermittelt. Allerdings sollte sein Einfluß auf sie nicht überschätzt werden, da man in ihren Kreisen vielfach seiner Freiheit gegenüber der kirchlichen Lehrtradition (besonders Christologie und Soteriologie), seiner Kulturfreudigkeit und seinem politischen Engagement mit Z u r ü c k h a l t u n g oder sogar Ablehnung begegnet ist. Wesentlich größer sind Lavaters Nachwirkungen in Literatur und Kunst gewesen. Hinsichtlich der Literatur läßt sich eine Rezeption seiner physiognomischen Arbeiten bei mehreren russischen (u.a. Michail Lermontov), französischen (u.a. François René Chateaubriand, Stendhal, George Sand, Charles Baudelaire sowie besonders H o n o r é de Balzac) und englischen Dichtern (u. a. Charlotte Smith u. M a t t h e w Gregory Lewis) nachweisen. Sie haben nämlich die Charaktere ihrer R o m a n - und Novcllenfigurcn teilweise nach den physiognomischen Regeln Lavaters gestaltet. Dagegen scheint man im literarischen Deutschland von diesen k a u m Gebrauch gemacht zu haben, abgesehen von E.T. Amadeus H o f f m a n n . Auch in der Kunst sind Lavaters physiognomische Vorstellungen rezipiert und bildnerisch umgesetzt worden, so bei dem französischen Maler Anne-Louis Girodet-Trioson. Im Unterschied dazu sind Lavaters N a c h w i r k u n g e n in der Geistes- und Kulturgeschichte nicht so konkret aufweisbar, obgleich sie zweifelsohne vorhanden sind. Tief eingetaucht in die Bewegung von Sturm und D r a n g und in die Vorromantik, hat er mit seiner Betonung von Gefühl und Empfindsamkeit, von Individualität und Subjektivität der Romantik und dem Frühidealismus gewisse Impulse vermittelt. Andererseits ist der Entwicklungsgedanke, den er im Z u s a m m e n h a n g seiner physiognomischen Studien über die Tier- und Menschheitsgeschichte verfolgt hat, f r u c h t b a r gewesen. Schließlich haben seine physiognomischen Ideen anregend gewirkt, so auf Wilhelm von - » H u m b o l d t . Werke Ungedruckte Quellen finden sich in zahlreichen europäischen Bibliotheken und Archiven, bes. im Familienarchiv in der Zentralbibliothek Zürich (zitiert: ZBZ, FA Lav.). Der weitaus größere Teil von Lavaters physiognomischer Sammlung mit etwa 22300 Blättern findet sich in der Porträtsammlung der österreichischen Nationalbibliothek. Werkverzeicbnis: Ein vollständiges Werkverzeichnis der gedruckten Schriften Lavaters, die zu dessen Lebzeiten erschienen sind, ist in Vorbereitung; alle wichtigeren Werke sind verzeichnet: Goedeke, IV,1,242-281.1118-1121 Werkausgaben: Johann Kaspar Lavaters ausgew. Sehr., hg.v. Johann Kaspar Orelli, 8 Bde., Zürich 1841/42. - Johann Caspar Lavaters ausgew. Werke, hg.v. Ernst Staehelin, 4 Bde., Zürich 1943 (zitiert: Staehelin).-Johann Kaspar Lavaters nachgelassene Sehr., hg. v.Georg Geßner, 5 Bde., Zürich 1801/02.

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Lavater

Werke: Zusätzlich zu den im Artikel bereits erwähnten Werken Lavaters sind u . a . zu nennen: Abraham und Isaak, Winterthur 1776. - Jesus Messias. Oder Die Evangelien u. Apostelgesch., in Gesängen, 4 Bde., [Basel] 1782/86. - Jesus Meßias, oder die Z u k u n f t des Herrn, [Zürich 1780). Joseph v. Arimathea, H a m b u r g 1794. - Predigten Ueber das Buch Jonas, 2 T., Winterthur 1773. Literatur Stuart Pratt Atkins, J . C . Lavater and Goethe. Problems of Psychology and Theology in Die Leiden des jungen Werther: PMLA 63 (1948) 520-576. - Gustav Adolf Benrath, Die Freundschaft zw. Jung-Stilling u. Lavater: Bernd Moeller/Gerhard Ruhbach (Hg.), Bleibendes im Wandel der KG. Kirchenhist. Stud., Tübingen 1973, 251-305. - Ernst Benz, Swedenborg u. Lavater. Über die rel. Grundlagen der Physiognomik: ZKG 57 (1938) 153-216. - Fritz Blanke, Bischof Sailer u. Johann Caspar Lavater. Ein Ausschnitt aus der Gesch. des ökum. Gedankens: Zwing. 9 (1952) 4 3 1 - 4 4 3 . - F r i e d r i c h Wilhelm Bodemann, Johann Caspar Lavater. Nach seinem Leben, Lehren u. Wirken darg., 2 T., Gotha 2 1877. - Ernst v. Bracken, Die Selbstbeobachtung bei Lavater. Ein Beitr. zur Gesch. der Idee der Subjektivität im 18. Jh., Münster 1932 (Universitas-Archiv 69, Phil. Abt. 10). - Otto Brandt, Lavater u. Emkendorf. Neue Briefe: Nordelbingen 5/1 (1926) 214-257. - Erich Bryner, Karamzin u. Lavater: T h Z 23 (1967) 197-205. - Hans-Heino Ewers, Johann Kaspar Lavater als Autor v. Kinderbüchern: Die Schiefertafel. Mitt. zur Vorbereitung einer Bibliogr. Alter Dt. Kinderbücher 3 (1980) 107-121. - Felix Falk, Lavaters Freundschaft mit Rijklof Michael Cuninghame v. Goens: Zwing. 7 (1941) 366-381. - Georg Finsler, Lavaters Beziehungen zu Paris in den Revolutionsjahren 1789-1795, Zürich 1898 (Neujahrsbl. zum Besten des Waisenhauses in Zürich, 61. Stück). - Julius Forssmann, J. K. Lavater u. die rel. Strömungen des 18. Jh. Versuch einer seelenkundlichen Deutung in geistesgesch. Rahmen, Riga 1935 (Abh. der Herder-Gesellschaft u. des Herder-Instituts zu Riga 5,2). - Franz Georg Friemel, Johann Michael Sailer u. das Problem der Konfession, 1972 (EThSt 29). - Heinrich Funck (Hg.), Briefwechsel zw. Hamann u. Lavater: Altpreußische Monatsschr. NF 31 (1894) 95-147. - Ders. (Hg.), Goethe u. Lavater. Briefe u. Tagebücher, Weimar 1901 (Sehr, der Goethe-Gesellschaft 16). - Ders., Lavater u. Goethe: Johann Caspar Lavater 1741-1801. Denkschr. zur hundertsten Wiederkehr seines Todestages, Zürich 1902 (Sehr. hg. v. der Stiftung v. Schnyder v. Wartensee 12), 311-351. - Georg Geßner, Johann Kaspar Lavaters Lebensbeschreibung v. seinem Tochtermann, 3 Bde., Winterthur 1802/1803. - Karl Giering, Lavater u. der junge Pestalozzi. Ihre persönlichen u. gedanklichen Beziehungen bis 1782: Pestalozzi-Stud. 3 (1932) 5 5 - 1 8 3 . - Franz Gotting, Die Christusfrage in der Freundschaft zw. Goethe u. Lavater: Goethe. NF des Jb. der GoetheGesellschaft 19 (1957) 2 8 - 4 9 . - Olivier Guinaudeau, Jean-Gaspard Lavater. Etudes sur sa vie et sa pensee jusqu'en 1786, Paris 1924. — Eduard v. der Hellen, Goethes Anteil an Lavaters physiognomischen Fragm., F r a n k f u r t / M . 1888. - Rudolf Hermann, Thcol. Fragen um Goethe u. Lavater: T h L Z 76 (1951) 577-594. - Christian Janentzky, Johann Caspar Lavater, Frauenfeld/Leipzig 1928 (Die Schweiz im dt. Geistesleben 53). - Ders., J . C . Lavaters magischer Glaube: Abh. zur Dt. Literaturgesch. Franz Muncker zum 60. Geburtstage, München 1916,65-82. - Ders., J . C . Lavaters Sturm u. Drang im Zusammenhang seines rel. Bewußtseins, Halle a.S. 1916. - Reiner Jansen, Mission oder Toleranz? Eine Kontroverse zw. Lavater u. Mendelssohn um die Frage nach der Wahrheit der Religion: Jud. 38 (1982) 9 1 - 1 0 7 . - Wilhelm Nelle, Lavater als Liederdichter: MGKK 6 (1901) 1 - 8 . Peter-Michael Nikolitsch, Diesseits u. Jenseits in Johann Caspar Lavaters Werk: „Aussichten in die Ewigkeit" 1768 - 1 7 7 4 vor dem Hintergrund seiner rel. Entwicklung - ein Beitr. zum Christologieverständnis Lavaters, Diss. theol. Bonn 1977. - Rudolf F. Paulus, Die Briefe v. Philipp Matthäus Hahn an Johann Caspar Lavater: BWKG 75 (1975) 6 1 - 8 4 . - Friedrich O t t o Pestalozzi, Joh. Caspar Lavaters Beziehungen zur Kunst u. den Künstlern, Zürich 1915 (Neujahrsbl. zum Besten des Waisenhauses in Zürich, 78. Stück). - Rudolf Pestalozzi, Lavaters Fremdenbücher, Zürich 1959 (Neujahrsbl. zum Besten des Waisenhauses in Zürich, 122. Stück). - Wolfgang Proß, Art. Lavater, Johann Caspar: NDB 13 (1982) 746-750. - Kamal Radwan, Die Sprache Lavaters im Spiegel der Geistesgesch., Göppingen 1972 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 75). - Klaus Martin Sauer, Die Predigttätigkeit Johann Kaspar Lavaters (1741-1801). Darst. u. Quellengrundlage, Zürich 1988. - Hubert Schiel, Sailer u. Lavater. Mit einer Auswahl aus ihrem Briefwechsel, Köln 1928 (Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wiss. im kath. Deutschland [Vereinsschr. 1928,1]). - Renate Schostack, Wieland u. Lavater. Beitr. zur Geistesgesch. des ausgehenden 18. Jh., Diss. phil. (masch.), Freiburg/Br. 1964. Gustav v. Schultheß-Rechberg, Lavater als rel. Persönlichkeit: Johann Caspar Lavater 1741-1801. Denkschr. zur hundertsten Wiederkehr seines Todestages, Zürich 1902 (Sehr. hg. v. der Stiftung v. Schnyder v. Wartensee 12), 151-309. - Ernst Staehelin, Die amtlichen Akten über Johann Caspar Lavaters Deportation vom Jahre 1799: ZSG 24 (1944) 5 3 1 - 5 8 0 . - T h e o d o r u s C o r n e l i s van Stockum, Lavater contra Mendelssohn 1769-1771. Verlicht rationalisme en christelijke bekeringsij-ver, Amsterdam 1953 (Mededelingen der koninklijke nederlandse akademie van wetenschapen, afd. letterkunde, nieuwe reeks 16, No. 13). - Horst Weigelt, Friedrich der Große im Urteil v. Johann Kaspar

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Lavater: Z R G G 35 (1983) 3 3 5 - 3 5 1 . - Ders., Lavater u. die Stillen im Lande - Distanz u. Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jh., Göttingen 1988 (AGP 25) (hier weitere Lit. des Verf. über Lavater). H o r s t Weigelt L a w , William 1. Leben 1.

(1686-1761) 2. Werke und Wirkung

(Quellen/Literatur S.514)

Leben

Der N o n j u r o r , Mystiker und A u t o r William L a w wurde im D o r f King's Cliffe, N o r t h a m p t o n s h i r e , England, geboren. E r hatte eine strenge, christliche und glückliche Kindheit und Jugend. 1 7 0 5 trat er in das E m m a n u e l College in C a m b r i d g e ein und erhielt 1708 sein Diplom als Bachelor of Arts; 1711 wurde er zum Fellow seines Colleges gewählt und empfing die Weihen in der Kirche von England. Als er achtzehn w a r , stellte L a w für sich selbst eine Liste mit 18 Regeln auf, nach denen er sein Leben ordnete. Sie spiegeln den zugleich puritanischen und hochkirchlichen Geist wider (vgl. T R E 1 5 , 4 1 3 - 4 1 8 ) , in dem er erzogen wurde und dem er erst in seinen späteren J a h r e n entwuchs. Typische Eintragungen lauten: „Meinem Geist tief einprägen, daß ich nur einen Auftrag zu erfüllen habe: das ewige Glück zu suchen, indem ich den Willen Gottes tue"; „Nichts Großes oder Wünschenswertes denken, denn die Welt denkt so, sondern alle Urteile über die Dinge dem Wort Gottes entnehmen und mein Leben ihm gemäß führen"; „Oft an das Leben Christi denken und es mir selbst als Maßstab vorlegen". Diese rigoristische Einstellung zum Leben wurde Law nicht nur durch die Bibel und das —»ßoofc of Common Prayer eingegeben, sondern vor allem auch durch die Nachfolge Christi von -» Thomas von Kempen, der er früh in seinem Leben begegnete und tiefe Wertschätzung entgegenbrachte. Laws religiöse Haltung und seine mittelalterliche Frömmigkeit wurden dadurch mitgeformt. In der Bibliothek in Cambridge begegnete er -»Tauler und eignete sich die dominikanisch geprägte deutsche Mystik des 14. Jh. in einem Lebensabschnitt an, in dem er noch nicht völlig gefestigt war. Dies ließ ihn später auch an Jakob -»Böhme Gefallen finden. Obwohl Law die Kraft eines Genies fehlte, wird durch -»F.ckhart seine feinfühlig affektive Natur mit seinem scharfen und suchend-rationalcn Verstand im Gleichgewicht gehalten. Nicolas de Malebranche (-»Okkasionalismus) übte hier früh großen Einfluß aus. Malebranche war ein frommer -»Oratorianer, Philosoph und Geometriker. Innerhalb des Rahmens des christlichen Piatonismus (—»Cambridge, Platoniker von) schloß er sich den frühen Auffassungen der -»Aufklärung an, und dies half ihm, seine christliche Überzeugung in einer Zeit beizubehalten, die für die Tradition bedrohlich war und den -»Deismus im Aufwind sah. Laws Integrität wurde auf die Probe gestellt, als Georg von Hannover Königin Anna aus dem Hause Stuart auf dem Thron von Großbritannien folgte. Um nicht seinen Loyalitätseid dem Hause Stuart gegenüber brechen zu müssen, trat er von seiner Stellung als Fellow 1716 zurück. 1723 erhielt er im Londoner Haus von Edward Gibbon, dem Großvater des berühmten Historikers, eine Stellung als Seelsorger und Lehrer seines Sohnes. Law wurde 1727 Priester der Nonjuror-Kirche (-»Kirche von England); im selben Jahr gründete er eine Mädchenschule in King's Cliffe. 1740 zog er nach King's Cliffe um und blieb dort bis zu seinem Tod 1761. 2. Werke

und

Wirkung

Three Letters to the Bishop of Bangor (Drei Briefe an den Bischof von Bangor, Benjamin H o a d l y ) , erschienen zwischen 1 7 1 7 und 1719, waren L a w s erste Veröffentlichungen. H o a d l y w a r ein streng überzeugter Anhänger des -»Latitudinarismus, der die N o n j u r o r s bekämpfte und bei König und Parlament in hohem Ansehen stand. Seine kirchlichen Äußerungen priesen die Aufrichtigkeit als ein Zeichen theologischer Angemessenheit, und er vertrat erastianische Auffassungen (vgl. T R E 4 , 6 8 , 3 4 f f ) über das Verhältnis von Kirche und Staat. Im literarischen Furore, das einer Predigt folgte, die mit Billigung des Königs 1 7 1 7 gedruckt wurde, zeichnen sich L a w s Letters durch Scharfsinn, Urteilskraft und Leidenschaft aus. E r verdeutlicht darin die theologische M e t h o d e , die unter Karl I. und Karl II. ihre Blüte erlebte: der Bibel volle Autorität zu geben, zur Auslegung der Bibel die frühe Kirche heranzuziehen und auf dieser Grundlage dem Verstand vollen Spielraum zu gestatten. E r verteidigt das Herzensgebet und die göttliche Autorität der Kirche.

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1723 wurde Bernard de Mandevilles The Grumbling Hive: or Knaves Turn's Honest veröffentlicht, ein brillantes, wenn auch weitausholendcs Werk, das sich mit Religion, Politik, Moral und Wirtschaft beschäftigte. Mandeville war -»Montaigne und P. -»Bayle verpflichtet, der Tradition und der Kirche gegenüber argwöhnisch und dem aufklärerischen Begriff des Verstandes zugetan. Er argumentierte, private Lasterhaftigkeit fördere das öffentliche Wohl, und aszetische Tugend sei mit den Bedürfnissen der Gesellschaft unvereinbar. Laws Remarks Upon a Book, Entitled the Fable of the Bees (Bemerkungen zu einem Buch mit dem Titel Die Bienenfabel, 1723) ist eine brillante Widerlegung Mandevilles aus christlicher Sicht. Er vertritt die Würde des Menschen, den Ursprung der Tugend in der Rationalität unserer Natur und den Glaubensakt, der für den Deisten ebenso notwendig sei wie für den Christen. Sich Auffassungen wie derer Mandevilles anzuschließen, wird „all das zerstören, was vernünftig, anständig oder schicklich in der menschlichen Natur ist."

1726 erschien die einzige ,peinliche' Veröffentlichung in Laws Leben, seine The Absolute Unlawfulness ofStage Entertainment (Die absolute Ungesetzlichkeit des Theaters). Dieses kurze Werk stützte sich auf altbekannte traditionelle, hochkirchliche und puritanische (-»Puritanismus) Quellen bei der Verurteilung von Schauspielen als bestenfalls frivol und darauf gerichtet, stets auf die falsche Bahn zu bringen und zu verderben. Ein Theologe des 17. Jh. wie J. -•Taylor konnte nuancieren, Law hingegen ist ein eingefleischter Rigorist. Er zitiert Tillotson falsch zu seinen Gunsten, druckte aber, obwohl dieser Irrtum aufgezeigt wurde, weiterhin den ursprünglichen Text, auch in Christian Perfection (Christliche Vollkommenheit, 1726), seinem nächsten veröffentlichten Schreiben. Dieses Werk und seine bekanntere Fortsetzung A Serious Call to a Devout and Holy Life (Ein ernsthafter Aufruf zu einem frommen und heiligen Leben, 1729) zeigen Law nicht als jemand, der kontrovers die christliche Wahrheit gegen ihre Angreifer verteidigt, sondern als einen Lehrer des christlichen Weges des Gebets und der sittlichen Lebensführung. Die Bücher ähneln einander, wobei sich Christian Perfection wie ein erster Entwurf des späteren Meisterwerkes liest. Er umreißt in Kürze die grundlegenden Wahrheiten des Christentums: „die beklagenswerte Verderbtheit der menschlichen Natur und ihre neue Geburt in Christus Jesus. Die eine schließt alles Elend, die andere alles Glück des Menschen ein". Nicht nur wcltlichc Ehren sind in sich selbst wertlos, sondern sittliche Tugend, Gottesdienst und Glaubensartikel sind ebenso wertlos. Es ist „ein neues Lebensprinzip und die vollständige Änderung des Gemüts, was uns zu wahren Christen macht". Um der neuen Geburt behilflich zu sein, müssen wir uns selbst abtöten. Das Schlagwort der Nonjurors, daß Christentum eine „Lehre des Kreuzes" ist, interpretiert Law nicht so sehr als Glaube an das Sühnopfer Christi denn als Nachfolge auf dem Weg des Kreuzes. Die regelmäßigen freiwilligen Abtötungen werden durch die Wunden vervollständigt, die wir im Leben erleiden und annehmen als Teil jenes Leidens für die Sünde, das wir alle ertragen müssen. Dieser Grundlage entstammt das Leben in Gott dem Heiligen Geist. Er definiert Gebet als „ernsthaften Antrieb oder Aufstieg des Herzens zu Gott als dem alleinigen Grund allen Glücks". Er empfiehlt festgesetzte Zeiten und Formen des Gebetes, da Gebet Gebet hervorbringt, aber das Herzensgebet ist der entscheidende Punkt in allem. Das Buch schließt mit einer Ermahnung, Christus nachzufolgen, und diese Nachfolge sollte unsere Lebensrcgel sein. In A Serious Call to a Devout und Holy Life behandelt er viel von dem, was er bereits in Christian Perfection gesagt hatte, nochmals, aber seine Art hier ist ruhiger, und er gebraucht kurze Darstellungen des Lebens sehr eindrücklich. „Abtötung aller Arten ist das eigentliche Leben und die Seele der Frömmigkeit." Religiöse Regeln sind nicht schwer zu tragen; denn „die Strenge dieser Regeln besteht nur in sorgfältiger RixlusJi.itfenheit ihrer Geradheit". Er empfiehlt die folgenden Gebetsstunden: am frühen Morgen: Lobpreis und Danksagung; 9 Uhr: Demut; Mittag: allgemeine Liebe und Fürbitte; 15 Uhr: Ergebung in Gott; 18 Uhr: Sündenbekenntnis und Buße; vor dem Schlafengehen: die Gewißheit des Todes. Bei der Behandlung des Gebets gibt Law einen seltenen kurzen Blick auf seine eigene Erfahrung, was uns daran erinnert, daß er selbst tat, was er lehrte. Das Buch erlebte 1816 seine 20. Auflage und gehört zu den einflußreichsten Erbauungsbüchern in der englischen Sprache. Seine Größe fließt zum großen Teil hervor aus Laws eigener Glut und Kraft des Ausdrucks. Es ist kein in sich geschlossenes Werk. Der Autor versucht, sowohl der Tradition anglikanischer Frömmigkeit zu folgen (vgl. T R E 18,349), als auch sie im Zeitalter der Vernunft zu vermitteln. Er unternimmt keinen Versuch, das Frömmigkeitsideal und -system des Book of Common Prayer in sein eigenes Schema zu übernehmen; zum Teil vielleicht, weil er um die Seele der Kirche kämpfte und wesentliche Dinge tiefer zu erkunden suchte. Rigorismus und Humanismus stehen hier Seite an Seite. In diesem Buch wirft der Wandel in seinem Denken, den wir bald kommen sehen, schon seinen Schatten voraus. Er ist der kleinkarierten Auseinandersetzungen religiöser Menschen müde und auf der Suche nach einem tieferen Grund für religiöse Uberzeugung als den, der von einer äußeren Autorität vorgegeben wird. Der Deist (-»Deismus) Matthew Tindal veröffentlichte 1730 sein Christianity as old as the

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Creation, worin er die Offenbarung verwarf und eine Religion der Vernunft vorschlug. Laws scharfsichtige Widerlegung The Case of Reason (Die Sache der Vernunft, 1731) war außer der J . -»Butlers in dessen Analogy of Religion (1736) die beste orthodoxe Antwort. Law argumentiert, daß unsere Lebenserfahrung erfüllt ist von Geheimnisvollem und daß eine Religion der Vernunft unglaubwürdig 5 ist. Weiterhin bedeuten die Transzendenz und das Mysterium Gottes, daß Glaube eine vorhersehbare Antwort auf ihn ist. Die Vernunft ist auch kein hinreichendes Werkzeug für Auseinandersetzung und Entdeckung. Wir „können nur auf uns nehmen, wissend zu sein und Philosophen auf diesen Gebieten, wenn wir uns unseres Verstandes begeben und uns selbst der Schau und Vorstellungskraft überlassen."

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Ungefähr zu dieser Zeit traf Law auf das Schrifttum von Jakob -»Böhme, was für ihn einen neuen Abschnitt seines Lebens bedeuten sollte. Es ließ ihn zunächst „schweißgebadet" zurück. Böhmes System schien für Law deutlich Fragen zu beantworten, die der Orthodoxie von den Rationalisten und Empirikern seiner Zeit gestellt wurden. Seine außerordentlich große Vertrautheit mit den gefühlsbestimmt mystischen Autoren auf dem Kontinent versetzte ihn in die Lage, seinem neuen Vorbild Sympathie entgegenzubringen. In seiner eigenen schriftstellerischen Arbeit vermeidet Law zumindest die eher theosophischen Elemente in Böhmes Lehre und dessen astrologisches Vokabular. Möglicherweise betrachtete er die ersteren als angemessenes Studium für die wenigen Aufgeklärten, die letzteren jedoch als eine Form des Verständnisses, die Böhmes Zeit mehr angemessen sei als seiner eigenen. Die Brüder Wesley besuchten Law zum ersten Mal 1732. Zeitweise war er ihr Mentor, vor allem für John. Kurz vor und nach John -»Wesleys evangelikaler „Bekehrung" im Mai 1738 wurden drei Briefe zwischen Wesley und Law ausgetauscht, in denen Wesley Law dafür Vorwürfe machte, daß er ihn so unvollkommen geleitet habe, und er ihn fragte, ob Law ein wirklicher Christ sei. Law verteidigte sich selbst überlegen, aber ruhig. Der Bruch zwischen beiden Männern wurde nie geheilt. Laws Schriften ab dieser Zeit zeigen den wachsenden Einfluß von Böhme. In A Demonstration of the Errors of a Piain Account, etc. (Eine Darlegung der Irrtümer eines schlichten Berichts, usw.) widerlegte er die rcduktionistischc Lehre einer anonymen Schrift über die Eucharistie, die 1735 veröffentlicht worden war. Laws Argumentation bewegt sich in der Tradition von L. -»Andrewes und J . -»Taylor unter Betonung der intuitiven Erkenntnis Gottes und der neuen Geburt in Christus. Christian Regeneration (Christliche Wiedergeburt, 1739) bietet eine Zusammenfassung der christlichen Religion von seinem neuen Standpunkt aus. 1740 publizierte er zwei Schriften gegen Dr. Trapp, einen Latitudinarier, und The Appeal, etc. (Der Ruf, usw.), in dem er wiederum die Art seiner neuen Überzeugung aufzeigt. Böhmes Einfluß ist noch offensichtlicher. Gott ist „eine allsprechende, allwirkende, allerleuchtende Wesenheit". Lehrmäßig ist die Emanation der Schöpfung ex nihilo vorzuziehen. Literarisch folgten neun Jahre des Schweigens, während derer Law sein neues Verständnis der christlichen Religion noch voller zu beherrschen lernte und noch tiefer in die Erfahrung Gottes eintrat. Es gibt Stetigkeit wie auch Wandel im Verhältnis zum früheren Verständnis. Er bleibt ein orthodoxer Christ mit mystischen und gnostischen Tendenzen und einer Affinität zu den -»Quäkern. 1749/50 wurde The Spirit ofPrayer (Der Geist des Gebets) in zwei Teilen veröffentlicht, 1752 The Way to Divine Knowledge (Der Weg zu göttlicher Erkenntnis) und 1752—54 The Spirit of Love (Der Geist der Liebe) in zwei Teilen. Dies letztgenannte Werk ist wahrscheinlich Laws bedeutendste Schrift. Die Erwähnung mystischer Vereinigung in ihr bezieht sich höchstwahrscheinlich auf seine eigene Erfahrung. Mit Ausnahme von A Confutation of Dr Warburton's Divine Legation (Eine Widerlegung von Dr. Warburtons Göttlicher Gesandtschaft, 1757) sind Laws übrige Publikationen nicht besonders erwähnenswert. Der literarische Stil der Schriften Laws ist hervorragend. Er ändert sich mit seiner Uberzeugung. Klarheit, Lebhaftigkeit und Kraft verschmelzen zu einer subtileren Prosa mit Bildern von hohem Empfindungsvermögen.

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Quellen T h e Works o f the Reverend William L a w , Cambridge, hg. v. G . M o r c t o n , 9 Bde., London 1 8 9 2 - 1 8 9 3 (Reprint: Anglistica and Americana 146, New York 1974). - Selected Writings, hg.v. Stephen H o b h o u s e , London 1942. — Liberal and Mystical Writings of William Law, with an Introduction by W. S. Palmer, London 1908. - Richard Parkinson (Hg.), T h e Private J o u r n a l and Literary R e m a i n s of J o h n Byrom, 2 Bde., M a n c h e s t e r 1 8 5 4 - 1 8 5 7 ( T h e Chetham Society 32.34.40.44). Literatur Eric W. Baker, A Herald of the Evangelical Revival. A critical inquiry into the relation of William Law to J o h n Wesley and the beginnings o f M e t h o d i s m , London 1948. — J . Brazier Green, John Wesley and William L a w , London 1945. - Stephen Henry H o b h o u s e , William Law and Eighteenth Century Quakerism, London 1927. - Arthur W. H o p k i n s o n , About William Law. A running commentary on his works, London 1948. - J o h n Hoyles, T h e Edges of Augustinianism. T h e aesthetics of spirituality in T h o m a s Ken, J o h n Byrom and William Law, T h e Hague 1972 (International Archives of the History o f Ideas 53). - Conrad M i n k n e r , Die Stufenfolge des mystischen Erlebnisses bei William Law . . . , München 1939. - J o h n Henry Overton, William I.aw, nonjuror and mystic. A sketch of his life, character and opinions, London 1881. - Erwin Paul Rudolph, A Study of the Religious T h o u g h t of William L a w , 1 6 8 6 - 1 7 6 1 , Diss., Urbana, 111. 1 9 6 2 . - M a r i o Sina, William Law. Il rifuto della reason nel secolo dei lumi, Rendiconti di Instituto L o m b a r d o di Scienze e Lettere, M a i l a n d 1972, 1 5 0 - 1 8 4 . - Henri Antoine Talon, William L a w . A Study in Literary Craftmanship, London 1953. - Richard Tighe, A Short Account of the Life and Writings o f the Late Rev. William Law, London 1813. - Arthur Keith Walker, William Law. His Life and T h o u g h t , London 1973. - C. Walton, Notes and Materials for an Adequate Biography of William Law, London 1854.

Arthur Keith Walker

Lazaristen ->Orden Lea/Leastämme —»Geschichte Israels Leben I. II. III. IV. V. VI.

Religionsgeschichtlich Altes Testament Judentum Neues Testament Historisch/Systematisch Praktisch-theologisch

520 524 526 530 561

I. Religionsgeschichtlich 1. Die Stammesreligionen

1. Die

2. Griechentum

3. Indische Religionen

4. Islam

(Literatur S. 520)

Stammesreligionen

Da die Stammesreligionen (—»Religion der Naturvölker) die Basis aller Religionen bilden, diese durchdringen und bestimmen, ist es notwendig, sie zuerst auf den Lebensbegriff hin zu befragen, denn nur vor diesem Hintergrund wird der der Weltreligionen in seiner jeweiligen Ausprägung verständlich. Es ist das Verdienst des belgischen Priesters P. Tempels, als erster die afrikanischen Religionen, die hier exemplarisch herausgegriffen werden, auf ihre innere Kohärenz, auf ihr „Metazentrum" hin untersucht zu haben. Er findet es im Begriff der „Lebenskraft", den allerdings schon B. Ankermann in seiner Darstellung der Religionen der Naturvölker eingeführt hatte, und interpretiert ihn im Sinne der thomistischen Ontologie als Sein. Sein ist Lebenskraft. Auch wenn Tempels darin verschiedene Nachfolger, auch unter afrikanischen Forschern, gefunden hat (Kagame u. a.), so muß sein Ansatz heute der dynamistischen Kategorien entkleidet werden, da sie sich als Engführung erwiesen haben. Es empfiehlt sich, den allgemeineren Begriff „Leben" zu verwenden und in ihm den eigentlichen Nerv aller Religiosität zu sehen. Das

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hat schon früh D. Westermann erkannt: „Leben ist die große Sache, die zählt. Das Leben zu erhalten, ist das wirkliche Ziel allen religiösen Tuns" (Westermann 80). Leben ist in den Stammesreligionen jedoch nicht Gegenstand der Reflexion, sondern der Erfahrung. Deshalb muß man vom rituellen Umgang auf die Sache selbst schließen. Folgende Charakteristika lassen sich erschließen: 1.1. Kontinuität: Das Leben ist letztlich eines-. Es wird vom Vater resp. in mutterrechtlichen Gesellschaften von der Mutter auf den Sohn vererbt. Jede Generation ist nur ein Glied in einer unendlich langen Kette, deren Anfang im Dunkeln liegt, bei dem von Gott geschaffenen Urahn. Das Leben kann, aber es darf nicht aufhören. Die für das Abendland kennzeichnende Vorstellung von der Begrenztheit des Lebens, aus der heraus man auf Einmaligkeit schließt, kennen die afrikanischen Religionen nicht. Unwiderruflichkeit und Einmaligkeit sind keine Kennzeichen des Lebens. Dem Leben des einzelnen kommt deshalb auch nicht ein unendlicher Wert zu. Es muß nicht jeder ihm einen unverwechselbaren Sinn verleihen. Der Mensch weiß, woher sein Leben kommt und daß es eingebettet ist in einen Lebensstrom, der in seiner Familie, in seinem Stamm Gestalt bekommen hat. Der einzelne ist nichts als Empfänger des Lebens und ist verpflichtet, es weiterzugeben. Wer dem nicht nachkommt, vergeht sich am Leben der Gemeinschaft. Kinderlosigkeit ist in diesem Kontext nicht nur eine Familientragödie, sondern Verfehlung. 1.2. Wiederholung. Wo der ->Tod Endlichkeit aussagt, gewinnt er ein beherrschendes Gewicht, denn Leben wird Sein zum Tode. Wenn jedoch das Leben nicht als unwiederbringlich und irreversibel angesehen wird und wiederholt werden kann, verliert der Tod ein wenig an Schrecken. Im Ahnenglauben findet der Gedanke der Wiederholung seinen zureichenden Grund und seine Plausibilität. Der Verstorbene lebt im Reich der Ahnen, das im großen und ganzen als Fortsetzung der irdischen Verhältnisse angesehen wird, wobei die Ahnen einerseits mächtiger sind, weil sie näher bei Gott leben, andererseits schwächer, denn sie sind auf das Gedenken und die Opfer der Nachkommen angewiesen. Der Tod nimmt ihnen nicht die Verpflichtung, ihren Nachkommen zu helfen, so daß durch diese ihr eigenes Leben fortgesetzt wird. Die Lebend-Toten (Mbiti) sind Garanten der Fruchtbarkeit. Nach der Vorstellung einiger Stämme, zumal in Westafrika, können sie auch „wiederkommen", was aber nicht im Sinne des ostasiatischen Reinkarnationsgedankens zu verstehen ist. 1.3. Kommunalität. Weil es das Leben der Gemeinschaft gibt, gibt es den einzelnen. „Weil wir sind, bin ich", formuliert J. S. Mbiti diesen Sachverhalt. Den einzelnen gibt es nur, sofern er Mitglied einer Gruppe ist. Der Mensch ist ujamaa, Familie, heißt es in Tanzania. „Der Mensch wird Mensch durch den Menschen" lautet ein im südlichen Afrika verbreitetes Sprichwort. Der einzelne steht für die Gemeinschaft, aber im Leben des einzelnen ist auch das Ganze präsent. Nginguzulu meint beides: „Ich bin ein Zulu" und „Ich bin das Zuluvolk", sein Repräsentant (Asmus 191). 1.4. Das Leben ist durch lnterdependenz gekennzeichnet. Mensch, Tier und Umwelt leben in einem Austausch der Kräfte, der als gegenseitige Abhängigkeit zu beschreiben ist. Die lnterdependenz ist mehr als die ökonomische Verflochtenheit aller, die die moderne Gesellschaft bestimmt. Das Leben des einzelnen, sein Glück und Unglück, das Wohlwollen und der Neid der anderen haben Auswirkungen auf das Wohl und Wehe der ganzen Gemeinschaft und die Fruchtbarkeit des Feldes. Ist das Jagdglück dem Dorf nicht hold, fragt man danach, wo Unfrieden herrscht, und sucht den ausfindig zu machen, der die Ursache des Unfriedens und damit des Mißerfolges der Jagd ist. lnterdependenz konkretisiert sich im Einzelergehen als Partizipation. Bestimmte Menschen haben aufgrund ihrer Stellung und ihres Berufes an besonderen Kräften teil, manche Gruppen leben in lnterdependenz zu bestimmten Tieren, Pflanzen und Orten (Totemismus). Aus diesem Partizipationsgedanken resultiert ein Verhältnis zur Umwelt, das nicht in Beherrschung umschlagen und zur Ausbeutung der Natur führen kann, sondern Anpassung erfordert, weil man sich als Teil des Ganzen versteht. Levy-Bruhl hat dieses Verhältnis als „mystische Teilha-

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be" bestimmt, ein Begriff, der die Sache mehr verdunkelt als erklärt, weil er den Gedanken der Beliebigkeit impliziert. Die Partizipation unterliegt genau erkennbaren Gesetzen, die sich als Analogien zum Menschen und seinem Körper bestimmen lassen (Sundcrmeier 41 ff). 1.5. Potentialität. Das Leben ist auf Steigerung angelegt. Im Wachsen, in der Vermehrung der Kräfte wird der Lebenssinn greifbar. Hier wird das vitale Leben zur Feier des Daseins. Es gibt eine Hierarchie der Kräfte. Sie spiegelt sich in der hierarchischen Gliederung der afrikanischen Gesellschaften wider (das gilt für vaterrechtlich wie mutterrechtlich orientierte Ethnien in gleicher Weise) und in der Beziehung von Mensch und Tier. An der Spitze steht Gott, der aus sich selbst hervorging, von dem alles, was ist, sein Leben hat und von dem alle Kräfte kommen. Darunter sind die Gottheiten, die Ahnen und Geister. So geht die Skala hinunter zu den Tieren und Pflanzen. In der Mitte der Pyramide steht der Mensch, der verpflichtet ist, sein Leben diesen Kräften einzufügen und sie zugleich zum Wohlsein der Gemeinschaft zu nutzen. Wie ein Baumstamm Jahr für Jahr stärker wird, so ist der Mensch dazu bestimmt, das Leben stetig zu mehren. Haben die Großeltern am Ende ihres Lebens eine Schar Enkelkinder auf dem Schoß gesehen, war ihr Leben nicht vergebens, hat sich der Sinn ihres Lebens erfüllt, wird ihr Sterben ein guter Tod sein. 1.6. Ambivalenz und Eindeutigkeit. Das Leben ist nicht eindeutig. Es gibt gutes und böses Leben. Die Ambivalenz liegt in der Möglichkeit begründet, die Kräfte der Welt zu mißbrauchen und sie gegen den Menschen zu wenden, aus Neid oder im Zorn. Darum muß es in die Eindeutigkeit der Vergewisserung überführt werden. Es ist das Wort, das diese Eindeutigkeit bewirkt, und der Ritus, der sie verstärkt. „Das Wort hat Macht in Afrika", sagt verschiedentlich L. Senghor. Indem das Wort benennt, wird die Vieldeutigkeit des Lebens in Eindeutigkeit verändert, wird Ambivalenz zur Gewißheit. Weil es an der Wirklichkeit partizipiert, wirkt das Wort. Auch das Wort kommt von Gott. Bei den Dogon in Mali wird es als das Schöpferwort „Sohn Gottes" genannt. Das gute, am hellen Tag gesprochene Wort wirkt Leben, das bei der Nacht geschriene stört den Frieden der Menschen, es durchschneidet die harmonische Interdependenz der Kräfte, man darf ihm nicht stattgeben. Der Ritus verleiblicht das gesprochene Wort, er macht es wiederholbar und verleiht ihm Dauer. Leben gibt es nur angesichts des Todes. Das wissen auch die Stammesreligionen. Doch weil sie von der ununterbrochenen Einheit des Lebens überzeugt sind, das nicht von einem Ziel herkommt und nicht auf ein scharf ausgegrenztes Ziel hinsteuert, sondern eher wie eine Spirale sich um die Jetztzeit dreht und in der jetzt lebenden Generation sein Zentrum hat, wird über das Leben nach dem Tode kaum reflektiert. Den Tod gilt es abzuwehren, nicht ihn zu bedenken. Fülle des Lebens jetzt, das ist der Kern aller Stammesreligionen. (Zu parallelen Vorstellungen bei den Germanen vgl. Grönbech 5 5 5 - 5 6 6 . ) 2.

Griechentum

Wie stark das frühe Griechentum von einer ähnlichen Auffassung des Lebens geprägt ist wie die Stammesreligionen, wird noch bei Homer deutlich, obwohl seine religiösen Vorstellungen die der feudalen städtischen Oberschicht widerspiegeln. Das Leben der Menschen ist von Gegensätzen bestimmt, von Frieden und Krieg, Gesundheit und Krankheit, Ehre und Unehre, von Reichtum und Unglück. Das Leben ist vergänglich, dennoch ist es allein dieses Leben, das zählt. „Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus. Lieber möchte ich fürwahr dem unbegüterten Meier, Der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun, Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen" (Odyssee X I , 4 8 9 f , Voß).

Das Leben im Jenseits ist zwar die Fortsetzung des hiesigen Lebens, aber es ist ein

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Schattendasein, die Seelen dort „Masken der Müden" (Ilias XXIII, 72; Odyssee XXIV, 14). Es ist die Entdeckung des Individuums im 7. und 6. vorchristlichen Jh., die eine stärkere Betonung der Seelenvorstellung hervorruft, die zusammen mit der Bevorzugung des Jenseits in den Mysterien auch die Lebensvorstellung radikal verändert ( - • Mysterien/Mysterienreligionen). Die Seele wird als unsterblich angesehen. Dadurch gewinnt das Leben nach dem Tode an Bedeutung, was zugleich eine Abwertung des irdischen Lebens zur Folge hat und die Ethik verändert. Antigones Grundsatz „Ich muß den Göttern unten länger gefallen als jenen hier oben" (Sophocles, Antigone 74 f) zeigt den großen Wandel an. Man hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Entdeckung des Individuums Hand in Hand geht mit einem weitgehenden Verlust der intakten Landwirtschaft und der Konzentration der entwurzelten Landarbeiter und Handwerker in den Großstädten. Das Leben des Menschen ist nicht mehr aufgehoben in der Familienreligion, seine eigene Bestimmung geht nicht mehr auf in der der Familie. Er fällt aus ihr heraus - und das hieß nach damaliger Überzeugung, daß er wie die Sklaven und Fremdlinge auch im Tode unbehaust und ohne Fortexistenz aus dem „sozialen Gedächtnis" herausgefallen ist (B. Gladigow: Stephenson 121 f). Der Mensch wird zum Individuum, die Psyche zum Symbol des eigentlichen Lebens (vgl. B. Uhde: Stephenson 103-118). Körper und Seele treten auseinander. Die Psyche wird auf Kosten des Körpers aufgewertet. Dieser ist „eher wegzuwerfen als Mist", lautet eines der Heraklit zugeschriebenen Urteile (B 96, Uhde: Stephenson 117). Die unsterbliche Seele als Repräsentantin des Lebens ist göttlichen Ursprungs und geht einem Ziel entgegen, das eine Alternative zum gegenwärtigen Leben darstellt. Das Elysium wird wie ein Garten, eine Parklandschaft vorgestellt, das Gegenbild zur vereinsamenden und elenden Enge der Polis. Sich auf sich selbst und sein Leben zu konzentrieren, wird zum Lebenszweck. Der Individualismus wird geboren (Gladigow, Jenseitsvorstellungen 306). Es sind die Mysterien, die dem einzelnen eine neue Gruppenzugehörigkeit bieten, die nicht mehr auf Familie und Herkunft beruht, sondern jedem, selbst dem Sklaven, die Möglichkeit bieten, durch Initiation und Reinigungsriten am wahren Leben teilzunehmen. Hier in den Mysterien wird die Idee von der Gleichheit des Lebens aller Menschen geboren, allerdings als „eschatologisches Konzept", „begrenzt freilich auf die Eingeweihten. Vor der strikten Bindung aller ,Leistungen' der Mysterien an die Einweihung waren alle gleich, Sklaven, Freie, Bürger, Nichtbürger, Männer und Frauen" (Gladigow: Stephenson 124). 3. Indische

Religionen

Im indischen Denken hat das Leben als solches keinen Wert. Das hat einerseits seinen Grund in der zeitlichen Erstreckung, wie sie durch die Lehre von der Wiederkehr aller Lebewesen bedingt ist, andererseits in der Entwertung des Daseins aufgrund des TatFolge-Zusammenhangs, der in der Karma-Lehre seinen schwermütigsten Ausdruck gefunden hat. Das physikalische Gesetz der Kausalität wird rigoros auf das Seelenleben angewandt. Jede Tat ist wirksam. Eine gute Tat hat gute Folgen, die böse hat schlimme Folgen und bewirkt schon zu Lebzeiten in der nächsten oder einer der folgenden Wiedergeburten eine Verschlechterung der Existenzform. Leben ist nichts anderes als eine unheilvoll geprägte, tiefe Verstrickung in den Kreislauf von Werden und Vergehen, der seine Kraft aus dem Nichtwissen zieht. Weil der Mensch um diese Zusammenhänge nicht weiß, gibt er dem Drängen des Lebens nach und verstrickt sich dadurch immer tiefer in den Kreislauf der Wiedergeburten. Die Gier wird zum eigentlichen Motor des Lebens. Wer den leidvollen Zusammenhang erkannt hat, wird sich vom Leben abwenden, nicht indem er es tötet - das wäre ja nur eine Verlängerung nach vorne - sondern indem er die Gier überwindet. Die indische Religiosität steht nicht unter Zeitdruck. Die Lebensspanne ist nicht kurz, sondern unendlich lang. Nicht Selbstverwirklichung des einmaligen Lebens steht auf dem Lebensplan, sondern „Entselbung". Gleichmut ist nötig, der die Zeitlosigkeit existentiell

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widerspiegelt und sich nicht dem Zwang der sogenannten Lebensverwirklichung unterwirft, die doch in den Bereich des Scheins (mäyä) gehört. Diese Grundeinstellung im -* Hinduismus wird durch das Kastensystem qualifiziert. Es begrenzt auf seine Weise die dem Karmagesetz inhärente Tendenz, alle Menschen als gleich anzusehen, denn das Karmagesetz ist wertneutral, kennt weder Bevorzugung noch Benachteiligung, sondern nur die unerbittliche Sequenz von Tat und Folge. Die Kaste verändert diesen Grundsatz: Nur innerhalb der Kaste ist Gleichheit angesagt, und nur durch strikte Einfügung in ihre Gesetze ist der Aufstieg in höhere Kasten möglich. Ein innerer Widerspruch tut sich auf. Einerseits soll das Leben überwunden werden, da es den Menschen im Schein des Lebens festhält und damit in der Wiedergeburtskette, andererseits sucht es Leistung, damit ein schöneres Leben in einer besseren Existenz erreicht wird. Hier halten sich offenbar Vorstellungen der in den indischen Religionen auch sonst erkennbaren und in den Riten wirksamen Elemente der vorvedischen Zeit der Stammesreligionen durch. Das gilt auch für den -*Buddhismus, der in seinem Siegeszug durch die Länder und im Prozeß der Indigenisierung jeweils vorbuddhistische Elemente der Stammesreligionen aufnahm und in das eigene System inkorporierte, so daß sich bis heute in Sri Lanka, Thailand und Birma Fruchtbarkeitsriten, die der Lebenssteigerung und Schutzzeremonien, die der Bewahrung des Lebens dienen, sowie Riten der Ahnenverehrung allergrößter Beliebtheit erfreuen und von den Mönchen, trotz ihres der Lehre Buddhas konträren Charakters, als genuine buddhistische Feste interpretiert werden (cf. Tambiah, de Silva, u.a.). Buddha selbst machte die Lehre vom Kausalzusammenhang von Tat und Folge zum Zentrum seiner Lehre (Pratityasamutpäda). Er radikalisiert sie insofern, als er dem Individuum auch die letzte bleibende Identität absprach und das „Selbst" negierte (ati-ätman), an dem dem Hinduismus deshalb gelegen ist, weil es göttlichen Ursprungs ist und der Erlösung bedarf. Für Buddha gibt es letztlich nur Taten und ihre Folgen, nicht mehr das Selbst (Ich) des Täters. Die logischen Schwierigkeiten, die sich daraus für die Erlösungslehre ergeben, sind groß, doch Buddha zieht seinen Ansatz konsequent zu Ende. Der Lebensbegriff muß jetzt zerfallen. Leben gibt es nicht als konstituierendes Element des Daseins, sondern wird als Leiden begriffen. Leiden ist im Buddhismus kein analytischer Begriff und wird nicht durch Erfahrungen gewonnen, sondern meint im tiefen Sinne Vergänglichkeit (anikya). Es gibt nur ein rasend schnelles Aneinanderreihen der fünf Daseinsfaktoren (skandhas) Körperlichkeit, Empfindung und Gefühle, Vorstellungen und Wahrnehmungen, Willensakte und Betätigungen, Bewußtsein. Sie erwecken den Schein von Dasein und Leben, so wie in einem Film die Bilder aneinandergereiht werden und den Eindruck von bewegtem Leben vermitteln. Im buddhistischen Bild gesprochen: So wie wir den wechselnden Flammen den Namen „ F e u e r " geben, oder den aus Rädern, Deichsel und Brettern zusammengesetzten Gegenstand „ W a g e n " nennen, ohne daß es den Wagen als solchen gibt, so benennen wir als „ L e b e n " , „ D a s e i n " und „Wesen", was doch der Meditierende und Einsichtige als reine Bewegung, als sich durch Gier und Lebenswillen fortzeugende Vergänglichkeit erkennt. Der Mensch hat die Aufgabe, diesen Zusammenhang zu durchschauen, um sich vom Spiel der Materie, durch das er zu Begriffen von „ I c h " und „ M e i n " kommt, zu befreien. Im -»Hinduismus lernt er, daß letztlich das individuelle und absolute Selbst identisch sind. In der Nachfolge Buddhas erkennt er, daß selbst dies noch eine Täuschung ist, weil es kein absolutes Selbst gibt, sondern nur die Unterbrechung von Werden, Vergehen und Wieder-Entstehen. Dennoch gibt es ein „Nichtgeborenes, Nichtgewordenes, ein Nichtgemachtes, ein Nichtbedingtes" (Udäna VIII), das Nirväna, der „leere" Raum (akäsa), der von allem Bedingten unabhängig ist, die Ruhe schlechthin, die absolute Leere, die doch zugleich „ein selig Seiendes" genannt werden kann, (v. Glasenapp 72), das Ziel eines jeden Lebewesens, das allein seiner Seligkeit und seines „ G l ü c k e s " Schmied ist. O b damit ein Heilsegoismus vorprogrammiert ist, ist umstritten. Fraglos aber verän-

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dert sich durch die Wiedergeburtslehre und die Bestimmung der Welt als Schein (mäyä) die Vorstellung von Gut und Böse, von Moral und Unmoral. Da es keinen absoluten Gesetzgeber und keine Instanz gibt, die Rechenschaft fordert, gibt es auch keine Schuld, Sünde und Vergebung, sondern nur Befleckung, Verschmutzung der Seele, die das Bewußtsein trübt, und den Menschen immer stärker an die Materie und das Leben bindet, statt sein Erkenntnisvermögen zu steigern durch Loslösung vom materiellen Leben. Die gute Tat orientiert sich somit nicht am anderen, am Mitmenschen, ihr geht es nicht darum, die Bedingungen seines Lebens zu verbessern, sondern nur darum, daß ich mich selbst lösen kann. Die wertneutrale Tat ist das Ziel, weil sei kein weiteres karman „produziert". Gleichmut schneidet ab von allen Bindungen und Emotionen. „ N u r die moralisch neutrale Tat bringt den Impuls zur Wiedergeburt allmählich zum Verebben. Daher ist Indifferenz gegenüber Subjekt und Objekt das eigentliche Ziel, eine Indifferenz, die sich in jeder Lebenslage und in jeder sozialen Situation üben läßt" (v. Stietencron: Gladigow, Religion 135). Wie angesichts der Lehre von der „Leere" (sünyatä, jap. mu) und der Ichlosigkeit anatta, muga) auch die Vorstellung von „ T o d " und „Leben" zusammenfallen und austauschbare Begriffe werden können und eine neue (ästhetische) Lebensbejahung gewonnen wird, dafür ist der Zen-Buddhismus ein überzeugendes Beispiel (Kohler: Stephenson 317-332). 4. Islam Der -»Islam versteht sich als Erbe des jüdischen und christlichen Glaubens. Dadurch aber, daß Mohammed die vorislamischen mckkanischen Traditionen und Riten in seinen Kult aufgenommen und abrahamitisch-hcilsgeschichtlich neu interpretiert hat, hat er die Primalreligionen mit ihrer intensiven Lebensbejahung beerbt, so daß in der islamischen Frömmigkeit beides in gleicher Weise betont werden kann, die Bedeutung des Lebens hier und nach dem Tode. Der Mensch ist als Geschöpf Gottes, von dem alles, auch Leben und Tod, kommt (Sure 30,19; 67,2; 36,77), hineingesetzt in eine lineare Geschichte, die mit Adam, dem ersten von Gott geschaffenen Menschen, ihren Beginn nahm und im letzten Gericht, da jedermann vor dem ewigen Richter erscheinen wird, ihr Ende findet. Dieses lineare Zeitverständnis gibt dem Leben des einzelnen einen einmaligen, unwicderholbaren Wert und legt ihm eine unendliche Verantwortung für die Lebensgestaltung auf. Leben wird zur Entscheidung für den Glauben und seine Bewährung. Einen weltlichen oder neutralen Bereich außerhalb des Wirkungsbereiches Gottes und seiner Gebote gibt es nicht. Das ganze Leben ist unmittelbar zu Gott, und alles was der Mensch tut, muß vor ihm verantwortet werden. Eine Mißachtung des Lebens gälte als Mißachtung der Gabe des Schöpfers, ja des Schöpfers selbst. Das Leben ist die fundamentale Gabe Gottes, der den Menschen das Gute, die Güter dieser Erde gönnt. Man muß sich des Glückes (arab. arad = Glücksgüter, Sure 7,32) nicht schämen, sondern darf sie erbitten und sich ihrer erfreuen, wenn Gott sie den Gläubigen gewährt. Aber sie müssen verantwortlich gebraucht werden, denn ihr Sinn weist zugleich über sie hinaus, er liegt im Jenseits. Nach dem Tode findet keine Umkehrung der Werte und des Lebens statt, sondern es besteht eine direkte Kontinuität. Das Leben im Paradies ist eine Steigerung des schönen Lebens hier. „Gewähre uns, Herr, die guten Dinge in dieser Welt und die guten Dinge in der kommenden, und rette uns vom Feuer der Hölle", ist eines der am meisten gesprochenen Gebete der Muslime. Auch wenn es keine Abwertung des vitalen Lebens im Islam geben kann, eine Qualifizierung findet angesichts des kommenden Gerichts und Lebens dennoch statt. Die schönen Güter sind nur zum „Nießbrauch des Lebens" (Sure 3, 14/12 [Ubers. Hennig], vgl. Sure 57,20). Der Mensch muß sich hüten, sie als das Höchste anzusehen, so daß sie ihn verführen und vom Gedanken an das jenseitige Leben ablenken (Sure 18 : 104). „Spiel und Zerstreuung" kann das Leben hier dann angesichts des wahren Lebens genannt werden (Sure 29, 64; 57, 20). Das höchste aller Güter ist das Leben also nicht. „Auf dem Wege Gottes" (jihad) soll man bereit sein, es Gott zur Verfügung zu stellen (Sure

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L e b e n II

9 , 3 8 ) . W e r a u f d i e s e m W e g e g e h t , s t i r b t a l s M ä r t y r e r ( „ Z e u g e " , shahid),

d e m sich die T o r e

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Sundermeier

II. A l t e s T e s t a m e n t 1. Befund Schwurformel 1.

2. Z u r Lebenslänge 7. Volk 8. R e c h t

3. Füllung 4. G e b o t , Weisheit 5. M e t a p h e r n 6. G o t t , 9. Leben der Auferstehung 10. Fazit (Literatur S. 5 2 4 )

Befund

N e b e n d e r W u r z e l hjj ( N o m e n u n d A d j e k t i v ha), v o r a l l e m nxpxs s e n " ( v g l . rü'h)

hajftm,

mihjah,

V e r b häjäh)

i m S i n n e v o n i n d i v i d u i e r t e m L e b e n u n d e n t f e r n t e r n'sämäh

hat m a n „Lebewe-

z u b e r ü c k s i c h t i g e n . D i e s e h r z a h l r e i c h e n B e l e g e (s. j e T h W A T ,

THAT)

a t t e s t i e r e n L e b e n n u r M e n s c h e n u n d T i e r e n , n i c h t P f l a n z e n . D i e s ist u m s o a u f f ä l l i g e r , a l s der übertragene G e b r a u c h sagen kann: eine Stadt oder M a u e r aufleben lassen I C h r 11,8; N e h 3 , 3 4 ; G e t r e i d e w a c h s e n lassen H o s 14,8; als M e t a p h e r „ l e b e n d i g e s " W a s s e r =

flie-

ß e n d e s g e g e n ü b e r d e m v o n Z i s t e r n e n L e v 1 4 , 5 f . 5 0 - 5 2 ; 1 5 , 1 3 ; N u m 1 9 , 1 7 - e s soll in d e r Endzeit von J e r u s a l e m ausgehen Sach 14,8, ja J a h w e wird mit ihm im Verhältnis zu den Götzen

charakterisiert

Jer

2,13;

17,13;

schließlich

wildwachsendes

Fleisch

Lev

1 3 , 1 0 . 1 4 - 1 6 . „Es scheint also, d a ß hinter diesen Verwendungen der Begriff der Beweglichkeit, d e r A k t i v i t ä t o d e r des F u n k t i o n i e r e n s l i e g t " ( R i n g g r e n : T h W A T 11,885). E i n e unpersönliche K r a f t o d e r Fluidum w ü r d e ich L e b e n im Sinne des Alten T e s t a m e n t s nicht n e n n e n . D i e B e s c h r ä n k u n g a u f M e n s c h u n d T i e r s o w i e d i e B e z i e h u n g z u nxpxs,

ne

sämäh

läßt eher an individuierbares L e b e n sowie an das A u f und A b , Ein und Aus des A t e m s , der Gurgel denken. I m V e r h ä l t n i s zu d e n g r o ß e n N a c h b a r k u l t u r e n Ä g y p t e n s u n d M e s o p o t a m i e n s

fällt

Leben II

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auf, daß man nicht mit gleicher Dringlichkeit vom Leben Gottes, vom lebendigen Gott reden muß und daß ewiges Leben eher am Rande vorkommt. Wie hajjtm primär die Lebensdauer bezeichnet (KBL 3 , ThWAT), so steht im Zentrum alttestamentlicher Anschauung die Flüchtigkeit, Kürze und Vergänglichkeit des Lebens: wie Gras Ps 102,12; 103,15; Jes 40,6f; Sir 14,18 oder eine Blume Hi 14,2 u.s.w., wie ein Traum Hi 20,8, flüchtiger Schatten I Chr 29,15; Hi 8,9; 14,2; Ps 102,12; 109,23; 144,4; Koh 6,12; 8,13, ein Atemzug/Seufzer Hi 7,7.16; Ps 39,6; schnell wie ein Läufer Hi 9,25 oder Weberschiffchen Hi 7,6. Es ist deshalb ein sehr kostbares Gut und soll mit aller Macht erhalten werden (s.u.), mehr noch: Es ist nicht das bloß medizinische Existieren und Funktionieren, sondern prall gefüllt mit Gottes Gaben und daher schon bei Krankheit, die oft mit Isolation von der Lebensgemeinschaft verbunden war, in seinem Kern getroffen, dem Tode nah. Es gibt zwei quasi dcfinitorische Aussagen: a) Atem ist soviel wie Leben (vgl. Gen 2,7, keine anthropologische Aussage), so daß „aller Atem" alle Lebewesen bezeichnen kann (KBL 3 n'sämäh). b) Nur in bezug auf die nxpxs heißt es, daß sie im Blut oder daß sie das Blut sei Lev 17,11.14; Dtn 12,23. Diese letzte Definition hat eine ganz einschneidende Wirkung. Denn dem alttestamentlichen Menschen war bei jeder Tierschlachtung bewußt, daß sie in Gottes Recht am Leben eingreift und daß Leben keinem Menschen gehören kann. Daher war Blut dem Genuß entzogen und konnte beim Opfer zur Sühne dienen (Janowski, vgl. T h W A T V, 549). Mancher Raubtiere hat man sich damals noch erwehren müssen (Löwe, Pardel, Bärin, Wölfe; am Rand Krokodil); aber das Bewußtsein, daß das Leben Gottes ist, durchdrang die Wirklichkeit soweit, daß man Tiere nicht schlachtete, ohne ihr Blut ablaufen zu lassen, also nicht bloß zweckhaft. Die Jagd hat man gekannt, aber mit analoger Maßgabe: Leben ist individuiertes Leben und ist unverwechselbar. 2. Zur

Lebenslänge

Wünschenswert war ein langes Leben (Hi 2,4), das Abraham zuteil wurde (Gen 15,15). Als nennenswerte Länge, die freilich selten erreicht wurde (L. Köhler), hat man 70/80 Jahre im Ohr, Ps 90,10; Sir 18,9 nennt höchstens 100. Bei langem Leben kam es schon darauf an, daß man wie Abraham oder Hiob ein erfülltes Leben hatte (Gen 25,8; Hi 42,17; vgl. auch Gen 35,29; I Chr 23,1; 29,28). Die Beschwerden des Alters verleugnet man nicht (Koh 12,1 ff). Wenn demgegenüber in Gen 5 Lebensalter von 9 0 0 - 7 0 0 / 6 0 0 Jahren, in Gen l l , 1 0 f f solche zwischen 500 und 200 und in der Väterzeit solche zwischen 200 und 100 genannt werden, wirkt eine verbreitete, in Babylonien viel weitergehende Überzeugung nach, daß die Schöpfung ursprünglich größere Kräfte hinterließ, zumal vor der Flut. Leben ist in den Listen Gen 5; 11,10ff eine herrliche Gabe. Eine ganz merkwürdige Tradition findet man Gen 6 , 1 - 4 , wo die Lebenszeit nicht wegen einer Schuld der Menschen, sondern wegen der zu großen Verwandtschaft mit den Gottessöhnen (die Menschenfrauen heiraten), auf 120 Jahre verkürzt wird - immer noch eine vorsintflutliche Lebenszeit (J hat keine Angaben über eine ursprüngliche Lebensdauer). Unbegrenzte Lebenszeit, die Adam und seiner Frau im Garten (in) Eden durch den Lebensbaum erreichbar war, vergaben die Menschen durch den Vertragsbruch, vom Baum des Umgangs mit Gut und Böse zu essen (Gen 2,9.16f; 3,22 - 2 4 ; zu verwandten mesopotamischen Mythen vgl. die Kommentare sowie H . N . Wallace). 3. Füllung Wie sehr Leben einerseits als vom Tode bedroht, andererseits aber als von Vitalität und Lebensfreude erfüllt gedacht wurde, ersieht man aus einer Fülle von Belegen, nach denen ein Kranker, Verwundeter, Geschädigter, Gedemütigter „lebt" = wiederauflebt. Als Jakob die Nachricht, daß Josef lebe, glauben konnte, da lebte sein Geist (Gen 45,27) auf. König Ahasja von Israel fragte beim Baal an, ob er von seinem Fenstersturz/Krankenlager „leben" würde (II Reg 1,2). Die von Josua im Lager bei Gilgal Beschnittenen blieben dort, bis sie „lebten" (Jos 5,8). Besonders deutlich wird der Sinn in Volksklagepsalmen

Leben II

522

wie Ps 85,7: „Willst du uns nicht wieder leben lassen, daß sich dein Volk deiner freue?" (vgl. auch Ps 80,19f). D a ß Leben und Segen zusammengehören, sagt Dtn 30,19: „Ich habe euch vorgelegt Leben und Tod, Segen und F l u c h " ; benachbart spricht Dtn 30,16 von „leben und sich mehren"; zum Kontext von Leben gehört das volle Leben in der Gemeinschaft, der Familie, Sippe, der Versammlung des Volkes im Heiligtum. Eine Bezeichnung für aktives Leben ist das Wort n x g & s . Ein Mensch hat nicht, sondern ist «aepaes, „individuiertes Leben, Vitalität, vitales I c h " . Der alttestamentliche Mensch entdeckte (nach dem babylonischen) das Verhältnis zu sich selbst nicht als Denken und Sein, sondern als Sein und Vitalität. So ist der Mensch mit all seinen Fasern und seiner Leidenschaftlichkeit in das Oben und Unten, Aus und Ein, Auf und Ab des Lebens eingebunden. Aber auch Tiere gelten als individuiertes Leben, vor allem in der Priesterschrift. Die Konzeption «aegaes dürfte mehr als unser Begriff Personhaftigkeit die ganze Unverwechselbarkeit eines jeden Menschen vor Gott ausdrücken. (Man müßte hier eine ganze Fülle von Beispielen anführen, für die jedoch auf T h W A T V,540ff verwiesen werden muß.) 4. Gebot,

Weisheit

Daß das Leben als gefülltes vorgestellt wird, zeigen auch die Belege, die Leben als Folge der Einhaltung von Geboten oder wcisheitlicher Mahnworte nennen. Dtn 4,1; 5,33; 8,1 wird „ l e b e n " mit „Land besitzen" erläutert und Dtn 16,20 vom „recht handeln" abhängig gemacht. Als Grundsatz kann Lev 18,5 (Heiligkeitsgesetz) gelten: „Haltet meine Satzungen und Entscheide, durch die der Mensch lebt, der nach ihnen handelt" (vgl. Ez 20,11.13.21). Gewiß steht im Hintergrund, daß auch die physische Existenz bedroht ist, wenn man den Geboten nicht folgt; aber überall ist Leben mehr als bloßes Existieren: Gerechtigkeit und Leben bilden einen Zusammenhang (v. Rad; Zimmerli). Unvergleichlich schön drückt das Dtn 8,3 aus: Jahwe „hat dich hungern lassen und mit Man gesättigt . . . , damit du erkennst, daß nicht wegen Brotes allein der Mensch lebt, sondern wegen allem, was aus Gottes Mund hervorgeht, wird der Mensch leben." Die Anweisung der Weisheit appelliert an die Vernunft im Umgang mit der Umwelt. „Laßt fahren die Torheit, so werdet ihr leben" (Prov 9,6). „Wer Bestechung haßt, wird leben" (15,27). Aus dem Kontext geht hervor, daß Leben gefüllt ist mit Wohlgefallen, Ehre u.ä. So gilt der Mund des Gerechten als Quelle des Lebens (10,11), die Lehre der Weisen (13,14), die Gottesfurcht (14,27). Die Weisheit weist den Weg des Lebens, und der hier belegte Baum des Lebens (3,18; 11,30; 13,12; 15,4) ist eine Metapher des Glücks ( T h W A T 2,887 f). Gewicht haben in diesem Zusammenhang die sakralrechtlichen Entscheidungen in Ez 18; 3 3 , 1 0 - 2 0 . Auf die Frage: „Unsere Sünden lasten auf uns, wie könnten wir da leben?", antwortet der Prophet mit dem Gotteswort: „Ich habe nicht Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern daran, daß er sich von seinem Wandel bekehre und lebe." Die Unmöglichkeit zu leben kann nach Ez 18 für den einzelnen so durchbrochen werden wie nach Ez 37 für das Volk, dessen Totengebeine erstehen. 5.

Metaphern

Erwähnenswert sind einige schöne Metaphern für das Leben. Am Anfang muß I Sam 25,29 stehen, wo Abigail David wünscht, er möge im „Beutel der Lebenden" eingebeutclt sein. Nach O . Eißfeldt kommt dies aus dem Hirtenbrauch, in einem Beutel Steine in der Anzahl der zu betreuenden Tiere mitzuführen. Am häufigsten findet man die Wendung „Land der Lebenden", die man nur recht würdigen kann, wenn man das Land als alttestamentliches Hoffnungsgut („das Land, das ich den Vätern zugeschworen habe") mit im O h r hat (Ps 27,13; 116,9; Jes 53,8; Ez 32,23 - 2 7 u . ö . ) . Dazu kommt das Buch des Lebens (Ps 69,29; vgl. 139,16; J e s 4,3; Dan 12,1: wohl am ehesten angelehnt an Bevölkerungslisten, die gleichsam bei Gott geführt werden [ T h W A T II 894]).

Leben II 6. Gott,

523

Schwurformel

Wie erwähnt, redet man alttestamentlich nicht sehr häufig, aber gelegentlich prononciert vom lebendigen Gott. Es wäre wohl zu vermenschlichend, Gott Leben, das er ja schafft, zuzuschreiben. Jene Wendung scheint demgegenüber an allen Stellen Gott als aktiv, eingreifend, rettend, sozusagen ganz er selbst, benennen zu wollen. So II Reg 19,4; Ps 18,47 und besonders schön die Sehnsucht nach dem lebendigen Gott (Ps 42,3; 84,3). Gottes Lebendigkeit als Macht meinen etwa Dtn 5,26 (23); Jer 10,10, die Aktivität Hi 19,25: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt". Die Schwurformel „So wahr Jahwe lebt" scheint eher auf ein Nomen „(Beim) Leben Jahwes" als auf ein Verb zu führen (KBL 3 ; T h W A T 11,892). Daß auch hier an Jahwes Aktivität gedacht ist, zeigen Stellen wie Jer 16,14f; 23,7f: „der Israel aus dem Land Ägypten führte"; I Reg 2,24 (Salomo): „der mich auf den Thron meines Vaters erhob"; II Sam 4,9; I Reg 1,29: „der mein Leben aus aller Not erlöste"; Jer 38,16: „der uns das Leben erschaffen hat". Hier hat sich der Schwur beim Leben des Königs anschließen können: Auch der König hat einzugreifen. Hier hat man wohl auch den Akklamationsruf „Es lebe der König" anzuschließen, z.B. I Sam 10,24; II Sam 16,16; I Reg 1,25.31.34.39; II Reg 11,12. Man mag auch an langes Leben des Königs denken (Ps 21,5), vor allem abergeht es um Wirksamkeit im Auftrag Gottes wie Prov 16,15 (sein Wohlgefallen ist wie lebenspendender Regen); Thr 4,20. 7. Volk Das Leben kommt alttestamentlich vor allem als individuelle Gabe Gottes vor (vgl. T h W A T 11,890 f). Gefülltes Leben kann man gewiß auch dem Volk zusagen, auch wenn dies insgesamt relativ selten vor allem seit dem Exil belegt ist. Am 5,4 mahnt „Sucht mich, so werdet ihr leben" (also nicht Bethel, Gilgal u. Beerseba, wo nur Kult geboten wurde); ausführlicher Am 5,6: „Sucht Jahwe, damit ihr lebt, daß er nicht Feuer sende gegen das Haus Josefs, es zu verzehren mit unauslöschlicher Glut". Den Gegensatz bildet also nationale Verwüstung. Hos 6,2 setzt Hoffnungen auf Leben durch Umkehr voraus, die der Prophet wegen der Unbeständigkeit Israels negieren muß. An die politische Existenz dachte wahrscheinlich auch Hab 2,4: ,, Der Gerechte wird durch seine Treue leben", da im Vorhergehenden von einem Feind die Rede sein muß (ThWAT II,889f). Nach der nationalen Verwüstung und ohne Rücksicht auf eine menschliche Leistung (so Hos 6,2) kann Ez 37,1 ff das Wunder eines neuerstchendcn Lebens des Volkes ansagen. 8. Recht Wenigstens in einer Notiz sei angedeutet, daß das alttestamentliche Recht zum Schutz des Lebens in seiner Fülle die Todessanktion vorsah, während unterhalb dieser Grenze nur Zivilrecht (Schadensausgleich) herrschte, z.B. Lev20 (-»Recht/Rechtswesen). 9. Leben der

Auferstehung

Dem Leben stellt man das Sterben gegenüber (als Verb sehr häufig, vgl. T h W A T II, 883f). Die Toten haben eine schattenhafte Existenz in der Scheol, die man keinesfalls Leben nennen könnte, obwohl es Beschreibungen wie Jes 14,4 bff; 38 gibt. War überhaupt von einem Bleiben bei Gott auch im Vergehen, trotz des Todes zu reden (Ps 73,17 f; dazu D. Michel), so war wirkliches Leben nur denkbar als Auferstehung des ganzen Menschen. Dan 1 2 , 1 - 3 und auch wohl Jes 26,19 (bei dem man erwägen kann, ob die Volksexistenz gemeint ist; s. aber O. Kaiser z. St.) sprechen solches in alttestamentlicher Spätzeit aus. Warum solche Verkündigung erst so spät auftaucht, ist sachgemäßer unter - » „ T o d " zu verhandeln. 10. Fazit Wenn man versuchsweise die Summe zieht, so denkt man alttestamentlich das Leben als ganz in Gottes Hand, und zwar nicht als fromme Floskel. Das Leben ist so kurz und so

524

Leben III

bedroht, Gott aber ist unendlich, sein Wort besteht unendlich. Weil es ganz in Gottes Hand ist, ist es nur als gefülltes denkbar, hat ein asymmetrisches Verhältnis zur Lebensfreude, weil Schmerz und Leid die tixpxs schwächen, beeinträchtigen. Literatur Christoph Barth, Die Errettung vom Tode in den individuellen Klage- u. Dankliedern des AT, Zollikon 1947. - Nikolaus P. Bratsiotis, Nephes-psyché...: VT.S 15 (1966) 5 8 - 8 9 . - Hendrik A. Brongers, Das Wort „ N P S " in den Qumranschr.: RdQ 4 (1963) 4 0 7 - 4 1 5 . - Albert Dihle u.a., Art. y/vxñ'- T h W N T 9 (1973) 6 0 4 - 6 6 7 . - Otto Eißfcldt, Der Beutel der Lebendigen, 1960 (BSAW 105/6). Gillis Gerlemann, Art. häjäh: T H A T 2 (1984) 5 4 9 - 5 5 7 . - Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, 1982 ( W M A N T 55). - Aubry R. Johnson, The Vitality of the Individual in the Thought of Ancient Israel, Cardiff 2 1964. - Otto Kaiser, Der Prophet Jesaja, Kap. 1 3 - 3 9 , 3 1983 (ATD 18). Annelies Kammenhuber, Die hethitischen Vorstellungen v. Seele u. Leib, Herz u. Lebensinnerem, Kopf u. Person: ZA NF 22 (1964) 1 5 1 - 2 1 2 . - Ludwig Köhler, Der hebr. Mensch, Tübingen 1953, Darmstadt 1980. - Siegfried Kreuzer, Der lebendige Gott, 1983 (BWANT 116). - Robert MartinAchard, Art. Leben: BHH 2 (1964) 1 0 5 5 - 5 7 . - Diethelm Michcl, Tempora u. Satzstellung in den Psalmen, 1960 (AET 1). - Gerhard v. Rad, „Gerechtigkeit" u. „Leben" in der Kultsprache der Psalmen: ders., GS 1 München 1961, 2 2 5 - 2 4 7 . - Helmar Ringgren, Art. häjäh: T h W A T 2 (1977) 8 7 4 - 8 9 8 . - Josef Scharbert, Fleisch, Geist u. Seele im Pentateuch, 1967'(SBS 19). - Werner H. Schmidt, Anthropologische Begriffe im AT: EvTh 24 (1964) 3 7 4 - 3 8 8 . - Ernst Schmitt, I.eben in den Weisheitsbüchern Job, Sprüche u. Jesus Sirach, Freiburg 1954. - Horst Seebaß, Art. näpäs: T h W A T 5 (1986) 531 - 5 5 5 . - Wolfram v. Soden, Die Wörter f. Leben u. Tod im Akkadischen u. Semitischen: AfO Beih. 19 (1982) 1 - 7 . - Howard N. Wallace, The Eden Narrative, Atlanta 1985. - Claus Westermann, Art. näpäs: T H A T 2 (1984) 7 1 - 9 6 . - Hans-Walter Wolff, Anthropologie des AT, München 4 1984. - Walther Zimmerli, „Leben" und „ T o d " im Buche des Propheten Ezechiel: ders., GAufs. z. AT, 1969 (TB 19), 1 7 8 - 1 9 1 . „ _ , -

Horst Seebals

III. Judentum 1. Beginn und Dauer des Lebens 2. Stufen des Lebens des Lebens 4. Sinn des Lebens (Literatur S. 526)

1. Beginn und Dauer des

3. Bedrohung, Bewahrung und Ende

Lebens

In der rabbinisch-talmudischen Traditionslitcratur ist der Beginn des kreatürlichen Lebens pränatal und der Beginn des juristischen Lebens mit der Geburt angesetzt. Den kreatürlichcn, natürlichen und juristischen Aspekt verbindet die Tradition: Gott, der Vater und die Mutter sind die drei Teilhaber (schüttafhn) bei der Bildung des Lebens (yKil 3 1 c , 5 0 - 5 3 ; bNid 31a; bQid 3 0 b Ende; yPea 15, 67f par.; Urbach 218f). Mit der Seelenlehre verbunden zeigen sich Ansätze zu einer Systematisierung dieser Motive in spätantiken z.T. traktatförmigen Traditionen (Tan pqwdj 3; Sedär j'sirät bäw-walad [Ordnung der Geborenenbildung] BHM 1,153-158; Urbach 245f). Bei einer kritischen Geburt kommt es zu einer Güterabwägung des Lebens von Mutter und Kind (mOhal 7,6; diskutiert in ySan 2 6 c , 3 8 - 4 2 par.). Trotz der sonst betont distanzierten Haltung zum Heidentum ist die Geburtshilfe durch eine nicht-jüdische Hebamme erlaubt (mAZ 2,1; kontrovers in tAZ 3,3). Bei der Dauer des menschlichen Lebens (Ps 90,10: 70 Jahre; das halbe Leben Ps 55,24 in bSan 106 b: 3 3 - 3 4 Jahre) gibt es unterschiedliche Wertungen des Alters (Maier, Wertung). Neben Traditionen der gebotenen (Lev 19,32) Hochschätzung des Alters (bQid 3 2 b - 3 3 b ; Abraham in BerR 68,9; bMeg 31b) stehen Traditionen, die das lebenabnehmende Moment und die Beschwerden des Altwerdens realistisch betonen (mAv 4,20; Koh 12 in bShab 151 b—152b; bAr 19a). Das Erreichen eines langen Lebens wird bei einem Gelehrten zurückgeführt auf besonders genaue Frömmigkeit und sittlich hochstehenden Lebenswandel (bTaan 20 b; bMeg 27b/28a). 2. Stufen des

Lebens

Das Leben hat Altersstufen und kann gegliedert werden (mAv 5,21; bMQ 28 a; QohR zu 1,2; Midras Tädse' BHM 3,168). Die Erziehung des Unmündigen ist der Entwicklung

Leben III

525

seiner Fähigkeiten angepaßt (tHag 1,2), wobei der Vater grundsätzliche und elementare Erziehungspflichten hat (mQid 4,14; tQid 1,11). Die wichtigste Lebensaltersstufe nach der Geburt ist das Erreichen der Mündigkeit (Junge: 13 Jahre + 1 Tag, Mädchen: 12 Jahre + 1 Tag). Sie bedeutet die vollständige Gebotsverpflichtung und wird begründet durch das bezeugte Beibringen von zwei Schamhaaren (tHag 1,3; Diskussion der Bezeugung in yShevu 35c, 1 7 - 3 3 par.). Die Ehemündigkeit kann früher angesetzt werden (mYev 10,6; mNid 5,4f; bSan 55 b; Bamberger). Die Lebenszeit zwischen Mündigkeit und Alter ist durch die natürliche Folge der Dekaden gegliedert (mAv 5,21). An ein bestimmtes Lebensalter können besondere Vorrechte gebunden sein (tHag 1,3: Priestersegen; ySan 2 2 b , 4 7 - 5 3 : Richterfunktionen; ySan 2 4 b , 5 3 - 5 7 : Begleitung eines Gelehrten). 3. Bedrohung,

Bewahrung

und Ende des

Lebens

Das Leben ist eingebettet in die sozialen Institutionen der Großfamilie und der Gemeinde (Wächter). Seiner ökonomischen Bedrohung wird durch ein differenziertes Armenrecht begegnet (mtyPea). Krankheiten sind eine starke Bedrohung des Lebens (yShab 14d,20-70; yAZ 4 0 d , 2 - 7 3 ) . Leben wird ferner durch magische und theurgische Praktiken bedroht ( S e f ä r ha-razim [Buch der Geheimnisse]). Bestehende Lebensgefahr verdrängt die Pflicht zu einer Gebotserfüllung (auch das Sabbatgebot!). Die Bewahrung des Lebens erfolgt durch medizinische, magische oder theurgische Heilung (yShab 1 4 d , 4 1 - 1 5 a , l par. mit Ausnahmen; Sefär ha-razim 1 , 2 8 - 3 4 ; Niggemeyer 20). Vor negativen Alterserscheinungen bewahrt das Studium der Tora (mQid 4,14). Grundsätzlich hat bei der Lebensrettung der Mann Vorrang vor der Frau (mHor 3,7). Der -»Tod des Körpers markiert das Ende des physischen Lebens. Der Suizid ist verboten und gilt als Eingreifen in Gottes Macht (BcrR 34,13; bBQ 91 b; Verbot der öffentlichen Trauer um einen Selbstmörder in Sem 2; Perls). Bei einem Tod durch Gewalttat wird die aus der mittelalterlichen islamischen Gelehrsamkeit stammende kasuistische Verbindung von prädestinierter Todesstunde und dem Mörder als Werkzeug Gottes von -»Mose ben Maimon abgelehnt (Rcsponsum Weil; Maier, Geschichte 356). Ein plötzlicher Tod in hohem Alter gilt als besondere Gnade und wird als Gotteskuß beschrieben (Mirjam, Mose, Rab Huna in bMQ 28a; vgl. bBer 8a). 4. Sinn des

Lebens

Die Breite der Sinnaussagen über das Leben reicht von der realistisch nüchternen Feststellung, ein Leben in Armut sei kein Leben (bBes 32b), bis zu Reflexionen, in denen sich Anthropologie (natürliches Leben) und Theologie (kreatürliches Leben) verbinden. Der Wert des einzelnen Lebens ist einmalig. Das wird theologisch mit der Einzigartigkeit des ersten Menschen begründet (mSan 4,5; -»Bild Gottes III). Nur im Extremfall, wenn eine überaus schwere Gebotsübertretung durch Tötung des Übertreters verhindert werden kann, ist die Opferung des Lebens eines Menschen vorstellbar (mSan 8,7; ySan 26c, 2 6 - 4 7 ; bSan 7 3 a - 7 5 a ; vgl. dagegen mTer 8,12; tTer 7 , 2 0 ; yTer 46 b, 45 - 5 0 ) . Die theologische kreatürliche Lebensvorstellung erlaubt die Verbindung mit der Vorstellung eines ewigen Lebens. Hierbei haben die sich im Mittelalter bis zum System ausbildende Seelenlehre und die traditionelle Vorstellung von der Wiederbelebung der Toten (Achtzehngebet, 2. Bitte; Maier, Geschichte 141) vermittelnde Funktion. Unter der Vorstellung vom ewigen Leben sind verschiedene Synonyme zu subsumieren, die alle ein Fortleben nach dem physischen Tod meinen: Leben der zukünftigen Welt (mAv 2,7; 5,10; yPes 3 3 a , 5 5 - 5 7 ; bBer 28b; bPes 8a; bRHSh 4 a ; bQid 40b; bBB 10b; PesK 28 par.), ewiges Leben (yMQ 8 2 b , 6 7 - 6 9 ; bShab 10a; 33 b; bBes 15b), den Garten Eden erben (yBer 7 d , 2 8 - 4 0 ; yPea 15c,49f par.; Dtn 30,20 in Tan smjnj 11), Leben (tSot 4,11 par.; MekhY bslh wjhj 6 S. 112; SifDev 53). Dieser postmortale Zustand wird auch als himmlisches Leben in der Gegenwart Gottes beschrieben (bBer 17a; Ex 24,11 in ARN 1; PesR 43). Schon im irdischen Leben kann infolge dieser Vorstellungen eine Bestimmung eines Menschen zum ewigen Leben angenommen werden (yKil 3 2 b , 2 4 f par.; bBer 61b; b M Q 9a;

526

Leben IV

bKet 103b). Dadurch hat das irdische Leben einen Sinn, dessen Aufschlüsselung in der präsenten Offenbarung Gottes (durch das Studium der Tora) erfolgt. Die Tora vermittelt zwischen diesem, dem vergangenen und dem zukünftigen Leben; sie ist die Vergegenwärtigungsmöglichkeit des Lebenssinns. Grundsätzlich und zugespitzt führt das zur Identifizierung von Tora und Leben: Die Tora ist das Leben derer, die sie studieren (Dtn 32,47 in BerR 1,14; yPea 15 b,41 - 4 7 par.; Dtn 30,20 im frühkabbalistischen Sefär bäb-Babir [Buch des Glanzes] 100; vgl. SifDev 336; mPea 1,1; Dtn 11,18 in bQid 30b). Literatur Bernard J. B a m b e r g e r , Q e t a n a h , N a ' a r a h , Bogereth: H U C A 32 (1961) 2 8 1 - 2 9 4 . - Ben Z i o n Bokser, Art. I.ife a n d Death: EJ 11 (1971) 235 - 2 3 7 . - Rudolf Bultmann, Art. (aco K.x.Ä. Der Lebensbegriff des J u d e n t u m s : T h W N T 2 (1935) 8 5 6 - 8 6 2 . - David Castelli, T h e F u t u r e Life in R a b b i n i c a l Literature: J Q R AS 1 (1889) 3 1 4 - 3 5 2 . - A b r a h a m J o s h u a Heschel, T h e C o n c e p t of M a n in J e w i s h T h o u g h t : T h e C o n c e p t of M a n , hg. v. S. R a d h a k r i s h n a n u . a . , L o n d o n 2 1966, 1 2 2 - 1 7 1 . - Sidney B. H o e n i g , T h e Age of T w e n t y in R a b b i n i c T r a d i t i o n s and l Q S a : J Q R N S 4 9 (1958/59) 2 0 9 - 2 1 4 . K a u f m a n n Kohler, Art. Life: JE 8 (1925) 8 2 f . - Leopold L o w , Beiträge zur jüd. A l t e r t u m s k u n d e , II Die Lebensalter in der jüd. Lit., Szegedin 1875. - J o h a n n M a i e r , Gesch. der jüd. Religion, B e r l i n / N e w York 1972. - Ders., Die W e r t u n g des Alters in der jüd. Uberlieferung der S p ä t a n t i k e u. des f r ü h e n M A : Saec. 30 (1979) 3 5 5 - 3 6 4 . - H e n r y M a l t e r , Personifications of Soul and Body: J Q R NS 2 (1911/12) 4 5 3 - 4 7 9 . - Rudolf M e y e r , Hellenistisches in der rabbinischcn A n t h r o p o l o g i e , 1937 ( B W A N T 4 . 2 2 ) . - J e n s - H e i n r i c h Niggemeyer, B e s c h w ö r u n g s f o r m e l n a u s d e m „Buch der Geheimniss e " , 1975 (JTSt 3). - A r m i n Perls, Der Selbstmord n a c h der H a l a k h a : M G W J 55 (1911) 2 8 7 - 2 9 5 . Simon R u b i n , Der „ n a s c i t u r u s " als R e c h t s s u b j e k t im t a l m u d i s c h e n u. r ö m . Rechte: Z V R W 20 (1907) 1 1 9 - 1 5 6 . - E m e r o Sticgman, R a b b i n i c A n t h r o p o l o g y : A N R W 11,19/2 (1979) 4 8 7 - 5 7 9 . - E p h r a i m E. U r b a c h , T h e Sages, J e r u s a l e m 2 1979, 2 1 4 - 2 5 4 . - L u d w i g W ä c h t e r , G e m e i n s c h a f t u. Einzelner im J u d e n t u m , 1961 (AzTh 5). - G o t t h o l d Weil, M . M a i m o n i d e s , Über die Lebensdauer, Basel 1953.

t G c r d A. Wewers IV. Neues Testament 1. Vorüberlcgung 2. Leben als eschatologischer Heilsbegriff 2.1. Die R a h m e n v o r s t e l l u n g 2.2. J o h a n n e s e v a n g e l i u m 2.3. „ E i n l a ß b e d i n g u n g e n " u n d „ V e r h e i ß u n g e n " 2.4. G l a u b e u n d ewiges Leben 2.5. A u f e r s t e h u n g u n d (ewiges) Leben 2.6. „Dieses L e b e n " und d a s „ewige L e b e n " (Literatur S. 530)

1.

Vorüberlegung

Das deutsche Wort „Leben" dient zur Ubersetzung dreier nicht synonymer, sondern in je spezifischer Verwendung eingesetzter neutestamentlicher Begriffe: ßioq (das Leben in seiner äußeren Erscheinung, der Lebenswandel, der Lebensunterhalt; 10 Vorkommen), ytoxij (das dem Individuum eigene Leben, die Lebenskraft, die Seele als Träger des Lebens; 103 Vorkommen) und t^cor/ (das Leben im Gegensatz zum Tod, das ewige Leben, das von Gott und Christus ausgehende Leben der Gläubigen; 135 Vorkommen). Obwohl diese Begriffe sich im zeitgenössischen und hellenistisch-jüdischen Sprachgebrauch gelegentlich überschneiden (Beispiele Bultmann 859), sind doch auch noch im Sprachgebrauch der neutcstamentlichcn Schriftcn ihre verschiedenen Herkünfte erkennbar. £7 begegnet in der Septuaginta für hebräisch häjjim und steht in einem konträren, wenn nicht antagonistischen Gegensatz zum Tode (vgl. II Kor 5,4; I Tim 5,6); yvyj] steht ursprünglich für hebräisch Mffipffis, während ßioq im Sinne von „Lebensdauer" dort als griechisches Äquivalent für hebräisch jamtm („Tage" im Sinne von „Lebenslänge") begegnet (vgl. Bertram 853) und erst unter griechischem Einfluß weitere Verwendung findet (vgl. Bultmann 859f). Die \//uxrj ist vom Tode bedroht (vgl. Mt 10,28b; Mk 14,34; Lk 12,20; 17,33 a) und bedarf zum Leben der (vgl. Lk 17,33 b; Joh 12,25 b und auch schon Gen 2,7.19); dieses Verhältnis ist nicht umkehrbar, ßioq bleibt dagegen in den neutestamentlichen Schriften, auch wo es nicht nur das Vermögen oder den Reichtum bezeichnet (wie in Mk 12,44; Lk 8,43; 15,12.30; I Joh 3,17), in enger Beziehung auf die Belange der irdischen Existenz (Lk 8,14; I Tim 2,2; II Tim 2,4; I Joh 2,16). Art und Weise der Lebens-

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führung, auch deren ethische Aspekte konnten nach griechischem und hellenistisch-jüdischem Sprachgebrauch sowohl durch ßioq (vgl. IV Makk 1,15; 5,36; Josephus, Ap 2,217; Weish 12,23) als auch durch fat] (Weish 14,28; 12,23; Josephus, Ant 12,203; 13,318) beschrieben werden; in den neutestamentlichen Schriften verbindet sich dieser Aspekt nur mit dem Verbum £Stoa/Stoizismus) ist das nvsüfta oder Feuer die alles durchdringende Lebenskraft des K o s m o s . Z u ihr gehört der L o g o s als zweckvoll gestaltende Weltvernunft. Im M e n s c h e n n i m m t die göttliche Weltseele eine individualisierte Gestalt an. Im - • N e u p l a t o n i s m u s entsprechen wiederum der Hierarchie des Seienden verschiedene G r a d e von Wahrheit; entsprechend gilt die R a n g o r d nung von Niederem zu H ö h e r e m . D a s Leben erhält eine vermittelnde Funktion zwischen materieller Vielfalt und göttlicher Einheit. Diese entfaltet sich in der Abfolge von Sein, Leben und D e n k e n . M y t h i s c h erscheint l,u>r\ hier als weibliche M a c h t , als J u n g f r a u . Durch das Leben hindurch kehrt das Seiende im denkenden Wissen seiner selbst zu sich zurück. Die Seele hat an diesem Leben teil. Ihre T r e n n u n g vom Körper führt zu wahrer Erkenntnis im Licht der göttlichen Vernunft. In der weiteren E n t w i c k l u n g wird das Leben nicht nur als Äußerung, E m a n a t i o n (Valentinus), sondern als Wesen der Weltvernunft verstanden.

Der Ubergang in den lateinischen Sprachbereich verwischt den Unterschied zwischen ßioQ und iaw;: „Vita" umfaßt beides. Der Begriff wird dann durch Distinktionen präzisiert. Wird durch den einheitlichen Oberbegriff einerseits die Zusammengehörigkeit aller Lebensphänomene unterstrichen, so bedeutet die hierarchische Auffächerung der Begrifflichkeit andererseits auch deren Dissoziation: Das Unterschiedene kommt neben- und gegeneinander zu stehen. Besonders gravierend hat sich in der abendländischen Geschichte die Differenzierung zwischen „Körper" und „Seele" ausgewirkt. Das Interesse konzentriert sich zunächst auf letztere, um sich dann der in den Hintergrund getretenen Natur in der Renaissance in analoger Akzentuierung zuzuwenden. Hier kann dann die neuzeitliche Naturwissenschaft anknüpfen. 1.2. Christliche Tradition (vgl. -»Eschatologie V - V I 1 ) . Die Auseinandersetzung der Alten Kirche mit der antiken Tradition und deren weitgehende Rezeption (-»Antike und Christentum) schlägt sich abschließend in den altkirchlichen -»Glaubensbekenntnissen nieder. Hier ist es insbesondere der biblische Terminus Ewiges Leben (£toi) aicbviog, s.o. Abschn. IV), der das christliche Lebensverständnis interpretiert. Er ist auf Zukunft ausgerichtet und bringt damit auch ein grundlegendes neues, eschatologisches Verständnis von -•Zeit in das Verständnis des Lebens ein. Die ausdrückliche Erwähnung des Begriffs am Ende des 3. Glaubensartikels kommt oft in den Symbolen des Ostens und Westens vor, nicht jedoch in deren älteren Formen. Zuerst ist er in nordafrikanischen Formeln nachweisbar und dient offensichtlich der Erläuterung der „Auferstehung des Fleisches" (Kelly). Er ist schließlich in das Apostolikum eingegangen. Gemeint ist die Teilhabe am auferstandenen Christus und dessen Leben, das den Tod letztgültig überwunden hat. Ewiges Leben ist die Gabe des Heiligen Geistes und weist damit auf das „wirkliche, wahrhaftige Leben", das Gott selbst ist (Cyrillus v. Jerusalem; Kelly 381). Davon lebt der Glaubende über den individuellen irdischen Tod, das Weltende und das Jüngste Gericht hinaus. Die ewige „Seligkeit" (beatitudo) interpretiert das ewige Leben; der Begriff des letzteren tritt dabei zurück. Anstelle der Formel „Ewiges Leben" im Apostolischen Glaubensbekenntnis erscheint im -»Nicäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis (cur] TOÜ ßikkovzoQ aiöjvoq. Im - * Athanasianischen Symbol tritt der vita aeterna, in das diejenigen, „die das Gute getan haben", eingehen werden, das ignis aeternum gegenüber, in das die Übeltäter gehen werden. Das ewige Leben erscheint damit futurisiert und das irdische vom ewigen her

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auch moralisch qualifiziert. Dementsprechend werden nach der Würdigkeit des einzelnen Menschen verschiedene Stufen und Formen der Seligkeit im ewigen Leben angenommen. Die an Plato anknüpfende und substantialistisch weiter entwickelte Lehre von der Unsterblichkeit (des rationalen Teils) der Seele bietet dafür den metaphysischen Rahmen (im einzelnen s. dazu H D G IV,7a). Das Mittelalter ( H D G IV,7 b) systematisiert in immer neuen Anläufen das gemeinsame christlich-antike Erbe und entfaltet die entsprechende Metaphysik und Kosmologie. Systematischer Ausgangspunkt ist das Interpretament des ewigen Lebens als Gottesprädikat. Neuplatonisch wird vom Absoluten als Lebensqualität her gedacht: Alles Leben partizipiert an der generalissima vita (—»Johannes Scottus Eriugena), an der avxo^Mrj (Pseudo—• Dionysius Areopagita). Alles Geschaffene hat sein Sein dabei im göttlichen Logos (Anselm von Canterbury). In der Mystik heißt es: „Solus deus, utpote finis ultimus et movetts primum, vivit et vita est" [Allein Gott lebt und ist das Leben, wie er ja letztes Ziel und erster bewegender Ursprung ist] (Meister Eckhart, Lat. Werke 111,51). Die generalissima vita teilt sich bei Johannes Scottus Eriugena in die vita intellectualis der Engel, die vita rationalis der Menschen, die vita sensualis der Tiere und die vita insensualis der Pflanzen und der übrigen Körper. Alle diese Momente sind im Menschen miteinander vereinigt (De divisione naturae III, c. 3 6 - 3 7 ; H W P V 60). Die Seele als Prinzip des Lebens hat an dieser emanatistisch gedachten Hierarchie teil, selbst abhängig von Gott. Im Zuge der Aristoteles-Rezeption (-»Aristoteles/Aristotelismus) wird dieses Schema scholastisch ausgebaut und mannigfaltig neu gefaßt. Von pflanzlichem, tierischem, menschlichem bis hin zu dem vollkommenen göttlichen Leben, dem Leben selbst, wird die Hierarchie von Lebensformen als spezifischen Gestalten von Selbstbewegung ausdifferenziert. Grundsätzlich charakterisieren motus und operatio die viventia nach -»Thomas von Aquino; I.eben kommt letztlich Gott in seiner Selbsterkenntnis zu, und alles Geschaffene ist Leben in ihm, von ihm erkannt (S.th. 1,18). In der vita contemplativa hat der Mensch Gemeinschaft mit Gott und den Engeln; darin besteht seine Glückseligkeit, zuletzt im ewigen Leben. In der irdischen vita activa steht er auf der Seite der animalia in ihrer Vergänglicheit (1-2,3,5). Auch für -»Duns Scotus ist Gott mit Aristoteles esssentialiter Leben, und sein actus intelligendi ist seine vita aeterna et optima (Garcia 729). Der Pariser Theologe Stephan Brulefer (gest. ca. 1496) resümiert mit folgenden Distinktionen: Die vita naturae kann eingeteilt werden in vita naturae vegetativa, animalis et sensitiva, sowie rationalis. Die vita gratiae „solum convenit existentibus in gratia et est ipsa Charitas" [Das Leben aus Gnade kommt allein denjenigen zu, die in der Gnade stehen, und ist die Liebe selbst]; sie entspricht der vita spiritualis. Die vita gloriae ist die „clara visio Dei et fruitio sequens et haec vita succedit vitae activae et contemplativac" [Das Leben in Herrlichkeit ist die ungetrübte Schau Gottes und das Genießen, das daraus folgt, und dieses Leben geht hervor aus dem Leben irdischer Aktivität und geistlicher Betrachtung]; sie kann aufgeteilt werden in vita gloriae increata (Deus per se ipso est vita) und creata, wiederum aufgeteilt in vita angelica und spiritualis, „quae est in anima nostra" [Ungeschaffenes Leben in Herrlichkeit: Gott ist Leben durch sich selbst; geschaffenes Leben in Herrlichkeit: Leben der Engel und geistliches Leben, das in unserer (menschlichen) Seele ist] (Altenstaig-Tytz 961). Entgegen der Tendenz, das ewige Leben vornehmlich oder ausschließlich auf das Jenseits des individuellen Lebens und der irdischen Weltzcit zu beziehen, betont vor allem die lutherische Reformation im Anschluß an die biblische Tradition den Beginn des Heils hier und jetzt im Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. „ Q u a re homo huius vitae est pttra materia Dei ad futurae formae suae vitam" [Darum ist der Mensch dieses (irdischen) Lebens bloßer Stoff Gottes für das Leben seiner zukünftigen Gestalt] (Luther, W A 3 9 / 1 , 1 7 7 , 3 - 4 ) . Der Heilige Geist wirkt das ewige Leben im Herzen durch das Evangelium (Apol. CA X X V I I I , 10). Wichtig wird hier erneut die Unterscheidung von dem Leben selbst, das allein Gottes G a b e ist, dem ewigen Leben, dem Heil, und dem irdischen, zeitlichen Leben, um dessen Wohl es in den täglichen Verrichtungen geht. Dieses wird durch jenes, die Suche nach dem Wohl also durch die G a b e des Heils - das Leben durch das ewige Leben — entscheidend qualifiziert. Der Beginn des ewigen Lebens im Glauben des Christen begründet die Einheit von Glaube und Leben und die Verflechtung von Lehre und Leben, wie sie insbesondere für -•Luthers Theologie - und für Luthers Leben - charakteristisch ist. „Nit eyn weszen, sunderen ein werden, nit ein rüge [Ruhe], szondernn eyn ubunge", nicht das Ende, son-

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d e m der Weg ist das Leben im Geist (WA 7,337,32-35). Im Leben geht es in diesem Sinne schon jeweils im Hier und Jetzt ums Ganze, und alle Unterscheidungen (Gott und Schöpfung, vor Gott und den Menschen, Heil und Wohl, innerer und äußerer Mensch, Gesetz und Evangelium usw.) dienen nicht einer harmonischen Zusammenschau, sondern existentiellen Entscheidungen, letztlich der Entscheidung über die Grundorientierung des Lebens, der Orientierung entweder am Phänomen des Todes, oder an der durch Christus offenbaren Verheißung ewigen Lebens. Die Predigt von Gesetz und Evangelium zielt auf den „heillosen Widerspruch des Lebens selbst" (G. Ebeling, Lutherstudien III, 35; -»Sünde) und ermächtigt zum Glauben an das ewige Leben. „Wo und mit wem Gott redet, sei es im Zorn oder in der Gnade, der ist gewiß unsterblich. Die Person Gottes, der da redet, und das Wort zeigen an, daß wir solche Kreaturen sind, mit denen Gott bis in Ewigkeit und in unsterblicher Weise reden will" (WA 43, 481, 3 2 - 3 5 ) . Im Begriff der -»Wiedergeburt und in der Lehre vom O r d o salutis, der in der unio mystica mit Gott gipfelt, auch in der Abendmahlslehre wird der Beginn des ewigen Lebens im Glauben dann dogmatisch festgehalten. Als Grade des ewigen Lebens können dann unterschieden werden vita aeterna initialis in diesem Leben, partialis nach dem Tode der einzelnen und perfectionalis nach dem allgemeinen Weltgericht (RE 1 VIII, 259; dort weitere Einzelheiten und Hinweise). Visio und fruitio Dei machen ewiges Leben aus. Während Luther existentiell von der Situation der Anfechtung und entsprechend vom Kreuz Christi her denkt, gehört es für -»Zwingli und -»Calvin geradezu zum Wesen Gottes, daß er Leben als ewiges Leben mitteilen will. Die Auferstehung zum ewigen Leben ist daher die konsequente Vollendung des Heilshandelns Gottes. Das kann auch damit begründet werden, daß die Fähigkeit zur Gotteserkenntnis, die Gottesbeziehung des menschlichen Geistes Unsterblichkeit (der Seele) mit einschließt. Die späteren Systematisierungen der westeuropäischen - • O r t h o d o x i e drohen schon im 16. und 17. Jh. den Zusammenhang von Glauben, Lehre und Leben auf ihre Weise abstrakt zu verstellen. Anders als in der Frömmigkeit, konnte das theologisch erneut zu einer theoretischen Ausgrenzung des Ewigen Lebens aus dem Zusammenhang des irdischen Lebens führen. Während der reformierte Theologe Guilelmus Bucanus beispielsweise den klassischen Unterschied von vita naturae, gratiae und gloriae aufnehmen kann, wird die vita aeterna ausschließlich definiert als „status gloriosus, in quo electi post futuram resurrectionem mortuorum, Christo capiti stio plenissime coniuncti, Deum in coelis cum angeiis cognituri, eoque praesente fruituri et in aeternum celebraturi, summum bonum nobis a Christo partum consecuturi, corpore et animo illius imagini, qua homo est, conformes futuri sunt" [Der Stand der Herrlichkeit (der herrliche Zustand), in dem nach der künftigen Auferstehung der Toten die Erwählten, die (dann) mit Christus, ihrem Haupt, vollständig verbunden sind, Gott in den Himmeln zusammen mit den Engeln erkennen, ihn in seiner Gegenwart genießen und in Ewigkeit rühmen, das höchste uns von Christus erworbene Gut erreichen und mit Leib und Seele seinem Bilde, durch das er Mensch ist, gleichgestaltet sein werden] (Institutiones theologicae, Genf 1609, 39,6). Andererseits kann Johann Heinrich Aisted sagen: „Vita aeterna in hoc saeculo a nobis sentitur, sed post hanc vitam plene contingit, et hoc sensu dividitur in imperfectam et perfectam, inchoatam et consummatam" [Das ewige Leben wird in dieser Weltzeit von uns gefühlt, aber nach diesem Leben wird es (uns) in seiner Fülle zuteil, und in diesem Sinne wird es unterschieden in das unvollkommene und vollkommene, das anfängliche und das vollendete ewige Leben] (Theologia scholastica, Hanau 1618, 846; Zitate nach Heppe-Bizer 560.568). Die Gefahr, Leben und Ewiges Leben abstrakt und damit reduktiv zu verstehen, wird andererseits angesichts des Fortschritts der empirischen Wissenschaften und ihrer philosophischen Reflexion (-»Descartes) akut. Diese beziehen sich seit der Renaissance auf die sichtbaren Phänomene des Lebens und schreiten in deren Analyse fort. Das ermöglicht im 20. Jh. wiederum ihre (veränderte, technische) Synthese. Der Seele widerfährt Ähnliches (Psychoanalyse, Werbepsychologie).

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Der substanzmetaphysischen Tendenz der Dissoziation von irdischem und himmlischem, göttlichem, von „zeitlichem" und „ewigem" Leben versucht das kosmologische Denken von -»Mystik, Paracelsismus und -»'Theosophie zu entgehen. Dem dient der Rekurs auf die lebendige Weltseele (G.-»Bruno), den spiritus vitae („Proteus": —»Paracelsus), den Bezug des irdischen Lebens auf das himmlische. Im Unterschied zum endlichen, zerbrechlichen Leben kommt der Seele ewiges, unzerbrechliches Leben zu, doch jenes partizipiert an diesem, wie dieses am göttlichen Leben teilhat (J.-»Böhme). Bei F. C. -»Oetinger umfaßt Leben: geistig-leibliche Totalität; das „Intensum" als eigentliche Lebenskraft oder „Tinctur", Drang zur Entwicklung und Ganzheit und die Fähigkeit der Erneuerung und Regeneration; Polarität; „Circular"-Bewegung; Kosmogonie (W.-A. Hauck). Ähnliche Gedanken begegnen dann im Deutschen Idealismus und reichen bis in die Romantik und nachfolgende Entwicklungen hinein. Hinzuweisen ist hier insbesondere auf Johann Georg -»Hamann, der den Lebensbezug des christlichen Glaubens auch im Blick auf die Natur in immer neuen Anläufen elementar reflektiert hat. Die Vernunft wird dadurch in ihrer kreatürlichen Rolle bestärkt und zugleich begrenzt. Sie muß warten und hoffen, Dienerin, nicht Gesetzgeberin der Natur sein wollen. 1.3. „Leben" in der neueren Philosophie (zum Einzelnen: HWP 5,71-97). Im Gegensatz zum Mechanismus der französischen Aufklärung spricht Immanuel -»Kant von einer „bildenden Kraft", die der Organisation der Lebewesen zugrunde liege, ein Vermögen, das nur einem göttlichen Verstand einsichtig sein könne. Für -»Leibniz gibt es eine dem Lebendigen innewohnende, spontan handelnde Kraft (nisus), die mit dem prineipium individuationis verbunden ist: Leben zeichnet sich dadurch aus, daß es keine zwei identischen Exemplare einer Gattung gibt. Natur individuiert, und über Individuation wird Evolution erst möglich. Der Deutsche —»Idealismus allgemein, auf dem im Gegenzug zu —»Descartes und seinen Nachfolgern entworfenen philosophischen Werk Spinozas fußend und bei Goethe zu größtem Ausdruck gekommen, reflektiert auf eine allgemeine Belebtheit auch der Materie, als deren Urquell die Gottheit erscheint. Für -»Hegel ist die unmittelbare Idee das Leben. In der -»Romantik ist der Weltorganismus die Darstellung des Absoluten. Für -»Schelling fällt der Begriff des Lebens mit dem Absoluten zusammen. Leben entfaltet sich in der Polarität von Sein und Nichtsein (—»Novalis), zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Subjekt und Objekt (C. A. Eschenmayer), zwischen Materie und Geist (G. Biedermann), im Schweben zwischen Stillstand und Werden, Ruhe und Tätigkeit, Begrenzung und Freiheit (F. J. Schelvcrs). Die in Auseinandersetzung mit dem Anspruch der Newtonschen Physik philosophisch bestimmte Geschichte der Biologie zur Zeit der deutschen romantischen Naturphilosophie (Eckdaten: 1790-1843, Kant und Lotze) hat H. Schlüter beschrieben und analysiert. „Leben" wird hier verstanden als „Bewegung eines Gegenstandes aus sich selbst, die uns nur im eigenen Wollen bewußt ist und auf der lebensweltlichen Ebene von uns als Erleben bezeichnet wird" (Schlüter 4). Der spekulativen Entfaltung des Versuches einer universalen begrifflichen Erfassung des Lebens tritt der Rekurs auf das empirische Leben der Menschen gegenüber. Die „ganze Fülle der Ichheit des Lebens" soll nach Friedrich Schlegel den „Zwiespalt zwischen der Philosophie und dem Leben" überwinden. Für Ludwig -»Fcuerbach ist das sinnliche, leibliche Leben der Standpunkt des Absoluten, das irdische Leben auch des einzelnen Menschen „absolutes, ewiges und unendliches Leben". Nach Karl Marx (-»Marx/Marxismus) und Friedrich Engels bestimmt das wirkliche Leben das Bewußtsein, nicht umgekehrt. So wird auch in der Geschichtsphilosophie das individuelle Leben einer Person zum Urbild des Staates und für die Gestaltung der Gesellschaft in Anspruch genommen (Paul de Lagarde). Über den Begriff des „historischen Lebens" geht das aus dem individuellen Leben entwickelte Lebensverständnis in das Nationalbewußtsein ein. Friedrich -»Nietzsche faßt Leben als „Wille zur Macht", als „ewige Lust des Schaffens". Das ist ein processus in infinitum, der den Horizont der Wahrheit eröffnet. Die

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Wahrheit ist der Vollzug des Schaffens, und so erscheint die Welt als „ein sich selbst gebärendes Kunstwerk". Zentral darin - und von geradezu göttlicher Qualität — ist „jenes Leben, das den Schein der Welt entwerfen muß, um Leben sein zu können" (G. Picht, Nietzsche 320). Die -»Lebensphilosophie versteht „Leben" als Totale eines alles umgreifenden Prozesses. Wilhelm -»Dilthey will das Leben aus ihm selber verstehen und nacherleben als Geschichte. Henri Bergson sucht in der „Dauer" als schöpferischer Zeitbestimmung die Innenseite des Seienden als élan vital intuitiv zu erfassen. Georg Simmel hebt die Selbstüberschreitung des Lebens hervor, indem er eine vitale Logik entwickelt: Dem Leben ist es eigen, mehr Leben hervorzubringen und sich selbst zu transzendicren in der Kultur, die für ihn noch mehr als Leben ist. D e r Anspruch eines einheitlichen Lebensverständnisses k a n n a b e r auch die cartesianische Entzweiung der Wirklichkeit verdecken und dadurch zementieren. Im Dialektischen M a t e r i a l i s m u s erscheint Leben objektivistisch als spezielle Bewegungsform der M a t e r i e , entstanden im R a h m e n einer allgemeinen „ D i a l e k t i k " der Natur im Qualitätssprung von Anorganischem zum Organischen (Friedrich Engels). G e n a u e r ist Leben hier die Daseinsweise der E i w e i ß k ö r p e r . Eine umgekehrt subjektivistische Verabsolutierung und Verallgemeinerung des Lebensbegriffes kann zu einer Ideologie führen, die im Leben des „ V o l k e s " den höchsten Wert sieht und ihm schließlich das Volk selbst zu opfern bereit ist (Adolf Hitler). Neukantianismus und Wertphilosophie versuchen, nach wie vor im B a n n e der S u b j e k t - O b j e k t Spaltung, doch diese reflektierend, Leben als vom S u b j e k t gesetzten Sinn- und Wertbegriff zu verstehen (Heinrich Rickert). Bei M a x Scheler erscheint Leben als Selbstwert, dessen Vergeistigung Aufgabe des M e n s c h e n ist. Sclbsttranszcndcnz ist auch für Nicolai H a r t m a n n Eigentümlichkeit des Lebens. Demgegenüber k o m m t die organismische Lebensphilosophie Ludwig von Bcrtalanffys mit Hilfe des Systembegriffs zu einer neuen ganzheitlich-integrativen L e b e n s a n s c h a u u n g , die die Forschungsergebnisse der neueren Biologie im Detail aufnehmen k a n n . Charakteristisch für die biologische Beschreibung des Lebens erscheint der Begriff des „ O f f e n e n S y s t e m s " : „Ein lebendiger Organismus ist ein Stufenbau offener Systeme, der sich aufgrund seiner Systembedingungen im Wechsel seiner Bestandteile e r h ä l t " (Weltbild 124). R o m a n o - » G u a r d i n i b e t o n t den Gegensatz; als Weise menschlichen Lebens u m f a ß t er alles Lebendige in spannungsreichcr Einheit. Diese Einheit aber ist ein offenes System. N a c h H a n s J o n a s wiederum müsse eine Philosophie des Lebens von dem O r g a n i s m u s als seiner objektiven Form und zugleich von seiner Selbstdeutung in der Reflexion des M e n s c h e n handeln, und R e i n h a r d Low zielt wieder im Anschluß an R o b e r t S p a e m a n n auf eine ontologische Teleologie des Lebendigen hin. Er nimmt dabei M u s t e r der römisch-katholischen N a t u r p h i l o s o p h i e auf, wie sie je auf ihre Weise J o h a n n e s H a a s , Adolf H a a s , Heinz-F.duard-Hengstenberg, Rupert Lay u. a., seit 1955 in Auseinandersetzung mit —»Tcilhard de C h a r d i n , entwickelt h a b e n . Sofern hier immaterielle Kräfte wie substantielle F o r m e n , Entelcchicn, geistige Pläne oder ähnliche Prinzipien a n g e n o m m e n werden, hat sie Karl R a h n e r als „hylemorphistischen V i t a l i s m u s " charakterisiert (bei G e h r i g 5 7 ) . Der Systembegriff ist insbesondere in der jüngsten sozialphilosophischen Diskussion aufgenommen worden. Reflektierte schon T h e o d o r W. A d o r n o aufgrund der zivilisatorischen Beschädigungen des Lebens auf das menschlich verantwortete „ r i c h t i g e " L e b e n , so bringt gegen ein als sozialtechnologisch apostrophiertes systemthcoretisches Verständnis des Lebens (Niklas L u h m a n n ) Jürgen H a bermas neu den Begriff der „ L c b c n s w e l t " ins Spiel, von dem her „ k o m m u n i k a t i v e s H a n d e l n " als soziale Aufgabe des M e n s c h e n entwickelt wird.

1.4. Biologie. Durchgesetzt hat sich bis in die heutige Wirkungsgeschichte hinein die mit der cartesianischen Unterscheidung von res cogitans und res extensa beginnende methodische Rationalisierung des Lebensphänomens. Diese konnte sich auf Grund der gleichen ontologischen Voraussetzungen selektiv der gleichen Begrifflichkeit bedienen wie die katholische und protestantische Schulphilosophie und in deren Gefolge die orthodoxe theologische Dogmatik. Hier liegt die Tragik beim Beginn des neuzeitlichen Denkens. Leben wird Gegenstand der kausalanalytischen Erklärung im Bereich empirischer Erfahrung. Das ist dann langfristig auch die Voraussetzung seiner Manipulation. Die Maschinentheorie des Universums, die zunächst in der Kosmologie entwickelt worden war, konnte nun auch auf die Lebewesen angewandt werden. Joachim Jungius betrachtete 1638 Pflanzen und Tiere wie Mineralien als physikalische Körper; eine anima wurde ihnen nicht mehr zuerkannt. Er begründete damit die neuzeitliche Botanik als Naturwis-

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senschaft. Im Kontrast dazu konnte die Konzentration auf das Heil der Seele in der Theologie dieser Entwicklung zu ihrem Teil Vorschub leisten. Der Manipulation des Lebens auf dem Hintergrund der traditionellen metaphysischen Weltsicht im Barock korrespondiert dessen rationalistische Interpretation in der Aufklärung, die dann auch der Entwicklungsgedanke aufnimmt (-»Entwicklung). Die moderne Biologie hat hier ihre Wurzeln. Auf Grund einschlägiger Beobachtungen und Experimente konnte die Möglichkeit einer spontanen Entstehung von Lebewesen, z.B. Urzeugung aus Schlamm und Unrat (Motten, Würmer, Frösche) widerlegt werden. William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs (1628), erkannte durch seine Untersuchungen der Fortpflanzungsverhältnisse von Tieren, daß jedes Tier aus einem Ei entsteht (omne atiimal ex ovo, 1651), Jan Swammerdam, daß jedes Leben sich von Leben herleitet (omne vivum e vivo, 1669). Die zelluläre Basis des Lebens beschrieb Rudolf Virchow (omnis cellula e cellula, 1855). Die Sterilisationsexperimente von Louis Pasteur (Preis der französischen Akademie der Wissenschaften 1864) schlössen eine spontane Entstehung von Lebewesen überhaupt aus. Wurde bis zur frühen Neuzeit das Unbelebte vom Belebten und damit vom Lebendigen her als Totes gedacht, so kehrte sich im Zeitalter des Mechanismus die Bezugsrichtung um. War ein prinzipieller qualitativer Unterschied zwischen beidem anerkannt, so konnte nun von der unbelebten Materie aus auf den belebten Organismus hin gedacht werden. Die Synthese von organischen Verbindungen (Oxalsäure und Harnstoff) aus anorganischen Bausteinen durch Wöhler (1824, 1828) eröffnete die Möglichkeit, von dieser Seite aus erneut eine Brücke zu schlagen. Die Lebewesen konnten nun als Gestalten belebter Materie verstanden werden. Experimente als materielle Eingriffe in Lebenszusammenhänge können Leben nach Wünschen menschlicher Subjekte verändern. Die mechanistische Erklärung des Lebens ist die Voraussetzung ihrer Anwendung bis hin zur Gentechnologie. Der Weg vom einen zum anderen ist freilich lang und vielfältig gewesen. Er bedurfte der Hilfestellung aller Disziplinen der Naturwissenschaft, insbesondere von Physik und Chemie. Wichtige Etappen waren die Zellenlehre, die Proteinchemie, die Entwicklung der Nukleinsäuren und ihrer Funktionen, die Realisierung der stereochemischen und physikalischen Bedingungen der Lebensprozesse schon auf molekularer Ebene. Die mechanistische Behandlung des Lebensphänomens in der Nachfolge Descartes' konnte freilich weltanschaulich nicht befriedigen: Ihr Reduktionismus lag zu offen zu Tage. Doch man blieb im Bannkreis des Rationalismus, wenn man im Gegenzug eine Lebenskraft (F. C. Medicus, 1774) postulierte, die ihrerseits als causa efficiens das Defizit einer Maschinentheorie ausgleichen sollte. Der Vitalismus, wie ihn Hans Driesch 1909 mit einem erneuerten Entelechiebegriff oder etwa Adolf Meyer-Abich mit dem Begriff der „Ganzheitskausalität" vertrat, ist das Pendant des Mechanismus, und die Diskussion um diese Alternative bestimmte die naturphilosophischen Überlegungen über das Lebensphänomen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts (z. B. Eduard von Hartmann, Richard Woltereck, Karl Ernst Ranke, Gustav Wolff, Ludwig von Bertalanffy, Max Hartmann). Sie ist von Eduard May erkenntnistheoretisch analysiert und eingeordnet worden. Neuere Versuche einer synthetischen Zusammenschau biologischen Wissens haben deshalb mehr die Integration des verfügbaren Wissens in einer evolutiven Gesamtperspektive denn als Explikation der Wirksamkeit bestimmter Prinzipien im Blick. Jüngst ist auf Grund neuer mathematischer Modelle geradezu von „Komplexität" als einem neuen Paradigma der Naturwissenschaften die Rede, das auch die Lebensphänomene umfaßt (Gert Eilenberger 1989). 2. „Leben" in gegenwärtiger

Biologie

Faktisch hat sich in der experimentellen Biologie und der dazugehörigen biologischen -»Technik jedoch der Mechanismus durchgehalten. Er ist bis heute wirksam. Die Praxis moderner Biotechnologie ist ein Beispiel dafür. Ähnliches gilt für wichtige Teile der Medizin, wie schon die Organisation eines modernen -»Krankenhauses und der Ge-

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brauch (und Mißbrauch) von Medikamenten zeigen. Dennoch sind die Diskussionen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts und die der letzten Jahrzehnte nicht spurlos vorübergegangen. Dort, wo Gefahren und schädliche Nebenwirkungen naturwissenschaftlicher Forschung und ihrer Anwendung größer werden als die gewünschten Effekte, ist man hellhörig geworden und fragt nach den größeren Zusammenhängen. Charakteristisch sind schon die Definitionsversuche, die zu erfassen suchen, was Leben ist. Sie sind allesamt Beschreibungen des Lebensphänomens mit den Mitteln naturwissenschaftlicher Begriffsbildung, keine Erklärungen im eigentlichen Sinne. Günther Osche beispielsweise charakterisiert Leben zunächst als „eine Seinsform der irdischen Materie". Das erinnert an die Definition von Friedrich Engels, Leben sei eine „besondere Daseinsweise von Eiweißkörpern". Näherhin wird Leben dann als Systemeigenschaft beschrieben: Sie macht mehr aus als die Summe ihrer Teile, die ihrerseits isoliert nicht längere Zeit lebensfähig sind. Leben begegnet als Phänomen: „Es tritt stets nur in Form eines hoch komplex organisierten Verbandes ihrerseits ebenfalls komplexer Strukturen (Organellen, Organe) auf, durch deren geregeltes Zusammenwirken (Synorganisation) das Phänomen Leben als neue Systemeigenschaft möglich ist" (Osche 211). Nach einer anderen Charakteristik ist Leben ein „stationärer dynamischer .Zustand' eines materiellen Systems komplizierter chemischer Zusammensetzung, der aus einem Zusammenwirken aller Einzelbestandteile auf Grund physikalischer und chemischer Wechselwirkung resultiert und sich - mit fließenden Übergängen im Grenzbereich - in charakteristischer Weise von den Erscheinungsformen unbelebter Materie unterscheidet" (Meyers Enzyklopädisches Lexikon 14 [1980] 711). Der Anspruch einer Definition kann zu zirkulärer Argumentation führen, so, wenn Leben beschrieben wird als „die Gesamtheit der Erscheinungen, durch die sich die pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebewesen (Organismen) bis zu den einfachsten einzelligen Formen von leblosen Körpern unterscheiden" (dtv-Lexikon 11 [1966] 144). Carsten Bresch unterscheidet drei Klassen von Mustern: die evolutionär frühen Muster erster Art, die alle materiellen Gebilde der unbelebten Welt umfassen, die Muster zweiter Art, die alle Lebewesen darstellen, und schließlich Muster dritter Art, die Engramme im Gehirn von Tier und Mensch. „Leben" wird dann definiert als „die charakteristische Eigenschaft der Muster zweiter A r t " (Wörterbuch der medizinischen Grundbegriffe [1979] 184). Gerd von Wahlert dagegen bestimmt Leben allgemein als Daseinsweise der Biosphäre: „Leben ist kein Zustand auf der Erde, sondern der Erde selbst. Leben ist die Daseinsweise der belebten Erde" (von Wahlert 65). Das ist vom ökologischen Zusammenhang, nicht vom Einzelwesen her gedacht. Prägnant formuliert Ernst Mayr: „Immer wieder hat man versucht ,Leben' zu definieren. Diese Bemühungen sind ziemlich zwecklos, besteht doch heute keinerlei Zweifel mehr daran, daß es keine spezielle Substanz, keinen Gegenstand und keine Kraft gibt, von der man sagen kann sie sei Leben. Doch man kann definieren, was es bedeutet, zu leben. Ohne Frage besitzen lebende Organismen bestimmte Attribute, die bei unbelebten Objekten nicht oder nicht in derselben Weise zu finden sind" (Mayr 43). Diese Merkmale „lassen keinen Zweifel daran, daß ein lebendes System etwas ganz anderes ist als ein unbelebtes Objekt. Gleichzeitig jedoch befindet sich keine einzige dieser Eigenschaften in Widerspruch zu einer streng mechanistischen Interpretation der Welt" (49). Im weiteren werden dann Merkmale und Funktionen, Eigenschaften und Fähigkeiten zusammengestellt, die lebende Organismen charakterisieren. Das sind in erster Linie Stoff- und Energiewechsel (Ernährung, Atmung), invariante Selbstreproduktion (Selbstvermehrung, Fortpflanzung) und ein gewisser Erbwandel (Mutabilität, Artvarianz). Dem können weitere Merkmale an die Seite gestellt oder eingeordnet werden. Dazu gehören das Substrat organischer Verbindungen (Eiweiße, Kohlehydrate, Fette; Nukleinsäuren als genetisches Material), das Protoplasma, die Doppelung von biochemischen Informations- und Funktionsträgern („Legislative" und „Exekutive" in der Regel von DNS und RNS im Informationsstoffwechsel, Symbiose von Nucleinsäuren und Proteinen); die zellige Struktur der Organismen, wobei die Zelle als Elementarorganismus Individualität der Lebewesen begründet; Komplexität als Medium hierarchischer Organisation mit sehr hohen Ordnungsgraden; Aktivität, Beweglichkeit, Kontraktilität; die Fähigkeit zur Selbstregulation, Selbstorganisa-

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tion und R e g e n e r a t i o n ; Äquifinalität, W a c h s t u m , a u t o n o m e Gestaltverwirklichung und -erhaltung, T e l e o n o m i e (die Ausbildung zweckbestimmter Funktionsstrukturen); die Abfolge von W a c h s t u m , Differenzierung, T o d ; Reizerscheinungen ( R e i z a u f n a h m e , - b e a n t w o r t u n g , nervöse Steuerung); Sexualität; gemeinsamer Usprung, Evolution von Arten. Insbesondere wird darauf hingewiesen, d a ß der Aufbau und die Erhaltung der k o m p l e x e n O r g a n i s a t i o n der lebendigen Substanz mit ihrem sehr hohen Ordnungsgrad nur in einem energetisch offenen System möglich ist, in dem ein Fließglcichgewicht herrscht und biologische Regelkreise durch Rückkoppelungsprozesse gesteuert werden. D a s gilt sowohl für jedes einzelne Lebewesen wie für seine Einbindung in seinen L e b e n s r a u m , das Ö k o s y stem ( - » Ö k o l o g i e ) . J e d e s Lebewesen braucht ein Lebcnsmilieu. Entscheidende Bedeutung hat die Fähigkeit zur A n s a m m l u n g von genetischer I n f o r m a t i o n in einem chemischen Informationsspeicher ( G e n o m ) einschließlich Informationsentstehung und -Übertragung, also die T a t s a c h e der Vererbung.

Um Leben weiterhin zu charakterisieren, wird seine Entstehung und seine Geschichte auf der Erde, die Evolution der Organismen reflektiert (-•Entwicklung). „Es gibt in einem Organismus kaum eine Struktur und Funktion, die man völlig verstehen kann, solange man diesen geschichtlichen Hintergrund nicht mit in Betracht zieht" (Mayr 58). Die Ergebnisse der kausalanalytischen Forschung bieten dafür das Material. Danach ging der Entstehung des Lebens eine chemische Phase der Evolution voraus. Organisch-chemische Substanzen, die beim Aufbau der Organismen eine Rolle spielen, sind auch außerhalb der Erde im Weltall nachgewiesen worden. Eine Reihe von ihnen ist offenbar auch durch Meteoriten auf die Erde transportiert worden. Experimentell sind die geologischen und atmosphärischen Bedingungen, die physikalischen und chemischen Verhältnisse der Urzeit der Erde vor der Entstehung des Lebens simuliert worden (S.L. Miller, 1953 im Anschluß an Überlegungen von Oparin, Haidane und Urey). Aus Ausgangsstoffen wie Wasser, Methan, Ammoniak, Schwefel- und Cyanwasserstoff u.a. konnten Endprodukte wie organische Säuren, Aminosäuren, Zucker, Purin- und Pyrimidin-Derivate u.a. erzeugt werden. Aus solchen Stoffen können sich polymere und eiweißähnlichc Substanzen (Proteinoide) bilden. Im Urmeer werden sich solche Stoffe in wachsender Konzentration angesammelt haben („Ursuppe"). Auf physikalischem Wege können sich auch Strukturen bilden, die zellähnlichen Charakter haben (Koazcrvate, Mikrosphären: Oparin, Fox; bereits von Membranen umgebene Vesikel: Woese). Entscheidend für das biologisch beschreibbare Leben ist das Zusammenspiel von sich identisch vermehrenden Nukleinsäuren und Eiweißen (Proteinen). Die abiogene Entstehung von Nukleinsäuren mit der Information für die Synthese von Enzymen, die die Selbstvermehrung steuern, ist denkbar. Manfred Eigen hat 1952 die Hypothese aufgestellt, daß der Entstehung des Lebens die Bildung von „Hyperzyklen" zugrunde liegt: Funktionseinheiten von Nukleinsäuren und Proteinen, die sich wechselseitig steuern und gemeinsam ein offenes System bilden, das gegenüber seiner Umwelt Selektionsvorteile genießt (das Übersetzungsprodukt [Protein: Enzym] einer Nukleinsäure A begünstigt die Reproduktion einer Nucleinsäure B. Deren Übersetzungsprodukt wirkt auf C und so weiter bis auf X , das wieder die Reproduktion von A beeinflußt). Entscheidend ist, daß ein metastabiles Fließgleichgewicht aufrechterhalten wird, das sich selbst erhält und reproduziert und gleichzeitig Lebensvorteile wahrnimmt. Der Schutz solcher Reaktionssysteme und Strukturen gegenüber störenden Umwelteinflüssen führte zur Ausbildung der Organisationsform Zelle. Der Zellmembran kommt dabei eine wichtige Bedeutung zu. Nach Eigen erfolgte eine solche Evolution zu optimaler Effizienz mit Notwendigkeit; biophysikalisch sei von einer Unabwendbarkcit der Selbstorganisation zu sprechen. Diese These ist noch umstritten: Auf der Tagung der International Society for the Study ofthe Origin ofLife (ISSOL) 1986 in Berkeley erschien die Kluft zwischen den Ergebnissen der chemischen Simulationsexperimente und der Möglichkeit, mit Hilfe „präbiotischer Bausteine" phylogenetische Vorläufer der ersten Zellen (Progenoten) zu rekonstruieren, immer breiter (K. Dose). Die Bedeutung supramolekularer Integrationsstrukturen und die Unkenntnis der wahren Lebensbedingungen am Anfang der Erdentwicklung wurden betont. Die ersten sicheren paläontologischen Funde zur Frühgeschichte des Lebens werden mit einem

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Alter von e t w a 3,5 Milliarden J a h r e n angegeben. Es h a n d e l t sich u m O r g a n i s m e n , die d e m T y p der heutigen Blaualgen z u g e o r d n e t w e r d e n . Geologische H i n w e i s e auf Leben gibt es seit 3,8 Milliarden J a h r e n (gebänderte Eisenerze in G r ö n l a n d als H i n w e i s auf Sauerstoff [ 0 2 ] biotischen Ursprungs). D e r Vorrat von abiogen e n t s t a n d e n e n organischen N a h r u n g s s t o f f e n w i r d von d e n ersten Lebewesen schnell v e r b r a u c h t w o r d e n sein. Unter d e n Bedingungen einer reduzierenden A t m o s p h ä r e (Wasserstoff, M e t h a n , A m m o n i a k ) k o n n t e n z u n ä c h s t n u r a n a e r o b existierende O r g a n i s m e n leben. Als sich schließlich nach einem langen Weg Bakterien mit der Fähigkeit der P h o t o s y n t h e s e u n d vermutlich d u r c h deren E i n w a n d e r u n g in weiter entwickelte, k e r n h a l t i g e Zellen (Endosymbiose) erste g r ü n e Algen entwickelt h a t t e n , die Kohlendioxyd verwerten k o n n t e n und Sauerstoff in wesentlich g r ö ß e rem M a ß s t a b ausschieden, n a h m der Sauerstoffgehalt der A t m o s p h ä r e schnell zu. M i t H i l f e der möglicherweise ebenfalls d u r c h E n d o s y m b i o n t e n ( M i t o c h o n d r i e n ) e n t s t a n d e n e n S a u e r s t o f f a t m u n g w u r d e eine e n t s c h e i d e n d e Verbesserung des Energiestoffwechsels möglich, die zur Weiterentwicklung u n d Verbreitung der g r ü n e n Pflanzen f ü h r t e . D a m i t e n t s t a n d die Basis f ü r die h e t e r o t r o p h e E r n ä h r u n g der Tiere, die ihrerseits neue O r g a n i s a t i o n s s t u f e n des Lebendigen ermöglichte. Weitere Schritte bei der E n t w i c k l u n g , M o m e n t e effektiver O r g a n i s a t i o n des Lebendigen, die im L a u f e der fortschreitenden Evolution e n t s t a n d e n , sind: die genetische R e k o m b i n a t i o n d u r c h - » S e x u a l i t ä t - sie ermöglichte, d a ß die Selektion nicht m e h r n u r bei Individuen, s o n d e r n bei „ A r t e n " , einem G e n p o o l von Individuen, ansetzen k o n n t e ; M u t a t i o n s k o i n z i d e n z e n ermöglichten Beschleunigungen der Evolution; die Differenzierung von Keim- u n d s o m a t i s c h e n Zellen e r m ö g l i c h t e Funktionsverteilungen i n n e r h a l b des einzelnen O r g a n i s m u s zugleich mit deren genetischer Sicherung, wobei d a s Ableben der Individuen nach deren R e p r o d u k t i o n eine evolutionsschädliche D u r c h m i s c h u n g des G e n p o o l s verhinderte; die A u s b i l d u n g von Nervenzellen u n d von N e r v e n s y s t e m e n e r m ö g l i c h t e neue F o r m e n von K o m m u n i k a t i o n u n d K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m e n , die schließlich bis zur D e n k f ä h i g k e i t des M e n schen f ü h r t e .

M i t der menschlichcn - » K u l t u r und Zivilisation ist eine neue Phase der Evolution erreicht, die z u n e h m e n d das Bild der Erde verändert. „ L e b e n " erreicht hier durch „ G e i s t " gewissermaßen eine neue Q u a l i t ä t . Für die Steuerung des Lebens werden n u n neue, andere M a ß s t ä b e erforderlich, als sie sich aus der bisherigen Evolution ergeben. Von biologischer Seite werden an dieser Stelle Wertorientierungen eingefordert (Eigen). Diese betreffen nicht nur d a s Leben der M e n s c h e n miteinander, sondern auch das Leben der M e n schen in der Biosphäre ü b e r h a u p t , also das Verhältnis zu den a n d e r e n O r g a n i s m e n . „ U m weltethik" ergibt sich also als notwendiges Postulat aus der Evolution des Lebendigen bis hin zum Menschen und d a n n auf der Ebene menschlicher Kultur und Zivilisation. Gerd Theißen hat an dieser Stelle von d e m notwendigen Ubergang vom Selektions- zum Solidaritätsprinzip gesprochen. Solidarität ist nicht nur im Z u s a m m e n l e b e n der Menschen notwendig, um im Atomzeitalter zu überleben, sondern stellt auch die G r u n d l a g e eines lebcnsdienlichen Umgangs mit den anderen Lebewesen, mit der N a t u r ü b e r h a u p t dar. Das christliche Verständnis von Liebe auf G r u n d von H o f f n u n g und G l a u b e (I Kor 13) gewinnt hier neue Bedeutung. In anderer Interpretation k a n n dem christlichen G l a u b e n geradezu ein - vielleicht: der entscheidende — Selektionsvorteil im Kampf u m s Dasein zugesprochen werden (z.B. H . Ringeling). M o d e r n e Astrophysik und Biologie sind der M e i n u n g , d a ß die Entstehung und Entwicklung von Leben an anderen Stellen im Weltraum nicht nur nicht auszuschließen, sondern sehr wahrscheinlich ist. Die Exo- o d e r Kosmobiologie geht dieser Fragestellung nach. In nächster N ä h e zur Erde haben wahrscheinlich auf d e m M a r s vor mehr als vier Milliarden J a h r e n ähnliche Bedingungen geherrscht wie auf d e r Erde. D u r c h das Einfrieren des d a m a l s v o r h a n d e n e n flüssigen Wassers w u r d e zugleich ein Z u s t a n d eingefroren, wie er wahrscheinlich auch auf der primitiven Erde bestand. D a ß unterschiedliche Zivilisationen innerhalb des Weltalls miteinander in Kontakt treten k ö n n e n , ist extrem unwahrscheinlich. An dieser Stelle öffnet sich freilich ein weites Feld weltanschaulicher Spekulationen. 3. Betonung

des „Lebens"

in neuerer systematischer

Theologie

In Entsprechung zur Vielfalt des Lebens m u ß sich jeder theologische E n t w u r f auf „ L e b e n " beziehen und bedenken, w a s angesichts der Geschichte Jesu Christi s o w o h l d a s ewige wie das empirische Leben bedeutet. Der Lebensbezug christlicher T h e o l o g i e ist

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elementar. Eine umfassende Geschichte des christlichen Lebensverständnisses käme daher einer umfassenden Geschichte von Glaube, Frömmigkeit und Theologie gleich. Hier kann nur auf einige neuere theologische Konzeptionen hingewiesen werden, in denen der Lebensbegriff eine zentrale Stellung einnimmt und insofern besondere Aufmerksamkeit hervorruft. Solche Hinweise können keinesfalls vollständig sein; andere Gesichtspunkte der Auswahl sind durchaus denkbar. In Abgrenzung vom Cartesianismus und rationalistischer Theologie und ihrer „geheimen Leere" hat Fr. Chr. -»Oetinger im Anschluß an J . -»Böhme und die -»Kabbala seine Theologia ex idea vitae deducta (erschienen 1765) entwickelt. „Leben" ist hier neben der allgemeinen vita socialis elementar Natur und Geschichte als leibgeistige Einheit, erfahren im Lebenszusammenhang selbst. Im Sinne des Elementarverständnisses der Alchemie kann Leben dann geradezu gedacht werden als „chemische Idee". Daraus ergibt sich das theologische Lebensverständnis: Leben ist Einheit vieler einander widerstrebender Kräfte. In Gott ist diese Einheit unauflöslich. So ist Gott mit der Welt verbunden: Das Leben Gottes und das Leben der Schöpfung sind von gleicher Struktur. Die Sünde als Verwirrung der irdischen Kräfte hemmt die Weiterentwicklung des Lebens; daß diese dennoch geschieht und zur Vollendung der Schöpfung führt, ist heilsgcschichtliche Hoffnung. Ewiges Leben ist ewiges Heil, Christus, das Leben des Menschen, ist der Mittler. Für F.D.E. -»Schleiermacher oszilliert das Leben zwischen abgeschlossenem Dasein und Gemeinschaft mit dem Ganzen, zwischen Bindung aller Naturkräfte in einem Zentrum und offenem Aufnehmen und Hervorbringen. Das zeigt sich als Wahrnehmung und Erzeugung, als Erkennen und Darstellen. Beides gehört jeweils zusammen. Im Setzen eines Persönlichen und Zeitlichen und im Aufheben der Persönlichkeit und der Zeit darin erfüllt sich menschliches Leben. Wie jedes Leben als Bild des Absoluten ein Ineinander von Gegensätzen ist, so trägt das Absolute auch diese Polarität. Die „schlechthin zeitlose Ursächlichkeit" Gottes bedingt alles Zeitliche. So bestimmt das ewige Leben Gottes das Zeitliche in seiner Spannung und fügt es zur lebendigen Einheit (Der christliche Glaube 2 §52 Leitsatz). Jesus Christus ist das Urbild dafür. R . - • Seeberg hat in seiner Arbeit über das ewige Leben (1915, s 1 9 2 0 ) dem verständigen, logischen Denken das E r l e b e n , das Empfinden, Schauen und Wollen als irrationale Realität gegenübergestellt. Diese umfassende W i r k l i c h k e i t des Lebens k a n n mit den Kategorien des Verstandes nicht erfaßt werden; sie partizipiert am geistigen G e s a m t l c b e n der Menschheit und steht in der G e m e i n schaft des Geistes, dem G r u n d allen geistigen Lebens, überhaupt. „Kein Grund wird je ersichtlich, der dies Leben zum Stillstand bringen könnte. Es ist aus G o t t , darum ist es ewig und es ist unserem Wesen angemessen, d a r u m sind wir ewig. Es ist ewiges Leben und es ist unser L e b e n " (38). Der sündige Wille bricht aus dem Z u s a m m e n h a n g der geistigen Gesamtbewegung aus und isoliert sich damit (40); der ewige gute Wille entschwindet denen, die das G u t e nicht selbst wollen (44). Von Jesus dringt aufs neue das wirkliche Leben des Geistes in seine Anhänger ein. D a s ist „sittliches und heiliges Leben und es ist zugleich ewiges und seliges L e b e n " (48). Es gilt, sich der M a c h t seines Geistes zu unterstellen (49). „ D e r Auferstehungsgedanke verbürgt die individuelle Fortexistenz derer, in denen das Leben des Geistes begonnen h a t " (57).

„Ehrfurcht vor dem Leben" lautet das programmatische Stichwort A. -»Schweitzers, „ich bin Leben inmitten von Leben, das leben will", seine Begründung. Im Willen zum Leben zeigt sich das Geheimnis des Seins und des Lebens. In der Welt steht der Mensch damit im Widerspruch zu sich selbst. Grundprinzip der Ethik kann deshalb nur das Opfer sein (110). Die Grundidee des Guten gebietet, „das Leben zu erhalten, zu fördern und zu seinem höchsten Wert zu steigern"; das Böse bedeutet: „Leben vernichten, schädigen, an seiner Entwicklung hindern". Die Liebe will dem Leben dienen; sie gibt sich dem Leben hin und tritt damit in ein geistiges Verhältnis zum Schöpferwillen (llOf). Sie weiß sich darin dem Geiste Jesu Christi verbunden (82ff). In ihm wird Gott als Wille der Liebe offenbar. „In der Gemeinschaft mit Christo verwirklicht sich also die Gemeinschaft mit Gott, wie sie uns bestimmt ist" (84). Das kommende Reich kommt durch das Wunder des Geistes, der Glaube vergeistigt sich darin. Das unmittelbare Erleben des Sterbens und Auferstehens mit Christus ist die Pforte des Eingangs zum Ewigen. Das ewige Leben ist

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d a n n d e r H o r i z o n t f ü r die E h r f u r c h t v o r d e m geschöpflichen L e b e n in seiner n a t ü r l i c h e n Z e r r i s s e n h e i t . Die T e i l h a b e a m e w i g e n Leben tritt in d e r Z e i t u n s e r e s Seins in d e r irdischen Welt als ein Geistig-Ethisches in E r s c h e i n u n g (87). Von einem elementaren Lebensverständnis her hat auch Ernst Steinbach seinen theologischen Entwurf als „Anweisung zum Leben" (1949, 4 1977) entfaltet. Er hat seine Wurzel in der „Lebenslehre Jesu" als vornehmste Auffassung von Leben; Jesus besaß den „Geheiminstinkt" für das „Leben überhaupt". Dieses ist diesseitig und jenseitig zugleich und in dieser Doppelheit als „das eine, unteilbare Leben, welches den Tod verneint und die Furcht vor dem Tod überwindet". Seine Wirklichkeit und überlegene Möglichkeit gilt es zu erschließen (12 f). Dazu gehört auch die Überwindung von Krankheit; das Thema „Gesundheit" als sittliche Frage (187) nimmt deshalb eine zentrale Stellung ein (161 ff). Sünde ist Erkrankung des Willens (188). „Gesundheit erweist sich darin, daß sie helfen kann und sofort helfen will" (192). Das entspricht der „Struktur der Welt, wie sie aus dem väterlichen Grunde erwächst" (226). In e i n e m u m f a s s e n d e n o n t o l o g i s c h e n E n t w u r f h a t P. —•Tillich d a s L e b e n s p h ä n o m e n s y s t e m a t i s c h zu erfassen g e s u c h t (Systematische T h e o l o g i e III). L e b e n w i r d hier in n e u e r A n k n ü p f u n g an Aristoteles definiert als „ P r o z e ß d e r A k t u a l i s i e r u n g v o m Potentiellen z u m A k t u e l l e n " . Seine F u n k t i o n e n sind „ S e l b s t - I n t e g r a t i o n u n t e r d e m Prinzip d e r Z e n t r i e r t h e i t " , „Sich-Schaffen u n t e r d e m Prinzip d e s W a c h s t u m s " , „ S e l b s t - T r a n s z e n d i e r u n g u n t e r d e m Prinzip des H e i l i g e n " . A u s d e r p o l a r e n S t r u k t u r v o n S e l b s t - I d e n t i t ä t u n d S e l b s t - V e r ä n d e r u n g ergeben sich d a r i n die „ G r u n d p o l a r i t ä t e n " v o n „ I n d i v i d u a l i s a t i o n u n d P a r t i z i p a t i o n " , „ D y n a m i k u n d F o r m " s o w i e „ F r e i h e i t u n d S c h i c k s a l " . In d e r „ e x i stentiellen E n t f r e m d u n g " d e r „ v i e l d i m e n s i o n a l e n E i n h e i t " d e s L e b e n s d r o h e n D e s i n t e g r a t i o n , Z e r s t ö r u n g u n d P r o f a n i s i e r u n g , D ä m o n i s i e r u n g . Die L e b e n s p r o z e s s e w e r d e n zweideutig (44). Die Lehre vom Geist f ü h r t d a n n zu der Lehre v o m Reich G o t t e s als ewiger E r f ü l l u n g : I n t e g r a t i o n geschieht d u r c h die E r h e b u n g in „ d a s , w a s s y m b o l i s c h d a s G ö t t l i che selbst g e n a n n t w e r d e n k a n n " . U m f a s s e n d e , geistige G e s u n d h e i t ist e n t s p r e c h e n d die „ t r a n s z e n d e n t e Einheit u n z w e i d e u t i g e n L e b e n s " (321). Die Einheit v o n I d e n t i t ä t u n d V e r ä n d e r u n g als Kennzeichen des L e b e n s gelangt im e w i g e n L e b e n z u r E r f ü l l u n g . Die ewige D i m e n s i o n dessen, w a s im U n i v e r s u m auf d e m Weg v o n d e r Essenz ü b e r die existentielle E n t f r e m d u n g zur „ E s s e n t i f i k a t i o n " geschieht, ist d a s t r i n i t a r i s c h zu i n t e r p r e t i e r e n d e göttliche Leben selbst (475 f). D e r m e t a p h y s i s c h e Gottesbegriff d e r r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e n T r a d i t i o n ist i n s b e s o n d e r e ü b e r seine s p ä t n e u p l a t o n i s c h c K o m p o n e n t e ( A u g u s t i n u s , Scotus, Suarez) e n g mit d e m Lebensbegriff v e r k n ü p f t : G o t t ist das Leben s c h l e c h t h i n . D a s tritt in d e r T ü b i n g e r Schule d e r k a t h o l i s c h e n T h e o l o g i e ( J . A . - » M ö h l e r ) , n e b e n H e r m a n n Schell u n d M a t t h i a s J . Scheeben i n s b e s o n d e r e in der „ T h e o l o g i e des L e b e n s " Karl A d a m s h e r v o r . A d a m g e h t p h ä n o m e n o l o g i s c h von d e r E r f a h r u n g u n d B e s c h r e i b u n g des irdischen L e b e n s m i t seinen G e g e n s ä t z e n u n d S p a n n u n g e n a u s . „ Z u m g a n z e n vollen Leben g e h ö r t a u c h d a s Leiden u n d S t e r b e n " . D o c h menschliches Leben h ä n g t i m m e r m i t g ö t t l i c h e m L e b e n z u s a m m e n . Die Werte des L e b e n s gehen a u s d e m A b s o l u t e n h e r v o r , sie sind G o t t e s G a b e . D a s sittliche Leben gedeiht n u r , w e n n es v o n d e n K r ä f t e n d e r U b e r n a t u r b e f r u c h t e t w i r d . G o t t ist d e r „ A l l - L e b e n d i g e " , ein „ s e l b s t m ä c h t i g e s U r l e b e n " , „vita vitarum". In d e r T e i l n a h m e a n diesem göttlichen Leben besteht „ d a s u r s p r ü n g l i c h e ü b e r n a t ü r l i c h e Lebensziel d e s M e n s c h e n " (Kreidler 35 f). H a t d e r M e n s c h diese Q u e l l e seines L e b e n s verlassen u n d sich in d e r Welt des N a t ü r l i c h e n v e r l o r e n , so h a t er d u r c h C h r i s t u s e r n e u t u n d e n d g ü l t i g Z u g a n g z u m e w i g e n Leben G o t t e s e r h a l t e n . D a m i t k a n n er sein irdisches L e b e n m i t d e n i h m i n n e w o h n e n d e n L e b e n s k r ä f t e n u n d seiner S c h ö n h e i t neu g e w i n n e n . D a s g ö t t l i c h e L e b e n trägt u n d d u r c h h e r r s c h t die g a n z e S c h ö p f u n g . Eine in m a n c h e m ä h n l i c h e , a b e r g e g e n ü b e r d e r klassischen M e t a p h y s i k n o c h e i n m a l d y n a m i s i e r t e Perspektive ergibt sich a u s d e m e v o l u t i o n i s t i s c h e n A n s a t z P . - > T e i l h a r d d e C h a r d i n s . In A b g r e n z u n g v o n d e r T h e o l o g i e d e r N e u s c h o l a s t i k , d o c h tief in d e r T r a d i t i o n des r ö m i s c h e n K a t h o l i z i s m u s u n d in d e r m y s t i s c h e n T r a d i t i o n F r a n k r e i c h s u n d i h r e r H e r z - J e s u - F r ö m m i g k e i t v e r w u r z e l t , e n t w i c k e l t er eine Vision d e s L e b e n s , d i e in einer A r t

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Totalperspektive die Evolution des Kosmos, der Organismen auf der Erde und schließlich der Menschheit darstellt. Leben ist kein Zufallsgebilde, sondern die „fortgeschrittenste Form", die „eine der grundlegendsten Strömungen des Universums um uns herum angenommen hat". Lebendigkeit folgt notwendig aus den energetischen „Kräften der Synthese" der Schöpfung. Kosmisches Bewußtsein, Freiheit und Finalität sind seine Kennzeichen. Ihre wachsende Realisierung hat eine morphologische Außenseite in der Evolution des Gehirns: Leben ist als eine „Bewegung der Einrollung des kosmischen Stoffes auf sich selbst" vorzustellen mit zunehmender Komplexität, Zentriertheit und „psychischer Temperatur". Diese erscheint als Energie Liebe. Ihr korrespondiert ein „unvermeidlicher Aufstieg des Bewußtseins" (bei Adolf Haas, Teilhard de Chardin Lexikon I—Z 92ff). Die Geistigkeit des Menschen und schließlich auch der Übergang der Welt in ihren letzten Zustand kann als „Mehr-Leben" (Plus-Vie) bezeichnet werden (132). Christus und mit ihm die römische Kirche erscheinen als Evolutor, der der Anziehungskraft des Endpunktes der Evolution Omega folgt und damit als eigentliche Lebenskraft der Vollendung des Kosmos dient. Diese geradezu physischc Explikation des mystischen Glaubens an das Leben und sein absolutes Ziel interpretiert in den Kategorien der Evolutionstheorie die klassische Rede vom ewigen Leben und bestimmt auch das biologische Lebensverständnis. Von der u m f a s s e n d e n B e d e u t u n g des Lebens in der biblischen T r a d i t i o n („geschichtliche E n t h ü l lung der i m m e r selben W i r k l i c h k e i t " ) aus entwickelt K. - » R a h n e r mit H i l f e des Stichworts „Selbstt r a n s z e n d e n z " einen zentralen Lebensbegriff: „ L e b e n " sind Gestalten mit einer inneren Einheit einer heterogenen, hierarchisch gegliederten Vielfalt, sie h a b e n „ I n n e r l i c h k e i t " mit der Steuerung von S e l b s t a u f b a u , Selbsterhaltung u n d Verhältnis zur U m w e l t , e n t s p r e c h e n d Selbstbewegung, Lebensr a u m und Zeitgestalt: „ W e n n d a s heterogene, auf eine einheitliche, vorgegebene Leistung (mindestens der Selbstaufrechterhaltung) hin g e b a u t e materielle System seine Gezieltheit als solche sich selbst aneignet, sich innerlich m a c h t , ist d a s Lebendige g e g e b e n " (bei G e h r i g 63). D e r w a c h s e n d e n Einbeziehung der U m w e l t in den Bereich des eigenen Seins k o r r e s p o n d i e r t w a c h s e n d e „ A u s k e h r " in diese U m w e l t ( R a h n e r / V o r g r i m l e r 219). Von da aus k ö n n e n s o w o h l die a n o r g a n i s c h e M a t e r i e als Vorstufe und G r e n z z u s t a n d , als auch Geist u n d Person als R a d i k a l i s i e r u n g u n d Selbstüberbietung des Lebens verstanden w e r d e n . Leben entfaltet sich in der Geschichte der N a t u r , sich selbst transzendierend, in geistiges Leben hinein. G o t t ist G r u n d u n d Ziel dieser cvolutiven D y n a m i k und s c h e n k t sich dem Leben des M e n s c h e n als innerste K r a f t (Gnade) u n d E r f ü l l u n g , in der „die Welt des Lebens d a s Leben des Lebens selbst w i r d : vita a e t e r n a " . So geht d a s g a n z e Leben d e s M e n s c h e n in d a s ewige Leben G o t t e s ein. Das C h r i s t e n t u m ist folgerichtig so „ d i e Lehre v o m Leben s c h l e c h t h i n " (bei G e h r i g 63 f).

Im Protest gegen die kulturprotestantische Vermischung ebenso wie die römischkatholische In-Beziehung-Setzung von diesseitigem und ewigem Leben hatte die frühe -»Dialektische Theologie den Akzent auf die absolute Jenseitigkeit des Lebens Gottes gelegt. Das hat zu einem theologischen Lebensverständnis geführt, das zum biologischen Lebensbegriff nur noch paradox vermittelt werden konnte. Gottes Offenbarung ist „für alles, was ihr entgegenkommt und sie noch sucht, der Tod", und Leben ist „nur . . . , was aus ihr geboren wird", schrieb Fr. -»Gogarten 1921 (Die religiöse Entscheidung 59). Im Horizont des Wortes Gottes erscheint dann aber das Sein der Welt als Schöpfung Gottes. Der Mensch hat sie in der Mündigkeit des Sohnes als sein göttliches Erbe zu bewahren, indem er sie glaubend als Schöpfung wahrnimmt (Die Wirklichkeit des Glaubens 112). Die Bewahrung des Lebens der Schöpfung entspricht so der Wahrnehmung des Lebens des Schöpfers. Auch K. -»Barth geht im Ansatz davon aus, daß „durch das Sterben des Christus quer durch unser Leben die Todeslinie gezogen ist" (Der Römerbrief, München 2 1922, 142). „Keine seelisch-geschichtlich erkennbare Brücke führt herüber und hinüber von der alten zu der neuen Lebensmöglichkeit" (a.a.O. 143). Wenn Christus ein neues Leben eröffnet, so ist das zunächst ein „unsichtbarer Blick- und Beziehungspunkt, die Krisis, die mein Endliches durch mein Unendliches erfährt". Es wird keine menschliche Eigenschaft oder Betätigung. Unser mit Christus in Gott verborgenes Leben ist „jetzt und hier nur als ewiges Futurum,unser' Leben . . . — und nichts sonst" (a. a. 0 . 1 7 7 f). Eine in der Entwick-

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lung des Selbstbewußtseins oder enthusiastisch apokalyptisch begründete Einheit von Diesseits und Jenseits ist nicht möglich. Unter dieser Voraussetzung kann dann aber auch neu von dem geschöpflichen Leben gesprochen werden. Das ist insbesondere für die Ethik relevant. Leben als menschliches Leben ist für Barth zur Begründung seiner speziellen Ethik der „ E h r f u r c h t vor dem L e b e n " theologisch zu kennzeichnen als Leihgabe, zum Dienst G o t t e s bestimmt ( K D II1/4, 371 ff). Als solche hat es seine leib-seelische Struktur ( „ O r d n u n g " ) , seine Selbständigkeit, Zeitlichkeit und Ursprünglichkeit: im „Wissen um sich selbst als ein solches freies S u b j e k t seines L e b e n s " . Seine Bestimmung hat es vertikal in der Freiheit vor G o t t als seinem W o h e r und Wohin und horizontal in der solidarischen G e m e i n s c h a f t mit seinesgleichen. Von G o t t e s W o r t angeredet ist allein der M e n s c h - das Leben der T i e r e und Pflanzen und der N a t u r abgesehen v o m M e n s c h e n kann für B a r t h theologisch und also von diesem Wort her nicht thematisiert werden, so sehr der M e n s c h „ i m K o s m o s lebt, ein N a c h b a r des T i e r e s und in weiterem Umkreis der Pflanzen und ihres Lebens und allfällig weiterer L e b e w e s e n " , und dies auch als „ethisches R a n d p r o b l e m " ernst zu nehmen sei (376 0 Von einem „allgemeinen L e b e n s a k t " her sei aber keine Belehrung darüber zu e r w a r t e n , was unter einem „Leben unter G o t t e s G e b o t " zu verstehen ist. Die mit diesem G e b o t gegebene Freiheit zum Leben impliziert die Ehrfurcht vor ihm und seinen Schutz; sie realisiert sich dann als „tätiges L e b e n " des M e n s c h e n . Ist dieses dazu b e s t i m m t , G o t t zu dienen, so soll es G o t t e s Willen erfüllen und so letztlich dienend mit G o t t z u s a m m e n w i r k e n . D a s ist dann der Inhalt des ewigen Lebens: G o t t will sein ewiges Leben gemeinschaftlich mit dem M e n s c h e n leben ( K D I V / 1 , 121 ff). „In seinem Reich unter ihm leben und ihm d i e n e n " , nun „in des M e n s c h e n eigener, freier M i t v e r a n t w o r t l i c h k e i t für G o t t e s S a c h e " (123) - das ist die Z u k u n f t des ewigen Lebens. Sie kann nur christologisch begründet werden: „ E s geht um Seine, die Z u k u n f t J e s u Christi, und in Ihm um die der M e n s c h h e i t , eines jeden M e n s c h e n " (128). An seiner Seite wird G o t t e s Wille erfüllt, in dieser Welt vornehmlich h ö r e n d , im Reich G o t t e s unter ihm auch in aktiver Partnerschaft mit G o t t .

Allen bcgrifflichcn Abstraktionen und ideologischen Einseitigkeiten, aller Rede und allem Urteilen „über" das Leben gegenüber rekurriert D. ->Bonhoeffer auf das „Leben selbst" in seiner Geschichtlichkeit. „Leben selbst" bedeutet, daß „der Mensch selbst" in seinem Wesen „wirklich getroffen, verändert, zur Entscheidung genötigt" wird (Ethik 1 '229). So wird schon der „Beistand" Evas für Adam interpretiert (Schöpfung und Fall, 4 1958, 74). Die Joh 14,6; 11,25 ausgesprochene Wirklichkeit, daß Jesus Christus das Leben „ist", verwandelt die Frage nach dem Was des Lebens noch einmal in die personale Antwort: Wer das Leben sei - „nicht ein Ding, ein Wesen, ein Begriff, sondern eine Person", die Person Jesu. So kann die von Luther betonte Extraneität der menschlichen Existenz erneut betont werden: „Mein Leben ist außerhalb meiner selbst, außerhalb meiner Verfügung, mein Leben ist ein Anderer, ein Fremder, Jesus Christus," dergestalt, daß „das Leben selbst" Jesus Christus ist (Ethik 231). Von daher kann auch „gesagt werden, daß der andere Mensch und daß Gott unser Leben ist". Das eigene Leben ist dann Antwort, Antwort auf das „in Jesus Christus an uns gerichtete Wort Gottes". Diese Antwort kann nur mit dem ganzen Leben, in seinem Vollzug und „auf Leben und Tod", nicht irgendwie partikular gegeben werden. Leben ist in diesem Sinne Verantwortung (235f). Ihr entspricht „die Dankbarkeit, die das empfangene Leben ehrfürchtig bewahrt und die dieses Leben zugleich in den Dienst des Schöpfers stellt" (160). Daß „Gott der Schöpfer, Erhalter und Erlöser des Lebens" ist, macht dann „auch das armseligste Leben vor Gott lebenswert", „von Gott des ewigen Lebens wertgeachtet" (174). Der Bezug des ewigen Lebens zum Leben in seiner Phänomenalität ist in dieser Tradition in der „Dogmatik des christlichen Glaubens" Ebelings und der ethischen Theologie T. Rendtorffs erneut explizit gemacht worden. Ich greife diese Entwürfe wiederum als Beispiel heraus. Gerhard Ebelings Exposition seiner Dogmatik zielt auf die Eruierung der Frage ab, welchen Ort im Leben der Glaube hat (Dogmatik 1,80). Der Glaube ist ja selbst ein Lebensphänomen und gibt sich selbst als lebenswichtig, ja lebensnotwendig aus. Glaube meint letztlich „das eigentliche, das wahre Leben" (79). Mit diesem Anspruch ist er von vornherein auf das bezogen, was man sonst unter Leben versteht. Die Phänomenologie des Lebens gehört also unmittelbar in die theologische Reflexion hinein, ja bildet mit

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ihr ihren Ausgangspunkt - wenn denn Theologie nichts anderes als verantwortliche Rechenschaft über die Lebenswirklichkeit des Glaubens ist. Gegen das Mißverständnis einer künstlichen Absonderung des T o d e s vom L e b e n , das entweder zu einer das Leben verdrängenden Todesdevotion oder einer den T o d verdrängenden Lebensdevotion führe, weist Ebeling im Anschluß an Luther d a r a u f h i n , d a ß „das Leben nur unter Einschluß des Todes als Leben e r f a ß t " ist, wie auch „ d e r T o d nur in Hinsicht a u f das G a n z e des Lebens ernstgen o m m e n werden k a n n " . Leben findet seine Erfüllung, wenn durch die Sündenvergebung „ein Eintauchen des T ä g l i c h e n in die Einmaligkeit der G e s a m t b e w e g u n g des L e b e n s " möglich wird (Wort und G l a u b e III, 3 3 0 f). G o t t als G e i s t , der lebendig m a c h t , und als Liebe, die nicht aufhört, weisen a u f „ d a s Leben, auf das es im zeitlichen Leben letztlich a n k o m m t und das den M e n s c h e n heil sein ließe, wenn er es wirklich h ä t t e " (ebd. 4 5 9 ) . D a s ist das ewige L e b e n , das G o t t allein eigen ist, so w a h r G o t t e s Ewigkeit nicht Zeitlosigkeit, sondern Zeitfülle und Z e i t v o l l m a c h t ist (Wort und G l a u b e II, 127). Durch den G l a u b e n an den gekreuzigten Jesus ist daran schon jetzt Anteil gewährt. E s ist „das neue Leben als der M u t zum Z e i t l i c h e n , nämlich alles G o t t zu L o b e hinzunehmen und h i n z u g e b e n " (Wort und G l a u b e 11,460). Dieses Leben wird durch das Evangelium ganz in das ewige L e b e n hereing e n o m m e n , und das ewige Leben d a r f ganz in diesem Leben w a h r g e n o m m e n werden. S o ist das ewige Leben das „definitive Nein zum ewigen T o d " , das sich durch das Sterben hindurch vollendet (Dogmatik 111,507).

In seiner ethischen Theologie geht Trutz Rcndtorff in einem doppelten Dreischritt von drei Grundelementen der ethischen Lebenswirklichkeit aus: dem Gegebensein des Lebens, dem Geben des Lebens und der Reflexivität des Lebens. Sie bestimmen die Lebensführung. Der Mensch muß das Leben empfangen, er ist sich selbst als ethisches Subjekt gegeben (Ethik 1,34). Seine Freiheit impliziert die Aufgabe eines Lebens in Übereinstimmung mit Gott als dem Subjekt aller Wirklichkeit (42). Daraus folgt die Grundstruktur des sich betätigenden Lebens. Dieses betrifft das Leben anderer, ermöglicht oder hindert es. „Wir sind und gestalten für andere eine Welt des Lebens". Darin soll das eigene Leben anderen zunutze gelebt werden (45). So erscheint Liebe als Lebensgestalt der Freiheit (54ff). Liebe heißt „für andere die Umwelt zu sein, die sie zu einem guten Leben nötig haben" (60). Dazu bedarf es der Reflexivität des Lebens, die seine Fülle und Orientierungsbedürftigkeit, kommunikative Transzendenz und Glauben als Antizipation des Gelingens des Lebens im Blick hat. Der Freiheitssinn individuellen Lebens erfordert Vertrauen als inneren Sinn der Sozialität, und „sich mit den Augen anderer zu sehen, kann als die elementare Präsenz der Transzendenz in der eigenen Lebensführung gelten" (64). An den Grenzen des Wachstums muß sich die Suche nach Lebensqualität in neuer Verantwortung für die Qualität menschlicher Lebensführung konkretisieren (11,171). Ubersteigen die Folgen des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts die „Reichweite korrekturfähigen Handelns", bedeutet Verantwortung, „dem Fortschritt... eine andere Richtung zu geben" (134). Das Gelingen des Lebens ist der Hoffnungssinn christlicher Ethik (180). Gelungenes Leben ist erfülltes Leben. Das hängt mit -»Liebe zusammen, und Liebe ist Lebensbejahung. Bejahung bedeutet Annahme des Lebens in seinen Höhen und in seinen Tiefen. Jürgen Moltmann formuliert: „In jedem Akt der Lebensbejahung . . . werden Menschen lebendig und sterblich zugleich" (271). Zur Erfahrung des Lebens gehört die Erfahrung des Sterbens. Ihre Annahme eröffnet die Fülle des Lebens: „Sein Leben hingeben heißt, aus sich herausgehen, sich aussetzen, sich einsetzen und lieben. In dieser Bejahung wird Leben menschlich lebendig" (272). Die Erfüllung dieses „Geistes des Lebens" in der Bejahung von Glück und Schmerz, Leben und Tod ist für Moltmann bereits unsterbliches, ewiges Leben: das ganz und vorbehaltlos gelebte Leben. In diesem Sinne gibt es ein „ewiges Leben vor dem Tode". In der göttlichen Kraft der Auferstehung verwandelt es sich durch den Tod in das „ewige Leben nach dem Tod". „Menschliches Leben und menschliches Sterben nimmt am göttlichen Leben teil und ist in ihm aufgehoben (Rom 6 , 7 - 9 ) " . „In der Hoffnung auf Auferweckung vom Tod kann der Mensch hier ganz leben und ganz sterben" (272 f). Den Zusammenhang und die Kontinuität zwischen empirischer Geschichte und zukünftiger gemeinsamer Erfüllung der Schöpfung in der Zukunft Gottes entfaltet auf seine

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Weise der universalgeschichtliche Ansatz Wolfhart Pannenbergs. Wahres Leben ist Gemeinschaft mit Gott. So sehr diese Gemeinschaft im christlichen Glauben in der Verbindung mit Jesus und dem auferstandenen Christus schon vorab wahrgenommen werden kann, so sehr steht ihre Vollendung noch aus. Die Auferstehung Christi bezeugt: Ewiges Leben ist in Gott als Macht der Z u k u n f t begründet; so darf es hoffend von ihm als das Ganze jedes einzelnen Lebens und des Gesamtlebens erwartet werden und ist insofern schon jetzt wirksam: Die Ewigkeit ist die Tiefendimension der Weltzeit. Gottes Z u k u n f t ist in unserem Leben gegenwärtig (Glaubensbekenntnis 184). An der Weltoffenheit menschlichen Lebens kann das auch anthropologisch aufgezeigt werden. Sie repräsentiert gewissermaßen die Bestimmung der Geschöpfe, an Gottes Ewigkeit teilzuhaben. Daraus folgt die Freiheit, offen zu sein für die jeweils rechte Zeit. Das gilt für jeden Augenblick: Mit seiner Einmaligkeit wird die Gegenwart der Ewigkeit erfahren (Was ist der Mensch? 55). Steht der Geistbegriff für den schöpferischen Ursprung dieses Lebens, so beschreibt die Chiffre des Geistleibes die Kontinuität der Person und zugleich die radikale Verwandlung menschlichen Lebens: Das Leben der Glaubenden wird analog zum Weg Jesu Christi als verklärte Geschichte zur offenbaren Teilhabe am Leben Gottes selbst werden und so zur Einheit des Sinnganzen zusammenfinden. Die abstrakte Chiffre der eschatologischen Sinntotalität erlaubt, auf Einzelaussagen über das ewige Leben vorläufig zu verzichten, so sehr andererseits ein abstrakter, von Inhaltsleere bedrohter Dezisionismus abgewehrt werden soll. P a n n e n b e r g versucht, d e n Inhalt der christlichen B o t s c h a f t b e w u ß t d u r c h e r n e u e r t e metaphysische Reflexion zu e n t f a l t e n , weil d a s Reden von G o t t , u m seinen W a h r h c i t s a n s p r u c h d u r c h z u h a l t e n , auf einen Weltbegriff angewiesen sei, der n u r d u r c h metaphysisches D e n k e n gesichert w e r d e n k ö n n e (Metaphysik 9). Dies schließt nicht aus, d a ß die von der christlichen Lehre b e a n s p r u c h t e Wahrheit dabei schon vorausgesetzt wird (F.. Jüngel: Z T h K 86 [1989] 230). D a n n aber darf die Diskussion über die „ r i c h t i g e " Philosophie, mit deren Mitteln d a s Lebensverständnis expliziert w e r d e n soll, offenbleiben. P a n n e n b e r g regt a n , „einen Begriff des .Lebens' zu bilden, i n n e r h a l b dessen unser organisches und mindestens in h ö h e r organisierten Gestalten todvcrfallenes Leben n u r einen speziellen Fall darstellte" ( G r u n d f r a g e n II, 168).

Der Überführung einer Phänomenologie des Lebens in begriffliches Denken ist freilich im Zuge protestantischer Metaphysikkritik widersprochen worden: Der Anspruch des christlichen Glaubens, „Wort des Lebens auf dem Wege im Werden und im Todcsacon zu haben", müßte sich im Blick auf die noch ausstehende Sinngeschichte auf eine Hoffnung reduzieren, statt selbst Hoffnung zu gebären (G. Koch, Z u k u n f t 342). Dorothee Solle stellt der Universalität des bloß männlich bestimmten Denkens die mehrdimensionale Ganzheit konkreten solidarischen Lebens in Vertrauen und in der Selbst-Transzendenz der Liebe gegenüber. Wenn Gott Tote zu neuem Leben erweckt, so heißt das, daß „auch wir, die wir tot und ohne Hoffnung sind, zu Menschen des Widerstands und zu Liebhabern des Lebens werden können" (213). Jegliche metaphysische und evolutionistische Vorstellungen kann beispielsweise auch Günter Altner zu verlassen versuchen. Er spricht seinerseits nur noch von der von Gott gegebenen Befreiung von Todesangst und der Ermutigung zum Leben in Bejahung der Zeitlichkeit der Existenz. Das befreit in immer neuen Generationen zum „Augenmaß für das, was dem Vollzug dieser Zeitlichkeit dient" (139), einer Existenz im Geiste der Liebe und der Freiheit in Hinwendung zu Mitmenschen und Mitkreaturen in einem grenzenbewußten Leben. Die Erfüllung der Einheit der Zeit ist die Zukunft, die allein Gott garantiert (40 f). Besondere Bedeutung wird dem „Leben" auch in den theologischen Ansätzen zugesprochen, die ursprünglich vor allem in Südamerika, Afrika und in asiatischen Ländern beheimatet sind und zunehmend auch in Nordamerika und Europa Einfluß gewinnen. Sie gehen von dem täglichen und gottesdienstlichen Leben der christlichen Gemeinde aus und kritisieren den „Intellektualismus" der abendländischen theologischen und kirchlichen Tradition mitsamt ihren politischen Vernetzungen. Das Leben des „Volkes" und die dort entstehende Volksfrömmigkeit und Weisheit bekommen hier entscheidendes Gewicht.

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Zu nennen wären dafür u.a. die verschiedenen Formen interkultureller, kontextueller und narrativer Theologie sowie der Befreiungstheologien (vgl. u.a. VF 26/2 [1981]; 30/1 [1985]). Die Erfahrung gemeinsamen Lebens, die in Lateinamerika durch das Wort convivencia zum Ausdruck gebracht worden ist, „verweist Theorie und Praxis auf den gemeinsamen Grund, das Leben, das immer als soziales, kommunales Leben zu verstehen ist, wie die Armen, der Lebenskontext der Befreiungstheologie, täglich demonstrieren" (Th. Sundermeier, ÖEh 1,52). „Konvivenz" kann für „ökumenische Existenz heute" programmatische Bedeutung bekommen: „Konvivenz, das ist eine Hilfs-, Lehr- und Festgemeinschaft. In ihr bleibt keiner, der er war. Sie verändern sich alle" (ebd. 72). „Indem man mit dem anderen lebt und bei ihm ist, ist man eben darin bei sich selbst . . . Schöpferisches Zusammenleben wird ermöglicht, Liebe erkennbar" (80). Wahrheit kann nur konvivial gefunden werden. Das konvivial verstandene Humanum muß dann auch zum Kriterium der zivilisatorischen Weltgestaltung und zum Maßstab der Technik werden. Insbesondere a f r i k a n i s c h e Lebensart und F r ö m m i g k e i t k ö n n e n d a r a u f a u f m e r k s a m machen u n d zeigen, d a ß d a s H u m a n e seinerseits n u r in Konvivenz mit der ganzen S c h ö p f u n g l e b e n s f ö r d e r n d w a h r g e n o m m e n w e r d e n k a n n . D e r M e n s c h teilt schließlich d a s Leben m i t der g e s a m t e n Welt, die ihn u m g i b t , T i e r e n , Pflanzen bis hin zur mineralischen Welt. So d r ü c k t d e r Begriff „ L e b e n " nach a f r i k a nischem Verständnis im u m f a s s e n d e n Sinn d a s Z e n t r u m auch des M e n s c h s e i n s aus: Leben ist ein unendlicher S t r o m in der Kette der G e n e r a t i o n e n . W i e d e r h o l b a r k e i t u n d K o n t i n u i t ä t ermöglichen Vertrauen u n d Verläßlichkeit. H i e r wird m a n G o t t e s g e w a h r . In „ a n a l o g e r P a r t i z i p a t i o n " h a t der einzelne teil a m G a n z e n der Lebenswelt, ist ein Teil von ihr. Der M e n s c h steht in der M i t t e einer H i e r a r c h i e von L e b e n s k r ä f t e n , an deren Spitze G o t t steht, von d e m her alles Leben k o m m t . Dieser M e n s c h ist „verpflichtet, sein Leben diesen K r ä f t e n e i n z u f ü g e n und sie zugleich z u m Wohlsein d e r G e m e i n s c h a f t zu n u t z e n " u n d d a f ü r zu sorgen, „ d a ß sein Leben u n d d a s der G e m e i n s c h a f t nicht ab-, s o n d e r n z u n i m m t " ( T h e o S u n d e r m e i e r , N u r g e m e i n s a m k ö n n e n wir leben 2 2 - 3 0 ) . W i r d dies z u s a m men mit Lebenseinstellungen a n d e r e r einheimischer Kulturen (Amerika, Asien) im lernbereiten interkulturellen Dialog, i n s b e s o n d e r e auch mit der a b e n d l ä n d i s c h e n T r a d i t i o n , weiter bedacht, ergeben sich d a r a u s weitreichende Perspektiven f ü r d a s weitere Z u s a m m e n l e b e n in weltweitem Z u s a m menhang.

4. Vorstellungen vom ewigen

Leben

4.1. Die abendländische Tradition. Im Rahmen der abendländischen Tradition ist die biblische Rede vom ewigen Leben schon sehr früh auf die —»Seele bezogen worden. Wurde diese ontologisch als Substanz gedacht, konnte sie vom Körper nicht nur unterschieden, sondern - vor allem in der lateinischen Sprachgeschichte - auch getrennt vorgestellt werden. Leitendes Interpretament war der Gedanke der Unsterblichkeit. Wurden sterblicher Körper und unsterbliche Seele getrennt, so mußte in Erwartung des verheißenen ewigen Lebens deren zukünftiges Schicksal gesondert betrachtet werden. Auf der Linie der christlichen -»Eschatologie und historisierender Vorstellungen vom Ablauf der Weltgeschichte analog der Heilsgcschichte von der Schöpfung, ihrem Fall, ihrer Erlösung bis zum Weltende, der -»Auferstehung der Toten und Jüngstem Gericht (-»Weltgericht) wurde das ewige Leben zur Zeit danach, als ewig dauerndes Heil für die Erlösten, als ewig dauernde Qual für die Verdammten, wobei auch ewiges Leben im Heil und ewiger Tod, gleichwohl als solcher erlitten, gegenübergestellt werden können. Unter dieser Voraussetzung entsteht eine Fülle von Einzelproblemen, die von der Frage nach der Möglichkeit und Art der Wiedervereinigung von Körper und Seele bei der Auferstehung der Toten zum Jüngsten Gericht, dem Zustand der Seelen in der Zwischenzeit (Seelenschlaf?, -»Fegfeuer?) bis hin zu Zustand und Vorgängen nach dem Gericht (Himmel, -»Hölle) reichen. Um sie wird durch die gesamte Christentumsgeschichte hindurch — zum Teil strukturell ähnlich wie in anderen Religionen - immer wieder von neuem gerungen. Einzelfragen werden bis in weit entfernte Details hinein immer wieder darzustellen und zu diskutieren versucht: ein unerschöpfliches Thema insbesondere der darstellenden Kunst, der Dichtung (vgl. nur -»Dantes Göttliche Komödie) und des theologischen Disputs. Letztlich geht es dabei um die Sehnsucht nach ewiger Seligkeit, verstanden als Uberwindung und

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Ablösung aller als defizitär empfundenen und erfahrenen Lebensumstände und Erfüllung, Überhöhung und Vervollkommnung aller als solcher verstandenen Güter des irdischen Lebens. Wird Gott gemäß antiker Tradition als höchstes vollkommenes Gut verstanden (—•Höchstes Gut), so bedeutet ewiges Leben Teilhabe an diesem Gut, abgestuft gemäß der möglichen und faktischen Wahrnehmung der Gottesbeziehung im zeitlichen Leben. Als Grundwahrheit hält sich auch in vielen philosophisch provozierten Spekulationen durch: Ewiges Leben ist selige Schau Gottes und Gemeinschaft mit ihm, sie gewährt Gott selber nach Maßgabe seiner Heilsordnung und seines Willens. Die Entstehung, Entwicklung und vielfältige Differenzierung dieses Denk-, Lehr- und Vorstellungsgebäudes braucht hier nicht im einzelnen referiert zu werden (s. dazu H D G IV,7). Es entwickelt sich in der Alten Kirche und erfährt im Hochmittelalter seine größte Entfaltung und Differenzierung. Hinzuzunehmen sind kosmologische Vorstellungen dieser Zeit. Sie gipfeln in den Weltdarstellungen der Renaissancezeit, z. B. Hermann Schedels Weltchronik, Nürnberg 1493. Danach können für den Aufenthaltsort der Seligen ebenso wie der Verdammten konkrete Angaben gemacht werden: Gemäß dem ptolemäischen Weltbild umfaßt die Welt Gottes die durch die Fixsternsphäre abgeschlossene Kugel des geozentrischen Universums: In dessen Jenseits befindet sich der Thronsaal Gottes und der (hierarchisch gegliederte) Wohnort der Seligen. Am weitesten davon entfernt, im Zentrum der Erde, liegt die Hölle als Peinigungsort der Verdammten. Mit dem Zerbrechen dieses Weltbildes (G. -»Bruno) stehen auch die Vorstellungen vom ewigen Leben erneut zur Disposition. Schon die Reformation hatte durch die Unterscheidung von Theologie und Philosophie und den entschlossenen Rekurs auf den existentiellen Lebenszusammenhang des Glaubens die Abhängigkeit von kosmologischen Festschreibungen durchbrochen, so insbesondere Luther durch Gedankengänge, die dann zu den Paradoxien der Ubiquitätslehre geführt haben (J. Hübner, Die Theologie J. Keplers). Hier wurde ewiges Leben elementar vom Leben schaffenden Wort des lebendigen Gottes, insbesondere von -»Taufe und -»Abendmahl her als Glaubensgewißheit aufgenommen. Es ist töricht, sich inhaltlichen Spekulationen darüber hinzugeben, Wiedas zukünftige Leben bei Gott sein wird, wo doch schon unsere Anschauungsformen von Raum und Zeit gar nicht mehr gelten. Dennoch kann dieser Hoffnung mit Hilfe der verschiedensten Sprachmittel Ausdruck gegeben werden. Maßgebliche Quelle dafür ist die Heilige Schrift. Aus dem Umgang mit ihr erwachsen Glaubenserfahrungen, die ihrerseits zu neuer, auch anschaulicher Sprache ermächtigen. Das Wachstum der Natur predigt den Auferstehungsglauben, und die Christen haben von der Zuversicht eines Bauern zu lernen. P.-»Gerhardts Pfarrgarten kann zum Gleichnis für das Leben im künftigen Reich Gottes werden (siehe EKG 371). Doch ewige Gerechtigkeit, Trost und Freude des Gewissens sind die elementaren geistlichen Güter, um die es im Blick auf das ewige Leben geht. „Der Madensack ist noch unrein, schwach, morbi subiecta [Krankheit unterworfen], der mus mit uns zur herrlickeit komen, non sola anima illuc abibit in coelum, sed etiam corpus, sed ut Sol, et post aeternum laudemus D e u m " [nicht allein die Seele wird dorthin hinweggehen in den Himmel, sondern auch der Körper, aber wie die Sonne, und zuletzt werden wir (auf) ewig Gott loben] (WA 49, 510, 8 - 1 1 ) . Für Zwingli ist die Geistigkeit des Menschen mit der Fähigkeit der Gotteserkenntnis Hinweis darauf, daß der Mensch für ein ewiges Leben geschaffen ist. Die Unsterblichkeit der Seele ist ganz in Gott gegründet und erweist sich durch sein ständiges Wirken am Menschen. Entsprechend besteht die ewige Seligkeit in der vollendeten Erkenntnis, in der Schau und im unendlichen Genießen Gottes. Zwingli kann das mit der humanistischen Geistigkeit verbinden: Es gibt in der Ewigkeit eine Begegnung und Gemeinschaft mit heiligen und tugendhaften Menschen, ein himmlisches Contubernium, zu dem auch Heiden wie Herkules, Theseus, Sokrates und andere gehören (Hauptschriften XI, 349).Auch für Calvin ist die von Gott ausgehende Gottesbeziehung des menschlichen Geistes Grund der Unsterblichkeit. Sie bedeutet Gemeinschaft mit Gott, der die Fülle seiner Güter den Seligen differenziert mitteilt. Geht Luther elementar von der existentiellen Lebenssituation aus, in der und in die hinein das Wort Gottes ergeht und wo Gott auch verborgen bleiben kann, so argumentieren Zwingli und Calvin stärker auf der Reflexionsebene diskursiver Theologie. Dadurch kann hier

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stärker ein W i e des ewigen Lebens angesprochen werden, während bei Luther das D a ß im G l a u b e n entscheidend im M i t t e l p u n k t steht.

Der vor- und nachtridentinische römische Katholizismus blieb bei einer klassisch metaphysischen Zusammenschau von Diesseits und Jenseits, entfaltet in der differenzierten Zusammenordnung von -»Natur und Ubernatur. In den Himmelsdarstellungen der kirchlichen Barockkunst kommt das dann zur besonders eindrücklichen Darstellung. Ewiges Leben bedeutet zunächst die vollkommene Schau und den glückseligen Genuß Gottes, vollkommenes Sattsein und eine Ansammlung aller Güter (Ph. Schäfer 24). Leben allein Gott und Christus aus sich selbst, so ist das ewige Leben den Menschen von Gott durch Christus geschenkt, so daß im Glauben bereits die beseligende Schau Gottes beginnt. So erleuchtet das übernatürliche -»Licht Gottes (das lumen gloriae) das Erkenntnisvermögen des Menschen, die Schau Gottes läßt nicht nur den trinitarischen Gott, sondern auch die Schöpfung verbunden mit Seligkeit schauen. Das ewige Leben ist Seligkeit und Summe aller Güter. Die Hoffnung darauf ist in aller irdischen Mühsal tragende Kraft. Durch die erneute Ausprägung der metaphysischen Tradition in der altprotestantischen Orthodoxie kehren auch die Diskussion um das Leib-Seele-Problem und die damit verbundenen Theologumena wieder oder erneut in den Vordergrund. Wenn in der lutherischen Tradition ewiges Leben und Anrtihilatio mundi zusammengedacht werden können (Johann Gerhard), sofern Gottes Heilshandeln durch sein Wort seinerseits Schöpfung „aus dem Nichts" ist, sind freilich alle Weltbild- und Raumvorstellungen entscheidend relativiert. Die reformierte Theologie kann stärker mit ihnen verbunden bleiben, wie sich z. B. in der Abendmahlslehre zeigt („Parallelismus" zwischen Element und Geist, finitum non capax inftniti). So wird weniger eine künftige Weltvernichtung und Neuschöpfung erwartet, sondern eine Verwandlung der Welt: Die alte Schöpfung wird am neuen Himmel und der neuen Erde erneuert teilhaben. Das ist für das Weltverhältnis bedeutsam, wie sich bis heute zeigt (Verbindung von Heil und Wohl in der Ethik gegenüber ihrer Unterscheidung im Sinne der lutherischen ->Zweireichelehre). Im Unterschied lind Gegensatz zur Theologie und Weltanschauung des Barock, die von der Himmelssehnsucht und auf katholischer Seite zugleich gcgenreformatorisch von der Überhöhung der Natur durch den Menschen mit Hilfe der Kräfte der Gnade ausgeht und deren Auswirkungen bis heute etwa im -»Evolutionismus spürbar sind, tritt in der -•Aufklärung der Bezug auf das diesseitige Leben ganz in den Vordergrund; das „Jenseits" rückt in weite Ferne und wird problematisch. Die Rede von Unsterblichkeit bleibt als cschatologischer Rest, der Verweis auf die „Übernatürlichkcit" z. B. der Auferstehung gerät fast zur Verlegenheitsauskunft. Aus dem vorgegebenen eschatologischen Horizont des ewigen Lebens wird nun selbst ein Glaubensgegenstand, der anthropologisch mit Argumenten abgesichert werden soll (E. Kunz 59f). Inhaltlich wird das ewige Leben dann weitgehend als Verlängerung des diesseitigen Lebens vorgestellt und kann mit dem Fortschrittsgedanken verbunden werden: Die Vervollkommnung des Menschen bleibt das eigentliche Ziel. Es geht um die Entwicklung und Erhöhung der besten Kräfte des Verstandes und des Willens, um vollkommenste Wahrheit und reinste Tugend. Die Schau Gottes und ihre Seligkeit tritt dabei in den Hintergrund, obwohl die Gemeinschaft mit Christus, den Engeln und allen guten Menschen genannt werden kann (Kunz 101 f)Johann Georg Walch kann in seinem Philosophischen Lexikon *1775 von einem nur noch „gedoppelten" Leben sprechen: Der Mensch habe „vitam physicam oder animalem, und vitam moralem" (2219). Letzteres führe er vermittels dessen, daß er eine vernünftige Seele habe. Tugend und Laster, so kann zitiert werden, haben ihre Belohnung oder Bestrafung schon in sich selbst: „Wer den Lauf seines Lebens hurtig in der Tugend fortsetzt, der kann nimmermehr sterben" (2221). So wird das Jenseits zum Diesseits, und es ist folgerichtig, wenn in dieser Entwicklung bei Kant zwar noch an die Stelle des „neuen Himmels und der neuen Erde", in denen die Seligen wohnen, der ins Unendliche fortgesetzte moralische Fortschritt tritt, im Anschluß an die Präsenz des Absoluten bei Hegel aber von einer

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präsentischen Eschatologie im Sinne einer Anschauung Gottes in der Geschichte gesprochen werden kann. Soll bei D.F. -»Strauß das Individuum mit der Fülle des Geistes ausgestattet sein, so kommt es zur Aufgabe aller Vorstellungen von persönlicher Fortdauer, „um im Begriffe auferstehen zu können" (I. Escribano-Alberca 126). Wird dann bei Schleiermacher von der Offenbarung des Göttlichen als einer Liebesvereinigung gesprochen, in der die Gegenwärtigkeit des Ewigen im Augenblick verbürgt ist, und bedeutet Unsterblichkeit im Vollzug von Religion den Gewinn der wahren menschlichen Bestimmung, Individualität „in der Einheit mit dem Ganzen als gegenwärtige Gewißheit" (Cornehl 85), so ist damit der metaphysische Rest einer substantialistischen Seelenvorstellung verlassen. Deshalb ist noch nicht alles gesagt: Eine persönliche Fortdauer individuellen Lebens in Analogie zum Auferstehungsleben Christi bleibt denkbar (Walther 115). Sie ist wesentliche Teilhabe an der Ewigkeit Gottes (Der christliche Glaube 2 §52), durch Christus vermittelt (§103, 1). Wird dem auch ontologisch die Priorität gegeben, bleibt der reformatorische Ansatz gewahrt. Daß er eine Vielzahl von jeweils zeitgenössischen Interpretationen erlaubt, gehört zur Notwendigkeit der Interpretation dessen, was ewiges Leben ist. Für A. ->Ritschl ist das ewige Leben Interpretament der in Gottes Liebe zu den Menschen gegründeten und in der christlichen Gemeinde gegenwärtigen geistigen Herrschaft über die Welt, der christlichen Freiheit (Unterricht in der christlichen Religion §45). Der christliche Glaube, der aus der Versöhnung durch Christus des ewigen Lebens gewiß ist, hält „dieses Gut in Übung der Gerechtigkeit wie in Heiligung" fest. Die Vollendung des so bestimmten Reiches Gottes ist unter Bedingungen zu erwarten, „welche über die erfahrungsmäßige Weltordnung hinausliegen" (§76). Über den Zustand der Beseligten und Verdammten gibt es keine deutliche Vorstellung. „Es kommt aber hierin überhaupt nicht auf die Befriedigung der Wißbegierde an, sondern darauf, daß keiner selig ist außer in der Verbindung mit allen Seligen im Reiche Gottes" (§77). Wie der lebendige Gott in seiner Selbständigkeit „Urgrund und Urbild des Lebens" ist, hängt nach M. —> Kahler „das Leben der Personen von der persönlichen Gemeinschaft mit G o t t " ab und ist durch sie „der Vergänglichkeit entnommen" (Die Wissenschaft der christlichen Lehre §308). Für den Menschen ist das Leben in diesem Sinne des ewigen Lebens jedoch „an alle Bedingtheiten und Entwickelungsstufen der durch Selbstbestimmung bedingten mittelbaren und unmittelbaren Gemeinschaft mit G o t t " gebunden und kann deshalb „nur in dem Abschlüsse der Geschichte, in dem Gottesreiche vollkommen gewonnen werden" (ebd.), so wahr Christus als der zweite Adam „mit seiner Gottheit der Natur seines Geschlechtes Unwandelbarkeit und Unverweslichkeit eingepflanzt" hat ( R E \ 11,333,2 f). 4.2. Denkansätze in gegenwärtiger Theologie. Systematisch lassen sich zunächst abstrakte Aussagen über das bloße Daß des ewigen Lebens zusammenstellen, die dann allgemein im Blick auf die Art der Gottesbeziehung erläutert werden können. Darüber hinaus kann dann versucht werden, inhaltliche Aussagen zu entwickeln. Dies geschieht auf verschiedenen Wegen. Man kann primär von den entsprechenden Texten der Heiligen Schrift ausgehen, einmal, indem man direkt eschatologische Bilder und Andeutungen aufnimmt, zum anderen, indem man nach Analogien etwa zu den Lebensäußerungen des Auferstandenen sucht und daraus weitere Schlüsse zieht. Im Rahmen einer metaphysischen Interpretation der Bibel und der kirchlichen Tradition werden weitergehende Aussagen gemacht. Hier kann sowohl via negationis als auch via eminentiae argumentiert werden: Es geht um Uberwindung und Erlösung von Not und um Vollendung von Freude und Glück: Glückseligkeit. In diesem Zusammenhang wird die Frage der Unsterblichkeit und das Verhältnis von Seele und Leib während des irdischen Lebens, nach dem Tod und am Ende der Weltzeit, bei und nach der Auferstehung der Toten und dem letzten Gericht weiterhin diskutiert. Beide Aussagereihcn können sich in vielfältiger Weise miteinander verbinden und differenzieren. Aus der eschatologischen Perspektive ergeben sich dann

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R ü c k w i r k u n g e n auf d a s irdische Leben u n d sein Verständnis: Von d e m erwarteten ewigen Leben bei G o t t fällt Licht auf d a s vorfindliche Leben der Welt. Sowohl der Schöpfungscharakter der Wirklichkeit als auch seine Pervertierung d u r c h die Sünde und ihre Folgen werden e r k e n n b a r . G e f r a g t werden k a n n schließlich nach d e m G r u n d , den gegebenen Voraussetzungen von Aussagen über das ewige Leben und von Eschatologie ü b e r h a u p t . A n h a n d dieser Gesichtspunkte gehe ich einige charakteristische Äußerungen gegenwärtiger Theologie zum ewigen Leben d u r c h . Einen eindeutigen Konsens gibt es d a r ü b e r , d a ß die E r w a r t u n g des ewigen Lebens d e m christlichen G l a u b e n elementar zugehört. G o t t schenkt Z u k u n f t : D a s ist nicht nur H o f f nung, sondern Gewißheit des Glaubens. Wie diese Z u k u n f t aussieht, ist dem M e n s c h e n als Geschöpf freilich verborgen und k a n n von ihm in seiner Geschöpflichkeit auch g a r nicht ausgemacht w e r d e n . Es bleibt allein G o t t e s Sache, ewiges Leben und weitere Erkenntnis d a r ü b e r zu g e w ä h r e n . Entscheidend ist jedoch d a s D a ß des christlichen G l a u bens, der ewiges Leben bei und mit G o t t impliziert. Insofern ist mit dem glaubenschaffenden Wort Gottes ewiges Leben bereits gegenwärtig: Das Evangelium eröffnet nachgerade das ewige Leben. Im G l a u b e n an den lebensschaffenden G o t t beginnt ewiges Leben. Auch das kann als Konsens festgehalten werden: N a c h dem irdischen T o d e wird es ganz anders zugehen als zuvor, doch ist ewiges Leben nicht begrenzt auf ein Leben nach dem T o d e , sondern es beginnt im G l a u b e n der christlichen G e m e i n d e u n d ihrer Glieder: in der G e g e n w a r t des Schöpfers durch Jesus Christus im Heiligen Geist. In äußerster Konzentration ist „ewiges L e b e n " also, wie es R . - » B u l t m a n n formuliert, „radikale Offenheit f ü r G o t t " (1952, G u V 111,51). Dies gilt angesichts des Kreuzes Jesu Christi im Glauben an den Auferstandenen. „ D a s ,ewige Leben' liegt in der A n e r k e n n u n g Gottes als des Schöpfers des L e b e n s " (Schmithals 160); das bedeutet Befreiung vom Vorläufigen und Vergangenen im Geschenk der Z u k u n f t , die G o t t selbst ist. „ T o attain ,cternal life' is to be a d o p t e d as sons with Christ into the life of G o d " (Macquarrie 363). D a s bedeutet „ O f f e n h e i t f ü r das, was G o t t fordert und was er s c h i c k t " (Bultmann, a . a . O . 43). Die F o r d e r u n g ist ein Gesetz „ z u m L e b e n " , dem die Freiheit der Liebe entspricht. Wo Liebe geschieht, ist das Leben, das G o t t ist und g e w ä h r t , gegenwärtig. Es ist z u k ü n f t i g , insofern es auch d o r t mit Christus in G o t t verborgen ist: Erst bei d e r Parusie Christi wird es offenbar. Die H o f f n u n g wird aber nun zur Kraft, die die Existenz bestimmt über den T o d hinaus: Christen k ö n n e n sterben, weil sie schon jetzt das Leben Christi in p a r a d o x e r Gegenwärtigkeit erfüllt. G o t t erscheint so als bereits d a s Diesseits bestimmendes Jenseits des individuellen Lebens. „ G o t t ist mein Jenseits" (Jüngel, T o d 152). Im Tode erwartet uns „nichts als G o t t " : So sagt es G . Ebeling. D a s ist nichts anderes, als was elementarster Inhalt des G l a u b e n s ist: „ d a s Ja Gottes, der G o t t e s f r i e d e " (Dogmatik 111,508). Der Tod vermag nicht von G o t t zu trennen; so ist ewiges Leben „das d u r c h G o t t gewährte Z u s a m m e n s e i n mit G o t t " (423). H i e r ü b e r sind n u r Grenzaussagen möglich. Für sie ist entscheidend, d a ß „ d a s Wort an der Grenze von Zeit und Ewigkeit mitten im Leben laut g e w o r d e n und zu G e h ö r g e k o m m e n ist" (425). Eine futurische Eschatologie h a t an der Christologie als perfektischer Eschatologie ihr M a ß (404). Unter dieser Voraussetzung ist eschatologische H o f f n u n g „als E w i g k e i t s h o f f n u n g Vollendungshoffnung und als solche Ü b e r w i n d u n g der Welt": G o t t wird sich als H e r r über den T o d erweisen, alles wird einmal o f f e n b a r w e r d e n . D a s Eschaton ist nicht N a c h t , s o n d e r n Licht, „ein Ende aller Anfechtung, ewiger Friede und ewige F r e u d e " (436). D a s bedeutet kein innergeschichtliches Hoffnungsziel, erweckt aber Vertrauen auf die K r a f t Christi in menschlicher Schwachheit, M u t zum Zeitlichen in Partizipation an der Zeitvollmacht Jesu. In der Freiheit von falscher Sorge u m die Z u k u n f t gilt es, G e g e n w a r t u n d Z u k u n f t zu unterscheiden, zugleich Z u k u n f t , die in der H a n d des M e n s c h e n liegt, und die Z u k u n f t Gottes, die menschlichem Zugriff entzogen ist. G o t t ist die Z u k u n f t zu überlassen, die der M e n s c h von sich aus nicht hat. D a s bedeutet Freiheit zu geistesgegenwärtiger, hingebender und zugleich v o r a u s s c h a u e n d e r , detaillierter Praxis der -»Liebe. Ist „ G o t t mein Jenseits", so ist ewiges Leben „Leben in u n ü b e r b i e t b a r e r Gemeinschaft

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mit G o t t " (E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt 542). Das bedeutet zugleich die „Offenbarung des gelebten Lebens mit seinen es stets umlagernden Möglichkeiten" (292f), also dem, was an Lebensangeboten aufgenommen und was nicht verwirklicht, was verpaßt oder ausgeschlagen wurde. „Wir werden dann entdecken, was und wer wir in Wahrheit waren" (Tod 153). Doch in Jesus Christus darf dieses Leben unter der Wirklichkeit der Versöhnung und Erlösung durch Gottes Ja selbst bejaht und in die Gemeinschaft mit Gott eingebracht werden: das ist geradezu seine „Verherrlichung": „Nicht dem sieht und geht er [sc. der Mensch] entgegen, daß dieses sein Sein in seiner Zeit irgendeinmal vergessen oder ausgelöscht zurückbleiben und dann gewissermaßen ersetzt sein werde durch ein ihm folgendes jenseitiges, unendliches, unsterbliches Sein nach dieser Zeit, sondern positiv: daß eben dieses sein Sein in seiner Zeit und also mit seinem Anfang und Ende vor den Augen des gnädigen Gottes und so auch vor seinen eigenen und vor aller Anderen Augen in seiner verdienten Schande, aber auch in seiner unverdienten Ehre offenbar werde und so von Gott her und in Gott ewiges Leben sein möchte" (Barth, KD IH/2,771). Helmut -»Thielicke geht seinerseits mit Luther von dem durch Gottes Wort beginnenden Sprachgeschehen zwischen Gott und Mensch aus, dessen verheißender Fortgang bis in die Ewigkeit Unsterblichkeit bedeute. Damit ist Gott eine Geschichte mit den Menschen eingegangen, die „nun bis in alle Ewigkeit nicht aufhören darf" (Der evangelische Glaube 111,544). Mit Ratzinger kann er von „dialogischer Unsterblichkeit" sprechen (551). Gottes Wort ist das Kontinuum dieser Geschichte, die Macht der Gcist-Erncuerung, die Menschen jetzt widerfährt. Christus, „die Gestalt, die uns hier durch ihren Geist geleitet hat, wird sich auf der andern Seite des Grabes in ihrer Identität offenbaren" (543). So wird das Wie des Jenseits uninteressant und ohne Belang. „Es gibt gewisse Grenzen, an denen theologische Aussagen nicht mehr als Dicta, sondern nur als Gebet geäußert werden können. Mit jedem Schritt, der über das vertrauende Anbefehlen hinausgeht und zu inhaltlichen Sekuritäten strebt, droht die Kommunikation mit dem Du Gottes ersetzt zu werden durch das Hantieren mit paradiesischen Kulissen" (550f). Doch dies kann gesagt werden: „Das Paradies ist die bleibende Gemeinschaft mit dem gekreuzigten Todüberwindcr" (547). Diese Zukunftserwartung verwandelt auch das Diesseits: Durch das ewige Leben gewinnt das irdische Leben neue Maßstäbe. „Wer des ewigen Lebens teilhaftig wird, erfährt zugleich, was das hiesige Leben zu sein vermag" (548). Die Gemeinschaft mit dem erhöhten Christus ist auch sonst Ausgangspunkt der dogmatischen Überlegungen zum ewigen Leben. Jesus Christus ist nach E. -»Brunner Erfüllung der Hoffnung „zugleich im personalsten wie im universalsten Sinne". „Das kommende Reich Gottes bringt die Vollendung der Menschheitsgeschichte so gut wie die Vollendung des einzelnen individuellen Menschen in seiner Personbestimmung" (Dogmatik 111,409). Voraussetzung dessen ist, „von dem ewig seienden persönlichen Gott erfaßt zu werden und sich ergreifen zu lassen" (421): die personale Korrespondenz zwischen Gott und Mensch (Wahrheit als Begegnung). Sie geschieht durch die Teilnahme am Leben des Christus. Der ewige Gott will sich durch ihn seinem Geschöpf mitteilen und an ihm verherrlichen. Dementsprechend ist der Glaube die - freilich noch unvollkommene Gestalt der uns bestimmten Ewigkeit. Der Glaubende ist bereits auf der Seite des ewigen Lebens, so wahr der Mensch für das ewige Leben in der Gemeinschaft mit seinem Schöpfer geschaffen ist (Dogmatik III 436). Diese Bestimmung, die er von der Schöpfung her hat, soll er in Gott erreichen (495). Das geschieht durch die Gemeinschaft mit Christus in der Liebe Gottes, die sein ewiges Leben ist. Das ewige Leben kann damit bestimmt werden als „die Verwirklichung dessen, was wir in der Rechtfertigung durch den Glauben wissen und empfangen". Es ist nur dadurch ein anderes, daß „an die Stelle des Glaubens das Schauen, an die Stelle des Stückwerks das Vollendete treten wird" (493). Gemeinschaft, nicht Einheit ist das Ziel, so daß das Reich Gottes auch die „Vollkommenheit der zwischenmenschlichen Beziehungen" bedeutet (492). Von dieser, in dem liebenden Du Gottes begründeten Gemeinschaft der Agapc her kann Brunner sagen: „Der Christ ist der Mensch, in dem das Sein zum Tode in ein Sein zum Leben gewandelt ist" (Das Ewige 123).

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Auch E d m u n d Schlink geht theologisch zur B e s t i m m u n g dessen, w a s ewiges Leben ist, von d e r G e m e i n s c h a f t mit d e m e r h ö h t e n C h r i s t u s a u s . Für ihn bietet sich hier d a s h e r m c n e u t i s c h e Kriterium, d a s erlaubt, noch w e i t e r g e h e n d e Aussagen zu m a c h e n . D e r Weg seiner J ü n g e r wird d e m Weg Christi gleich sein. D a r a u s folgt: „ D i e B o t s c h a f t , d a ß die z u k ü n f t i g e A u f e r s t e h u n g d e r geschehenen Auferstehung Jesu entsprechen w i r d , ist die entscheidende Voraussetzung u n d der h e r m e n e u t i s c h e Schlüssel f ü r die Lehre von der A u f e r w e c k u n g z u m ewigen L e b e n " (713 f). So ist die A u f e r w e c k u n g derer, die Jesus a n g e h ö r e n , z u m ewigen Leben „ n i c h t als W i e d e r h e r s t e l l u n g ihres irdischen Lebens, sondern als V e r w a n d l u n g in die Gleichheit seiner neuen Existenzweise zu e r w a r t e n " . Ihr Auferstehungsleib wird ein d u r c h G o t t e s K r a f t v e r w a n d e l t e r Leib sein, „dessen S c h w a c h h e i t beendet i s t " (714). Die Fähigkeiten der K o m m u n i k a t i o n bleiben, a b e r Sündigen ist nicht m e h r möglich. Das Leben mit d e m e r h ö h t e n Christus b e d e u t e t „ T e i l h a b e an der dreieinigen göttlichen L e b e n s f ü l l e " (718): G o t t schauen in der Herrlichkeit seiner Liebe als S c h ö p f e r , Erlöser u n d N e u s c h ö p f e r , E r k e n n t n i s d e r G ü t e von G o t t e s Weltregierung, von Jesus als d e m C h r i s t u s , v o m W i r k e n des Heiligen Geistes als immer wieder neu beglückendes, nie e n d e n d e s G e s c h e h e n . D a s ewige Leben wird G e m e i n s c h a f t d e r Vollendeten aller Zeiten sein, des G o t t e s v o l k e s a u s J u d e n u n d H e i d e n . „ D a n n w e r d e n auch die H e u c h l e r u n d die toten Glieder ausgeschieden sein, die jetzt die Heiligkeit d e r Kirche v e r h ü l l e n " (716). In der G e m e i n s c h a f t des A u f e r s t a n d e n e n wird „all d a s zur Begegnung k o m m e n , w a s G o t t an jedem Einzelnen vollbracht h a t " (717). Von der e r w a r t e t e n G e m e i n s c h a f t mit G o t t , der G e w i ß h e i t , „ d a h e i m zu sein bei d e m H e r r n " , der R u h e des Gewissens in der G e g e n w a r t G o t t e s geht auch K. - » H e i m aus. D o c h von dieser Weltzeit gilt: „ W i r müssen nicht n u r g l a u b e n , o h n e zu schauen, s o n d e r n a u c h , o h n e d a s G e g l a u b t e vorstellen zu k ö n n e n " (Jesus der Weltvollender 224). D a ß G o t t alles in allem sein w i r d , bedeutet f ü r die neue M e n s c h h e i t in der neuen Welt i m m e r h i n , d a ß keine Schuld m e h r zwischen d e m Schöpfer u n d seinem Geschöpf stehen w i r d , d a ß „alle Verhältnisse von G o t t her in O r d n u n g k o m m e n " , ja „ a l l e Fragen sich lösen". Das Leben ist von keinem T o d e s b a n n m e h r g e h e m m t ; „ d e r Lenz, die ewige J u g e n d " k o m m t über die Welt. Es gibt kein Leid m e h r , der S c h ö n h e i t s d u r s t ist gestillt. „ D i e S c h ö p f u n g steht in reiner Schönheit d a " (a. a . 0 . 2 2 0 f). Das b e d e u t e t aber a u c h , d a ß die „ S c h r a n k e der E r k e n n t n i s " fällt. H i e r k a n n H e i m n u n , d u r c h d a s G c s p r ä c h mit der N a t u r w i s s e n s c h a f t seiner Z e i t geschult, ansetzen u n d weitere Aussagen e n t w i c k e l n , die bereits weltanschaulichen C h a r a k t e r h a b e n . 1934 spricht er von der neuen „ D a s e i n s f o r m " der Unverweslichkeit, in der der T o d v o m Leben verschlungen sein wird, und betont, d a ß wir jetzt „in dieser kurzen Probezeit zwischen der Wiege und dem G r a b e " noch nicht wissen d ü r f e n , w a s k o m m e n w i r d . W i r h a b e n die „ s c h w e r e r e A u f g a b e " , zur B e w ä h r u n g im G l a u b e n zu leben, nicht zu spekulieren, s o n d e r n C h r i s t u s n a c h z u f o l g e n , „ o h n e ihn zu sehen und o h n e zu wissen, wie d a s neue Dasein aussieht, d e m er uns e n t g e g e n f ü h r t " (Der G l a u b e an ein ewiges Leben 29). D o c h 1952 (wie a u c h schon früher) k a n n „die V e r w a n d l u n g , die aufs G a n z e g e h t " , interpretiert werden als A u f h e b u n g der p o l a r e n S p a n n u n g , die die diesseitige Welt mit ihrer Vergänglichkeit d u r c h h e r r s c h t , als H i n e i n n a h m e dieser Welt in die „ ü b e r p o l a r e Seinsform G o t t e s " (Welts c h ö p f u n g und Weitende 168f), als E r ö f f n u n g des ü b e r p o l a r e n R a u m e s G o t t e s nach Analogie einer neuen Dimension: So wie ein z w e i d i m e n s i o n a l e r Flachländer Geschehnisse a u s dem d r e i d i m e n s i o n a len R a u m , k ö n n e n Ereignisse a u s der vierten D i m e n s i o n in u n s e r e r dreidimensionalen Wirklichkeit e r f a h r e n w e r d e n . Die Fülle ewigen Lebens schließt solche Möglichkeiten ein. Auch f ü r Walter K ü n n e t h ist d e m C h r i s t u s g l a u b e n n u r d a s „ D a ß " der leiblichen A u f e r s t e h u n g gewiß. D o c h w e r d e n a u c h weitere Aussagen g e m a c h t : „ D i e neue Welt u m f a ß t gleichzeitig die neue Leiblichkeit des Einzelnen, die neue Gestalt der G e m e i n d e u n d d a s N e u w e r d e n des K o s m o s " . Dabei wird festgehalten: „ E i n e neue Leiblichkeit gibt es n u r im Z u s a m m e n h a n g mit neuer Zeit, neuem R a u m und e r n e u e r t e r N a t u r " (253f). A p o k a l y p t i s c h e D i s k o n t i n u i t ä t u n d natürliche Kontinuität stehen logisch unausgeglichen n e b e n e i n a n d e r , eine P r o b l e m a n z e i g e , die in unterschiedlichen Akzentuierungen letztlich alle Aussagen ü b e r d a s ewige Leben betrifft. H a n s G r a ß geht d a v o n aus, d a ß „ G o t t uns hier in diesem Leben seine G e m e i n s c h a f t , Liebe und G n a d e g e w ä h r t " . D a r a u s e r w ä c h s t die H o f f n u n g , „ d a ß diese G e m e i n s c h a f t im T o d e nicht ihre G r e n z e und ihr E n d e findet" (Christliche G l a u b e n s l e h r e 11,175), s o n d e r n sich vollendet ( a . a . O . 179f). Im A n s c h l u ß an Paul Tillich k a n n er diese G l a u b e n s a u s s a g e n geschichtstheologisch weiterf ü h r e n mit der H y p o t h e s e , d a ß sich d a s Reich G o t t e s in den „Werten d e r G e s c h i c h t e " abzeichne: sittlichen, h u m a n i t ä r e n , kulturellen u n d religiösen Werten; die t r a n s z e n d e n t e Seite des Reiches G o t tes, d a s i m m e r g e g e n w ä r t i g e E n d e u n d Ziel d e r Geschichte, sei d a s ewige Leben (Tillich, Systematische T h e o l o g i e III, 448). „ D a n n k a n n vielleicht der G e d a n k e g e f a ß t w e r d e n , d a ß die Lcbcnswelt, in die dieses Leben eingeht, jener t r a n s z e n d e n t e n Welt ä h n e l t , die schon in d e n Werten dieser Welt sich a b z e i c h n e t " ( G r a ß 184). „ E s w i r d nicht jene realistische W u n d e r w e l t der A p o k a l y p t i k sein, sondern eine geistige Welt, welche die H e i m a t seliger Geister zu sein v e r m a g " (185). C h r i s t u s ist deren Mitte. Er verbürgt Liebe.

Den umfassendsten Entwurf christlicher Eschatologie auf evangelischer Seite hat P. -•Althaus ausgearbeitet und in verschiedenen Entwicklungsstufen vorgelegt (Die letzten

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Dinge '1922, 3 1926, 4 1933 u.ö. [ l o 1970], vgl. RGG 2 1928 mit RGG 3 1958). In den ersten drei Auflagen werden „axiologische" und „teleologische" Eschatologie unterschieden: Neben der Lehre von einer auf die gegenwärtige Erfahrung des Unbedingten bezogenen „letzten" übergeschichtlichen Wirklichkeit steht die von der noch ausstehenden Vollendung der Geschichte. Seit der vierten Auflage wird diese Terminologie nur noch für philosophische Eschatologien aufrecht erhalten; theologisch werden nun „Sätze des Bleibens" und „Sätze des Kommens" festgehalten, um die eschatologische Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft zu charakterisieren: „Unbedingte, alles entscheidende Wirklichkeit Gottes füllt schon die Gegenwart - aber diese dem Glauben gewisse Wirklichkeit muß sich doch erst ver-wirklichen" (Die letzten Dinge 5 1949,17). Gegenüber dem erkenntniskritischen, dialektischen Zugleich von Zukunft und Gegenwart Gottes in der personalen Gewißheit des Glaubens wird nun stärker ontologisierend und deduktiv nach dem Wesen des ewigen Lebens und seiner futurischen, offenkundigen Verwirklichung als Gegenstand der Hoffnung gefragt. In linear-zeitlicher Ausdehnung wird ewiges Leben zur personalen Dimension des Reiches Gottes. Die vollendete Gemeinschaft mit Gott kann dann interpretiert werden als Gottesschau und zugleich Erfüllung von Wahrheit, Freiheit, Liebesgemeinschaft und Gerechtigkeit in todloser Dauer. Im Rahmen ihrer philosophischen Voraussetzungen wird das ewige Leben in der römisch-katholischen Theologie weiterhin explizit von der trinitarischen Wirklichkeit Gottes her im Blick auf das irdische Heilsgeschehen und Leben und in Kontinuität dazu bestimmt und inhaltlich entfaltet. Das bedeutet für die Schöpfung „Entschränkung des Seins ins Ganze hinein". So formuliert es Joseph Ratzinger (193). H a t das menschliche Sein durch Jesus Christus seinen Ort im Sein Gottes, so besteht seine endgültige Erfüllung im Schauen von Gottes Angesicht, und das bedeutet „reine Durchdringung des ganzen Menschen von der Fülle Gottes und seine reine Offenheit, die Gott ,alles in allem' und so ihn selbst grenzenlos erfüllt sein läßt" (191). Dieses Sein in endgültiger Vollkommenheit läßt alles Fragen aufgelöst und erfüllt sein in der Teilhabe am Bcziehungsgeschehen trinitarischer Liebe. Diese Beziehung bedeutet christlich Unsterblichkeit (132). Sic ist theologisch begründet in der Teilhabe an der Existenzform des Auferstandenen, als Vollendung dessen, was mit der Taufe beginnt. Inhaltlich meint das der Begriff „ H i m m e l " (192). Von ihm her kann weiter entfaltet werden, worin ewiges Leben besteht: Erfüllung alles menschlichen M i t e i n a n d e r in der offenen Gemeinschaft der Heiligen, die zusammen den einen Leib Christi bilden, in der Gott „jeden auf seine Weise und jeden ganz" erfüllt (191), Freiheit von den Zwängen der Welt, Freude der Geretteten, Anbetung Gottes in himmlischer Vollendungsform, in personaler Unmittelbarkeit von Gott und Mensch. Der Himmel ist „die endgültige Erfüllung der menschlichen Existenz durch die erfüllte Liebe, auf die der Glaube zugeht" (190). So ist in der katholischen Theologie einhellig von dem „Himmel als Erfüllung der menschlichen Lebenssehnsucht und als ewige Seligkeit" (so Michael Schmaus, Katholische Dogmatik IV/2, München '1959, § 315) die Rede. „Himmel1'' ist das Zeichen für die Wirklichkeit, auf die der Christ jenseits des Todes hofft, der „ O r t " , wo er in Gottes Nähe leben wird. Das Maß dieses Lebens ist an Jesus Christus zu erkennen: Sieg über den Tod, unbedingtes Ja zum Leben, Ja zu einer Gemeinschaft mit allen Menschen, die vorbehaltlos aus Gottes Versöhnungstat leben (H. Häring 78). Religiöse Bilder beschreiben diese Wirklichkeit: Anschauung Gottes, Gemeinschaft mit Jesus, Anbetung, Lobpreis, kosmische Liturgie; profane Bilder gleichermaßen: Hochzeitsfreude, Paradies, Glück; Begegnung, Liebe, Gemeinschaft; Frieden; erneuerte, menschenfreundliche Erde; Leben ohne Trennung, Tränen, Schmerz und Tod. Die Bilder differenzieren sich nach Alter und Kulturkreis; in ihnen spielt die Phantasie zur Benennung christlicher Hoffnungsabsicht (86). In der Aufforderung; sich der Güte Gottes gänzlich zu überlassen, geht es letztlich dann um „jene Gemeinschaft, wo die Sehnsucht der Sache nicht zuvorkommt, noch die Erfüllung geringer ist als die Sehnsucht" (87, im Anschluß an Abaelard). Die absolute Nähe zu Gott selbst ist unsagbares Geheimnis; deshalb können alle Bilder nur Vorstellungsweisen

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des wirklich gemeinten Inhaltes sein (K. R a h n e r , G r u n d k u r s 416): R u h e und Frieden, G a s t m a h l und Herrlichkeit, Daheimsein im Vaterhaus, Reich ewiger Gottesherrschaft, G e m e i n s c h a f t aller selig Vollendeten, Erbschaft der Herrlichkeit Gottes, Tag o h n e Untergang, Sättigung o h n e Ü b e r d r u ß (423). Für H a n s Küng ist der H i m m e l „Zeichen d e r Entgrenzung und Unendlichkeit, des Hellen, Lichten, Leichten, Freien, des überirdisch Schönen, w a h r h a f t i g nie Langweiligen, sondern ständig N e u e n , unendlich Reichen, d e r vollkommenen Glückseligkeit" (281). Die theologische G r u n d f r a g e lautet, o b jeweils von der u n v e r f ü g b a r e n Lebenswirklichkeit Gottes her gedacht u n d argumentiert wird o d e r von der freilich auch nicht einfach zur Verfügung stehenden Wirklichkeit der S c h ö p f u n g her und ihrer Transzendenz. Ersteres scheint intendiert zu sein, w e n n das Unvorstellbare der k o m m e n d e n Welt bed a c h t werden soll, „ u m d a s Vorstellbare dieser Welt zu beleben, zu erhöhen und ihm in Richtung auf die Vollendung neue Impulse z u z u f ü h r e n " (Leo Scheffczyk, Leben - Tod — Vollendung 80). Küng dagegen k a n n den H i m m e l als „ R e a l s y m b o l von unersetzlichem archetypischem S y m b o l w e r t " bezeichnen (281). Der Begriff meint nach M e d a r d Kehl die endgültig geglückte „Identität eines Menschen und seiner Welt" (Eschatologie 289). Die H o f f n u n g des g l a u b e n d e n M e n s c h e n auf das „endgültige Aufgehobensein seiner Lebensgeschichte im Leben G o t t e s " h a t das „Eine und G a n z e der personalen Vollendung" zum Gegenstand (275 f). Ist d e r Tod die „endgültige, das ganze Leben einsammelnde Phase d e r Identitätsfindung des M e n s c h e n " , so ist in der N a c h f o l g e Christi auch im Sterben d e r „restlos vom Geist der Liebe zwischen Vater und Sohn d u r c h f o r m t e M c n s c h " das Ziel (281). Es handelt sich u m einen Zirkel, der der h a r m o n i s c h e n Z u s a m m e n o r d n u n g von N a t u r und G n a d e , von irdischer Schöpfung und ü b e r n a t ü r l i c h e m Vollendungsziel entspricht. Die philosophische G r u n d i e r u n g dieses harmonistischcn Gesamtmodells ist ein f u n damentalthcologisches P r o b l e m , das auch in der Lehre von den letzten Dingen diskutiert werden m u ß . Angesichts dieser Problematik formuliert Karl R a h n c r als hermcneutisches Kriterium: „ W i r wissen von den Eschata nur das, w a s wir vom Menschen, dem Erlösten, dem von Christus a u f g e n o m m e n e n und in Gottes G n a d e stehenden Menschen w i s s e n " ( G r u n d k u r s 416). „ H i m m e l " ist d a n n die „selige Endgültigkeit und Vollendetheit des mit der Selbstmitteilung Gottes begnadeten M e n s c h e n " (418). Im Blick auf das irdisch gelebtc Leben gilt individuell wie kollektiv: „Es ist, w a s geworden ist, befreite Gültigkeit des einmal Zeitlichen, das in Geist und Freiheit w u r d e und d a r u m Zeit bildete, um zu sein" (420). In diesem Sinne ist Ewigkeit „ F r u c h t der Z e i t " (423). Irdische Geschichte geht im Jenseits nicht einfach weiter, s o n d e r n findet d o r t „ i h r e bleibende Endgültigkeit, in der alles eingebracht ist, w a s je in irdischer Geschichte wesentlich w a r " (Lohfink: Grcshake/Lohfink 200). So werden Existenz und Menschheitsgeschichte endgültig durchsichtig, und die Sinnfrage ist endgültig b e a n t w o r t e t (Küng 293). Im R a h m e n einer evolutiven Weltanschauung kann das weitergedacht werden. So ist „ H i m m e l " f ü r H e r b e r t Vorgrimler z w a r einerseits „der Ausdruck f ü r die von Jesus Christus eröffnete und jetzt gegebene Möglichkeit f ü r die G e s t o r b e n e n " , nach M a ß g a b e des „geschichtlich E r w i r k t e n und G e w o r d e n e n " „in ihre Seligkeit zu gelangen", gleichzeitig aber auch „ m i t Jesus einen neuen, intensiveren Bezug zur Menschheitsgeschichte zu e r l a n g e n " . Der H i m m e l ist „jetzt noch unvollendet, eine erst w a c h s e n d e G r ö ß e " (166f). N a c h Gisbert G r e s h a k e zielt die von menschlicher Freiheit anfangsweise geprägte Geschichte auf d a s „vollendete, erfüllte Leben der universalen menschlichen Gemeins c h a f t " . In dieser Geschichte lebt der bei G o t t Vollendete „in seinen Taten sehr lebendig und w i r k s a m " f o r t . Die im Dienst des Lebens und der Liebe getanen Werke gehören somit zur „bleibenden Antizipation des zukünftigen größeren L e b e n s " (Auferstehung der Toten 391 f). Für L e o n a r d o Boff ist der H i m m e l die Welt im M o d u s ihrer totalen Vollkommenheit u n d ihres H i n e i n g e n o m m e n s e i n s in d a s Geheimnis des Z u s a m m e n l e b e n s mit G o t t : G o t t alles in allem. D a s bedeutet f ü r die Welt ihre volle Christifizierung und Vergöttlichung (59.93).

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Anders noch als in der westlich-abendländischen Theologie mit ihrer vielfach lateinisch geprägten Geistigkeit ist die orthodoxe Tradition der Ostkirchen bis heute im Geschehen der Heiligen -»Liturgie verwurzelt. Hier wird die Auferstehung Christi als Sieg über den Tod und das Leid, als Sieg über die Mächte der Finsternis gefeiert. Christus hat die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen wiederhergestellt; so wird der Tod durch seine Auferstehung zum Ubergang vom irdischen zum ewigen Leben. Theologisch heißt das: Gottes ewige Liebe bedingt die ewige Existenz seiner Geschöpfe. So wird die Auferstehung der Toten zur Verklärung der Schöpfung durch den Geist des auferstandenen Christus. Dumitru Staniloae präzisiert das folgendermaßen: „So, wie in der überzeitlichen, seligen Ruhe alle im Verlauf der Zeit gemachten positiven Erfahrungen zusammengefaßt sind, so werden auch alle im Raum gemachten Erfahrungen in der überräumlichen Existenz zusammengefaßt". Das bedingt trotz der eigenen Qualität der Ewigkeit Kontinuität: „Die Zeit und der Raum, in dem wir gelebt haben, vergehen nicht ohne Spur, sie wirken noch weiter nach als Freude oder als Q u a l " (191 f). Die inhaltlichen Aussagen über das ewige Leben über den verbindlichen, gewißmachenden Zuspruch der Z u k u n f t Gottes hinaus werfen in letzter Zuspitzung das Problem der philosophischen Form und damit Formierung und Gestaltung theologischer Argumentationszusammenhänge auf. Folgt man einer radikalen Metaphysikkritik, wie sie im Anschluß an M. -»Heidegger etwa Georg Picht vertritt, wobei mit „Metaphysik" die gesamte abendländische philosophische Tradition von Aristoteles bis zu ihrer Aufhebung durch Nietzsche gemeint ist, dann bedeutet der Tod den Austritt aus der Zeit und damit in das Nichts des Denkens. Aussagen über das ewige Leben sind dann philosophisch prinzipiell nicht mehr möglich, und es bleibt die Aufgabe, den Tod nicht zu verdrängen, sondern jeden Augenblick des zeitlichen endlichen Lebens in seiner Einmaligkeit zu erkennen und so Verantwortung (im Unterschied zu bloßer Rationalität) vernünftig wahrzunehmen (Hier und Jetzt 1,13.107; II, 381 u.ö.). Dazu in der Lage zu sein, kann theologisch als Ausdruck der Freiheit interpretiert werden, die der christliche Glaube an das ewige Leben in der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott, wie er in der Bibel bezeugt wird, gewährt. Auch die theologische Diskussion des 20. Jh. ist von den Versuchen geprägt, die neuzeitliche Destruktion der klassischen Metaphysik und ihres Weltbildes ernst zu nehmen, ohne sich doch in bloßer Kritik negativ weiter daran zu orientieren, vielmehr positiv im Anschluß an die biblische Überlieferung zu eigenen Interpretationen der Verkündigung ewigen Lebens zu kommen. Schon genannte Entwürfe mögen dafür stehen. „Der Glaube bejaht um seines Auftrags willen die Situation des offenen Feldes", formuliert Gerhard Koch und fährt fort: Er muß dazu „die sich noch immer anbietenden Reste des anderen [sc. metaphysischen] Gottesgedankens als unbewohnbar gewordenes Gehäuse am Wege zurücklassen". Sein Bekenntnis zu dem „Gott des Werdens" bietet in diesem offenen Feld die Relationen, in denen er leben wird. „Relationen aber zur Sprache bringen und um deswillen darauf verzichten, sie auflösend in ein Seinsgefüge zu zerren oder sie dem Subjekt zuzustellen, ist das, was er sich selbst zumuten m u ß " (Koch, Z u k u n f t 365). Der Glaube vertraut dem Weg Gottes in das Heute und „gibt sich ihm hin, indem er durch den Sohn die Freiheit zum Werden bejaht und im Geist diese Freiheit im Heute vollbringt" (349). Zu den Voraussetzungen dessen gehört das „sprechende Zeichen" (Barth) des leeren Grabes. Es sagt, „daß Gott dem Gestorbenen Z u k u n f t eröffnet, Leben im Tode gewährt" (323). Die an den „Erscheinungen" des Auferstandenen orientierte Wirklichkeit der Auferstehung wird dann zur „Wegverheißung der Schöpfung" (315), indem das Gewesene im Prozeß des Werdens Zukunft eröffnet (343). „Auferstehungswirklichkeit ruft nicht in den Himmel, sondern weist der Erde zu und macht auf der Erde zu Kooperatoren Gottes" (Für eine bewohnbare Welt 202), so daß sich die Welt „lichtet als die geliebte Welt Gottes" (203f). Die Z u k u n f t bleibt hier im Geiste Gottes offen, doch nicht abstrakt, sondern konkret als „Feld" des Lebens.

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5. Theologie und Biologie Überblickt man die Geschichte des Lebensverständnisses von den Anfängen bis in die Neuzeit hinein, so ist festzuhalten, daß von einer umfassenden, alles umgreifenden Sicht des Lebens religionsgeschichtlich, philosophisch und ebenso theologisch auszugehen ist. Alles Seiende hat am Leben teil und ist von ihm bestimmt. Lebendigkeit weist über sich selbst hinaus nicht nur auf das Leben künftiger Generationen von Lebewesen, sondern auf das Sein selbst, das als Leben selbst bestimmt werden muß. Ist auch darüber hinaus und in unendlich qualitativer Unterscheidung von Gott als letztbestimmender Wirklichkeit die Rede, so erscheint Leben als Gottesprädikat, ja Ausdruck für Gott selbst. Gott lebt, und darin ist das Leben alles Seienden begründet. Religiöse Mythologie zeichnet das nach, philosophische Vernunft versucht das zu denken. Christliche Theologie nimmt das auf, indem sie im Anschluß an die biblische Überlieferung und ihre Erfahrung von ewigem Leben spricht und dessen Verheißung zugleich von irdischen Erwartungen unterscheidet. In letzter Zuspitzung und alles weitere begründender Eindringlichkeit ist es die Erfahrung von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi, die christliches Lebensverständnis prägt. Ewiges Leben erscheint hier als die Zukunft der Glaubenden. Diese Erwartung prägt ihr eigenes Seinsverständnis, weist aber weit darüber hinaus. Sie trägt mit anderen Religionen und Weltauffassungen vermittelbare universelle Züge: Ewiges Leben als Gottes Zukunft gewährt und transzendiert zugleich nicht nur das Bestehen und die Entwicklung der Schöpfung und in ihr der Gattung Mensch, sondern bedeutet auch individuelle Erfüllung persönlicher Schicksale in ihrer biographischen Konkretheit. Der Tod ist überwunden, indem Gott Zukunft schenkt. In mannigfachen Abwandlungen und Ausdeutungen geht diese Hoffnung als Glaubensgewißheit und Bewußtheit von Endlichkeit in den Fortgang konkreten Lebens und Sterbens ein. Das Gcricht geht der Gabe ewigen Lebens voraus, in Gnade anschaubar jedoch im Kreuz Jesu Christi, auf das sich nach christlicher Lehre der Mensch vor Gott berufen darf, um durch Leiden und Sterben hindurch Gottes und seine eigene Zukunft als Lebenserfüllung zu erwarten. Ewiges Leben ist Auferstehungswirklichkeit, die irdisches Leben durchdringt, indem sie es auf Gottes Zukunft hin öffnet und in ihr offenhält zu konkreter Geschichtc. Im Glauben an das ewige Leben wird diese Geschichte von Liebe bestimmt und geprägt sein. Das eröffnet einen Horizont menschlichen Handelns, der die Phänomenalität des Lebens in seiner Ganzheit wahrzunehmen gestattet und so einen wirklichkeitsgerechten Umgang mit dem Leben von seinem Grunde her ermöglicht. Auch das Sterben kann so als Teil des Lebens wahrgenommen und bejaht werden. „Das Ja zum Sterben" ist dann „kein bitteres Nein zum irdischen Leben", wenn es „dem Ja zum wahren Leben entspringt" (G. Ebeling, Dogmatik 111,451). Die Erwartungen des irdischen Lebens gewinnen vielmehr ihr schöpfungsgemäßes Maß, wenn in Unterscheidung davon der Verheißung des ewigen Lebens geglaubt wird. Gegenüber einem umfassenden theologischen und philosophischen Lebensverständnis ist die biologische Bearbeitung des Lebensphänomens eine Reduktion. Das Leben in seiner konkreten Vielfalt und Buntheit, wie es von Menschen und in ihnen zugemessener Weise auch von anderen Organismen erlebt wird, samt der ihm zugehörigen Zukunftserwartung, wird zurückgeführt auf empirisch beobachtbare und experimentell analysierbare Sachverhalte. Das Leben und seine Vernunft wird befragt auf seine Rationalität. Die Wirklichkeit ewigen Lebens, die Erfahrung des Glaubens und der Religion wird dabei abgeblendet zugunsten dessen, was rational erfaßt und reproduziert und damit auch technischem Zugriff zugeführt werden kann. Das ist nicht wenig: Die Natur, die Lebenszusammenhänge der modernen Welt sind auf diese Weise gestaltet und die wissenschaftlich-technische Zivilisation darauf aufgebaut worden. Natürliches Leben ist so verändert worden und wird künftig auch menschlichen Neukonstruktionen unterliegen können. Biologische Sachverhalte sind freilich mehr und anders, als die Entstehungsgeschichte der modernen Biologie unter dem Eindruck mechanistischer Verstehensmodelle erwarten ließ. Spätestens im Zeitalter von Kybernetik und Ökologie ist der mögliche Rekurs auf einfache und einlinige Kausalzusammenhänge relativiert und in größere Zusammenhän-

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ge eingeordnet w o r d e n . Die Kritik an den Folgen einlinigen wissenschaftlichen und d o r t a u c h biologischen Denkens h a t zu einer neuen Sensibilisierung f ü r die L e b e n s p h ä n o m e n e u n d ihre Zusammengehörigkeit und Ganzheit g e f ü h r t . So ist es ein Fortschritt der Wissenschaft, wenn nach dem D u r c h g a n g d u r c h den M e c h a n i s m u s auf e r h ö h t e m Reflexionsniveau an klassische Traditionen des Lebensverständnisses erneut a n g e k n ü p f t w e r d e n kann. D a s bedeutet: Von der m o d e r n e n Biologie k a n n keine direkte Linie gezogen werden zum Lebensverständnis der Theologie und u m g e k e h r t , aber in der Sache bewegen sie sich wenigstens tendenziell aufeinander zu. Die Biologie m u ß t e nach Descartes von einfachen, im Extrem mechanistischen (oder vitalistischen) Lebensdeutungen zu immer k o m p l e x e ren Beschreibungen fortschreiten, aus denen sich selbst unter den Voraussetzungen reduktionistischer naturwissenschaftlicher M e t h o d e n A n n ä h e r u n g e n an „ganzheitliche" Denkweisen ergeben. Evolutionistische Perspektiven, die vom Ansatz her den Abbiend u n g e n der Evolutionsi/;eone unterliegen (-»Evolutionismus), entwickeln d e n n o c h eine holistische Tendenz. Das schlägt sich in E n t w ü r f e n von N a t u r w i s s e n s c h a f t l e r n nieder, die ein umfassendes modernes Weltbild zu (re)konstruieren versuchen (unter Biologen z. B. B. Rcnsch, C. Bresch, H . M a r k l ) . Solche E n t w ü r f e gewinnen freilich leicht weltanschaulichen C h a r a k t e r (vgl. J. H ü b n e r , Dialog, Kap. L). D a s fordert d a s Gcspräch mit Philosophie und Theologie heraus. Beide, sofern sie von einem u m f a s s e n d e n , die Tiefe von Lebenserfahrungen a u f n e h m e n d e n f u n d a m e n t a l e n Lebensverständnis und in Unterscheid u n g davon vom ewigen Leben ausgehen, bedürfen ihrerseits des G e s p r ä c h s auch mit d e r Biologie, um ihre Reflexion und Botschaft nicht anachronistisch in der Sprache eines vergangenen Weltbildes und einer d o r t orientierten M e t a p h y s i k zu formulieren. Sie haben sie vielmehr bei aller Kontinuität unter den Bedingungen jeweils gegenwärtigen Welterkennens neu zu bedenken und zur Sprache zu bringen. Dabei ist das kritische Potential des christlichen Glaubens gegenüber bloß rationalistischen Lebensdeutungen ebenso zur Geltung zu bringen wie rationalen Anfragen von Seiten der N a t u r w i s s e n s c h a f t e n gegenüber unbedachten Irrationalismen R a u m zu geben. Entscheidend ist, d a ß das Gespräch in wechselseitiger K o m m u n i k a t i o n gelingt und so dem Leben selbst dient, seine P h ä n o m e nalität also lebensdienlich hütet und im Blick auf erfülltes Leben gestaltet. D a s wirft die Frage nach einer Ethik des Lebens auf. Sofern sie das Leben selbst in seinen verschiedenen Dimensionen und den U m g a n g mit d e m Leben ü b e r h a u p t betrifft, m u ß sie in theologischer, philosophischer und biologischer Reflexion über d a s Leben schon enthalten sein und mitbcdacht w e r d e n . G e h ö r t hier auch die Dimension des ewigen Lebens grundlegend mit hinzu, wie es schon die Begriffsgeschichte im A b e n d l a n d zeigt, so ist d a m i t die Frage nach d e r G r u n d o r i c n t i c r u n g und letztgültigen Ausrichtung des Lebens, also nach Religion, Weltanschauung und G l a u b e mit gestellt. D a s reicht bis in den Bereich der Scelsorgc, so w a h r „Seele" und „ L e b e n " von A n f a n g an so eng z u s a m m e n g e hören, d a ß sie Synonyma werden k ö n n e n . Es ist d a h e r nicht sinnvoll, an die E r ö r t e r u n g des „ L e b e n s " eine Ethik erst anzuschließen - sie k ä m e zu spät und w ä r e n u r „ a n g e s t ü c k t " (Heidegger). Christlich gesagt: D a s Leben als Gottes G a b e und unter der Verheißung, letztlich am Leben Gottes selbst teilhaben zu d ü r f e n , bedarf von A n f a n g an u n d in all seinen Ausprägungen der sorgfältigen B e w a h r u n g und der Sorge u m seine d u r c h alle E n t f r e m d u n g e n und Verwerfungen hindurch doch s c h ö p f u n g s g e m ä ß e E n t f a l t u n g , wie sie sich unter der Perspektive der Versöhnung und Erlösung auch schon im irdischen Bereich eröffnet. Was das konkret im einzelnen L e b e n s z u s a m m e n h a n g bedeutet, ist jeweils d o r t zu erörtern. An großen P r o b l e m z u s a m m e n h ä n g e n sind hier - » H e i l k u n d e / M e d i z i n , - • M e d i z i n i s c h e Ethik (angelsächsisch: „Bioethics"), - » Ö k o l o g i e und - » W i r t s c h a f t zu nennen. Als G r u n d p r o b l e m stellt sich heute in all diesen Bereichen, wie sich die ständig erweiternden und vertiefenden Möglichkeiten technischer Eingriffe und d a r a u f a u f b a u e n der technischer Strategien (-»Technik) im G e s a m t z u s a m m e n h a n g des Lebens der M e n schen, ihrer Lebenswelt und der Biosphäre ü b e r h a u p t a u s w i r k e n u n d so reguliert werden k ö n n e n , d a ß sie das Leben auf d e r Erde auch auf lange Sicht nicht zerstören, s o n d e r n

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b e w a h r e n und zu seiner E n t f a l t u n g beitragen. Insbesondere wird das die ethische R e f l e x i o n der —»Naturwissenschaft im Blick h a b e n müssen. Spätestens in deren Z u s a m m e n h a n g m u ß auch die E t h i k des U m g a n g s mit T i e r e n und Pflanzen neu erörtert w e r d e n , sollen diese als lebendige M i t g e s c h ö p f e erlebt und geachtet bleiben und auch k ü n f t i g entsprechend behandelt w e r d e n . W i e wenig das derzeit geschieht, zeigt, wie sehr d a s Leben gefährdet ist, und das betrifft in exzeptioneller Weise gerade auch m e n s c h l i c h e s Leben. Literatur Philosophie und Biologie: Theodor W. Adorno, Minima moralia, Frankfurt/M. 1951. - Garland E. Allen, Life Science in the Twentieth Century, Cambridge 1980 (Cambridge History of Science Series). - Agnes Arber, Sehen u. Denken in der biologischen Forschung, Reinbek 1960 (rde 110). — Theodor Ballauff, Die Wiss. v. Leben. 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Jürgen Hübner

VI. Praktisch-theologisch 1. Leben als Leitbegriff logie (Literatur S. 5 6 5 )

2 . Die Lebensthematik in den Handlungsfeldern der Praktischen T h e o -

1. Leben als Leitbegriff Nicht nur für die systematische Reflexion in Ethik und Dogmatik ist Leben als Basis-

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p h ä n o m e n wesentlich, sondern a u c h für die P r a k t i s c h e T h e o l o g i e . Z w a r wird sie seit ihrer E n t s t e h u n g als W i s s e n s c h a f t bei S c h l e i e r m a c h e r e h e r als T h e o r i e des Handelns g e f a ß t , a b e r dieses H a n d e l n bezieht sich a u f das L e b e n des G l a u b e n s und der Kirche. Das entspricht dem ursprünglichen Sinn der Unterscheidung von Theorie und Praxis. „Der Gegensatz von Theorie und Praxis hat seinen Sitz in der Unterscheidung zweier verschiedener Lebensformen, des ßiog SEwpqTiKÖg und des ßiot; npaKUKÖg" (G. Picht 321). Mit der Unterscheidung von vita activa und vita contemplativa wurde der auf Lebensführung bedachte Sinn von Praxis festgehalten, auch wenn in der Neuzeit dann der Unterschied von Wissenschaft und Erfahrung bzw. von Theologie und Religion (vgl. dazu B. Ahlers) auf das Verständnis von Praxis einwirkte. Die heute wieder erkannte Differenz von Technik und Praxis (Habermas 10) führt dazu, daß die Praktische Theologie in der Reflexion von Lebensvollzügen nicht nur zweckrationales Handeln, sondern auch die Teilhabe des Denkens an Bedingungen und Vollzügen des Lebens zu thematisieren hat. D i e F r a g e nach der Beziehung von H a n d e l n und L e b e n w u r d e theologisch oft mit d e r nach dem Verhältnis von - » L e h r e und L e b e n t h e m a t i s i e r t . Obwohl Luther den Vorrang der Lehre vor dem Leben betonte - „Lehren und tun soll man voneinander scheiden weit, wie Himmel und Erden" (WA 18,112,10) - , wollteer damit den „rechten Lebensbezug der Lehre sichern" (Ebeling 32). Das Leben ist der Ort, wo das Wort Gottes mitten in der Anfechtung des Todes -sub agone mortis (WA 40/3,152,16) - Leben verheißt. Von daher konnte Luther die übliche Unterscheidung von theoretischer und praktischer Wissenschaft als theologisch nicht wesentlich ansehen und sich für eine in der christlichen theologia crucis gegründete theologia practica einsetzen (WA.TR 1 Nr. 153). Beatus, qui in vita experitur (WA.TR 2; 35,15 Nr. 1306). Diese p r ä g n a n t e t h e o l o g i s c h e Fassung des Z u s a m m e n h a n g s von L e b e n und theologia practica wurde in der Folgezeit nicht a u f r e c h t e r h a l t e n . D i e alten aristotelischen U n t e r scheidungen setzten sich d u r c h , wenn a u c h , besonders in der reformierten T h e o l o g i e , theologia practica als die L e h r e vom geistlichen L e b e n , allerdings als Aszctik nur ein Teilgebiet der E t h i k und nicht deren grundlegende D i m e n s i o n , n o c h den Z u s a m m e n h a n g bewahrte. Schon -»Hyperius hatte den Zusammenhang von vita und ecclesia betont (D. Frielinghaus 89 ff), und bis zum Pietismus hin wurde theologia practica so gefaßt. Scheibler veröffentlichte 1630 sein „Manuale ad theologiam practicam, d. i. Traktat vom etvigen Leben . . . " und 1664 seine „ A u r i f o d i n a theologica oder Theologische und geistliche Goldgrube, das ist teutsche Theologia-Practica, Darinnen alle geistlichen Bergleute antreffen können, was da dient I Zu ihres Glaubens Bewehrung II Zu ihrer Liebe Vermehrung III Zu ihrer Hoffnung Entehrung" (weitere charakteristische Titel nennt C. Clemen [Zur Reform 5, Anm.5]). Entsprechend w u r d e besonders im Pietismus n a c h dem habitus practicus des T h e o l o gen, seiner F r ö m m i g k e i t gefragt, bis es - » S c h l e i e r m a c h e r gelang, die d e m e n t s p r e c h e n d e p a s t o r a l t h e o l o g i s c h e E n g f ü h r u n g zu d u r c h b r e c h e n , indem e r den Begriff der Kirchenleitung maßgeblich m a c h t e , die T e c h n i k b e s o n n e n e r T ä t i g k e i t e n in der Seelenleitung zur E r b a u u n g , die a b e r bezogen w a r a u f die lebendige M i t t e i l u n g des G l a u b e n s in der G e meinde. D e m e n t s p r e c h e n d lautete sein p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e r Kirchenbegriff: „ D i e evangelische K i r c h e ist eine G e m e i n s c h a f t des christlichen L e b e n s zur selbständigen Ausü b u n g des C h r i s t e n t u m s " (Prakt. T h e o l . 6 2 ) . Der Zusammenhang von Handlungstheorie und Lebensäußerungen des Glaubens und der Kirche wurde weiterhin noch gesehen, z.B. deutlich bei Th. Harnack: „Der Kopf bedarf des Herzschlags; so kann auch die Theologie ihre Gedankenarbeit nicht vollziehen, ohne steten und innigsten Zusammenhang mit dem Herzschlag der Kirche, ihrem Glauben. Der Herzschlag aber gehört nicht bloß der Theologie, d.h. dem Gedankenleben der Kirche, sondern auch der Praxis, d.h. ihrem Tatleben. Beide sind gleichwiegende Lebensäußerungen der Kirche, beide zusammen bilden ihren vollen Lebensorganismus" (Prakt. Theol. 18). „Wenn aber der praktischen Theologie sich der Begriff der handelnden Kirche unterbreitet, behufs ihrer Erbauung, so ist damit zugleich ihr Inhalt gegeben und ihr Umfang, ihre Grenzen sind näher bestimmt, sobald wir nur den Sinn bezeichnen, in welchem die Kirche handelndes Subjekt zu ihrer Selbsterbauung ist und welche die Lebensfunktionen sind, die sie zu ihrem Ende ausübt" (23). Diese o r g a n o l o g i s c h e Sicht hat sich bis zu O . H a e n d l e r s Grundriß

der

Praktischen

Leben VI

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Theologie (1959) in gewisser Weise gehalten und ist sogar von W. Birnbaum zum Maßstab der Entwicklung gemacht worden. Freilich konnte sie weder den Problemen der sich entwickelnden Soziologie gerecht werden, die nicht einfach die Analogien der Psychologie übernahm, noch der Theologie des Wortes Gottes entsprechen, die den Gegensatz von Wort Gottes und menschlicher Lüge, von Gnade und Sünde, gerade auch als Tod des Vitalismus zur Geltung brachte. Aufschlußreich sind hier Äußerungen E. Thurneysens in seinem Aufsatz Die Aufgabe der Theologie (Das Wort Gottes und die Kirche, 1927,196-231), wo er am Schluß sich der entscheidenden Frage stellt: „Das Leben steigt auf vor uns und stellt seinen Anspruch. Was bedeutet diese Theologie für das Leben? Bedeutet sie überhaupt etwas?" (230f) Und er schildert das Leben, besonders das soziale Elend und fragt, wie Theologie und dieses Leben zusammenhängt. „Ich antworte mit einer einzigen Gegenfrage: Glauben wir, daß diesem Leben im Grunde nur Eines fehlt, daß es um das Fehlen dieses Einen willen ist, wie es ist, daß es also auf dieses Eine wartet wie auf nichts anderes- auf Gottes lebendige Wort nämlich, darauf, daß dieses Wort aufstehe aus der Bibel und hineinrede in unsere Zeit, richtend und verheißend, auf alle Fälle so, daß in diesem Wort Gott selber wieder in dieses Leben hineintritt als sein Schöpfer, sein Versöhner, sein Erlöser?" (231)

Wurde so auch eindrücklich die Grundlage aller Theologie erinnernd erneuert, so konnte doch, zumal im Kontakt mit den vielfachen Erkenntnissen der Psychologie, Soziologie, Pädagogik, aber auch der Ökonomie und Biologie über menschliches Leben insgesamt, also „Anthropologie in theologischer Perspektive" (vgl. W. Pannenberg) dies nur die erste Aufgabe Praktischer Theologie sein, der die folgende unbedingt zugehörte. Es gilt, der Frage nach dem gelingenden Leben mitten im Tode nachzugehen, insbesondere nach dem Leben der Gruppen, Institutionen und Kulturen. In den Einzeldisziplinen der Praktischen Theologie machte sich diese Fragestellung bemerkbar (s.u. 2), aber in den Prolegomena wurde dies bisher noch wenig sichtbar. Daß der Begriff der Handlungswissenschaft in eine Theorie der lebensweltlichen Wahrnehmung eingegliedert werden muß, die auch der Kolonialisierung der Lcbenswclt (Habermas) entgegentritt, daß eine neue Fassung einer Theologie der —»Kultur notwendig ist, ist derzeit noch Programm. Dabei wird eine solche Theorie theologisch bis in die fundamentalen Erkenntnisse hinein, die in der Lehre von der Trinität Gottes beschlossen sind, praktisch zu realisieren sein: Leben als Vollzug von Mitkreatürlichkeit, Leben als Teilhabe sola gratin an dem Leben Jesu in der Nachfolge (vgl. D. Bonhoeffer, Nachfolge, und M . Luther: „Wer den gekreuzigten Christus lebt, wird gerettet" [WA 5 , 8 1 , 7 - 9 ] ) und Leben in der Kraft des Geistes, seufzend, aber zur Hoffnung befreit. Welche Lebensqualität Glaube und Kirche mitteilen, wird sich in der Spannung von kritischer Lebensbejahung („Ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe", Koh 9,4) und Gerichtsdoxologie („Deine Güte ist besser als Leben", Ps 63,4) vollziehen. Man darf hoffen, daß sich das ebenso auf die Sinnbestimmung Praktischer Theologie auswirkt, wie auf die Darstellung ihrer Geschichte. Z. B. gilt es dementsprechend die Bedeutung von J . A. ->Comenius für die Praktische Theologie zu erkennen: Comenius betont mit Rekurs auf Glaube, Liebe und Hoffnung den praktischen Charakter der Frömmigkeit(p/etas). „Wir müssen schon vom ersten Moment an praktische, nicht theoretische Christen formen, wenn wir wirkliche Christen haben wollen. Die Religion ist etwas Lebendiges, kein Schattenbild. Ihre Lebenskraft soll in ihrer Wirkung zutage treten, so wie ein lebendiger Same, den man guter Erde anvertraut, bald emporkeimt... Daher verlangt die Schrift einen wirksamen Glauben (Gal 5,6) und nennt den Glauben ohne Werke einen toten Glauben (Jak 2,20) und fördert eine lebendige Hoffnung (I Petr 1,3)" (Große Didaktik, Kap. 24,22; Ausg. A. Flitner 163). Er hält Luthers Reformation für unvollendet, da der Reformatio der Lehre noch die des Lebens folgen müsse: Vita irreformata mansit (Clamores Eliae 219). In seinem Hauptwerk, der Consultatio Catholica, gibt er in Anknüpfung an die 7 Vaterunserbitten eine Antwort darauf, wie das große Werk Gottes der gesamten Zurechtbringung (Panorthesia) in sieben gradus „durch meine Mitwirkung voran bewegt werden kann" (111,15; vgl. Schröer 92). Ähnlich bedeutsam ist es, N.F. S. ->Grundtvigs Erbe für die Praktische Theologie wahrzunehmen. Es genügt, hier an jene exemplarische Szene zu erinnern, die H. Martensen überliefert hat. Als Ph. -»Marheineke 1836 zum dänischen Reformationsjubiläum nach Kopenhagen kam und Grundtvig besuchte, empfahl er die spekulative Theologie als das, was die Zeit bedürfe. Grundtvig widersprach und sagte: „Für mich ist der Hauptgegensatz der zwischen Leben und T o d " (Martensen 56).

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Leben VI

Dementsprechend war für ihn „das lebendige W o r t " die M i t t e seiner T h e o l o g i e (vgl. C h . T h o d b e r g ) . Es ist eben notwendig, die Spannung von G n a d e und Sünde elementar durch den Gegensatz von Leben und T o d mitzuteilen, wie es auch die biblische Überlieferung verlangt, w a s a b e r bisher in der Konzeption auf Wort und E x i s t e n z oft unterblieb. Praktische T h e o l o g i e als Ästhetik begriffen ( R . B o h r e n ; A. Grözinger), als lebensweltliche Kunstlehre des G l a u b e n s zwischen Sein und Schein, als Wahrnehmung der Anzeichen des Reiches G o t t e s , k ö n n t e diesem M a n g e l abhelfen.

Daß auch in der zeitgenössischen katholischen Praktischen Theologie der Zusammenhang von Handeln und Leben kategorial und der Rekurs auf eine ergiebige Wissenschaftsgeschichte (Katholische Tübinger Schule von J . S . Drey und J.B.Hirsch bis J . E . Kuhn und F.X. Linsemann; K. Rahner, Fundamentierung der Praktischen Theologie im Selbstvollzug der Kirche) neu bedacht wird, zeigt instruktiv W. Fürst (Urteilskraft 11.164 f.579-584). Man vgl. auch P. Zulehners Begriff „Lebenswissen Jesu" (Zielperspektiven 88). Praktische Theologie vereinigt so Wissenschaft und -»Weisheit. 2. Die Lebensthematik

in den Handlungsfeldern

der Praktischen

Theologie

Was sich grundsätzlich noch nicht eindrücklich Geltung verschafft hat, ist doch in den einzelnen Handlungsfeldern geltenden Glaubens deutlich spürbar. 2.1. In der Seelsorge wurde schon seit 1965, ausdrücklich gegenüber der Leitlinie Seelsorge als Verkündigung (H. -»Asmussen, E. -»Thurneysen), Seelsorge als Lebenshilfe konzipiert. Das war angesichts des biblischen Verständnisses von näpäs und y/v/jj als bedürftigem Leben (H.W. Wolff) nur konsequent, bedürfte allerdings sowohl der Präzision im Blick auf das Verhältnis von Glauben und Leben (H. Tacke) als auch der Auslegung dieses Begriffs in der Pädagogik (vgl. H. Scheuerl) und in der Sozialarbeit (z.B. Lebenshilfe als Institution für die Förderung Behinderter). 2.2. Die in der Seelsorge schon erkannten Zusammenhänge mit der Bildungslehre und Erziehungswissenschaft (vgl. auch die Arbeiten von E. Spranger und F.W. Förster) führten auch zu bestimmten Ausprägungen in der Religionspädagogik. Ruth Cohns Konzeption der themenzentrierten Interaktion (TZI) wurde als „lebendiges Lernen" - ein altes Motiv, zumal in den reformpädagogischen Prinzipien der Lebensnahe und Selbsttätigkeit - wirksam publik, und offizielle Empfehlungen zur Gemeindepädagogik brachten den „Zusammenhang von Leben, Glauben und Lernen" neu zu Bewußtsein. Einen ganz wesentlichen Anstoß bedeutet vor allem die von K.E. Nipkow und F. Schweitzer vorangetriebene Aufnahme der Lcbcnslaufforschung in die Religionspädagogik. 2.3. Damit kamen auch Erkenntnisse zur Geltung, die für die Lehre vom Gottesdienst zunehmend wichtig wurden und sich laufend erweitern. Der Zusammenhang der Kasualpraxis mit der Erforschung der Lebenszyklen schuf eine neue Bewertung von Ritus und Symbol, wirkte sich aber auch auf das Verständnis von Liturgie und Hymnologie aus. Das Stichwort „Lebendige Liturgie" beginnt sich, ausgehend von den Basisgemeinden der Ökumene und den Kirchentagserfahrungen, durchzusetzen (S. Fritsch-Oppermann/H. Schröer), so daß Liturgik mehr ist als nur die Wissenschaft von Agenden. 2.4. Wie die inzwischen enorm zunehmende Diskussion von Konzeptionen des Gemeindeaufbaus zeigt (vgl. Ch. Möller), ist die Frage nach der Lebendigkeit der Gemeinden wieder einmal - vergleichbar den früheren Epochen der Reformorthodoxie und des Pietismus - aktuell. Gerade der auch teilweise konkurrierend eingesetzte Leitbegriff des Gemeindewachstums zeigt, wie Leben als Universalkategorie wirksam wird. Inzwischen ist z.B. Gorbatschows Diktum „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", sogar schon in der Kirche sprichwörtlich geworden. Eine dem lebendigen Wort verantwortliche Theologie des Gemeindelebens wird allerdings immer wieder einzuüben haben, daß es nicht um die jugendliche Kraft von Gemeinden geht, sondern um die wirksame Gegenwart Christi - den Geist als Christus praesens - , die Theologie zu einer Leben-Jesu-Forschung tieferer Wahrnehmung macht, was letztlich auch dem Interesse der Barmer Theologischen Erklärung entspricht. Daß der gemeinsame Glaube, gerade auch in der biographischen Dimension, das convivere, das gemeinsa-

Leben VI

565

me Leben, zu einer unverzichtbaren Dimension macht, ist gerade von den Erfahrungen der Ökumene, der Stellung der Kirche in multikultureller Gesellschaft her deutlich geworden. Es d a r f an S. Kierkegaards Notiz erinnert werden: „In der Definition von K i r c h e , die sich in der Augsburgischen Konfession findet..., hat man ganz richtig (d. h. unrichtig) nur die zwei Glieder von L e h r e und Sakramenten ergriffen, aber das erste übersehen, die G e m e i n s c h a f t der Heiligen, worin die B e s t i m m u n g in R i c h t u n g auf das Existentielle l i e g t " ( P a p . X , 4 , A 2 4 6 ) . M e h r und mehr ergibt sich die E r k e n n t n i s von der „ N o t w e n d i g k e i t , daß wir um d e s , G e s e t z e s des Geistes des L e b e n s ' willen, das die K i r c h e als Leib Christi d u r c h f o r m t und durchwaltet, in der praktischen T h e o l o g i e keinen abstrakten Lebensbegriff verwenden, sondern vom Z u s a m m e n l e b e n sprechen - auch da w o es um das Leben der Gemeinde(glieder) mit M e n s c h e n geht, die keine Christen s i n d " ( J ö r n s 19).

Luthers Erklärung seines Wappens der Lutherrose (WA.B 5,445,1 ff) enthält dementsprechend die wegweisenden Sätze: „ O b ' s nun wohl ein schwarz Kreuz ist, inortifiziret und soll wehe thun, dennoch läßt das Herz in seiner Farbe, verderbt die Natur nicht, es tödtet nicht, sondern erhält lebendig. Denn der Gerechte lebt seines Glaubens, nämlich des Glaubens an den Gekreuzigten" und verweist so auf das Leben als Wahrzeichen der „bunten Gnade G o t t e s " (M. Trowitzsch). Literatur B o t h o Ahlers, Die Unterscheidung v. T h c o l . u. Religion, Gütersloh 1980. — Walter B i r n b a u m , T h c o l . Wandlungen v. Schleiermachcr bis Karl B a r t h , T ü b i n g e n 1963. - R u d o l f B o h r e n , D a ß G o t t schön werde. Prakt. 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566

Lebcn-Jesu-Theologie/Leben-Jesu-Forschung

Freiburg 1929. - Paul M i c h a e l Z u l e h n e r , Pastorale Zielperspektiven: Kirchl. u. nichtkirchl. R e l i g i o sität, h g . v . Ludwig B e r t s c h / F e l i x Schlösser, 1978 ( Q D 81).

Henning Schröer Lebensbaum -»Pflanzensymbolik

Leben-Jesu-Theologie/Leben-Jesu-Forschung 1. Begriff und urkirchlicher Ansatz 2 . Geschichtliche E n t w i c k l u n g 2.1. Mittelalter 2.2. 15. und 16. J a h r h u n d e r t 2.3. Zeit der Aufklärung 2 . 4 . 19. und 20. J a h r h u n d e r t (Anmerk u n g e n / Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 5 7 2 )

1. Begriff und urkirchlicher

Ansatz

Lcbcn-Jesu-Thcologic meint den Vcrsuch, die vorgeblich verifizicrbarc Rekonstruktion des öffentlichen Wirkens Jesu von Nazareth zum wesentlichen Kriterium und zentralen Inhalt theologischer Reflexion zu machen und so den irdischen Jesus in die Mitte von Theologie und Glaube zu rücken (vgl. Georgi: R G G 3 4,249; bedeutsam auch die dort, bei Pfannmüller, in T R E 17, 7 6 - 8 4 und bei Kuschel angesprochene künstlerische Dimension). In der Urkirche g a b es bereits die Tendenz, das Auftreten des irdischen Jesus als D e m o n s t r a t i o n des Außerordentlichen darzustellen. Diese Tendenz war nicht die einzige O p t i o n , mit der Gestalt Jesu umzugchen, und sie blieb auch nicht unwidersprochen. Aber sie schuf sich eine weitreichende Auslegungs- und Wirkungsgeschichte. Wesentliche kulturelle Malsstäbe der hellenistisch-römischen Welt (—»Antike und Christentum; —»Hellenismus) und ihrer Leistungsgesellschaft waren in dieser Version aufgenommen und boten sich der gesellschaftlichen Kollaboration a n 1 .

2. Geschichtliche

Entwicklung

2.1 Mittelalter. Im späten Altertum und frühen Mittelalter reduzierten die gesellschaftlichen Umstände den Reiz dieser christologischen Perspektive. Aber als sich die städtischen Märkte, von Handwerkern und Kaufleuten mit ihren marktbezogenen Privilegien bestimmt, im westlichen und südlichen Europa des 11. und 12. Jh. als neue ordnungspolitischc Größe entwickelten, die -»Universitäten der bürgerlichen Jugend Aufstiegs- und Einflußmöglichkeiten eröffneten, wurde die Vorstellung von Jesus als übernatürlich ausgezeichneter, menschlich greifbarer und bestimmender Person wieder interessant. Die Lebcn-Jesu-Thcologie entwickelte sich jetzt sozioökonomisch und ideell in enger Verknüpfung mit der Geschichte des europäischen —»Bürgertums. Diese Entwicklung läßt sich grob schematisieren, weil jeweils ungefähr in der Mitte der Jahrhunderte ihre größeren Schübe erfolgten. -»Anselm von Canterbury unterzog das Inkarnationsdogma einer rein rationalen (Christo remoto) Analyse (vgl. T R E 16,747,41 ff) und interpretierte die Menschwerdung Jesu in einer vernünftigen und deshalb einsichtigen Rechtsordnung (Berman 1 7 5 - 1 8 5 . 5 9 5 - 5 9 8 ) . Im griechischen wie im lateinischen Sprachraum wurde das Ideal des geschichtlich greif- und multiplizierbaren Göttlichen Menschen wiederbelebt. Es formte sich jetzt ein gesellschaftlicher Wille, den vorliegenden s o z i o ö k o n o m i s c h c n Bedingungen durch gezielte Bildungsanstrengungen zu begegnen, die das Führungsideal in Gestalt je selbstbewußter und selbstverantworteter Individuen zu vervielfältigen vermochten. Der das N o r m a l e überschreitende, besonders begabte M e n s c h wurde zu einem gesellschaftsrelevanten und -prägenden M o d e l l 2 , bei dem nicht nur eigene, sondern gesellschaftliche Absicht und bewußte Weiterbildung in einer der hellenistischen Antike noch unbekannten Weise z u s a m m e n k a m e n .

Seit dem 12. Jh. hatten die -»Franziskaner, geformt durch ihren auf den irdischen Jesus konzentrierten Lehr- und Frömmigkeitsstil, den Bürgern und Bürgerinnen in wachsendem Maß Interesse an dem Individuum (-»Individualismus/Individualität) vorgeführt,

Leben-Jesu-Theologie/Leben-Jesu-Forschung

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immer stärker Praxis, Experiment und Erfahrung mit einbeziehend (Roger Bacon 3 , ca. 1214-1292). Die Verbindung mit dem Motiv vom Reich Gottes/Christi (-»Herrschaft Gottes) wurde hergestellt, aber sehr verschieden - wenngleich nicht immer unverbunden - interpretiert (von kirchlicher oder imperialer Verwirklichung über revolutionäre Utopien bis zur totalen Verinnerlichung). Im 14. Jh. hatte das Bürgertum die Erfahrung aufzuarbeiten, daß die Versuche einer umfassenden Befreiung der Städte und ihrer Märkte vom feudalen Zugriff nur zu Teilerfolgen geführt hatten, weil den Bürgern Masse und Kraft noch fehlten. Deshalb begann man jetzt, sich auf sein gesellschaftliches Bewußtsein zu konzentrieren, und war dabei, vielfältige Ausdrucksformen und Allianzstrategien zu entwickeln. Francesco -»-Petrarca machte die Antike, vor allem die römische, zum Vorbild und den Großen Menschen zum prägenden Ideal 4 . Aus dem Franziskanerorden war inzwischen der -» Nominalismus erwachsen und verhalf mit William von -»Ockhams Betonung der res individualis als der einzigen Wirklichkeit dem Konzept des Individuums als einer auch die Gesellschaft bildenden und tragenden Größe zum endgültigen Durchbruch 5 , bei einer gleichzeitigen, für die Entwicklung des Bürgertums schicksalsträchtigcn Betonung des einzelnen Willens und des Eigentums, wobei dessen Analyse eigentlich der genaueren Begründung der Armut diente 6 . Die —^Devotio moderna gab solcher Individualität die angemessene Frömmigkeitsform und half den entsprechenden Lebensstil bilden. Ockham hatte das besondere Individuum Jesus als einen sich unter Gottes sich selbst beschränkender Macht und Willen entwickelnden Menschen und als Vorbild für die einzelnen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben vorgestellt (s. T R E 16, 753 f). Um 1450 hatte sich dieser Individualismus schon um ein Vielfaches stärker ausgebildet. Gabriel -»Biel (s. Obcrman), ein Hauptvertreter der Devotio moderna, predigte über den irdischen Jesus als Paradigma für das geistliche Leben und empfahl dessen Nachfolge (s. T R E 16, 754). -»Nikolaus von Kues (s. W. Köhler, Reformation 4 2 - 5 3 ) , auch ein Anhänger der Devotio moderna, teilte mit dem Nominalismus dessen Interesse am Individuellen. Er sah in Jesus geschichtlich Zufälliges. Aber darin erblickte er alle auseinander strebenden Gegensätze vereint, aktives Ur- und Vorbild der Menschlichkeit der Menschheit und jedes einzelnen, das Sinnhafte von Schöpfung und Geschöpf, die göttliche Ebenbildlichkeit im Menschen, die in der eigenen Partikularität die Besonderheit menschlicher Individualität, das Singuläre und Persönliche, ausformte, nicht im Gegensatz zum Geist des Ganzen, sondern als dessen Ausdruck (s. T R E 16, 754f). 2.2. 15. und 16. Jahrhundert. Im 15. und 16. Jh. begann eine Demokratisierung des feudalistischen -»Rittertums, eine Begleiterscheinung seines faktischen sozialen und ökonomischen Absinkcns 7 . Das Ritterkonzept war schon lange mit Jesusmotiven und solchen vom Heiligen Land verbunden gewesen. Besonders dicht verknüpften sich die ideellen und sozialen Motive des Ritterbildcs bei -»Ignatius von Loyola. In seinen -»Exerzitien (um 1540 fertiggestellt) wurde die Geschichte Jesu (unter Einschluß ihrer unmittelbaren Nachgeschichtc, d. h. des Osterphänomens) als übermenschliche, aber als menschlich nacherfahrbare verstanden und zum prägenden Modell gemacht, das planvoll dazu genutzt wurde, individuellen Willen zu bilden und für das dialektische Zusammenspiel von Eigen- und Gesamtüberlegung zu schulen. Noch war hier die Gesamtausrichtung klerikal-zcntralistisch institutionalisiert (Orden und Papstkirche). Aber ein anderer Spanier entklerikalisierte bald darauf dieses Phänomen, der Arzt, Philosoph und Pädagoge Juan Huarte de San Juan (ca. 1 5 2 9 - ca. 1591). Reich Gottes und verfaßte Gesellschaft bewegten sich jetzt aufeinander zu. Huartes Buch Examen de ingeniös para las ciencias (1575) wird für die Geschichte des Geniebegriffs wesentlich. Huarte setzt „Talent" aus Mt 2 5 , 1 4 - 3 0 mit „Charisma" bei Paulus (Rom 12 u. I Kor 12) gleich und interpretiert das als ingenio, als die Verbindung von außerordentlicher und natürlicher Anlage. Huarte geht es nicht nur um die Erkennung, sondern auch um die Weiterbildung solcher außerordentlichen Begabungen. Bei

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seiner Darstellung der höchsten Begabung, der königlichen, stellt er die Jesusgestalt in den Mittelpunkt, wobei er eine paradigmatisch gedachte Zeichnung gibt, die alle Z ü g e des antiken Göttlichen Menschen trägt (übrigens rötlich-blond behaart). H u a r t e s Buch schließt mit einer technischen Anleitung zur R e p r o d u k t i o n von K n a b e n ; nicht v o n u n g e f ä h r , d e n n R e p r o d u k t i o n , P r o d u k t i o n und Erziehung/Bildung im Sinne von m a n i p u l i e r e n d e r A u s w a h l und Z ü c h t u n g rücken f ü r ihn eng a n e i n a n d e r , und d a m i t Technik und P ä d a g o g i k . Die Darstellung der rechten R e p r o d u k t i o n des gesellschaftlich Wertvollen endet mit einer weiteren J e suszeichnung, in der Jesus als w a h r e r M e n s c h , göttlich und w u n d e r b a r schon im N a t ü r l i c h e n , beschrieben w i r d , als Vorbild f ü r die geniale Persönlichkeit ü b e r h a u p t . Sie ist jetzt G e g e n s t a n d erzieherischer Findigkeit und F o r m u n g s f ä h i g k e i t . Das s ä k u l a r e M o d e l l dieser p l a n b a r e n übermenschlichen Persönlichkeit als gesellschaftlich effizienter Kraftgestalt w a r d e r Principe (1512/1513) des Niccolö - » M a c h i a v e l l i , von Machiavelli eigentlich als N e g a t i v m o d e l l g e d a c h t . Später w u r d e der Principe d a n n aber geradezu sprichwörtlich m i t Machiavellis N a m e n gleichgesetzt. Er hat seitdem nicht n u r d a s D e n k e n der M o d e r n e ü b e r d a s angemessene H a n d e l n von S t a a t s m ä n n e r n , s o n d e r n auch ü b e r individuelle politische u n d gesellschaftliche Existenz, ja über d a s I n d i v i d u u m ü b e r h a u p t beeinflußt. F.in ironisches, ja satirisches Verständnis herrschte dabei z u n ä c h s t vor, w e l t b e r ü h m t g e w o r d e n in d e m auf Ritterideal u n d - r o m a n e z u r ü c k g r e i f e n d e n Don Qtiichote des C e r v a n t e s (1547—1616), einem närrischen G e g e n b i l d z u m Ideal des caballero u n d zum Principe. Diese ironische E i n s c h ä t z u n g des Principe teilte d a n n a u c h die M e h r h e i t der A u f k l ä r e r .

In Deutschland war um 1550 die kritische Stellungnahme Martin -»Luthers zu den synoptischen Evangelien (etwa in seinen Vorreden) faktisch vergessen. Er hatte d a s -•Johannesevangelium bevorzugt und Geschichtcn und Sprüche Jesu durchweg als Illustrationen der Botschaft vom Kreuz v e r w a n d t 8 . Inzwischen aber waren, vor allem im protestantischen Schulunterricht, die synoptischen -»Evangelien, besonders das des Matthäus, in den Vordergrund gestellt worden. Das ethische Vorbild Jesu gab der protestantischen Schulbildung wesentliches Profil - mit eindeutiger Verkirchlichung und Vergesellschaftung des Rcich-Gottcs-Gedankens Q (zum Jesusverständnis der Reformation insgesamt s. T R E 16, 7 5 9 - 7 7 2 ) . 1550 schrieb Martin -»Bucer in Cambridge De regno Christi für den englischen König Edward VI. Es ging hierbei nicht nur um Kirchen-, sondern auch um Sozial-, Gesellschafts- und Wirtschaftsreformen. Bucer handelt hier von der administrjtio populi aut civitatis. Ihm geht es um Wohl und Glück aller „Bürger", was gottseliges und vernünftiges Leben voraussetzt, Vorgriffe auf Ideale der Aufklärung und der Revolution der USA. Für Bucer gibt es dieses Leben nur im Kontext des Reiches Christi, das sich als societas im Prozeß der Heiligung und des missionarischen Zeugnisses seiner Bürger, der Auserwählten, in der Welt ausbreitet, als Durchdringung aller weltlichen Bereiche mit dem Geist Christi mittels des Beispiels der Erwählten, der Tätigkeit der Ämter (einschließlich der weltlichen) und der Erziehung. Menschwerdung, Leben, Leiden und Sterben Jesu waren Demonstrationen seiner Liebe, die die Sünde besiegt und die Gotteskindschaft wiederhergestellt hat. Die als Erhöhung verstandene Kreuzigung hat Jesu irdisches Schicksal zum Vorbild für die N a c h a h mung in der Heiligung gemacht. Sie vollzieht sich im Gehorsam gegenüber Gott und der Liebe zum Nächsten auf dem Weg zur eigenen Verherrlichung. Glaube, Heiligung, Kirche und auch Reich Christi sind bei Bucer Prozeßbegriffe. Ziel ist die Vollkommenheit, die durch die Auferstehung Christi bereits begonnene Verherrlichung. Das bedeutet den Grundstein f ü r den bürgerlichen Fortschrittsbegriff. Für Bucer sind w e d e r bürgerliche Freiheit u n d Glück n o c h der Fortschritt o h n e kontrollierte Bildung und Disziplin zu h a b e n . Die Kirche ist der O r t der L ä u t e r u n g , der vorbildgebcndc R a h m e n f ü r d a s ethische H a n d e l n der G l ä u b i g e n . Schule und Universität erhalten von d o r t ihre f o r m e n d e n Vorgaben, die sie u m des Heils der Gesellschaft und der einzelnen willen erzieherisch vermitteln sollen. Es spricht f ü r Bucers politischen u n d s o z i o ö k o n o m i s c h e n Weitblick, d a ß er im England E d w a r d s VI. den a m stärksten vorbereiteten Boden f ü r die endgültige Verwirklichung seiner kirchlichen und gesellschaftlichen R e f o r m p l ä n e sah. Er griff mit dieser e b e n s o radikalen wie k o n k r e t e n Eschatologi-

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sierung von Christologie, Ekklesiologie und Ethik dem puritanischen P r o g r a m m und seiner Realisierung in der ersten bürgerlichen, der englischen R e v o l u t i o n und bei ihrem Propheten, J . - » M i l t o n 1 0 , vor, mit all ihrem N a t i o n a l i s m u s , ja Imperialismus. Die Pilgerväter hatten unterdes diese Programm a t i k auch nach N o r d a m e r i k a gebracht (s. dazu G e b h a r d t ) , von J o n a t h a n - » E d w a r d s (s. N i e b u h r ; Wolf) später vollends amerikanisiert.

2.3. Zeit der Aufklärung. Eine wichtige Vcrmittlungsfigur zwischen dem Spanien des 16. Jh., besonders den dortigen Jesuiten, und der -»Aufklärung und auch darüber hinaus war der jesuitische Theologe und Philosoph Baltasar Gracian y Morales (1601-1658). Sein literarisches Hauptwerk, unter anderem Beispiel einer positiven Rezeption des Principe, war nicht unbedingt k o n f o r m i s t i s c h 1 a b e r es entfernte ihn niemals aus dem spanischen jesuitischen Establishment. Noch in seinem letzten größeren Werk El Comulgatorio („Der Tisch des Herrn") gibt Gracian eine Anleitung zur Kommunion ganz in der Methodik des Ignatius: cinc stark mit Visuell-Emotionalem arbeitende meditative Vertiefung in die biblischen Texte mit dem Ziel der ebenso gemüts- wie willens- und intellektbezogenen Selbstfindung und Entscheidung. Die wesentliche Brücke ist die wirksame Begegnung mit dem irdischen Jesus. Mit seinem Konzept von der idealen Persönlichkeit gibt Gracian dem Prinzen des Machiavclli einen Modus, der ihn auch im Bürgerlich-Individuellen als erzieherisches Vorbild verwertbar macht. Diese Veränderung ist nicht ohne die heroisierende jesuitische Jesusmeditation zu denken. Gracians Heros besitzt Genialität, Geistesgegenwart in Durchblick, Wort und Tat, Leidenschaft, aber auch Gottvertrauen. Gott und der wahren Religion widmet er sich in Frömmigkeit und Gehorsam. G r a c i a n teilt mit Machiavelli einen starken Skeptizismus (-»Skepsis/Skeptizismus). Sein Heros muß nicht nur Konflikte bestehen, sondern auch seine heldische Absicht tarnen. Sie muß geheimnisvoll erscheinen, wartend auf den richtigen Augenblick der endgültigen D e m o n s t r a t i o n . Dieser Held kennt die M e n s c h e n . In seiner Fürsorge für seine Mitmenschen und Liebe für die N a t u r beweist er Herz, oft auf romantische und sentimentale Weise, voll Hunger nach der idealen Schönheit. Er liefert sich der Prüfung seiner individuellen Begabung und Kraft aus und besteht sie. Er bekräftigt dadurch sein „ S e l b s t b e w u ß t s e i n " ebenso wie die symbolischen Werte, für die er steht. In diesen Konflikten beweist der Held seine Fähigkeiten, Leiden und Erniedrigung durchzustehen, Beständigkeit, Konsequenz, Geduld und Willenskraft zu beweisen. Er ist sogar bereit zu sterben, wenn es an der Zeit ist. In seinem Reden und Handeln ist er voller Kontraste und Widersprüche kurz eine faszinierende Persönlichkeit. Der Einfluß der genannten Spanier auf die Aufklärung, gerade auch die deutsche, war erheblich. Huarte und G r a c i a n wurden teilweise übersetzt, die genannte Schrift Huartes durch G o t t h o l d E. -•Lessing. Lessing kannte auch G r a c i a n . Auch Christian - » T h o m a s i u s w a r von G r a c i a n beeindruckt. Einer der wesentlichen Lehrer des R e i m a r u s , der Polyhistor J o h a n n Franz - » B u d d e u s w a r ein ausgezeichneter Kenner der europäischen philosophischen und theologischen Diskussion, gerade auch der spanischen, nicht zuletzt des Jesuiten F r a n c i s c o - » S u á r e z , des Erneuerers des ockhamistischen Individualismus 1 2 (zum Jesusverständnis des ausgehenden 16. und des 17. J h . s. auch T R E 17, 1-7).

Mit Hermann Samuel -»Reimarus begann die Verwissenschaftlichung des der LebenJesu-Thcologic immer schon eigenen Interesses an verobjcktivicrcnder Verifizierung, allerdings zunächst mehr im Sinn eines kritischen Einschnitts (zum Jesusverständnis im 18. Jh. s. auch T R E 17,7-18). Reimarus besaß breite Bildung und weites Interesse, nicht nur klassischer, sondern auch zeitgenössischer und internationaler Natur, beileibe nicht auf den britischen Deismus beschränkt. R e i m a r u s ' Schwiegervater war J o h a n n Albert Fabricius ( 1 6 6 8 - 1 7 3 6 ) , der einflußreichste klassische Philologe seiner Z e i t . Seine vornehmlich gräzistische Publikationstätigkeit w a r angesichts der bisherigen geradezu ausschließlichen Konzentration der Aufklärung auf die T e x t e der Latinität ein umwälzend neues P r o g r a m m . Die Absicht und W i r k u n g von Fabricius zielten auf mehr als nur auf kleine Gelehrtenzirkel. Sie waren auf die H ö r s ä l e und die Schulstuben aus. Fabricius m a c h t e R e i m a r u s zu seinem M i t a r b e i t e r , gerade auch als S c h u l m a n n . Der Umzug von R e i m a r u s n a c h H a m b u r g führte ihn in eine der wichtigsten und ältesten Bürger- und Handelsstädte E u r o p a s . D i e Schüler, die R e i m a r u s unterrichtete, waren zukünftige Kaufleutc, Produzenten und Werftbesitzer in einer noch mehr als bisher dem

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Bürgertum gehörenden W e l t 1 3 . Im frühen 18. J h . e r w a c h t c wieder das Interesse an Alexander dem G r o ß e n , besonders in Frankreich und Deutschland. Bei Fabricius ist es nachzuweisen und dehnt sich auch hier auf das r o m a n h a f t e und mythische N a c h l e b e n dieses antiken Heros aus. Die Alexandergestalt tauchte auch in der bildenden Kunst des ausgehenden 17. J h . thematisch auf. Die Person, die innerhalb der hellenistischen Kultur als exemplarischer Göttlicher M e n s c h gegolten hatte, b e g a n n , die in vielem gleichartige bürgerliche Welt e b e n s o zu faszinieren.

Reimarus' Dissertation von 1719 ging über den Machiavellismus. Reimarus gehörte also in die kontinuierliche Diskussion über den Principe. In seinem Jesusbild finden sich bestimmte Züge des Principe wieder, aber in ironischer Färbung, die dem ironisch-satirischen Verständnis des Principe in der Aufklärung korrespondiert. Reimarus beschreibt die ambivalenten Anstrengungen Jesu, die Königsherrschaft der Juden Zugewinnen. Nach Reimarus wünschte Jesus die Königsherrschaft. Aber gleichzeitig mußte er das heimlich tun, weil er die Drohung des Establishments fürchtete. Deshalb mußte diese politische Mission Jesu fehlschlagen. Sie endete in Katastrophe und Gottverlassenheit. Die Ethik, die Reimarus im moralischen Testament Jesu sieht, das den Fehlschlag seiner politischen Mission und die Verkehrung seiner Gestalt durch seine Jünger, durch Paulus und die Kirche überlebte, kann als eine republikanische Sittlichkeit verstanden werden, die keinen bleibenden Übermenschen braucht, näher den Discorsi des Machiavelli als dessen Principe. Der Jesus des Reimarus entwickelt aus Vertrauen und Gelassenheit heraus den Willen seines himmlischen Vaters, der, die guten Regungen und eine vernünftige Gesinnung voraussetzend, das sogenannte Doppelgebot beachtet wissen will. Dieser Jesus möchte keine doktrinäre Theologie oder keinen am Kleinlichen gefesselten Legalismus, sondern eine praktische Frömmigkeit in Vollkommenheit des Gemüts und gesunder Vernunft. 2.4. 19. und 20. Jahrhundert. Die Darstellung der Ethik Jesu in den nächsten 200 Jahren änderte nicht viel an dem Aufriß, den ihr Reimarus gegeben hatte. Jedoch hinsichtlich der Persönlichkeit Jesu machte die Mehrheit der Leben-Jesu-Thcologen nach Reimarus erhebliche Änderungen (Einzelheiten zum Jesusverständnis seit Reimarus bei A. Schweitzer; Pfannmüller; Duling; Georgi: R G G 3 4, 2 4 9 - 2 5 0 ; Pals; T R E 17, 16-32). Die ironische Seite schwand und damit die Distanzierung zum Principe. Dafür schlich sich eine unverhohlene Genieverehrung in die Jesusdarstellung und von da in Christologic und Theologie ein und wurde im ausgehenden 18., im 19. und 20. Jh. zur vorherrschenden christologischcn Anschauung, nicht nur des deutschen, sondern auch des westeuropäischen und US-amerikanischen Protestantismus. Die römisch-katholische Kirche folgte dem wie selbstverständlich. Der Reich-Gottes-Gedanke wurde nicht enteschatologisiert, sondern im Sinn der der bürgerlichen regrt!Schweitzer) und von der -»Dialektischen Theologie her Boden gewonnen, gipfelnd in der Reimarussche und Straußsche Fragen und Thesen aufnehmenden und zuspitzenden methodischen Skepsis Rudolf -*Bultmanns und seiner Aussage, daß Jesus von Nazareth als historisches Subjekt nur Voraussetzung, nicht Gegenstand einer ncutcstamcntlichen Theologie sein könne. Um 1950 entwickelte sich eine geradezu explosiv publizierende Bewegung in der Bundesrepublik und in den USA und bald auch darüber hinaus, die James Robinson im Unterschied zu dem (Old) Quest (so der Anfang des Titels der englischen Ubersetzung des Buchs von A. Schweitzer) als New Quest bezeichnet hat - ohne neue methodische Einsichten und ohne neue Quellen. Sie war zunächst als interne theologische Auseinandersetzung mit R. Bultmann im Kreise seiner Schüler (vor allem Ernst Käsemann, Günther Bornkamm, Ernst Fuchs, Gerhard Ebeling, Herbert Braun, James Robinson) entstanden, breitete sich dann aber, z.T. aus anderen, nicht zuletzt vom angelsächsischen und dem katholischen Raum gespeisten, oft eher konservativen Motiven schnell weiter aus (Einzelheiten bei Robinson; Duling; Kümmel; T R E 17, 3 2 - 4 2 ; außerdem T R E 16, 6 7 1 - 7 2 6 ; 1 7 , 4 2 - 7 6 ) . Sie demonstrierte die Absicht, Jesu irdisches Wirken zu rekonstruieren und in den Mittelpunkt der Theologie zu rückcn, und gewann bei allen Verschiedenheiten ein gemeinsames Profil 15 . Die gegenüber den Kritikern einer Lebcn-Jesu-Theologie angeführten Argumente sind theologischer Natur. Beherrschend ist die Behauptung, der Glaube sei an die geschichtliche Wirklichkeit Jesu als Person gebunden. Andernfalls bleibe der Glaube Illusion. Nur der historische Jesus bewahre vor dem Abgleiten in Mythos, Doketismus, Mysterienreligion (so schon Käsemann 1954). Die Frage wird nicht nach Jesus als Objekt, sondern als Subjekt der Geschichte gestellt, nach seinem individuellen Bewußtsein, seinem Willen, seiner Wirksamkeit, seinem Weg, zugespitzt in der Frage nach seinem Anspruch und seinem Erfolg. Angesichts des Scheiterns Jesu wird die Überlegung über seine Absicht, sein bewußtes Drängen auf Entscheidung mit riskierter Todesfolge wichtig. Von Jesu Werk ist wieder in der für das Bürgertum wichtigen Doppeldeutigkeit die Rede, als Summe der bewußten Tätigkeit in der selbstverantworteten Geschichte, aber gleichzeitig auch als über den Tod hinaus wirkendes, so Kontinuität garantierendes, vorweg gewußtes, aber auch von seiner Umgebung bewußt erinnertes Erbe. Es überdauerte Jesu Tod, der deshalb kein Zusammenbruch war. Die theologische These von der Identifizierung Gottes mit dem Gekreuzigten an Ostern wird für den New Quest zur These von der Identifizierung Gottes mit dem historisch-kritisch verifizierbaren Anliegen des irdischen Jesus, was als Fortsetzung von Jesu Personsein verstanden wird. Jesu persönlicher Anspruch, daß sich in seinem Wirken das eschatologische Heil der Gottesherrschaft bereits verwirklicht hätte, habe nämlich in der

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Auferstehungserfahrung der Osterzeugen seine weiterwirkende Bestätigung gefunden. Aus diesem Erbe, den Erinnerungen der Jünger an ihre konkreten Erfahrungen mit Jesus, gewinnt der sogenannte New Quest Jesu Bild, seine Gestalt, die Umrisse von Jesu Verkündigung, Verhalten, Intention und Geschick. So ist es verständlich, daß dieses rekonstruierte Wissen über den irdischen Jesus auch zum Kriterium für die Überprüfung des nachösterlichen Kerygmas wird. Jesu einzigartiger Anspruch setzt für den New Quest eine ebenso einzigartige Gotteserfahrung voraus. O b Jesus sich gängiger jüdischer Würdetitel bedient habe, bleibt umstritten, aber nicht, daß er ein außergewöhnliches Selbst- und Scndungsbcwußtscin besessen, bewußt an Stelle Gottes geredet und gehandelt habe, wenngleich er diesen Anspruch mit einem Geheimnis umhüllte. Von einer impliziten Christologic müsse man also mindestens reden (Bultmann, Christusbotschaft 16, hatte diesen Begriff zuerst gebraucht und gesagt, man könne davon reden). Diese sei der Grund der nachösterlichen expliziten Christologie geworden, in der Jesus vom Subjekt zum Objekt des Glaubens geworden sei. Sein Anspruch passe in keine Schablone eschatologischer Erwartung, sei aber gerade so vom Historiker konstatierbar. Auch für den Jesus des New Quest bleibt die Reich-Gottes-Thematik, die so produktiv für die Entwicklung des bürgerlichen Bewußtseins war, zentral. In Jesu Ansage des Kommens der Gottesherrschaft drückt sich auch für die neuen Jesusforscher der eigentliche eschatologische Anspruch Jesu aus. Sie finden ihn nicht nur in Einzelworten, sondern in seinem gesamten Werk, in der Radikalität seiner Verkündigung und seines Handelns. Seine Erwartung des im Kommen begriffenen Reiches und seine Nachfolgeforderung werden in dialektischem Zusammenhang gesehen. Für das bürgerliche Individuum, besonders die große Persönlichkeit, ist die Abgrenzung das notwendige dialektische Gegenbild zur Kontinuität. Die Behauptung der Einzigartigkeit Jesu gehört hierher, vor allem aber auch deren Verstärkung durch die religionsgeschichtliche Aussonderung. Dabei legt die Mehrheit der nichtjüdischen Forscher immer noch Wert auf eine Distanzierung Jesu vom Judentum, obgleich man inzwischen versucht hat, die gröbsten antisemitischen Überbleibsel aus dieser Untcrscheidungsargumentation zu tilgen. Mit Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft verbindet man seine radikale Auslegung des Willens Gottes ( - » E t h i k ) , dessen Eigcntlichkeit als Schöpfer- und Gnadenwillen im Zweifelsfall über dem Gesetzesbuchstaben und erst recht über allen von Menschen geschaffenen Regeln steht (-»Gesetz). Mit seiner Verkoppelung von Gottes- und Nächstenliebe, besonders dem Gebot der Feindesliebc (-»Liebe), mit der Betonung der -•Vergebung der Sünden, besonders mit deren konkreter Veranschaulichung in Jesu Verkehr mit Sündern, Sünderinnen und Verstoßenen, habe er an den Fundamenten der jüdischen Religion gerüttelt. Auch in den Zcichenhandlungen Jesu habe sich diese radikale Souveränität von Gottes eschatologischer Kritik und Befreiung demonstriert. Deshalb habe das gewaltsame Ende in der Konsequenz von Jesu Verkündigung und Verhalten gelegen. Jesus sei im Bewußtsein des Risikos nach Jerusalem gegangen. Der Konflikt mit den Römern sei nur Folge des Konflikts mit dem jüdischen Establishment gewesen 1 6 . Die Gleichzeitigkeit des New Quest mit dem Ende des New Deal und der Restauration des Bürgertums in den USA und der B R D im Rahmen einer marktorientierten atlantischen Gemeinschaft seit dem Koreakrieg dürfte nicht von ungefähr sein. Anmerkungen 1 1

G e o r g i , Gegner 1 4 5 - 2 0 4 . 2 1 0 - 3 0 0 ; vor allem ders., R e a s o n s passim und O p p o n c n t s 3 5 8 - 4 5 0 . Person und Zeit des Hildebrand ( - » G r e g o r VII.) bedeuteten eine Revolution im Westen (Berm a n ) . Den großen Persönlichkeiten fürstlicher lind päpstlich-episkopaler Prägung des 1 1 . - 1 3 . J h . begannen Kleriker, Künstler, D i c h t c r und vor allem auch Gelehrte bürgerlicher H e r kunft in allgemeiner Achtung g l e i c h z u k o m m e n . In Byzanz brach der universalgelchrte Philosoph Konstantin - » P s e l l o s dem Ideal antiker, neuplatonisch verstandener Paideia als Brücke zwischen Antike und Christentum Bahn (s. Z e r v o s ) . Zu dieser Z e i t erlebte auch der A l e x a n d e r r o m a n eine neue Blüte - ebenso im Westen.

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Vgl. J . H . Bridges in seiner Edition von Bacons Opus Majus, I, X X X I X - X L I I I . In Opera II, 96 spricht Bacon davon, daß der/das einzelne, d.h. das Individuum, nicht nur gemäß seiner Natur, sondern auch gemäß seiner intencio und operatio und wegen seiner dignitas das Prius habe. Bacon edierte und annotierte auch einen dem Aristoteles zugeschriebenen und Alexander dem Großen angeblich zugedachten geheimwissenschaftlichen Traktat Secretum Secretorum (Opera V). Petrarca, vir. ill. Georgios Gemisthos Plethon (1355-1452) erneuerte im peloponnesischen Mistra in einer auch den Westen beeinflussenden Weise das hellenistisch-neuplatonische Menschenbild mit Betonung auf dem Hcroischcn. Rcimarus beschäftigte sich später mit ihm (durch die Herausgabe eines seiner Kritiker). Plethons Naturmystik hat manche Analogie zur natürlichen Theologie des Reimarus. Wesentliche Ansätze bereits bei Roger Bacon und Duns Scotus. Ockham handelt darüber vor allem im 1. Buch seiner Sequenzen zum Sentenzenkommentar des Petrus Lombardus und in der Expositio Aurea. Daß Ockhams Anschauungen über das Individuum mehr als nur logischer Natur waren, zeigen schon die Zusammenstellung bei Baudry unter „Individuum" und die Auswahl von Tornay ( 9 1 - 1 3 6 ) . Zum Willensbegriff bei Duns Scotus s. W. Köhler, Anfänge 3 3 8 - 3 4 5 , bei Roger Bacon s.o. Anm. 3, bei Ockham s. Tornay 6 2 - 7 6 und Baudry unter intentio und voluntas. Zum Eigentumsverständnis bei Ockham s. Flasch 4 5 6 - 4 5 9 . Wirkungsgeschichtlich darf auch nicht übersehen werden, daß die in die Individuationsdiskussion zum Zwecke der Differenzierung, ja Stufenordnung eingeführten Begriffe proprium und propriétés an der Doppeldeutigkeit der beiden lateinischen Begriffe teilhatten, die nicht nur das Eigentümliche, sondern auch das Eigentum im Sinn von materiellem Besitz meinen konnten. Der cavaliere (caballero, cavalier) wurde zur Umschreibung des neuen gesellschaftlichen Ideals des uomo universale (honnête homme), das sich über die Aristokratie hinaus im Bürgertum verbreitete. Der gentleman war käuflich geworden: ein yeoman, der sich den esquire kaufen konnte. Ritterakademie und Fürstenschulen machten das Ritterliche zum Modell des vor allem aus dem Bürgertum herauskommenden Nachwuchses für die staatlichen Ämter. Ritterromane wurden zur Volksliteratur. Vgl. I.uthers Vorrede zum Neuen Testament und seine Äußerungen darüber, „welches die rechten und edelsten Bücher des Neuen Testaments sind" in der Fassung der Septemberbibel von 1522. Bereits Philipp Melanchthons Unterricht der Visitatoren von 1528 enthielt eine ausdrückliche Warnung vor dem Johannesevangclium als Lektüre für die Lateinschulen. Stattdessen wird das Matthäusevangelium empfohlen. Milton in Paradise Lost und vor allem in Paradise Regained, beide theologisch vorbereitet in Miltons De Doctrina Christiana. Barker hat die enge Verbindung des theologischen, politischen und poetischen Engagements von Milton herausgearbeitet. Er ließ einen Teil seiner Schriften vorsichtshalber unter dem Namen seines Bruders erscheinen. Aber von einer sachlichen Doppelexistenz kann man bei Gracian nicht reden. Die folgende Darstellung gibt eine Synopse, die sich an dem Oraculo Manual y Arte de Prudencia (1647) orientiert, aber auch El Ileroe (1637), El Politico (1640 2 1646) und El Discreto (1646) berücksichtigt. Die pädagogisch-bildungspolitische Absicht Gracians ist manifest. Insgesamt ergibt sich ein erstaunlicher Vorgriff nicht nur auf das Heroen-, sondern auch das Jesusbild der nächsten 300 Jahre. Gracian wurde übrigens auch von Arthur Schopenhauer und Friedrich W. Nietzsche sehr geschätzt. Zum Einfluß der Jesuiten, besonders des Suarez, auf die deutsche Diskussion s. Lewalter. Wenngleich Reimarus seinen Schülern die schärfsten Spitzen seiner Auffassung über Jesu Ambitionen und die seiner Jünger gewiß ebenso vorenthielt wie der Öffentlichkeit zu seinen Lebzeiten. Baur über Strauß (Kirchengeschichte 3 5 9 - 3 8 1 ) . Baurs eigene Meinung zum Leben Jesu vor allem in der Ntl. Theol., 4 5 - 1 2 1 . Über die noch offener verbürgerlichte britische Leben-Jesu-Literatur des vorigen Jahrhunderts berichtet Pals, aber auch darüber, daß hier vor dem Ersten Weltkrieg die methodische Skepsis in bezug auf den historischen Jesus durchgeschlagen hatte. Diese Versuche blieben nicht unwidersprochen; s. z.B. Bultmann selbst in Christusbotschaft; Barth; Georgi, Aufgaben; Schmithals; Schulz. Stellvertretend für die Auswirkung des New Quest auf die Systematische Theologie sollen neben Ebeling auch Pannenberg, Jüngel, Küng und Schillebeeckx genannt werden. Quellen/Literatur

Adolf Armbruster, Art. Bürger, Bürgertum: Lexikon des MA 2 (1983) 1 0 0 5 - 1 0 3 9 . - Roger Bacon, Opera hactenus inedita, hg. v. Robert Steele/Ferdinand M . Delorme, Oxford 1 9 0 5 - 1 9 4 0 . Ders., Opus Majus, hg. v. John Henry Bridges (1897-1900) = Frankfurt/M. 1964. - Arthur E.

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Leben-Jesu-Theologie/Leben-Jesu-Forschung

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, , Lebensordnungen

Dicter Georgi

w

1. Definierende Umschreibung der Lebensordnung 2 . Geschichtliche Typologie der Lebensordnung 3. Rechtlichc Q u a l i t ä t der Lebensordnung 4 . T h e o l o g i s c h e r C h a r a k t e r der Lebensordnung 5. Pastoral ö k u m e n i s c h e Bedeutung der Lebensordnung (Literatur S. 5 7 9 )

1. Definierende

Umschreibung

der

Lebensordnung

Die kirchliche Lebensordnung bcschrcibt und regelt das kirchliche Leben des einzelnen Christen, der Familien, der Kirchenältesten und Pfarrer in und mit der Ortsgemeinde und der evangelischen Kirche; sie gehört zum Bereich des ins in sacra. Im Gehorsam gegen Gottes Wort und Gebot will sie mit ihren Richtlinien, Anweisungen und Empfehlungen als Bedingung der Möglichkeit gemeinsamen Lebens der Kirchenglieder fortschreibend verantwortet und gebraucht werden. Lehre und Leben der Gemeinde verbinden sich in ihr. So dient sie, die christliche Gemeinde sammelnd und sendend, der reinen Verkündigung des Evangeliums und der richtigen Verwaltung der Sakramente sowie der Nächstenliebe. Die inhaltliche Beschreibung folgt oft der Biographie des einzelnen Christen in und mit der Gemeinde. Die Lebensordnung stellt sich als Gottesdienst-, Sakraments- und Kasualordnung dar; sie regelt die Kirchenmitgliedschaft, gibt Richtlinien für die christliche Erziehung und die Dienste in Gemeinde, Kirche und Gesellschaft; sie prägt die kirchliche Familiensitte. 2. Geschichtliche

Typologie

der

Lebensordnung

Dem Inhalt und Genus dieser Kirchenordnung entsprechend ist die Lebensordnung in

Lebensordnungen

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Dicter Georgi

w

1. Definierende Umschreibung der Lebensordnung 2 . Geschichtliche Typologie der Lebensordnung 3. Rechtlichc Q u a l i t ä t der Lebensordnung 4 . T h e o l o g i s c h e r C h a r a k t e r der Lebensordnung 5. Pastoral ö k u m e n i s c h e Bedeutung der Lebensordnung (Literatur S. 5 7 9 )

1. Definierende

Umschreibung

der

Lebensordnung

Die kirchliche Lebensordnung bcschrcibt und regelt das kirchliche Leben des einzelnen Christen, der Familien, der Kirchenältesten und Pfarrer in und mit der Ortsgemeinde und der evangelischen Kirche; sie gehört zum Bereich des ins in sacra. Im Gehorsam gegen Gottes Wort und Gebot will sie mit ihren Richtlinien, Anweisungen und Empfehlungen als Bedingung der Möglichkeit gemeinsamen Lebens der Kirchenglieder fortschreibend verantwortet und gebraucht werden. Lehre und Leben der Gemeinde verbinden sich in ihr. So dient sie, die christliche Gemeinde sammelnd und sendend, der reinen Verkündigung des Evangeliums und der richtigen Verwaltung der Sakramente sowie der Nächstenliebe. Die inhaltliche Beschreibung folgt oft der Biographie des einzelnen Christen in und mit der Gemeinde. Die Lebensordnung stellt sich als Gottesdienst-, Sakraments- und Kasualordnung dar; sie regelt die Kirchenmitgliedschaft, gibt Richtlinien für die christliche Erziehung und die Dienste in Gemeinde, Kirche und Gesellschaft; sie prägt die kirchliche Familiensitte. 2. Geschichtliche

Typologie

der

Lebensordnung

Dem Inhalt und Genus dieser Kirchenordnung entsprechend ist die Lebensordnung in

576

Lebensordnungen

besonderem M a ß in geschichtlichc und gesellschaftliche Veränderungen eingebunden. Wohl stellen die Kirchenordnungen der Reformationszeit schon eine Art Lebensordnung dar; doch gibt es die Lebensordnung erst seit der Auflösung des landesherrlichen Kirchenregiments. Das Kirchengesetz zur Ordnung des kirchlichen Lebens in der Altpreußischen Union [APU] vom 12.3.1930 mit den Ausführungsanweisungen vom 4.11.1930 zielt auf Bestandserhalt durch eine autoritative „Lebensform" (O. Dibclius) gegen religiösen Individualismus und gesellschaftlichen Pluralismus. „Das Leben der Kirche bedarf der Ordnung und festen Sitte", heißt es programmatisch in der Einleitung. Am 27.3.1955 gab sich die VELKD eine Ordnung des kirchlichen Lebens und am 6.5.1955 die EKU. Beide Rahmenordnungen sind aus den Arbeiten und Erfahrungen des „Kirchenkampfes" der Bekennenden Kirche hervorgewachsen und betonen neben der theologischen Grundlegung in Schrift und Bekenntnis die -»Kirchenzucht. 2.1. VELKD-Lebensordnung vom 27.3.1955. Die VELKD-Lebensordnung knüpft an die Erläuterungen zum Entwurf einer Schleswig-Holsteinschen Lebensordnung der Bekenntnispastoren R. Wester und P.G. Johanssen an, der von der Vollversammlung der Pastoren der Bekennenden Kirche in Schleswig-Holstein in St. Peter am 21./22.9.1938 in Auftrag gegeben wurde (JK 7[1939] 52ff.138ff.231 ff.456ff.548ff.650ff.773ff.829ff. 888ff; JK 8[1940]41 ff; vgl. Plathow 61 ff). Das Vorwort dieser Lebensordnung nennt die dogmatischen, rechtstheologischen und pastoraltheologischen Grundlinien; sie will: - dazu beitragen, das Leben in Gemeinde und Beruf nach dem Willen Christi zu gestalten, - kirchliche Sitte festigen, - durch gemeinsame Ordnung die brüderliche Verbundenheit der Gemeinden in der gesamten Kirche stärken, - durch heilende Kräfte lebendiger Zucht die Gemeinden vor innerem Zerfall bewahren, - dadurch helfend und ordnend in die Welt hineinwirken. Nach diesen Zielbestimmungen geht das Vorwort auf den Gebrauch, d. h. den rechten segensreichen Gebrauch, der Lebensordnung ein; abgrenzend heißt es zunächst: Sie ist kein Gesetz, das vor Gott rechtfertigt. Eine legalistische Anwendung wird damit abgelehnt. Sic erspart im konkreten Einzelfall nicht die persönliche Entscheidung seelsorgerlicher Verantwortung; der kasuistische Gebrauch wird damit abgelehnt. „Einem geistlichen Mangel in der Gemeinde", so wird zusammenfassend erklärt, „kann nicht allein durch gesetzliche Zucht abgeholfen werden . . . Aber wo die Ordnung im Glauben und in der Liebe Christi, der das neue Leben aus Gottes Geist schenkt, geübt wird, kann sie dazu dienen, daß das Wort Gottes die Kirche, die Gemeinde, unser Haus, unser persönliches Leben heiligt".

Die VELKD-Lebensordnung geht auf folgende Lebensfelder der Gemeinde ein: I. Von der heiligen Taufe; II. Vom Dienst der Gemeinde an der Jugend; III. Vom Leben der Jugend in der Gemeinde; IV. Vom Gottesdienst; V. Von der Beichte und Lossprechung (Absolution); VI. Vom heiligen Abendmahl; VII. Von christlicher Ehe und kirchlicher Trauung; VIII. Vom Sterben des Christen und vom christlichen Begräbnis; IX. Vom Amt; X. Vom Dienst der Glieder der Gemeinde; XI. Vom Übertritt, von den Folgen des Austritts und von der Wiederaufnahme in die Kirche; XII. Von der Zucht in der Kirche. Seit Ende der 60er Jahre wurde eine Revision und Fortschreibung einzelner Abschnitte der VELKD-Lebensordnung vorgenommen. Die zahlreichen Kirchenaustritte (—•Kirchenentfremdung/Kirchenaustritte), der Rückgang der Gottesdienst feiernden Gemeindeglieder, die Z u n a h m e ungetaufter Kinder, der Verzicht vieler Brautpaare auf die kirchliche Trauung, die Stellung der Jugend zur Kirche, die konfessionsverschiedenen Ehen, das Abendmahl mit Kindern, die Trauerfeier für Aus-der-Kirche-Ausgetretene waren der Anlaß. Auf der Lutherischen Generalsynode in Bückeburg (26.-29.10.1976) wurde der Abschnitt I, auf der in Bad Gandersheim (25.-28.10.1977) der Abschnitt VIII, auf der in Bad Bevensen (23.-26.10.1978) der Abschnitt VII überarbeitet. Auf die Volkskirche als „Institution der Freiheit" mit ihrer Pluralität sind diese Revisionen ausgerichtet; der einladende Charakter der Lebensordnung wird betont gegenüber dem Aspekt der Kirchenzucht.

Lebensordnungen

2.2. EKU-Lebensordnung

vom 6.5.1955.

Die Ordnung

577

des kirchlichen

Lebens

der

EKU greift nicht nur auf die Lebensordnung der APU vom 1 2 . 3 . 1 9 3 0 zurück, sondern vor allem auf das Kirchbüchlein der APU, das auf der 9. Bekenntnissynode in Leipzig ( 1 2 . - 1 3 . 1 0 . 1 9 4 0 ) beschlossen, in den Jahren des Kirchenkampfes" (-»Nationalsozialismus und Kirchen) von O . Dibelius und O . Hammelsbeck mit Bannach, Baumann, Hesse und Ernst Wolf erarbeitet und im Januar 1941 herausgegeben wurde (vgl. Plathow 77ff). Der Vorspruch bestimmt das Ziel und die theologische Bedeutung dieser Lebensordnung: Sie ruft im Geist der B a r m e r T h e o l o g i s c h e n E r k l ä t u n g (These 3) zu freudigem G e h o r s a m gegen G o t t e s Wort auf, damit nach der Weisung der Heiligen Schrift alles e h r b a r und ordentlich in der G e m e i n d e zugehe; sie mahnt gegen eine libertinistisch mißverstandene evangelische Freiheit zu einem zuchtvollen Leben und Wandel; sie hält - und hier redet die L e b e n s o r d n u n g in personaler Applikation - „ u n s " in der brüderlichen G e m e i n s c h a f t der ganzen K i r c h e gerade auch angesichts der Schwachheit des einzelnen. D e r zweite Absatz betont den gesamtkirchlichen Aspekt, zugleich die gesellschaftsdiakonische und missionarische Orientierung. Die Lebensordnung soll in Liebe angewandt und um der Liebe willen eingehalten werden. D e r dritte Absatz bedenkt die rechtliche Bedeutung dieser O r d n u n g ; sie ist kein „ G e s e t z , dessen Erfüllung uns vor G o t t r e c h t f e r t i g t " , weder legalistisch noch kasuistisch zu gebrauchen. V i e l m e h r ist sie als Regel zu h a n d h a b e n , der sich niemand o h n e gewichtigen G r u n d entziehen soll. Wer im Einzelfall zu einer anderen Entscheidung k o m m t , der soll fragen, „ o b er das W o r t G o t t e s für sich h a b e " . Die Heilige Schrift allein ist die N o r m , der R a t der Kirchenleitung ist zusätzlich nützlich. D e r vierte Absatz ruft die Pfarrer, Presbyter und G e m e i n d e r ä t e auf, die O r d n u n g im Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes, also als Heiligungsordnung, zur Ehre G o t t e s und zum Segen der G e m e i n d e zu gebrauchen.

Die EKU-Lebensordnung gliedert sich in folgende Abschnitte: I. Von der heiligen Taufe; II. Von der evangelischen Erziehung und von der Konfirmation; III. Von der jungen Gemeinde; IV. Vom Gottesdienst; V. Vom heiligen Abendmahl; VI. Von der Seclsorge, von der Beichte und von der kirchlichen Zucht; VII. Vom Leben und Dienst unter dem Wort; VIII. Von der Trauung; I X . Von der kirchlichen Bestattung; X . Von der Aufnahme in die Kirchc und den Folgen des Austritts. Die EKU-Lebensordnung unterlag dann seit Beginn der 70er Jahre - vor allem im Bcrcich der D D R ; dort seit 1971 in einem gemeinsamen Ausschuß mit der V E L K - D D R (vgl. A. Burgsmüller) - verschiedenen Fortschreibungsbemühungen. Besonders die Abschnitte über die Taufe, das Abendmahl, die Trauung und Konfirmation verlangten aufgrund der veränderten gemeindlichen und gesellschaftlichen Situation nach einer Revision. 2.3. Der Entwurf einer neuen Ordnung des kirchlichen Lebens in den Gliedkirchen des

Bundes der Evangelischen

Kirchen

in der DDR: Mit der Kirche leben wurde 1985 ins

Gespräch gebracht; dieser Entwurf stellt „eine neue Generation von Lebensordnungen" dar (Burgsmüller). Den neuen Bedingungen durch die gesellschaftliche Entwicklung in der D D R , dem Ubergang der Volkskirche in eine Minderheitssituation, der Veränderung der Lebensweise des einzelnen soll diese Lebensordnung Rechnung tragen. Die Präambel dieser Lebensordnung, die sich als „Öffnungsordnung" (Hempel) versteht, bekennt zunächst den Grund allen kirchlichen Lebens: „Die Kirche lebt nach evangelischem Verständnis vom lebendigen Wort der Versöhnung, der Barmherzigkeit und Gnade ihres Herrn Jesus Christus. So ist es in der Heiligen Schrift grundlegend bezeugt". „Ordnungen" bedeuten vor allem „Angebote". Sie wollen den einzelnen Christen und den einzelnen Gemeinden helfen, „Glauben verbindlich zu leben und die Gemeinschaft untereinander zu wahren". Als „Öffnungsordnung" will diese Lebensordnung: informieren und einladen, „sich auf den evangelischen Glauben einzulassen und mit der Kirche zu leben", „Orientierung für eigene Entscheidungen bieten", „helfen, in Übereinstimmung mit der Gesamtkirche zu handeln"; „sie will Christen und Gemeinden darin bestärken, das Evangelium von Jesus Christus in einer nicht-christlichen Umwelt zu leben". Die Lebensordnung gliedert sich dann in folgende Hauptpunkte:

1. Leben der Chri-

578

Lebensordnungen

sten in der Gemeinde; 2. Leben der Christen in Ehe und Familie; 3. Leben der Christen in der Gesellschaft; 4. Zugehörigkeit zur Gemeinde. 3. Rechtliche

Qualität der

Lebensordnung

Der rechtliche Geltungsbereich des Entwurfs einer Ordnung des kirchlichen Lebens in den Gliedkirchen des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR (1985) sind die evangelischen Kirchen, die sich 1969 zum Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR zusammengeschlossen haben. Die VELKD-Lebensordnung (27.4.1955) und die EKU-Lebensordnung (6.5.1955) sind Rahmenordnungen für landeskirchliche Lebensordnungen. Eigene Lebensordnungen haben: Schleswig-Holstein (22.5.1957), Braunschwcig (17.5. 1957/3.11.1959/18.1.1960), Bayern (18.5.1966; vgl. P. v. Tiling: ZEvKR 30 [1985]346ff), Lippe (seit 1954), Baden (seit 1955), Hessen-Nassau (seit 1962; vgl. A. Burgsmüller: ZEvKR 30 [1985] 359). Sehr verschiedene Verbindlichkeitsgrade charakterisieren die Lebensordnungen. Den einen Grenzpunkt der Bandbreite bildet der Entwurf einer „Öffnungsordnung" des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, der vor allem „Angebot" sein will. Ähnlich verstand sich das Kirchbüchlein (1941) in erster Linie als geistliche Handreichung mit katechetischem Charakter. Die Rechtsqualität tritt dabei zurück. Den anderen Grenzpunkt stellen die Gesetzesbestimmungen zu den Amtshandlungen in der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland, Art. 31 ff (2.5.1952) und in Westfalen, Art. 170ff (1.12.1953) dar. Den verbindlichen Rechtscharakter von Kirchenordnungsartikeln haben diese Lebensordnungsbestimmungen. Zwischen diese Positionen sind die anderen Lebensordnungen einzureihen: die Richtlinien und verbindlichen Regeln der VELKD-Lebensordnung und EKU-Lebensordnung, die Schleswig-Holstcinsche und die bayerische Lebensordnung. Größere Rechtsvcrbindlichkeit haben die geistlichen Richtlinien der Lebensordnung von Hessen-Nassau (11.1.1962). Die Kirchliche Lebensordnung der Evangelischen Landeskirche in Baden stellt Richtlinien für die Amtshandlungen dar, eingebracht durch die Einführungsgesetze zusammen mit kirchengesetzlichen Durchführungsbestimmungen. Hannover schließlich kennt nur kirchengesetzliche Regelungen zu den Amtshandlungen, die in ihrer rechtlichen Verbindlichkeit nur von den rheinischen und westfälischen Kirchenverfassungsbestimmungen übertroffen werden. Ähnlich verschieden ist auch die Charakterisierung des Genus der Lebensordnung in der kirchenrechtstheoretischen Diskussion. Einerseits werden die Lebensordnungen bei H. Diem in den theologischen und geistlichen Anspruch der Schlüsselgewalt des Wortes Gottes hineingenommen. Damit aber kommt den Lebensordnungen keine eigenständige Bedeutung zu; sie sind in die Visitationsordnung als Ausdruck der Schlüsselgewalt des gepredigten Wortes Gottes integriert und in ihren Funktionen von dieser abgedeckt. Auf der anderen Seite betont H. Liermann die Eigenständigkeit kirchlicher Lebensordnungen und deren Rechtsqualität. Zwischen diesen beiden Positionen ordnen sich W. Maurer und G. Wendt ein. W. Maurer versteht die Lebensordnung als „Wort- und Sakramentsordnung", als „Gottesdienst-, Lehr- und Zuchtordnung"; sie dient einmal der „Bildung einer kirchlichen Familiensitte"; sie ist ferner „gemeindliche Lebensordnung"; sie gibt schließlich „pastoraltheologische Anweisungen". Zusammenfassend charakterisiert er das Genus der Lebensordnung als „Liebesordnung" (242). G. Wendt charakterisiert die Lebensordnung als „Ordnung des kirchlichen, gemeindlichen und gemeindegliedlichen Handelns"; im Kern handelt es sich um die „Ordnung gottesdienstlicher Gemeinde und christlicher Existenz" (102). Wie W. Maurer bestimmt G. Wendt die Lebensordnung als „Liebesordnung" und als „parakletische Seelsorgeordnung" mit pastoralethischen Weisungen (133). In der rechtstheologischen Analyse versucht er die Lebensordnung im Sinn des tertius usus legis zu interpretieren. Zusammenfassend kristallisieren sich aus den verschiedenen Lebensordnungen und

Lebensordnungen

579

aus der kirchenrechtlichen Diskussion über ihr Genus zwei Grundtypen heraus: a) der integrierende Typ, b) der differenzierende Typ. Der erste versteht die Lebensordnung als wesenseigene Ordnung der Kirche Jesu Christi, in der seelsorgerliche Richtlinien und rechtliche Bestimmungen miteinander verbunden sind. Der zweite unterscheidet qualitativ zwischen katechetisch begründeten pastoralen Ratschlägen und Weisungen einerseits und den kirchengesetzlichen Bestimmungen andererseits. Ihrem Verbindlichkeitsgrad nach stellt die Lebensordnung das Genus der „verbindlichen Richtlinie" dar zwischen der Handreichung und dem Gesetz; sie besitzt also rechtliche Qualität aufgrund eines „transformatorischen" Bekenntnisaktes kirchlicher Rcchtssetzungsgremien (Plathow). 4. Theologischer

Charakter

der

Lebensordnung

Unter theologischem Gesichtspunkt erfahren die Lebensordnungen ihre Qualifizierung vom Auftrag Jesu Christi her und vom Wesen der Kirche, und zwar in der reformatorischen Prägung. In vierfacher Weise lassen sich die Lebensordnungen charakterisieren: als eschatologische, evangelische, parakletische und zusammenfassend als bekennende Ordnungen. Eschatologische Ordnung: Als Richtlinien des eschatologischen Gottesvolkes stehen sie im Dienst des Umkehrrufes des Wortes Gottes, des usus theologicus legis. Mittelbar, nicht unmittelbar, üben sie die Schlüsselgewalt aus; konkret verweisen die kirchenzuchtlichen Bestimmungen, die Regeln für den Kasualaufschub auf den Umkehrruf, der in der Predigt an den Hörer ergeht. Evangelische Ordnung: Diese Ordnungen der Kirche als Leib Christi stehen im Dienst des Evangeliums um des Friedens willen, der aus der Liebe hervorgeht. Die Liebe Gottes in Jesus Christus schenkt sich hier durch den Heiligen Geist und will weitergegeben werden; dem sind mittelbar die Lebensordnungen als „evangelische Liebesordnungen" zugewiesen. Parakletische Ordnung: Die Lebensordnungen in der Kirche als ecclesia Semper reformanda stehen im Dienst des erhaltenden und erneuernden Wirkens des Heiligen Geistes; sie sind mittelbar der Paraklese zugeordnet, spiegeln diese wider und gehören als parakletische Ordnung für die Erneuerung gemeindlichen Lebens in den Wirklichkeitsbereich des Evangeliums. Bekennende Ordnung: Die Lebensordnung als „bekennende Ordnung" verknüpft die anderen Aspekte in sich, wie das Bekenntnis die verschiedenen Antworten des Glaubens konzentriert. Die Lebensordnungen sind auf den kontinuierlichen Bekenntnisvollzug der Gemeinde und Kirche bezogen, wobei der Bekenntnisvollzug christlichen Lebens den je neuen Bekenntnisakt voraussetzt. In der mittelbaren Bezogenheit auf das Bekenntnis erweisen sich die Lebensordnungen als „antwortende" und „bekennende Ordnungen" (M. Plathow mit E. Schlink und Erik Wolf u.a.). 5. Pastoralökumenische

Bedeutung

der

Lebensordnung

Als pastoralethischc Richtlinien haben die Lebensordnungen in der Gemeinde „am Ort" pastoralökumenische Bedeutung. Die pastorale Intention der protestantischen Lebensordnungen, die Dispenzmöglichkeit der sakramental-rechtlichen Ordnung des römischen Katholizismus, die ,,kat'oikonomian"-Anwendung in der epikletisch-pneumatischen Rechtsordnung der orthodoxen Kirchen, die pastoralen Bestimmungen der parakletischen Ordnung im Methodismus eröffnen ökumenische Durchlässigkeit im Zusammenleben der Gemeindeglieder und Gemeinden „am O r t " (Plathow). Literatur Rechtssammlungen und Gesetzestexte: Neben den Rechts- und Gesetzessammlungen der EKD und VELKD sowie der einzelnen Landeskirchen und deren Amtsblätter: Amtshandlungen. Eine Stellungnahme ..., mit einer Einf. v. Enno Obendiek, hg. v. der Geschäftsstelle der AKf, 1978. - Peter

580

Lebensphilosophie

Bloth/Karl-Fritz Daibcr/Jürg Kleemann u.a. (Hg.), Hb. der Prakt. Theol., 4 Bde., Gütersloh 1979-1987.-Friedrich Giese/Johannes Hosemann (Hg.), Die Verfassung der Dt. Ev. Landeskirchen 1 u. II, Berlin 1927. - Paul G. Johanssen/Reinhard Wester, Ordnung des kirchl. Lebens: J K 7 (1939) 52ff.138ff.231 ff.361 ff.456ff.548ff.650ff.773ff.829ff.888ff; J K 8 (1940) 41 ff. - Luth. Generalsynode 1948ff, Berlin/Hamburg 1949ff. - Mitteilungsbl. des Bundes der Ev. Kirche in der D D R , 1986, Nr. 1/2. - Wilhelm Niesei (Hg.), Um Verkündigung u. Ordnung der Kirche. Die Bekenntnissynoden der Ev. Kirche der APU, Bielefeld 1949. - Emil Sehling, Die ev. KO des 16. Jh., Leipzig 1 9 0 2 - 1 9 6 9 . Albert Stein, Die Denkschr. des altpreußischen Bruderrates „Von der rechten K O " : Zur Gesch. des Kirchenkampfes. GAufs., hg. v. Heinz Brunotte, Göttingen, II 1971, 1 6 4 - 1 9 6 . - Ders., Das „Kirchbüchlein" der Bekennenden Kirche Altpreußens . . . : Z R G 94 (1977) 3 0 0 - 3 1 7 . Monographien und Aufsätze: Heinrich Ammer, Die Ordnung der Kirche: Hb. der Prakt. Theol., Berlin/DDR, I 1975, 2 2 9 - 2 9 7 . - Alfred Burgsmüller, Rechtliche Rahmenbedingungen kirchl. Praxis u. Tendenzen ihrer Entwicklung: ZEvKR 28 (1983) 1 2 5 - 1 6 0 . - Ders., Eine neue Generation v. Lebensordnungen: ZEvKR 30 (1985) 3 5 4 - 3 6 5 . - Hermann Diem, Lebensordnung oder Kirchenzucht: ZEvKR 4 (1955) 291 - 3 0 7 . — Johannes Hempel, Die Gnade nicht verschleudern. Wie wird die Rechtfertigung im Alltag lebendig?: LM 17(1972) 6 4 1 - 6 5 2 . - Hermann Klemm, Grenzfragen der kirchl. Lebensordnungen: EKLZ 15 (1961) 2 6 - 2 7 . - Hans l.iermann, Die kirchl. Lebensordnung: LM 6 (1967) 61 - 6 6 . - Martin Ludwig, Zur Ordnung des kirchl. Lebens: EKLZ 10 (1956) 2 9 7 - 2 9 8 . Wilhelm Maurer, Die rechtliche Problematik der Lebensordnung in der ev.-luth. Kirche Deutschlands: ZEvKR 3 (1953/54) 2 2 5 - 2 4 2 . - Michael Plathow, Lehre u. Ordungim Leben der Kirche heute, Göttingen 1982 (Lit.). - Ders., Pastoralökumenismus. Zur ökum. Bedeutung pastoraler Äußerungen der Kirche: ÖR 32 (1983) 4 4 3 - 4 6 1 . - Ders., Rechtstheol. Überlegungen zum Pastoralökumenismus: Lesezeichen. FS Anneliese Findeiß, hg. v. Christoph Burchard/Gerd Thcißen, Heidelberg 1984, 2 4 1 - 2 5 4 . - Ders., Rechtliche Rahmenbedingungen kirchl. Lebensordnungen:ZF.vKR 30 (1985), 3 3 1 - 3 4 5 . - Peter v. Tiling, Erfahrungen mit der Lebensordnung in den luth. Kirchen: ZEvKR 30 (1985) 3 4 5 - 3 5 4 . - Günther Wendt, Zur kirchenrcchtlichen Problematik der Ordnung des kirchl. Lebens: ZEvKR 10 (1963/64) 1 0 1 - 1 3 3 . - Reinhard Wester, Art. Lebensordnung: EKL 2 2 (1962) 1044f. - Ders., Ordnung des kirchl. Lebens: EKLZ 6 (1952) 9 0 - 9 1 . - Friedrich Winter, Die Problematik einer kirchl. Lebensordnung: T h L Z 97(1972) 6 4 1 - 6 5 2 . Michael Plathow Lebensphilosophie 1. Begriff 2. Vorbereitung 3. Grundlegung 7. Wirkung (Quellen/Literatur S.592)

I.

4. Weiterführung

5. Deutung

6. Kritik

Begriff

Als „Lebensphilosophie" werden hier allein diejenigen philosophischen Tendenzen verstanden, die vom Ende des 19. Jh. bis etwa in die Mitte des 20. Jh. hinein das Thema des Lebens ins Zentrum ihrer Überlegungen stellten und dabei vorübergehend große Beachtung fanden. G. Pflug zählt in seinem Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie noch vier andere Anwendungen des Begriffs der Lcbcnsphilosophie auf: Philosophie für das praktische Leben, Philosophie als ein dem Leben entnommenes Denken, Philosophie als ein mit dem Leben gleichzusetzendes Denken, Philosophie des Biologischen. Es kommt vor, daß bei den im folgenden behandelten Formen der Lebensphilosophie diese vier anderen Bedeutungen eine Rolle spielen. Zum Kern des modernen lebensphilosophischen Denkens gehören sie jedoch nicht. Der Höhepunkt der Lebensphilosophie im erstgenannten Sinne lag in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Es handelt sich, wie es E.R. Curtius einmal ausgedrückt hat, um „jene Vorkriegsepoche, wo das Zauberwort der Jugend und ihrer Fackelträger ,Leben' hieß. Alle originalen Schöpfungen der Philosophie und der Dichtung, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. ans Licht traten, trugen den Akzent des ,Lebens'. Es war wie ein Rausch, ein Jugendrausch, den wir alle geteilt haben". Die beherrschende Stimmung dieser Jahre charakterisiert Curtius folgendermaßen: „Ein überschäumendes Gefühl der Befreiung hatte die junge Generation ergriffen. Befreiung wovon? Vom Druck der .mechanischen Weltanschauung'. Es war ein Ruck vorwärts. Die echte Erlebniswirklichkcit wurde dem Denken zurückgegeben". In ähnlicher Weise hatte auch Dilthey geschrieben: „Das philosophische Denken der Gegenwart dürstet und hungert nach dem Leben" (GS VII, 265). Anders als etwa im Neukantianismus oder der -»Phänomenologie oder der Heideggerschule bilden die „Lebensphilosophen" keine Schule, haben selten Zusammenhang untereinander (nur die Dilthey-Schüler bilden hier eine Ausnahme), sind in der Mehrzahl Einzelgänger. Da das -»Leben natürlich auch in anderen philosophischen Richtungen ein wichtiges Thema darstellt, ist es nicht immer leicht zu bestimmen, ob ein Denker zur Lebensphilosophie gehört oder nicht. Maßgeblich

Lebensphilosophie

581

d ü r f t e u n t e r diesem G e s i c h t s p u n k t vor allem sein, in w e l c h e m G r a d e eine Philosophie von - » N i e t z sche, - » D i l t h e y oder Bergson beeinflußt ist. Aus diesem G r u n d e h a b e n w i r D e n k e r wie D e w e y , E u c k e n , Blondel, -»Schweitzer u n d Krieck (der ü b e r h a u p t m e h r politisch als philosophisch dachte) n i c h t berücksichtigt. A u c h scheint es uns nicht berechtigt zu sein, P r a g m a t i s m u s u n d Existenzphilos o p h i e als „ T e i l s t r ö m u n g e n " der Lebensphilosophie a u f z u f a s s e n .

2.

Vorbereitung

Die Lebensphilosophie des 20. Jh. bereitet sich vor in verschiedenen vor allem gegen d i e deutsche idealistische Philosophie, insbesondere gegen den Hegeischen -»Idealismus gerichteten Bewegungen. Dabei spielen drei Denker eine f ü h r e n d e Rolle: Schlegel, Schop e n h a u e r und G u y a u . Sie haben den G r ü n d e r n der m o d e r n e n lebensphilosophischen Bewegung, Nietzsche, Dilthey und Bergson, entscheidende Anregungen gegeben. 2.1. Schlegel (1772-1829). Der Ausdruck „Philosophie des L e b e n s " tritt bei Friedrich Schlegel schon in seinen Jenaer Vorlesungen 1 8 0 0 - 1 8 0 1 hervor (Krit. Ausg. XII, 98). Der G e d a n k e selbst scheint sogar noch älter zu sein (Behler X X X I V u. A n m . ) , w o h l auch unter d e m Einfluß der Fichteschen „Lebenslehre". Aber erst w ä h r e n d d e r letzten Lebensjahre des Philosophen k a m es in den Wiener Vorlesungen über „Philosophie des L e b e n s " (1827) u n d in den Dresdner „Philosophischen Vorlesungen, insbesondere über Philosophie der Sprache und des W o r t e s " (1828-1829) zu näherer A u s f ü h r u n g des f r ü h e r G e p l a n t e n . Schlegels „Philosophie des Lebens" steht in einem Gegensatz zur „Philosophie der Schule", d . h . der Universitätsphilosophie mit ihrer Abstraktheit und sich steigernden Unverständlichkeit. Als Gegenstand der Lebensphilosophie gilt das „ i n n e r e geistige L e b e n " (X, 7 f ) . Die Lebensphilosophie Schlegcls ist zugleich Geistphilosophie oder, wie sie einmal in Gegenüberstellung zu Materialismus und Idealismus genannt w i r d , „ S p i r i t u a l i s m u s " (X, 56). In den Dresdner Vorlesungen erscheint die „Philosophie des L e b e n s " auch als „innere-geistige E r f a h r u n g s - W i s s e n s c h a f t " (X, 357 f). Den Titel einer „Philosophie des Leb e n s " hat später Dilthey ü b e r n o m m e n und u . a . zur Charakterisierung seines eigenen philosophischen Denkens benutzt (s. 2.2). 2.2. Schopenhauer. Schlegel hat auf Dilthey eingewirkt. Auf Nietzsche h a t t e -»Schop e n h a u e r entscheidenden Einfluß (vgl. 3.1). Schon deshalb ist zu v e r m u t e n , d a ß Schopenhauer zu den Wegbereitern der Lebensphilosophie zu zählen ist, wenngleich dieser Begriff bei ihm noch nicht erscheint. Dennoch steht das T h e m a des Lebens im Z e n t r u m der Schopcnhaucrschcn Philosophie, die er der „Universitätsphilosophie" gegenüberstellt. Die Welt ist „Vorstellung" und „Wille". Der Wille gilt Schopenhauer als das „ D i n g an sich", das „Wesen der Welt". Er ist „Wille zum L e b e n " (SW II, 215). D a s Leben aber, das meist auch biologisch verstanden wird, erweist sich als „Spiegel des Willens" (II, 324), als „Erscheinung des Willens" (IV, 84). Mit dem Willen identisch ist die „ L e b e n s k r a f t " : ein Begriff, der auf Bergsons élan vital vorausweist (vgl. 3.3). 2.3. Guyau. Ein sehr eigenständiger Denker ist J e a n - M a r i e G u y a u (1854-1888). Als sein H a u p t w e r k gilt die Esquisse d'une morale sans obligation ni sanction aus dem J a h r e 1885 (dt. u . d . T.: Sittlichkeit ohne Pflicht). G u y a u verwirft hier die auf den G e d a n k e n moralischer Verpflichtung gegründete Ethik (61 - 1 3 6 ) und vertritt die T h e s e , d a s natürliche Ziel aller menschlichen H a n d l u n g e n sei das Leben. Ihr letztes Ziel sei intensive und extensive Lebenssteigerung ( 5 - 5 9 ) . In der zwei J a h r e später erschienenen Schrift L'irréligion de l'avenir (dt. u . d . T . : Die Irreligion der Zukunft) e n t w i r f t G u y a u das Bild einer jenseits der bisherigen Religionsformen liegenden kosmosbezogenen Religiosität. Diese werde „ d e n reinsten Gehalt des religiösen G e f ü h l s in sich a u f n e h m e n " (10). Die religiöse Liebe zu G o t t werde sich in der neuen „Irreligion" der Erde z u w e n d e n (340). Der Lebensbegriff spielt auch hier eine entscheidende Rolle. In der Idee des Lebens ist die Religion mit der M o r a l und der Ästhetik verbunden. Die heute wenig b e k a n n t e Philosophie des Frühverstorbenen hat im 19. J h . d e n n o c h Einfluß ausgeübt, vor allem auf Nietzsche und Proust, wahrscheinlich auch auf Bergson.

582 3.

Lebensphilosophie Grundlegung

Die Fundamente der Lebensphilosophie haben Dilthey, Nietzsche und Bergson gelegt. Aber auch Guyau gehört in diese Reihe. In einem zuerst 1913, dann 1915 veröffentlichten Aufsatz hat Max -»Scheler „Versuche einer Philosophie des Lebens" dargestellt und in diesem Zusammenhang Nietzsche, Dilthey und Bergson behandelt (vgl. weiter unten 5.1). Obwohl Dilthey älter als Nietzsche war, beginnt Scheler mit diesem, der „wie ein verborgener Schutzgeist" über den modernen lebensphilosophischen Versuchen schwebe und durch die Gewalt seiner Sprache dem Wort „Leben" seinen „tiefen Goldklang" verliehen habe (GW III, 314). Es scheint sinnvoll zu sein, ebenfalls mit Nietzsche den Anfang zu machen, da dieser auf die Philosophie Diltheys nicht näher eingegangen ist, während Dilthey sich eingehender mit Nietzsche beschäftigt und ihn sogar einmal als den „tiefsten Philosophen der Gegenwart" bezeichnet hat. 3.1. Nietzsche. Der Begriff des Lebens spielt tatsächlich in der Philosophie -»Nietzsches eine bedeutende Rolle, wenngleich dabei von einer „Philosophie des Lebens" noch nicht die Rede ist. Im Brief an Mathilde Maier vom 15.7.1878 hat sich Nietzsche allerdings einmal als künftiger „Philosoph des Lebens" dargestellt. Mit dem Begriff des Lebens wendet sich Nietzsche von der überlieferten Metaphysik und dem sie tragenden Seinsbegriff ab. So wird schon der Seinsgedanke bei Parmcnidcs auf „einen Moment der allerreinsten, durch jede Wirklichkeit ungetrübten und völlig blutleeren Abstraktion" zurückgeführt (Krit. Gesamtausg. 2, 330). An die Stelle des Seinsgedankens soll der Gedanke des Lebens treten. Denn: „Das ,Sein' - wir haben keine andere Vorstellung davon als ,leben'. Wie kann also etwas Totes ,sein'?" (VIII/1,151) Leben aber wird im Gegensatz zum Sein als ständiges Werden gedeutet, und die Realität des Werdens gilt als die einzige Realität (VIII/2,290). Deshalb dürfe man „nichts Seiendes überhaupt zulassen weil dann das Werden seinen Sinn verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig erscheint" (VIII/2,277). Daß der Seinsgedanke in der bisherigen Philosophie eine so bedeutende Rolle gespielt hat, ist nach Nietzsche etwas Sekundäres: „das eigentliche primum mobile ist der Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens" (VIII/2,29). Der Gedanke des Werdens sei aber gerade für die deutsche Philosophie charakteristisch: „Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte, insofern wir (im Gegensatz zu allen Lateinern) dem Werden, der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Wert zumessen als dem, was ,ist' - wir glauben kaum an die Berechtigung des Begriffes ,Sein"' (V/2,281). Der an die Stelle des Seinsbegriffs tretende Begriff des Lebens im Sinne des Werdens ist für Nietzsche im Kern Wille zur Macht: „Was ist Leben?... meine Formel dafür lautet: Leben ist Wille zur M a c h t " (VIII/1,159). Oder, wie es im „ Z a r a t h u s t r a " heißt: „ N u r wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern —... - Wille zur M a c h t " (VI/1,145). Von daher kritisiert Nietzsche Schopenhauer: „das ist ein bloßes leeres Wort, was er ,Wille' nennt. Es handelt sich noch weniger um einen ,Willen zum Leben': denn das Leben ist bloß ein Einzelfall des Willens zur M a c h t " (VIII/3,93). Als Wille zur Macht aber ist das Leben Wachstum, d . h . Haben und Mehr-haben-Wollen (vgl. VII/3,312). Gegen Spinoza behauptet Nietzsche, daß es dem Lebendigen nicht in erster Linie um die Selbsterhaltung gehe: „Gerade an allem Lebendigen ist am deutlichsten zu zeigen, daß es alles tut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden" (VIII/3,93). Dieser Gedanke wird bei Simmel wiederkehren (vgl. 4.1). 3.2. Dilthey. Wie Nietzsche will -»Dilthey den Seinsgedanken durch den Gedanken des Lebens ersetzt wissen (GS VII, 157). Anders als Nietzsche verbindet Dilthey aber lebensphilosophischcs Denken mit dem Gedanken der Geschichtlichkeit. Deshalb steht Nietzsche „als schreckendes Beispiel dafür da, wohin das Brüten des Einzelgeistes über sich selbst führt, welcher das Wesenhafte in sich selber erfassen möchte. Er sagt der Geschichte a b . . . Von allem glaubte er abstrahieren zu müssen, was diese Geschichte und die Gemeinschaft an ihm getan" (GS IV,528 f). Demgegenüber betont Dilthey: das Indivi-

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duum sei nur der Kreuzungspunkt für die Kultursysteme, in denen es lebe (GS VII,251), nämlich Erziehung, Wissenschaft, Recht, Gesellschaft, Politik, Religion, Kunst, Weltanschauung, Philosophie, und dies alles unter geschichtlichem Aspekt. Denn: „Der Mensch erkennt sich nur in der Geschichte, nie durch Introspektion" (GS VII,250). Daher geht es Dilthey um eine „Kritik der historischen Vernunft", die in einer Theorie der -»Geisteswissenschaften ihre Grundlage hat. Diese aber gründet wiederum in Diltheys Philosophie des Lebens. Der Begriff der Lebensphilosophie tritt bei Dilthey erstmals in der Bedeutung auf, die dann für die Philosophie des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jh. maßgeblich wurde. Den Gegensatz zur „Lebensphilosophic" bildet die akademische „Kathederphilosophie". Beispiele lebensphilosophischen Denkens findet Dilthey bei Marc Aurel, Montaigne, Pascal, Schopenhauer, Nietzsche, aber auch bei Schriftstellern wie Carlyle, Emerson, Tolstoj, Ruskin, Maeterlinck (GS VIII,192f). Diesen Denkern fühlt Dilthey sich verbunden. Als den herrschenden Impuls seiner Philosophie bezeichnet er das Ziel, „das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen" (GS V,4). Daher steht das Leben am Anfang des Philosophierens: „Leben ist die Grundlage, die den Ausgang der Philosophie bilden muß. Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann" (GS VII,359). Das Leben erscheint aber nicht nur als Anfang, sondern auch als Ziel der Philosophie, denn: „Hinter das Leben kann das Erkennen nicht zurückgehen" (GS VIII,180). Dennoch ist Diltheys Lebensphilosophie nicht subjektivistisch und akosmistisch. Vom Leben her soll nämlich die Welt erschlossen werden. Das ist der neue Weg des philosophischen Denkens: „Ehedem suchte man von der Welt aus das Leben zu erfassen. Es gibt aber nur den Weg von der Deutung des Lebens zur Welt" (GS VII,291). Dilthey verwendet den Begriff des Lebens in zwei Bedeutungen. Einerseits meint er das Leben des einzelnen Menschen, andererseits das Leben selbst, das Leben im allgemeinen und ganzen. So kann Dilthey vom geisteswissenschaftlichen Erkennen sagen: „Leben erfaßt hier Leben" (GS VII,136). Oder: „Leben ist ein Teil des Lebens überhaupt" (GS VII,359). Dieses „Leben überhaupt" aber ist das zentrale Thema der Diltheyschen Lebensphilosophie. Das Leben im allgemeinen Sinne überragt den Einzclmcnschcn unendlich. Es erscheint ihm dadurch unheimlich und rätselhaft, und als solches wird es zum Thema des philosophischen Nachdenkens: „das Rätsel des Lebens: der einzige, dunkle, erschreckende Gegenstand aller Philosophie" (GS VIII,140). Konkreter gesprochen: „Der Mittelpunkt aller Unverständlichkeitcn sind Zeugung, Geburt, Entwicklung und Tod" (GS VIII,80). Das gilt ganz besonders vom -»Tod. So kommt es, „daß das Gefühl des Lebens in uns den Tod nur als äußeres Faktum hinnehmen, aber nicht wirklich fassen kann" (GS VIII,45). In dieser Betonung der Abgründigkeit des Lebens unterscheidet sich Dilthey grundlegend von den idealistischen Philosophen. Zwar kann nach Dilthey das Leben in seiner Fülle und Rätselhaftigkeit nicht durch die Vernunft gänzlich erfaßt werden. Dennoch liegt darin kein Irrationalismus. Wohl soll die Philosophie vom Erleben des Lebens ausgehen, doch ist es dann Sache des Begriffs, das Erlebte zu begreifen. Es ist die Aufgabe der Philosophie, das Leben „als innere Erfahrung zum besonnenen Bewußtsein zu bringen und Erfahrungen zu Gedanken zu steigern". Der Philosoph wirft in die Wurzeln von Leben und Wirklichkeit „das Licht des logischen Denkens" (GS VIII,32). Und ganz allgemein verlangt das menschliche Leben nach der Leitung durch das Denken (GS VI,189). 3.3. Bergson. Als dritter „Gründer" der Lebensphilosophie gilt Henri Bergson (1859-1941), vor allem durch sein 1907 erschienenes Buch L'évolution créatrice (dt. u. d. T.: Schöpferische Entwicklung, Jena 1912). Aber schon 1889, in seiner thèse de doctorat, dem Essai sur les données immédiates de la conscience (dt. u. d. T.: Zeit und Freiheit, Jena 1910), hatte Bergson die erkenntnistheoretische Grundlage seiner Lebensphilosophie entwickelt: die Unterscheidung der Erkenntnis des Raumes und der Zeit. Der Raum, die Außenwelt, die Materie werde durch den Intellekt erkannt, die Zeit, das Innere, das

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Leben durch die Intuition. Die -»Zeit werde fälschlich quantitativ wie der Raum verstanden, als temps, während sie nur qualitativ zu verstehen sei, als durée, als temps réel. In der Schrift über die schöpferische Entwicklung betont Bergson, daß beide Vermögen, Intellekt und Intuition, notwendig seien. Das Bewußtsein sei nur deshalb in Intellekt und Intuition gespalten, „um der Notwendigkeit zu genügen, sich sowohl auf die Materie anwenden zu lassen, wie dem Fließen des Lebens zu genügen" (183). Das Wesen des Menschen könnte vollkommen sein, wenn es ein Gleichgewicht zwischen beiden Vermögen gäbe, während der heutige Mensch die Intuition fast völlig zugunsten des Intellekts zurückgedrängt habe (271). In der Philosophie müßten Intellekt und Intuition in der Weise zusammenwirken, daß die Intuition als unmittelbare innere Erfahrung des Lebens die Grundlage des philosophischen Denkens darstelle, der Intellekt aber das in der Intuition Erfahrene nachzuprüfen, in Begriffe zu fassen und dadurch mittelbar zu machen habe (242f; vgl. auch 204f). Grundbegriff der Bergsonschen Philosophie, die er auch ausdrücklich als „Philosophie des Lebens" (philosophie de la vie) bezeichnet hat (56), ist der Begriff des élan vital, des „Lebensdranges" oder des „Lebensschwungcs". Dieser treibt die Bewegung der Entwicklung voran bis hin zum Menschen: „Alles geht so vor sich, als ob ein unbestimmtes und wallendes Wesen, mag man es nun ,Mensch' oder .Übermensch' nennen, nach Verwirklichung getrachtet und dieses nur dadurch erreicht hätte, daß es einen Teil seines Wesens unterwegs aufgab" (270). Tiere und Pflanzen waren dieser Teil. Sie waren Weggenossen, die zurückblicben, aber dem menschlichen Bewußtsein erlaubten, sich „zu Höhen zu erheben, von denen aus es einen unendlichen Horizont vor sich aufgetan sieht" (270). Wichtig für die Folgezeit wird Bergsons Unterscheidung zwischen dem Leben als ganzem und den Formen, in denen es sich verkörpert. Denn: „Das Leben als ganzes ist Bewegtheit schlechthin; seine Einzeldarstellungen aber nehmen diese Bewegtheit nur widerwillig auf und bleiben stets hinter ihr zurück" (133). Das Verhältnis des Lebens zu seinen Formen wird besonders bei Simmel noch eine bedeutende Rolle spielen (vgl. 4.1). Die Philosophie Bergsons hat weitreichende Einflüsse ausgeübt, nicht nur auf das lebensphilosophische Denken bei Simmel (4.1), Klages (4.3), Spengler (4.5), Keyserling (4.6) und Ortega (4.8), sondern auch auf andere philosophische Richtungen sowie auf die Theologie und auf die Kunst (vgl. weiter unten 7). 4.

Weiterführung

Die Grundgedanken Nietzsches, Dilthcys und Bergsons werden von Denkern der nächsten Generation weiterentwickelt. Simmel gehört generationsmäßig noch zu denen, die das bei Nietzsche, Dilthey und Bergson Grundgelegte aufnehmen und weiterentwickeln. 4.1. Simmel. Von den deutschen Lebensphilosophen steht Georg Simmel (1858-1918) dem Stil des akademischen Philosophierens am nächsten, obwohl er gelegentlich mit recht ungewöhnlichen Themen (wie Mode, Koketterie, Landschaft u.a.m.) doch sehr eigene Wege gegangen ist. Simmel hat sich eingehend mit den großen Begründern der modernen Lebensphilosophie, mit Nietzsche und Bergson beschäftigt. Auf Dilthey, mit dem er gleichzeitig in Berlin lehrte, ist er nicht näher eingegangen, wenngleich er mit diesem in mancher Hinsicht übereinstimmt. Nietzsche und Bergson hatten das Leben in seinem überströmenden, über sich selbst ständig hinauswachsenden Charakter dargestellt. Simmel folgt ihnen darin, fügt aber den Gedanken hinzu, daß das Leben auch der Form bedarf, um sich darzustellen: „Indem es Leben ist, braucht es die Form (Leben ist Mehr-als-Lcben), und indem es Leben ist, braucht es mehr als die Form (Leben ist MehrLeben). Mit diesem Widerspruch ist das Leben behaftet, daß es nur in Formen unterkommen kann und doch in Formen nicht unterkommen kann" (Lebensanschauung 22). Daß das Leben als geformtes auch immer wieder über seine Form hinausgehen muß, nennt Simmel die „Transzendenz des Lebens". Diese Transzendenz des Lebens findet sich auch

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im Selbstbewußtsein. Indem nämlich das Bewußtsein sich selbst betrachtet, geht es über sich hinaus, transzendiert es sich. Und: „Mit dieser Bewegung in der Transzendenz seiner selbst erst zeigt sich der Geist als das schlechthin Lebendige" ( a . a . O . 7). Die Selbstübersteigung des selbstbewußten Lebens geht aber nicht ins Formlose, sondern nimmt wieder Gestalt an: in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Religion, in der Moral, d . h . in der Kultur. Da die jeweilige Form aber immer wieder mit der Transzendenz des Lebens in Konflikt gerät, liegt in der Kultur etwas Tragisches. Durch diese „Wendung zur Idee" unterscheidet sich Simmel grundlegend von Nietzsche und Bergson, deren Lebensphilosophie sich vorwiegend auf die innere Erfahrung gründet. Dagegen entwickelt Simmel seine Philosophie immer wieder im Blick auf die objektiven Gegebenheiten der Kultur. Anhand der Begriffe „Leben" und „ F o r m " hat Simmel daher die Kunst zu deuten versucht. Das Problem der -»Kunst besteht nach Simmel darin, Leben und Form in ein Verhältnis zu bringen. So überwiegt in der klassischen Kunst der Antike oder der Renaissance die Form, in der Kunst Rembrandts oder Rodins dagegen das Leben. Auch die Moral kann so verstanden werden. Kants Moral etwa hat ihre Grundlage auf logisch-formalem Weg gefunden. Simmel begründet aber das moralische Handeln aus dem „Gesetz des individuellen Lebens". Das Über-sich-Hinauswollcn des Lebens erfährt der einzelne als moralisches Gesetz. Desgleichen gibt es in der Religion die Form als die objektive Seite und die subjektive Religiosität, die dem Leben entspringt. 4.2. Messer (1867-1937). Durch sein Buch Lebensphilosophie (Leipzig 1931) und durch die von ihm herausgegebene Monatsschrift Philosophie und Leben hat sich auch August Messer unter die Lebensphilosophen eingereiht. Die von ihm getroffene Unterscheidung zwischen „Lebensphilosophie" einerseits („jegliche Philosophie, die durch Lebensnähe ausgezeichnet ist") und „Philosophie des Lebens" (in der Nachfolge u.a. von Nietzsche, Dilthey, Bergson, Simmel, Spengler) zeigt aber, daß Messer eher zur Popularphilosophie gehört (a.a.O. 164f). 4.3. Klages. Das durch die heutige Umweltdiskussion wieder stärker beachtete Problem des Verhältnisses des Menschen zur Natur hat den Blick auf einen Denker gelenkt, der von Lukäcs verdächtigt wurde (vgl. 6.2), einer der Wegbereiter des -»Nationalsozialismus gewesen zu sein (vgl. aber die ähnlichen Gedanken seines jüdischen Freundes Theodor Lessing unter 4.4): Ludwig Klages (1872-1956). Nach einem Chemiestudium und einigen Jahren dichterischen Schaffens, während denen er mit dem Stefan-GeorgeKreis in Verbindung stand, hat sich Klages den drei Hauptthemen seines Denkens zugewandt: der Ausdruckskunde, insbesondere der Graphologie, der Charakterkunde und der vor allem kulturkritisch betriebenen Philosophie. Grundgedanke ist dabei der des Gegensatzes zwischen Seele einerseits sowie Geist und Wille andererseits. In seinen ausdruckskundlichen Untersuchungen unterscheidet Klages zwei Arten von Bewegung: Ausdrucksbewegungen, in denen sich die Seele des Menschen bekundet, und Willkürbewegungen, die durch den Geist bewirkt sind und bestimmte Zwecke zu erreichen suchen (vgl. u.a. die Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, aus dem Jahre 1935, Erstauflage 1910). Zu den charakterkundlichen Schriften zählen außer den Grundlagen der Charakterkunde die Studien über Goethe und Nietzsche. Den tragenden Gedanken der Klagesschen Philosophie gibt der Titel des breitangelegten und etwas weitschweifigen Hauptwerks wieder: Der Geist als Widersacher der Seele (3 Bde., 1929-1932). Aber schon in der Schrift Vom kosmogonischen Eros (1922) und sogar bereits 1913 in dem Beitrag zur Festschrift der Freideutschen Jugend über Mensch und Erde erscheint dieser Gedanke, wobei Klages die gegenwärtige Epoche als „Zeitalter des Untergangs der Seele" darstellt, weil der Geist als „eine außerweltliche M a c h t " in das Leben eingebrochen sei (Der Mensch und das Leben, Jena 1937, 33, vgl. auch unten 7.5). 4.4. Lessing. Inhaltlich gibt es zwischen den Schriften von Klages und denen seines jüdischen Schulfreundes Theodor Lessing (1872-1933) manche Ubereinstimmung, stili-

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stisch aber unterscheiden sie sich erheblich. Lessing, der von 1907 bis 1925 an d e r T H H a n n o v e r als Privatdozent, d a n n als a u ß e r p l a n m ä ß i g e r Professor Philosophie lehrte, auch als Verfasser lyrischer und d r a m a t i s c h e r D i c h t u n g h e r v o r t r a t , schreibt essayistisch und aphoristisch. Z w a r lehnt er die Lebensphilosophie von d e r Art der Bergsonschen als „Spiel mit einem W o r t " a b (Untergang 403 ff), doch spielt auch in seiner „Philosophie d e r T a t " , dem „ A k t i v i s m u s " , der Begriff des Lebens eine wesentliche Rolle. In der Antrittsvorlesung aus dem J a h r e 1907 deutet er seine Philosophie als „Geistesrichtung, die im tätigen Auswerten des Lebens in seiner praktischen und unmittelbaren Gestaltung die eigentliche A u f g a b e der Philosophie s i e h t " (Philosophie der T a t 3), die Aufgabe, „ g e n a u zu erfahren, durch welche Art Betätigung unserer K r ä f t e wir das Leben a m meisten erhöhen und in uns selbst die höchste Form von Leben verwirklichen k ö n n e n " ( a . a . O . 17). D a h e r ist Philosophie f ü r Lessing „nichts anderes als der höchste Ausdruck des Lebens selbst" ( a . a . O . 18), des Lebens „in s e i n e r u n a u s d e u t b a r e n U n f a ß l i c h k e i t " (a.a. O . 21). Lessing ist von S c h o p e n h a u e r (vgl. 2.2), Nietzsche (vgl. 3.1) und Simmel (vgl. 4.1) beeinflußt. In Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, seinem bekanntesten Werk (1919), wendet er sich in der N a c h f o l g e Nietzsches und Simmeis gegen alle D e u t u n g e n d e r Geschichte, da die Historie das lebendige Leben des Geschehens nicht auszudrücken imstande sei. Mit der Klagesschen Philosophie v e r w a n d t (vgl. 4.3) ist die kleinere Arbeit Die verfluchte Kultur. Gedanken über den Gegensatz von Leben und Geist (1921) sowie die ausführlichere Studie über den Untergang der Erde am Geist, die in der ersten Auflage noch den Titel trug: Europa und Asien (1916). D a s Buch entwickelt die These, d a ß der a u s der Lebensnot in den nördlichen Ländern E u r o p a s hervorgegangene Geist die Ursprünglichkeit des Lebens töte, weist auf die Z e r s t ö r u n g der Erde d u r c h den rein rationalzweckgerichtcten U m g a n g mit ihr hin und fordert dazu auf, zur N a t u r v e r b u n d e n h e i t d e r frühen indischen und chinesischen Denker z u r ü c k z u k e h r e n . Die pazifistische Einstellung Lessings, insbesondere seine kritischen Äußerungen über H i n d e n b u r g , führten zum Entzug der Lehrbefugnis in H a n n o v e r . Schließlich ließ die nationalsozialistische Regierung den Anfang 1933 in die Tschechoslowakei Geflohenen e r m o r d e n . 4.5. Spengler. Das Problem des Z u s a m m e n h a n g s von Leben und -»Geschichte, das schon bei Dilthcy (vgl. 3.2) eine zentrale Rolle gespielt hatte, erscheint noch einmal, freilich unter sehr verschiedenen Vorzeichen, bei O s w a l d Spengler (1880-1936). In seinem damals viel Aufsehen erregenden zweibändigen Werk Der Untergang des Abendlandes (1918-1922) trägt er seine Geschichtsphilosophie vor, die zugleich die Z u k u n f t bestimmen zu können g l a u b t . Der G e d a n k e der Geschichte verbindet sich aber mit d e m G e d a n k e n des Lebens; „ d e n n menschliche Geschichte ist der Inbegriff von ungeheuren Lebensläufen", w o m i t die Geschichte der als „ O r g a n i s m e n " a u f g e f a ß t e n Kulturen, etwa der Antike, gemeint ist ( a . a . O . 3). Die Geschichte der verschiedenen H o c h k u l t u r e n E u r o p a s und Asiens deutet Spengler in Analogie zu den Entwicklungsphasen des individuellen menschlichen Lebens: „ J e d e Kultur d u r c h l ä u f t die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede h a t ihre Kindheit, ihre J u g e n d , ihre M ä n n l i c h k e i t , ihr G r e i s e n t u m " (a. a. O . 144). Im Sinne dieser Entwicklungsstufen befindet sich nach Spengler die abendländische - » K u l t u r im Z u s t a n d des G r c i s e n t u m s und steht d a m i t vor ihrem Untergang und Ende. Die später veröffentlichte kleine Schrift Der Mensch und die Technik will, wie ihr Untertitel besagt, einen „Beitrag zu einer Philosophie des L e b e n s " liefern. Spengler d e h n t hier seine Betrachtungen über die H o c h k u l t u r e n auf die allgemeine Geschichte des M e n s c h e n am Leitfaden des sehr weit gefaßten Begriffes der -»Technik aus. Diese erscheint als die „ T a k t i k des Lebens". An ihr unterscheidet Spengler drei Stufen: die der Werkzeugherstellung und des Werkzeuggebrauches, s o d a n n die des auf der Sprache beruhenden planmäßigen gemeinsamen H a n d e l n s bis hin zu staatlicher O r g a n i s a t i o n und schließlich die Stufe der „ M a s c h i n e n k u l t u r " , in der die künstliche Welt die natürliche vergiftet (mit G e d a n k e n , die die heutige U m w e l t p r o b l e m a t i k vorhersehen) und in der die Weltherrschaft des a b e n d l ä n d i s c h e n , des „ f a u s t i s c h e n " M e n s c h e n zu Ende geht.

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4.6. Keyserling. Hermann Graf Keyserling (1880-1946) war anfänglich Kantianer, entwickelt dann aber unter dem Einfluß Diltheys und Bergsons eine Philosophie, die sich gegen die Verwissenschaftlichung des Lebens wendet und die Weisheit wieder in ihr Recht einsetzen möchtc. Mit der 1920 in Darmstadt gegründeten „Schule der Weisheit" wollte Keyserling diesem Ziel näherkommen. Das zweibändige Reisetagebuch eines Philosophen (1919) wurde Keyserlings bekanntestes Werk. In ihm geht es zunächst um das persönliche Leben: die Selbstfindung in der Begegnung mit dem Geist fremder Kulturen, wie es schon das Motto zum Ausdruck bringt: „Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt h e r u m " (vgl. auch Goethes Bemerkung über das Motiv seiner Italienischen Reise). Auf seiner Reise durch Indien, China, Japan und Nordamerika ist Keyserling vor allem vom indischen Denken beeindruckt. In Indien erfährt er auch die Verwandtschaft der Bergsonschen Philosophie mit dem -»Buddhismus, der hinter den Begriffen Sein und Werden die zugrunde liegende absolute Wirklichkeit entdeckt habe (1,313; 11,672 f). Nach indischem Glauben hat der Gott Brahma die Welt ohne Absicht und wie zum Spiel hervorgebracht. Ebenso soll auch das Leben überhaupt verstanden werden. Dieses ist nämlich „an sich vollkommen zweck- und absichtslos. Es ist ein reines Ausströmen, Wachsen, Geben, ein reines Streben nach immer vollerem A u s d r u c k . . . Je ursprünglicher also ein Wesen, je wahrhaftiger, lebendiger, echter, desto mehr gleicht sein Dasein einem Spiel" (1,398). Das Leben endet zwar mit dem Tod. Aber: „In jeder vollkommenen Lebensverwirklichung aktualisiert sich das Ewige, wird das Wesentliche erreicht, zu dem zeitliche Entwicklung nur das Mittel w a r " (11,836). Durch seine Reise nach Südamerika ergänzt Keyserling seine erste Weltreise. Auf ihr wird er zu einem zweiten wichtigen Werk angeregt. Es trägt den Titel: Südamerikanische Meditationen (1932). In ihnen erscheint weniger das Kulturelle als vielmehr vor allem das Erdhaftc der Wirklichkeit, das, was „der dritte Schöpfungstag" hervorbrachte: Erde, Wasser, die Pflanzenwelt. Keyserling entdeckt in sich das Erdhafte, das Mineralische, das Ur-Leben und die Ur-Angst, die Triebhaftigkeit der „ G a n a " , die in der Ferne vom Geist kündende „Traurigkeit der Kreatur". Der Mensch aber hat, obwohl er vorwiegend Erdwesen und Gefühlsvvesen ist, seine Wurzel im Geist (326). An ihm hat zwar in irgendeiner Form alles Lebendige teil, doch erreicht der Geist, der wesenhaft Sinn ist, im Menschen seine höchste Entwicklungsstufe. „Durchgeistigung" aber ist der letzte Sinn des Weltprozesses (374). Das dritte Hauptwerk Keyserlings, 1942 abgeschlossen, erschien erst nach seinem Tode: Das Buch vom Ursprung (1947). Der Philosoph versteht es als einen neuen Anfang seines Denkens. Der Sinnbegriff wird jetzt anders gedeutet: „ M i r ist ,Sinn' ein reines Symbol für das, was im Fall von Lebendigem real hinter den Erscheinungen steht und von der Intuition wahrzunehmen ist...Unter Sinn verstehe ich den Ursprung" (129). Der Begriff des Ursprungs bezieht sich auf den Geist in seiner Realität, während mit ,Sinn' das am Geist intellektuell Faßbare gemeint ist. Unter ,Geist', der vom Verstand zu unterscheiden ist, ist also letztlich etwas Substantielles zu verstehen: „Der Geist ist auf seiner Ebene ein ebenso Konkretes wie das natürliche Leben" (222 f). Er ist das Ursprüngliche schlechthin. In dieser Wertung des Geistes liegt ein grundlegender Unterschied zwischen Keyserling und Klages. 4.7. Pannwitz. Der von Nietzsche und Stefan George beeinflußte Rudolf Pannwitz (1881-1969) sucht, auch unter Heranziehung östlicher Weisheitslehren (Buddha, Konfuzius, Laotse), eine Synthese von Geist und Leben, von Mensch und Kosmos: „Das Geistige ist die höchste Verkörperung, das oberste lenkende Organ und der einzige umfassende Ausdruck des Lebens.. .Sinn der Sinne, Ziel der Ziele ist ein neuer Typus Mensch, der nicht im Jenseitigen sich erfülle, doch auch keine Frucht seiner Selbstüberfliegungen verliere, der auch nicht im Kosmos sich auflöse, sondern dem Kosmos als Mensch gewachsen sei, in dem der Kosmos Mensch geworden sei" (Nietzsche und die Verwandlung des Menschen, Amsterdam 1943, 5). Wie viele Lebensphilosophen ist Pannwitz auch als

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Kulturkritiker hervorgetreten, der aber anders als etwa Spengler eine neue, auf der Verwandlung des Menschen beruhende Kultur heraufführen möchte. 4.8. Ortega. Auch für den spanischen Denker Ortega y Gasset (1883—1955) steht der Begriff des Lebens im Zentrum seines Philosophierens. In Anlehnung an Nietzsche und Dilthey verlangt Ortega, alle Kultur müsse dem Leben dienen. Vor allem in den Vorlesungen mit dem Titel Was ist Philosophie? stellt sich Ortega als Lebensphilosophen dar, ja sogar als den ersten Lebensphilosophen. Er ist der Meinung, daß seine Philosophie „von Grund auf und erstmalig auch das Leben einbezieht" (87). Ortegas Lebensphilosophie wendet sich sowohl gegen die Philosophie der Antike mit dem für sie charakteristischen Gedanken des kosmischcn Seins als auch gegen den Ansatz des neuzeitlichen Philosophierens beim Subjekt. Die antike Denkweise charakterisiert Ortega als „Realismus", die moderne als „Idealismus". Im Blick auf die Philosophie des Altertums fordert Ortega, die Philosophie müsse den Seinsgedanken aufgeben, um damit „dem ehrwürdigsten, dauerhaftesten und am tiefsten eingewurzelten Begriff, den es in der geistigen Überlieferung gibt, zu entsagen, dem Begriff des Seins" (201). Mit der Absage an den Seinsbegriff wird aber nicht nur der Seinsbegriff des Parmenides, Piatons und des Aristoteles verlassen, sondern auch der Scinsgedanke bei Descartes, Leibniz und Kant (ebd.). Dem neuzeitlichen „Idealismus", der die Realität im Bewußtsein finden will, wird die These gegenübergestellt, „daß nicht das Bewußtsein, das Subjekt - sondern das Leben, das außer dem Subjekt die Welt umfaßt, diese Realität ist" (248). Die realistische Philosophie der Antike sehe nur die äußere Welt als real an, die idealistische Philosophie der Neuzeit nur die innere Welt der Subjektivität, die Lebensphilosophie des 20. Jh. aber verstehe das Leben als die ursprünglich gegebene und gewisseste Realität, wobei sich im Begriff des Lebens das Äußere mit dem Inneren, das Objektive mit dem Subjektiven verbinde (224 f). Aufgabe der Lcbcnsphilosophie sei nun aber die Bestimmung des Lebensbegriffs. Dabei geht es nicht um das Leben im Sinne der Biologie. Der philosophische Lebensbegriff enthält sowohl den Weltgedanken als auch den Bcwußtscinsgedanken, sowohl das Allgemeine wie das Individuelle. Das bedeutet: „ Z u m ersten Mal geht die Philosophie von etwas aus, was keine Abstraktion ist". Philosophie ist nun „Meditation unseres Lebens" (221). Im Gedanken des Lebens sind Ich und Welt zusammengefaßt. Leben ist „ein Sichfindcn meines Ich in der Welt" (219). Für diesen Gedanken, den er auch schon in früheren Schriften vertreten habe, erhebt Ortega (jedoch, wie aus dem zu seinen Vorgängern Gesagten hervorgeht, wohl kaum zu Recht) den Anspruch auf Priorität (237). 4.9. Unamuno. Eine Sonderstellung nimmt der Spanier Miguel de Unamuno (18641936) ein, Gräzist an der Universität Salamanca. Er ist vor allem als Essayist hervorgetreten. Sein philosophisches Hauptwerk ist der große Essay Del Sentimiento trágico de la Vida aus dem Jahre 1913 (die deutsche Übersetzung Das tragische Lebensgefühl von Robert Friese ist erst 1925 erschienen). Die Schrift gehört einerseits in den Bereich einer Kulturphilosophie, die getragen ist vom Geist des spanischen Katholizismus, auch wenn Unamuno in mehrfacher Hinsicht von den Lehren der Kirche abweicht. Andererseits gründet aber die Kulturphilosophie Unamunos in einem sich auf die Erfahrung des Lebens berufenden Denken, das wir zur „Lebensphilosophie" zählen können. So geht es nach Unamuno in der Philosophie darum, das Leben zu verstehen. Und: „Sie entspringt unserem persönlichen Gefühl diesem Leben gegenüber" (3). Der -»Mensch werde zwar meist als „vernünftiges Wesen" verstanden. Man solle sich aber fragen, ob er nicht besser als „fühlendes Wesen" aufgefaßt werden müsse (3f). Die Philosophie Unamunos gründet in einem Gefühl. Daher bestimmt Unamuno seine Philosophie auch als „die Wissenschaft von der Tragik des Lebens und die Betrachtung des tragischen Gefühls" (399). Die Tragik des Lebens ergibt sich für Unamuno aus dem Widerstreit zwischen Leben und Vernunft: „Leben ist ein Ding und Erkennen ein anderes. Vielleicht sogar sind beide entgegengesetzt, so sehr, daß wir alles Lebendige als antirational, als widerspruchsvoll und nicht bloß irrational bezeichnen können und alles Rationale als lebenszerstörend.

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Dieses erzeugt eben das Gefühl der Tragik des Lebens" (44). Vernunft und Leben haben nämlich im Letzten und Tiefsten entgegengesetzte Inhalte. Deshalb ist die Geschichte des menschlichen Denkens auch eine tragische Geschichte. Sie ist nämlich „eine Geschichte des Kampfs der Vernunft gegen das Leben, wobei die Vernunft das Leben rationalisiert, es dazu bringt, sich ins Unvermeidliche, in die Sterblichkeit, zu schicken, während das Leben dagegen am Werke ist, die Vernunft zu verlebendigen, sie zur Stütze seiner Lebenswünsche zu machen" (148f). Das Leben aber will nichts anderes als leben. In ihm wirkt „der unsterbliche Trieb nach Unsterblichkeit" (18). Der Gedanke des Lebens verbindet sich bei Unamuno mit dem Gottesgedanken. Es geht dabei nicht um den Gott des rationalen Denkens, den Gott der Vernunft, sondern um den Gott, von dem wir fühlen, „daß sein Wille das Tiefste unseres eigenen Willens ist, unser Verlangen nach Ewigkeit" (230). Die Lebensphilosophie Unamunos erscheint so als eine Philosophie des nach Ewigkeit verlangenden Lebens. 5. Deutung Neben den Denkern, die wohl zu Recht fast allgemein als „Lebensphilosophen" verstanden werden, gibt es eine Anzahl von philosophischen Gelehrten, die sich vorwiegend um die Interpretation der Lcbensphilosophie bemüht haben, dieser jedoch teilweise so nahestehen, daß sie gelegentlich auch selbst ihr zugeordnet werden. 5.1. Scheler. Der erstmals 1913 veröffentlichte Aufsatz M. —»Schelers, Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche - Dilthey - Bergson (WW 3,311-339) stellt die erste beachtenswerte Deutung lebensphilosophischen Denkens dar. Max Scheler versteht unter Lebensphilosophie „eine Philosophie aus der Fülle des Lebens heraus, ja - schärfer gesagt - eine Philosophie aus der Fülle des Erlebens heraus" (III, 313). Als bahnbrechend für diese neue Tendenz im philosophischen Denken gelten dabei Nietzsche, Dilthey und Bergson. Nietzsche habe als erster vom Leben schlechthin gesprochen und auch die biologische Seite des Lebens tiefgehender gedeutet als die Naturwissenschaft, denn dem Leben gehe es nicht wesentlich um Anpassung und Selbstcrhaltung (wie die naturwissenschaftliche Biologie annimmt), sondern um Selbstgestaltung und Selbststeigerung. Bei Dilthey hebt Scheler den Versuch hervor, die Geisteswissenschaften und insbesondere die Welt der Geschichte aus der Totalität des Lebens zu verstehen, ferner die Kritik der naturwissenschaftlichen „erklärenden" Psychologie gegenüber einer beschreibenden und erklärenden „verstehenden" Psychologie als Grundlage der Geisteswissenschaften. Anders als Nietzsche und Dilthey wird schließlich Bergson teilweise recht kritisch behandelt, vor allem die Unterscheidung von temps und durée. Die Stärke der Bcrgsonschcn Philosophie liegt nach Scheler auf einem anderen Feld: „Diese Philosophie hat zur Welt die Geste der offenen, aufweisenden Hand, des frei sich aufschlagenden Auges" (III, 325). Bergsons Lebensphilosophie unterscheide sich mit ihrem Begriff der Intuition und der Evidenz des durch die Intuition Erfahrenen grundsätzlich vom neuzeitlichen Kritizismus und seinem Suchen nach „Kriterien" der Wirklichkeitserkenntnis. Darin sei sich die deutsche „Phänomenologie" mit Bergson einig. Als bedeutendster Schritt Bergsons gilt die Herstellung der Verbindung zwischen einer Philosophie des unmittelbaren Erlebens und dem biologischen Lebensproblem, ganz besonders in der Schrift über die évolution créatrice (III, 336). Die volle Nutzung des durch die drei Begründer der Lebensphilosophie in Gang Gebrachten wird aber erst von der „Phänomenologie" Husserls und seiner Anhänger erwartet, zu denen sich damals auch Scheler zu zählen scheint. 5.2. Georg Misch. Die Auseinandersetzung zwischen Dilthey und -»Husserl setzt sich in grundsätzlicher Weise fort in der Stellungnahme des Dilthey-Schülers Georg Misch (1878-1965) zu Heideggers Sein und Zeit. In dem aus einer Folge von Aufsätzen hervorgegangenen Buch Lebensphilosophie und Phänomenologie (Bonn 1930, Leipzig/Berlin 2 1931, Darmstadt 3 1967) weist der Verfasser einerseits auf die Unterschiede zwischen lebensphilosophischem und dem existenzphilosophischen Denken hin, doch bemüht er

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sich auch darum, die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Richtungen hervorzuheben. Für beides steht der Titel Sein und Zeit. Dem von der Scholastik und damit von der traditionellen Philosophie herkommenden -»Heidegger geht es um eine „Fundamentalontologie", deren zentraler Gedanke die Frage nach dem Sein ist. Der Seinsbegriff steht hier gegen den Lebensbegriff der Dilthey-Schule. Andererseits gehört der Begriff der Zeit in den Bereich der Lebensphilosophie. Misch beruft sich hierzu auf Diltheys Feststellung: „In dem Leben ist als erste kategoriale Bestimmung desselben, grundlegend für alle anderen, die Zeitlichkeit enthalten" (4). Mit der Aufnahme der Zeitproblematik in die Problematik der „Fundamcntalontologie" verbindet Heidegger also traditionelles Denken mit Gedanken der Lebensphilosophie. Allerdings befürchtet Misch, daß der vom „ist" der Aussage abgeleitete Seinsbegriff die Dynamik des Lebens nicht einzufangen vermag (37ff). An weiteren Ubereinstimmungen wird von Misch u. a. die Auffassung von Philosophie hervorgehoben: bei Dilthey „Selbstbesinnung, d.h. Analysis des inneren Lebenszusammenhanges", bei Heidegger „existentiale Analytik des Daseins". Ferner knüpfte Heidegger im Gedanken der Geschichtlichkeit an Dilthey an. Letztlich sucht Misch wohl eine Synthese zwischen Lebensphilosophie und Existenzphilosophie, zu der es dann allerdings nicht mehr gekommen ist. 5.3. Lersch. Der vor allem als Psychologe und Charakterologe bekannt gewordene Philipp Lersch (1898-1972) hat 1932 in einer kleinen Schrift Wesen und Formen der Lebensphilosophie der Gegenwart behandelt (Berlin 1932). Nach Lersch ist der Begriff des Lebens im 20. Jh. „zu einem Zcntralbcgriff des philosophischen Denkens geworden in demselben Sinne, in dem in der Antike das Sein, im Mittelater der theistische Gottesbegriff, in der Renaissance die Natur, in der klassischen deutschen Philosophie das Naturgesetz und in der romantischen Periode das Ich philosophische Zentralbegriffc waren" (1). Lebensphilosophie versteht Lersch im Sinne einer „Philosophie des Erlebens" (3). Als das dieser Lebensphilosophie Gemeinsame wird die Betonung des Emotionalen und die Ablehnung der Vorherrschaft des rational-diskursiven Denkens hervorgehoben. Es wird dann die Philosophie einzelner lebensphilosophischcr Denker gedeutet: Bergson unter dem Aspekt „Innen und Außen", Dilthey und Spengler unter dem Aspekt „Geschichte und Natur", Simmel unter dem Aspekt „Leben und Form", Klages unter dem Aspekt „Seele und Geist". Lersch schließt mit einer geistesgcschichtlichen Interpretation der Lebensphilosophie, wobei er insbesondere auf die Rolle der Romantik und des deutschen Idealismus hinweist, denn sogar „Hegels Logik ist eine Philosophie des Werdens" (91). Kritisch wird eingewandt, daß eine reine Werdephilosophie unbefriedigend bleiben müsse, da das Denken sonst den Halt verliere, den der Seinsgedanke schenkt (94). 5.4. Bollnow. Noch stärker als bei Misch verbinden sich bei Otto Friedrich Bollnow Motive der Lebensphilosophie mit Motiven der -»Existenzphilosophie. Schon in der Göttinger Habilitationsschrift Die Lebensphilosophie F. H. Jacobis (Stuttgart 1933) ist im Vorwort die Rede von einer Bewegung, „die gegenwärtig in Deutschland als Philosophie des ,Lebens' und der ,Existenz' im Gange ist". Jacobi wird dabei interpretiert als früher Lebensphilosoph. Er sei „im Kampf gegen die Schultradition zu einer Philosophie des Lebens vorgestoßen wie kaum ein anderer", habe aber seinen Weg nicht zu Ende gehen können (15). In dem wenige Jahre später erschienenen Dilthey-Buch wird Diltheys Philosophie insgesamt als Lebensphilosophie dargestellt. In einer neuen Darstellung der Lebensphilosophie geht es Bollnow darum, „durch eine tiefer ansetzende Analyse über den scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz von Lebens- und Existenzphilosophie hinweg und dadurch erst wirklich ins Freie zu kommen" (2). In einem kritischen Rückblick würdigt Bollnow als erste Leistung dieser philosophischen Richtung, „daß das Bild des Menschen und der Welt unter dem Einfluß der Lebensphilosophie und allgemein unter der modernen irrationalen Bewegung in einem früher nicht zu ahnenden Ausmaß erweitert und vertieft worden ist" (141).

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6. Kritik 6.1. Rickert. Der Neukantianer Heinrich Rickert (1873-1936) ist schon 1920 als heftiger Gegner der Lebensphilosophie hervorgetreten (Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920). Sie wird von ihm oft recht ironisch dargestellt, als „Modephilosophie" abgetan und wegen ihres „Intuitionismus" und „Biologismus" angegriffen. Obwohl nur von „weitverbreiteten Gedanken, nicht von einzelnen Denkerpersönlichkeiten" die Rede sein soll (195), werden als wichtigste „moderne Lebensphilosophen" Nietzsche, Bergson, Simmel und Dilthey behandelt (19ff). Rickert untersucht zuerst die „intuitive Lebensphilosophie", der er Prinzipienlosigkeit unterstellt, und zwar einerseits wegen der auf Dilthey zurückgehenden historischen Ablehnung des Systemdenkens, andererseits wegen des Bergsonschen Intuitionismus, „der als Lebensphilosophie den Begriff des Verstandes verwirft". Denn: „der ganzen Fülle aller Erlebnisse oder Erlebnisinhalte, die sich intuitiv erfassen lassen, wird niemand H e r r . . . Die Philosophie braucht Prinzipien, die gliedern und gestalt e n " (61). Der andere Einwand gegen die Lebensphilosophie besteht im Vorwurf des Biologismus: „Man glaubt, das erlebte Leben in seiner Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit und irrationalen Anschaulichkeit sei die eigentliche Wirklichkeit, und man meint zugleich, die Biologie...sei mit ihren Lebensformen dazu berufen, die Begriffe für die gesamte Philosophie zu liefern und damit eine Philosophie des Lebens als universale Wissenschaft nach allen Seiten hin auszubauen" (75). Unter diesem Aspekt wird nicht nur bei Nietzsche und Bergson Biologismus gefunden, sondern auch bei Scheler (98ff). Immerhin wird der Lebensphilosophie insofern eine gewisse Berechtigung zuerkannt, als der Intuitionismus Bergsons zu einer Kritik rationalistischer Dogmen geführt und Nietzsche tiefe Einblicke in die Ursprünglichkeit des Lebendigen ermöglicht habe (178). Auch wird wegen ihrer Tiefe und Radikalität die Lebensphilosophie Simmeis geschätzt, bei der aber ihre logischen Schwierigkeiten allzu klar hervorträten (64ff). Der Wertphilosoph Rickert hält jede Lebensphilosophie für verfehlt, solange sie sich nicht mit einem philosophischen System der Werte verbinde (193). 6.2. Ltikäcs. In dem zuerst 1953 veröffentlichten Buch Die Zerstörung der Vernunft übt Georg (von) Lukacs (1885-1971) vom Standpunkt eines orthodoxen Marxismus (-•Marx/Marxismus) aus heftige Kritik an der Lebensphilosophie, die als Vorbereitung des als „Faschismus" bezeichneten Nationalsozialismus aufgefaßt wird. Für den Marxisten ist die Geschichte der Philosophie nicht nur durch die philosophischen Probleme bestimmt. Diese werden vielmehr „von der Entwicklung der Produktivkräfte, von der gesellschaftlichen Entwicklung, von der Entfaltung der Klassenkämpfe gestellt" (Werke IX, 9). Die Lebensphilosophie erscheint daher vor allem unter dem politischen Aspekt des -•Imperialismus. Die Lebensphilosophie dieser Periode gilt als „Versuch, vom Standpunkt der imperialistischen Bourgeoisie und ihrer parasitären Intelligenz jene Fragen philosophisch zu beantworten, die von der gesellschaftlichen Entwicklung, von den neuen Formen des Klassenkampfes gestellt wurden" (352). Dilthey wird dargestellt als „Begründer der imperialistischen Lebensphilosophie" (363-386); zuvor aber Nietzsche als „Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode", „dessen ganzes Lebenswerk eine fortlaufende Polemik gegen den Marxismus, gegen den Sozialismus" gewesen sei (273). Bei Simmel wird Idealismus und Subjektivismus gefunden, bei Spengler entwickele sich die Lebensphilosophie „zu einer Weltanschauung der militanten Reaktion" (415), Scheler (der von Lukacs zu den Lebensphilosophen gerechnet wird) führe die Husserlsche Phänomenologie „in den großen Strom des lebensphilosophischen Irrationalismus hinein" (416 f). Es folgt „der Aschermittwoch des parasitären Subjektivismus", unter welcher Überschrift Heidegger und Jaspers als Lebensphilosophen interpretiert werden. Schließlich gipfelt alles in der „präfaschistischen und faschistischen Lebensphilosophie", welche „die bisherigen Tendenzen zu Ende führt und auf die Spitze treibt" (470). Als Vertreter dieses Endstadiums der Lebensphilosophie werden genannt: Klages, Jünger,

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Baeumler, B o e h m , K r i e c k und s o g a r A l f r e d R o s e n b e r g ( d e m man d a m i t freilich w o h l zuviel Ehre antut, e b e n s o w i e K r i e c k , d e m auch Lukäcs keine Beziehung zur L e b e n s p h i l o sophie n a c h w e i s t ) .

7.

Wirkung

Die Wirkung lebensphilosophischer Gedanken war, vor allem in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen, außerordentlich groß und wahrscheinlich noch viel größer, als sich hier andeuten läßt. Sie zeigte sich in der Hauptsache auf fünf Gebieten: in der -»Philosophie, der -»Theologie, der -•Pädagogik, der -»Kunst und der -»Jugendbewegung. 7.1. Philosophie. Die Lebensphilosophie hat auch auf andere philosophische Strömungen Einfluß gehabt, vor allem auf die -»Existenzphilosophie und zwar in einem Maße, daß es oft nicht leicht ist, beide Richtungen zu unterscheiden. So wird manchmal -»Kierkegaard nicht nur als Wegbereiter der Existenzphilosophie angesehen, sondern auch der Lebensphilosophie. Bei -»Heidegger und -»Jaspers finden sowohl Lukäcs als auch Bollnow lebensphilosophische Grundgedanken (wobei Heidegger nicht nur von Nietzsche, sondern auch von Dilthey und Bergson Anregungen aufgenommen hat). 7.2. Theologie. Im Bereich der Theologie war insbesondere die Bergsonsche Lebensphilosophie von erheblicher Wirkung, einerseits auf -»Teilhard de Chardin, andererseits auf den sogenannten -»„Modernismus". Bergsons in der Evolution créatrice vorgetragene Lehre gab Teilhard die Möglichkeit, den christlichen Schöpfungsgedanken mit dem naturwissenschaftlichen Evolutionsgedanken zu verbinden und den Menschen als den Endpunkt der Lebensbewegung zu verstehen. Neben Blondel (der übrigens einigen Philosophiehistorikern ebenfalls als Lebensphilosoph gilt) hatte Bergson ferner auf dem Wege über Laberthonière und LeRoy keinen geringen Einfluß auf die um 1900 in der katholischen Kirche aufgekommenen Versuche einer Anpassung der Glaubenslehren an die Ergebnisse der modernen Wissenschaft, den „Modernismus". 7.3. Pädagogik. Lebensphilosophische Gedanken Nietzsches und besonders Diltheys wurden für die geisteswissenschaftliche Pädagogik bedeutsam. Theodor Wilhelm hebt drei auf Dilthey zurückgehende Ansätze hervor: „Das erzieherische Geschehen wird erstens in die Dimension des ,Lebens' gestellt. Dieses Leben wird zweitens durch den Rhythmus Erlebnis-Ausdruck-Verstehen geordnet und gegliedert; und in diesen Lebensrhythmus wird drittens die Geschichte einbezogen" (129). Außerdem spielt die Lebensphilosophie eine Rolle bei der Wendung der Blickrichtung des pädagogischen Interesses von der Kindheit auf das Jugendalter (268). Als typische Vertreter lcbensphilosophisch bestimmter Erziehungsthcorie sind neben Dilthey die Pädagogen Spranger, Nohl, Litt, Flitner anzusehen. 7.4. Kunst. Noch wenig erforscht ist der Zusammenhang zwischen Icbensphilosophischem Denken und den einzelnen Künsten. In der Literatur erscheint das Thema des Lebens nicht nur bei dem bereits als Lebensphilosophen behandelten Unamuno (vgl. 4.9), sondern auch bei philosophisch interessierten Dichtern wie Rilke, Hofmannsthal, George, Dchmel, ebenso bei Maeterlinck und dem von Bergson beeinflußten F. E. Sillanpää („Sonne des Lebens"). Als Beispiel dafür, daß der I.ebcnsgedanke auch in die Theorie der Musik eingedrungen ist, seien einige Bemerkungen des Komponisten Heinrich Kaminski angeführt: „Wille und Wesen der Musik ist: .Leben' zu künden, ,Leben' zu offenbaren.,Leben' schlechthin: G o t t " (H. Barth, Allgewalt Musik 83). In der bildenden Kunst steht die Malerei der Philosophie am nächsten, und in der Tat tritt hier auch der Lebensgedanke in Erscheinung. So will Franz Marc, der eine Zeitlang Philosophie studiert hat, in seinen Tierbildcrn „das unberührte Lebensgefühl des Tieres" malen. M i t seinen abstrakten Bildern strebt er „zum weiten Gesicht,...in dem das Lebensgefühl ganz rein klingt" (Brief vom 12.4.1915). 7.5. Jugendbewegung. Daß schließlich in der -»Jugendbewegung (die hier ganz im Sinne der „klassischen" Jugendbewegung verstanden und nicht mit den staatlich gelenkten Jugendorganisationen der Nationalsozialisten in Verbindung gebracht wird) Beziehungen zur Lebensphilosophie bestanden haben, läßt sich schon daraus vermuten, daß man sich immer wieder auf Nietzsche berief, und aus dem kulturkritischen Beitrag, den Ludwig Klages für die anläßlich der Feier der Freideutschen Jugend auf dem hohen Meißner 1913 erschienene Festschrift lieferte. Quellen Henri Bergson, Ecrits et paroles. Hg. v. Rose-Marie Mossé-Bastide, Paris , I — III 1957-1959. — Ders.,Zeit u. Freiheit, Jena 1911.-Ders., Schöpferische Entwicklung, Jena 1912. - D e r s . , Die beiden Quellen der Moral u. der Religion, Jena 1933. - Wilhelm Dilthey, GS, Leipzig/Stuttgart/Göttingen 1914ff. - Jean-Marie Guyau, Phil. Werke in Auswahl. Hg. v. Ernst Bergmann, 3 Bde. Leipzig 1912-1914. - Hermann Graf Keyserling, Das Reisetagebuch eines Philosophen, 2 Bde., München 1959. - Ders., Südamerik. Meditationen, Stuttgart 1932, 21933, 1950 und 1951. - Ders., Das Buch

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Lebenswelt

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-80-

Karl Albert

Lebenswelt 1. Lebenswelt bei Husserl S. 599)

2. Wirkungsgeschichte des Lebensweltbegriffs

(Quellen/Literatur

Die Wortprägung „Lebenswelt" findet sich schon im ersten Drittel des 20. Jh. verschiedentlich in der deutschsprachigen Literatur und so auch in den Texten der zwanziger Jahre bei E. -»Husserl, dem Begründer der -»Phänomenologie. Aber erst durch sein letztes Werk, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936), wurde der Begriff zu einem philosophischen Terminus. Als das machte er im deutschen Sprachraum spät Karriere, dann aber in solchem Maße, daß er in den achtziger Jahren zu einem der meistbenutzten Ausdrücke der Bildungssprache wurde und dabei durch seinen überdehnten Gebrauch beinahe alle Konturen verlor. Nur eine Rückbesinnung auf den wissenschaftskritischen Kontext, innerhalb dessen Husserl den Begriff eingeführt hat, kann ihm seine Trennschärfe zurückgeben und zugleich die Bedeutungsverschiebungen erklären, denen er in seiner Wirkungsgeschichte unterworfen war. 1. Lebenswelt

bei

Husserl

1.1. Phänomenologie als Kritik der Lebensweltvergessenheit. Die Husserlsche P h ä n o menologie handelt v o m „ E r s c h e i n e n " der Gegenstände für den Menschen. Es vollzieht sich, so lautet die Grundthese, notwendig in situationsgebundenen subjektiven „Gegebenheitsweisen"; ein Wahrnehmungsgegenstand beispielsweise kann nur in einer M a n nigfaltigkeit von perspektivischen „ A b s c h a t t u n g e n " erfahren werden. Das menschliche Bewußtsein ist im M e d i u m der Gegebenheitsweisen „ i n t c n t i o n a l " auf den Gegenstand gerichtet, ohne sie selbst zu thematisieren. Die Gegebenheitsweisen verweisen das intentionale Bewußtsein perspektivisch in einen jeweiligen H o r i z o n t , d . h . einen Gesichtskreis und Spielraum von Möglichkeiten des Erscheinens von Gegenständen überhaupt. Die Horizonte sind untereinander durch Verweisungen verbunden und gehören in diesem Sinne im Universalhorizont - + „ W e l t " zusammen. Die Welt ist der uns vertraute, aber verborgen bleibende Hintergrund, der das Hervortreten der Gegenstände ermöglicht. Die Wissenschaft m a c h t die so verstandene Welt erstmals zum T h e m a . Dies kann sie dazu verleiten, die Welt als einen Gegenstand aufzufassen und so ihren H o r i z o n t c h a r a k t e r zu verfehlen. Die neuzeitliche Wissenschaft erliegt der Gefahr dieses „ O b j e k t i v i s m u s " , indem sie ihr Objektivitätsideal übersteigert: Das wissenschaftlich Gültige soll von jedweder Relativität a u f die Erfahrungshorizonte frei sein. So wird die „objektive W e l t " radikal

Lebenswelt

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entperspektiviert. Sie erscheint als e t w a s gänzlich v o m subjektiven Vollzug der G e g e b e n heitsweisen Abgelöstes, an sich Bestehendes. D i e subjekt-relative Welt als perspektivisch vertrauter Spielraum von E r f a h r u n g s m ö g lichkeiten hält für den M e n s c h e n a u c h die M ö g l i c h k e i t e n des H a n d e l n s bereit. Weil sie L e b e n als H a n d e l n e r m ö g l i c h t , d a r f sie L e b e n s w e l t heißen. D e r O b j e k t i v i s m u s besteht in der Vergessenheit der S u b j e k t - R e l a t i v i t ä t der L e b e n s w e l t . Die Sinnkrise des Lebens in der verwissenschaftlichten Welt von heute führt Husserl a u f diese Vergessenheit zurück. Es gibt einen Weg aus der Krise, weil der O b j e k t i v i s m u s sich als eine v e r m e i d b a r e D e f o r m a tion des Sinnes d u r c h s c h a u e n läßt, den die W i s s e n s c h a f t bei ihrer „ U r s t i f t u n g " durch die G r i e c h e n erhalten hatte. D i e P h ä n o m e n o l o g i e ist in der L a g e , in einer transzendentalen A n a m n e s e die bewußtseinsgeschichtliche M o t i v a t i o n jener D e f o r m a t i o n aufzudecken und so die Urstiftung zu erneuern. 1.2. Die Genesis der Wissenschaft aus der Lebensweh. Die Wissenschaft entsteht - zunächst in Einheit mit der Philosophie - aus dem Bruch mit der „natürlichen Einstellung". In dieser ist die Welt dem intentionalen Bewußtsein beim Vollzug der Gegebenheitsweisen vertraut, ohne zum Thema zu werden. Weil die Gegenstände in den unthcmatisch mitbewußten Horizont der Lebenswelt eingebettet sind, können sie dem Bewußtsein als etwas unmittelbar anschaulich Gegebenes erscheinen. Von einem körperlichen Ding beispielsweise kann der Mensch nur die perspektivisch dargebotene Vorderseite sehen. Trotzdem erlaubt ihm die Wahrnehmbarkeit der Rückseite, die der Horizont unthematisch bereithält, „das" Ding als anschaulich wahrgenommen aufzufassen. So beruht jede Anschauung auf der Antizipation von horizonthaft bereitliegenden Erfahrungsmöglichkeiten. Die Intentionalität des Bewußtseins gründet darin, daß es gerade im Vollzug der Anschauung der Gegenstände die Anschaulichkeit transzendiert. Die natürliche Einstellung ist dadurch gekennzeichnet, daß dem Menschen dieser Ausgriff in die Unanschaulichkeit nicht bewußt wird. Man begnügt sich im Vertrauen auf die unerschöpflichen Erfahrungsressourcen des Universalhorizonts mit der Anschauung der Gegenstände, ohne nach der Grundlage jenes Vertrauens zu fragen. Dieses Fragen erwacht in der Urstiftung von Philosophie und Wissenschaft. Die Unanschaulichkeit des Ausgriffs in den Universalhorizont wird nun darin bewußt, daß keine in der I.ebenswelt vorgezeichnete Erfahrungsmöglichkeit die letzte ist; der Spielraum der horizonthaften Verweisungen ist ein endloses Undsoweiter und dadurch unerschöpflich. Wenn die Welt thematisch wird, muß sie deshalb als eine potentielle Unendlichkeit crscheincn. An ihr kann das philosophisch-wissenschaftliche Denken aber keinen Halt finden. Deshalb muß es die Antizipationen der natürlichen Einstellung, die sich immer nur auf Ausschnitte aus dem universalen Verweisungszusammenhang beziehen, transzendieren und auf das Ganze des Zusammenhangs vorgreifen. Dazu ist das Bewußtsein in der Lage, indem es den Zusammenhang in Verweisungsreihen auflöst und diese jeweils als in ihrer Gesamtheit „durchlaufen" betrachtet. Dies wiederum kann es durch die Freilegung von Regeln, aufgrund deren sich der Verlauf solcher Reihen antizipieren läßt. Die Kenntnis einer Regel (z.B. der fortgesetzten Halbierung eines Ganzen: 1 - J verschafft dem Bewußtsein die Möglichkeit, die Reihe in einem Limes (beim Beispiel: dem Limes „Null") terminieren zu lassen. Alle Begriffsbildung und Formulierung von Gesetzen in den Wissenschaften beruht nach Husserl auf so verstandener „Idealisierung". In ihren vorneuzeitlichen Epochen begnügt sich die Wissenschaft mit Idealisierungen in gewissen Gegenstandsbereichen, ohne den Anspruch auf idealisierende Vergegenständlichung des unendlichen Universalhorizonts im ganzen zu erheben. Deshalb läßt sie sich diese Gegenstandsbereiche durch die nicht in Frage gestellten Erfahrungshorizonte der Lebenswelt vorgeben, in denen die Gegenstände dem Menschen in natürlicher Einstellung ursprünglich begegnen. Dort fungieren die Horizonte im Alltag vor allem als die überschaubaren Gesichtskreise jenes Sich-Auskennens, das die Griechen zcxvtj nannten und durch das der Mensch in der Lage ist, zu produzieren und zu gestalten. Die alteuropäische Wissenschaft spiegelt in der lange Zeit stabilen Gliederung ihrer Disziplinen noch diese endlichen Horizonte der „praktischen Künste" wider, der Feldmeßkunst (Geometrie), der Heilkunst (Medizin) usw. Erst mit der neuzeitlichen Thematisierung des Universalhorizonts in seiner alle Partialhorizonte transzendierenden Unendlichkeit verliert diese Gliederung ihre Verbindlichkeit, und die Wissenschaft gerät in den Prozeß unabsehbarer Spezialisierung. 1.3. Die Ablösung der modernen Wissenschaft von der Lebenswelt. Im Zuge der radikalen Entperspektivierung des Universalhorizonts werden die lebensweltlichen Horizonte gleichgültig. Das wissenschaftliche Erkennen muß sich zufolge seiner Befreiung von allen horizonthaft vorgegebenen inhaltlichen Bindungen darauf verlegen, sich als Verfahren, als „Methode", auszubilden. Es kann seine Regelung nur noch in sich selbst, d.h. in der Effektivität des methodischen Operierens finden. In diesem Operieren herrscht von vornherein ein technischer Geist, noch vorab zu der technisch-

596

Lebenswelt

industriellen Anwendung von Ergebnissen neuzeitlicher Grundlagenforschung; denn schon diese Forschung läßt sich ihre Bcobachtungsbcdingungcn nicht mehr durch den vorgefundenen Anschauungshorizont der Lebenswelt, d. h. die „ N a t u r " , vorgeben, sondern setzt selbst die Bedingungen im experimentellen Eingriff in die Natur. In der natürlichen Einstellung verlaßt sich der Mensch auf seinen Fundus horizonthaft vorgezeichneter Erfahrungsmöglichkeiten. Daher kann e r - w e n n auch immer nur in den Grenzen des bloß Ungefähren und Typischen - von bereits vollzogenen Erfahrungsprozessen herdarauf schließen, wie seine künftige Erfahrung verlaufen wird. Die idealisierende Antizipation verwandelt die lcbcnswcltlichen Regeln solcher „Induktion" in ein zuverlässiges prognostisches Instrumentarium, die Naturgesetze neuzeitlicher -«-Naturwissenschaft. Sie ihrerseits lassen sich nicht mehr im Rückgriff auf die Anschauungsbestände der lebensweltlichen Horizonte formulieren, sondern nur noch mit den Mitteln, die sich aus der Entpcrspektivierung der Welt durch Idealisierung ergeben. Weil Idealisierung Limesbildung bedeutet, besitzen alle ihre Resultate den Charakter des Mathematischen. Daher wird eine neuartige, sich vom Anschauen emanzipierende -»Mathematik zur Grundlage der modernen Naturwissenschaft. Die skizzierte phänomenologische Rekonstruktion der bewußtseinsgeschichtlichen Motivation objektivistischer Wissenschaft läßt zugleich deren Legitimität und deren Grenze erkennen. Die moderne Wissenschaft ist legitim, sofern sie nichts anderes ist als der Versuch einer radikalen Einlösung des in der Urstiftung von Wissenschaft liegenden Anspruchs auf Thematisierung der Welt als Welt. F.r kommt in der modernen Forschling voll zum Zuge und scheint damit die auf das Ganze der Welt gerichtete Erkenntnisbemühung der Philosophie überflüssig zu machen. Aber die philosophische Besinnung behält ihr Daseinsrecht, weil sie die Grenze der idealisierenden F^ntperspektivierung aufdeckt. Die neuzeitliche Wissenschaft kann ihre Erkenntnisse entgegen ihrem lange Zeit herrschenden Selbstverständnis nicht gänzlich von der Icbcnswcltlichcn Perspektivität befreien. Das wissenschaftliche Erkennen bleibt nach Husserl erstens als Praxis lind zweitens in seinen Resultaten an die Lebenswelt gebunden: Das Flrkennen enthält uneliminierbare Bestandteile von Anschaulichkeit, beispielsweise im Umgang mit den Apparaturen und Meßgeräten, die zum modernen Experiment gehören. Die Erkenntnisresultate gelangen durch Ingenieure zur industriellen Anwendung. Ihre Produkte werden Bestandteil der Lebenswelt, indem sie dem Menschen im alltäglichen Gebrauch als anschaulich verfügbare Gegenstände begegnen. So „strömen", wie Husserl formuliert, auch die Ergebnisse radikal entperspektivierter Wissenschaft in die Perspektivität der Lebenswelt „ein", sie reperspektivieren sich. Die Vergessenheit dieser doppelten Einbindung der modernen Wissenschaft in die anschaulich-perspektivische lebensweltliche Erfahrung ist die Übersteigerung, gegen die die Husserlsche Phänomenologie an die Lebenswelt erinnert und damit der Philosophie ihre Aufgabe bewahrt. 2. Wirkungsgeschichte 2.1.

Zur

Deutung

des der

Lebenswelt

Lebensii'cltbegnffs bei

Husserl.

D e r Sinn v o n „ L e b e n s w e l t " und der

p h ä n o m e n o l o g i s c h e n E r i n n e r u n g d a r a n ist bis h e u t e vielfältigen M i ß v e r s t ä n d n i s s e n ausgesetzt. H u s s e r l s P h ä n o m e n o l o g i e n i m m t w e d e r einseitig für die L e b c n s w c l t n o c h für die o b j e k t i v e Welt d e r W i s s e n s c h a f t P a r t e i ; sie h a t w e d e r ein Interesse d a r a n , sich r o m a n t i s c h v o n der v e r w i s s e n s c h a f t l i c h t e n W e l t a b z u k e h r e n und zu einer heilen L e b c n s w c l t z u r ü c k z u k e h r e n , n o c h u m g e k e h r t d a r a n , der w i s s e n s c h a f t l i c h e n W e l t e r k e n n t n i s d u r c h R e k o n s t r u k t i o n ihrer l e b e n s w e l t l i c h e n M o t i v a t i o n nur ein besseres G e l t u n g s f u n d a m e n t zu verschaffen. W e r H u s s e r l a u f s o l c h e E i n s e i t i g k e i t e n festlegt ( B l u m e n b e r g , E r l a n g e r K o n s t r u k t i v i s m u s ) , v e r k e n n t , d a ß es i h m d a r u m g e h t , d a s n i c h t e i n s e i t i g e Verhältnis

zwischen

m o d e r n e r W i s s e n s c h a f t und L e b e n s w e l t freizulegen: D i e neuzeitliche W i s s e n s c h a f t wird d u r c h die R ü c k g r ü n d u n g in d e r L e b e n s w e l t ineins legitimiert und in die G r e n z e n eingew i e s e n , i n n e r h a l b d e r e r ihre E r k e n n t n i s s e allein gültig sein k ö n n e n . D i e P e r s p e k t i v i t ä t l e b e n s w e l t l i c h e r E r f a h r u n g - die Ö 0 £ a d e r G r i e c h e n - w i r d r e h a b i l i t i e r t , a b e r n i c h t , u m bei ihr s t e h e n z u b l e i b e n , s o n d e r n u m a u f z u z e i g e n , w i e sie die eniaTtjfttj,

das wissenschaft-

liche E r k e n n e n , e r m ö g l i c h t und t r ä g t . D i e B e s t i m m u n g d e r L e b e n s w e l t als A n s c h a u u n g s w e l t h a t - nicht o h n e M i t s c h u l d H u s s e r l s - die g r ö b s t e n F e h l i n t e r p r c t a t i o n e n h e r v o r g e r u f e n . D i e L e b e n s w e l t ist w e d e r ein S e k t o r von G e g e n s t ä n d e n , n ä m l i c h der B e r e i c h d e r in s i n n l i c h e r A n s c h a u u n g w a h r n e h m b a r e n K ö r p e r d i n g e d e r N a t u r , n o c h die G e s a m t h e i t d e r G e g e n s t ä n d e , s o f e r n sie sinnlich w a h r g e n o m m e n w e r d e n k ö n n e n . H i e r i n liegt ein d o p p e l t e s M i ß v e r s t ä n d n i s : E r s t e n s ist

597

Lebenswelt

die Lebenswelt keine - partielle oder totale - Gesamtheit von Gegenständen, sondern Horizont, d.h. Verweisungszusammenhang, der das Erscheinen von Gegenständen ermöglicht. Zweitens meint das lebensweltliche Anschauen keineswegs nur die Wahrnehmung mit den Sinnen, sondern jeden Erfahrungsakt, worin ein beliebiger Gegenstand als „selbst d a " erscheint. Im sachgerechten Gebrauch eines Lichtschalters ist er in diesem Sinne anschaulich gegeben, obwohl zu dem Gebrauch ein Verstehen gehört, das die sinnliche Wahrnehmung transzendiert. Die Lebcnswelt ist nur insofern Anschauungswelt, als in ihr das in die Unendlichkeit des Horizonts vorgreifende Antizipieren, das in den Entperspektivierungs- bzw. Idealisierungsprozessen der Wissenschaft virulent wird, latent bleibt. Der von Husserl zunächst akzentuierte Kontrast zwischen dem lebensweltlichen Anschauen und der Unanschaulichkeit wissenschaftlicher Welterkenntnis ist nur eine vorläufige Bestimmung, weil die gegenständlichen Resultate der Wissenschaft durch das „Einströmen" in den Anschauungshorizont der Lebenswelt aufgenommen werden. Husserls endgültiger Begriff von Lebenswelt bestimmt sie als „konkrete Universalität". Das bei Husserl mehrdeutige Verhältnis der einen universalen Lebenswelt zum Plural der historisch und interkulturell variierenden „Lebenswelten" hat ebenfalls zu divergierenden Deutungen Anlaß gegeben. Was legitimiert die Rede von „ d e r " Lebenswelt (singulare tdntum)? Legt man ihre Interpretation als Welt sinnlicher Anschauung ziigrunde, so kann sie als die Fundamentalschicht jeglicher Erfahrung erscheinen. Die geschichtlich und geographisch unterscheidbaren Lebenswelten wären variable kulturelle „Aufbaut e n " auf jener Fundamentalschicht der Welt als „ N a t u r " . Aber die bei Husserl selbst häufig anzutreffende Schichtenvorstellung erweist sich als unhaltbar, wenn Anschauung auf Reperspektivierung von entperspektivierten Erfahrungsgehalten beruht. Die Universalität der einen Lebenswelt läßt sich nur aus dem für die natürliche Einstellung konstitutiven „Weltglauben" erklären: In welcher der vielen Lebenswelten ein Mensch geschichtlich und kulturell seine Heimat haben mag, immer setzt seine Erfahrung die Gewißheit voraus, daß der unendliche Zusammenhang horizonthafter Verweisung nicht abreißen kann. Darin liegt die Antizipation, daß jede erdenkliche neue Erfahrung, so fremd das in ihr Begegnende zunächst erscheinen mag, in diesen Zusammenhang der Lebenswelt als konkreter Universalität integrierbar ist. So lebt der Mensch in jeder seiner variablen Lebenswelten zugleich in „ d e r " Lebenswelt. Welche invarianten Strukturen diese eine Lebcnswelt aufweist, ist freilich ein weiteres umstrittenes Thema. Husserls Methode zur Freilegung von Invarianzen ist die „cidetischc Variation": Das Umdenken der Bestimmtheit einer Sache in der Phantasie stößt an Grenzen, bei deren Überschreitung die betreffende Sache ihre Identität verlöre; diese Grenzen bilden ihren invarianten Sachgehalt. Lassen sich auf diese Weise invariante Strukturen der einen Lebenswelt ermitteln, und wäre dies die „Ontologie der Lebcnswelt", die Husserl angekündigt, aber nicht mehr ausgearbeitet hat?

2.2. Zur innerphänomenologischen

Weiterbildung

des Lebensweltbegriffs

(Heideg-

ger, Merleau-Ponty, Schütz). Husserls Lebcnsweltphänomenologie entfaltete zunächst in Frankreich ihre größte Wirkung. Die Art ihrer Aufnahme wurde wesentlich durch Martin -»Heidegger beeinflußt. In der hermeneutischen Phänomenologie seines Hauptwerks Sein und Zeit (1927) tritt systematisch an die Stelle des intentionalen Bewußtseins bei Husserl das menschliche „ D a s e i n " . Dessen fundamentaler Seinscharaktcr ist die Offenheit für den Welthorizont, das In-der-Welt-Sein. Husserl hatte die Vertrautheit mit dem Horizont ausgehend von der perspektivischen Wahrnehmung, d . h . einem im weitesten Sinne „theoretischen" Zugang zu den Dingen, expliziert. In der Durchschnittlichkeit des alltäglichen Lebens ist es nach Heidegger aber nicht die Wahrnehmung von „vorhanden e n " Gegenständen, sondern der Umgang mit „ Z u h a n d e n e m " im Gebrauch, wodurch dem Dasein der Verweisungszusammenhang - als „Bewandtniszusammenhang" - erschlossen ist. Das vortheoretische Verstehen, wodurch das Dasein sich in diesem Zusammenhang zurechtfindet, kann sich zum theoretischen Blick der wissenschaftlichen Er-

598

Lebenswelt

kenntnis modifizieren. O b w o h l Heidegger den Begriff „ L e b e n s w e l t " in Sein und Zeit nicht gebraucht (wohl schon in einer Aristoteles-Vorlesung von 1921/22), kann diese seine Analyse doch als eine Phänomenologie der Lebenswelt und der lebensweltlichen Bedingtheit der Wissenschaft gelesen werden. So w a r es möglich, d a ß sie vor allem bei Maurice Merleau-Ponty (Phénoménologie de la Perception, 1945) zu einer tiefgreifenden Revision der Husserlschen Ansätze den Anstoß gab. Bei Husserl w a r die Analyse der Lebenswelt nur Durchgangsstadium für die Rückfrage nach den subjektiven „Leistungen", durch die das intentionale Bewußtsein als absolutes Ich den Welthorizont transzendental „ k o n s t i t u i e r t " . Die konstituierende Subjektivität k o n n t e als konstituierende kein Bestandteil der konstituierten Welt sein. Nach Heidegger verkennt Husserl mit der These von der T r a n s m u n d a n i t ä t des absoluten Ich die unentrinnbare Faktizität des In-der-Welt-Seins. Im Geiste dieser Kritik bestimmt MerleauPonty das Ich als être-au-monde (Zur-Welt-Sein), d . h . als u n a u f h e b b a r situiert in der Welt. Grundlegend für die Verankerung des Ich in der Welt ist seine Leiblichkeit. So wird diese zum Bezugspol des subjektrelativen lebensweltlichen Horizonts. In der Welt als Bewandtniszusammenhang der alltäglichen Praxis ist nach Heidegger auch das Mitsein der anderen gleichursprünglich erschlossen. Im Kontext der wissenschaftskritischen E i n f ü h r u n g des Begriffs der Lebenswelt stellte diese sich primär als natürliche Welt dar. Deshalb spielte ihre soziale Dimension f ü r Husserl keine wesentliche Rolle. Allerdings hatte er schon vor seiner späten Lebenswelttheorie vielfältige Anläufe zu einer Lehre von der Konstitution des anderen und der InterSubjektivität unternommen. Sie waren letztlich d a r a n gescheitert, d a ß er das ursprüngliche Verhältnis zum anderen am Leitfaden seines Wahrnehmungsmodells und nicht von der Erfahrung des Handelns her zu bestimmen suchte. Heideggers Phänomenologie des Mitseins eröffnete den Weg, um die Lebenswelt als soziale Alltagswelt der handelnden Menschen zu beschreiben. Diesen Weg schlug der Husserl-Schüler Alfred Schütz ein, zunächst noch ohne die Alltagswelt als Lebenswelt zu bezeichnen (Der sinnbafte Aufbau der sozialen Welt, 1932), später in ausdrücklicher A u f n a h m e dieses terminus (Strukturen der Lebenswelt, zusammen mit T h o m a s L u c k m a n n , 1975/79). Die Alltagswclt ist der Sinnzusammenhang, der dem handelnden Menschen in der natürlichen Einstellung das Verstehen sozialer Sinngebilde (Symbole, N o r m e n , Institutionen usw.) ermöglicht. 2.3. Zur außerphänomenologischen Weiterbildung des Lebensweltbegriffs (Kritische Theorie). In der Interpretation von Schütz und seinen Schülern fand der Lebensweltbegriff Eingang in das Denken von H a b e r m a s . Durch dessen zunächst eher kritische Rezeption k a m er in der Soziologie seit den siebziger Jahren in M o d e . Im H a u p t w e r k von Jürgen H a b e r m a s , der Theorie des kommunikativen Handelns (1981), wird er zu einem der tragenden Begriffe der sprachpragmatisch-kommunikationstheoretisch reformierten -•Kritischen Theorie der F r a n k f u r t e r Schule: Die Integration einer jeden Gesellschaft so lautet eine Grundthese des Werks — kann sich sozialwissenschaftlich auf doppelte Weise darstellen. Als sozial integriert erscheint Gesellschaft in den Augen einer Sozialwissenschaft, die sich am Paradigma k o m m u n i k a t i v e n Handelns orientiert, welches seinerseits ohne den Komplementärbegriff der Lebenswelt nicht zu denken ist. Als systematisch integriert gilt sie einer funktionalistisch die Selbststeuerung von Systemen zum Paradigma erhebenden Sozialwissenschaft. Die Theorie des k o m m u n i k a t i v e n Handelns soll methodisch beide Paradigmen verknüpfen und zugleich gegenwartsdiagnostisch die pathologischen Krisenerscheinungen der M o d e r n e erklären. In methodischer Hinsicht bildet Lebenswelt - im Gefolge von Husserl als unthematischer Horizont und in Anlehnung an Schütz als intersubjektive Alltagswelt gefaßt - den Hintergrund, vor dem sich die Verständigungsprozesse k o m m u n i k a t i v e n Handelns abspielen. Als das bezeichnet sie wie bei Husserl eine invariante G r u n d s t r u k t u r mit normativer Funktion. Zugleich aber unterliegt sie, in epochenkritischem Kontext betrachtet auch das hatte sich schon im Begriff des „Einströmens" bei Husserl abgezeichnet - , einem geschichtlichen Wandel: In der Menschheitsevolution von den mythischen zu den moder-

599

Lebenswelt nen Gesellschaften w ä c h s t der Anteil k o m m u n i k a t i v erzielter Verständigung.

Diesem

Prozeß der „Rationalisierung der L e b e n s w e l t " korrespondiert ein A n w a c h s e n der K o m p l e x i t ä t v o n Gesellschaft als S y s t e m , w o d u r c h sich f o r m a l organisierte H a n d l u n g s b e r e i c h e w i e Ö k o n o m i e o d e r S t a a t s v e r w a l t u n g als S y s t e m e v o n der L e b e n s w e l t

abkoppeln.

Ähnlich wie das durch undurchschaute Idealisierung entstandene „Ideenkleid" der m o d e r n e n W i s s e n s c h a f t b e i H u s s e r l d i e A n s c h a u u n g s w e l t ü b e r l a g e r t u n d in V e r g e s s e n h e i t geraten läßt, besteht die G e g e n w a r t s k r i s e bei H a b e r m a s darin, d a ß die k o m m u n i k a t i v e Praxis der Alltagswelt von den Imperativen jener verselbständigten Systeme abhängig und so innerlich entleert wird. D i e Kritische T h e o r i e verhält sich kritisch s o w o h l zur gesellschaftlichen R e a l i t ä t solcher „ i n n e r e n Kolonialisierung d e r L e b e n s w e l t " als a u c h zur zeitgenössischen S o z i a l w i s s e n s c h a f t , sofern sie sich dieser E n t w i c k l u n g a n p a ß t . Sie erhebt d a m i t wie die P h ä n o m e n o l o g i e Husserls den Anspruch, die europäische Vernunft und Aufklärungstradition z e i t g e m ä ß zu erneuern. Quellen E d m u n d Husserl, Die Krisis der europ. 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600

Lecuw

Wahrheits- u. Seinsproblem: S t r ö k e r (Hg.), s . u . , 6 8 - 7 8 . - Ludwig Landgrebe, D a s Problem der transzendentalen Wiss. v o m lebensweltlichen Apriori: ders., P h ä n o m e n o l o g i e u. G e s c h . , Gütersloh 1967, 1 4 8 - 1 6 6 . - D e r s . , Lebenswelt u. Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins: B. W a l d e n f e l s / J . M . B r o e k m a n / A . Pazanin (Hg.), P h ä n o m e n o l o g i e u. M a r x i s m u s , Frankfurt, II 1977, 1 3 - 5 8 . - Wilfried Lippitz, „ L e b e n s w e l t " oder die Rehabilitierung vorwiss. Erfahrung, Weinheim/Basel 1980. - Werner M a r x , Vernunft u. Lebenswelt: ders., Vernunft u. Welt, Den Haag 1970, 4 5 - 6 2 . - D e r s . , Lebenswelt u. Lebcnswclten: ebd. 6 3 - 7 7 . - Ulf M a t t h i e s e n , D a s D i c k i c h t der Lebenswelt u. die T h e o r i e des kommunikativen Handelns, M ü n c h e n 1 9 8 3 . - J ü r g e n M i t t e l s t r a ß , Das lebensweltliche Apriori: G e t h m a n n (Hg.), s. o., 1 1 4 - 1 4 2 . - J i t e n d r a n a t h N . M o h a n t y , „ L i f e - W o r l d " and „A P r i o r i " in Husserl's L a t e r T h o u g h t : Anna T h e r e s a T y m i e n i e c k a (Hg.), T h e Phenomenological Realism o f the Possible Worlds. Papers and D e b a t c [ . . . ] N e w Y o r k , N . Y. September 4 - 9 , 1972, D o r d r e c h t / B o s t o n 1974, 4 6 - 6 5 . - F.nzo Paci, Die Lebensweltwiss.: Symposium sobre la Nocion H u s s e r l i a n a d e la Lebenswelt, M e x i k o 1 9 6 3 , 5 1 - 7 5 . - Bernhard R a n g , Die bodenlose W i s s . Husserls Kritik v. O b j e k t i v i s m u s u. Technizismus in M a t h e m a t i k u. Naturwiss.: Profile der Phänomenologie, F r e i b u r g / M ü n c h e n 1989, 8 8 - 1 3 6 . - Karl S c h u h m a n n , Lebenswelt als Unterlage der P h ä n o m e n o l o gie: S t r ö k e r (Hg.), s . u . , 7 9 - 9 1 . - Walter Schulz, Die Welt der reinen Physik u. ihr Verhältnis zur Lebenswelt: ders., Phil, in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, 131 - 1 4 4 . - M a n f r e d S o m m e r , Der Alltagsbegriff in der P h ä n o m e n o l o g i e u. seine gegenwärtige Rezeption in den Sozialwiss.: Dieter Lenzen (Hg.), Pädagogik u. Alltag, Stuttgart 1980, 2 7 - 4 3 . - R o b e r t S o k o l o w s k i , E x a c t Science and the World in W h i c h We Live: S t r ö k e r (Hg.), s . u . , 9 2 - 1 0 6 . - Elisabeth S t r ö k e r (Hg.), Lebenswelt u. Wiss. in der Phil. Edmund Husserls, Frankfurt a . M . 1979. - Dies., G c s c h . u. Lebenswelt als Sinnesfundament der Wiss. in Husserls S p ä t w e r k : ebd. 1 0 7 - 1 2 3 " dies., P h ä n o m e n o l o g i s c h e Stud., Frankfurt 1987, 7 5 - 9 3 . - B e r n h a r d Waldcnfels, Phänomenologie in F r a n k r e i c h , Frankfurt a. M . 1983. Ders., In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M . 1985. - Rüdiger Welter, D e r Begriff der Lebenswelt. T h e o r i e n vortheoretischer Erfahrungswelt, M ü n c h e n 1986.

Klaus Held Lccuw, Gerardus 1. Leben

1.

van der

(1890-1950)

2. Werk und W i r k u n g

(Bibliographien/Literatur S . 6 0 2 )

Leben

Am 1 8 . 3 . 1 8 9 0 in Den H a a g geboren, promovierte G. van der Lecuw nach Studien in Leiden (W.B. Kristensen), Berlin (A. Erman, K. Sethe) und Göttingen (W. Bousset) 1916 an der theologischen Fakultät der Universität —»Leiden mit einer Abhandlung über Godsvoorstellingen in de oud-Aegyptische pyramidetexten und wirkte danach als Pfarrer in 's Hecrcnberg und als Lehrer für Hebräisch am Gymnasium in Doetinchem. 1918 an die Universität Groningen berufen, lehrte van der Leeuw dort bis zu seinem Tode Religionsgeschichte, Theologie und ägyptische Sprache und Literatur. 1 9 4 5 / 1 9 4 6 bekleidete er das Amt des Kultusministers der Niederlande. Er starb am 1 8 . 1 1 . 1 9 5 0 in Utrecht. Mit C.P. Tiele ( 1 8 3 0 - 1 9 0 2 ) , P.D. Chantepicde la Saussaye ( 1 8 4 8 - 1 9 2 0 ) , Arnold van Gennep ( 1 8 7 3 - 1 9 5 7 ) , J . de Vries ( 1 8 9 0 - 1 9 6 4 ) und C. J . Blceker ( 1 8 9 8 - 1 9 8 3 ) gehört van der Lecuw, der sich vor allem mit Rcligionsphänomenologie, religiöser Anthropologie und Musiktheologie befaßte, zu den bedeutendsten niederländischen Religionswissenschaftlern. 2. Werk und

Wirkung

Als Religionsphänomenologe ist van der Leeuw abgesehen von einer kurzen ¡nleiding tot de godsdienstgeschiedenis (Haarlem 1924, 2. überarbeitete Aufl. ebd. 1948; dt. Ausg.: Einführung in die Phänomenologie der Religion, München 1925, 2. überarbeitete Aufl. ebd. 1961) vor allem durch sein Hauptwerk Phänomenologie der Religion (1933 [ N T G ] , 2. Überarb. u. erw. Aufl. 1956, nachgedruckt 1970 u. 1977) bekannt geworden. In ihm versuchte er, ausgehend von religionsgeschichtlichen Quellen aller Zeiten und Völker „die Erscheinungen der Religion in möglichst vielfarbiger Beleuchtung in das Blickfeld zu rücken" (Vorwort 5) und die einzelnen Religionen entsprechend ihrer Auffassung des Subjekts und des Objekts der Religion sowie der Wechselwirkung beider nach Typen zu klassifizieren.

Leeuw

601

Die -»Religionsphänomenologie van der Leeuws ist global, nicht regional. Wir finden bei ihm keine Phänomenologie des Islams, des Konfuzianismus usw., sondern Typen: Religion der Ruhe, des Dranges, des Nichts u.a. In der Darstellung werden in der Tat die Gedanken Edmund -»Husserls weitergeführt, und die Ähnlichkeit mit Werner Sombart ist groß. Wie Geo Widengren gezeigt hat, ist van der Leeuw an mehreren Punkten auch von Nathan —•Söderblom abhängig. Als Ausgangspunkt seiner gesamten Darstellung der Religionsphänomenologie wählt er den unpersönlichen Machtbcgriff: „Die von der Macht erfüllten Gegenstände und Personen haben ein Wesen für sich, das wir heilig nennen" (Phänomenologie der Religion 9). Ein anderer sehr wichtiger Begriff in dieser Religionsphänomenologie ist der der Seele mit all seinen Schattierungen (ebd. 2 5 4 - 3 1 6 ) . In den r e l i g i o n s s o z i o l o g i s c h e n T e i l e n s u c h t v a n d e r L e e u w die S e k t e f o l g e n d e r m a ß e n zu b e s t i m men (was durchaus kritisiert werden kann): „Sie scheidet aus der G e m e i n s c h a f t ü b e r h a u p t aus und m a c h t die Religion zum S o n d e r z w e c k neben dem allgemeinen L e b e n s z w e c k " ( P h ä n o m e n o l o g i e der R e l i g i o n 2 4 2 ) . B e s s e r b e s t i m m t z . B . E r n s t - > T r o e l t s c h d i e S e k t e als e i n e u n m i t t e l b a r e V e r b i n d u n g , „ d i e e i n e i n n i g e , D u r c h b i l d u n g ' e r s t r e b t " ( G S I, 3 6 2 ) . Bei B e h a n d l u n g d e s —»Opfers b e h a u p t e t van d e r L e e u w s e h r r i c h t i g , d a s G a b e n o p f e r b e d e u t e kein H a n d e l m i t G o t t ( w i e es o f t h e i ß t ) , um V o r t e i l e zu g e w i n n e n , s o n d e r n e i n e V e r b i n d u n g z w i s c h e n dem G e b e r ( = dem M e n s c h e n ) und dem E m p f ä n g e r ( - dem G o t t ; ebd. .3.31-335). N o c h h e u t e ist für g e w i s s e a m e r i k a n i s c h e A n t h r o p o l o g e n d a s W o r t g a n z und g a r n a c h d e n A u s f ü h r u n g e n van d e r L e e u w s a u f g e f a ß t .

Religionsphänomenologie

Das Gebiet der religiösen Anthropologie betrat van der Leeuw erstmals mit dem französisch geschriebenen Buch La structure de la mentalité primitive (Paris 1928), das an die wenig früher erschienenen Werke L. Lévy-Bruhls ( L e s fonctions mentales dans les sociétés inférieures, 1910; La mentalité primitive, 1922 und L'âme primitive 1927) anknüpfte; 1937 folgte De primitive mensch en de religie. Anthropologische Studie (Groningen-Batavia, 2. Aufl. ebd. 1952; dt. Ausg.: Der Mensch und die Religion. Anthropologischer Versuch, Basel 1941). Von den Beiträgen van der Leeuws zur Musiktheologie sind die Abhandlungen Muziek en religie, in verband met de verhouding van woord en toon (Amsterdam 1934), Bach's Matthaeuspassion (Amsterdam 1937, 5. Aufl. ebd. 1947), Bach's Johannespassion (Amsterdam 1946) und Liturgiek (Nijkerk 1 9 4 0 , 2 . Aufl. ebd. 1946) hervorzuheben. Daneben verfaßte er zusammen mit K. Ph. Bernet Kempers die hymnologische Studie Beknopte geschiedenis van het kerklied (Groningen-Batavia 1939, 2. Aufl. ebd. 1948). Schließlich sei noch auf zwei auch ins Deutsche übertragene Werke hingewiesen, die sich keinem der drei oben genannten Bereiche unmittelbar zuordnen lassen: Wegen en grenzen. Studie over de verhouding van religie en kunst (Amsterdam 1932, erweiterte 2. Aufl. u. d. T.: Wegen en grenzen, ebd. 1948, 3., von E. L. Smelik bearbeitete und herausgegebene Aufl. u. d. T.: Wegen en grenzen. Een Studie over de verhouding van religie en kunst, ebd. 1955; dt. Ausg. der 3. Aufl. Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957) und Sacramentstheologie (Nijkerk 1949; dt. Ausg.: Sakramentales Denken. Erscheinungsformen und Wesen der außerchristlichen und christlichen Sakramente, Kassel 1959). Van der Leeuw ist ein ebenso vielseitiger wie tiefgreifender Religionsforscher und Theologe. J. Lindeboom bemerkt in seiner Einleitung zu der 1943 von W. Vos zusammengestellten Bibliographie der Schriften van der Leeuws, seine Religionsphänomenologie sei ein Standardwerk und sein Buch über Bachs Matthäuspassion habe Tausende reich gemacht (Einl. X ) . Van der Leeuw ist weltweit bekannt und bewundert. Das Vollständigste, das über van der Leeuws Hauptwerk bislang geschrieben worden ist, setzt mit diesem Urteil ein: „Wenn van der Leeuw überhaupt etwas zu lehren hat, gerade für die gegenwärtige theologische Arbeit, dann doch dies, daß die erste Tugend des Theologen die Bescheidenheit ist, das nie auslöschende Bewußtsein um die dienende Funktion seiner Wissenschaft und um die Relativität (die aber wirklich nichts mit Kraftlosigkeit zu tun hat) seiner jeweiligen theologischen Urteile" (J. Hermelink 9).

602 Bibliographien

Lehnswesen der

Schriften

Wiebe Vos, D r . G . van der Leeuw. B i b l i o g r a p h i e zijner geschriften, A r n h e m 1 9 4 3 . - D i e s . , D r . G . van der Leeuw. Bibliographie zijner geschriften: P r o R e g n o P r o S a n c t u a r i o , N i j k e r k 1950, 5 5 3 - 6 3 8 . - J a c q u e s W a a r d e n b u r g , Classical A p p r o a c h e s t o t h e Study of Religion. II Bibliography, 1974 ( R a R 4), 1 4 9 - 1 5 6 . Literatur: T h e o d o r P. van Baaren, De ethnologische basis van d e f a e n o m e n o l o g i e van G. van der L e e u w : N e d T h T 11 (1957) 3 2 1 - 3 5 3 . - J o h n B. C a r m a n , T h e T h e o l o g y of a P h e n o m e n o l o g i s t . An I n t r o d u c tion t o t h e T h e o l o g y of G e r a r d u s van der L e e u w : H D B 2 9 / 3 (1965) 13 - 4 2 . - J a m e s J . Dagenais, O n c e m o r e into the lion's m o u t h . A n o t h e r look at van d e r L e e u w ' s p h e n o m e n o l o g y of religion: F o u n d a t i o n s o f m o r a l i t y , h u m a n rights, and t h e h u m a n sciences, D o r d r e c h t 1983 (Analecta Husserliana 15), 3 1 9 - 3 2 9 . - Eugene Francis G o r s k i , C u i t - C u l t u r e . T h e T h e o l o g i c a l A n t h r o p o l o g y of G e r a r d u s van der L e e u w , Diss. theol. Paris 1971. - J. J. ten H a m , G . van d e r Leeuw. O n t w i k k e l i n g en g r o n d s t r u c t u u r van zijn theologie, Diss. theol. Utrecht 1973. - J a n H e r m e l i n k , Verstehen u. Bezeugen. Der theol. E r t r a g der „ P h ä n o m e n o l o g i e der R e l i g i o n " v. G . van d e r L e e u w , 1960 (BEvTh 30). - H u b e r t u s G . H u b b e l i n g , D a s Heilige u. d a s Schöne. G e r a r d u s van der Leeuws A n s c h a u u n g e n über das Verhältnis v. Religion u. Kunst: N Z S T h 25 (1983) 1 - 1 9 . - Ders., D e r Symbolbegriff bei G e r a r d u s van der Leeuw: N Z S T h 27 (1985) 1 0 0 - 1 1 0 . - Willem N i j e n h u i s , T h e o l o g i e en kerk te G r o n i n g e n g e d u r e n d e het Nationaal-Socialisme ( 1 9 3 3 - 1 9 4 5 ) , met b e t r e k k i n g tot d e Duitse kerkstrijd: N e d T h T 40 (1986) 1 1 2 - 1 4 2 . - H e n r i van O o r s c h o t , L ' a p p o r t de van der Leeuw à la p h é n o m é n o l o g i e de la religion, T h è s e de M a î t r i s e Université de M o n t r é a l 1974. - F o k k e Sierksma, Prof. D r . G . van der L e e u w : d i e n a a r van G o d en h o o g l e r a a r t o G r o n i n g e n , A m s t e r d a m 1951. - Ders., Van der Leeuw na 25 jaar: G . van der Leeuw h e r d a c h t . 14 N o v e m b e r 1975, G r o n i n g e n 1975, 2 - 1 2 . - J a c q u e s W a a r d e n b u r g , G e r a r d u s van der Leeuw as a T h e o l o g i a n and P h e n o m e n o l o g i s t : ders., Reflections on the Study of Religion, 1978 ( R a R 15), 1 8 7 - 2 5 3 .

A k e V. Ström Lefèvre d'Etaples -»Faber Stapulcnsis Legaten - » G e s a n d t s c h a f t s w e s e n , Päpstliches Legenda aurea - » H a g i o g r a p h i e Legende - • F o r m g e s c h i c h t e / F o r m e n k r i t i k , Lehnswesen

1. Rechtssystematische Beschreibung

Hagiographie

2. Historische E n t w i c k l u n g

(Literatur S. 607)

Sowohl im Gelehrtenstreit um d e n deutschen „ S t a a t des M i t t e l a l t e r s " als auch in der Diskussion u m d a s Verständnis von „ F e u d a l i s m u s " k o m m t d e r Institution des Lehnswesens eine zentrale Bedeutung zu. Der Feudalismusbegriff, der in der französischen Geschichtsphilosophie des 18. J h . als Verfassungsbegriff und Bezeichnung f ü r ein politisches System ( f é o d a l i t é ) aus der E r f a h r u n g des ancien régime h e r a u s z u n e h m e n d pejorativ im Sinne von A u s b e u t u n g und auf G e w a l t b e g r ü n d e t e r H e r r s c h a f t verstanden w u r d e , ist in D e u t s c h l a n d erst allmählich nach 1800 rezipiert w o r d e n . Von K. M a r x und F. Engels ( - » M a r x / M a r x i s m u s ) w u r d e er in der von d e r -»Französischen Revolution vorgeprägten negativen Bedeutung ü b e r n o m m e n u n d zur Kennzeichnung einer gesellschaftlichen u n d wirtschaftlichen F o r m a t i o n v e r w a n d t , die einer jeden Gesellschaft als ein historisches Entwickl u n g s s t a d i u m eigentümlich ist. In den deutschen Geschichts- und Sozialwissenschaften der 2. H ä l f t e des 19. u n d des beginnenden 20. J h . erscheint der Feudalismusbegriff o h n e die pejorative F ä r b u n g als Idealtypus einer Gesellschaft, die d u r c h G r u n d h e r r s c h a f t als Basis lokaler H e r r e n g e w a l t u n d die d a m i t in Z u s a m m e n h a n g stehenden Leihe- und Abhängigkeitsverhältnisse, d a s Uberwiegen p e r s ö n licher H e r r s c h a f t s f o r m e n sowie die A u s b i l d u n g eines hochqualifizierten Kriegerstandes charakterisiert ist (M. Weber; O . Hintze). D a s Lehnswesen stellt in dieser u m f a s s e n d e r e n Definition von Feudalismus lediglich einen Teilaspekt d a r . In einem engeren Sinne betrifft der T e r m i n u s „ L e h n s w e s e n " - auch in den mit d e m B e s t i m m u n g s w o r t „ f e u d a l " zusammengesetzten Begriffen (z. B. Feudaladel, -gewalten) - die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen nur, insoweit sie durch Lehnsinstitutionen b e s t i m m t sind. Im folgenden wird der Begriff in diesem Sinne als Rechts- u n d Verfassungsbegriff v e r w a n d t . Er bezeichnet also die G e s a m t h e i t der Institutionen, die sich a u s einem d u r c h b e s t i m m t e persönliche Bindungen u n d Verpflichtungen zwischen einem L e h n s m a n n (Vasallen) u n d einem Lehnsherrn b e g r ü n d e t e n u n d auf einem materiellen Substrat, d e m Lehen, b e r u h e n d e n Rechtsverhältnis herleiten.

Lehnswesen

603

l. Rechtssystematische Beschreibung Das Lehnswesen ist konstituiert durch die Koppelung eines persönlichen Elementes, der Vasallität, mit einem dinglichen Element, dem Lehen. Die Vasallität älteren Stils, die auch eine gallorömische Wurzel (vgl. Klientelwesen) hat, aber bei ihrem Erscheinen im 7. Jh. schon als ein allgemeines fränkisches Rechtsinstitut zu gelten hat, ist durch die fast unbeschränkte Verfügungsgewalt des Herrn über den Vasallen gekennzeichnet. Das verdeutlicht schon die Terminologie. Der Begriff vassus (später vasallus) wird von dem keltischen Wort *gwas = Knecht abgeleitet; andere Bezeichnungen für den Lehnsmann sind in der Frühzeit puer, gasindus. Der Begriff homo wird erst seit dem 9. Jh. im technischen Sinne für den Vasallen verwendet; miles, das wie homo natürlich auch noch andere Bedeutungen hat, hebt vor allem auf die militärische Funktion des Vasallen ab. Vassus kennzeichnet in merowingischer Zeit vorwiegend den Unfreien. Auf dieser Ebene liegt auch das Ritual, durch das sich ein Freier in die Vasallität eines anderen begibt. Er kommendiert sich ihm, indem er seine gefalteten Hände in die Hände des Herrn (dominus, später senior; frz. seigneur) legt. Diese Kommendation (immixtio mamtum, auch Handgang) ist ein alter Verkncchtungsritus. Seit dem frühen 11. Jh. wird dieser Akt auch hominitim, etwas später homagium (abgeleitet von homo), deutsch = Mannschaft, genannt. Er ist mit einer entsprechenden Willenserklärung des Vasallen verknüpft. Zur Kommendation tritt spätestens seit der Mitte des 8. Jh. der Treueid (fidelitas, auch fides; dt. Hulde) hinzu; bezeugt ist er zum ersten Mal beim Eintritt des Bayernherzogs Tassilo III. in die Vasallität König -»Pippins 757. Dieser Eid wird abgelegt auf Reliquien oder eine andere res sacra. Seine Einführung dürfte im Interesse sowohl des Herrn als auch des Vasallen gelegen haben: Dem senior garantierte er eine zusätzliche Bindung zur Kommendation, für den Vassus bedeutete er eine Hebung des Abhängigkeitsverhältnisses in die Richtung einer gegenseitigen Verpflichtung (sog. jüngere Vasallität). Die Herkunft des Treuemotivs ist in der Forschung umstritten. Der These, daß das in das Lehnswesen eingehende Element der Treue aus dem germanischen Gefolgschaftsdenken stamme, die Treuepflicht ein Spczifikum der germanischen Gefolgschaft sei (H. Mitteis; W. Schlesinger), steht die Meinung gegenüber, daß es eine spezifisch germanische Treue nicht gegeben habe, die feudale Treueauffassung eine Neuschöpfung des frühen Mittelalters und als solche wesentlich von der Kirche geprägt sei (F. Graus). Der karolingische Treuebegriff war zunächst im Kern noch negativ definiert; der Vasall verpflichtet sich, nichts zu tun, was dem Herrn schaden, sein Leben gefährden könne. Erst allmählich fand eine positive Ausgestaltung statt. Mannschaft und Treueid gehören als Huldigungsakte unbedingt zusammen; es kann als ein weiteres Element der (Lehns-) Kuß hinzutreten, der in Frankreich häufiger, in Deutschland aber selten bezeugt ist. Seit dem ausgehenden 7. Jh., deutlicher erkennbar aber seit Karl Martell (714-741), kommt der Brauch auf, die Vasallität mit der Vergabe eines Lehens, das persönliche Element also mit einem dinglichen, zu verknüpfen. Das wird schließlich die Regel; es hat freilich unbelehntc Vasallen, vassi non casati, auch noch in späterer Zeit gegeben. Auch in diesem Falle gibt die Terminologie Aufschlüsse über den Charakter der Leihe. Das Lehen wird als beneficium bezeichnet; entsprechend der Grundbedeutung des Wortes (Wohltat) handelt es sich also beim vasallitischcn Benefizium um eine Leihe zu besonders günstigen Bedingungen. Der Begriff feodtim, feuditm (auch fevttm) erscheint seit dem ausgehenden 9., beginnenden 10. Jh. im südlichen Burgund und in Südfrankreich, im Reich tauchen die ersten Belege Anfang des 11. Jh. in Lothringen auf. Das Wort wird heute zumeist abgeleitet von einem anzusetzenden fränkischen *fehu-dd, dessen erster Teil „Vieh" (got. faihti, lat. pecus) bedeutet, dessen zweiter Bestandteil öd das „Gut, Eigentum" meint; der Terminus wäre also als eine Analogiebildung zu Allod (Eigengut) zu interpretieren. Neben den Begriffen beneficium und feudum kommen auch, aber seltener und nicht in Deutschland, casamentum und tenementum, tenura vor. Die Belehnung wird entsprechend mittelalterlichem Rechtsdenken durch eine symbolische Handlung vollzogen: die Investitur (iinvestitura), bei der als Symbole z. B. Fahne (vgl. das Fahnlehen des weltlichen Reichsfür-

Lehnswesen

604

sten), Stab, Szepter (vgl. das Szcpterlehen des geistlichen Reichsfürsten nach 1122) oder Handschuh verwandt werden können. Das Lehen bleibt Eigentum des Herrn; der Vasall hat zunächst nur die Nutznießung, kann aber im Verlauf der Entwicklung die Beschränkung seiner Rechte abbauen. Das Lehnsverhältnis stellt sich demnach dar als ein in der Regel freiwilliger Vertrag. Mit zunehmender Schriftlichkeit im Rechtsverkehr wurde sein Abschluß auch beurkundet. Im 13. Jh. werden Lehnsurkunden vor allem im Westen üblich. Zu unterscheiden sind der Lehnsbrief, in dem der Lehnsherr seinem Vasallen die erfolgte Belehnung unter genauer Bezeichnung des Lehens und Umschreibung der Lehnspflichten verbrieft, und als Gegenstück der Lehnsrevers, in dem der Vasall seinerseits das Vertragsverhältnis bestätigt und die Erfüllung seiner Pflichten zusagt. Beide Seiten übernehmen mit dem Vertragsabschluß bestimmte Verpflichtungen. Der Herr hat dem Vasallen Schutz und Unterhalt zu gewähren, der Vasall Dienst zu leisten. Seit der Zeit -»Karls des Großen tritt dabei der militärische Dienst in den Vordergrund. Die Gesamtheit der mannigfachen vasallitischen Verpflichtungen wird seit dem 9. Jh. mit der Formel consiliutn atque auxilium umschrieben: Der Vasall hat dem Herrn mit „Rat und T a t " beizustehen. Aus der persönlichen Bindung und der Tatsache, daß der Vasallendienst Rechtsgrund für die Vergabe eines Lehens ist, ergeben sich bestimmte Konsequenzen. Das Vertragsverhältnis erlischt mit dem Tode des Herrn (Herrenfall) oder des Mannes (Mannfall). Bei der Neubelehnung kann der Herr eine Erbgebühr (relevium, frz. relief, auch raebat; dt. Lehnwarc) erheben. Aus der Gegenseitigkeit der Treupflicht folgt aber auch, daß jeder Seite bei Vertragsverletzung durch den Partner die Aufkündigung der Treue (diffidatio) möglich ist. Untreue im Falle des Vasallen - Felonie (seit 11. Jh.; abgeleitet von fello = Bösewicht) genannt - hat Sanktionen zur Folge. Seit dem 12. Jh. ist das System des klassischen Lehnrechts in den einzelnen Ländern aufgezeichnet worden (vgl. in Deutschland: Sachsenspiegel). Besondere Bedeutung für ganz Europa gewannen die Libri Feudoritm, die Aufzeichnung des lombardischen Lehnrcchts, die den Kaiscrgcsetzen des Corpus iuris angefügt wurden und bis weit in die Neuzeit Gegenstand gelehrter Bearbeitung blieben. 2. Historische

Entwicklung

Die Formula Turonensis 43 (ed. K. Zeumer, MGH Form. 158), die den Eintritt in die Vasallität älteren Stils beschreibt, kennzeichnet die sozial und wirtschaftlich gedrückte Stellung des vassus, der zwar seinen Rcchtsstatus als Freier betont, aber zugeben muß, daß er sich nicht selbst kleiden und ernähren kann und sich daher in die Gewalt und Munt eines anderen begeben muß. Mit der sittlichen Aufwertung durch die Treue und der materiellen Ausstattung durch das Lehen gewann die Vasallität aber sehr schnell an Anziehungskraft, z:umal sie von den Karolingern gefördert wurde. Die Auseinandersetzungen um die Macht nötigten die Hausmeier seit dem Beginn des 8. Jh., die Zahl ihrer vassi ständig zu vergrößern. In Ermangelung genügend eigenen Hausgutes und Fiskalbesitzes griffen sie auch auf Kirchengut zurück, das als Benefizium in der Form der precaria verbo regis (Landleihe auf Befehl des Königs) ausgegeben wurde. Die Kirche wurde für diese Säkularisationen durch das Anrecht auf den Neunten zusätzlich zu dem seit Pippin gesetzlich anerkannten Kirchenzehnten entschädigt (nona et deeima). Darüber hinaus bezog das Königtum seit Beginn des 9. Jh. auch die Ämter (honores) sowie die hohen geistlichen Würden in das Lehnswesen ein, wobei in der Forschung strittig ist, ob die Ämterleihe, also die Vorstellung vom Lehen an einem Recht, sich selbständig neben dem Lehen an Grund und Boden ausgebildet hat (so H. Mitteis) oder sich sekundär von der Vergabe des Amtsgutes (also z.B. der res de comitatu) zu Lehen herleitet (so F.L. Ganshof). Unter dem Aspekt der institutionellen Schwäche des frühmittelalterlichen Staates und seines Mangels an administrativen Organen kommt der Einbeziehung der Ämterorganisation in das Lehnswesen größte Bedeutung zu, da dieses hiermit entscheidende

Lehnswesen

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Funktionen des Staats- und Vcrwaltungsrechts übernahm (Funktionsersatz). Ihre Kehrseite ist freilich die Gefahr der Verselbständigung der Amtsträger, die sich in dem Maße, wie sich das Prinzip der Erblichkeit des Lehens durchsetzte, dem Zugriff der Zentralgewalt zu entziehen vermochten. Diese Entwicklung setzte bereits im 9. Jh. ein; ein Markstein ist das Kapitular von Quierzy (MGH Capit. II, Nr. 281), durch das Karl der Kahle 877 verfügte, daß das Lehen, das Amt sowohl wie das Benefizium, eines auf dem Italienzug gefallenen Königsvasallen auf dessen Sohn übergehe. Daß die Untcrvasallen, also die Vasallen der Großen, in diese Regelung einbezogen wurden, war unstreitig ein Erfolg des Kaisers, der sich damit diese Gruppe von Vasallen in der sich allmählich ausbildenden Lehnspyramide verpflichtete. Ihre Mediatisierung zu verhindern, mußte auch in Zukunft ein vordringliches Ziel der Lehnspolitik des Königtums sein. Karl hat den Bcnefizien nicht erst durch sein Kapitular erblichen Charakter verliehen, sondern durch Gesetz festgestellt, daß sie nach dem herrschenden Gewohnheitsrecht erblich seien. Im übrigen erfolgte der Erbgang nicht automatisch, sondern war an eine neue Belehnung gebunden. Im ganzen zeichnet sich im 9. Jh. im Frankenreich, vor allem im Westen, eine fortschreitende Feudalisierung in dem Sinne ab, daß die Herrenrechte am Lehen eingeschränkt wurden; symptomatisch ist dafür auch das Aufkommen der Mehrfachvasallität, für die es erste Belege gegen Ende des Jh. aus dem Westfrankenreich gibt. Die Epoche vom 10. zum 13. Jh. stellt die klassische Zeit des Lehnswesens dar. Es erfährt nun eine bedeutsame räumliche Ausweitung über die Grenzen des ehemaligen karolingischen Großreiches hinaus durch die normannische Eroberung nach England, die Reconquista nach Spanien, die Kreuzzüge in die Kreuzfahrerstaaten, und es greift auch in die slawischen Länder aus, wobei sich jeweils nationale Besonderheiten ausbilden. Die Gesamtentwicklung ist im wesentlichen von der Tendenz zur Verdinglichung bestimmt. Die Bedeutung der persönlichen Bindungen tritt zurück; nicht sie sind Rechtsgrund für den Dienst, sondern die Vergabe eines Lehens, das außer in Grundbesitz und Ämtern z. B. auch in einer regelmäßig zu zahlenden Geldsumme (feudum de bursa = Rentenlehen, Kammerlehen) bestehen konnte, ist entscheidend. Der Vasall dient vom Lehen und für das Lehen. Kennzeichnend ist dafür auch, daß seit dem 12. Jh. Mannschaft für ein bestimmtes Lehen geleistet werden kann. Daraus ergeben sich ferner eine Systematisierung und Festlegung der Vasallenpflichten, die das Verfügungsrecht des Herren weiter einschränken. Die Formel des Treueides wurde detaillierter ausgestaltet. Der Waffendienst wurde bis in die Festlegung der Dienstzeiten und Ausrüstung hinein genau geregelt. Dabei wurde — vor allem in England - auch die Ablösung des militärischen Dienstes durch eine finanzielle Leistung, das Schildgeld (scutagium), erlaubt, was die Monarchie der Plantagcnets in die Lage versetzte, Söldnertruppen aufzustellen. Schließlich wurde - wiederum in den westeuropäischen Monarchien - der Vasall in bestimmten Ausnahmefällen zu besonderen finanziellen Leistungen verpflichtet (aides féodales): Lösegeld für den gefangenen Herrn, Ritterschlag des ältesten Sohnes, Aussteuer der ältesten Tochter und Kreuzzug. Die Erblichkeit des Lehens wurde über die direkte männliche Linie hinaus auf die Töchter und die Seitenlinien ausgedehnt, was die Rcichsfiirstcn allerdings erst seit -»Friedrich I. Barbarossa durch Privilegien erreichten. Es fehlte nicht an Gegenwirkung gegen die „zentrifugalen Tendenzen" (H. Mitteis). In diesem Zusammenhang bildete sich in Frankreich um die Mitte des 11. Jh. das Institut der ligischen Treue (ligesse) aus, nach dem bei Mehrfachvasallität einem Herrn eine Vorrangstellung zukommt; ihm als dem dominus ligius schuldet der Vasall (homo ligius) vor allen anderen gegen jeden (contra otnnes universos homines) Treue. Nach H. Mitteis leitet sich das Wort von liticus, litus ab, was das Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der ursprünglichen Vasallität unterstreichen würde; die deutsche Parallele ist ledich (homo ligius = ledichman). Das englische und - weniger weitgehend - französische Königtum haben die ligesse zur Stärkung der Zentralgewalt gegenüber den Großen nutzen können, indem hier jede vasallitische Bindung den Trcuvorbehalt gegenüber dem König einschließen mußte, der König also als dominus ligius ante omnes an die Spitze der Lehnspyramide trat. Im

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Lehnswesen

Reich hat die ligesse lediglich im Westen Verbreitung gefunden; wahrscheinlich hat die Ministerialität ihre Übernahme ins deutsche Lehnrecht überflüssig gemacht, da die (unfreie) Dienstmannschaft für den König ein unbedingt verfügbares Herrschaftsinstrument darstellte. Während in England nach 1066 und in Teilen Frankreichs alles Land als im Lehnsnexus befindlich angesehen wurde (nulle terre sans seigrteur), war das deutsche Reich der Ottonen und Salier nicht so weitgehend feudalisiert; fürstlicher Allodialbesitz und in karolingischer Tradition stehendes Amtsrecht wirkten hier einer uneingeschränkten Durchsetzung des Lehnrechts entgegen. Daß die Salier sich darüber hinaus bemühten, den unmittelbaren Zugriff auf die Untervasallen nicht zu verlieren, verdeutlichen die Lehnspolitik und die -gesetzgebung Konrads II. (1037 Constitutiodefeudis für das Königreich Italien; MGH D.K.II 244 u. Const. I, Nr. 45). In der Reichskirche verfügte das Königtum über eine unbedingt zuverlässige Stütze. Gerade ihre Stellung aber hat durch den ->Investiturstreit einen entscheidenden Wandel erfahren. Im sog. ottonisch-salischen Reichskirchensystem waren die Bischöfe und Äbte Sachwalter des Königtums, Organe der königlichen Politik gewesen; seit dem Wormser Konkordat 1122 bestimmte sich ihr Verhältnis zur Zentralgewalt von lehnrechtlichen Kategorien her (Szepterlehen). Sie wurden Vasallen des Königs und traten damit in eine Interessengemeinschaft mit den weltlichen Fürsten ein. Unter den Staufern beschleunigte sich die Feudalisierung des Reiches, die mit der Entstehung des sog. jüngeren Reichsfürstenstandes und der Ausbildung der Heerschildordnung seit etwa 1180 (Prozeß gegen Heinrich den Löwen) auf den Höhepunkt gelangte. Damit waren die entscheidenden Grundlagen für die künftige Entwicklung geschaffen. Lehnrechtliches Kriterium für die Zugehörigkeit zum Reichsfürstenstand war die direkte Belehnung durch den König; der prineeps imperii war Kronvasall. Der Heerschild (clipeus militaris) bedeutete ursprünglich das Recht, Vasallen aufzubieten. Die Heerschildordnung schafft eine Lehnspyramide, die im König gipfelt. Sie umfaßt nach dem Sachsenspiegel (Ssp. LdR I 3 § 2; LeR 1) sieben Stufen, die vom König abwärts über die geistlichen und weltlichen Fürsten, die freien Herren, die Schöffenbarfreien und Vasallen der freien Herren bis zu den Mannen der Vasallen der freien Herren reicht und die siebte Stufe unbenannt läßt. Geistliche und weltliche Fürsten nehmen als Kronvasallen lehnrechtlich die gleiche Stellung ein; den weltlichen Fürsten ist aber wegen der Kirchenlehen, die sie innehaben, der dritte Schild zugewiesen. In Zukunft war der Aufstieg in den Rcichsfürstenstand nur noch auf dem Wege über die Erhebung durch den König möglich (z.B. 1184/87 Markgrafschaft Namur; 1235 Braunschweig-Lüneburg). Das Hochmittelalter hat Rechtstatsachen geschaffen, die die weitere Entwicklung wesentlich bestimmten, aber nach Einschätzung der neueren Forschung nicht zwangsläufig auf die Durchsetzung zentrifugaler Tendenzen festlegten. Die Reichslehnsverfassung enthielt durchaus Elemente, die einer Stärkung der herrschaftlichen Komponente dienlich sein konnten; viel hing ab von den weiteren politischen und sozioökonomischen Entwicklungen. -»Friedrich II. verstand die Reichsreform, von der im Privileg für Otto von Braunschweig (MGH Const. II Nr. 197) ausdrücklich die Rede ist, auch als eine Eindämmung des Verdinglichungsprozesses und Erneuerung der aus der Vasallität sich ergebenden persönlichen Bindungen. Die Zukunft mußte entscheiden, ob - ähnlich wie in Frankreich - die Aufbauarbeit der Fürsten in den Territorien über diese von der Zentralgewalt gesteuerte Ausgestaltung des Lehnrechts letztlich der Entwicklung der Staatlichkeit im Reich zugute kommen würde. Hier hat die Katastrophe des staufischen Hauses wichtige Ansätze zunichte gemacht. Offenbar konnte sich das Königtum aber auch im Spätmittelalter noch auf eine ständisch breit gefächerte Vasallenschaft stützen, und die Aufrechterhaltung des Systems lag durchaus auch im Interesse der Vasallen, da die Lehnsbindung an das Reich nicht nur dem Niederadel, sondern auch weniger mächtigen Fürsten Schutz bot gegen begehrliche Nachbarn. Größere Bedeutung als im Reich kam dem Lehnswesen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit jedoch in den Territorien zu, insofern sich die Landesherren seiner als eines Mittels zum Ausbau der Landeshoheit und eines Integra-

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t i o n s f a k t o r s zur Konsolidierung ihres L a n d e s bedienten. Die Folge w a r auch eine weitgehende territoriale Zersplitterung des Lehnrechts. Literatur Die Werke der Feudisten sind in dieses Verzeichnis nicht aufgenommen. Sie sind über die hier angegebene Literatur leicht aufzufinden. 1. Allgemeine Darstellungen: Marc Bloch, La société féodale. I La formation des liens de dépendance, II Les classes et le gouvernement des hommes, Paris 1939/40; dt.: Die Feudalgesellschaft, Frankfurt 1982. - Otto Brunner, „Feudalismus". Ein Beitr. zur Begriffsgesch.: ders., Neue Wege der Verfassungs- u. Sozialgesch., Göttingen : 1968, 128-159 = Feudalismus, s.u., 87-124. - Georg Droege, Landrecht u. Lehnrecht im hohen Mittelalter, Bonn 1969. - Feudalismus. Zehn Aufsätze. Hg. v. Heide Wunder, München 1974. - François-Louis Ganshof, Was ist das Lehnswesen? (franz. Ausg.: Qu'est-ce que la féodalité? '1944), 4. rev. dt. Aufl. Darmstadt 1975 (mit weiterer L i t . ) . - H a n s Kammler, Die Feudalmonarchien. Politische u. wirtschaftlich-soziale Faktoren ihrer Entwicklung u. Funktionsweise, Köln/Wien 1974. - Walther Kicnast, Lehnrecht u. Staatsgewalt im MA. Stud. zu dem Mitteis'schen Werk: H Z 158 (1938) 3 - 5 1 . - Heinrich Mitteis, Lehnrccht u. Staatsgewalt. Unters. zur ma. Verfassungsgesch., Weimar 1933, Neudr. Darmstadt 1958. - Ders., Der Staat des hohen MA. Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgesch. des Lehnszeitalters, Weimar 7 1972. - Paul Roth, Gesch. des Beneficialwesens v. den ältesten Zeiten bis ins 10. Jh., Erlangen 1850. - Stud. zum ma. Lehnswesen. Hg. v. Theodor Mayer, Sigmaringen 1960 (Vortr. u. Forschungen 5). 2. Einzelprobleme: Egon Boshof, Reichsfürstenstand u. Reichsreform in der Politik Friedrichs II.: Bl. f. dt. Landesgesch. 122 (1986) 41-66. - Peter Classen, Das Wormscr Konkordat in der dt. Verfassungsgesch.: Investiturstreit u. Reichsverfassung. Hg. v. Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1973 (Vortr. u. Forschungen 17), 411-460. - Marcel David, Le serment du sacre du IX e au XV* siècle, Straßburg 1951. - Bernhard Diestelkamp, Das Lehnrecht der Grafschaft Katzenelnbogen (13. Jh. bis 1479). Ein Beitr. zur Gesch. des spätma. dt. Lehnrechts, insbes. zu seiner Auseinandersetzung mit oberital. Rechtsvorstellungen, Aalen 1969 (Unters, zur Staats- u. Rechtsgesch. N.F. 11). - Ders., Lehnrecht u. spätma. Territorien: Der dt. Territorialstaat im 14. Jh. I. Hg. v. Hans Patze, Sigmaringen 1970 (Vortr. u. Forschungen 13), 65-96. - Georg Droege, Lehnrecht u. Landrecht am Niederrhein u. das Problem der Territorialbildung im 12. u. 13. Jh.: Aus Gesch. u. Landeskunde. Forschungen u. Darst. Franz Steinbach zum 65. Geburtstag gewidmet, Bonn 1960,278-307. - Gunther Engelbert, Die Erhebungen in den Reichsfürstenstand bis zum Ausgang des MA, Diss. phil. masch. Marburg 1948. - Julius Fickcr, Vom Heerschilde. Ein Beitr. zur dt. Reichs- u. Rechtsgesch., Innsbruck 1862, Nachdr. Aalen 1964. - Ders./Paul Puntschart, Vom Rcichsfürstenstande. Forschungen zur Gesch. der Reichsverfassung, zunächst im 12. u. 13. Jh., 2 Bde. in 4 T., Innsbruck 1861-1923, Nachdr. Aalen 1961. - François-Louis Ganshof, Note sur les origines de l'union du bénéfice avec la vassalité: Etudes d'histoire dédiées à la mémoire de Henri Pirenne, Brüssel 1937, 173-189. - Ders., Les relations féodo-vassaliques aux temps post-carolingiens: I problemi communi dell'Europa postcarolingia (Settimane di Studio del Ccntro Italiano di Studi sull'Alto Medioevo II, 1954), Spoleto 1955,67-114. - Ders., Note sur l'apparition du nom de l'hommage particulièrement en France: Aus MA u. Neuzeit. Gerhard Kallen zum 70. Geburtstag dargebracht. Hg. v. J. Engel/H.M. Klinkenberg, Bonn 1957,29-41. - Werner Goez, Der Leihezwang. Eine Unters, zur Gesch. des dt. Lehnrechtes, Tübingen 1962. - Dietrich Hermann Grabscheid, Die Bürgerlehen im altdt. Reichsgebiet, Diss. phil. masch. Frankfurt/M. 1957. - Frantisek Graus, Uber die sog. germanische Treue: Historia 1 (1959) 71-121. - Volker Henn, Das ligische Lehnswesen im Westen u. Nordwesten des ma. dt. Reiches, Diss. phil. Bonn, München 1970. - Karl Jordan, Das Eindringen des Lehnswesens in das Rechtsleben der röm. Kurie: AUF 12 (1931) 13-110; mit einem Nachtrag zum Neudr., Darmstadt 1971. - Walter Kienast, Untertaneneid u. Treuvorbehalt in Frankreich u. England, Weimar 1952. Ders., Die fränkische Vasallität. Von den Hausmeiern bis zu Ludwig dem Kind und Karl dem Einfältigen. Hg. v. P. Herde, Frankfurt/M. 1990. - Hans-Georg Krause, Der Sachsenspiegel u. das Problem des sog. Leihezwangs. Zugleich ein Beitr. zur Entstehung des Sachsenspiegels: ZSRG. G 93 (1976) 21 - 9 9 . - Karl-Friedrich Krieger, Die Lehnshoheit der dt. Könige im SpätMA (ca. 1200-1437), Aalen 1979 (Unters, zur dt. Staats- u. Rechtsgesch. NF 23). - Ders., Die königliche Lehngerichtsbarkeit im Zeitalter der Staufer: DA 26 (1970) 400-433. - Heinz Lieberich, Zur Feudalisierung der Gerichtsbarkeit in Bayern: ZSRG. G 71 (1954) 243-338. - Ingrid Matison, Die Lehnsexemtion des Dt. Ordens u. dessen staatsrechtliche Stellung in Preußen: DA 21 (1965) 194-248. - Carl Pöhlmann, Das ligische Lehnsverhältnis, Heidelberg 1931 (Heidelberger Rechtswiss. Abh. 13). - Ilse ScheidingWulkopf, Lehnsherrliche Beziehungen der fränkisch-dt. Könige zu anderen Staaten v. 9. bis zum Ende des 12. Jh., Marburg 1948. - Walter Schlesinger, Randbemerkungen zu drei Aufsätzen über Sippe, Gefolgschaft u. Treue: ders., Beitr. zur dt. Verfassungsgesch. des MA, Göttingen, I 1963, 286-334. - Karl-Heinz Spieß, Lehnsrecht, Lehnspolitik u. Lehnsverwaltung der Pfalzgrafen bei

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Lehre

Rhein im SpätMA, Wiesbaden 1978 (Gesch. Landeskunde 18). - Edmund Ernst Stengel, Land- u. lehnrechtliche Grundlagen des Reichsfürstenstandes: Z S R G . G 66 (1948) 2 9 4 - 3 4 2 = ders., Abh. u. Unters, zur ma. Gesch., Köln/Graz 1960, 1 3 3 - 1 7 3 . - Gerhard Theuerkauf, Land u. Lehnswesen v. 14. Jh. bis zum 16. Jh. Ein Beitr. zur Verfassung des Hochstifts Münster u. zum nordwestdt. Lehnrecht, Köln/Graz 1961 (Neue Münstersche Bcitr. zur Geschichtsforschung 7). - Ders., Das Lehnswesen in Westfalen: Westfälische Forschungen 17 (1964) 1 4 - 2 7 . - Heinz Thomas, Die lehnrechtlichen Beziehungen des Herzogtums Lothringen zum Reich v. der Mitte des 13. bis zum Ende des 14. Jh.: RhV 38 (1974) 1 6 6 - 2 0 2 . - Gisela van der Ven, Die Entwicklung der weiblichen Erbfolge im dt. Lehnrecht mit einem Exkurs über die Erbfolge v. Seitenverwandten, darg. an den Reichslehen v. 10. bis zum ausgehenden 14. Jh., Phil. Diss. masch. Marburg 1949. Egon Boshof

Lehramt -»Bischof, -»Papsttum, -»Pfarrer, -»Priester, -»Synode

Lehre 1. Die Unscharfe im Begriff der Lehre 2. Lehre, Weisheit und Doxologie 3. Die äußere Gestalt der Lehraussagen 4. Funktion und Wahrheit der Lehre 5. Kirchliche Lehre und ökumenische Einheit (Anmerkungen/Literatur S.618)

1. Die Unschärfe im Begriff der

Lehre

In der (neueren) evangelischen - » T h e o l o g i e sind Sinn, S t r u k t u r und F u n k t i o n christlicher bzw. kirchlicher L e h r e sowie die V e r h ä l t n i s b e s t i m m u n g von Zeugnis, B e k e n n t n i s , C r e d o , - » D o g m a , kirchlicher Lehre und wissenschaftlicher T h e o l o g i e nur spärlich zum Gegenstand tiefergreifender Analysen g e m a c h t w o r d e n . D i e neuesten Untersuchungen zeichnen sich zumeist durch die B e m ü h u n g aus, in die vielfältigen Verwendungen des Begriffs der Lehre eine O r d n u n g zu bringen, k a n n man d o c h „ L e h r e " nahezu beliebig an einem b e s t i m m t e n historisch fixierten Verständnis f e s t m a c h e n , um von daher die N a c h barbegriffc zu b e s t i m m e n , etwa an der Lehre und Predigt J e s u , der Lehre der Apostel, der altkirchlichen Konzilien, der päpstlichen D e k r e t e , der r e f o r m a t o r i s c h e n pura doctrina, der öffentlichen L e h r e gegenüber subjektiver F r ö m m i g k e i t (z. B. J . S . - » S e m l e r ) oder der heute bei der —»Ordination genannten B e k e n n t n i s g r u n d l a g e n usw. B e m e r k e n s w e r t ist j e d o c h , d a ß auch die heutigen B e m ü h u n g e n um Präzision des Begriffs der Lehre erst durch (individuelle) t h e o l o g i s c h e E n t s c h e i d u n g möglich werden. Zu den neuesten Bemühungen um eine Klärung des Begriffs und der Funktion von Lehre sowie ihrer Zuordnung zu -»Glaube, Bekenntnis und Theologie gehören die Arbeiten von H.-G. Geyer, W. Huber, A. Peters, J . Baur, E. Hcrms und 1. U. Dalfcrth; auch verwandte Analysen von G. Sauter und W. Härle. Sie sind weitgehend auf die deutschsprachige Universitätstheologie bezogen und nehmen kaum Bezug auf Arbeiten ökumenischer Gremien, etwa Verbindliches Lehren der Kirche heute der Faith and Order-Konsultation (Odessa 1977) sowie die diese interpretierenden Berichte des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses (im folgenden zit. als DÖSTA-Studie) mit zahlreichen gelehrten Analysen aus verschiedenen Konfessionen, z.B. Anton Houtepen, „,Lehrautorität' in der ökumenischen Diskussison" (ebd. 1 2 0 - 2 0 8 ) . Nach den älteren Arbeiten von E. Wolf und G. Ebeling und den §§ 1 und 2 in O. Webers Dogmatik hat heute George A. Lindbeck (The Nature of Doctrine) eine Diskussion prinzipieller Art ausgelöst; vgl. jetzt auch W. Pannenbergs Systematische Theologie (I, Kap. 1) und, für einen breiteren Leserkreis bestimmt, Was gilt in der Kirche? Die Verantwortung für Verkündigung und verbindliche Lehre in der Lvangelischen Kirche, hg. v. Ausschuß der Arnoldshainer Konferenz (1985) sowie H. Brandt (Hg.), Kirchliches Lehren in ökumenischer Verpflichtung. Der katholische Autor H. J . Urban bietet die einzige Gesamtdarstellung der deutschsprachigen evangelischen Positionen in der großen Arbeit Bekenntnis, Dogma, kirchliches Lehramt. Die römisch-katholische Position ist hilfreich summiert von K. Rahner (SMF.[D]) sowie von W. Beinert. 1.1. D i e Behebung der Unschärfe des Begriffs ist d u r c h e t y m o l o g i s c h e Herleitung der W o r t e „ L e h r e " , dogma, doctrina usw. freilich nicht m ö g l i c h . Allenfalls illustriert die B e a c h t u n g der G e s c h i c h t e dieser Begriffe den B e d e u t u n g s w a n d e l ihrer Verwendung in der

Lehre

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Kirche seit dem 1. Jh. Auch die hinter der christlichen Verwendung liegenden Begriffe der balacha (gegenüber der haggada), des platonischen dogma als einer Meinung (die, wenn in der Gemeinschaft konsensfähig geworden, zum Gesetz wird), und überhaupt die Differenz zwischen Philosophie (Lehre) und Rhetorik (Predigt bei den Christen) geben einigen Aufschluß über die Verortung der Funktion von Lehre in der christlichen -»Kirche. 1 Die Beobachtung der faktischen Verwendung des Wortes Lehre im Deutschen zeigt die ungemeine Breite auf, die das Wort in mindestens drei Bedeutungen haben kann: a) als Vermittlung des Wissens, der Weisheit und des Vorbildes eines einzelnen Lehrers an andere, b) als Feld der Verortung eines Themas oder Problems in einem größeren Themen- und Sinnzusammenhang, c) als der von einer Gruppe mit einem Anspruch auf Verbindlichkeit hochgehaltene Aussagekomplex. (Das deutsche Wort Lehre deckt also etwa die englischen Begriffe teaching, discipline und doctrine ab.) Uns gilt hier vor allem c) als Thema: die kirchlich verbindliche Lehre zu diesem oder jenem Thema sowie in ihrer Gesamtheit. 1.2. Die Polarisierung von Verkündigung und Lehre, in deren Bann viele (evangelische) Publikationen stehen, kann als ein Erbe des theologischen Liberalismus verstanden werden. Für die Reformatoren wäre sie nicht nachvollziehbar gewesen, denn ihnen war diese Differenzierung zwischen Wort Gottes und reiner Lehre fremd. Erst nach der Aufklärung - und vor der heutigen Sprachphilosophie — konnte die Klage über die lehrhafte Versprachlichung des Evangeliums Platz finden und notwendig erscheinen. Als typisch für diese Polarisierung kann B u l t m a n n s Unterscheidung zwischen - » V e r k ü n d i g u n g und Lehre ( G u V 1, 2 1954) und C . H . Dodds (später jedoch z u r ü c k g e n o m m e n e ) Differenzierung zwischen Kijpvyfta und SiSaxi) gelten. Die neutestamentlichen T e x t e geben letztlich diese klare Begrifflichkeit nicht her, zumindest läßt sich nicht sagen, die Predigt sei vor allem „ n a c h a u ß e n " gerichtet, die L e h r e (und napaK^rjat^) an den inneren Kreis der G l ä u b i g e n , wie D o d d es zunächst sehen wollte (vgl. J . M c D o n a l d , Kcrygma und D i d a c h c , C a m b r i d g e 1980). W ä h r e n d Soyfia und ¿öyfiara lange zur Kennzeichnung der Schulmeinungen von Philosophen und Irrlehrern und wohl erst von -»Basilius von Caesarea im O s t e n und von Vinzenz von Lerins im Westen für christliche Lehrinhalte verwendet wurde, w a r doctrina zumindest mittelbar auf die Predigt bezogen, so bei Augustin, ähnlich und typisch in den reformatorischen Bekenntnisschriften.

Die Polarisierung von Verkündigung und Lehre operiert mit dem Unterschied zwischen Geschehen und Repetition, als sei das eine opus dei, das andere opus hominum im Verhältnis des Lebendigen zum Abbild, des Echten zum Duplikat. Dahinter steht ein Begriff von Offenbarung, der sich gegen die Wiederholung der Versprachlichung (bzw. der Verschriftlichung zur Instruktion abwesender Leser) zu sträuben scheint. Dies ist jedoch eine Aufgliederung, die sich weder an den (biblischen) Texten noch an der inneren Logik der Versprachlichung festmachen läßt, geht es doch in jedem Fall um das interpersonale Geschehen der sprachlichen Kommunikation von Menschen untereinander. Damit ist auch der Gcschehenscharakter des Wiedererkennens einer wiederholten sprachlichen Artikulation keineswegs ausgeschlossen. Heute, im „postliberalen Zeitalter" (Lindbeck), können wir weder die rcformatorische Ineinssetzung von Gottes Wort und Lehre noch die aufklärerisch-liberale Diastase ungeniert nachvollziehen, wiewohl sie in den Gegenüberstellungen von Glaube und Wissen, Geschehen und Reflexion, Glaubensgrund und Glaubensartikel, Evangelium und Explikation sich ständig wieder bemerkbar machen möchte. 1.3. Die Klage über die Dürre der Lehre konzentriert sich im allgemeinen Urteil in der Kirche auf die Wortlehre im Unterschied zur Vielfalt anderer möglicher Darstellungen des Glaubens im persönlichen Zeugnis bis hin zum Martyrium, in Bildern, Bauten und Musik, d.h. also in überzeugenden und kreativen Verbindungen von Wort und Tat, Aussage und Lebensvollzug. Aber die trockene Explikation beschreibt nicht zureichend die kirchliche Lehre, wie H.-G. Geyer (Thesen) mit Recht betont; das Syntaktisch-Semantische bedarf der rhetorischen Ergänzung, der pragmatischen Dimension also. Nach Paulus ist die Lehre ein -»Charisma, nicht eine von der Rezeption unabhängige intellektuelle

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Lehre

Übung. Nur wenn die Lehre ihre kommunikative und semiotische Dimension verraten hat, besteht die Klage über die Dürre und praktische Irrelevanz der Lehre zu Recht. Hier ist auch der Ort der protestantischen Kritik an der klassisch römisch-katholischen Konzeption vom depositum fidei, das ohne Rücksicht auf die Rezipienten aus sich selbst heraus definiert und in der potestas magisterii (freilich unter Zuhilfenahme der hierarchischen Struktur und der Ämter in der Kirche) verfüg- und verteilbar wird. So jedenfalls sieht es die konsequente Kritik, die jedoch zumindest seit dem Vatikanum II differenziert werden müßte. Beide, evangelische und katholische kirchliche Lehre sind in der Tat gegenüber der Kritik des Verlustes der semiotisch-kommunikativen Dimension verwundbar. Die Gründe für diese Tendenz sind vielfältig und nur z.T. theologischer Art; sie sind soziologisch und sprachphilosophisch aus der inneren Entwicklung der Institution der Kirche weitgehend erklärbar. Die Gemeinden haben für diese Gefahr ein empfindliches Gespür und kritisieren Lehre oft als unkonkret und wenig hilfreich; akademische Theologie spricht an dieser Stelle vom unguten Vorrang des Seienden vor dem Geschehenden, oder - weniger glücklich - von der Differenz zwischen Explikation und Evangelium. Es fragt sich aber, ob Worilehre gegenüber anderen Darstellungen des Glaubens und vor allem gegenüber der konkreten -»Predigt dieses Gefälle zur Preisgabe des interpersonalen Geschehens haben muß. Jüdische Lehre jedenfalls hat dieses Gefälle nicht. W ä h r e n d der - » M i d r a s c h vom einzelnen Schriftwort ausgeht und die Applikation dazu bietet, geht der - » T a l m u d von H a l a c h a - S ä t z e n aus ( - » H a l a c h a ) lind sucht nach Begründungen in der Schrift. Allerdings w a r dabei die Autoritär des einzelnen Lehrers g r o ß , duldete jedoch auch G e g e n a u t o r i t ä t e n und w a r nur über kurze Z e i t in der Spätantike durch die Institution eines zentralen Lehrgremiums ersetzt bzw. überhöht. Hier wird das Problem der Einheit bzw. der Universalisierbarkeit von Lehre s i c h t b a r , das in der christlichen Lehre schon lange vor der Institutionalisierung des Lehramtes zum T h e m a wurde. Die auf der Polarisierung von -»Verkündigung und Lehre basierende Kritik m ü ß t e dann am Konzept der Einheit der Lehre ansetzen, nicht notwendig am P h ä n o m e n der Lehre als solcher.

Die Unscharfe im (evangelischen) Verständnis von Lehre verbindet sich mit der Klage über die Dürre und Irrelevanz von Lehre in ihrer verzerrten Form auf dem Hintergrund der problematischen Typisierung von Verkündigung und Lehre auf wenig glückliche Weise. 2. Lehre,

Weisheit und

Doxologie

Die Unterscheidung und Zuordnung von Lehre, -»Weisheit und Doxologie in der Tradition der (Juden und) Christen verspricht größeren kognitiven Gewinn als die bislang genannten Polarisierungen. Dabei gilt es, den Prozeß der Vcrsprachlichung als eines kommunikativen Geschehens an Form, Funktion, innerer Logik und intendierter Rezeption der biblischen und nachkanonischen Texte sowie heutiger Äußerungen zu beobachten. Die Analyse - hier nur skizziert - muß den impliziten Fragen nach dem Was, dem Wie und dem Wozu der untersuchten Sätze nachgehen (vgl. G. Wainwright; D. Ritsehl; G. Lindbeck). 2.1. Lehre und Weisheit sind sowohl in der hebräischen Bibel als im Neuen Testament und sodann freilich in den altkirchlichen Texten reichlich vorhanden. In einer ersten Bestimmung kann Lehre als deduktiv, Weisheit als induktiv vorgehend verstanden werden. Im Vollzug des Sortierens von Erfahrungen und Texten will Lehre Erkenntnis summieren und ihre Folgen aufzeigen („daher ..."-Sätze im Alten und Neuen Testament), will Inhalte weitergeben (nicht notwendig in der Absicht, zeitlos Gültiges zu sagen), will Voraussetzungen aufzeigen und Begründungen liefern (nicht notwendig als Beweis für Ungläubige) und will zeigen, daß ein roter Faden durch die Fülle oder die Gesamtheit der rezipierten Zeugnisse und Texte läuft (nicht notwendig in der Absicht, ein System zu konstruieren). Dabei verläßt sich Lehre auf die Möglichkeit, Ableitungen aus Grunderfahrungen und -Zeugnissen zu ziehen und mehrere solche Ableitungen zu kombinieren

Lehre

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(s.u. 2.3), also deduktiv vorzugehen. Je nach der beabsichtigten (u.U. auch unbeabsichtigten) Rezeption kann Lehre als Klärung, Ermahnung, Korrektur und durchaus auch als Verkündigung wirken. Während Lehre ihre Legitimation in Sätzen hat, sich von dorther begründet bzw. Erfahrungen in Sätze faßt, die Ableitungen und Begründungsschlüsse erlauben, weist Weisheit auf eine Rechtfertigung außerhalb ihrer selbst. Weisheit setzt Kontexte und implizite Wahrheiten voraus, die nicht Gegenstand ihrer Explikation werden. Sie zielt auf den Segen des gelingenden Lebens hin sowohl im Hinblick auf Mitmenschen als auf Gott. Während Lehre als ihr Gegenstück die Irrlehre hat, sie abwehrt und ersetzt, hat die Weisheit ihren Gegenpol in der Abwesenheit ihrer selbst, der Torheit, durch fehlende Weisheit. Während Lehre in der Gestalt von Sätzen zu Konklusionen führen will, bleiben große Anteile der Weisheit übersprachlich und laden zu einer Haltung bzw. Perspektive ein, die nicht in der Sprache aufgeht. Ihre verbalen Maximen sind Anstöße zur Integration von Erinnerung und Erwartung, nicht Teile von möglichen Argumentationsketten. Solche ersten Bestimmungen von Lehre und Weisheit zeigen schon die Differenz, aber auch die gegenseitige Bedingtheit an. Weder die alttestamentlichen Weisheitsschriften noch die weisheitlichen Stellen in den Evangelien und den Briefen des Neuen Testaments sind ohne den Hintergrund rezipierter Lehre und Tradition denkbar; andererseits bedarf die Weisheit auch der kritischen Befragung durch die Anwendung lehrhafter Sätze, wodurch die Lehre die Weisheit zur Sprache bringt. Die Schriften der Alten Kirchc illustrieren diese V e r s c h r ä n k u n g deutlich. N o c h w a r T h e o l o g i e hier sapientia, w i e w o h l Lehre d i r e k t als O f f e n b a r u n g v e r s t a n d e n w e r d e n k o n n t e u n d die Entscheid u n g von - » N i c a e a (325), auch späterer Konzilien, als inspiriert angesehen w u r d e . A b e r erst d a s Verständnis der T h e o l o g i e als scientia e r l a u b t e der lateinischen Scholastik die Zielsetzung der D a r stellung d e r Lehre als G a n z e s ; die Weisheit w u r d e Teil der Lehre b z w . w a n d e r t e in den Bereich der Spiritualität und M e d i t a t i o n a b (vgl. W. Losskys Kritik an der g e h e i m n i s d u r c h d r i n g e n d e n Gotteslehre des Westens: Schau G o t t e s , Z ü r i c h 1964). - Auch im H i n b l i k auf heutige westliche T h e o l o g i e ist die Frage a n g e b r a c h t , o b die B e m ü h u n g u m den F.rweis der Wissenschaftlichkeit nicht besser auf Aspekte der T h e o l o g i e b e s c h r ä n k t w ü r d e ; d a s Eigentliche der T h e o l o g i e sei Weisheit, die A u f n a h m e von G o t t e s Lebensweisheit f ü r d a s Leben der M e n s c h e n (vgl. D. Ritschi, Z u r Logik III F). Parallelen zur sog. a n t h r o p o l o g i s c h e n Medizin (Richard Siebeck; Viktor v. Weizsäcker u. a.; heute Peter H a h n , Ärztliche P r o p ä d e u t i k , Berlin u. a. 1988) sind aufschlußreich, weil a u c h hier W i s s e n s c h a f t u n d Lehre im Dienst der Weisheit für gelingendes Leben steht und nicht d a s Ziel in sich selbst ist.

2.2. Lehre und Doxologie sind zunächst dadurch unterschieden, daß Lehre in deskriptiver, -»Gebet und Lobpreis in askriptiver Sprache vorgetragen werden. Die Differenz ist nicht nur im Hinblick auf die Verifikation des Gesagten (s.u. 4.2), sondern auch auf die Ableitbarkeit vom Gesagten wichtig. Es fragt sich nämlich, ob von doxologischen Aussagen lehrhafte Sätze abgeleitet werden dürfen, bzw. was die Folge ist, wenn dies geschieht. Umgekehrt ist aber die Ableitung von Doxologie aus erzählenden und lehrhaften Sätzen ein häufiger Vorgang im Alten und Neuen Testament sowie in der Alten Kirche. Allerdings ist die Beobachtung wichtig, daß in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments sowie in den Psalmen Aussagen lehrhafter Gestalt nicht selten Gott in Form der Anrede, sozusagen als Geschenk, zugesprochen werden. Das ist auch bis zu einem gewissen Grad in der Alten Kirche noch der Fall. Nicht nur wurden die Kurzformen der Dogmen in der Gestalt von Credos im Gottesdienst benutzt, sondern sie waren teilweise auch als Anrede an Gott konzipiert, also doxologisch intendiert. Diese Einsicht - von der klassischen protestantischen Dogmengeschichtsschreibung vernachlässigt - illustriert, wie fließend die Übergänge zwischen Lehre und -»Liturgie bzw. Doxologie sind. Freilich muß auch festgestellt werden, daß sich die Dogmcnbildung nach dem Konzil von Konstantinopel (381) zunehmend von der Rückbindung an den doxologischen Kontext entfernt hat. Immerhin gibt aber zu denken, daß bis heute die Gläubigen in den Kirchen der -»Orthodoxie die Lehre fast ausschließlich in Gestalt der gefeierten Liturgie aufnehmen. Auf evangelischer Seite ist die B e o b a c h t u n g der d o x o l o g i s c h e n P r ä g u n g der D o g m e n z u n ä c h s t von E. Schlink (Die S t r u k t u r der d o g m . Aussage als ö k u m . P r o b l e m : K u D 3 [1957] 2 5 1 - 3 0 6 ) , s o d a n n

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von W. Pannenberg (Analogie u. Doxologie: FS E. Schlink, 1963 = ders., Grundfragen syst. Theologie, Göttingen 1967, 1 8 1 - 2 0 1 ) und D. Ritsehl (Memory and Hope, New York 1967, 8 9 - 9 6 , 166 - 223; ders., Zur Logik, 1984) sowie programmatisch von G . Wainwright (Doxologie, 1980) thematisiert worden. Vgl. Teresa Berger, Die Struktur der dogmatischen Aussage - weiterhin ein ökumenisches Problem: Una Sancta 2(1986) 1 2 2 - 1 2 9 ; dies., Theologie in Hymnen? Zum Verhältnis v. Theol. u. D o x o l o g i e . . . , Altenberge 1989; die Zuordnung der lex credendi zur lex orandi sieht T. Berger mit Wainwright in der Dominanz der Doxologie vor der Theologie (Lehre). In der Tat stellt sich das Problem, ob als ursprünglich (biblische) Reihenfolge: Ereignis (bzw. Erfahrung) - Reflexion - Doxologie, anzusehen sei (Ritsehl), oder: Ereignis (bzw. Erfahrung) - Doxologie - Reflexion (Wainwright). Vielleicht liegen beide Sequenzen vor.

2.3. Die Deduktion und der Zweck als Merkmale der Lehre drängen sich auf. Das Argument verläuft so: Grundlegend kennzeichnend für Judentum und Christentum ist der Rückbezug auf Texte und Daten der Geschichte, die ihrerseits im Licht der erwarteten Erfüllung in der Zukunft gelesen und gedeutet werden. Der Bezug auf die Geschichte (in Erinnerung und Hoffnung) ist gott-bezogen und ist Implikat der Glaubensaussagen. Die Aussageweisen decken die ganze Breite von deskriptiver Sprache (erzählten Geschichten, berichteten Daten, Listen usw.) zu askriptiver Anrede (im Gebet, in Doxologien) bis hin zu performativer Sprache ab. Die Frage nach eindeutigen Grundfiguren in dieser Fülle oder nach dem Vorrang der einen Aussageweise vor der anderen läßt sich - zumindest im Hinblick auf die Bibel - nur unter der Gefahr willkürlicher Vereinfachung beantworten. Grundfiguren sind jedenfalls nicht einfach „Verkündigung" oder „Lehre", eher schon das („stories"; James Barr; D. Ritsehl; S. Hauerwas u.a.) und Erzählen von Geschichten Gebete bzw. doxologische Sprache. Wichtig ist, daß sämtliche biblische Aussageweisen schon vor der Verschriftlichung - ein Zitieren, ein Parallelisieren (mit Ähnlichem) und vor allem ein Summieren erlauben. Die Gründe dafür mögen sehr verschiedener Art sein und können am Einzeltext separat eruiert werden. Was immer in den Zitaten, Parallelen und Zusammenfassungen geschieht: es ermöglicht Erinnerung und Wiederholung. Wichtig ist dabei die Beachtung des Ortes, an dem dies geschieht, etwa das Fest in Israel oder in der christlichen Kirche, der Kultus also, oder der öffentliche Diskurs (mit anwesenden Hörern), das schriftliche Dokument (für abwesende Leser) usw. Solche Zitierungen und Summicrungen erlauben Ableitungen, z.B. Sätze über das „Kreuz" oder auch „Blut" als Ableitung aus der Passionsgeschichte. In den biblischen Texten selbst, erst recht in der späteren Kirche, finden sich zahlreiche Ableitungen von Ableitungen, die ihrerseits miteinander parallelisiert und verknüpft werden. Einige von ihnen erreichen einen solchen Grad von Autonomie, daß ihre Herkunft nicht mehr offensichtlich ist (in der klassischen Trinitätslehre und Christologie oder in der Prädestinationslehre etwa). Dieser Vorgang ist - bona fide interpretiert - unvermeidbar, weil er eine Reaktion auf faktisch entstehende Fragen und Probleme ist, die jedoch in späterer Zeit so nicht mehr deutlich sein mögen. Lehre — so lautet jetzt die These - entsteht also da, wo Ableitungen (oder Ableitungen von Ableitungen) aus Grundfiguren der Glaubensaussagen (seien sie erzählend, poetisch, doxologisch) miteinander verknüpft werden. Eine derart entstandene (und für Spätere nachvollziehbare) Aussagefigur ist das, was christliche oder kirchliche Lehre kennzeichnet. Dabei gilt es aber zu beachten, daß a) im Grenzfall auch einfache, unverknüpfte Aussagen als Lehre gegolten und gewirkt haben, b) verschiedene Gründe für die Verknüpfung vorliegen können (nicht notwendig „Explikation" und „Reflexion") und c) bei einer Verknüpfung von Ableitungen nicht notwendig Lehre entstehen muß, denn auf diese Weise entstehen auch (fixierte und damit wiederholbare) Liturgien 2 sowie (unwiederholte) Predigten. Die Deduktion von Grundaussagen ist also nicht nur kennzeichnend für die Genese von Lehre, sie ist aber - von der Ausnahme des einfachen, lehrhaften Hinweises abgesehen - ein notwendiges Merkmal. Dazu kommt die Zielsetzung der Rezeption in der anund auch abwesenden Gemeinde, der kommunalen Akzeptanz also, denn Lehre wird erst wirklich im -»Lernen. Freilich kann man (z.B. mit W. Huber, Spannung zw. Glauben u. Lehre 222 ff) fragen, ob nicht bei

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d e r L e h r e notwendig ein Vorrang des Seienden vor dem Geschehenden entstünde, die fides quae also vor der fides qua (das zu G l a u b e n d e vor dem vertrauensvollen, persönlichen G l a u b e n , der fiducia) rangiere. Ähnlich betont E . H e r m s (Lehre im Leben der K i r c h e 2 0 2 f f ) das G e s c h e h e n als zentrale K a t e g o r i e des reformatorischen Offenbarungsverständnisses, das die M ö g l i c h k e i t eines Tradierens ausschließt (224). D e m Bezeugen der Offenbarung k ä m e eine Vorrangstellung gegenüber der lehrmäßigen Explikation und Wiederholung zu, wiewohl H e r m s mittels des Begriffs der „Selbstkonkretisier u n g " darlegt, d a ß sich das Erste im M e d i u m des Z w e i t e n darstellt (Einigkeit 58 ff). - Die Besorgnis um einen Vorrang des Seienden vor dem Geschehenden t r ä f e zu, wenn der Lehrinhalt als das zu G l a u b e n d e definiert würde, was in allen Konfessionen als T e n d e n z besteht und in den o r t h o d o x e n Kirchen im Hinblick auf die D o g m e n als P r o g r a m m gilt (vgl. D Ö S T A - S t u d i c lOff, sowie A. Kallis, ebd. 4 3 - 5 8 ; s . u . 3 . 2 ) .

3. Die äußere Gestalt der

Lehraussagen

Beachten wir die Unterscheidung und Verbindung zwischen Lehre und Weisheit, Lehre und Doxologie und klammern wir die lehrhafte Ausstrahlung von Kunstwerken und Musik in nichtverbaler Gestalt zunächst aus, so lassen sich die für christliche Lehre typischen Formen benennen. Aufbauend auf den Grundfiguren des Hörens und Wiedererzählens der (in Erinnerung und Hoffnung gott-bezogenen) Geschichte(n) sowie der persönlichen Beteiligung der Gläubigen an der Doxologie, haben sich in der Kirche anders als im Judentum - drei Formen der verbalen, lehrhaften Äußerung entwickelt: das Credo (-»Glaubensbekenntnis), das -»Dogma und die theologische bzw. die kirchliche Lehre. A u f die Diskussion um die Entstehung altkirchlicher Lehre ( M . Werner, Die Entstehung des christl. D o g m a s , 1 9 5 9 , d a z u M . Geiger, F. Flückiger u . a . ; sodann M . W i l c s , T h e M a k i n g o f Christian D o c t r i n c , C a m b r i d g e 1967 u. ders. T h e R e m a k i n g o f Christian D o c t r i n e , L o n d o n 1974) kann hier nur generell verwiesen werden ( - » G l a u b e n s b e k e n n t n i s s e V - V I I I , - » D o g m a ) . Einlinige Begründungen zur Erklärung der Dogmenbildung (als Konzentrat von Lehre) werden heute kaum mehr vertreten. Konsensfähig erscheint W. Hubers (Spannung 2 2 9 ff) Auflistung von G r ü n d e n für die Entstehung von Lehre: a) als A n t w o r t auf F.rkenntnisfragen, b) aus der N o t w e n d i g k e i t der Abgrenzung gegen andere Positionen, c) als W a h r n e h m u n g der Aufgabe der Vermittlung des G l a u b e n s - und zwar alle drei G r ü n d e in gegenseitiger Verschränkung.

3.1. Die frühesten (Tau(-)Bekenntnisse zeichnen sich durch äußerste Dichte und Kürze aus. Sic haben sich aus Christus-Prädikationen entwickelt, wenn auch die heutige Forschung die frühere Vorstellung einer graduellen Satzvermehrung eines Urcredos so nicht mehr aufrecht erhalten will. Vielmehr gab es in verschiedenen Territorien „private" und quasi-offizielle Credo-Formulierungen, die so lange als orthodox galten, als sie bestimmte Stichwörter enthielten bzw. erklärten. Das legt den Gedanken nahe, es könne von einer Wirkung impliziter Lehrinhalte gesprochen werden, die sich in dieser oder jener Gestalt explizit artikuliert haben (ähnlich den in den Schriften des Neuen Testaments impliziten Christologien, die später explizit wurden bzw. als Optionen entfielen). Die altkirchlichen Credos streben eine Summierung des Glaubens an. Sie sind kommunale Summierungen im Hinblick auf das persönliche Einstehen der Gläubigen für deren Wahrheit. 3.2. Dogmen hingegen betreffen thematisch eingrenzbare Glaubcnsinhalte. Sie sind mit Konzentraten von Gesprächsprotokollen vergleichbar, die sich auf gewesenen Diskurs beziehen und zukünftigen erleichtern und steuern helfen sollen. Sie regeln den Dialog (G. Sauter u.a.), weisen dadurch auf die Einheit der Kirche und laden zum Konsens über die Wahrheit ein. Sie sind erst im Verlauf ihrer Rezeption und in Verfremdung ihrer ursprünglichen Funktion zu Glaubensgegenständen geworden, und zwar in ungebrochener Weise in der ostkirchlichen Orthodoxie im Hinblick auf die Dogmen der sieben ökumenischen Konzilien (-»Synoden), in der römisch-katholischen Kirche in gebrochener bzw. qualifizierter Weise bis heute. Ähnlich wie die frühen Symbole (anders jedoch das -»Athanasianische Symbol) weisen auch die frühen Dogmenbildungen noch deutlich die Prägung durch askriptive Sprache auf (zur doxologischen Funktion s.o. 2.2). 3.3. Kirchliche Lehräußerungen im weiteren Sinn (regula veritatis oder fidei in der

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Lehre

Alten Kirche, vgl. -»Glaubensbekenntnisse V, spätere Lehrbriefe sowie mittelalterliche Glaubensbekenntnisse aus Anlaß bestimmter Konflikte, themenspezifische Bekenntnistexte der —» Lateransynoden usw.) lassen die Rückbindung der Lehre an die Doxologie immer weniger erkennen. Sie nehmen an Länge immer mehr zu, bis sie im Reformationsjahrhundert mit der Confessio Augustana und den ihr folgenden lutherischen und reformierten -*Bekenntnisschriften eine durchschnittliche Länge von einigen Dutzend Druckseiten erlangten, die im 16. Jh. und später modellhaft wirkte. Nun werden nicht mehr einzelne Themen behandelt, sondern es wird eine „Summe" im consensus de doctrina angestrebt, nicht etwa die Darlegung einer „Mitte" des Evangeliums, von der aus alle anderen Fragen sich wie von selbst lösen könnten. Das erklärt sich bei der CA aus der apologetisch-ökumenischen Intention und insgesamt bei den Bekenntnisschriften des Reformationsjahrhunderts aus der Zielsetzung, zum Verständnis der Heiligen Schrift anzuleiten. So verstand auch - » C a l v i n den Z w e c k seiner Institutio als Anleitung zum Lesen der Bibel; darum mußten alle T h e m e n behandelt werden. - Ecva M a r t i k a i n e n hat aufzuzeigen versucht, auch Luther h a b e in seinem Lehrbegriff ein S u m m e n - M o d e l l verfolgt, nicht eine übergeschichtliche „ M i t t e " des Wortes G o t t e s aufzeigen wollen. S o müßten auch die Bekenntnisschriften verstanden und die F u n k tion der - » L e u e n b e r g e r K o n k o r d i e a l s lehrmäßiger A n s t o ß zum kontinuierlichen Lehrgespräch gesehen werden, weil jeder Lehrpunkt - nach dem S u m m e n - M o d e l l verstanden - erweiterungsfähig und aktualisierbar ist.

Ähnlich folgen neuere Bekenntnisschriften (vgl. H.-G. Link [Hg.], Apostolic Faith Today, Genf 1985; L. Vischer [Hg.], Reformiertes Zeugnis heute, Neukirchen 1988) dem Muster der sich als „Summe" verstehenden reformatorischen Bekenntnisschriften. Hingegen sind Enzykliken der Päpste sowie Konzilsentscheidungen (—»Synoden, -»Tridentinum, -»Vatikanum I und II) wiederum thcmenspezifisch angelegt, ähnlich wie Denkschriften der EKD und anderer Großkirchen. Die Barmer T h e o l o g i s c h e Erklärung n i m m t , äußerlich gesehen, wegen ihrer Kürze und dem Verzicht auf eine G l a u b e n s s u m m i e r u n g eine Sonderstellung ein, ist jedoch nach 1945 in viele G r u n d ordnungen evangelischer Kirchen wie eine Bekenntnisschrift a u f g e n o m m e n w o r d e n , auch in die Sammlung verbindlicher Bekenntnisse der Presbyterian C h u r c h in den USA sowie der H e r v o r m d e Kerk in den Niederlanden. Zu B a r m e n vgl. E . W o l f , B a r m e n , M ü n c h e n 1957; A. B u r g s m ü l l e r / R . Weth (Hg.), Die B a r m e r T h e o ! . Erklärung, Neukirchen 1983 2 1 9 8 4 ; W. H u b e r , Folgen chrisrl. Freiheit, Neukirchen 1983 2 1 9 8 5 .

Theologische Lehren stehen den bisher genannten, auf engem schriftlichem Raum dargebotenen Lehraussagen insofern gegenüber, als sie zunächst als Werk einzelner Autoren verstanden werden wollen, die zwar einflußreich sein mögen, nicht aber von vornherein auf Verbindlichkeit angelegt sind. Zu ihnen gehören durchaus auch die mündlichen Darbietungen in Gemeinden, Lehrstätten und in den öffentlichen Medien. Nur selten hat ein Corpus von Lehrschriften eines einzelnen Autors einen Rang von Verbindlichkeit in den Kirchen erlangt, der sich dem Rang der bisher genannten Texte nähert; am ehesten wird man an -»Johannes von Damaskus in den (chalcedonensischen) -»Orthodoxen Kirchen, an -»Thomas von Aquino in neuerer römisch-katholischer Kirche (offiziell seit 1879, CIC, c. 1366, §2) und an M. -»Luther in Teilen der evangelisch-lutherischen Kirchen sowie evtl. an John -»Wesley in den -»Methodistischen Kirchen denken können. 3.4. Die Beziehung der Lehraussagen zueinander. Wenn scharfe Grenzziehungen auch schwer möglich sind, wird doch (z.B. mit E. Herms, Lehre 195ff) zwischen Gattungen von Lehre bzw. funktionsverschiedenen Grundformen, sodann überhaupt zwischen Bekenntnis und kirchlicher Lehre sinnvoll unterschieden werden müssen. Ob diese Unterscheidungen zur Differenzierung zwischen Glaubenskonsens und Lehrkonsens führen, müßte eigens diskutiert werden. I . U . Dalferth ( l l O f f ) macht diese Unterscheidung davon abhängig, d a ß man den L e h r k o n s e n s kennen k a n n , weil er das Glaubenswissen betrifft, während die Kenntnis des G l a u b e n s k o n s e n s e s nur denen möglich ist, die a m Glaubensleben partizipieren. Diese Schichtung kehrt in Dalferths Unter-

Lehre

615

Scheidung zwischen kirchlicher und wissenschaftlicher T h e o l o g i e wieder ( a . a . O . 119f), w o b e i die kirchliche T h e o l o g i e d e m Konsens ü b e r d a s G l a u b e n s w i s s e n n a c h s p ü r t u n d in der D o g m a t i k zur G l a u b e n s l e h r e wird ( a . a . O . 123), die den L e h r z u s a m m e n h a n g nicht n u r in regulativen, s o n d e r n in w a h r h e i t s f ä h i g e n Sätzen mit d e m Ziel k o n s e n s f ä h i g e r Lösungen f ü r die G e m e i n d e bearbeitet, w ä h rend die wissenschaftliche T h e o l o g i e unter a n d e r e m ein K o n t a k t i n s t r u m e n t d e r Kirche mit der Welt ist (ebd. 120). H i e r entsteht die Frage, o b es sich bei diesen unterschiedenen Aktivitäten a u c h u m unterschiedliche Personenkreise wird h a n d e l n müssen.

Zweifellos erheischt Zeugnis und Bekenntnis persönliche A k z e p t a n z und N a c h f o l g e , w ä h r e n d D o g m e n zur Ü b e r p r ü f u n g und W e i t e r f ü h r u n g des Diskurses, aus d e m sie erwachsen sind, einladen. Kirchliche Lehren hingegen (repräsentiert e t w a in Enzykliken, Konzilsentscheidungen, reformatorischen Bekenntnisschriften) sind reflexive und explikative Erinnerungen der Gläubigen an den G r u n d ihres G l a u b e n s in F o r m d e r Darstellung der U b e r p r ü f u n g ihrer eigenen Schriftgemäßheit. O b Theologie n u n in doppelter Aufgab e n w a h r n e h m u n g verstanden werden soll - als kirchliche Explikation und wissenschaftliche P r ü f u n g des W i s s e n s z u s a m m e n h a n g s , in dem sie ihr Wahrheitsbewußtsein artikuliert - in jedem Fall ü b e r p r ü f t sie die Bedingungen, unter denen Zeugnis und Bekenntnis zu verstehen und unter denen D o g m e n formuliert w o r d e n sind, sie p r ü f t also die Ermöglichung früherer und jetziger K o m m u n i k a t i o n im Dialog derer, die über „gott-bezogene Geschichte(n)" sprechen (s.o. 2.3) und aus d e m G l a u b e n heraus handeln wollen. Die Frage, o b die als „regulative S ä t z e " f u n k t i o n i e r e n d e n sprachlich expliziten D o g m e n u n d Lehrsätze durch vorsprachliche, implizite A x i o m e gesteuert sind (D. Ritsehl, Z u r Logik I H ) u n d o b solche p r ä v e r b a l e n Steuerungen ü b e r h a u p t c r u i e r b a r u n d s o d a n n f ü r die I n t e r p r e t a t i o n der Lehren nützlich seien, wird gegenwärtig diskutiert (vgl. W. H u b e r u . a . [Hg.], Implizite A x i o m e , 1990; u . a . von M . Welker, Implizite A x i o m e [ebd. 3 0 - 3 8 ) ; H . G . Ulrich, Regeln im Reden von G o t t [ebd. 151 - 1 7 4 ] ; E. Arens, Implizite A x i o m e a u s der Sicht einer theol. H a n d l u n g s t h e o r i e [ebd. 1 8 4 - 2 0 7 ] ; Stephen Sykes, „Essence of C h r i s t i a n i t y " versus „Implicit A x i o m s " [ebd. 2 6 3 - 2 7 6 ] ; W. S p a r n , Implizite A x i o m e u. impliziter G l a u b e [ebd. 3 2 6 - 3 3 7 ] ; kritisch K. Berger [ebd. 2 2 9 - 2 4 5 ] ) . Die Folgen k ö n n t e n f ü r ö k u m e n i s c h e Konscnsfindung relevant sein. Die Diskussion steht im Z u s a m m e n h a n g mit neuerlichen Analysen der F u n k t i o n von E r f a h r u n g in der T h e o l o g i e , a u c h mit der a m e r i k a nischen Rezeption von G. A. Lindbccks The Nature of Doctrine. Lindbeck versteht die Lehrsätze der Kirche als Sprachrcgcln u n d sieht (zunächst) von der Frage nach ihrer Wahrheit a b .

4. Funktion

und Wahrheit

der

Lehre

4.1. Die Funktion der Lehre wird gemeinhin als Soll-Vorstellung vorgetragen, die tatsächliche W i r k u n g der als verbindlich statuierten Lehre überläßt m a n letztlich gern der Analyse der Soziologen. Praktisch f a ß b a r bleibt oft n u r das Bestreben, die Z u s t i m m u n g zur Lehre zumindest für die kirchlichen Amtsträger verbindlich zu m a c h e n , w o d u r c h ein erheblicher Teil der theologischen Begründung der N o t w e n d i g k e i t der Lehre f ü r die Gläubigen nachträglich geopfert wird. Der Antimodernisteneid von 1910 sowie die 1989 aufs neue geforderten Versicherungen der Z u s t i m m u n g zur Lehre in der römisch-katholischen Kirchc sind n u r die krassere Form der auch in anderen Konfessionen praktizierten Verpflichtungen auf die a n e r k a n n t e Lehre. Die Frage, wozu die Kirche Lehre b r a u c h t , ist damit n u r vordergründig b e a n t w o r t e t . Der Vorschlag, die Lehre sei nötig a) zur Unterweisung des Gewissens, b) zum Bezeugen, w a s Kirche zur Kirche m a c h t , und c) sie setze Theologie v o r a u s und verpflichte zu ihr (G. Ebeling, Wort G o t t e s u. kirchl. Lehre 173 f), steht deutlich im reformatorischen Erbe, befriedigt aber wenig, zumal diese A u f g a b e n auch der Predigt zugewiesen werden k ö n n e n . Eher schon sind H i n w e i s e auf die E r h a l t u n g der zeitlichen Kontinuität der Kirche hilfreich: E r i n n e r u n g u n d H o f f n u n g als die D i m e n sionen der gott-bezogenen Interpretation der Geschichte und der jeweiligen Situation und Aufgabe der Gläubigen nötigen zur Frage nach der Wahrheit des Geschenks des Glaubens, nach dem Konsens über das Erleben u n d Verstehen des Evangeliums und nach dem Sinn des Lebens in unserer Welt. Lehre koaguliert im Fluß ihrer historischen Entwicklung aus b e n e n n b a r e n G r ü n d e n und konkretisiert bzw. s u m m i e r t sich in den oben g e n a n n t e n A u s s a g e f o r m e n . So läßt sich

616

Lehre

die Entstehung von Konfessionen erklären (außer an E. Troeltsch ist hier an H. Richard Niebuhr, The Social Sources of Denominationalism, 1929, und die ihm nachfolgenden religions-soziologischen Autoren zu erinnern). Lehre hat kirchen- und konfessionsbewahrenden Charakter; wenn die Kirche als creatura verbi auch nur mittelbar durch die Lehre konstituiert ist, so markiert doch die Lehre ihre Identität. Sie ordnet das in der Kirche Gelehrte und grenzt es ab. Diese Aufgabe (-»Lehrverpflichtung) wird sich nach protestantischem Verständnis, in dem sich die Lehre ständig selbst korrigiert und überholt, nie im Letztbezug auf Bekenntnisschriften oder Normen durchführen lassen. 3 Vgl. dazu u. a. W. Spam, Evangelium und Norm. Uber die Perfektibilität des Bekenntnisses in den reformatorischen Kirchen (EvTh 40 [1980] 4 9 4 - 5 1 6 ) und W. Huber, Die Schwierigkeit evangelischer Lchrbeanstandung (ebd. 5 1 7 - 3 6 ) sowie W. Härle, Lehre und Lehrbeanstandung (ZEvKR 30 [1985] 2 8 3 - 3 1 7 ) . - Die Wahrnehmung des protestantischen Lehramtes in Predigt, wissenschaftlicher Theologie und Diskurs über den Lehrkonsens unterscheidet sich vom römisch-katholischen Lehramt nicht durch den prinzipiellen Bezug auf die Gesamtheit der Gläubigen (das ist auch katholische Lehre), sondern durch die Ablehnung der rechtlichen Fassung der Lehrsätze. Anders liegen die Verhältnisse in der -»Anglikanischen Kirche, wo im Book of Canons 1603/04 und später Zusätze zum historischen kanonischen Recht formuliert wurden und bis heute - nach Revisionen und Ergänzungen - gelten.

4.2. Der Erweis der Wahrheit der Lehre geschieht - der Soll-Vorstellung nach in allen christlichen Kirchen - durch den theologischen Aufweis der Schriftgemäßheit, im Letzten aber durch den Diskurs über den Konsens im Leben der Kirche in all seinen Dimensionen. Dieser letzte Aufweis ist gemeint, wenn vom Heiligen Geist als dem Lehrer gesprochen wird. Der direkte Anspruch auf die Wahrheit partikularer kirchlicher Lehren grenzt angesichts der deutlichen Lehrdifferenzen in der Ökumene nicht selten ans Lächerliche oder legt die Vermutung nahe, es sei ein Wahrheitsverständnis gemeint, das der Mehrheit der Menschen unbekannt ist. Die Legitimation von Ableitungen aus Grundaussagen (s.o. 2.3) liegt diesem Problem zugrunde. Tatsächlich ist die Unterscheidung zwischen den wenigen notwendigen bzw. zwingenden und den zahlreichen möglichen Ableitungen aus biblischen Texten oder anderen Obersätzen offensichtlich die Erklärung für die Entstehung der Lehrdifferenzen. Das ist ökumenisch von großer Bedeutung. Die einzelnen Konfessionen können sich nicht - wie es protestantischerseits üblich war - gegenseitig vorwerfen, sie hätten die Nachfrage nach der biblischen Begründung ihrer Positionen unterlassen. Nahezu alle zentralen und auch kirchentrennenden Positionen in den Kirchen der -»Ökumene lassen sich auch biblisch ableiten. Wenn Dogmatik nicht nur die „zu einer gegebenen Zeit geltende Lehre" darlegt (Schleiermacher), sondern nach der Wahrheit der Lehre fragt, so stellt sich die Frage nach dem ihr Vorgegebenen (-»Dogmatik 1,4), vorlctztlich dem Dogma und letztlich dem Zeugnis des Wortes Gottes. Vom Zeugnis wird zu Recht erwartet, daß es wahr ist, wenn auch der Satz gilt: „Das wahre Zeugnis wahrt den Unterschied zur Wahrheit, die es bezeugt" (Geyer, Überlegungen 46). Die Darstellung des Glaubens in Rede und Handlung - auch in den biblischen Schriften - ist nicht das Dargestellte, das göttliche Geschenk des Glaubens selber, betont reformatorische Theologie. Das gilt erst recht für die klassischen Dogmen der Alten Kirche. Dogmen müssen daraufhin getestet werden, ob sie damals und heute adäquat das Verständnis der Wahrheit fördern und die Zusammenhänge mit anderen Themen und Daten des Glaubens aufzuzeigen vermögen. Ist schon das Zeugnis nicht identisch mit dem Bezeugten, so sind Dogmen in ihrem Kondensatcharakter noch indirekter Ausdruck der Wahrheit, auf die sie weisen. Das gilt auch für kirchliche Lehre im Sinn der Dogmatik selber, obwohl sie durch breite Explikation die Kondensate der Dogmen rückübersetzt und auf heutige Fragen hin ummünzt. In einem engen Sinn verstand E. Wolf (341) kirchliche Lehre (Dogmatik) in zustimmender Aufnahme von O. Weber (Dogmatik 1,55) als „wesenhaft unschöpferisch", weil sie auf das Vorgegebensein des Dogmas, „im eigentlichen Sinn auf das Wort G o t t e s " , von dem „das Dogma Zeugnis

Lehre

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ablegt", bezogen sei. Es muß aber gefragt werden, ob hier nicht ein zu statisches Dogmenverständnis vorausgesetzt ist, das Wolf so nicht intendieren konnte. Die Alte Kirche wußte von der Oberbietbarkeit der Dogmen, und noch T h o m a s v. Aquin hat die historische Bedingtheit und damit Wandelbarkeit von Dogmen erkannt und zugelassen (S. th. 11/2 q . l a7). Anders freilich urteilte das Vatikanum I, das Dogmen als „autoritative, unfehlbare Verkündigung des Wortes Gottes durch die Kirche" (bei Rahner/Lehmann: MySal 1,652) verstand. Dies gilt erst recht für die Orthodoxen Kirchen, denen die Dogmen als unwandelbare Gefäße göttlicher Wahrheit, die absolute Gültigkeit besitzen, gelten (vgl. J . N . Karmiris; vgl. zum Ganzen auch A. Houtepen: DÖSTA-Studie 120-208 [dort Lit.]). Die außerhalb Europas üblichen konfessionellen theologischen Hochschulen (Seminaries) illustrieren die Ambivalenz der Position hiesiger Autoren (von E. Wolf bis I. U. Dalferth) in ihrer an sich verständlichen Forderung nach „kirchlicher Theologie". Durch das Selbstverständnis der Dogmatik als Explikation der Dogmen und (konfessionell bestimmten) Lehren erhält das zu Erklärende erneut einen unflexiblen Eigenwert, der dem ökumenischen Diskurs und der Eröffnung neuer Einsichten abträglich sein kann. (Vgl. zu den öffentlichen Darstellungen der Theologie in Universität, Kirche u. Gesellschaft David Tracy, The Analogical Imagination, Christian Theology and the Culture of Pluralism, New York 1981.)

Obwohl uns das Dargestellte, die Wahrheit, nur in der Darstellung zugänglich ist (in „irdenen Gefäßen", vgl. II Kor 4,7), die Darstellung aber auf den Wahrheitsgehalt ihrer Sätze geprüft werden muß, ist die grundsätzliche These sinnvoll, Lehren sollten daraufhin befragt werden, ob sie hilfreich seien (Kritik, bei Dalferth 103.105) zur Erkenntnis der Weisheit und Wahrheit Gottes. 4 5. Kirchliche Lehre und ökumenische

Einheit

Die Aufgliederung wahrheitsfähiger Sätze in der klassisch katholischen Dogmatik (geoffenbarte Glaubenssätze, katholische Wahrheiten, sententiae proximae, opiniones toleratae usw.) betrifft die Relation von Sätzen zum Sein der Wahrheit. Tiefergreifend ist die Lehre von einer „Hierarchie der Wahrheiten" innerhalb der katholischen Lehre, wie sie das Vatikanum II (im Anschluß an Y. Congar 5 ) lehrte. Sie ist auch von evangelischer Seite her aufgenommen worden (E. Schlink u. a.), womit der Wortterror der immer feineren Verästelungen im Lehrgefüge sinnvoll relativiert werden kann. In ähnlicher Absicht wird wissenschaftstheorctisch von unterschiedlicher Reichweite von (Lehr-)Sätzen gesprochen. Die großen Fragen um die theologische Bewältigung der Lehrdifferenzen zwischen den Kirchen der Ökumene bedürfen tiefergreifender Entscheidungen, die über Strukturbcobachtungen weit hinausgehen: 5.1. Gibt es eine theologisch geforderte Selbstrelativierung der Lehre aus der Einsicht, daß die Wahrheit Gottes in keiner Theologie aufgeht, ohne in einen Neutralismus gegenüber den Lehrdifferenzen zu verfallen (das „pietistische" Modell)? 5.2. Ist die Tendenz zur Identifizierung von Lehraussagen mit Gottes Wahrheit in der römisch-katholischen Lehrauffassung größer als in anderen Traditionen? Dies ist die Frage nach der Berechtigung der klassisch protestantischen Kritik (E. Herms), die auch in der Konzeption der Hierarchie der Wahrheiten eine Öffnung zu dieser Identifizierung sieht und damit noch die heutige katholische Lehrauffassung im Licht des Vatikanum I versteht. Entfällt dadurch für evangelische Theologie die Unterscheidung zwischen fundamentalen und nicht-fundamentalen Lehraussagen? 5.3. Wie kann die protestantische These, Offenbarung (opus dei) sei nicht tradierbar (opus hominum), sprachphilosophisch gerechtfertigt werden, da auch die Selbstoffenbarung Gottes im M o d u s der Versprachlichung verstanden werden muß? Zweifellos überschreitet Lehre nicht die Grenzen der Sprache, aber wird dann das Kerygma der Zeitlosigkeit zugeordnet und letztlich der Versprachlichung enthoben? 5.4. Ist die herkömmliche (aristotelische) Seinslogik, in der wahre und falsche Sätze in Kontradiktion verharren, die Logik zukünftigen ökumenischen Diskurses oder ist eine das Seinsdenken sprengende Argumentationsweise denkbar und praktizierbar? So könn-

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Lehre

ten sich die Konfessionen selbst relativieren und Hinweise auf ein neues, Drittes werden (z.B. H. Fries/K. Rahner) 6 . 5.5. Ist die Verbindlichkeit der Lehre allein durch die Produzenten der Lehre (magisteriutn) oder auch durch die Rezipienten bewirkt und somit offen für eine kommunikationstheoretische, theologische Bestimmung des Zusammenhangs zwischen Lehre und -•Lernen auch im Hinblick auf Werk und Wirkung des Heiligen Geistes? 5.6. Bedeutet die Öffnung für Selbstkorrcktur und Perfektionierbarkeit von Lehraussagen auch die Bereitschaft zur Verneinung früherer Lehren bzw. Lehrverurteilungen? (Z.B. K. Lehmann/W. Pannenberg.) 7 5.7. Welche Korrekturen und neuen Impulse kann euro-amerikanische Theologie aus den Kirchen Afrikas und Asiens für Verständnis und Funktion von kirchlicher bzw. theologischer Lehre erhalten? Wissen sich diese Kirchen vielleicht mehr von der Erfahrung des gemeinsamen Lernens getragen als abendländische? Liegt der Konflikt mit der offiziellen Lehre in Kirchen Lateinamerikas vielleicht auch hier begründet?8 Das Verständnis der Kirche als „Lerngemeinschaft" (L. Vischer: „gemeinsam Christus lernen") überhöht jedenfalls abendländische, theologische Unterscheidungen. Anmerkungen 1

2 3

4

5 6

1

8

Vgl. C . N . C o c h r a n e , Christianity and Classical Culture, O x f o r d 1940 4 1 9 6 1 , sowie Eric O s b o r n , T h e Beginning o f Christian Philosophy, C a m b r i d g e 1981. Vgl. Gregory D i x , T h e Shape o f Liturgy, L o n d o n 1945 1 2 1 9 7 8 . Hier sind vor allem die beiden reichhaltigen Aufsätze von J ö r g B a u r zu nennen, Lehre, Irrlehre, Lehrzucht: ders., Einsicht und G l a u b e , Göttingen 1978, 2 2 1 - 2 4 8 und Freiheit und Bindung, Z u r Frage der Verbindlichkeit kirchlicher Lehre, ebd. 2 4 9 - 2 6 8 . Vgl. W. Pannenberg, Systematische T h e o l o g i e , G ö t t i n g e n , 1 1988, Kap. I „ D i e Wahrheit der christlichen Lehre als T h e m a der systematischen T h e o l o g i e " , sowie Hugh O . J o n e s , Die Logik theologischer Perspektiven. Eine sprachanalytische Untersuchung, Göttingen 1985. Vgl. William H e n n , T h e Hierarchy o f Truths according to Y v e s C o n g a r , R o m 1987. Der sog. Fries-Rahner-Plan wurde von E . H e r m s kritisch k o m m e n t i e r t : Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen, Göttingen 1984; ders., Ö k u m e n e im Z e i c h e n der Glaubensfreiheit. Bedenken anläßlich des Buches von H . Fries/K. R a h n e r . . . : U n a Sancta 3 9 (1984) 1 7 8 - 2 0 0 . Kritisch zu E . H e r m s schreibt Heribert R ü c k e r , Der k o n t r a d i k t o r i s c h e Widerspruch und die Einigung der Kirchen: Ö R 2 (1985) 1 7 1 - 1 8 3 . K. Lehmann/W. Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen - kirchcntrennend? Bd. I, Rechtfertigung, S a k r a m e n t e und A m t im Zeitalter der R e f o r m a t i o n und heute, Freiburg/Göttingen 1986. Vgl. die Publikationen von Paulo Freire, z . B . Pädagogik der Unterdrückten, Freiburg (Schweiz)/Münster/Reinbek b. H a m b u r g 2 1 9 7 4 sowie H . - J . Venetz/H. Vorgrimler (Hg.), Das Lehramt der Kirche und der Schrei der A r m e n , Freiburg (Schweiz)/Münster 1985.

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Lehrerausbildung

621

(1988) 71 - 7 8 . - Emilianos Timiades, Consensus in the Formulation of Doctrine: G O T R 25 (1980) 21-35. - Thomas F. Torrance, „The Substance of Faith". A Clarification of the Concept in the Church of Scotland: SJTh 36 (1983) 327-338. - Hans-Jörg Urban, Amt, Lehrautorität u. Lehramt der Kirche in der Sicht luth.-konfessioneller Theol. heute: Cath(M) 26 (1972) 273-308. - Ders., Bekenntnis, Dogma, kirchl. Lehramt, Wiesbaden 1972. - Hermann-Josef Venetz/Herbert Vorgrimler (Hg.), Das Lehramt der Kirche u. der Schrei der Armen, Freiburg (Schweiz)/Münster 1985. Verbindliches Lehren der Kirche heute, hg.v. DÖSTA, Frankfurt a . M . 1978 ( = ÖR.B 33 [1978]). Verbindlichkeit im Glauben: Glaube u. Lernen 3 (1988) H . 2 (Themah.), 94-168. - Willem A. Visser't Hooft, Lehrer u. Lehramt der Kirche, Frankfurt a. M. 1986. - Gerhard Voss, Gemeinsam den Glauben bekennen: US 40 (1985) 2 - 1 4 . - Geoffrey Wainwright, Doxology. The Praise of God in Worship, Doctrine and Life, New York 1980, Kap. VI-VIII. - Was gilt in der Kirche? Veröffentlichung aus der Amoldshainer Konferenz, Neukirchen-Vluyn 1985. - Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Neukirchen, 11955, § 1. - Ulrich Wickert, Art. Dogma I: TRE 9 (1982) 2 6 - 3 4 . - Wie lehrt die Kirche heute verbindlich? Eine Stud. der Kommission f. Glauben u. Kirchenverfassung: ÖR 25 (1976) 527-547. - Georg Wobbermin, Der gemeinsame Glaubensbesitz der christl. Kirchen, Tübingen 1918. - Ernst Wolf, Bekenntnis u. Lehre: EvTh 19 (1959) 330-342. Dietrich Ritsehl Lehrerausbildung 1. Lehrerberuf und Lehrerausbildung 2. Traditionslinien der Lehrerausbildung: Zur Geschichte der Ausbildung der Gymnasial- und der Volksschullehrer 3. Pädagogische Akademie und Pädagogische Hochschule 4. Lehrerausbildung für die berufsbildenden Schulen 5. Die gegenwärtige Organisation der Lehrerausbildung 6. Offene Fragen für die Zukunft (Literatur S. 626)

1. Lehrerberuf und

Lehrerausbildung

In d e m M a ß e , in d e m im P r o z e ß d e r F o r m i e r u n g d e r m o d e r n e n G e s e l l s c h a f t e n f o r m a l e Q u a l i f i k a t i o n e n z u r u n a b d i n g b a r e n V o r a u s s e t z u n g f ü r berufliche A l l o k a t i o n u n d ö k o n o mischen E r f o l g w u r d e n u n d d a s —»Schulwesen institutionell die R e p r o d u k t i o n d e r Gesells c h a f t zu g a r a n t i e r e n b e g a n n , ist d i e T ä t i g k e i t des Lehrers zu einem d e r sozial b e s o n d e r s wichtigen Berufe a v a n c i e r t . An d e n v e r s c h i e d e n e n S c h u l f o r m e n d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d u n t e r r i c h t e n derzeit e t w a eine h a l b e M i l l i o n L e h r e r i n n e n u n d L e h r e r (1986: 495200). In d e n m o d e r n e n G e s e l l s c h a f t e n ist f ü r n a h e z u jeden M e n s c h e n m i n d e s t e n s ein J a h r z e h n t f ü r schulische L e r n p r o z e s s e reserviert. Parallel z u r D u r c h s e t z u n g d e r U n t c r richtspflicht u n d s p ä t e r d e r Schulpflicht h a t d e r Beruf des L e h r e r s einen im sozialhistorischen Vergleich seltenen A u f s t i e g erlebt. L a n g e Z e i t n u r als N e b e n b e r u f o d e r , i n s b e s o n d e re von T h e o l o g e n bis z u m A n t r i t t d e r ersten Pfarrstelle, als Ü b e r b r ü c k u n g s b e r u f a u s g e ü b t , im E l e m c n t a r s c h u l w e s c n s o g a r als eher k ü m m e r l i c h e r B r o t e r w e r b v o n a r b e i t s l o s e n H a n d w e r k e r n , „ist d e r L e h r e r b e r u f zu einem g e a c h t e t e n u n d e i n t r ä g l i c h e n L e b e n s b e r u f g e w o r d e n " ( S c h w a n k e 11), d e r sich seit d e m 19. J h . in allen S c h u l a r t e n i m m e r s t ä r k e r anderen akademischen Professionen angenähert hat. Der in diesem Aufstieg sich w i d e r s p i e g e l n d e n gesellschaftlichen u n d politischen Bed e u t u n g des L e h r e r b e r u f s e n t s p r e c h e n d , h a b e n d i e staatlichen I n s t a n z e n bis in u n s e r e T a g e k o n t i n u i e r l i c h ihre K o n t r o l l e ü b e r die A u s ü b u n g des L e h r e r b e r u f s u n d die Ausbild u n g d e r L e h r e r nicht a u s d e r H a n d g e g e b e n . Die A u s b i l d u n g d e r L e h r e r ist s o seit d e n A n f ä n g e n professionellen U n t e r r i c h t e n s u n d S c h u l e h a l t e n s (vgl. Petrat) G e g e n s t a n d k o n fluierender politischer u n d sozialer Interessen u n d , in d e r e n K o n s e q u e n z , s t ä n d i g e r R e f o r m e n geblieben. Selbst w e n n es hinsichtlich d e r N o t w e n d i g k e i t des w i s s e n s c h a f t l i c h a k a d e m i s c h e n C h a r a k t e r s d e r A u s b i l d u n g d e r L e h r e r aller S c h u l a r t e n s p ä t e s t e n s seit d e n siebziger J a h r e n dieses J a h r h u n d e r t s in d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d k e i n e n Dissens m e h r gibt, sind die F r a g e n n a c h K o n z e p t i o n u n d G r u n d s t r u k t u r d e r L e h r e r a u s b i l d u n g keinesfalls z u r R u h e g e k o m m e n . D a s A u f g a b e n f e l d d e r L e h r e r a u s b i l d u n g erweist sich als eine „ R e f o r m o h n e E n d e " ( E n d e r w i t z ) , a u s w e l c h e m Blickwinkel m a n sich i h m a u c h z u w e n d e t , sei es a u s h i s t o r i s c h e r , institutioneller, v e r b a n d s p o l i t i s c h e r o d e r e r z i e h u n g s w i s s e n s c h a f t l i c h e r u n d h o c h s c h u l d i d a k t i s c h e r Sicht ( B e c k m a n n , Z u r L e h r e r [ a u s ] b i l d u n g 175 f).

622

Lehrerausbildung

2. Traditionslinien der Lehrerausbildung: nasial- und der Volksschullehrer

Zur Geschichte

der Ausbildung

der

Gym-

Bis in die Gegenwart hinein lassen sich die verschiedenartigen historischen Wurzeln der Ausbildung für das Lehramt an öffentlichen Schulen nachweisen (vgl. Reble; Wehle). Trotz der inzwischen herbeigeführten weitgehenden Integration der Ausbildungsgänge für alle Lehrämter ist der paradigmatische Charakter der Tradition der Ausbildung der Gymnasiallehrer nicht zu übersehen, die seit ihrer Einführung im 19. Jh. in der beamtenrechtlichen Berufshierarchic hochstehend und voll szientifiziert war. Bis in unsere Tage hat sich, trotz gegenläufiger Tendenzen bei der Verwirklichung des Stufenlehrerprinzips, etwa in den Lchrerbildungsgesetzen der Bundesländer Hamburg und Nordrhein-Westfalen, der privilegierte Status des Gymnasiallehrers erhalten (vgl. Händle). Der für die Geschichte der Gymnasiallehrerausbildung kennzeichnende Grundkonflikt zwischen „Pädagogisierung" und „Philologisierung" (vgl. Keck), zwischen primär berufsfeldbezogener und schwerpunktmäßig fachwissenschaftlich orientierter Professionalisierung, ist bis heute nicht eindeutig entschieden und vom Ausbildungsgang für das sogenannte höhere Lehramt in die übrige Lehrerausbildung übernommen worden. Den wenigen im 18. Jh. entwickelten Ansätzen einer pädagogischen Ausbildung (z.B. dem von A. H. —•Francke 1707 in Halle gegründeten Seminarium selectum praeeeptorum oder dem bis 1812 an der Schule zum Grauen Kloster in Berlin bestehenden Gymnasiallehrerseminar) war ein dauerhafter Erfolg nicht beschieden. Als entscheidend für die Zukunft des Berufs der „Schulmänner" erwiesen sich die Form des Seminarium philologicum (vgl. Tütken) und das im Rahmen der Humboldt-Süvernschen Universitäts- und Schulreform ergangene Edikt vom 12.7.1810 über das Examen pro facúltate docendi sowie das erneuerte Abiturreglcmcnt vom 25.6.1812 (vgl. Jeismann; Herrlitz). Die Zweiteilung zwischen wissenschaftlichem Fachstudium an der Universität und praktischer Anleitung für die pädagogisch-unterrichtlichen Aufgaben wurde die vorherrschende Form der gymnasialen Lehrerausbildung, wobei in Preußen seit 1826 das sogenannte „Probejahr" an der Schule und seit dem Ende des 19. Jh. Gymnasialseminare in größerer Zahl eingeführt wurden. Die heute in allen Ländern der Bundesrepublik geläufige Gliederung der Gymnasiallehrcrausbildung in zwei Hauptabschnitte, das mindestens achtsemestrige Hochschulstudium und die zweijährige Ausbildung in selbständigen Studienseminaren unter Aufsicht der staatlichen Schulverwaltung, geht auf die 1925 von Heinrich Weinstock gegründeten Rheinischen Bezirksseminarc zurück (vgl. Apel). Gegenüber der nach der preußischen Universitätsreform von 1812 eindeutig wissenschaftsorientierten Gymnasiallehrerausbildung war und blieb die Ausbildung zum Lehrer für die Elementar- bzw. Volksschulen bis ins 20. Jh. eine „praktische" Ausbildung. Soweit für diese Lehrertätigkeit bis lange ins 19. Jh. hinein von einer Berufsausbildung überhaupt die Rede sein konnte, bestand diese vor allem in der Aneignung der Elementarkenntnisse, wie sie in den niederen Schulen zu vermitteln waren. Dies geschah in der Regel in quasi handwerklichem Erlernen einfachster Methoden des Untcrrichtcns und der Zucht in einer Art Lehrverhältnis bei einem Schulmeister. Erst mit der preußischen Seminarreform seit 1806 kam es zu einer standardisierten, anstaltsmäßigen Ausbildung der Volksschullehrer in „Seminarien", die aber ausdrücklich keine wissenschaftliche Vorbildung der Lehrer zur Aufgabe hatten (vgl. Beckedorff 107ff). Abgesehen von einer kurzen Blüte im Vormärz, entwickelte sich eine professionelle Ausbildung der Volksschullehrer nur äußerst langsam. Die Lehrer auf dem Lande besaßen häufig keinerlei spezielle Ausbildung (Thiele 175). Seit der Zeit des Vormärz blieb allerdings die Forderung nach der universitären Ausbildung der Lehrer aller Schultypen lebendig (vgl. -»Diesterweg). Unter der geistigen Führung von Seminardirektoren wie W. Harnisch und F. A. Diesterweg gelangte die Institution des Lehrerseminars durchaus schon auf den Weg zur Ausprägung der Hochschule eines eigenen Typs, der späteren Pädagogischen Hochschule (vgl. Beckmann, Lehrerseminar). Das Scheitern der Revolu-

Lehrerausbildung

623

tion von 1848, in deren Verlauf den Seminarlehrern vom preußischen König sogar die Rolle der „Sündenböcke" für den revolutionären Umbruch zugedacht wurde (Kehr 176f), dann die Reaktion der weit über Preußen hinauswirkenden Stiehlschen Regulative von 1854 (vgl. Stiehl) warfen die Entwicklung einer eigenständigen pädagogisch-professionellen Lehrerausbildung um Jahrzehnte zurück. Die Lehrpläne der Seminare wurden auf das M a ß der einklassigen Landschule ausgerichtet, der Unterricht in Pädagogik, Anthropologie und Psychologie durch eine bloße Schulkunde ersetzt. Nach der Reichsgründung von 1871 setzte sich das preußische Modell der Seminarausbildung generell durch. Die „Allgemeinen Bestimmungen" des Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesens von 1872 kodifizierten einen Lehrplan der „Schullehrerseminare", in dem die Pädagogik nicht als wissenschaftliches Studien-, aber als Schulfach die zentrale Rolle zugewiesen erhielt (vgl. Allgemeine Bestimmungen 36ff). In der letzten Phase ihrer Entwicklung nahm die scchsjährigc Ausbildung am Seminar die dreijährige Präparandenanstalt in sich auf, die Lehrpläne glichen sich immer mehr denen der höheren Schulen an. Aus praktischer Sicht erwies sich die Seminarausbildung als durchaus effektiv, es stellte sich aber auch zunehmend heraus, daß die doppelte Aufgabe der Allgemeinbildung und einer zeitgemäßen Berufsausbildung nicht mehr von einer Institution übernommen werden konnte, daß vielmehr auch für die Lehrerausbildung eine selbständige akademische Profcssionalisicrung auf der Basis der höheren Allgemeinbildung erforderlich war. Mit den von K. Kehr 1872 gegründeten Pädagogischen Blättern für Lehrerbildung und Lehrerbildungsanstalten erhielten die seit der Mitte des 19. Jh. sich konsolidierenden Lehrerverbände ein zentrales Organ. Die „bestmögliche Bildung" auch für den Volksschullehrer wurde immer nachdrücklicher gefordert (vgl. Seyfert 3f). Schon 1848 verlangte die Berliner Leserversammlung die Einrichtung der Lehrerbildungsanstalt als Zweig der Universität. Der Deutsche Lehrerverein faßte 1904 in -»Königsberg den Beschluß: „Die Universität als Zentralstelle wissenschaftlicher Arbeit ist die geeignetste, durch keine andere Einrichtung vollwertig zu ersetzende Stätte für die Volksschullehrerbildung. Für die Zukunft erstreben wir daher die Hochschulbildung für alle Lehrer" (vgl. Geißler: RGG 3 4, 274). 3. Pädagogische Akademie

und Pädagogische

Hochschule

Mit der Weimarer Rcichsvcrfassung vom 11.8.1919 kam für die Akadcmisierung der Lehrerausbildung die entscheidende Wende. Sie bestimmte in Art. 143 Abs. 2: „Die Lehrerbildung ist nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung allgemein gelten, für das Reich einheitlich zu regeln." Diese Regelung bedeutete im Prinzip die Forderung nach Einführung einer einheitlichen Ausbildung der Lehrer an Volks-, Mittel-, Berufs- und Höheren Schulen mit der Konsequenz der Aufhebung der seminaristischen Ausbildung. Weil aber das Reichsgesetz zu Art. 143 Abs. 2 der Weimarer Verfassung nicht zustande kam, wurde die Lehrerausbildung in der Folgezeit in der kulturellen Hoheit der einzelnen deutschen Länder geregelt und damit eine Vielfalt etabliert, die bis heute nachwirkt. Bayern und Württemberg behielten zunächst die seminaristische Ausbildung bei, in Baden wurden Lehrerbildungsanstalten gegründet. Thüringen, Sachsen, Hessen, Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig verlegten die Ausbildung an die Universität bzw. die Technische Hochschule (vgl. Geißler, Eingliederung; Sandfuchs). Unter konzeptionellen Gesichtspunkten besonders folgenreich war die Lösung in Preußen. Gegen den Willen der Lehrerverbände gründete der preußische Kultusminister C. H. Becker für die Ausbildung der Volksschullehrer 1926 einen neuen Typus von Hochschulen, die „Pädagogischen Akademien" (vgl. Kittel; Wende). Die Akademien als „Bildnerhochschulen" sollten ihre Aufgabe „nach den Normen einer wissenschaftlich begründeten Pädagogik erfüllen" (Becker, Die Pädagogische Akademie 42). Becker verstand darunter im wesentlichen die Bildung zur „Persönlichkeit". Er griff dabei auf die von E. Spranger formulierten Gedanken über Lehrerausbildung (1920) zurück und folgte

624

Lehrerausbildung

dessen grundlegender These: „Die Volksschule braucht keine wissenschaftlichen Fachlehrer, sondern, nach dem Ubergewicht ihrer erzieherischen Aufgaben, in erster Linie Erzieher. Den Universitäten aber ist gerade diese eigentliche erzieherische Aufgabe der Volksschule ganz f r e m d " (zit. nach Wende 225). Das nicht einmal zehn Jahre dauernde Experiment der Pädagogischen Akademien gewann f ü r die weitere Geschichte der Lehrerausbildung und den Aufschwung der Erziehungswissenschaft als akademischer Disziplin exemplarische Bedeutung. Während des Dritten Reiches wurden die Pädagogischen Akademien zwar in „Hochschulen für Lehrerbildung" umgewandelt und seit 1941 mit der Einrichtung von „Lehrerbildungsanstalten", in denen das seminaristische Prinzip wieder auflebte, total politisiert, in den 50er und 60er Jahren aber wurden sie in Gestalt der aus ihnen fortentwickelten Pädagogischen Hochschulen zur bestimmenden institutionellen Form der Lehrerausbildung (vgl. Weniger). Mit den Lcitkategorien „Wissenschaftlichkcit" und „Bildung", um die sich schon in der Zeit der Weimarer Republik der Streit darüber entzündete, o b die Pädagogischen Akademien der geeignetste O r t der Lehrerausbildung seien, sind auch bereits die konzeptionellen G r u n d f r a g e n angedeutet, die bis in die Gegenwart die Auseinandersetzung um die Lehrerausbildung bewegen. Die Organisationsform der Universität sah schon Becker nicht als den geeigneten institutionellen R a h m e n an, um in der Ausbildung „gelebte H u m a n i t a s " (Becker, Problem 23) erwerben zu können und damit den Aufbau einer Persönlichkeitsformation, die dem Lehrer ermöglicht, kompetent auf die geistig-gesellschaftlichen Herausforderungen seiner Zeit reagieren zu können. Dagegen betonten schon die Standesvertreter der Lehrerschaft in dieser Zeit, d a ß „die Wissenschaft [...] unbedingt Voraussetzung und nicht ein zum pädagogischen Tun nachträglich Hinzukommendes" (Kühnel 21) sein dürfe. Durchgesetzt hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten das Prinzip, d a ß in einer wissenschaftsbestimmten Zivilisation auch alle Lehrer wissenschaftlich ausgebildet werden müssen. Insbesondere H . Roth (Empfehlungen) hat d a f ü r gestritten, die Lehrerausbildung an die Universität zu verlagern, weil nur dort die Wissensbestände erworben und kritisch überprüft werden können, die für die Erziehung der künftigen Generation grundlegend sind. Institutionell hat dieses Prinzip seinen Ausdruck darin gefunden, d a ß fast alle Bundesländer (nur Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben bislang die Lösung der Pädagogischen Hochschule beibehalten) die Lehrerausbildungseinrichtungen in die bestehenden Universitäten integriert bzw. zu Universitäten ausgebaut haben. In jedem Fall wurden die Pädagogischen Hochschulen in den Rang wissenschaftlicher Hochschulen erhoben. 4. Lehrerausbildung

für die berufsbildenden

Schulen

Die historisch vorgegebenen Trennungslinien und die schließlich erfolgende Integration in Wissenschaftliche Hochschulen bzw. -»Universitäten lassen sich auch in der Ausbildung der Lehrer f ü r Berufsbildende Schulen nachzeichnen (vgl. Georg/Lauterbach; Stratmann). Die A u s b i l d u n g der H a n d e l s l e h r e r , z u n ä c h s t d u r c h g e f ü h r t an den v o r d e m Ersten Weltkrieg gegründeten H a n d e l s h o c h s c h u l e n , die in der W e i m a r e r Republik ebenfalls einen A u s b a u zu wissenschaftlichen H o c h s c h u l e n e r f u h r e n , w u r d e schließlich mit der universitären A u s b i l d u n g d e r D i p l o m Kaufleute u n d D i p l o m - V o l k s w i r t e z u s a m m e n g e f a ß t . A u c h die v o n A n f a n g an eher praktisch ausgerichtete G e w e r b e l e h r e r a u s b i l d u n g , die i m m e r noch den Unterschied einer Spezialisierung von Lehrern f ü r den theoretischen Unterricht (Studienräten) u n d Lehrern f ü r die F a c h p r a x i s a u f w e i s t , ist n a c h einer R a h m e n v e r e i n b a r u n g der K u l t u s m i n i s t e r k o n f e r e n z von 1973 a k a d e m i s c h e n S t a n d a r d s angeglichen w o r d e n . Sie orientiert sich a m M o d e l l d e r S t u f e n l e h r e r a u s b i l d u n g u n d sieht eine einjährige f a c h p r a k t i s c h e A u s b i l d u n g , ein Verhältnis zwischen Erziehungswissenschaft, beruflicher Fachrichtung u n d zweitem Fach von 1 : 2 : 1 vor u n d einen 18monatigen Vorbereitungsdienst ( H a n d l e 620 ff). Ähnliche T e n d e n z e n lassen sich auch f ü r die A u s b i l d u n g der Lehrer f ü r Sonderschulen aufzeigen (vgl. Bleidick).

Lehrerausbildung 5. Die gegenwärtige

Organisation

der

625

Lehrerausbildung

Die Grundstruktur der Organisation der heutigen Lehrerausbildung in der Bundesrepublik Deutschland ist in der Reformphase der 60er Jahre konzipiert und in den 70er Jahren bildungspolitisch umgesetzt worden. Die Professionalisierung des Lehrerberufs, ein Lehrerbild, das den „Fachmann für Erziehung und Unterricht" hervorhob, rückte in das Zentrum permanenter Reformvorschläge, die konsequenterweise auf die inhaltliche und institutionelle Integration aller Lehrerausbildungsgänge abzielen mußten (vgl. Stock). „Lehrerbildung ist eindeutig nicht nur Fachwissenschaft [...], sondern Berufsvorbildung für einen Beruf, der zu 5 0 % nicht aus Fachwissenschaft besteht, sondern aus Unterricht und Erziehung, Grundkenntnissen in didaktischen, methodischen, entwicklungs- und lernpsychologischen, politischen, gesellschafts- und bildungstheoretischen Fragen" (Roth, Erziehungswissenschaft 357). Bis heute richtungweisend wurden die Empfehlungen zur Lehrerbildung im Strukturplan für das Bildungswesen (1970) des Deutschen Bildungsrates. Der Bildungsrat hebt die Notwendigkeit eines gründlichen Fachstudiums für alle Lehrämter hervor. Das Zentrum der Lehrerausbildung wird in einem von didaktischer Reflexion durchdrungenen Fachstudium gesehen, das ergänzt wird durch ein breites erziehungs- und gesellschaftswissenschaftliches Studium. Die Gewichtung der einzelnen Studienelemente in den Erziehungs-, Gcsellschafts- und Fachwissenschaften darf keine Unterschiede im Grad der Wissenschaftlichkeit bringen, sondern ist lediglich anteilmäßig in der Ausbildung für die verschiedenen Schulstufen zu differenzieren: Im Elementar- und Primarschulbereich 1 : 1; in der Sekundarstufe 1 5 : 3 und in der Sekundarstufe II 7 : 3, wobei die erste Zahl jeweils den fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Anteil angibt. Der Bezug zur Praxis soll möglichst in schulpraktischen Studien aus der Theorie erwachsen und Beobachtung, Analyse und eigene Unterrichtsversuche der Studenten umfassen. Die Grundkomponenten der gegenwärtigen Lehrerausbildung sind in diesem Modell exemplarisch zusammengestellt: 1. das Kernstudium in den Erziehungswissenschaften (hierfür hatte schon 1968 eine K o m m i s s i o n der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft ein Konzept entwickelt, das für alle Lehrerarten ein Studium von mindestens 2 2 Scmestcrwochenstunden vorsah), 2 . das fachwissenschaftliche Studium, 3 . das Studium der Fachdidaktik und 4. schulpraktische Studien.

Diese Komponenten sind heute in allen Lehrerausbildungsgesetzen bzw. Prüfungsund Studienordnungen der verschiedenen Bundesländer wiederzufinden, allerdings in durchaus unterschiedlicher Ausprägung. Das erziehungswissenschaftliche Kernstudium ist inzwischen in allen Bundesländern und für alle Lehrerarten eingeführt, allerdings mit stark divergierenden Stundenanteilen. In der Regel schwanken sie zwischen 12 und 40 Semesterwochenstunden. Am unteren Ende der Skala steht das Land Bayern. Für künftige Grund-, Haupt- und Realschullehrer sind jeweils zehn, für Gymnasiallehrer sechs Semesterwochenstunden Pädagogik und Psychologie nachzuweisen. Weitgehend einheitlich geregelt für alle Lehrämter ist - auch mit dem weitaus größten Stundenanteil - das Studium zweier Unterrichtsfächer, mit zum Teil abweichenden Anforderungen für künftige Grundschullehrer, für die es besondere Auflagen für das Studium der Fächer Deutsch, Mathematik und spezifischer Lernbereiche gibt. Auch die fachdidaktischen Studienanteile haben sich aufgrund der Reformanstöße in allen Lehrämtern durchgesetzt, allerdings mit großen Schwankungen hinsichtlich der einzelnen Lehrämter (zwischen vier und zwölf Semesterwochenstunden pro Studienfach). Die Prüfungs- und Studienordnungen verlangen generell auch den Nachweis schulpraktischer Studien. Wie im wissenschaftlichen Verständnis der Verortung fachdidaktischer Studien gibt es insbesondere bei der Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der Lehrerausbildung gravierende Unterschiede (vgl. Heiland). Dies läßt sich schon an der Tatsache ablesen, daß alle Versuche der Einrichtung einer einphasigen

626

Lehrerausbildung

Lehrerausbildung in der Modellphase steckengeblieben bzw. abgebrochen sind (vgl. Steinbrink/Kriszio; Dokumentation zur Einphasigen Lehrerausbildung). Durchgesetzt hat sich vielmehr für alle Lehrämter die Zweiphasigkeit der Tradition der gymnasialen Lehramtsprüfung, die Trennung zwischen wissenschaftlichem Studium und Referendariat. 6. Offene Fragen für die

Zukunft

Die für die gegenwärtige Situation typische Offenheit der Fragen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit und der Zukunft der Lehrerausbildung ist in Hans Stocks Buchtitel Integration der Lehrerausbildung in die Universität - Chance oder Niedergang? (1979) auf eine prägnante Formel gebracht. Die Integration in die Universität hat für alle Lehrämter die notwendige Wissenschaftlichkeit der Ausbildung sichergestellt, sie hat zugleich aber auch die Problematik im Selbstverständnis der Wissenschaften im universitären System ständig wachsender Differenzierung, Spezialisierung und mangelnder Interdisziplinarität in die Lehrerausbildung hineingetragen. Sie hat auch dazu geführt, daß das Berufsverständnis in steigendem Maße von der Fachwissenschaft her bestimmt wird. Beckmann (Lchrcr[aus]bildung 194) hält den Verdacht nicht für unbegründet, „daß das Studium an der Universität zwar das Standesbewußtsein stärkt, aber zur Lösung der berufspraktischen Probleme zu wenig beiträgt." Wie in der Geschichte anderer akademischer Professionen ist die optimale Balance zwischen Einführung in die Wissenschaft und Vorbereitung auf die spätere Berufspraxis für die Lehrerausbildung noch keineswegs gefunden. In einer von den Wissenschaften bestimmten Kultur ist, wie in anderen akademischen Berufen, die Lehrertätigkeit an spezielle Wissensbestände gebunden, die nicht in der Berufspraxis erworben werden können. Die Fragestellungen der Berufspraxis sind in der Regel aber nicht co ipso die der Theorie, wie sie sich aus dem aktuellen Stand der Forschung ableiten. In der Lehrerausbildung fehlt, im Unterschied zu anderen akademischen Professionen, „ein Minimalcurriculum, das tatsächlich für eine wissenschaftsbezogene Initiation in die je spezielle Berufspraxis sorgen könnte" (Oclkers/Ncumann 133). In dieser Hinsicht ist es bisher auch nicht zu einer zufriedenstellenden Abstimmung in den beiden Phasen der Lehrerausbildung, zwischen Studium und Referendariat, gekommen (Händle 628ff). Das System der universitären Fachwissenschaften hat sich bisher als zu wenig flexibel erwiesen, um auf die Veränderungen der Lebenswelt der Schüler und die Entwicklung neuer Lernbereiche effektiv zu reagieren. Die Lehrerausbildung darf sich deswegen nicht umstandslos an historisch gegebene Rahmenbedingungen der Universität anpassen und damit ihre Aufgabe verfehlen, vielmehr muß auch die Universität stärker Bezug nehmen auf die spezifischen Aufgabenstellungen der Lehrerausbildung (vgl. Beckmann, Lehrcr[aus]bildung 196). Nach Lage der Dinge wird die Lehrerausbildung deswegen den geeigneten Ort zukünftig am ehesten in einer Berufsfakultät analog zu der theologischen, medizinischen und juristischen Fakultät finden, also in einer Erziehungswissenschaftlichen Fakultät, in der die für die modernen Gesellschaften relevanten Wissensbestände wissenschaftlich unter der integrierenden Idee von Bildung und Erziehung zusammengefaßt und berufsbezogen vermittelt werden können. Literatur Allgemeine Bestimmungen des Königlich Preußischen Ministers der geistlichen, Unterrichts- u. Medicinal-Angelegenheiten v. 1 5 . 0 c t o b e r 1872, betreffend das Volksschul- Präparanden- u. Seminar* Wesen, Berlin 1872. - H a n s - J ü r g e n Apel, Die Auslese des G y m n a s i a l l e h r e r n a c h w u c h s e s in Preußen ( 1 8 1 5 - 1 8 3 0 ) . Beispiele aus den preußischen Rheinprovinzen zur R e k r u t i e r u n g u. beruflichen Qualifizierung v. Gymnasiallehrern: Z P 3 0 (1984) 2 9 7 - 3 2 2 . - G e o r g Philipp Ludwig v. Beckedorff, Die Preußischen Schullehrer-Seminarien: J b . des Preußischen Volksschul-Wesens. Hg. v. dems., Berlin, 1 1 8 2 5 , 9 7 ff. - C a r l Heinrich B e c k e r , Die Pädagogische A k a d e m i e im A u f b a u unseres sozialen Bildungswesens, Leipzig 1926. - Ders., D a s Problem der Bildung in der Kulturkrise der G e g e n w a r t , Leipzig 1930. - H a n s - K a r l B e c k m a n n , Lehrerseminar - A k a d e m i e - H o c h s c h u l e . D a s Verhältnis v.

Lehrerausbildung

627

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Karl Neumann

628

Lehrverpflichtung

Lehr-Lern-Theorie —»Pädagogik Lehrverpflichtung 1. Lehramt und Lehrfreiheit in der evangelischen Kirche zuchtverfahren (Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 635)

1. Lehramt

und Lehrfreiheit

in der evangelischen

2. Lehrverpflichtung

3. Lehr-

Kirche

Nach lutherischem Verständnis ist das Lehramt der ganzen Kirche anvertraut. 1 Jeder einzelne Christ ist Inhaber des Lehramts. Jeder steht im Glauben allein vor Gott. Dieser Umstand begründet die Lehrfreiheit und bestimmt zugleich ihren Inhalt und ihre Grenze: Kein menschlicher Rechtssatz kann darüber verfügen, was Grund und Gegenstand der Gewißheit des Glaubens ist. Noch weniger aber verfügt der einzelne Christ darüber. Zwar ist er „Herr aller Dinge und niemand Untertan", aber die Freiheit ist auf Wahrheit ausgerichtet. Sie ist „Freiheit aus der Wahrheit zur Wahrheit des Evangeliums hin" 2 . Daher ist Inhaber der Lehrgewalt in der Kirche letztlich das Wort Gottes selbst 3 , Lehrfreiheit die Freiheit des Wortes Gottes. Zur Bindung des einzelnen an das Wort der Heiligen Schrift tritt die Bindung an die Gemeinschaft: 4 Lehrfreiheit wird in der Gemeinschaft der Kirche wahrgenommen. Sie ist „allen Christen insgemein" 5 anvertraut. Sic verpflichtet zum Hören auf das Zeugnis der Brüder und Schwestern und lebt aus dem Vertrauen, daß sich im Lebensprozeß der Kirche die Evidenz der Wahrheit des Evangeliums selbst erweist. Von dem Prozeß der Erforschung, Vermittlung und Beurteilung rechter christlicher Lehre kann grundsätzlich kein Christ ausgeschlossen werden. 6 Jedoch können einzelne mit der Wahrnehmung besonderer Aufgaben in Verkündigung, Unterweisung und Lehre betraut werden. Insbesondere ist das Amt der öffentlichen Wortverkündigung von Christus eingesetzt (CA Art. 5) und wird von der Gemeinde durch besonderen Auftrag übertragen (CA Art. 14). Mit der Übernahme des Auftrags erhält der Beauftragte nicht nur das Recht zum öffentlichen Predigtdienst. Sein Auftrag verpflichtet ihn gleichzeitig zur publica doctrina als derjenigen „öffentlichen Lehre" und Verkündigung des Evangeliums, die nicht von ihm allein, sondern von allen Gläubigen gemeinsam verantwortet wird. 7 2.

Lehrverpflichtung

2.1. Vor allem auf die öffentliche Predigt zielt die Verpflichtung, die dem zum Predigtdienst Berufenen auferlegt wird. Der Sache nach ist sie schon zu Beginn der Reformation vorhanden. Als förmliche Lehrverpflichtung wird sie unter dem Einfluß Melanchthons in den evangelischen Territorialkirchen eingeführt und beinhaltet eine Verpflichtung auf das reformatorische Bekenntnis, insbesondere das Konkordienbuch. Im Zeitalter der Aufklärung geht ihre Bedeutung zurück. Sie erlebt in Preußen im Woellnerschen Religionsedikt (1788) eine kurze Blütezeit, bis das Allgemeine Landrecht (1794) einer kollegialistischen Sicht des Bekenntnisses im Sinne der Normierung des religiösen Vereinszwecks einer Religionspartei Raum schafft. Pfarrer dürfen fortan „in ihren Amtsvorträgen und bei dem öffentlichen Unterrichte . . . zum Anstoße der Gemeine nichts einmischen, was den Grundbegriffen der Religionspartei widerspricht". 8 Heute ist die Lehrverpflichtung Voraussetzung einer Berufung zum kirchlichen Amt der Verkündigung in allen evangelischen Landeskirchen. Der Berufene muß die Freiheit haben, die Lehrbindung einzugehen und zur Lehrverpflichtung ja zu sagen. Die Verpflichtung enthält neben einer Bindung an das in der Heiligen Schrift gegebene Evangelium den Verweis auf die Bekenntnisse der jeweiligen Kirche bis hin zur Barmer Theologischen Erklärung (Baden). Für die Gültigkeit der Verpflichtung nach kirchlichem Recht ist es unerheblich, ob diese schriftlich oder mündlich, gesondert vor der Ordination oder im Rahmen des agendarischen Ordinationsgottesdienstes abgenommen wird.® Die Lehrverpflichtung setzt weder die „rechtliche Gültigkeit" des Bekenntnisses voraus 1 0 , noch vermag sie das Verhältnis von Heiliger Schrift und kirchlichem Bekenntnis im Blick auf die

LehrverpHichtung

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kirchliche Verkündigung zu modifizieren. Obgleich ihre Bejahung die Übernahme einer Rechtsverpflichtung 11 nach evangelischem Kirchenrecht mit einer besonderen Rechtsfolgeregelung darstellt, beinhaltet sie keinen auch nur partiellen Verzicht auf die unbegrenzte Freiheit der Lehre. 1 2 Vielmehr läßt sich der Verpflichtete von der grenzenlosen Freiheit des Wortes Gottes in Pflicht nehmen und stellt sich gleichzeitig in die Gemeinschaft des lebendigen Lehrkonsenses seiner Kirche, der ihm bekannt ist, den er bejaht und den er in der Gemeinschaft der Kirche zu fördern und zu entwickeln bereit ist. Lehrverpflichtung und Lehrfreiheit sind daher keine Gegensätze. Lehrfreiheit besteht in der Verpflichtung auf das freimachende Wort. Ihre Grenze ist erreicht, wenn „den Menschen der Zugang zur Quelle ihres Glaubens und damit ihrer Freiheit verlegt wird . . . Man kann nicht der Verkündigung des Evangeliums dienen, indem man den Zugang zum Evangelium verlegt". 1 3 Wo das Evangelium in entscheidenden Grundzügen preisgegeben oder „menschlichen Ansprüchen und Gedanken unterstellt" wird (§11 Württ. Lehrzuchtordnung), muß die Quelle der Freiheit freigelegt werden. Eine formell übernommene Lehrverpflichtung hat daher auch zum Inhalt, daß der Verpflichtete sich denjenigen Verfahren unterstellt, die die Kirche hierfür zur Verfügung stellt. 2.2. Das Korrelat der Möglichkeit, die erteilte besondere Ermächtigung auch wieder zu entziehen, unterscheidet die förmliche Lehrverpflichtung von der für die ganze Kirche und nicht nur für den einzelnen Amtsträger geltenden 14 Bindung an das reformatorische Bekenntnis. Von daher bestimmt sich der Kreis der Verpflichteten. Eine besondere Lehrverpflichtung wird regelmäßig übernommen im Rahmen der Beauftragung zum Amt der öffentlichen Wortverkündigung (-»Ordination). Sinnvoll erscheint sie auch bei der Erteilung eines Auftrags in kirchlicher Unterweisung. O b es dagegen angemessen ist, bei der gottesdienstlichen Einführung kirchlicher M i t a r b e i t e r einschließlich der Kirchcngemcindcräte eine der Ordinationsvcrpflichtung im wesentlichen entsprechende Formulierung zu w ä h l e n 1 5 , erscheint eher fraglich. Die besondere Beauftragung und Verantwortung des im A m t der öffentlichen Wortverkündigung Verpflichteten für die Lehre der Kirche des Wortes wird dabei nivelliert.

Ein besonderes Problem stellt in diesem Zusammenhang die Lehrverpflichtung der Lehrer an staatlichen theologischen Fakultäten dar. Soweit sie von der zuständigen Landeskirche zum Amt der öffentlichen Wortverkündigung ordiniert sind, besteht eine Lehrverpflichtung aus diesem Amt. Davon unabhängig ist aber das theologische Lehramt als solches eine bedeutsame Funktion des kirchlichen Verkündigungsamts.' 6 Nicht nur im Blick auf die Ausbildung des Pfarrernach wuchses, die weitgehend in der Hand der theologischen Fakultäten liegt, hat die Kirche an diesen als „wissenschaftlich kirchlichen Institutionen" (Schleiermacher) ein elementares Interesse. Umgekehrt ist die Bindung an das kirchliche Bekenntnis die Grundlage der Existenz theologischer Fakultäten im konfessionell neutralen Staatswesen. Das anläßlich der theologischen Promotion heute gelegentlich noch abzulegende Versprechen 17 , weist auf diese Bindung hin, ohne sie zu begründen. Sie besteht unabhängig von einer förmlichen Verpflichtung gegenüber der Kirche. Die Garantie der Wissenschaftsfreiheit steht ihr nicht entgegen, da die Lehrfreiheit des evangelischen Theologen inhaltlich bestimmt ist durch die Beziehung auf das Evangelium. 1 8 Von dieser Frage der Bindung und Verpflichtung ist zu unterscheiden die Frage, welche rechtlichen Möglichkeiten der Kirche zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung im Blick auf die theologische Wissenschaft zur Verfügung stehen (s. 3.5). 2.3. Die Wahrnehmung der Verantwortung für die rechte Lehre vollzieht sich im Lebensprozeß der Kirche in unterschiedlicher Gestalt. Eine rechtlich nur scheinbar unproblematische Lösung zur Wiederherstellung eines verlorenen Lehrkonsenses ist der Weg in die Separation. 1 9 Die Preisgabe der Kirchengemeinschaft schließt ein Lehrurteil in sich, für welches ein geordnetes Verfahren nicht zur Verfügung steht. Es ist Aufgabe all derjenigen, die in Forschung, Verkündigung und Kirchenleitung Verantwortung tragen, einen

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Lehrverpflichtung

Prozeß lebendig zu erhalten, in welchem sich die Kraft der biblischen Wahrheit selbst bezeugen und durchsetzen k a n n . Dieser Prozeß lebt in der theologischen Forschung, Lehre und Auseinandersetzung. Er findet in der sonntäglichen Predigt des Pfarrers ebenso statt wie in dessen Selbststudium und in der gemeinsamen biblischen Besinnung mit Amtsbrüdern in theologischen Arbeitsgemeinschaften. Eine besondere Aufgabe k o m m t hier insbesondere den theologischen Fakultäten und den Kirchenleitungen zu. Die „ H a n d h a b u n g der Lehrgewalt... erfordert vor allem die rechte Auswahl, Z u r ü s t u n g und Anleitung aller derer, die im Predigtamt oder im sonstigen öffentlichen Dienst der Kirchc s t e h e n " . 2 0 Die Besetzung der Pfarrstellen und die Visitation sind wichtige Instrumente kirchenleitender Lehrpflege, die sich dadurch auszeichnen, d a ß in beiden Fällen ein ausgebildetes Mitspracherecht der Gemeinden geübt wird. Dagegen wird die Frage der P r ü f u n g und Auswahl der Bewerber bei der Anstellung unter dem Gesichtspunkt kirchlicher Lehrgewalt zu den eher problembeladenen Akten kirchenleitenden Handelns zu rechnen sein. Wo hier Fragen einer Beurteilung der Lehre mitschwingen und nicht nur die Prüfung von Kenntnissen und Fähigkeiten in Frage steht, stößt kirchenleitendes Handeln bereits auf die Weisung in Artikel 28 des Augsburgischen Bekenntnisses: „ O h n e menschliche Gewalt, sondern allein durch Gottes Wort". So und nicht anders soll Verwerfung der Lehre geschehen, die gegen das Evangelium ist. Ungleich härter noch ist kirchenleitendes H a n d e l n dieser Weisung der reformatorischen Bekenntnisschrift konfrontiert, w o es um die Rückn a h m e einer Beauftragung aus Gründen der Verletzung der Lehrverpflichtung geht. 3.

Lehrzuchtverfahren

3.1. Unter Lehrzuchtverfahren wird das kirchengesetzlich geregelte Verfahren verstanden, in welchem festgestellt wird, o b ein in der Lehrvcrpflichtung der Kirche stehender Amtsträger diese Verpflichtung verletzt hat und dadurch mit seiner eigenen Verkündigung in einen wesentlichen und nicht übcrbrückbarcn Widerspruch zu der für die Kirchc maßgebenden Lehre getreten ist. Begrifflich reiht sich die Lehrzucht den altprotestantischen Z u c h t o r d n u n g e n des 16. Jh. entsprechend an die heute sogenannte Amtszucht (Disziplinarverfahren wegen schuldhafter Verletzung einer Amtspflicht) und die Kirchenzucht (Ausschluß eines Gemeindeglieds vom Sakrament und von einzelnen kirchlichen Rechten) an. Wie Amtszucht und Kirchcnzucht hat auch Lchrzucht das vorrangige Ziel, mit dem von ihr Betroffenen „ins Reine zu k o m m e n " und neue Gemeinschaft mit ihm zu begründen. Anders als in diesen beiden Verfahren geht es aber bei der Lchrzucht weniger d a r u m , das Verhalten des Betroffenen mit einer von der kirchlichen Gesetzgebung vorgebenen Verhaltensnorm zu vergleichen und danach die Rechtsfolgen zu bestimmen, als vielmehr zunächst einmal d a r u m , festzustellen, was in der zur Entscheidung stehenden Frage in concreto das M a ß ist, an welchem sich die Lehre des Betroffenen zu messen hat (s. u. 3.6). Weil daher nicht die M a ß n a h m e , sondern deren Voraussetzung Gegenstand der Prüfung ist, hat sich in der kirchlichen Gesetzgebung eine andere Terminologie durchgesetzt. Sie spricht von Lehrbeanstandungsverfahren, neuerdings (Musterordnung der Arnoldshainer Konferenz) nur noch von Lehrverfahren. 3.2. Ein wesentlicher Unterschied zum Amtszucht-(Disziplinar-)verfahren liegt weiter darin, d a ß das Lehrzuchtverfahren zu den sogenannten objektiven Verfahren gehört und die Frage der Berechtigung eines Schuldvorwurfs nicht p r ü f t . Wer im Verständnis des Evangeliums von der Lehrauffassung der Kirche abweicht, tut dies in der Regel nicht aus Mutwillen, sondern getrieben vom irrenden Gewissen. Als Amtsträger ist er verpflichtet, das Evangelium so, wie es ihm erkennbar ist, in Freiheit und Lauterkeit zu verkündigen. Ein solches Verhalten ist nicht v o r w e r f b a r . Diese Erkenntnis hat sich im evangelischen Kirchenrecht relativ spät durchgesetzt. 2 1 Z w a r weisen schon die Visitations- und Kirchenordnungen des 16. Jh. ein erstaunliches M a ß an Differenzierung im Umgang mit Lehrabweichungen auf. Deren grundlegende Unterscheidung vom Tatbestand eines schuldhaften Verstoßes gegen die kirchliche O r d -

Lehrverpflichtung

631

nung ist gleichwohl erst eine Erkenntnis des beginnenden 19. Jh. Noch das preußische Kirchengesetz betreffend die Dienstvergehen der Kirchenbeamten vom 16. Juli 1886 rechnet zu diesen Dienstvergehen ausdrücklich auch den Tatbestand der Irrlehre, wenngleich es ihn von anderen Tatbeständen durch besondere Verfahrensbestimmungen abhebt (Durchführung nur auf Antrag des Oberkirchenrats; Beteiligung der Synodalvorstände). Spuren jener älteren Auffassung finden sich bis in die neuere Zeit. Noch die Lehrbeanstandungsordnung der Evangelischen Kirche der Union von 1963 macht eine negative Feststellung der Spruchkammer davon abhängig, daß dem Betroffenen nicht der „Vorwurf" gemacht werden könne, mit seiner Verkündigung und Lehre in Widerspruch zuin entscheidenden Inhalt der Heiligen Schrift zu stehen. Bekannt g e w o r d e n ist der Fall des w ü r t t e m b e r g i s c h e n Pfarrers C h r i s t o p h S c h r e m p f 2 2 , der sich später als Kierkegaard-Übersetzer und Philosoph einen N a m e n m a c h t e . Er w a r 1886 P f a r r e r in Leuzendorf g e w o r d e n u n d h a t t e Zweifel am wörtlichen Verständnis einzelner Lehraussagen des - • A p o s t o l i k u m s von der Universität m i t g e b r a c h t und diesen U m s t a n d bei seiner Einstellung a u c h mitgeteilt. 1891 e n t s c h l o ß er sich, von G e w i s s e n s b e d e n k e n u m g e t r i e b e n , bei einer T a u f e auf das von der Agende vorgesehene G l a u b e n s b e k e n n t n i s zu verzichten. Die G e m e i n d e b e m e r k t e dies z u n ä c h s t nicht. Jedoch m a c h t e Schrempf d e m Konsistorium von d e m Vorfall M i t t e i l u n g u n d g a b dabei seine Absicht k u n d , es k ü n f t i g i m m e r so zu halten. Vor d e r G e m e i n d e legte er im G o t t e s d i e n s t ü b e r seinen Schritt R e c h e n s c h a f t ab. D e r G e m e i n d e v o r s t a n d , den er schon z u v o r d u r c h die Weigerung, eine Kriegervereinsfahnc zu weihen, gegen sich a u f g e b r a c h t h a t t e , f o r d e r t e d a r a u f h i n seine Absetzung. D a s Konsistorium warf ihm vor, einen „gottesdienstlichen, also a m t l i c h e n A k t d a z u benützt [zu h a b e n ] , A b w e i c h u n g e n v o m evangelischen Lehrbegriffe . . . der G e m e i n d e v o r z u t r a g e n " und sich d a m i t „gegen die seinerzeit ü b e r n o m m e n e Verpflichtung v e r f e h l t " zu h a b e n . 2 3 Schrempf w u r d e seines Amtes e n t h o b e n .

Den Durchbruch schaffte erst das preußische sogenannte „Irrlehregesetz" (Kirchengesetz betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen vom 16. März 1910), das in seinem ersten Satz feststellt: „Wegen Irrlehre eines Geistlichen findet fortan ein disziplinares Einschreiten nicht statt". Anwendbar bleiben danach die disziplinarrechtlichen Vorschriften nur noch, wenn ein Pfarrer das Bekenntnis oder die Ordnungen der Kirche „herabwürdigt" (§ 19). Auch andere Landeskirchen erließen in der Folge des preußischen Lehrbeanstandungsgesetzes entsprechende Lehrordnungen. 2 4 Das Echo in T h e o l o g i e und kirchlicher R e c h t s w i s s e n s c h a f t w a r positiv. Adolf von H a r n a c k , der Schrempf seinerzeit öffentlich zur Seite getreten w a r , b e g r ü ß t e d a s Gesetz u n d verteidigte seine ein J a h r nach der V e r k ü n d i g u n g erfolgende A n w e n d u n g im Fall J a t h o . 2 5 N u r R u d o l p h - » S o h m h a t gegen d a s Gesetz „ d e n entschiedensten W i d e r s p r u c h " e r h o b e n . 2 6 Er sah in der E i n r i c h t u n g eines Lehrgerichtshofs eine unevangelische „Steigerung der Lehrgewalt der Kirche, wie sie bisher noch niemals dagewesen ist", u n d b e f ü r c h t e t e eine V e r m e h r u n g der Z a h l d e r Lehrprozesse. Z u m i n d e s t in seiner Prognose h a t er nicht recht behalten: In den 80 J a h r e n seit I n k r a f t t r e t e n des Irrlehregesetzes w u r d e n in den deutschen L a n d e s k i r c h e n insgesamt n u r vier Verfahren d u r c h g e f ü h r t ( J a t h o 1911, H e y n 1912, B a u m a n n 1953, Schulz 1979). 2 7

3.3. Neuere Gesetze - zu nennen ist vor allem das Kirchengesetz der VELKD in der Fassung vom 3.1.1983, die Lehrbeanstandungsordnung der EKU vom 27.6.1963, die Württ. Lehrzuchtordnung vom 10.4.1959 und das in Baden und Lippe mit Abweichungen übernommene Muster einer Ordnung für Lehrverfahren der Arnoldshainer Konferenz aus dem Jahre 1975 - folgen der grundsätzlichen Zweiteilung des Verfahrens im preußischen Irrlehregesetz: Einem theologischen Lehrgespräch, welches der Klärung des Sachverhalts dient und, wenn möglich, die Ubereinstimmung in den Lehraussagen wieder herstellen soll, folgt auf Eröffnungsbeschluß der Kirchenleitung das Feststellungsverfahren vor einem Spruchkollegium, an dessen Ende die Feststellung steht, ob Verkündigung und Lehre des Betroffenen in entscheidenden Punkten im Widerspruch zum Bekenntnis der Kirche stehen. Wird dies - mit entsprechend qualifizierter Mehrheit - bejaht, so scheidet der Betroffene kraft Gesetzes aus seinem Amt aus und verliert die ihm in der Ordination übertragenen Rechte. D e r Sache n a c h h a n d e l t es sich beim Feststellungsverfahren w e d e r u m einen I n q u i s i t i o n s p r o z e ß ,

632

Lehrverpflichtung

bei welchem von Amts wegen der Sachverhalt erforscht wird, noch um ein Anklageverfahrcn. Vielmehr ist Gegenstand des Verfahrens allein die Frage, o b im Blick a u f die im Eröffnungsbeschluß beanstandete Lehraussage der Betroffene in einem nicht zu beseitigenden Widerspruch zur Lehre der Kirche steht. Welche Funktion in einem solchen Verfahren Zeugen w a h r n e h m e n sollen, wie dies die württembergische O r d n u n g und der M u s t e r e n t w u r f der Arnoldshainer Konferenz vorsehen, ist nicht ganz klar, da Geschehnisse der Vergangenheit nicht von wesentlicher Bedeutung sein k ö n n e n . Dagegen erscheint die Beiziehung von Sachverständigen sinnvoll. Insbesondere legt sich außer der Beteiligung theologischer Lehrer im Spruchkollegium die Einholung des G u t a c h t e n s einer theologischen Fakultät nahe.

3.4. Die Verfahrensordnungen nennen übereinstimmend drei Voraussetzungen für das Verfahren: Der Betroffene muß seine Überzeugung öffentlich vertreten, er muß beharrlich an ihr festhalten und die Lehrabweichur.g muß den entscheidenden Inhalt der biblischen Botschaft nach reformatorischem Verständnis betreffen. Es geht also um Irrlehre, nicht um Irrglauben; die Lehrabvveichung muß nach außen hin erkennbar geworden sein. Sehr weit geht die Musterordnung der Arnoldshainer Konferenz, die auch eine Äußerung unter vier Augen genügen läßt, wenn sie nur „in Ausübung des Amtes" erfolgt. In keinem Falle handelt es sich jedoch um öffentliche Lehre, wenn sich ein Pfarrer seinem Vorgesetzten oder Seelsorger anvertraut. Das damit aufbrechende Problem ist deutlich: Es fördert nicht die Glaubwürdigkeit kirchlicher Verkündigung, wenn die kirchliche Ordnung dem Verdacht Nahrung gibt, der Pfarrer rede nicht aus innerster Uberzeugung, sondern ordne die Wahrheit der Einheit oder gar der Vermeidung des Ärgers mit vorgesetzten Dienststellen unter. 2 8 Zwar ist die in früheren Ordinationsformularen enthaltene Offenbarungspflicht für den Fall eines Zerfallens mit dem übernommenen Bekenntnis 29 kein gangbarer Weg. Der sich Offenbarende wird aber aufgefordert werden müssen, selbst die Konsequenzen zu ziehen, und die Kirche wird ihm dabei Hilfestellung zu leisten haben. Eine öffentlich vertretene Lehrabweichung wird auch anzunehmen sein, wenn ein von der kirchlichen Ordnung abweichendes Verhalten bekannt wird, zu dessen Begründung und Rechtfertigung sich der Betreffende auf Aussagen beruft, die ihn in einem Dissens zur Lehre der Kirche erscheinen lassen. 30 Betrifft diese Abweichung nicht das Fundament des Glaubens, wird die Kirche gut daran tun, das irrende Gewissen nach Möglichkeit zu schonen. Andernfalls ist das Lehrverfahren durchzuführen. Die Durchführung eines Disziplinarverfahrens kommt hier nicht in Betracht. 3 1 Dagegen bestehen keine Bedenken, das im Pfarrcrdicnstrccht vorgesehene Verfahren zur Versetzung in den Warte- oder Ruhestand durchzuführen, wenn ein gedeihliches Wirken des Pfarrers in seiner Gemeinde nicht mehr gewährleistet ist und die Lehrabweichung die Fundamente des Glaubens nicht in Frage stellt. Die G e f a h r , d a ß auf diese Weise lehrmäßig bedingte Konflikte unter Umgehung des Lehrzuchtverfahrens geräuschlos bewältigt w ü r d e n 3 2 , scheint vergleichsweise gering. Z w a r ist der Fall denkbar, daß das gedeihliche W i r k e n gerade wegen der Verkündigung der Lehre des Pfarrers gestört wurde, ein Lehrstreit also den Kern des Zerwürfnisses bildet. D e r Regelfall ist dies jedoch nicht. Die Erfahrung spricht eher dafür, daß Gemeinden auch L e h r a b w e i c h u n g e n mitzutragen bereit sind, wenn die menschlichen Beziehungen nicht gestört sind. Ein aus der Sicht des Betroffenen erfolgreiches Lehrverfahren würde außerdem keine G e w ä h r dafür bieten, d a ß sich gedeihliches Wirken wieder ermöglichen ließe. D e n Rest an Lehrentscheidung, der in einem Verfahren zur Versetzung in den Wartestand enthalten ist, kann eine evangelische Kirche dem Urteil der G e m e i n d e überlassen.

3.5. Hinsichtlich des Kreises der Betroffenen unterscheiden sich die geltenden Lehrbeanstandungsordnungen. Die Ordnung der EKU und das Muster einer Ordnung der Arnoldshainer Konferenz beschränken deren Anwendung auf ordinierte Amtsträger. Sie verstehen Lehrbeanstandung als „Gegenakt zur Ordination". 3 3 Dies hat den Nachteil, daß kirchliche Mitarbeiter auch dann vom Schutz 3 4 des Lehrverfahrens ausgenommen sind, wenn sie, ohne ordiniert zu sein, wesentliche Funktionen der Verkündigung und Lehre etwa in Unterricht oder Erwachsenenbildung wahrnehmen. Jedes aus Gründen der Lehrbeanstandung durchgeführte Disziplinarverfahren gegen Kirchenbeamte deckt das

Lehrverpflichtung

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hier vorhandene Defizit auf. Die Lehrordnungen des lutherischen Bereichs erstrecken ihre Gültigkeit folgerichtig auf Ordinierte oder „sonstige Inhaber eines kirchlichen Amtes". Da indes die Ordnung für den Fall einer Beanstandung nur die unausweichliche Rechtsfolge eines Verlustes der Rechte aus dem kirchlichen Amt vorsieht, bedarf es einer einschränkenden Bestimmung des Kreises möglicher Betroffener. Nach der hier vertretenen Auffassung ist Korrelat der Lehrbeanstandung nicht die Ordination, sondern die Lehrverpflichtung. Da weiter der Kreis der Lehrverpflichteten nach dem oben Gesagten (2.2) nicht scharf abgegrenzt ist, wird davon auszugehen sein, daß zum Kreis möglicher Betroffener nur solche kirchlichen Amtsträger zählen, deren Lehrverpflichtung wesentlicher Inhalt ihres Auftrages ist. Ein Sondcrproblem stellt sich in diesem Z u s a m m e n h a n g hinsichtlich der Inhaber konfessionell gebundener Staatsämter und hier insbesondere der Inhaber von Lehrstühlen an theologischen Fakultäten. Ihre E x e m t i o n von kirchlicher Lehrzucht entspricht einer traditionellen Sicht, nach welcher die evangelische Kirche im Unterschied zur katholischen in Bekenntnis und Lehrfragen dem Staat gegenüber auf ein unverbindliches Votum bei der Berufung ihrer T h e o l o g e n beschränkt sei und ein nachträgliches Beanstandungsrecht nicht geltend machen k ö n n e . 3 5 Diese M e i n u n g entspricht heute w e d e r dem Stande staatskirchenrechtlicher Forschung 3 ' 5 noch auch der unverzichtbaren Teilhabe der theologischen Fakultäten am L e h r a m t der K i r c h e . 3 7 D a m i t ist nichts d a r ü b e r ausgesagt, wie ein solches Verfahren im Blick auf akademische Lehrer der T h e o l o g i e ausgestaltet sein k ö n n t e . Die bisher zur Verfügung stehenden Verfahren der L e h r b e a n s t a n d u n g sind schon deshalb u n a n w e n d b a r , weil sie ihrer Entstehung nach e r k e n n b a r nicht auf Universitätslehrer angewendet werden sollten. D a ß die verfaßte Kirche die g r ö ß t e Z u r ü c k h a l t u n g üben m u ß und jede Entscheidung nur in enger Fühlungnahme mit den Fachgelehrten und Fakultätskollegen eines Betroffenen treffen k a n n , 3 8 dürfte sich von selbst verstehen.

3.6. Die schwierigste Frage im Zusammenhang evangelischer Lehrbeanstandung ist die Frage nach dem Malsstab der Prüfung und Entscheidung. Die griffige Formulierung von J . V. Bredt, wonach das Lehrverfahren eine „Zivilprozeßordnung ohne Bürgerliches Gesetzbuch" 3 9 sei, ist seither oft wiederholt worden und wird der Sache nach in jedem Verfahren angemahnt. Im Lehrverfahren Schulz knüpfte sich an die Frage, welche Generalsynode wann welchen magnus consensus beschlossen habe, der Vorwurf, das Verfahren sei nicht „rcchtsstaatskonform". 4 0 Daß das Insistieren auf materiellrechtlichen Grundlagen gerade unter Hinweis auf außerkirchliche Verfahrensgrundsätze an die Kirche herangetragen wird, ist insofern bemerkenswert, als sich die allgemeine Verfahrenstheorie von einer Verabsolutierung der Wahrheitsfrage auch im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens gerade zu lösen scheint. 4 1 Das kirchliche Lehrverfahren freilich steht und fällt mit der Frage nach der Wahrheit. Mit ihr ist die Frage nach der „Bezugsgröße" unausweichlich. Nur scheinbar unterscheiden sich in diesem Punkt das preußische Irrlehregesetz von 1910 und die Ordnung der VELKD von den Ordnungen der EKU und Württembergs sowie vom Musterentwurf der Arnoldshainer Konferenz, wenn die ersteren von einem „Widerspruch zum Bekenntnis", die letzteren von einem Widerspruch zum entscheidenden Inhalt der Heiligen Schrift bzw. einer Preisgabe des biblischen, reformatorisch verstandenen Evangeliums von Jesus Christus (Württemberg) reden. Auch Bekenntnisschriften können nicht als selbständige Lehrnormen gelten. Sie weisen über sich hinaus. Die Auffassung, wonach es sich bei den Bekenntnisschriften gleichsam um Vereinsstatute handle, Gründungsurkunden der Territorialkirchen, die von der kirchlichen Rechtsgemeinschaft übernommen und damit in Kraft und Geltung gesetzt worden seien, ist heute überwunden. Sie kennzeichnete die Kirchenrechtstheorie des 19. J h . Noch Kahl 4 2 konnte in einer Festrede des Jahres 1897 von der „Verfügungsgewalt" der Kirche über die für sie maßgebliche Lehre sprechen. Die Verfügung über das Bekenntnis ist der Kirche jedoch entzogen. Nahezu sämtliche Kirchenverfassungen der Landeskirchen gehen heute davon aus, daß „das Bekenntnis nicht Gegenstand der kirchlichen Gesetzgebung" sei. „Die christliche Kirche kann keine Artikel des Glaubens festsetzen oder bestätigen. Maßt sie sich das an, dann hört sie auf, Kirche zu s e i n " . 4 3 In Geltung gesetzte Bekenntnisse könn-

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ten auch wieder außer Kraft gesetzt werden. Dies entspräche nicht dem Verständnis des Bekenntnisses. Die Rede von dem in einer Kirche „ g e l t e n d e n " Bekenntnis verdunkelt diesen Tatbestand. Kommen daher die Bekenntnisschriften als N o r m und M a ß der Lehrunterscheidung nicht letztlich in F r a g e 4 4 , so ist doch ihre Einbeziehung in die kirchliche Rechtsordnung für d a s Verfahren in zweifacher Weise von Bedeutung: Z w a r kann sich die Lehre beanstandende Kirche nicht auf die Geltung eines Bekenntnissatzes der Kirche zurückziehen. Solange nicht der Behauptung begründet widersprochen ist, die in der Kirche „ g e l t e n d e " Auffassung sei wider die Heilige Schrift und d a s in ihr bezeugte Evangelium von J e s u s Christus, kann sie die Unvereinbarkeit der Lehre des Betroffenen mit dem Zeugnis der Schrift nicht feststellen. Die für die Wahrheit eintretende Gemeinschaft muß sich auf die Wahrheit einlassen, ohne sich selbst auf Rcchtssatz berufen zu können. Gleiches gilt aber nicht umgekehrt. Der von der Lehrbeanstandung Betroffene muß sich auf d a s Statut berufen dürfen, wenn er keine Chance sieht, die Mehrheit von der Wahrheit zu überzeugen. D a s Bekenntnis als Rechtssatz ist der Schutz der Minderheit. D a s Zweite: M i t der Übenahme der Lehrverpflichtung hat der Verpflichtete die für ihn rechtsverbindliche Tatsache anerkannt, d a ß die Kirche und die von ihr im Spruchverfahren Beauftragten bei der Feststellung dessen, w a s wahre christliche Lehre ist, in der Lehrtradition des Bekenntnisses ihrer Kirche stehen. Er muß davon ausgehen, daß sie die Schrift im Verstehenszusammenhang („hermeneutischer Z i r k e l " ) ihres Bekenntnisses auslegen werden.

Ungeachtet des durch das Bekenntnis begründeten Verstehenszusammenhanges ist es Aufgabe des Spruchkollcgiums, die Lehraussage des Betroffenen an dem magnus consensus der Kirche zu messen. Hierbei handelt es sich nicht um die aktuelle Übereinstimmung innerhalb der kirchlichen G e m e i n s c h a f t 4 5 , sondern um das, was von jeher in der Christenheit mit großer Übereinstimmung bekannt und gelehrt worden ist. 4 6 Eine solche Entscheidung wird immer ein Wagnis bleiben. Sie hat selbst Zeugnischarakter. 4 7 3.7. Die grundsätzliche Problematik evangelischer Lchrcntscheidung hat sich damit nicht erledigt, ohne daß ein ungelöster Rest bliebe. Z w a r scheint die Rede vom Bekenntnis- und Zeugnischarakter der Entscheidung diese in den R a n g der einer evangelischen Kirche wohlanstehenden Möglichkeiten zu erheben. Die positiven Wirkungen einer Spruchentscheidung fallen ins Auge: Sie dient nicht nur dem Zusammenhalt der kirchlichen Gemeinschaft, in welcher auf Dauer nicht miteinander unvereinbare Lehre nebeneinander Platz haben kann. Sie bietet der Gemeinde auch die nötige Hilfestellung im Verständnis der christlichen Botschaft. Sic schafft „Klarheit darüber, was die Kirche als ihr verantwortlich zu bekennendes W o r t " 4 8 ansieht und nimmt in dem Maße, in dem sie auf den fundamentalen Gegenstand des Vertrauens in das Wort der Heiligen Schrift verweist, an der Fortentwicklung der kirchlichen Lehre teil. Dabei bleibt nur zu beachten, daß die in ihr enthaltene Lehraussage keine andere Autorität in Anspruch nehmen kann, als sie jeder evangelischen Verkündigung zukommt. Die Gültigkeit der Aussage muß sich durch die ihr innewohnende Kraft des Zeugnisses selbst erweisen. Rechtsgeltung kommt ihr insoweit nicht zu. Sie könnte auch nicht ihrerseits zum Maßstand eines künftigen Verfahrens gemacht werden. Trotzdem ist der die Wahrheit bekennende Spruch zugleich Rechtsentscheidung. Er muß es sein, da er eine kraft Gesetzes eintretende Rechtsfolge auslöst. Er kann es in einer evangelischen Kirche nur sein, insoweit er diese Rechtsfolge auslösen und nicht nur die Wahrheit bekennen will. D a s eigentliche Ziel des Lehrverfahrens ist aber nicht die Lehre des Irrlehrers, sondern dessen Auftrag und A m t . 4 9 Gewiß geht es letztlich um die „Einheit und Reinheit der Kirche in Gottes W o r t " . 5 0 Aber ohne die damit verbundene Frage der Amtsenthebung hätte d a s Verfahren keinen Anlaß und würde der Spruch keine Wirkung entfalten, wenn er denn überhaupt eine Berechtigung hätte. Kirchen amtliche Erklärungen und Äußerungen in Glaubensfragen gibt es zuhauf. Wirkung für Einheit und Reinheit der Kirche in Gottes Wort erlangen sie in einer besonderen Weise dort, w o klare Scheidungen auch im Rechtssinne vollzogen werden.

Die Beziehung auf Amt und Auftrag des Betroffenen läßt d a s Wagnis und Zeugnis der Lehrentscheidung rechtsverbindlich werden. Die überwunden geglaubte Verfügung der Kirche über ihre Lehre erscheint in anderem Gewände wieder. D a s Unbehagen und die Zweifel am Lehrverfahren sind in der evangelischen Kirche daher auch nie ganz ver-

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s t u m m t . 5 1 Es gilt nur eines deutlich zu sehen: Die Bedenken setzen allesamt zu spät an. Sie betreffen letztlich nicht die Lehrzucht, sondern die Verknüpfung von Verkündigung und R e c h t im evangelischen Kirchenrecht überhaupt. Rudolph Sohm hat mit der ihm eigenen Scharfsichtigkeit erkannt, daß die Wurzel aller Bedenken im R e c h t des Geistlichen an seinem A m t liegen, und daß Lehrverfahren nur eine logische Konsequenz dieses Rechts a m geistlichen A m t s i n d . 5 2 Das Recht am Amt entspricht heute unserer kirchlichen Rechtswirklichkeit. Da bei Erfüllung entsprechender Voraussetzungen auch ein Recht auf das Amt anzuerkennen sein wird, werden die heutigen Verfahren bei der Zurückweisung von Pfarramtsbewerbern aus Gründen der Lehre kaum mehr den Anforderungen entsprechen. 53 Dagegen führt es zu weit, dem Recht auf das Amt auch noch ein Recht auf das unangefochtene Amt anzugliedern, wie es der Musterentwurf der Arnoldshainer Konferenz mit dem Antragsrecht des Pfarrers nach §3 vorsieht: Der Pfarrer soll „zu seinem Schutz" die Einleitung eines Verfahrens gegen sich selbst beantragen können. Evangelisches Kirchenrecht muß sich davor hüten, das Lehrverfahren seines Charakters a!s eines Grenzfalles und Wagnisses zu entkleiden und es zur Normalität des kirchlichen Lebens werden zu lassen. Ein solches Antragsrecht entspricht dem Ernst der Grenzsituation einer Lehrentscheidung nicht und führt zu einer Überprivilegierung des Amtsträgers, der kein Mehr an Freiheit von Widerspruch beanspruchen kann als jedes Gemeindeglied. Aufgrund ihrer Fürsorgepflicht ist die Kirchenleitung verpflichtet, den Amtsträger vor unberechtigten Angriffen in Schutz zu nehmen. Der Rechtsakt der Ablehnung eines beantragten Verfahrens brächte darüber hinaus weder Zuwachs an Glaubwürdigkeit noch an Vergewisserung des Glaubens, zumal ihm ja gerade kein Lehrverfahren zugrunde liegt. Hier bietet sich ein gefährliches Instrument an, Kirchenleitungen angesichts der lebendigen Auseinandersetzung der Geister in eine unangemessene Schiedsrichterrolle zu zwingen. Die Erkenntnis des Z u s a m m e n h a n g s von Lehrzucht und Amtsrecht weist auf die grundlegenden Gefährdungen des evangelischen Kirchenrechts. Sie weist aber auch auf, d a ß es nicht möglich ist, die bestehenden Aporien gegen die Möglichkeit einer Lehrbeanstandung ins Feld zu führen: Sie würden in gleicher Weise das A m t in Zweifel ziehen, dessen Fortbestand die Problematisierung kirchlicher Lehrzucht sichern soll. Lehrbeanstandung ist in der evangelischen Kirche notwendig und legitim. Ihr Vorhandensein weist d a r a u f hin, daß auch die Kirche Anteil hat an der gefallenen Schöpfung und „ w i e jedes ihrer Glieder G o t t um Vergebung der Sünden zu bitten, mithin die fünfte Vaterunserbitte im eigenen N a m e n zu beten h a t " 5 4 . Anmerkungen 1

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Vgl. die 1523 erschienene Schrift Daß eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht oder Macht habe, alle Lehr zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift (WA 11,408) und dazu Hans Martin Müller 482 f; Georg Hoffmann 357. Dies ist übrigens kein Unterscheidungsmerkmal zur katholischen Auffassung, da auch dort „die Bezeugung der Glaubenswahrheit Sache aller Christen" ist, „freilich in je verschiedener Weise"; vgl. Walter Kasper 32. Martin Heckel, Zum Sinn und Wandel der Freiheitsidee im Kirchenrecht der Neuzeit: ders., GS I (Jus Ecc 38) 450. Hoffmann 346. Vgl. die Erklärung der VELKD zur Lehrverpflichtung vom 16.6.1956, Abschn. III: Härle/Leipold (Hg.) 11,148. Die „Lehrgewalt hat letztlich das Wort Gottes selbst inne". Zum Gemeinschaftsgedanken Müller. Daß eine christliche Versammlung . . . Wilfried Härle, 311. Hans Martin Müller, Der rechtliche Status der Vikare in theol. Sicht: ZEvKR 22,288. §73 ALR: Härle/Leipold (Hg.) 11,82. Anders die gutachtliche Äußerung des Kirchenrechtlichen Instituts der Ev. Kirche in Deutschland vom 12.9.1985, welche dem „Ordinationsvorhalt" im Rahmen der gottesdienstlichen Ordinationshandlung keine kirchenrechtliche Bedeutung zumißt. Überblick über die bestehenden Ordinationsverpflichtungen bei Härle/Leipold 11,21 ff. So aber Wilhelm Maurer, Art. Lehrverpflichtung und Lehrfreiheit: R G G 3 4 (1960) 278. Klaus Schiaich (500) in Abgrenzung zu Kahl. Anders (nur Gewissenspflicht) Maurer, s. Anm. 10,

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Anders Maurer, s. Anm. 10, 284.

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L. Mohaupt, War das Verfahren theol. möglich?: ders., Pastor ohne Gott?, Gütersloh 1979, 199. Müller 498. Vgl. die württembergische Agende für die Einführung kirchlicher Mitarbeiter und §34 der württ. Wahlordnung: „ . . . bin ich bereit, mein Amt als . . . zu führen und dabei mitzuhelfen, daß das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und in den Bekenntnissen der Reformation bezeugt ist, aller Welt verkündigt wird". Martin Heckel 155 ff mit weiteren Nachweisen. Z . B . die Promotionsverpflichtung der Ev.-theol. Fakultäten Bonn und Münster: „Promitto ac spondeo me doctrmam evangelicam constanter professurum atque vitam theologo christiano dignam acturum": Härle/Leipold. 11,20. Heckel; anders Maurer, s. Anm. 10, 280, der zwischen der Lehrfreiheit der Wissenschaft und der Lehrverpflichtung der Verkündigung unterscheidet und damit einen Gegensatz zwischen Lehrfreiheit und Lehrverpflichtung begründet. Auch Hans Graß, Systematische Erwägungen zu Lehramt und Lehrbeanstandung: Beiheft 1 zum Materialdienst des konfessionskundlichen Instituts Bensheim 1981, 2 6 - 2 8 unterscheidet zwischen der Freiheit von Forschung und Lehre, die keinen anderen Maßstab kenne als die Wahrheit selbst, und der kirchlichen Bindung, spricht aber einer „Selbstverpflichtung" des akademischen Theologen das Wort, da er die These als unbefriedigend empfindet, der akademische Theologe habe die volle, uneingeschränkte Lehrfreiheit, während der Gemeindepfarrer „an bestimmte, von der Kirche festgesetzte Regeln und Vorschriften gebunden" sei. Müller (493) weist darauf hin, daß sich dieser im 19. Jh. vereinzelt praktizierte Ausweg anders als im staatsfreien amerikanischen Kirchenwesen bei uns glücklicherweise nicht durchgesetzt hat. Luthers Rat („Daß eine christliche Versammlung . . . " ) , falsche Lehre „zu meiden, zu fliehen, abzusetzen, sich zu entziehen . . . " , bedeutet zunächst keine Aufkündigung der Kirchengemeinschaft. Erklärung zur Lehrverpflichtung und Handhabung der Lehrgewalt der VKLKD a . a . O . 149, vgl. Hoffmann 361. Einen informativen Überblick über die Entwicklung der kirchlichen Ordnung bietet Wilfried Härle in den Einführungsabschnitten zu Bd. II der Dokumentation. Dargestellt bei Albert Stein, Evangelische Lehrordnung 161 f. Schreiben des Konsistoriums vom 15.12.1891: Christoph Schrempf (Hg.), Akten 43f. Übersicht bei Albert Stein, Probleme 60. Heckel 172f mit weiteren Nachweisen. Abgedruckt bei Härle/Leipold 1,118. Nach Härle, Lehre und Lehrbeanstandung 314 Anm. 70. Der Mitbegründer der Christengemeinschaft Friedrich Rittelmeyer schied freiwillig aus dem Pfarramt; vgl. Stein, F.v. Lehrordnung, 263 f. Vgl. Müller mit Zitat von Mulert, Stein, Probleme 186. Auf diesen Punkt weisen die Unterzeichner einer Eingabe an das Konsistorium im Fall Schrempf hin: „Wir verschmähen es nun hiebei, von der durch den Wortlaut dieser Verpflichtung erlaubten und auch vielfach empfohlenen Unterscheidung zwischen amtlichen Lehrvorträgen und persönlicher Glaubensüberzeugung Gebrauch zu machen, wonach nur die amtliche Lehrtätigkeit in Kirche und Schule von dieser Verpflichtung getroffen würde, während es dem Geistlichen unbenommen bliebe, für sich selber abweichende Uberzeugungen zu hegen. Eine solche Teilung zwischen amtlicher Tätigkeit und persönlicher Überzeugung halten wir in allen wesentlichen Stücken der Lehre für unvereinbar mit dem Wesen des evangelischen Predigtamts.": Christoph Schrempf, Nottaufe 3 f. Stein, Probleme 180. Davon war im Fall des badischen Pfarrers Weygand auszugehen (Verweigerung des agendarischen Vollzugs der Kindertaufe infolge grundsätzlichen Bestreitens des kirchlichen Rechts zur Kindertaufe). Das bayerische Kirchengesetz betreffend Verfahren bei Ablehnung gottesdienstlicher Ordnungen vom 7.9.1927 sah dagegen eine lehrzuchtmäßige Behandlung auch dann vor, wenn sich ein Geistlicher „beharrlich in einen Gegensatz zu wesentlichen Bestandteilen der in der Kirche festgesetzten gottesdienstlichen Ordnungen" setzt und diesen Widerspruch „mit einer dem bekenntnisund lehrmäßigen Gehalte dieser Ordnungen entgegenstehenden Glaubensüberzeugung" begründet. Stein, Probleme 61. Hermann Weber, Anm. zum Urteil des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes der VELKD vom 12.11.1969: ZEvKR 15 (1970) 411. Albert Stein, Begründung zum Entwurf einer Ordnung : Härle/Leipold, Lehrfreiheit 11,164. Es handelt sich nach dem Gesagten nicht um Rechtsminderung, sondern um verstärkten Rechtsschutz; so Hoffmann aaO (Anm. 1) 375. Hoffmann (340) nennt als Möglichkeit kirchlicher Einflußnahme nur die Mitwirkung bei der

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Berufung, den Entzug der Rechte aus der Ordination sowie den Ausschluß von kirchlichen Prüfungen. Zum Ganzen Heckel 150-195. 36 Heckel 99 ff. 37 Anders noch H a n s Graß (202): „ d a ß man die Theologie einem kirchlichen Lehramt unterstellt . . . , das kann evangelischerseits nicht begründet werden". Ähnlich H a n s Joachim Iwand. Kahls Devise: „Die Kirche bleibt Herrin in ihrem Hause, wie die Theologie es in dem ihrigen bleiben soll" (Wilhelm Kahl, Bekenntnis, Gebundenheit und Lehrfreiheit, 1897, 26 f), kann indes heute nicht mehr maßgebend sein. 38 Heckel 192. 39 J.V. Bredt, Neues Ev. Kirchenrecht für Preußen II, 1922, 689. 40 Aus dem Schlußplädoyer des juristischen Beistands, Haug von Kuenhein (562 f). Ebenso 561: „Ich meine, das Kirchengesetz ist insoweit auch verfassungswidrig, als keine hinreichend bestimmten materiellen Rechtsgrundlagen vorhanden sind." Friedemann Merkel (279.281) äußert ähnliche Bedenken. 41 Vgl. NiklasLuhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969,23: „Läßt man dagegen von der Voraussetzung ab, daß Verfahren der Entdeckung der Wahrheit dienen, gewinnt man die Möglichkeit, ihre Funktion für die Legitimierung des Entscheidens unvoreingenommen in neuartiger, soziologischer Weise zu untersuchen." 42 Wilhelm Kahl 26 f. 43 Iwand 90. 44 Vgl. auch Jörg Baur 240: „Ihre Funktion wäre falsch angesetzt, ginge man mit ihnen in solcher Erwartung u m . " 45 So aber Ekkehard Kaufmann: „Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Konsens leichter feststellbar ist als die schwierige Frage, o b eine Lehre schriftgemäß sei oder nicht. Diese Feststellung liefert aber zugleich eine brauchbare Rechtsgrundlage für die Entfernung eines Geistlichen". Dagegen Ruppcl: ZEvKR 9 (1963) 99 und Stein, Probleme 185 f. 46 Eduard Lohse 324. Schleiermacher, Der christliche Glaube 361, spricht von Ermittlung der „Angemessenheit des Einzelnen zu den ursprünglichen Äußerungen des Geistes". 47 Schiaich 504. Nach § 11 der Württ. Lehrzuchtordnung ist sie „vor der Gemeinde des Betroffenen zu bezeugen". 48 Stein, Probleme 162; vgl. Jörg Baur 245: „Wo Kirchc sich nicht getrauen kann, ,damnamus' zu sagen, ist auch kein Bekenntnis." 4 ® So zutreffend Schiaich (500); Rudolf Weeber (387): „Die Rechtswirkung, die im Verfahren hervorgebracht wird, z i e l t . . . gar nicht auf die Lehre, sondern auf das kirchliche Amt des Lehrenden, das er behalten darf oder verliert". Müller (500): „es handelt sich . . . um eine Entscheidung, die streng auf die amtliche Funktion bezogen ist." Dagegen Heckel (176), der einen diametralen Widerspruch zum tieferen Sinn des Lehrverfahrens sieht, wenn die Lehrentscheidung „juristisch in das Amtsrecht zurückkonstruiert wird". Ks fällt auf, daß auch Stein, Ev. Lehrordnung 259 bei der Aufzählung der Ziele des Lehrverfahrens die Entscheidung über den Fortbcstand des Amtes zunächst nicht einzeln nennt, vgl. aber 264f. 50 Heckel. 51 Kahl sprach von der „gefahrvollsten Klippe für das geistliche Wesen der evangelischen Kirche" (Bekenntnis, s.o. Anm. 37, 13); vgl. Weeber 385; Merkel 281; Härle 316. 52 Kirchenrecht 1,687. „In demselben Augenblick, in welchem das Recht des Geistlichen an Amt und Pfründe verschwindet, ist mit Notwendigkeit auch die rechtliche Verpflichtung des Geistlichen auf ein bestimmtes Lehrgesetz beseitigt" (688). Darin unterscheidet sich auch der Entzug der licentia concionandi im Konzentrationslager, von dem Stein (Probleme 141) berichtet, vom Lehrverfahren, vgl. 217. Weeber (385) bezeichnet es zu Recht als auffallend, wie problemlos das Recht bei der Berufung für tauglich empfunden werde und wie problemgeladen und hochempfindlich die Frage erörtert werde, ob dieses Recht auch widerrufen werden könne. Daß jedes „ M e h r " an Sicherung der Kirche hier ein „Weniger" wäre (Iwand), träfe nur dann zu, wenn nicht schon das Recht des Pfarrers an seinem Amt ein Höchstmaß an Sicherung in sich schlösse. 53 Baur 251. Das Irrlehregesetz von 1910 sah auch ein Verfahren wegen der Versagung der Berufung in ein geistliche Amt vor. Die Hannoversche Regelung von 1928 war in ein Kirchengesetz über die Anstellungsfähigkeit der Geistlichen eingearbeitet. 54 Eberhard Jüngel, Und vergib uns unsere Schuld als Bitte der Mutter Kirche: Zs. f. Arbeit u. Besinnung der Württ. Landeskirche 38 (1984) 932 unter Hinweis auf Luther. Quellen Wilfried Härle/Heinrich Leipold (Hg.), Lehrfreiheit u. Lehrbeanstandung, I Theol. Texte, II Kirchenrechtliche Dokumente, Gütersloh 1985 (Lit.). - H a u g v. Kuenheim, Der Fall Paul Schulz. Die Dokumentation des Glaubensprozesses gegen den Hamburger Pastor, Köln 1979. - Luth. Kirchen-

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amt H a n n o v e r (Hg.), Niederschrift über das Feststellungsverfahren . . . gegen Pastor D r . Paul Schulz, H a n n o v e r 1979. - Christoph S c h r e m p f , Akten zu meiner Entlassung aus dem württembergischen Kirchendienst, G ö t t i n g e n 1 8 9 2 . - D e r s . , Eine N o t t a u f e , kirchliche Aktenstücke nebst einem Beibericht, Stuttgart 1 8 9 4 .

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Martin Daur Leib/Leiblichkeit 1. Leib/Leiblichkeit im Alten T e s t a m e n t 2. Leib/Leiblichkeit im Neuen T e s t a m e n t 3. T h e o l o g i e des Leibes in T h e o s o p h i e und Idealismus 4 . Ist das Christentum leibfeindlich? (Literatur S . 6 4 2 )

1. Leib/Leiblichkeit

im Alten

Testament

So wenig die Bibel eine ausgeprägte Lehre vom Menschen hat, so wenig hat sie eine solche von Leib und Leiblichkeit. Diese ist vielmehr eingeordnet in eine heilsgeschichtlich bestimmte Totalschau vom Personleben des Menschen. Wenn in der Schöpfungsgeschichte der Genesis (Gen 2,7) der Mensch von Gott aus einem Erdenkloß geformt wird, dem der Schöpfer den Geist einhaucht und ihn so zu einem lebendigen Personwesen macht, so sind darin folgende Momente ausgesprochen: Es gibt eine Solidarität des Menschen mit der übrigen Kreatur, wobei die Leiblichkeit das Medium ist, das ihn mit dieser verbindet (vgl. die etymologische Verwandtschaft von 'adam = Mensch und damä = Erde und Gen 3,19); Leib und -»Geist gehören gleichermaßen zum Menschen, wobei jedoch letzterer nicht aus der Leiblichkeit abzuleiten ist, sondern als Lebensprinzip von Gott selbst stammt. Die Frage, ob das Alte Testament dichotomisch oder trichotomisch denke, also eine strikte Unterscheidung zwischen -»Seele und Geist mache, ist müßig, da sie der Denkart des Alten Testaments fremd ist. Geist, Seele und Leib meinen jeweils den ganzen

Leib/Leiblichkeit

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Menschen in je verschiedener Hinsicht. Ps 1 6 , 9 - 1 0 a ; 63,2; 84,3 zeigen, daß Fleisch als hebräisches Äquivalent für Leib im Parallelismus sogar gleichgesetzt werden kann mit Seele (napasch). Im Hebräischen wird zwischen dem Organ und seiner Funktion nicht scharf unterschieden, vielmehr charakterisiert ein Organ jeweils eine Möglichkeit menschlichen Daseins, so ncephcesch den Menschen, sofern er auf etwas aus ist, ru"ch, soweit er Stimmungen unterworfen ist und Fähigkeiten hat, leb soweit er denkt und sich entscheidet, basar, soweit er hinfällig, ohnmächtig und vergänglich ist (so W. Schmidt). In der Leiblichkeit des Menschen verbinden sich Solidarität mit wie Distanz von der außermenschlichen Schöpfung, ist er doch einerseits in seiner Vergänglichkeit dem Gras und des Grases Blume vergleichbar (Jes 40,6), andererseits aber wenig niedriger als Gott (Ps 8,6), ist er ja von Gott als Herrscher eingesetzt über das Werk seiner Hände, womit der Kern dessen angesprochen sein dürfte, was unter Gottebenbildlichkeit (Gen 1,27; —»Bild Gottes; -»Mensch) zu verstehen ist. Wenn in der mesopotamischcn Umwelt der Bibel der T i t e l der Gottebenbildlichkeit nur den Königen als Ehrentitel z u k a m , so k ö n n t e man in der biblischen Übertragung dieses Titels auf jeden M e n s c h e n schlechthin eine „ D e m o k r a t i s i e r u n g " sehen, deren letzte Begründung freilich eine religiöse ist: D e r M e n s c h ist dialogischer Partner G o t t e s , der sein W o r t vernimmt und von ihm sein Lebensgesetz e m p f ä n g t , nämlich die Weltverwalterschaft über die Schöpfung ( H . W . Wolff, Anthropologie 2 3 3 - 2 4 2 ) .

Obwohl der Mensch als Krone der Schöpfung den „ G ö t t e r n " nahesteht (Ps 82,6; -•Schöpfer/Schöpfung), so bringt ihm doch seine Sünde das Los des Sterbenmüssens (V.7; Gen 8,21), das sich jedoch immer als individuelles Ereignis konkretisiert, nicht als Ausrottung der ganzen Menschheit. Damit ist die leibliche Existenz des Menschen in den Duktus der Heilsgcschichtc einbezogen, die im Noahbund ihren Anfang nimmt und ihr Ziel im Abrahams- und Sinaibund ( G e n l 2 , 2 f ) hat ( - » Bund). Entscheidend für das Problem der Leiblichkeit ist aber, daß des Menschen Vorrang vor aller anderen Kreatur darin besteht, daß er „als bewußtes Ich von Gottes Wort erreicht werden und damit zur Verantwortung gerufen werden k a n n " (W. Eichrodt, T h c o l . des A T 11,63). -»Leben gibt es im Alten Testament nur „in der Bczogenheit auf G o t t " (Käsemann, Leib u. Leib Christi 9). Im Duktus der Heilsgcschichtc folgt auf Schöpfung und Sündenfall göttliche Erlösung. Diese betrifft in der späteren Prophctie auch die Leiblichkeit; so eröffnet die dem Propheten Ezechiel (37) widerfahrene Vision von der Auferweckung Israels die Denkmöglichkeiten nicht nur einer kollektiven, im Politischen sich vollziehenden Neuwerdung des Volkes, sondern auch einer individuellen Auferstehung. Dieser erst im späten Judentum auftauchende Gedanke findet sich noch nicht in den frühen Schichten der biblischen Tradition, wo mit dem Tod das Gotteslob (Ps 6,6) und damit das Leben zu Ende ist (Jes 26,14; 38,18). Den Urdrang der Geschlechter zueinander (-»Sexualität) erklärt die Genesis aus einer ursprünglichen Einheit von - » M a n n und -»Frau, die im Kinde wieder zu „einem Fleisch" (Gen 2,24) werden soll. Somit ist Sexualität eine Naturgewalt, die nichts Verwerfliches an sich hat, ebensowenig wie die ursprüngliche Nacktheit der Urmenschen; Scham ist das Gefühl gestörter Harmonie und Korrelat von Sünde und Schuld (Gen 3,7). Wenn göttliche -»Offenbarung zu verstehen ist als „ein Kommen Gottes tief in die Dinglichkeit, Leiblichkeit und Verfügbarkeit der Welt" (van Oyen 24), wenn diese Welt seine Welt ist (Ex 19,5), in der der „penetrante Immanenzwille G o t t e s " (v. Rad) herrscht, dann ist oberstes Ziel menschlichen Handelns, diese Welt zum Eigentum Gottes zu machen, sie für Gott zu heiligen.

2. Leib/Leiblichkeit

im Neuen Testament

Zum Kern dessen, was im Neuen Testament das christliche Kerygma ausmacht, die Botschaft von der eschatologischen Rettung „des von G o t t gerechtfertigten Sünders, der seine Existenz als Geschenk versteht und dadurch befreit zu verantwortlichem Handeln fähig i s t " ( T R E 16,671 ff), gehört auch die Leiblichkeit des Menschen. In Jesus vollzieht

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Leib/Leiblichkeit

sich die Fleischwcrdung Gottes (Joh 1,14), und darum strahlt die - » L i e b e Gottes im Wirken Jesu gerade auch auf die durch - » K r a n k h e i t und - » T o d gefährdete Leiblichkeit aus. Die zahlreichen synoptischen und johanneischen Berichte von Krankenheilungen und Totenerweckungen sind als Zeugnisse dafür zu verstehen, daß die Kraft des in Jesus erschienenen Reiches Gottes fähig ist, auch die M a c h t des Todes zu brechen. Wenn Paulus vom „ L e i b " spricht, meint er zunächst die äußere Erscheinungsweise des Menschen (Gal 6,17; I Kor 9,27) in der raum-zeitlichen Dimension. „ L e i b " (aeö/ia) ist die menschliche Person, sofern sie in irdischen Lebenszusammenhängen steht (Zeugung - I Kor 6,16; Tod - R o m 7,24), der „ M e n s c h in seiner Geschöpflichkeit" (Käsemann, Leib 125). Während „ F l e i s c h " (oäp£) den Menschen in seiner Preisgegebenheit an die Versuchlichkeit der Welt meint, ist „ L e i b " die in die Entscheidung für oder gegen G o t t gestellte Person. Ziel des Leibes ist, sich G o t t zum Opfer darzugeben ( R o m 12,1), G o t t an seinem Leibe zu verherrlichen (I Kor 6,20), - » T e m p e l Gottes und des Heiligen Geistes zu sein (I Kor 3 , 1 6 f ; 6,19). „Etöfta ist der O r t , an dem der Glaube lebt, an dem sich der Mensch in die Herrschaft Gottes gibt. So wird otö/ia der Bereich, in dem der Mensch d i e n t " (E. Schweizer, Art. ad>fia: T h W N T 7 , 1 0 6 3 , 1 4 f f ) . Der Gedanke der „ C h r i s t u s m y s t i k " , als des In-Seins in Christus als Gliedschaft am Leibe Christi, bezeichnet zugleich den Übergang von einem cHristologischen Leibverständnis zur - » E t h i k . -»Auferstehung, neues Leben, Sein im Geist sind für Paulus ohne Leiblichkeit nicht denkbar. Wenn etwa in R o m 8 die Hoffnung auf die Erlösung ( - » H e i l und Erlösung) von der Vergänglichkeit ausgesprochen wird, so ist dabei nie an einen Übergang in einen Zustand der Leiblosigkeit gedacht. Die Identität der Person hält sich auch in der Vernichtung des alten Menschen und der Neuwerdung im Geist durch, auch wenn gilt, daß die Auferstehung ganz Gottes Tat ist. Wie Samenkorn und Pflanze in je verschiedenen Formen doch dasselbe sind, so auch der Mensch vor und nach der Auferstehung (I Kor 15,35ff). Die Analogie von S a m e n k o r n und Pflanze für das Verhältnis von Leiblichkeit vor und nach der A u f e r s t e h u n g ist i n s o f e r n i n a d ä q u a t , als sie ein e v o l u t i o n i s t i s c h e s M i ß v e r s t ä n d n i s n a h e l e g t u n d d e r T a t s a c h e von T o d und G e r i c h t G o t t e s nicht gerecht wird. S o wird das Verhältnis von N a t u r a l i s m u s u n d G e s c h i c h t l i c h k e i t bei P a u l u s z u m „ h ö c h s t a k u t e n P r o b l e m " ( K ä s e m a n n , L e i b 1 3 6 ) .

Das Problem des Verhältnisses von mythologischem Naturalismus und Geschichtlichkeit redupliziert sich in der Formel vom Leib Christi. Diese hat offensichtlich ihre Vorläufer in der iranisch-indischen, die Gnosis beeinflussenden Idee vom Kosmos als „Leib G o t t e s " sowie im stoischen Vergleich der Welt mit einem Organismus (vgl. T R E 1 6 , 6 9 0 f ) , wobei es Paulus aber nicht um die Übernahme einer Mythologie geht, sondern um die -»Paränese der sich als Glieder am Leibe Christi verstehenden Christen. Um die Einheit der Zugehörigkeit zur - » K i r c h e als Leib Christi und Vielfalt der Geistesgaben klar zu machen, verwendet Paulus das Bild vom Organismus (1 Kor 12,12), in dem es Ordnung und Harmonie geben kann, wenn alle Glieder sich gegenseitig respektieren und Liebe das den ganzen Körper durchwaltende Prinzip ist (Kap. 13). Kol 1,18 wird Christus als das Haupt des Leibes bezeichnet, wobei der Briefschreiber aber das gnostische Verständnis des Leibes als „ W e l t " dahin korrigiert, daß unter dem Leib die Kirche zu verstehen ist, freilich nicht die Ortskirche, sondern die Weltkirche (1,24ff; 2,19). Wenn auch Christus das Haupt der M ä c h t e ist (2,10) und durch seinen T o d am - » K r e u z die Allversöhnung eingeleitet ist (1,20), so ist doch nur die Kirche sein Leib (Eph 1 , 2 2 f ; 5 , 2 9 f ) . D a ß es trotz ,,weitgehende[r] Verwandtschaft zwischen Paulus und der hellenistischen M y s t i k " (Bultmann, Das Problem der Ethik bei Paulus: ders., Exegetica, 1967, 47) doch nicht zu einer Koinzidenz der Systeme kam, zeigt sich nicht zuletzt an den Konsequenzen für die - » E t h i k . Wird vom Mysten der hellenistischen Kulte die konkrete Existenz des Menschen als uninteressant ignoriert, weil die Kontinuität zwischen dem Wiedergeborenen und dem alten Menschen zerrissen ist, ist das beim Christen nicht der Fall. Für ihn gilt die Antinomie des Nebeneinanders von Indikativ und Imperativ, der Zuspruch des Heils im Glauben an die -»Rechtfertigung des Sünders ( R o m 5) und die Verbindlichkeit der

Leib/Leiblichkeit

641

göttlichen Forderung (Rom 7). Damit fallen für den Christen zwei ethische Grenzsituationen als sein Leben bestimmende Möglichkeiten aus - einmal der Libertinismus, dessen Freiheitsverständnis im Grunde ein „Trachten des Fleisches" (Rom 8,6) ist, dann aber auch die leibfeindliche -»Askese, wie sie die Qumransekte (-»Qumran) und in deren Gefolge die Johannesjünger pflegten (Mk 2,18 par.; Mt 11,19; -»Johannes der Täufer). Kriterium für den Genuß irdischer Güter ist der Dank, den wir als die Gaben Gottes Genießenden aussprechen dürfen im -»Gebet (I Tim 4 , 3 - 5 ) . Die orphisch-platonische Anschauung vom Leib als Kerker oder Grab der Seele (ocöfia — otjfta) ist dem Neuen Testament ebenso fremd wie die manichäische Identifizierung des Leibes mit dem Bösen. Die Auseinandersetzung mit diesen Richtungen gehört ebenso wie das Problem des Verhältnisses von -»Leib und Seele in die christliche Dogmen- und Ketzergeschichte und kann im einzelnen hier nicht nachgezeichnet werden (-»Seele). 3. Theologie

des Leibes in Theosophie

und

Idealismus

„Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes" - so faßt der schwäbische Theosoph Fr. Chr. -»Oetinger den Kern seiner Theologie zusammen (Bibl. u. emblematisches Wb., 1776). Dabei geht es ihm um den metaphorischen Gebrauch des Begriffs Leiblichkeit: Er „verweist auf die bleibende Verleiblichung Gottes in den vielfältigen Dimensionen seiner Schöpfung" (Krieg 54). Im Rückgriff auf die drei Komponenten der Emblematik (-»Emblem/Emblematik), -»Alchcmie und -»Kabbala kommt der Theosoph zur Idee einer Transparenz der Leiblichkeit, die sich nicht auf die äußerlich sichtbare Körperlichkeit beschränken läßt, sondern letztlich christologisch und eschatologisch begründet ist. Wie Gott seine Fülle in Christus eingehen läßt, so wird diese dem Menschen durch die Teilhabe am Leib Christi in Taufe und Abendmahl zuteil. Wahre Leiblichkeit heißt sich der Leiblichkeit Christi einbilden, leiblich sein „aus dem Fleisch und Blut Jesu". Die Geschöpfe haben gleichsam mehrere Leiber, einen solchen, der wieder zu Staub wird, und einen innerlichen Leib, der nicht zerstäubt, eine „Behausung, die vom Himmel ist", wobei das „große Geschäft Jesu" darin besteht, daß er das „Körperliche der Kreatur wieder in die erste Rcinigkeit bringt". Im Idealismus -»Schcllings erfolgt die Transposition der christologisch orientierten Thcosophie ins Anthropologische: Der Mensch als „Zentralwesen" steht im Anfang des neuen Bundes zwischen Gott und Schöpfung und soll in dieser Urvcrbundenheit mit Gott zum Mittler zwischen Natur und Gott werden (vgl. Phil. Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 1809). Nach Franz von -»Baader weiß die christliche Religion „von keiner Vergeistigung des Leiblichen, die nicht zugleich Verleiblichung.des Geistigen wäre" (SW 4,339). Weitere Vertreter der Idee von der „himmlischen" Leiblichkeit sind -»Paracelsus, Valentin -»Weigel, Jakob -»Böhme, Ph. Matthäus -»Hahn, Joh. Michael -»Hahn, Julius Hamberger (1801-1885), Joh. Aug. -Urlsperger, Chr. Hermann Weiße (1801-1866) und R. -»Rothe. Auch die „Heiligen der letzten Tage" (-»Mormonen) legen Wert darauf, daß die Bildrede der Bibel von Auge, Arm, Ohr oder Händen Gottes massiv-realistisch zu verstehen sei. Das biblische Wahrheitsmoment der theosophischen „Theologie des Leibes" liegt darin, daß christliche Hoffnung sich nicht nur an der Restitution dessen orientiert, was durch Adam verloren ist, sondern an der Vollendung der Menschheit, wie sie in Christus als „letztem Werk Gottes" ans Ziel gekommen ist. 4. ¡st das Christentum

leibfeindlich?

Zeichen für das christliche „Unbehagen an der Materie" (Rahner/Görres 9) finden sich in fast allen Jahrhunderten der Kirchengeschichte. Unter dem Einfluß der -»Gnosis schreibt -»Lactantius in De opificio Dei: Der Seele haftet das Gute an, dem Leib Finsternis, Tod und Ungerechtigkeit... Im Geist haben die Tugenden, im Leibe die Laster ihren Sitz, und beide bekämpfen einander. Die mönchische Asketik sagt daher dem Leib den

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Leib/Leiblichkeit

Kampf an. In der Neuzeit erheben der moderne Materialismus und Vitalismus den Vorwurf der Leibfeindlichkcit. L. -»Feuerbach findet den Grundcharakter des Christentums, die Weltentsagung, schon bei Kirchenvätern wie Ambrosius, Origenes, Bernhard und stellt fest, daß „diese Gesinnung der Absonderung vom Leben, vom Leibe, von der Welt, diese erst hyper-, dann antikosmische T e n d e n z " auch schon „acht biblischen Sinnes und Geistes i s t " (Wesen des Christentums 4 1 0 f ) . Im Gefolge von Feuerbach findet auch K. - » M a r x im Christentum eine grundsätzliche Verwerfung des Menschen in seiner Leiblichkeit. M t 5 , 2 9 f sind für ihn ein Beweis dafür, daß im Christentum „Auge, H a n d , Leib eigentlich bloß überflüssige, sündige Zutaten des M e n s c h e n " sind (Marx/Engels, G A I, 1/1,355). Nach Fr. -»Nietzsche sind Armut, Demut und Keuschheit „gefährliche I d e a l e " , die dem „Willen zur M a c h t " als Durchsetzung der Selbstverwirklichung widersprechen. Zu den Kunstgriffen des Christentums gehört u . a . auch die Perhorreszierung des Leibes als „Leitfaden der Weltorientierung". Dagegen stellt der anglikanische T h e o l o g e W. —»Temple unter Berufung auf J o h 1,14 fest: Cbristianity alone of religions does justice to the physical. Other Spiritual interprétations of life treat it as illusory, or, at best, as rtegligible ( T h e Nature o f Personality, London 1915, X X X ) . Hinsichtlich der paulinischcn Anthropologie wehrt A. -»Schlatter eine dualistische Auffassung ab, als sei die Sünde strukturell in der Leiblichkeit begründet; Paulus habe weder ein negatives Verhältnis zur Natur gehabt (Theol. des N T 11,1910,282) noch jemals der „ M i ß a c h t u n g und Mißhandlung des L e i b e s " das Wort geredet (Paulus und das Griechentum 20). Sowohl die katholische als auch die protestantische T h e o l o g i e der Gegenwart betonen, daß in den göttlichen Schöpfungswillen die Leiblichkcit des Menschen miteingeschlossen ist. Wer den Menschen nur als abstraktes Vernunftwesen oder als rein sinnliches Wesen auffaßt, das in Sex und Sport seine Erfüllung findet, verfehlt das Spezifische am Menschen. Da der Mensch ein leibliches Wesen ist, gibt es Vitalwerte wie Gesundheit und körperliches Wohlbefinden, die auch vom Christentum anerkannt und gepflegt werden ( - » K r a n k h e i t ; Sport). Da der Mensch aber als Leib und Seele geschaffen ist, das „Vernehmen des göttlichen Wortes durch die Seele geschieht, nicht durch den Leib, so sehr auch der Leib dabei werkzeuglich mitbeteiligt i s t " (E. Brunner, G e b o t 178), ist Vitalität nicht der einzige Wertmaßstab, vielmehr steht darüber der Dienst an der Gottesherrschaft, der zugleich ein Handeln im Dienst der Liebe zum Nächsten ist. Z u r christlichen Freiheit gehört eine vernünftige Leibsorge, die jedoch nicht bedeuten kann, daß der Triebsphäre die Totalsteuerung des Lebens überlassen wird ( R o m 13,14). - Vor allem die katholische T h e o l o g i e betont, daß die Materialität des Seienden zur Ermöglichung von Kommunikation notwendig ist. Eine solche wäre raum-zeitlosen Wesen, ohne gemeinsame Weltlichkeit und Leiblichkeit, gar nicht möglich, aber auch nicht die Erfahrung des Heils, für die - nach dem Wortspiel Tcrtullians „ c a r o salutis est c a r d o " (De carnis rcsurr.,8) - die Leiblichkeit die Türangel ist zur „Selbstaussage Gottes aus sich heraus in die leere Nichtigkeit des G e s c h ö p f e s " (Rahner 32). Literatur Diese beschränkt sich auf bibelthcologisch relevante T e x t e unter Weglassung der philosophischen Literatur. S. dazu - » L e i b und Seele. Karl-Adolf B a u e r , Leiblichkeit das Ende aller Werke G o t t e s , 1971 ( S t N T 4). - Ernst B e n z , Der v o l l k o m m e n e M e n s c h nach J a c o b B ö h m e , Stuttgart 1 9 3 7 . - J o s e f B e r n h a r t , Metaphysik u. Formideal des Leibes in der griech. Antike: Vom Wert des Leibes in Antike, Christentum u. Anthropologie der G e g e n w a r t , Salzburg 1 9 3 6 , 9 - 5 5 . - D c r s . , Leib u. Verlciblichung in geschichtsphil. Betracht: Beuroner H o c h s c h u l w o c h e 1949, 4 9 - 7 6 . - Klaus B o c k m ü h l , Leiblichkeit u. Gesellschaft. Stud. zur Religionskritik u. A n t h r o p o l o g i e im F r ü h w e r k v. L . Feuerbach u. Karl M a r x , 1961 2 1 9 8 1 ( F S T h R 7). Walter Brugger, Die Verleiblichung des Wollens: Schol. 25 (1950) 2 4 8 - 2 5 3 . - Emil B r u n n e r , Das G e b o t u. die O r d n u n g e n , T ü b i n g e n 1933 4 1 9 7 8 . - D e r s . , Der M e n s c h im Widerspruch, Z ü r i c h 1937 M 9 8 5 . - Franz B ü c h n e r , Vom Wesen der Leiblichkeit: Beuroner H o c h s c h u l w o c h e 1948, 2 7 - 4 7 . Edouard D h o r m e , L'emploi m é t a p h o r i q u e des n o m s des parties du corps en hébreu et en accadien: R B 2 9 - 3 2 ( 1 9 2 0 - 1 9 2 3 ) = Sonderdruck Paris 1923. - H a n s - E d u a r d Hengstenberg, Der L e i b u. die

Leib und Seele

643

letzten Dinge, Regensburg 1955. - Ders., Seinsüberschreitung u. Kreativität, M ü n c h e n 1979. - Walter J . Hollenweger, Erfahrungen der Leibhaftigkeit, M ü n c h e n 1979 (Interkulturelle T h e o l . 1). D e r s . , Leiblichkeit ist das Ende der Werke G o t t e s : Ö R 2 0 (1971) 6 7 . - Alexander R . Hülst, Kol B a s a r in der priesterl. Fluterzählung: O T S 12 (1958) 2 8 - 6 8 . - H a n s W. H u p p e n b a u e r , bsr „ F l e i s c h " in den T e x t e n von Q u m r a n : T h Z 13 (1957) 2 9 8 - 3 0 0 . - Aubrey R . J o h n s o n , T h e Vitality o f the Individual in the T h o u g h t o f Ancient Israel, Cardiff 2 1 9 6 4 . - Ernst K ä s e m a n n , Leib u. Leib Christi, 1933 ( B H T h 9). - Ders., Art. Wunder IV. Im N T : R G G 3 6 (1962) 1 8 3 5 - 1 8 3 7 . - Ders., D a s theol. Problem des M o t i v s vom Leibe Christi: ders., Paulinische Perspektiven, T ü b i n g e n 1969, 1 7 8 - 2 1 0 . — M a t t h i a s Krieg/ H a n s Weder, Leiblichkeit, 1983 ( T h S t 128). - J o h n F. M c C o r m i c k , T h e burden of the body. A note on Q . Q . Disp. de Veritate 9 , 2 (de caritate), a. 10: N S c h o l 12 (1938) 3 9 2 - 4 0 0 . - R o d o l p h e M o r i s e t t e , L'expression o&pa en 1 C o r 15 et dans la litt. Paulienne: R S P h T h 5 6 (1972) 2 2 3 - 2 3 9 . - R o l a n d E . M u r p h y , B S R in the Q u m r a n literature: ders., Sacra Pagina II, G e m b l o u x 1959, 6 0 - 7 6 . - J o a c h i m Oelsner, Benennung u. Funktion der Körperteile im hebr. A T , Diss. Leipzig 1961. - Friedrich Christoph Oetinger, Bibl. u. F.mblematisches W b . , H e i l b r o n n 1776, Hildesheim/Berlin 1969, 4 0 7 [Art. Leib-Sorna; [dazu Ursula H a r d m e i e r , Fr. C h r . Oetinger. B i b l . u. emblematisches W b . , Diss, theol. Heidelberg 1974]. - R i c h a r d B . O n i a n s , T h e Origins o f European T h o u g h t a b o u t the B o d y , the M i n d , the Soul etc., C h i c a g o 1951. - Hendrik van O y e n , E t h i k des A T , Gütersloh 1967 (Geschichte der Ethik 2). - Ernst Percy, Der Leib Christi in den paulinischen h o m o l o g o u m e n a und antilegomena, 1942 ( A U L . T 3 8 , 1 ) . - V i c t o r Poucel, Plaidoyer pour le c o r p s , Paris 1937; dt.: Gegen die W i d e r s a c h e r des Leibes, Freiburg 1955. - Karl R a h n e r / A l b e r t C o r r e s , Der Leib u. das Heil, M a i n z 1967. - Werner Reiser, Die Verwandtschaftsformel in Gen 2,23: T h Z 16 (1960) 1 - 4 . - H e r m a n n Ringeling, F.thik des Leibes, H a m b u r g 1965 (Stundenbuch 54). - J o h n A . T . R o b i n s o n , T h e B o d y . A Study in Pauline T h e o l o g y , L o n d o n 1952. - H . W h e e l e r R o b i n s o n , T h e H e b r e w conception o f c o r p o r a t e personality, 1936 ( B Z A W 6 6 ) , 4 9 - 6 1 . - O t t o Sander, Leib-Seele-Dualismus im A T ? : Z A W 7 7 (1965) 3 2 9 - 3 3 2 . J o s e f Scharbert, Fleisch, Geist u. Seele im Pentateuch, 1966 (SBS 19). - W i l h e l m S c h a u f , S a r x . Der Begriff Fleisch beim Apostel Paulus unter bes. Berücksichtigung seiner Erlösungslchre, 1924 ( N T A U ) . - Werner H . Schmidt, Anthropologische Begriffe im A T : E v T h 2 4 (1964) 3 7 4 - 3 8 8 . - Walter Schmithals, Die theol. Anthropologie des Paulus, Stuttgart 1980. - Willy Schulze, Leiblichkeit ist das Ende der Werke G o t t e s : Z R G G 7 (1955) 1 4 2 - 1 5 4 . - Eduard Schweizer, Leiblichkeit ist das E n d e der Wege Gottes: Univ. Zürich J a h r e s b e r i c h t 1 9 6 4 , 3 - 1 5 . - Ders., Art. a d p i : T h W N T 7 (1964) 9 8 - 1 5 1 . Ders., Art. a ü f i a : ebd. 1 0 2 4 - 1 0 9 1 . - Ders., Art. S o m a : E x c g e t . W b . zum N T 3 (1983) 7 7 0 - 7 7 9 . Gustav Siewerth, Der M e n s c h u. sein Leib, Einsiedeln 1953 2 1 9 6 3 . - W i l h e l m Stählin, Vom Sinn des Leibes, Stuttgart 1930 3 1 9 5 3 . - J o s e p h Steinberg, D e r M e n s c h in der Bildersprache des A T , Diss. Bonn 1935. - J o s e p h Ternus, Die W i e d e r e n t d c c k u n g des Leibes in der phil. Anthropologie der Gegenwart: Vom Wert des Leibes in Antike, Christentum u. Anthropologie der G e g e n w a r t , Salzburg 1 9 3 6 , 8 1 - 1 1 2 . - F r a n z Walter, Der L e i b u . sein R e c h t im C h r i s t e n t u m , D o n a u w ö r t h 1 9 1 0 . - B e r n h a r d Welte, Die Leiblichkeit des M e n s c h e n als Hinweis a u f das christl. Heil: Beuroner H o c h s c h u l w o c h e 1948, 7 7 - 1 0 9 . - Ders., A u f der Spur des Ewigen, Freiburg 1965, 8 3 - 1 1 2 . - D i e Wiederentdeckung des Leibes, h g . v . Peter M . Pflüger, Fellbach 1981. - H a n s Walter Wolff, Anthropologie des AT, M ü n c h e n 1973 " 1 9 8 4 .

Heinz-Horst Schrey Leib Christi -»Gemeinde, -»Kirche Leib und Seele 1. Aspekte des Leib-Seele-Problems 2. T h e o l o g i s c h e r Aspekt 3 . Vitalistisch-psychologischer Aspekt 4 . Epistemologischcr Aspekt 5 . Aspekte der Wechselbeziehung 6. Reduktionsprogramme (Literatur S. 6 4 8 )

1. Aspekte

des

Leib-Seele-Problems

Das Leib-Seele-Problem im gängigen Verständnis als Erklärung der Wechselbeziehung {commercium) von Körper und Seele ist erst ein Produkt der Neuzeit, das aus dem rigorosen Dualismus zweier selbständiger, unabhängiger Entitäten, der res extensa und der res cogitans, entstanden ist. Unter anderen Aspekten reicht es weit in die Antike zurück, so unter a) dem theologischen Aspekt als Frage nach der Unsterblichkeit der Seele (LeibGeist-Problematik), b) dem vitalistisch-psychologischen Aspekt als Frage nach dem Unterscheidungskriterium von Belebtem und Unbelebtem und weiteren Spezifikationen innerhalb des Belebten (Materie-Leben- bzw. Bewußtsein-Problem) und c) dem epistemolo-

644

Leib und Seele

gischen Aspekt als Frage nach den höherstufigen Seelenvermögen, den Erkenntnisvermögen (Außenwelt-Erkenntnisproblem). Die Antworten dependieren von bestimmten Prämissen: 1. von der Heterogenität oder Homogenität von Leib und Seele, d. h. der Immaterialität oder Materialität der Seele, und damit verbunden der Unabhängigkeit oder Abhängigkeit der letzteren vom Leib, 2. von der Rangordnung, der Uber- oder Unterordnung der Seele in bezug auf den Leib oder ihrer Gleichstellung mit ihm und 3. von der Art und Weise ihrer Beziehung.

2. Theologischer

Aspekt

Die Frage nach der -»Unsterblichkeit der Seele gegenüber dem sterblichen Leib, entweder in Form ihrer Fortexistenz über den T o d hinaus bis zum Jüngsten Gericht (—»Weltgericht) oder ihrer Prä- und Postexistenz und Palingenesis, d . h . ihrer wiederholten Inkarnation in einen Leib, ist cinc der ältesten Fragen der Lcib-Seele-Problematik, die in vielen Religionen, Mysterien, Kulten und Mythen östlicher wie westlicher Provenienz begegnet, sowohl in der jüdisch-christlichen Jcnseitslehre als auch in der hinduistischcn Karmalehre, der buddhistischen Lehre vom R a d der Wiedergeburten, dem altägyptischen Osirismythos, dem altgriechischcn Dionysos- und Demeter-Kult usw. Sic hat religiöse, ethischc, soziale und politische Gründe. Z u m einen ist sie aus dem generellen Bedürfnis des M e n schen nach Aufhebung seiner endlichen Existenz und nach Verewigung entstanden wie überhaupt aus dem Streben nach Entgrenzung, Unendlichkeit und Vollkommenheit. Z u m anderen erfüllt sie praktisch-moralische und sozial-politische Aufgaben, indem sie einerseits die Vergeltung des moralischen Handelns - Belohnung oder Bestrafung - , sofern diese nicht schon im Diesseits erfolgt, ins Jenseits verlegt und andererseits die faktisch vorfindlichen besseren oder schlechteren Lebensverhältnisse und -bedingungen der M e n schen, die dem Gerechtigkeitsempfinden oft widerstreiten, als Vergeltung früheren Lebens rechtfertigt und damit für die Benachteiligten erträglich macht, für die Privilegierten zur Verpflichtung erhebt und so die Sozialstrukturcn legitimiert und den Bestand von Staaten garantiert. Notorische Übeltäter pflegen folgerichtig mittels rationalistischer und skeptischer Argumente die Postexistenz und damit die angedrohte Bestrafung und ihre abschreckende Wirkung zu leugnen (Franz M o o r in Schillers Räubern). Der Epikureismus folgert aus der Sterblichkeit der Seele, die er aus ihrer Materialität erklärt, d. h. ihrer Zusammensetzung aus Atomen, welche beim T o d zerstieben und die Empfindungen aufheben, die Unangemessenheit der Furcht vor dem T o d und damit verbunden die Gemütsruhe (Ataraxie). Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele ist ihre immaterielle, vom Körper verschiedene und geschiedene Natur. Werden mehrere Seelenteile oder -vermögen angenommen, so gilt nur der höchste, immaterielle, intelligible Teil als unsterblich und göttlich. Im Neuen Testament ist dies der von G o t t kommende - » G e i s t {nvevfia) im Unterschied zum beseelten Leib (oeö/ja) als Einheit aus Fleisch (aápi) und Seele. Die entgegengesetzte Prämisse von der Materialität der Seele zieht deren Auflösung und Vernichtung nach sich, da sie denselben Gesetzen unterliegt wie der zusammengesetzte und auflösbare Körper. In Piatos Phaidon (77d f) scherzt Sokrates über die materialistische Vorstellung der Seele, daß diese, wenn der T o d nicht bei Windstille, sondern bei Sturm eintrete, buchstäblich auseinanderwehe. Aus der Immaterialität und Unabhängigkeit der Seele vom Körper ergibt sich das Problem der Verbindung beider, das nicht wie bei materialistischer Auffassung durch Mischung oder Synthesis oder Inkorporation eines feinstoffigen Körpers in einen grobstoffigen gelöst werden kann. Die Erklärungsversuche machen vor allem Gebrauch vom Gedanken der Hierarchie, nicht nur zwischen Seele und Leib mit der Dominanz der Seele und der Subordination und Dependenz des Leibes, sondern auch innerhalb der Seele durch Stufung verschiedener Seelenvermögen. So verstehen die Orphiker und Pythagoreer den Leib als Fessel und Kerker der Seele, in dem diese während des Lebens gefangen sei und aus dem sie erst im T o d e befreit werde, aus dem sie sich aber durch -•Katharsis in F o r m von Askese und Kontemplation bereits im Diesseits lösen solle.

Leib und Seele

645

-•Aristoteles unterscheidet bezüglich des VOVQ einen aktiven, göttlichen und einen passiven, sterblichen Teil (De anima 111,5 [430a 14ff]). Hieran anknüpfend, hat die Spätantike komplizierte Systeme triadischer und polytomischer Art des Ab- und Aufstiegs entworfen, z.B. -»Plotin in den Enneaden: Ureines —Geist - Weltseele-Einzelseelen. Ein weiteres Problem, das sich aus der Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Seele gegenüber dem Leib ergibt, ist die Frage nach einer individuellen (personalen) oder allgemeinen Unsterblichkeit, wobei im letzten Fall der Mensch nur insofern unsterblich ist, als seine individuelle Seele an der überindividuellen Weltseele Anteil hat. Das Problem ist ein Folgeproblem des Piatonismus (->P!ato/Platonismus), insbesondere des Timaios, und hat seine Ausgestaltung vorzüglich im -»Neuplatonismus erfahren. Da nach Plato nur der höchste Seelenteil, der VOVQ, den allgemeinen, ewigen Ideen zugeordnet ist und ähnelt und nur er aufgrund seiner Selbstbeziehung sich selbst zu begründen vermag, repräsentiert auch nur er eigentlich substantes, selbständiges, unabhängiges Sein (vgl. Phaidros 2 4 5 c ff; s. auch Aristoteles, Metaphysik XII,7,9). 3. Vitalistisch-psychologischer

Aspekt

Mit der Suspendierung animalistischer bzw. panpsychistischer Vorstellungen, d.h. Vorstellungen von der Allbcseelthcit der Dinge, wie sie noch heute in primitiven Kulturen anzutreffen sind, in frühgriechischer Zeit und mit der Unterscheidung von Belebtem und Unbelebtem (toter, lebloser Materie) stellt sich die Frage nach einem Abgrenzungskriterium. Dieses wird mit der Seele identifiziert aufgrund der Gleichsetzung von Belebtem und Beseeltem. Als eminentester Ausdruck des Lebens gilt die Selbstbewcgung, d.h. die Kraft, Bewegung von sich aus zu initiieren (Plato, Phaidros 245c ff; Aristoteles, De anima 1,2 [403 b 24ff]; 5 [409b 19f]). Das Studium und tiefere Eindringen in das Belebte nötigt nicht nur zur Unterscheidung von Belebtem und Unbelebtem, sondern auch zur internen Differenzierung und Abstufung des Belebten (Organischen). Von großer Wirkungsmächtigkeit hat sich die von Aristoteles in De anima (414 b 32 ff; 415 a 17) entworfene Systematik dreier Grundvermögen erwiesen: des vegetativen (Ernährungs-, Zcugungs- und Organisationskraft), des sensitiven (Wahrnehmungsvermögen) und des intellektuellen (Vorstellungs- und Denkvermögen), welche zur Unterscheidung von Pflanzen, Tieren und Menschen dienen. In den Automatentheorien späterer Zeit, z.B. in den vorcartesischen, deren bekannteste die Antoniana Margarita des Arztes Gömez Pereira ist, wie auch in der cartesischen Lehre werden die niederen Vermögen, die vegetativen und sensitiven, auf rein mechanisch-kausale Art erklärt und nur die höchsten, die intellektuellen, als eigenständige akzeptiert. ->Hobbes tendiert in De homine, 4. Buch, zu einer Reduktion auch dieser auf automatische Leistungen des Körpers. Auf diesem Gedanken basieren in der Moderne -»Kybernetik und Informationstheorie, von denen die erste das Gehirn als Rechenmaschine oder Computer beschreibt, die zweite die geistigen Zustände als Informationszustände und die geistigen Prozesse als komplexe Datentransformationen interpretiert. 4. Epistemologischer

Aspekt

Wie die Differenzierung der spezifisch psychischen Vermögen des Menschen so ist auch die Differenzierung der spezifisch intellektuellen ein Spezialfall des generellen Problems der Unterscheidung von Lebenskräften, ein Fall allerdings, der wegen der Relevanz der Erkenntnisvermögen eine besondere Rolle spielt, angefangen von Piatos systematischer Exposition im Liniengleichnis (Rep. 509 d ff) bis zu Kants Triade: Verstand - Einbildungskraft - Sinnlichkeit und Husserls Analyse der Bewußtseinsvermögen und ihrer Integration in gemüthafte, emotionale und voluntative Kräfte. M e h r noch als bei den übrigen Vermögen spielt bei den kognitiven Kräften die Beziehung zur Außenwelt über die Vermittlung des menschlichen Leibes eine R o l l e (Erkenntnis-, Wahrheits-, Auß e n w e l t p r o b l e m ) und wird bei Supposition zweier selbständiger S p h ä r e n , der objektiven und der subjektiven, entweder passiv (durch Einwirkung der A u ß e n w e l t a u f das Erkenntnisvermögen) oder

Leib und Seele

646

aktiv (durch Ausgreifen des E r k e n n t n i s v e r m ö g e n s auf die A u ß e n w e l t ) gelöst. B e k a n n t e M e t a p h e r n u n d Bilder f ü r die erste Variante sind der Vergleich des W a h r n e h m u n g s v o r g a n g s m i t d e m Prägevorg a n g einer W a c h s m a s s e d u r c h einen Siegelring o d e r des D e n k v e r m ö g e n s mit d e m Einritzen einer t a b u l a rasa d u r c h einen Griffel, f ü r die zweite d a s Aussenden eines Sehstrahls, d e r die F o r m d e r O b j e k t e a b t a s t e t u n d z u m Auge z u r ü c k b r i n g t . O f f e n bleibt, o b Gleiches mit Gleichem (Empedokles), Verwandtes mit V e r w a n d t e m (Plato) e r k a n n t w i r d , o b die Affektion u n d Sollizitation des E r k e n n t nisvermögens d u r c h ä u ß e r e G e g e n s t ä n d e zu einer T r a n s f o r m a t i o n d e r Eigenschaften ä u ß e r e r O b j e k te in subjektive Vorstellungen von ihnen f ü h r t o d e r n u r zu einer A k t u a l i s i e r u n g latenter i m m a n e n t e r F o r m e n im Subjekt (Platonische Anamncsislchre, Aristotelische Akt- u n d Potenzlehre) o d e r wie in der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie zur f o r m a l e n o d e r g a r materialen P r o d u k t i o n d e r G e g e n s t ä n de d u r c h den menschlichen Geist ( f o r m a l e r und a b s o l u t e r - » I d e a l i s m u s ) .

5. Aspekte

der

Wechselbeziehung

In der Neuzeit wird das Leib-Seele-Problcm vor allem im Hinblick auf die theoretische Erklärung der faktisch vorfindlichen Einheit von Leib und Seele im Menschen betrachtet. Die Aufgabe der Vermittlung stellt sich angcsichts des cartesischen Dualismus zweier selbständiger Substanzen, der res extensa und der res cogitans. Hierauf sind vielfältige Antworten gegeben worden: (Influxionismus, Zwei-Substanzcn-Theorie). —»Descartes 5.1. Interaktionismus selbst löst das Problem durch die Annahme eines Interaktionismus zwischen Leib und Seele, d . h . einer wechselseitigen -»Kausalität und Beeinflussung, dergestalt, d a ß z.B. der Wille, den Arm zu heben, zur wirklichen A r m a n h c b u n g f ü h r t und eine Bewegung im objektiven Bereich zur W a h r n e h m u n g derselben im subjektiven. Als Vermittlungsorgan und Umschlagplatz für die transcunte Kausalität nimmt Descartes das einzige asymmetrische Organ im Körper, die Zirbeldrüse, an (Le monde, Traité de l'homme; Oeuvres publiées par Charles Adam et Paul Tannery, Paris, XI 1909, 129.170 f; Passions de l'âme, I. art. 31 f: ebd. XI, 351 ff). Die Theorie, die auch von den Cartesiancrn Regius, Schuyl und Bekker vertreten wird, ist auch als Theorie des influxus physicus - zu ergänzen: psychicus - bekannt. Gegen die Lösung des Interaktionismus läßt sich einwenden, d a ß sie gegen das Gesetz der Bewegungscrhaltung (modern: der Energiccrhaltung) verstoße, selbst wenn die Zirbeldrüse nicht als ruhend, sondern als bereits bewegt unterstellt wird; denn auch ihre Richtungsändcrung erfordert Energieaufwand. 5.2. Okkasionalismus. D e m Verstoß gegen den Encrgieerhaltungssatz sucht der - » O k k a s i o n a l i s m u s d a d u r c h zu e n t k o m m e n , d a ß er die K o r r e s p o n d e n z beider Bereiche d u r c h ein vermittelndes t r a n s z e n d e n t e s Wesen - G o t t - herstellt, d a s jedesmal anläßlich einer E r k e n n t n i s b e g e h r u n g o d e r eines bestimmten physikalischen Z u s t a n d s o d e r Ereignisses ( d . h . anläßlich von causae occasionales = Gelegenheitsursachen) regulierend eingreift. Die göttliche Assistenz ist allerdings nicht im Sinne von ad hoc-Bcschlüsscn zu verstehen, s o n d e r n im Sinne allgemeiner P l a n u n g und Vorsorge. Dies zeigt G e u l i n c x ' Wiegengleichnis ( A n n o t a t a ad E t h i c a m P.33 n.19): W i e die M u t t e r auf Wunsch des w e i n e n d e n Kindes die Wiege schaukelt, so erzeugt G o t t auf Wunsch des menschlichen E r k e n n t n i s s u b j e k t s Bewegung. Er steht hierbei aber nicht auf Abruf bereit, s o n d e r n h a t im Weltplan d a f ü r gesorgt, d a ß mit jedem Wunsch auch dessen E r f ü l l u n g gegeben ist. Der O k k a s i o n a l i s m u s , der vor allem in Frankreich von C o r d e m o y , Geulincx und M a l e b r a n c h e vertreten w i r d , erscheint wie ein verzweifelter Versuch, den C a r t e s i a n i s m u s zu retten. Er h a t lediglich historische Bedeutung.

5.3. Prästabilierte Harmonie. Von -»Leibniz stammt der Gedanke der prästabilierten Harmonie, der nicht wie die okkasionalistische These von einem jedesmaligen Eingriff Gottes ausgeht, sondern von einem einmaligen. G o t t hat bei der Erschaffung der Welt ein f ü r allemal die Korrespondenz zwischen objektiver und subjektiver Welt hergestellt. Leibniz erläutert dies am „Uhrenbeispiel": Wie ein H a n d w e r k e r zwei a u t o n o m e Uhren produziert und synchronisiert, so d a ß sie für alle Zeit gleichgehen, so hat auch der göttliche H a n d w e r k e r Physisches und Psychisches als zwei selbständige Instanzen erzeugt und für alle Zeit korreliert. Durch den Ansatz geschlossener Systeme trägt Leibniz nicht nur dem Gesetz der Energieerhaltung Rechnung, sondern auch der Einsicht, d a ß Kausalität als reale Verknüpfung von Ursache und Wirkung anders als das logische Grund-Folge-Verhältnis, das wegen der Implikation der Folge im G r u n d deren Deduktion erlaubt, für

Leib und Seele

647

menschliche Einsicht unverständlich bleibt. Dies gilt sowohl für die Kausalität zwischen Physischem und Psychischem als auch für die innerhalb jedes Bereichs. Gleichwohl bleibt auch Lcibniz' System dem Einwand ausgesetzt, eine nicht verifizierbare metaphysische Hypothese zu sein, die das Vermittlungsproblem lediglich auf Gott verschiebt. Parallelismus. Das Paradigma für parallelistische Erklärungsversuche gibt 5.4. Psychophy¡¡scher —•Spinoza ab, indem er unter Zugrundelegung des Substanz-Akzidens-Modells res extensa und res cogitans nicht mehr wie Descartes für zwei selbständige Substanzen, sondern für zwei unselbständige Attribute der einen unendlichen Substanz (Natur oder Gott) erklärt und deren unendliche Unterteilungen für Modi. Die Parallelität wird dadurch verbürgt, daß die Substanz, wenn immer sie auftritt, in zweierlei Weise auftritt, in Form des Physischen und in Form des Psychischen. Die ontologische Interpretation Spinozas, die Physisches und Psychisches als Akzidenzien der einen Substanz auffaßt (Attribute-Theorie), hat in der Moderne subjektivistische Fortsetzungen gefunden: zum einen in der Doppcl-Aspekt-Theorie, die statt von objektiven Bestimmungen von subjektiven Betrachtungsweisen, Standpunkten, Ansichten usw. ausgeht, zum anderen in der linguistischen Variante, die zwei Sprachsysteme, das physikalistisch-chemische und das psychologistische, unterstellt, die ineinander transferierbar sind, und zum dritten in Strawsons Person-Theorie, die von m- und pPrädikaten in bezug auf die Person spricht. Gegen die Theorie erhebt sich der Einwand der Redundanz, da das tertium comparatiouis (Substanz, Subjekt, Person), das die Vermittlung der beiden Sphären übernehmen soll, sich nur durch Bestimmungen definieren läßt, die keine anderen sein können als die zu vermittelnden. Bei Verzicht auf ein tertium comparatiouis und bloßer Annahme einer Parallelität bleibt die Theorie eine Hypothese ohne jeden Erklärungswert.

6.

Reduktionsprogramme

Das Dilemma des dualistischen Ansatzes bei der Vermittlung seiner Glieder hat immer wieder monistische Reduktionsprogramme hervorgerufen, sei es im Sinne einer Reduktion des Physischen auf Psychisches (Idealismus), sei es im Sinne einer Reduktion des Psychischen auf Physisches (Materialismus). Die Reduktionen können unterschiedliche Grade und Stufen haben. 6.1. Idealistische Monismen. Diese begegnen vor allem im Kontext von Religionen, z. B. in der hinduistischen Mayalehre oder im christlichen Spiritualismus, welche die Welt als Erscheinung Gottes, letztlich als Schein auslegen. Sic bestimmen auch die diversen Meditationssysteme, in denen die Welt als Stufe des Scheins erkannt und überwunden wird in Richtung auf ein geistiges Sein. Im Abendland begegnet die philosophische Diskreditierung der Welt als Erscheinung und Schein, als bloße Meinung der Sterblichen seit Parmenides' rigorosem Monismus. Einen sog. subjektiven Idealismus pflegt man —»Berkeley zwzui :hrciben. Die Gefahr eines Solipsismus, d.h. einer privat-subjektiven, eingebildeten V.'dt, ist linausweichlich. 6.2. Materialistische Rednktionsprogramme. Ztvei-Körper-Theorie. Genauso alt, wenn nicht sogar älter, und genauso vielgestaltig wie die idealistischen Theorien sind die materialistischen. Schon die frühgriechische Dichtung und Philosophie kennt die materialistische Interpretation der Seele als fein-, ja fcinststoffliches Gebilde, das als zweiter Körper im ersten lokalisiert ist. Homer spricht von der Hauchseele (Seele als Atem), die im Körper ihren Sitz hat und beim Tode mit dem letzten Atemzug ausgehaucht wird. Die -»Stoa denkt die Seele aus Luft- und Feueratomen (nveöfia) zusammengesetzt. Während die antiken Theorien die Seele als zweiten Körper neben dem Leib anerkennen, tendieren die neuzeitlichen materialistischen Reduktionsprogramme auf eine schrittweise Reduktion des Psychisch-Geistigen auf Physisch-Materielles, die alle Stufen von einem schwachen Materialismus zu einem rigorosen einnehmen kann. Auf diesem Wege bildet der Epiphänomenalismus (Huxley, Hodgson und Santayana) eine Übergangstheorie und Zwischcnform, welche ähnliche Schwächen aufweist wie der psychophysische Interaktionismus. 6.3. Identitätsthese. Die eigentlichen materialistischen Monismen beginnen erst mit der Annahme, daß das Psychische oder Mentalistische entweder zwar einen eigenen Sinn habe, faktisch jedoch mit dem Physischen zusammenfalle oder sinnlos und illusorisch sei und folglich mit dem Physischen synonym sei. Zum ersten Typus gehört die Identitäts-

648

Leib und Seele

theorie (theory of identity), wie sie heute vorwiegend im angelsächsischen R a u m vertreten wird. Ihre b e k a n n t e s t e n R e p r ä s e n t a n t e n sind Feigl und S m a r t . Z u m zweiten zählt der B e h a v i o r i s m u s und der Physikalismus des W i e n e r Kreises. Die Identitätstheorie konzediert dem Psychischen zwar eine logische und semantische Selbständigkeit neben dem Physischen, hält es jedoch faktisch für identisch mit diesem. Zur Legitimation beruft sie sich auf Identitätsbeispiele aus der Erfahrung. Wie Morgen- und Abendstern faktisch dasselbe sind, nämlich der Planet „Venus", verschieden nur durch ihre Stellung am Himmel, oder wie Wasser und H 2 0 lediglich verschiedene Ausdrucksweisen derselben Flüssigkeit in verschiedenen Systemen sind, so gilt Entsprechendes auch für Physisches und Psychisches. Das Identifikationsproblem bringt nicht nur die Schwierigkeit der Auffindung eines tertium comparationis mit sich, sondern im Falle einer Identifikation des Psychischen mit dem Physischen auch die Reaktualisierung der alten Frage nach dem Sitz der Seele im Körper. Zudem lassen sich bei einer Reduktion des Psychischen (one-person-account) auf Physisches (tbird-person-account) gewisse Eigenschaften des Psychischen, wie privilegierter Zugang des Subjekts zu seinen eigenen immanenten Zuständen, Unmittelbarkeit und Unfehlbarkeit (Infallibilismus), nicht mehr erklären. Diese Kritik betrifft im übrigen alle Materialismen. 6.4. Physikalismus und Behaviorismus. D e r Physikalismus des W i e n e r Kreises, etwa bei R u d o l f C a r n a p o d e r C a r l G . H e m p e l , der alle s u b j e k t i v e n , mentalistischen T e r m i n i und Aussagen in eine o b j e k t i v e , intersubjektiv k o m m u n i k a b l e physikalische Sprache zu übersetzen b e a b s i c h t i g t , scheitert bereits beim Versuch einer T r a n s f o r m a t i o n eines so simplen Satzes wie „ I c h h a b e S c h m e r z e n " oder „ I c h bin t r a u r i g " , da sich dieser in seinem Gefühlsgehalt nicht vollständig verobjektivieren läßt d u r c h einen Satz wie „ x zeigt a m 1 . 1 . 9 0 um 1 3 . 0 0 U h r a m O r t y unter den Bedingungen z Schmerzen b z w . T r a u e r " . D e r psychologische B e h a v i o r i s m u s basiert a u f der an sich richtigen B e o b a c h t u n g , d a ß gewisse G e m ü t s z u s t ä n d e mit gewissen Körperzuständen verbunden sind, z. B. Angst mit S c h w e i ß a u s b r u c h , B l a ß w e r d e n , H e r z k l o p f e n usw. Seine H y p o s t a s i e r u n g und Verabsolutierung führt zum metaphysischen B e h a v i o r i s m u s , der a u s n a h m s l o s alle psychischen Z u stände und Ereignisse a u f körperliche Z u s t ä n d e und Ereignisse oder a u f körperliche Dispositionen reduziert. Vertreter sind W a t s o n und S k i n n e r . Schwierigkeiten bereitet dem Behaviorismus die R e d u k t i o n höherstufiger Leistungen, wie des D e n k e n s , a u f körperliche Vorgänge. Sollen sie mit M u n d b e w e g u n g e n (leisem Sprechen) gleichgesetzt werden oder mit neurophysiologischen Prozessen, z. B. G e h i r n p r o z e s s e n ? Unerklärlich bleibt auch die körperliche F u n d i c r u n g vorgetäuschter psychischer Z u s t ä n d e und Vorgänge, a u f denen die Schauspielkunst, M i m i k und Lüge basiert. Eine Variante des Behaviorismus ist der sog. logische oder verbale (sprachanalytische), den Ryle in seinem Buch The Concept of Mind auf der Basis Wittgenstcinscher Sprachkritik entwickelt hat. Wie die gesamte sprachanalytische Philosophie, so decouvriert er das Leib-Seele-Problem als Pscudoproblem und versucht eine Übersetzung der mind-sentences (Sätze über Seelisch-Geistiges) in: a) kategorische Sätze, die episodische Zeitwörter verwenden und ein intersubjektiv zugängliches Handeln indizieren, b) hypothetische oder Dispositionsaussagen, die ein erwartetes intersubjektiv zugängliches Handeln anzeigen, und c) semi-hypothetische Sätze bzw. Semidispositionsaussagen, die eine Mischform aus a) und b) darstellen. „Verstehen" wird so als pragmatische Kompetenz interpretiert und eine Aussage wie „Peter weiß, daß zwei und zwei vier sind" als „Wenn Peter gefragt wird, dann wird er die Rechnung ausführen". Die Theorie stellt eine Übertragung konstruktivistischer, operationalistischer, pragmatischer Elemente auf die Sprache dar. Mentalistische Ausdrücke werden als Eigentümlichkeiten von Handlungs- und Geschehniszusammenhängen gedeutet. Gegen die Theorie sind in der neueren Diskussion diverse Einwände erhoben worden. So kann die dispositionelle Rekonstruktion weder das unerwartete Handeln noch den Unterschied von Sachen und Personen erklären, infolgedessen auch nicht den von Eigenschaften wie „zerbrechlich" und „schüchtern", der aber in der traditionellen Leib-Seele-Theorie eine fundamentale Rolle spielt und zum Dualismus führt. Literatur Clive Vernon Borst (Hg.), The Mind-Brain Identity Theory: A Collection of Papers, London 1970. - Charlie Dunbar Broad, The Mind and its Place in Nature, London 1925 7 1962. - Mario Bunge, The Mind-Body Problem. A Psychobiological Approach, Oxford u.a. 1980. - Rudolf Car-

649

Leibniz

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Wilhelm

1. Leben und W i r k e n

(1646-1716) 2. Werk

3. N a c h w i r k u n g

(Quellen/Literatur S . 6 6 4 )

N a c h dem E n d e des Dreißigjährigen Krieges stand E u r o p a nicht nur v o r verwüsteten Städten und D ö r f e r n , sondern a u c h die alten politischen O r d n u n g s s y s t e m e des R e i c h s u n d d e r K i r c h e e b e n s o w i e die O r d n u n g d e s W e l t v e r s t ä n d n i s s e s , d e s

mittelalterlichen

A r i s t o t e l i s m u s in s e i n e r finalen D e u t u n g d e r W e l t u n d d i e D e u t u n g d e r B e z i e h u n g v o n G o t t , M e n s c h und Welt, w a r e n fragwürdig g e w o r d e n . Als Begründungsinstanzen einer n e u e n O r d n u n g w u r d e n E r f a h r u n g u n d V e r n u n f t m i t je u n t e r s c h i e d l i c h e r A k z e n t u i e r u n g in d e r e m p i r i s t i s c h e n u n d in d e r r a t i o n a l i s t i s c h e n E n t w i c k l u n g h e r v o r g e h o b e n ; d a s I n d i viduum w u r d e z u m Kristallisationspunkt des Sinn- und Weltverstehens. Leibnizens D e n ken n i m m t alle diese E l e m e n t e a u f u n d stellt sich d e m P r o b l e m , w i e eine n e u e u m f a s s e n d e O r d n u n g von G o t t und M e n s c h , von N a t u r und Ich, von G l a u b e und Vernunft beschaffen sein soll, u m d i e c h r i s t l i c h e V o r s t e l l u n g e i n e r S c h ö p f u n g e i n e s w e i s e n G o t t e s m i t d e r neuzeitlichen rein kausalen N a t u r w i s s e n s c h a f t einerseits, mit der Freiheit des M e n s c h e n u n d d e m Ü b e l in d e r W e l t a n d e r e r s e i t s z u v e r s ö h n e n . L e i b n i z ' U n i v e r s a l i t ä t g l e i c h t d a b e i j e n e r d e s - » A r i s t o t e l e s , d e n n sie s t e h t w i e j e n e a m A n f a n g e i n e r n e u e n S i c h t d e r W e l t ; w i e j e n e s p a r t sie k a u m e i n e n B e r e i c h m e n s c h l i c h e n W i s s e n s a u s , u n d w i e bei A r i s t o t e l e s f ü g t L e i b n i z d i e E l e m e n t e s e i n e s G e d a n k e n g e b ä u d e s nicht selbst z u r s y s t e m a t i s c h e n Einheit. Die e n z y k l o p ä d i s c h e Breite u n d die Bereitschaft, jeweils m e t h o d i s c h - a n a l y t i s c h E i n z e l p r o b l e m e a n z u g e h e n , m a c h e n eine G e s a m t d a r s t e l lung u n m ö g l i c h ; die U n t e r s c h i e d l i c h k e i t u n d G e g e n s ä t z l i c h k e i t d e r Z u g ä n g e u n d Interpretationen belegen dies. D e n n o c h lassen sich G r u n d l i n i e n u n d G r u n d s ä t z e aufzeigen, die

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das ganze Werk durchziehen und von denen her eine Deutung ihre Einheit gewinnt. Hierzu gehören als Leitgedanke der einer durchgängigen Vernünftigkeit der Welt und der einer universellen Harmonie, die beide ihre metaphysische Ausprägung in der Monadenlehre und in der Theodizee finden. Aus der Universalität der von Leibniz behandelten Probleme sollen nachfolgend zentrale Elemente seines philosophischen Denkens herausgearbeitet werden. Nur andeutungsweise kann im Abriß seines Lebensweges seine Tätigkeit als Mathematiker, Jurist, Historiker, Naturwissenschaftler, Techniker und Geologe berührt werden, obwohl auch diese Arbeiten wesensmäßig zusammengehören und in ihren wechselseitigen Bezügen von Leibniz selbst als bedeutsame Stütze seines Gedankengebäudes verstanden werden. 1. Leben und

Wirken

Gottfried Wilhelm Leibniz wurde am 21. Juni (alten Stils) 1646 in Leipzig geboren. Sein Vater war Jurist und zuletzt Professor der Moralphilosophie, seine Mutter Tochter eines angesehenen Rechtswissenschaftlers. Sein Vater, der früh starb, hinterließ eine große Bibliothek, die dem Achtjährigen zum Selbststudium zugänglich gemacht wurde. Schon als Jugendlicher beschäftigte er sich mit logischen Fragen, die den späteren Plan vorbereiteten, ein alphabetum cogitationum humanarum aus Grundbegriffen allen Denkens zu entwickeln, aus dem sich kombinatorisch alle unseren übrigen Begriffe aufbauen lassen (Couturat, Op. 430; Pertz, G W 1,4.167f). Noch vierzehnjährig begann er ein allgemeines Studium an der Universität -»Leipzig u.a. bei Jacob Thomasius (dem Vater des Aufklärers Christian -»Thomasius), bei dem er 1663 sein Bakkalaurcat mit der Disputatio metapbysica de prineipio iudividui (Akad. Ausg. VI.l, N. 1) erwarb. Die darin angeschnittenen Probleme des Verhältnisses von Sein, Individuum und Einheit sollten zu Grundproblemen seiner Philosophie werden. Die Berührung mit den Gedanken -»Keplers, —»Galileis und -»Descartes' führte Leibniz für ein Semester zu dem Mathematiker, Astronom und Physiker Erhard Wcigel nach Jena. Dieser vermittelte ihm den pythagoreischen Gedanken einer umfassenden, auf Zahlen beruhenden Harmonie der Welt. Zurückgekehrt nach Leipzig, studierte er Jura; da er dort wegen seines jugendlichen Alters nicht zur Promotion zugelassen wurde, wechselte er 1666 nach —»Altdorf bei Nürnberg. Dort erwarb er im Folgejahr mit solchem Erfolg den Doktor beiderlei Rechte, daß man ihm eine Professur anbot, die er jedoch ausschlug. Einige Zeit war er - mit kritischer Distanz - als Sekretär der Rosenkreuzer in Nürnberg tätig, wo er Zugang zur Alchemie und zu Raymundus -»Lullus und dessen Ars magna als einer Synthese von Logos und Zeichen suchte. Er selbst hatte zu diesem Zeitpunkt seine Dissertatio de arte combinatoria bereits veröffentlicht (1666; Akad. Ausg. VI.l, N. 8), die seine eigenen Vorstellungen hierzu beinhalteten. Wohl auf Anregung des früheren Kurmainzischen Ministers J . C h r . von Boineburg entwarf Leibniz 1667 in der Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae (Akad. Ausg. VI.l, N. 10) eine Reform des Rechtswesens, die den Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn veranlaßte, den Protestanten Leibniz an den katholischen Kurmainzischen Hof zu ziehen, wo er an einem der wichtigsten Reichsgerichte, dem Mainzischen Oberappellationsgericht, (ab 1670 als Revisionsrat) tätig wurde. Hier arbeitete er u. a. an Plänen für eine Neuordnung des Rechts nach Vernunftprinzipien mit dem Ziel einer Umarbeitung des Corpus iuris zu einem Gesetzeswerk für alle christlichen Nationen. Leibniz ist der Überzeugung, daß sich jeder Rechtsstreit eindeutig entscheiden läßt, wenn erstens die Gesetze klar und umfassend formuliert sind und zweitens die Methode ihrer Anwendung zweifelsfrei ist. Für die Anwendung soll eine entsprechende Logik so entwickelt werden, daß Streitfälle mit ihr entschieden werden können, ein Gedanke, der in zahlreichen Untersuchungen Leibnizens Vorstellung sichtbar werden läßt, daß die Vernunft alles durchwaltet. Die umfassende Formulierung der Gesetze führt ihn auf die Frage nach den Anfangsgründen des Rechtes, die seiner Auffassung zufolge vernünftige

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G r ü n d e sind und d a r a u f b a u e n , d a ß es keinen Unterschied im Begriff der Gerechtigkeit f ü r G o t t und f ü r Menschen gibt. D a s - » R e c h t hat d a r u m eine theologische Dimension in Gestalt der göttlichen O r d n u n g , die die M e n s c h e n zu Gottes Kindern m a c h t und die Verwirklichung der institia universalis in Gestalt einer allgemeinen Tugendlehre zur Aufgabe des Menschen m a c h t . Es h a t weiter eine philosophische D i m e n s i o n , die sich auf die Teilhabe des Menschen an der V e r n u n f t o r d n u n g als ins naturae g r ü n d e t u n d in d e r httmanitas gipfelt. Die dritte, die bloß juristische Dimension des Rechtes als iustitia particularis betrifft als Vermeidung des Unrechtes die p r u d e n t i a und die utilitas als Verfaßtheit des M e n s c h e n in einer geschichtlichen Umwelt. Diese drei Dimensionen unterschieden sich nicht hinsichtlich des Begriffes der Gerechtigkeit, s o n d e r n n u r hinsichtlich deren Verwirklichung. D a m i t folgt Leibniz einerseits —»Grotius, wendet sich aber andererseits gegen - • P u f e n d o r f s Auffassung, weil nicht Gottes Wille letzter G r u n d des Rechts ist (weil sonst Recht auf M a c h t gegründet wäre), sondern die Vernunft. (Grua, Jurisprudence 239—526). - N e b e n praktisch-juristischer Tätigkeit hat Leibniz die Fragen einer Rechtsmethodik und einer Begründung des Rechtcs über J a h r z e h n t e verfolgt. Die Pläne zur U m a r b e i t u n g des Corpus /»r;s hatte er 1689 größtenteils abgeschlossen; da jedoch ein kaiserlicher Auftrag ausblieb, das Werk zu Ende zu f ü h r e n , blieb d a s Vorhaben wirkungslos (Schneider 497). Weiter entstanden in M a i n z erste E n t w ü r f e zu einer deutschen A k a d e m i e nach f r a n z ö sischem und englischem Vorbild, aber unter verstärkter Einbeziehung praktischer Fragestellungen. Probleme der Wissenschaftsorganisation und der Wissenschaftssystematik beschäftigten Leibniz von da an bis zu den ausgereiften Plänen der Berliner A k a d e m i e auf der organisatorischen Seite und auf der a n d e r e n Seite bis hin zu den E n t w ü r f e n einer Scientia generalis als umfassender Universalwissenschaft, deren methodisches Werkzeug eine Characteristica universalis sein sollte, eine universelle Logik, die eine Begriffs- und Zeichentheorie einschließt: Seien beide erst einmal bereitgestellt, lassen sich wissenschaftliche Streitfragen durch Rechenvcrfahrcn entscheiden, und eine auf Rechenverfahren b e r u h e n d e Ars inveniendi werde die Wissenschaften vorantreiben. Von 1672 bis 1676 weilte Leibniz in Paris - zunächst in diplomatischer Mission des Mainzer H o f e s und in der Absicht, Ludwig XIV. von einer E r o b e r u n g an den deutschen Westgrenzen mit seinem Consilium aegyptiacum abzuhalten und zu einem Krieg gegen Ägypten zu bewegen, um so die T ü r k e n g e f a h r f ü r E u r o p a zu b a n n e n . Der Plan w a r jedoch ebenso erfolglos wie frühere Denkschriften Leibnizens zur polnischen Königswahl. Schon vor seiner Abreise h a t t e Leibniz in seiner Hypothesis physica nova (1671; A k a d . Ausg. VI.2, N . 4 0 ) den Versuch u n t e r n o m m e n , ausgehend von - » H o b b e s eine Bewegungslehre zu schaffen; doch in Paris e r k a n n t e er schnell, wie wenig er in die d a m a l s m o d e r n e M a t h e m a t i k und Physik eingedrungen w a r . Angeleitet von Huygens, im Umgang mit Mitgliedern der Académie des Sciences und d u r c h die Lektüre unveröffentlichter M a n u s k r i p t e von -»Pascal und -»Descartes gelang es ihm nicht n u r , den internationalen Stand der M a t h e m a t i k und Physik kennenzulernen; vielmehr folgten rasch eigene Beiträge, die ihn - u n a b h ä n g i g von N e w t o n , aber später als dieser - zur Infinitesimalrechnung f ü h r e n sollten. (Der Leibnizens Alter überschattende Prioritätsstreit mit d e m Plagiatsvorwurf seitens der N e w t o n - A n h ä n g e r w u r d e erst 1690 e n t f a c h t und 1712 zu Leibniz' Ungunsten von d e r Royal Society entschieden.) Seine R e c h e n m a s c h i n e öffnete Leibniz bei einem Londonbesuch die Royal Society, deren Mitglied er 1673 w u r d e ; seine H o f f n u n g , auch Mitglied d e r Académie des Sciences in Paris zu w e r d e n , sollte sich allerdings erst im J a h r e 1700 erfüllen. Die intensive Auseinandersetzung mit den Schriften Descartes', Pascals u n d M a l e branches f ü h r t e n zur G r u n d l e g u n g der Leibnizschen Metaphysik. Der G r u n d g e d a n k e , Leibniz' p o p u l ä r e Essais de théodicée sur la bonté de dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal von 1710 ( G e r h a r d t , Phil. VI), die Lösung des Problems, wieso es angesichts der G ü t e und Allmacht G o t t e s in d e r Welt Übel gibt, findet sich schon in der Confessio philosophi von 1673 (Akad. Ausg. VI.3, N . 7 ) : D a s Übel ist von G o t t

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nicht gewollt, sondern zugelassen, denn da nur Gott absolut vollkommen ist, muß die von ihm unter den möglichen Welten ausgewählte beste Welt Unvollkommenheiten enthalten. Die Begegnung mit Männern wie Huygens, Malebranche und Arnauld in Paris, mit Boyle und Newton in London ließ Leibniz den Anschluß an die Gelehrtenrepublik finden. Sie führte schließlich zu einer grundsätzlichen Klärung der eigenen philosophischen und naturwissenschaftlichen Position. Etwa 1678 liegen für Leibniz die Ablehnung des Atomismus und des Substanzcharakters des Ausgedehnten fest; ebenso finden wir die Vorstellung von der Substantialität des Individuums und dessen dynamischem, die Welt spiegelnden Charakter. Die Durchgestaltung zu einem Ganzen findet sich in einem ersten Entwurf im Discours de métaphysique und hinsichtlich der begriffstheoretischen Fundierung in den parallel entstandenen Getterales inquisitiones de analysi notionum et veritatum von 1686 (Gerhardt, Phil. IV.425 - 4 6 3 ; Couturat, Op. 3 5 6 - 3 9 9 ; Générales inquisitiones, Schupp). Ein Jahrzehnt später, im Systeme nouveau de la nature et de la communication des substances, aussi bien que de l'union, qu'il y a entre l'âme et le corps von 1695 (Gerhardt, Phil. IV.477-487), veröffentlichte Leibniz erstmals eine Gesamtdarstellung seiner Metaphysik. Kurz darauf verwendet er die Bezeichnungen „Monade" und „prästabilicrte Harmonie", die Schlüsselbegriffe der späteren Zusammenfassungen seines metaphysischen Denkens in der sogenannten Monadologie und den damit inhaltlich übereinstimmenden Principes de la nature de la grâce, fondés en raison von 1714 (Gerhardt, Phil. VI,598-623). Leibniz' politische Mission in London und Paris wurde durch den plötzlichen Tod Boineburgs und Johann Philipps von Schönborn hinfällig. Auf dem Umweg über London, wo er die Royal Society aufsuchte, und Holland, wo er —»Spinoza traf, gelangte Leibniz darum 1676 nach Hannover an den Hof des den Künsten und Wissenschaften zugetanen Herzogs Johann Friedrich, um die Stelle eines Hofrats und Bibliothekars anzutreten. Der Tod Friedrichs 1679 war ein großer Verlust für Leibniz, denn der Nachfolger, Johann Friedrichs Bruder Ernst August, und seit 1698 dessen Sohn Georg Ludwig, hatten nicht so viel Verständnis für das Genie an ihrem Hofe (oder aus der Sicht Georg Ludwigs: für die lebende Enzyklopädie, die oft auf nicht genehmigten Reisen war, wenn man sie gebraucht hätte). Allein mit der aufgeschlossenen und geistig regsamen Herzogin Sophie, der Gemahlin Ernst Augusts, und deren Tochter Sophie Charlotte, der späteren preußischen Kurfürstin und Königin, verband ihn tiefe Freundschaft. Leibniz' Tbeodizee, die für ein halbes Jahrhundert tragendes Element des Verständnisses für das Verhältnis von Gott und Mensch werden sollte, ist ebenso wie die Nouveaux Essais - die Auseinandersetzung mit Lockes Empirismus - aus Gesprächen mit diesen beiden Fürstinnen hervorgegangen. Da ->Locke 1704 starb, veröffentlichte Leibniz das Manuskript nicht; es erschien erst 1765. Im Auftrage des Hannoverschen Hofes führte Leibniz gemeinsam mit dem Präsidenten des Hannoverschen Konsistoriums und Abt von Loccum, G.W. Molanus, von 1679 bis 1702 Verhandlungen zur Reunion der christlichen Kirchen. Auf dem Hintergrund des dreißigjährigen Glaubenskrieges und der türkischen Bedrohung fand der Gedanke einer Wiedervereinigung das Interesse beider Konfessionen. Auf katholischer Seite waren für Frankreich Bischof J . B. -»Bossuet und im Auftrage des kaiserlichen Hofs und mit Einwilligung des Papstes Bischof C. de Royas y Spinola die Verhandlungspartner. Die Briefwechsel mit ihnen sowie zahlreiche Schriftstücke, schließlich Leibnizens sogenanntes Systema theologicum um das Jahr 1686, das eine Rekonstruktion des katholischen Standpunktes darstellt, belegen Leibnizens Bemühungen. Doch während Leibniz den Gedanken einer Vereinigung äußerlich und im Kultus vcrschiedengestaltiger Teilkirchen auf der Grundlage einer gemeinsamen theologischen Basis in der Nähe der Confessio Augustana ( -» Augsburger Bekenntnis) und unter Einschluß der griechisch-orthodoxen und russischorthodoxen Kirche intendierte, ging es Bossuet einzig um die Wiedereingliederung der Protestanten in die katholische Kirche. Obgleich ein Erfolg 1683 greifbar nahe schien,

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scheiterten die Verhandlungen letztlich ebenso wie die von 1697 bis 1706 geführten Verhandlungen um eine Union der protestantischen Kirchen. Die Zeit in Hannover w a r durch zahlreiche Reisen unterbrochen, so vielfach in den H a r z in Z u s a m m e n h a n g mit Leibniz' Projekten der Bergwerksentwässerung durch windgetriebene Pumpen. Eine dreijährige Reise führte Leibniz 1687 bis 1690 über Süddeutschland und Wien nach R o m und Neapel. Sie galt den Forschungen f ü r seine großangelegte Geschichte des Weifenhauses. Die Archivstudien lieferten Leibniz neben umfangreichem Urkundenmaterial zum Völkerrecht den Nachweis der Verwandtschaft des Weifenhauses mit dem Hause Este. In R o m wurde ihm, der schnell Kontakt mit den Gelehrten Italiens gefunden hatte, die äußerst cinflußreichc Stelle des Vatikanischen Bibliothekars angeboten; doch da sie mit einer Konversion verbunden gewesen wäre, lehnte Leibniz ab. In Italien entstand - gestützt auf Materialien aus den Harzbergwerken und aus italienischen Gruben, vom Vesuv und den Phlegräischen Feldern - eine Naturgeschichte der Erde, die Protogelea, die Leibniz der Weifengeschichte voranstellen wollte. Ebenso konzipierte er 1687 eine umfangreiche Bewegungslehre, die Dynamica, von der aber nur ein kurzer Auszug veröffentlicht wurde (Gerhardt, M a t h . VI,281 - 5 1 4 bzw. 2 3 4 - 2 5 4 ) . Schon in der Auseinandersetzung mit Descartes w a r er zu dem Schluß gekommen, d a ß die Ausdehnung aus theologischen Gründen - wegen der -»Transsubstantiation - und aus physikalischen Gründen - modern gesprochen wegen der Energieerhaltung - keine Substanz sein kann, sondern nur ein Phänomen: R a u m und Zeit sind nur phänomenale O r d n u n g e n der Koexistenz bzw. des Nacheinander. Aufgabe der Physik sollte es sein, diesen phänomenalen Bereich auf der Grundlage einer Bewegungslehre mit dem Satz der Energieerhaltung im Z e n t r u m zu erfassen. Kurz vor seinem Tode stellte Leibniz seine Auffassung noch einmal im Briefwechsel mit dem Theologen Samuel - » C l a r k e dar, dessen Antworten von N e w t o n gebilligt waren. Leibniz' Auffassungen der Relativität von Raum und Zeit, der Notwendigkeit einer Voraussetzung des Prinzips des zureichenden Grundes bei allen crfahrungswisscnschaftlichen Forschungen und schließlich einer dynamischen Begründung der Physik haben dabei über die Physik hinaus Bedeutung für seine Philosophie. Die Zeit nach der Italienreise zeigte Leibniz auf der H ö h e seiner Erfolge: U.a. dank seiner Rcchtsgutachten hatte das H a u s H a n n o v e r die Kurwürde erhalten, er hatte die A b s t a m m u n g des Wclfenhauses vom Hause Este nachweisen können und eine neue Verbindung zwischen beiden Häusern hergestellt; seine metaphysischen Studien hatten sich ihm zu einem eigenen System geschlossen, die Infinitesimalrechnung w a r gefunden, und in der Physik hatte er eine eigenständige Darstellung entwickelt. 1700 w u r d e endlich die von ihm angeregte Preußische Akademie in Berlin gestiftet und Leibniz zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt - um doch als persona non grata 1711 an der Eröffnung nicht teilzunehmen. Auf Einladung Kaiser Leopolds weilte Leibniz in Z u s a m m e n h a n g mit den Reunionsgesprächen im Jahre 1700 zum zweiten Mal in Wien. Ein drittes M a l besuchte er die Stadt 1708 in diplomatischer Mission Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig, aber ohne Wissen des Hannoverschen Kurfürsten und zu dessen Unwillen. Auch am Berliner Hof hatte Leibniz nach dem Tode Sophie Charlottes im Jahre 1705 mit Schwierigkeiten zu kämpfen, ja, man argwöhnte in ihm zeitweilig einen hannoverschen Spion. So nutzte er 1711 die Gelegenheit einer Begegnung mit Z a r Peter dem Großen, Vorschläge zur Förderung der Wissenschaften in Rußland zu unterbreiten; später ergänzte er sie durch Vorschläge zur Wiederaufnahme der Reunionsverhandlungen mit dem Ziel, auch die russisch-orthodoxe Kirche einzubinden. - Eine vierte, fast zwei J a h r e lang währende Wienreise 1713/14 - wiederum ohne Urlaub - galt dem Ziel, Kaiser Karl VI. zur Stiftung einer Sozietät in Wien zu bewegen. Die Akademiepläne kamen in Wien zunächst gut voran, sie gediehen bis zur Ernennung Leibnizens zum Direktor; aus finanziellen G r ü n d e n unterblieb jedoch die Unterschrift und damit die Verwirklichung. Als Leibniz nach H a n n o v e r zurückkehrte, war der Hof nach London gereist - der Herzog hatte als Georg I. den

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englischen Königsthron bestiegen und O r d e r hinterlassen, Leibniz d ü r f e erst nach Abschluß der Weifengeschichte nachfolgen. Als Leibniz, d e r H a n n o v e r s c h e und Russische Geheime Justizrat und R e i c h s h o f r a t , a m 14. N o v e m b e r 1716 in H a n n o v e r starb, w a r kein Vertreter des H o f e s beim Begräbnis zugegen, und die Berliner Sozietät vergaß, seiner zu gedenken. Der Tatsache, d a ß m a n ihm auch in H a n n o v e r m i ß t r a u t e , ist es zu d a n k e n , d a ß die über 15000 Briefe mit ü b e r 1500 K o r r e s p o n d e n t e n auf dem ganzen Globus wie Tausende von M a n u s k r i p t s e i t e n erhalten blieben: Sie w u r d e n beschlagnahmt. 2. Werk 2.1. Die Monade als seelenhafte Substanz. In der M o n a d e n l e h r e entwickelt Leibniz seine A n t w o r t auf die Frage, was das Wesen der Dinge, was die Substanz ist. Unter einer Substanz wird traditionell eine sich d u r c h h a l t e n d e Einheit als b e h a r r e n d e r Träger der wechselnden Eigenschaften verstanden, der f ü r sich besteht, o h n e eines anderen zu b e d ü r fen oder eine E i n w i r k u n g von außen zu erfahren. Dcscartes h a t t e eine Drei-SubstanzenLehre entwickelt mit G o t t als oberster und der res cogitans (der d e n k e n d e n Substanz) und der res extensa (der ausgedehnten Substanz) als von ihm geschaffenen abgeleiteten Substanzen. Diese Lehre schien geeignet, den beiden das neuzeitliche Denken p r ä g e n d e n Bezugspunkten - Vernunft und N a t u r - die ihnen g e b ü h r e n d e Vorrangstellung einzuräumen: res cogitans heißen alle vernünftigen Wesen; sie begründet die Gleichheit d e r M e n schen und sichert die auf ihr ruhende Vernunfterkenntnis. Demgegenüber schien die res extensa geeignet zur B e g r ü n d u n g der neuzeitlichen N a t u r w i s s e n s c h a f t e n , weil in ihr die Eigenschaften der M a t e r i e in geometrischen, und das heißt in mathematischen Begriffen darstellbar w e r d e n . Doch mit der einander ausschließenden Entgegensetzung von res cogitans und res extensa w a r das -»Leib-Seele-Problem für Descartes unlösbar g e w o r den, weil es keinen R a u m f ü r eine vermittelnde Instanz gab, w a r doch eine wechselseitige Einwirkung durch den Substanzcharakter ausgeschlossen. Der - » O k k a s i o n a l i s m u s M a lebranches h a t t e das Problem deshalb d u r c h die T h e o r i e der „ G e l e g e n h e i t s u r s a c h e n " zu lösen gesucht, nach der G o t t bei jeder Veränderung auf der einen zugleich eine parallele Veränderung auf der anderen Seite bewirkt. -»Spinoza schließlich hatte die cartesische Drei-Substanzen-Lehre zugunsten eines M o n i s m u s aufgegeben, indem G o t t allein Substanzcharakter zugesprochen wird, w ä h r e n d Denken und A u s d e h n u n g als Attribute G o t tes nur zwei Betrachtungsweisen ein und desselben sind und d a m i t zwangsläufig zusammenstimmen. Mit allen drei Lösungen hat sich Leibniz intensiv auseinandergesetzt. Spinozas Sichtweise macht nach Leibniz' Auffassung Freiheit unmöglich, M a l e b r a n c h e s Lösung f ü h r t zu einem G o t t , der ständig in seine eigene S c h ö p f u n g eingreifen m u ß , w ä h r e n d die cartesische A n n a h m e einer res extensa schon aus physikalischen G r ü n d e n untauglich ist: Erstens nämlich bedarf es zur Feststellung der Bewegung eines Körpers solcher Eigenschaften, die nicht auf A u s d e h n u n g reduzierbar sind, denn wären alle Körpereigenschaften n u r durch A u s d e h n u n g bestimmt, ließe sich gar nicht sagen, d a ß es dieser Körper sei, der erst diese, d a n n jene Lage e i n g e n o m m e n habe. Z w e i t e n s ist die G r ö ß e der A u s d e h n u n g nicht absolut, sondern n u r relativ, denn ein absoluter R a u m - so a r g u m e n t i e r t Leibniz gegen N e w t o n im Briefwechsel mit Clarke - ist weder feststellbar noch möglich, weil G o t t keinen G r u n d hätte, die Welt an irgendeiner bestimmten Stelle des absoluten R a u m e s zu schaffen. Da dies auch f ü r die - » Z e i t gilt, sind R a u m und Zeit n u r relationale O r d n u n g e n . Drittens verlangt die Behandlung von Bewegungsgesetzen, d a ß e t w a s gänzlich NichtMaterielles als k o n s t a n t angesehen w i r d , nämlich die „lebendige K r a f t " , die kinetische Energie m v 2 (Disc. met. § 17). Wenn aber e t w a s Immaterielles, also Unausgedehntes, das Unveränderliche der Bewegung der Körper ist, k a n n die A u s d e h n u n g nicht das Wesen der Körper a u s m a c h e n u n d S u b s t a n z c h a r a k t e r h a b e n . Diesem A r g u m e n t , das Leibniz immer wieder heranzieht, k o m m t weit m e h r als n u r physikalische Bedeutung zu, zeigt es doch, d a ß m a n in der Betrachtung der N a t u r nicht a u s k o m m e n k a n n o h n e einen Begriff, der an die Stelle einer Geometrisierung eine D y n a m i s i e r u n g setzt. Ein sich bewegender Masse-

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punkt trägt in jedem Augenblick eine Dynamik in sich, dem nächsten Zustand zuzustreben; er enthält also ein finales Element, das der vorantreibenden Kraft der Seele entspricht. Darüber hinaus kann die Ausdehnung schon deshalb nicht Substanz sein, weil die Materie bis ins Unendliche teilbar ist und darum keine fundierende, d.i. teillose Einheit sein kann. Damit ist die Auffassung, Raum und Zeit, das Ausgedehnte oder die Körper könnten Substanzcharakter haben oder Attribute Gottes sein, nach Leibniz nicht mehr haltbar; vielmehr sind Körper Erscheinungen, Phänomene. So gelangt Leibniz zu seinem durchgängigen -»Idealismus der Monadenlehre. Mit dem Ausscheiden der Ausdehnung als Substanz verbleibt die res cogitans. Sie wird von Leibniz gegenüber der cartesischen Auffassung wesentlich modifiziert, indem er sie über den Bereich des Bewußtseins nach ,unten' in das Unbewußte verlängert und in eine unendliche Zahl voneinander verschiedener Individuen, die Monaden, aufsplittert. Monaden sind Einheiten, einfache Substanzen, die keine Teile haben (Monadologie § 1); sie werden nur von Lebewesen - Menschen, Tieren, Pflanzen - verkörpert, niemals von anorganischen Körpern (Gerhardt, Phil. 11,520); die Monade ist mithin dasjenige, was einen Organismus zu einer Einheit macht. Monaden sind also immaterielle, gleichsam „metaphysische Punkte", die als teillose Substanzen auf natürliche Weise weder herstellbar noch zerstörbar (in Teile auflösbar) sind (Monadologie §4 u. 5; Gerhardt, Phil. IV,482). Darüber hinaus besitzen die Monaden einen inneren Dynamismus, den appetitus, der sie als inneres Streben gemäß einem individuellen Gesetz von einem inneren Zustand zum nächsten, von einer Perzeption zur anderen voranschreiten läßt; deshalb nennt Leibniz die Monaden auch Entelcchien (Monadologie § 14,15 u. 18). Je nach Art der Perzeptionen gibt es nun Unterschiede unter den Monaden, die der Abstufung der cartesischen Grade der Erkenntnis entsprechen. Auf der obersten Stufe stehen Perzeptionen, die von „Selbstbewußtsein" begleitet sind und eine „reflexive Erkenntnis" beinhalten; sie heißen Apperzeptionen, und die der Apperzeption fähigen Monaden nennt Leibniz vernünftige Seelen oder Geister. Darunter liegt die Stufe der deutlich wahrnehmbaren und von Erinnerung begleiteten Perzeptionen; solcher Perzeptionen fähige Monaden heißen Seelen. Doch muß es auch Perzeptionen unterhalb dieser bewußten Stufe geben; denn unter Voraussetzung der Kontinuität aller Abläufe könnte ein Mensch nie aus tiefem Schlaf zu vollem Bewußtsein gebracht werden, wenn es nicht unbewußte Wahrnehmungen gäbe (Monadologie § 2 2 - 2 4 ) . Diese Erweiterung der cartesischen res cogitans in den Bereich verworren-unbewußter Wahrnehmungen führt auf der untersten Stufe zu den nackten oder schlummernden Monaden (§24), während Gott die oberste, ständig mit völliger Deutlichkeit apperzipierende Monade ist. Dazwischen liegen die Tiermonaden und die zwischen Perzeption und Apperzeption pendelnden Geistmonaden menschlicher Individuen. Die Einbeziehung unbewußter Wahrnehmungen löst zwei Ärgernisse der cartesischen Substanzenlehre, nach der ein nichtdenkender, weil schlafender Mensch keine res cogitans ist, und nach der ein Hund, der ja kein Selbstbewußtsein hat, als jaulende Maschine gesehen werden muß, wenn er den Knüppel erblickt, mit dem er geschlagen wurde. Leibniz aber kann dem Hund, der Erinnerungen hat, eine Tierseele zusprechen, während ein Mensch eine der Apperzeptionen fähige Geistmonade bleibt, auch wenn er schläft. Tätig nennt Leibniz Monaden mit deutlichen Perzeptionen, solche mit bloß verworrenen hingegen leidend. Dies führt zu einer Ordnung der Monaden, denn jeder Körper als Erscheinungsform der Monade (von Leibniz Aggregat genannt) ist aus Teilen zusammengesetzt, denen Monaden niedrigerer Stufen, also mit verworreneren Perzeptionen, entsprechen (Monadologie § 6 3 - 7 0 ) . Damit kommt jeder Monade als phaenomenon bene fundatum ein Körper zu, der gerade diejenigen Beziehungen ausdrückt, die zwischen den Monaden bestehen; nur die göttliche Monade bildet hiervon eine Ausnahme, denn sie ist „allein vom Körper gänzlich losgelöst" (Monadologie §72). Das Verhältnis von Körper und Seele ist damit in der Monadenlehre als ein Hervorgehen der Erscheinung des Körpers aus dem Zustand der tätigen oder leidenden Monade bestimmt. Das cartesische

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Problem der Realdistinktion bzw. Parallelität von res cogitans und res extensa kann hier gar nicht auftreten. Die Frage, wie die Vergänglichkeit des Leibes mit der behaupteten Unvergänglichkeit der Substanz, also mit der Unsterblichkeit der Seele, verträglich ist, wenn jede Monade außer der göttlichen von der Erscheinungsform eines Körpers begleitet ist, löst Leibniz folgendermaßen: Der Tod bedeutet in seiner Sicht nur den Übergang von einer apperzipierenden zu einer schlummernden Monade, der sehr wohl auch in dieser Gestalt der Teil eines organischen Körpers entspricht; ebenso besteht die Monade schon vor der Geburt als schlummernde Monade, zeigt doch die Mikroskopie die Belebtheit des Wassertropfens ebenso wie die des Spermas! So führt die Monadenlehre zur Vorstellung von einem durch und durch belebten Universum. Mit der Annahme ideeller Monaden, deren Körper abgeleitete Phänomene sind, ist das ursprüngliche Leib-Seele-Problem aufgelöst, doch es kehrt in veränderter Gestalt an anderer Stelle wieder: Da Substanzen durch nichts Äußeres, also auch nicht durch andere Substanzen beeinflußt werden können, ist eine Einwirkung der Monaden aufeinander ausgeschlossen: Monaden sind, bildhaft formuliert, fensterlos (Monadologie §7). Wie läßt sich das mit einem Tätigsein und Leiden vereinbaren, das sich im phänomenalen Bereich im körperlichen Organismus, also in finalen und kausalen Abhängigkeiten, manifestiert? Leibnizens Lösung hierfür ist sein Prinzip der prästabilierten Harmonie. Es beruht darauf, daß jede Monade - jeweils noch unausgestaltet, zumeist verworren und jede unter einem anderen Gesichtspunkt - das ganze Universum „ausdrückt", „repräsentiert" oder spiegelt (Monadologie §56). Diese Repräsentation umfaßt nicht nur die Gegenwart, sondern auch alle vergangenen und zukünftigen Zustände aller Monaden. Dabei beruht sie nicht auf der Einwirkung der Monaden aufeinander; was phänomenal als kausale Ursache-Wirkung-Beziehung wahrgenommen wird, beruht vielmehr auf einem „idealen Einfluß", der insofern „durch Vermittlung Gottes zustande kommt", als Gott beim Denken der möglichen Weltläufe schon vor der Schöpfung den Weg jeder einzelnen individuellen Substanz denkt (Monadologie §51). Da aber „in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht" (Theodicee I, §9), müssen die inneren Eigenschaften jeder Monade auf das Ganze des Weltlaufs abgestimmt sein und ihn virtuell enthalten. Deshalb entsprechen die Perzeptionsfolgen der Monaden der geschaffenen Welt einander (als Realisierung einer gedachten möglichen Welt) im Sinne der prästabilierten Harmonie in Form eines idealen Einflusses, dem wiederum im phänomenalen Bereich der Körper ein kausaler Einfluß entspricht; der Leib-Seele-Parallelismus ist also eine Folgerung aus der prästabilierten Harmonie, die unter den Monaden herrscht. 2.2. Die Deutung der Monadenlehre. In der apodiktischen Kürze ihrer Aussagen bereitet die Monadenlehre Schwierigkeiten, sie als eine einheitliche Theorie individueller, ideeller und dynamischer Substanzen zu begreifen, die, obwohl fensterlos, das Universum zu repräsentieren vermögen. Schon Christian ->Wolff erhob deshalb den Vorwurf, sie sei nicht ausreichend begründet. Diesem Vorwurf soll nun durch die Einordnung in das Ganze der Leibnizschen Philosophie begegnet werden. Generalisierend betrachtet, lassen sich vier Interpretationsrichtungen der Monadologie ausmachen: Die traditionell-metaphysische Interpretation (Fischer; Gurwitsch; Janke) nimmt die metaphysische Substanzenlehre zur Leitschnur der Interpretation. Die mechanistische Deutung (Dillmann; Geroult) sieht Leibnizens physikalische Untersuchungen als den Ursprung seiner Metaphysik, so daß die Monadenlehre als die späte philosophische Überhöhung einer in der Hypothesis physica nova angelegten und in der Dynamica ausgearbeiteten physikalischen Auffassung verstanden wird: Der appetitus der Monaden entspringt der Übertragung dynamischer Modelle aus der Physik in die Metaphysik. Die mathematische Deutung (Mahnke; Serres) betrachtet die Monadenlehre als metaphysische Ausdeutung der Integralrechnung, weil diese die Möglichkeit gibt, eine unendliche Mannigfaltigkeit in der Einheit einer Formel oder eines Grenzwertes zu erfassen. Die logisch-begriffstheoretische Deutung (Couturat; Russell; z.T. Cassirer; Parkinson) gründet Leibniz' Metaphysik auf seine Begriffs- und Urteilslehre. Sie stützt sich dabei auf Manuskripte von der Ars

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combinatoria bis in die späten Lebensjahre Leibnizens, die zu einem großen Teil erst 1903 durch Couturat erschlossen wurden und die eine entscheidende Umorientierung des Leibniz-Verständnisses zur Folge gehabt haben. Historisch-genetisch betrachtet, ist es unmöglich, einem der Interpretationsansätze den Vorrang zu geben, denn entscheidende Schritte erfolgten teils auf den Tag parallel. Vielmehr sind alle vier Betrachtungsweisen von Leibniz gleichzeitig verfolgt und als wechselseitige Stütze seines Anliegens verstanden worden. Da überdies keiner der Ansätze ausreicht, die Monadenlehre insgesamt zu begründen, stellt sich allein die Frage nach dem für die Darstellung geeignetsten Zugang; in diesem Sinne liegt ein Ausgang von der Leibnizschen Begriffstheorie nahe. Hierzu wird es nötig sein, die von Leibniz seiner Philosophie zugrunde gelegten und immer wieder hervorgehobenen Prinzipien zu betrachten. Ortega y Gasset hat Leibniz einmal „Mensch der Prinzipien" genannt (Der Prinzipienbegriff bei Leibniz § 1), und A. Gurwitsch sah seine Philosophie als „Panlogismus". In beiden Bezeichnungen kommt die Leitschnur zum Ausdruck, die Leibniz für sein Denken beansprucht, die Gründung auf Vernunft. Er nimmt damit Descartes* Vorstellungen der Regulae und Spinozas mos geometricus auf; doch zugleich will er die von ihnen verhöhnte scholastische Logik in ungleich leistungsfähigerer Gestalt rehabilitieren. Ebenso sucht er eine Synthese der aristotelisch-scholastischen Tradition substantieller Formen von zielgerichteter Dynamik mit einer kausalen Erklärung der Natur. Die innige Verflechtung der Leibnizschen Substanzmetaphysik mit den Prinzipien der Erkenntnis legt es nun nahe, von letzteren den Ausgang zu nehmen. Die Frage, warum Erkenntnis überhaupt möglich ist, wird für Leibniz zum Ausgangspunkt; und er beantwortet sie mit seinem „großen Prinzip": Nihil est sine ratione sitfficiente, nichts ist ohne zureichenden Grund. Dieses allgemeine Prinzip des Grundes ist, wie wir nach Kant sagen können, die apriorische Bedingung der Möglichkeit aller Erkenntnis; denn ohne es wären weder Logik noch Mathematik, weder cartesische Reflexion noch Lockes angeblich nur auf Erfahrung gegründete Erkenntnis möglich. Das Erste Prinzip selbst ist nicht weiter begründbar, weil jeder solcher Versuch zirkulär wäre; es läßt sich nur plausibel machen, denn würde es nicht gelten, könnte Gott etwas ohne Grund schaffen, also etwas Unbegründetes denken und tun. Das universelle Prinzip des Grundes sichert die Vernünftigkeit und Verstehbarkeit der Welt, denn es gilt gleichermaßen für Gott wie für die Menschen. Umgekehrt bedeutet dies, daß die menschliche Vernunft sich von der göttlichen nicht prinzipiell, sondern nur graduell, nämlich in der Reichweite unterscheidet: Das Prinzip sichert über eine Unterscheidung der Reichweite, daß es keine doppelte Wahrheit gibt; vielmehr, so betont Leibniz, kann, was über die erschaffene Vernunft hinausgeht, von dieser „zwar ergriffen, aber nicht begriffen werden. Gott allein ist es vorbehalten, es zu verstehen" (Nouv. Essais IV.18,523). Wenngleich nichts ohne Grund ist, so sind doch die Gründe jeweils sehr unterschiedlich. Deshalb zerfällt das allgemeine Prinzip des Grundes seinerseits in das Prinzip des Widerspruchs und der Identität und das Prinzip des zureichenden Grundes im engeren Sinne. Das Prinzip des Widerspruchs und der Identität wird von Leibniz unterschiedlich formuliert, mal im Sinne des Bivalenzprinzips — jede Aussage ist entweder wahr oder falsch - (Theodicee I, §44), mal als „Prinzip des Widerspruchs, kraft dessen wir alles als falsch bezeichnen, was einen Widerspruch einschließt, und als wahr alles das, was dem Falschen kontradiktorisch entgegengesetzt ist" (Monadologie §31, vgl. 2. Brief an Clarke §2); schließlich in der ontologischen Form: etwas kann nicht zugleich sein und nicht sein (Nouv. Essais IV.7,§ 12). Die letzte Formulierung zeigt, daß Leibniz jede logische Aussage zugleich als ontologische sieht. In der Fassung des Bivalenzprinzips gilt das Prinzip für alle Aussagen, reicht aber nicht aus, festzustellen, ob eine Aussage wahr ist. In der Fassung der Monadologie hingegen wird darüber hinaus für einige Fälle der Wahrheitswert einer Aussage bestimmt: Wahr sind danach Aussagen, deren Negation einen Widerspruch enthalten, insbesondere also Identitäten. Da Leibniz diese Bestimmung zugleich als Defi-

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nition der Notwendigkeit verwendet und die Vernunftwahrheiten als die notwendigen Wahrheiten definiert, ergibt sich, daß die Vernunftwahrheiten diejenigen Aussagen sind, die allein auf Grund des Widerspruchsprinzips wahr sind. Zu ihnen zählen alle mathematischen, geometrischen und logischen Aussagen, von denen Leibniz (fälschlich) annimmt, sie seien durch eine Rückführung auf identische Aussagen beweisbar. Da das Prinzip des Widerspruchs als Grundprinzip des Denkens eine fundamentale Eigenschaft aller Wahrheiten (ihre Widerspruchsfreiheit), insbesondere der notwendigen Wahrheiten (die Widersprüchlichkeit als Falschheit ihrer Negation) ausdrückt, kann es nicht auf göttlicher Willkür beruhen, ebensowenig wie Logik und Mathematik. Hierin unterscheidet sich der Leibnizsche Rationalismus von dem Descartes', der, gestützt auf die uneingeschränkte Omnipotenz Gottes, auch mathematische Wahrheiten als Festsetzungen Gottes begreift. Leibniz versteht seine Auffassung jedoch nicht als eine Einschränkung der Omnipotenz, sondern gerade als Ausdruck der Begründetheit göttlichen Denkens. Nun gibt es Aussagen, deren Negation keinen logischen Widerspruch enthält: die kontingenten Aussagen. Die wahren kontingenten Aussagen sind die den Vernunftwahrheiten entgegengesetzten Tatsachenwahrheiten. Sie genügen dem Prinzip des zureichenden Grundes im engeren Sinne. Dieses Prinzip besagt, daß „niemals etwas ohne eine Ursache oder einen bestimmten Grund geschieht" (Théodiceé 1 §44). Es ist nicht auf das Prinzip des Widerspruchs rückführbar; es ist also nicht notwendig, sondern selbst kontingent (-»Kontingenz). Damit, so können wir sagen, stellt es eine apriorische, aber nicht (logisch)-notwendige Voraussetzung aller Tatsachenerkenntnis dar. Mit Nachdruck betont Leibniz, man könne nicht auf Grund von Experimenten feststellen, daß die Natur gesetzmäßig sei; vielmehr setzt jede Beobachtung und jedes Experiment deren Gesetzmäßigkeit voraus! Kants Auffassung, der Verstand schreibe der Natur die Gesetze (eigentlich: die Gesetzesform) vor, hat hier ihre Wurzeln. Das Prinzip des zureichenden Grundes - künftig im engeren Sinne - gilt erstens für Sachverhalte dieser Welt, indem es ausspricht, daß jeder Sachverhalt eine kausale Ursache und damit eine nicht abreißende unendliche Kausalkctte besitzt. Es gilt zweitens für menschliche Handlungen; dann spricht es aus, daß es zu jedem Handeln eine vollständige Kausalkctte gibt, die auch die inneren Zustände einschließt. Schließlich gilt das Prinzip für das Handeln Gottes, denn Gott handelt nie aus Willkür; entsprechend verlangt das Prinzip finale Gründe göttlichen Handelns. Da Gott aber nur das Beste will, nennt Leibniz das Prinzip des zureichenden Grundes in dieser Gestalt das Prinzip des Besten, das den zureichenden Grund für die Existenz dieser Welt und damit eines jeden einzelnen Dinges angibt. Es besagt, daß Gott von den logisch möglichen Welten diejenige ausgewählt und geschaffen hat, die die reichste an Erscheinungen und zugleich die geordnetste ist (vgl. Discours de métaphysique §6). Gott muß diesem Prinzip nicht im Sinne einer logischen Notwendigkeit folgen, sondern nur im Sinne einer moralischen Notwendigkeit. Hierbei setzt Leibniz voraus, daß etwas nicht deshalb gut ist, weil Gott es will, sondern daß Gott etwas will, weil es gut ist: Gott kann das, was gut ist, ebensowenig festsetzen, wie das, was logisch wahr ist. Auch wenn Leibniz hierin keine Einschränkung der Allmacht Gottes sieht, sondern eine Feststellung über das Wesen Gottes, wird damit ein Schritt in der Richtung der Lösung der Philosophie von der Bindung an den Gottesbegriff getan, weil sich menschliche und göttliche Vernunft ebenso wie menschliche und göttliche Güte dem Begriffe nach nur graduell, nicht aber prinzipiell unterscheiden. Gott fungiert so als Bezeichnung für das logisch und moralisch Vernünftige. Was bleibt, ist der die Welt schaffende und in ihrer Existenz erhaltende Gott. Das Prinzip des zureichenden Grundes bezeichnet einmal Ursachen (causae), ein andermal Gründe (rationes). Man könnte deshalb meinen, man habe es der Sache nach mit zwei Prinzipien zu tun; doch damit würde eine entscheidende Intention Leibnizens verfehlt: Jedes Ereignis dieser Welt, ausgedrückt in einer Tatsachenwahrheit, ist zugleich sowohl Teil einer Kausalkette als auch Ausdruck des Willens Gottes als Schöpfer dieser Welt, also Element einer finalen Begründung: causae sind eigentlich rationes (-»Kausali-

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tat). Eben darum ist die Welt für den Menschen verstehbar, obwohl er die unendlichen Begründungs- und Kausalketten nicht zu überschauen vermag. Und eben darum ist ein Sachverhalt in dieser Welt, ausgedrückt in einer Tatsachenwahrheit, einerseits als Glied einer Kausalkette behandelbar und damit der Untersuchung durch die Naturwissenschaften zugänglich, auf der anderen Seite aber kann er final als Ausdruck des göttlichen Wollens gedeutet werden. Diese beiden Betrachtungsweisen bilden das „Reich der Ursachen" bzw. das „Reich der Zwecke", die wechselseitig aufeinander bezogen sind, ohne aufeinander rückführbar zu sein und sich in diesem Sinne in steter Harmonie befinden. 2.3. Das Reich der Ideen und die möglichen Welten. Das Prinzip des Widerspruchs oder der Identität leistet mehr als bloß die Begründung der Vernunftwahrheiten, denn es etabliert auch den Bereich der möglichen Aussagen, das Reich der Möglichkeiten oder „Reich der Ideen", denn Leibniz definiert Möglichkeit im Sinne des scholastischen possibile logicum als Widerspruchsfreiheit. Das Bestehen des Reiches der -»Ideen als Gesamtheit der möglichen, also widerspruchsfreien Begriffe und Aussagen ist für Leibnizens philosophisches Denken von größter Bedeutung, denn es ist die Grundlage der göttlichen Wahl wie der menschlichen Freiheit und damit seiner Lösung des Theodizeeproblcms. Mit seiner Hilfe überwindet er Spinozas durchgängigen Determinismus, und es ist die Grundlage der Ablehnung der cartesischen Auffassung, die -»Welt müsse alle überhaupt möglichen Zustände irgendwann einmal annehmen. Dabei sind Bezeichnungen wie „Reich der Ideen", „Enthaltensein eines Widerspruchs", „Auflösung in Identitäten" oder „mögliche Welten" nicht etwa bloß metaphorisch, sondern erhalten im Rahmen der Leibnizschen Begriffstheorie eine ganz präzise Bedeutung. Sie gilt es, kurz zu skizzieren. Eine Voraussetzung des Leibnizschen Denkens ist die Annahme, die Welt lasse sich im Prinzip (für Gott oder für ein unendliches Denken) mit wahren kategorischen Aussagen, das heißt Aussagen des Typs „A ist B " erfassen. Ubergehen wir einmal, daß hierin nach heutigem Verständnis eine einschneidende Einschränkung liegt, weil sich Relationsaussagen nicht auf kategorische Aussagen zurückführen lassen (vgl. hierzu Ishiguro, Kap. V und Mugnai, Kap. VII). Die Frage nun, wann eine kategorische Aussage wahr ist, beantwortet Leibniz mit seinem Wahrheitsprinzip (-»Wahrheit), das der Unterscheidung von Vernunft- und Tatsachenwahrheiten vorgeordnet ist und für beide gelten soll, das also Ausdruck des generellen Prinzips des Grundes ist: „A ist B" ist wahr genau dann, wenn der Begriff B in dem Begriff A enthalten ist. In Kants Terminologie betrifft dieses Prinzip die analytischen Wahrheiten; deshalb nennt man Leibniz' Wahrheitstheorie auch „analytische Wahrheitstheoric", die aber im Gegensatz zu -»Kant für alle Wahrheiten gelten soll und die die gemeinsame Basis aller Vernunft- und Tatsachenwahrhciten ist. Das Enthaltcnscin von Begriffen, auf das sich das Wahrheitsprinzip stützt, erfährt nun folgende Präzisierung, die uns auf eine weitere Voraussetzung der Leibnizschen Philosophie führt: Leibniz greift eine Bemerkung Descartes' in dessen Principia auf, wonach es Grundbegriffe geben müsse, aus denen alle übrigen Begriffe zusammengesetzt seien. Diese Grundbegriffe, die Leibniz prima possibilia, gelegentlich auch termini primitivi nennt, sind als absolut einfache Begriffe nicht weiter zerlegbar, also auch nicht weiter definierbar und bilden das alphabetum cogitationum, das Gedankenalphabet. Leibniz denkt hierbei an solche Begriffe wie Sein, Möglichkeit, Existenz, deren Inhalt dem Denken seiner Auffassung nach unmittelbar gegeben ist. Komplexe Begriffe entstehen aus ihnen durch Kombination im Sinne der Ars combinatoria. Eine Aussage ist damit wahr, wenn der Prädikatbegriff ein Teilbegriff des komplexen Subjektbegriffes ist. Die Rückführung der Wahrheitsfrage auf die Struktur von Begriffen wirft eine Reihe von Problemen auf. Zunächst stellt sich die Frage, ob es absolut einfache Begriffe überhaupt gibt. Leibniz beantwortet sie mit einem indirekten Existenzbeweis, dem jener für die Existenz der Monaden als unteilbaren Einheiten ganz analog ist und der später in Russells und Wittgensteins Logischem Atomismus die Existenz unzerlegbarer Elementarsätze begründen sollte: Es muß absolut einfache Begriffe geben, „denn wenn wir nichts

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durch sich selbst begreifen, begreifen wir überhaupt nichts. Es wäre dann nämlich so, wie wenn ich einem mich Fragenden stets mit Worten antwortete, die er nicht versteht, und dem, der mich nach der Erklärung dieser Worte fragte, wieder mit anderen Worten, die er nicht versteht; und so mag ich immer weiter gehen: er wird nichts verstehen" (Couturat, Op. 258). Aus der Unzerlegbarkeit der absolut einfachen Begriffe folgert Leibniz ihre logische Unabhängigkeit, so daß eine beliebige Konjunktion von ihnen niemals einen Widerspruch enthält; tatsächlich ist dies ein zusätzliches Postulat. Dies wird besonders deutlich in Zusammenhang mit der von Leibniz geforderten Ergänzung des cartesischen ontologischen Gottesbeweises: Nach Leibniz' Auffassung kann von Gottes Vollkommenheit nur dann auf seine Existenz geschlossen werden, wenn die Widerspruchsfreiheit des Gottesbegriffs als des vollkommensten Wesens bewiesen ist: das aber würde gelingen, wenn man „ G o t t " durch alle absolut einfachen, eine Vollkommenheit ausdrückenden Prädikate definieren und deren widerspruchsfreie Kombinierbarkeit zeigen könnte; letzteres aber bleibt Postulat. Dies mag der Grund sein, weshalb Leibniz diesen Beweis stets nur skizziert, nie aber im Sinne des Rigorismus seines eigenen Beweisbegriffes durchführt. Dennoch ist der Gedankengang aufschlußreich, zeigt er doch die enge Verflechtung logischer und metaphysischer Fragestellungen. Die Bildung möglicher Welten kann man sich im Rahmen der Leibnizschen Begriffstheorie folgendermaßen vorstellen: Unter Verwendung der Negation und der Konjunktion als logischer Verknüpfung, wobei auch die Bildung unendlich langer Begriffe erlaubt sein soll, lassen sich alle möglichen, das heißt widerspruchsfreien Begriffe des Reiches der Ideen bilden. Alle so gebildeten Begriffe lassen sich nun mit einer Kopula verbinden, so daß Aussagen entstehen, von denen man diejenigen, die keinen Widerspruch enthalten, als die Menge der möglichen Aussagen zusammenfassen kann. Unter ihnen lassen sich nun maximal konsistente Teilmengen bilden, also Mengen, die alle Aussagen enthalten, die jeweils ohne Auftreten eines Widerspruchs gleichzeitig wahr sein können. Da alle Vernunftwahrheiten untereinander und mit jeder wahren oder falschen kontingenten Aussage verträglich sind, sind sie in jeder dieser Teilmengen enthalten; das gilt auch für die Euklidische Geometrie, die nach Leibnizscher Auffassung Teil der Vernunftwahrheiten ist, und Ähnliches gilt für die Zeit als Relation. Schließlich gibt es keine einzige kontingente Aussage, die nicht wenigstens einer der Teilmengen angehört. Diese Teilmengen sind deshalb das, was Leibniz mögliche Welten nennt. Sie existieren nur im Bereich der Ideen und stehen Gott zur Wahl. Da das Prinzip des zureichenden Grundes bei ihrer Bildung nicht herangezogen wurde, sind sicherlich auch sehr „chaotische" Welten darunter, bei denen man offen lassen mag, ob sie für Leibniz als realisierbare Welten in Frage kämen; die geordneten und insofern dem Prinzip des Grundes genügenden Welten sind aber in jedem Falle erfaßt: Damit findet die so ungesichert erscheinende Sprechweise von den möglichen Welten im Schlußabschnitt der Theodizee eine begriffstheorctische Fundierung! 2.4. Monade und Begriff (notio compléta). Von der eben vorgeführten, gänzlich abstrakten Konstruktion, deren letzter Schritt von Leibniz nicht selbst vorgenommen wurde, gelangt man auf folgendem, wieder bei Leibniz zu findenden Weg zu den individuellen Substanzen: Die möglichen individuellen Substanzen der möglichen Welten entsprechen denjenigen Begriffen, die nur als Subjekte, nie als Prädikate in den Aussagen auftreten eine aristotelisch-scholastische Bestimmung der Substanz, die Leibniz verschiedentlich übernimmt. Da Raum und Zeit aus der Sicht der Begriffsanalyse Ordnungsrelationen sind, die in die Bildung der zusammengesetzten Begriffe eingehen und die für alle Individuen-Begriffe definiert sein müssen, folgt, daß jede Zustandsbeschreibung eines -»Individuums einer möglichen Welt jedwede Zustandsbeschreibung eines jeden anderen Individuums dieser Welt mitenthalten muß: Der „vollständige Begriff der individuellen Substanz'" (Discours de métaphysique §8) gibt also - wenn auch auf verschlüsselte Weise -

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Vergangenheit und Zukunft der betreffenden Substanz sowie die Beziehung zu jeder anderen Substanz der fraglichen möglichen Welt an. Damit haben wir im vollständigen Begriff der individuellen Substanz den Zentralbegriff jenes Anteils der Monadenlehre erreicht, dessen Verständnis durch die Leibnizsche Begriffstheorie begründet wird. Hier allerdings macht sich die Begrenztheit der menschlichen gegenüber der göttlichen Vernunft bemerkbar, denn während der Beweis für das Enthaltensein eines Prädikates im Subjekt im Falle einer Vernunftwahrheit in endlich vielen Schritten möglich ist, gilt dies nicht für die Tatsachenwahrheiten, also für diejenigen Wahrheiten, die nur innerhalb dieser als eine der möglichen Welten zutreffen: Für sie wäre eine unendliche Analyse notwendig, die menschliches Denken nicht zu leisten vermag; die analytische Wahrheitstheorie ebenso wie die Konstruktion möglicher Welten umreißen also einen Bereich des göttlichen Denkens. Lange vor der Ausformulierung der Monadenlehre in einem prägnanten Sinne hatte Leibniz die Begriffe der „möglichen Welt" und des „vollständigen Begriffs der individuellen Substanz" entwickelt. Die nachgezeichnete begriffstheoretische Konstruktion zeigt nun, daß für jede Substanz einer jeden möglichen Welt gilt, daß sie, wenn die Welt geschaffen wird, das Universum spiegelt, weil sie jede andere Substanz ihrer möglichen Welt implizit auf Grund von Kompossibilitätsbedingungen berücksichtigt. Da sie alle rationes in sich trägt, ist sie fensterlos, und wenn zum vollständigen Begriff die zugehörige individuelle Substanz geschaffen wird, so bedarf sie keines Einwirkens von außen, weil sie Zustandsänderungen in ihrem vollständigen Begriff berücksichtigt findet: Sie befindet sich deshalb auch in prästabilierter Harmonie mit allen anderen individuellen Substanzen, weil sie als Begriffsgefüge mit ihnen prästabiliert ist. Der logisch-begriffstheoretische Ausgangspunkt erlaubt also, von den Zentralthesen der Monadologie die Substantialität des Individuums, die Fensterlosigkeit der Monaden, die Spiegelungsthese und das Prinzip der prästabilierten Harmonie zu begründen. Drei Problembereiche sind es, die im Rahmen der begriffstheorctischen Deutung schwer einzuordnen sind, zum einen die innere Dynamik der Monaden in Gestalt des appetitus, zum zweiten die Abstufung der Perzeptionen und zum dritten die Eigenschaft der Körper als phaenomena. Spätestens an dieser Stelle ergeben sich weitere Differenzierungen, die in sehr unterschiedliche Richtung führen können. So spricht Leibniz gelegentlich davon, daß die Begriffe von sich aus nach Realisierung drängen (Gerhardt, Phil. VII,194), während er an anderer Stelle betont, daß Ideen nicht dynamisch sein können (Gerhardt, Phil. 1,150). Betont man den ersten Gesichtspunkt (Pape, Tradition 1,128; Robinet), so muß die Schöpfung selbst als eine creatio continua betrachtet werden, und da Gott auch eine Monade ist, ist es nur konsequent anzunehmen, daß sich Gott in der Schöpfung selbst verwirklicht. Betont man dagegen den statischen Aspekt (Parkinson; Poser), so stellt sich mit großer Schärfe das Problem des Verhältnisses von göttlicher Vorherbestimmung und göttlichem Vorherwissen, weil die zu schaffende Welt im Reich der Ideen als schon gegeben gedacht wird. In beiden Fällen muß aber für den Dynamismus der Monade ein ergänzendes Element aufgenommen werden. Dasselbe gilt für die Abstufung der Perzeptionen, weil reflexive Strukturen in linearen Begriffsketten nicht erfaßt werden können. Zusammenfassend wird man sagen müssen, daß die Monadenlehre drei Anteile verschmilzt: einen, der auf die Begriffstheorie und die analytische Wahrheitstheorie zurückgeht und von absolut einfachen Begriffen ausgeht; einen zweiten, der dem aristotelischen Entelechiedenken entspringt und geeignet ist, die kausale Betrachtung der Körperwelt mit der Selbsttätigkeit und Selbstentfaltung des Individuums zu parallelisieren; und schließlich eine dritte, die der Abstufung der menschlichen Erkenntnis und dem Vermögen der Reflexion Rechnung trägt. Mit dieser Synthese verbindet Leibniz platonisches und aristotelisches Gedankengut mit den entscheidenden Einsichten der neuzeitlichen Philosophie; denn wenn das Reich der Ideen eine platonische Konzeption ist, so geht der appetitus auf das aristotelische Entelechiedenken zurück, während hinsichtlich der phaenomena die

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kausale Betrachtungsweise auf der Grundlage des Prinzips des zureichenden Grundes zum Tragen kommt. Die neuzeitliche Wendung zum Subjekt schließlich kommt gegenüber Descartes um einen Riesenschritt weiter, denn die Individualität des einzelnen erlangt eine bislang nie dagewesene Bedeutung: Jedes Ich ist Substanz und nichts sonst. Und obwohl jedes Ich alle Veränderung nur aus sich hervorbringt, konstituiert es zugleich das Universum, das es spiegelt: Der beseelte Kosmos voller Harmonie wiederholt sich so als - • M i k r o k o s m o s in jeder Seele, beide sind aufeinander bezogen, kein Individuum wäre möglich ohne die unermeßliche Zahl der anderen. 2.5. Göttliche Wahl und menschliche Freiheit: das Theodizeeproblem. Der Anspruch, die grundsätzliche Verstehbarkeit der Welt einsehen zu können, verlangt - anders als Tertullians Lehre von der doppelten Wahrheit —einen Ausgleich von Vernunft und Glauben, von göttlicher Voraussicht und menschlicher -»Freiheit. Nun beansprucht Leibniz nicht, alle Inhalte der christlichen Religion in eine Vernunftreligion überführen zu können; ohnehin vermag menschliche Vernunft bei komplexen Problemen, insbesondere bei solchen, in die unendliche Bedingungen eingehen, allenfalls eine symbolische Erkenntnis zu erlangen, wie wir sie haben, wenn wir für eine unendliche Reihe eine Summenformel und einen Grenzwert angeben können, ohne doch die Reihe in all ihren Einzelgliedern tatsächlich überschauen zu können. Doch im Hinblick auf Offenbarungsinhalte ist Leibniz noch zurückhaltender: Sie sind, wie er betont, nicht widervernünftig, sondern übervernünftig, daß heißt sie sind verträglich mit der Vernunft, aber für uns nicht begreiflich oder gar beweisbar (Theod., Disc. Prel. §60 u. §5). Sein Ziel ist deshalb hinsichtlich der Offenbarungsinhalte, allein zu zeigen, daß sie mit der Vernunft verträglich sind, nicht aber, sie auf irgendeine Weise zu beweisen. In diesem Sinne müssen auch die Leibnizischen Kritiken an tradierten Gottesbeweisen ebenso wie seine Skizzen, die Schwierigkeiten zu überwinden, viel weniger als Beweise mit Anspruch auf Stringenz gewertet werden, sondern vielmehr als Nachweise dafür, daß eine christliche Gottesvorstellung und die teleologische Annahme einer Gottgeschaffenheit der Welt sowohl mit der neuzeitlichkausalen Betrachtung der Natur als auch mit der Betonung der Individualität des einzelnen im Rahmen der Monadenmetaphysik vollkommen verträglich sind, daß Vernunft und Glaube einander nicht widersprechen, sondern eine Einheit bilden, auch wenn der Glaube weiterreicht als die Vernunft (Theod., Disc. Prel. §25 u. 63). Dies sei im folgenden am Theodizeeproblem verdeutlicht. Leibniz formuliert das -»Theodizeeproblem in Gestalt der Frage, wie die Güte Gottes, die sich in der Wahl der besten Welt zeigt, mit dem allenthalben sichtbaren Übel in der Welt vereinbar ist. Sein Grundgedanke ist der folgende: Die beste aller möglichen Welten kann keineswegs in jeder Hinsicht vollkommen sein; denn dann müßte sie in nichts anderem als einer Verdoppelung Gottes bestehen. Wenn also überhaupt eine Welt von Gott geschaffen wird, so nur unter Zulassung des Übels. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen dem metaphysischen Übel als Unvollkommenheit aller endlichen Wesen hinsichtlich ihres Seinsgehaltes, dem physischen Übel als Leiden und dem moralischen Übel als Sünde (Theod. §21). Das metaphysische Übel ist unvermeidlich, weil hier das geschaffene Sein von geringerem Seinsgehalt als Gott sein muß. Dies wirkt sich aber unmittelbar auf das physische Übel aus, denn da sich der Seinsgehalt im Vermögen ausdrückt, etwas zu bewirken, bewirkt es eine Abstufung der Monaden von der nur tätigen Monade bis hinab zur schlummernden, nur leidenden Monade; wenn es überhaupt etwas Tätiges geben soll, so muß Leidendes zugelassen werden. Die Zulassung des moralischen Übels schließlich ist der Preis für die menschliche Freiheit, die - als vernünftiges Handeln - ja gerade verantwortliches Tätigsein einschließt. So ist auf allen Ebenen das Übel nur zugelassen, um einem größeren Gut zur Existenz zu verhelfen. Der scheinbare Widerspruch im Theodizeeproblem beruht also auf der menschlichen Unkenntnis des Zwecks des Übels. Diese Unkenntnis aber hat ihren Grund darin, daß jede M o n a d e unterhalb der göttlichen Monade das Universum nur verworren spiegelt und den Weltlauf nicht zu überschauen

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vermag. Leibniz behauptet deshalb auch nie, es sei dem Menschen möglich, die existierende als die beste der möglichen Welten auszuweisen; sein Argument zielt vielmehr auf die Vereinbarkeit der Existenz des Übels mit der Annahme einer Gottgeschaffenheit der Welt. Mit dem Verweis auf die Zulassung des Übels sind jedoch keineswegs alle Schwierigkeiten behoben, denn die Zulassung der Sündhaftigkeit ist eng mit dem Freiheitsproblem verbunden. Für eine Handlung kann nur verantwortlich gemacht und als Sünder bezeichnet werden, wer frei handelt. Wie aber soll menschliche Freiheit möglich sein, wenn die Schöpfung in der Verwirklichung der von Gott gewählten besten Welt besteht, in der durch die prästabilierte Harmonie die Gesetze über den Ablauf der inneren Zustände der M o n a d e von vornherein festliegen? Doch auch hier glaubt Leibniz, eine Lösung zu haben: Natürlich muß eine Handlung, die auf einer freien Wahl beruht, rückblickend betrachtet stets vollständig determiniert erscheinen, weil sonst das Prinzip des zureichenden Grundes verletzt wäre; aber hieraus das Fehlen der Freiheit ableiten zu wollen, wäre ein Denkfehler, denn die Handlungsmöglichkeiten, die als Alternativen zu Gebote stehen, gehören (bis auf die tatsächlich verwirklichte) gar nicht dieser Welt an, sondern anderen möglichen Welten! Freiheit setzt voraus, in einer gegebenen Situation über diese anderen Möglichkeiten, das heißt über andere mögliche Welten zu reflektieren. Diese Reflexion mit der aus ihr resultierenden Entscheidung ist aber wiederum Teil dieser Welt. Wenn Gott eine Welt als die beste wählt, so schließt sie für jedes Individuum diese Reflexion und Entscheidung ein; Gott hat also die menschliche Wahl nicht im voraus entschieden, sondern er hat die freie Entscheidung der Individuen vorausgesehen: Seine Wahl ist an diesem Vorherwissen orientiert und beschneidet nicht die menschliche Freiheit (Theod. I, §52). Mehr noch, diese Welt wäre nicht die beste, wenn Gott die Freiheit sich vorbehielte; reflektierende und verantwortlich handelnde Individuen, die das Gute zu erkennen und zu tun vermögen, gäbe es sonst gar nicht, und damit entfiele ein wesentlicher Grund für Gott, überhaupt eine Welt als lebendigen Spiegel seiner selbst zu schaffen. Mit der Theodizee hat Leibniz eine Antwort auf eine Frage gegeben, die sich erst stellt, wenn Güte und Allmacht Gottes in Zweifel gezogen sind, weil menschliches Denken den Anspruch erhebt, mit philosophischen Kategorien in den Raum des Glaubens einzudringen und das Verhältnis von Philosophie und Theologie umzukehren. Deshalb ist das Theodizeeproblem auch nicht mit dem Hiobproblem identisch. Daß die Theodizee zum Problem wird, zeigt, wie aus der Magd der Theologie eine mit dem Glauben rechtende Vernunft geworden ist: Der Mensch fordert Gott als den Schöpfer vor die Schranken seiner Vernunft, um im nächsten Schritt den Menschen als Handlungssubjekt der Geschichte die alleinige Verantwortung aufzubürden (Marquard). Folgerichtig wurde nach dem Vollzug dieses Prozesses und mit dem Abstecken eines Raumes der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Kant) das Theodizeeproblem gegenstandslos, und Leibnizens Lösung stieß auf Unverständnis. Doch Leibniz war weder ein Deist noch jener weltfremde Optimist, den -»Voltaire charakterisiert, es ging ihm nicht um einen Aufstand der Vernunft gegen den Glauben, sondern um die Ermöglichung des Glaubens durch den Nachweis der Vereinbarkeit mit der Vernunft. Bei aller Kritik, die die prästabilierte Harmonie und die Monadenlehre erfuhren, bot doch die Leibnizensche Theodizee eine Lösung, die wenigstens bis in die Mitte des 18. Jh. als tragfähig empfunden wurde, weil sie auf die Welt als einen harmonisch geordneten Kosmos auch dann zurückzugreifen gestattete, wenn dies dem Augenschein vielfach und so offenbar widersprach. Die breite Strömung der -»Physikotheologie oder empirischen Theologie, die die erste Hälfte des 18. Jh. nicht nur in Deutschland bestimmte, baute auf die Leibnizsche Theodizee, die es erlaubte, das menschliche Individuum als autonomes und freies Wesen und als einen vernünftigen Spiegel dieser Welt zu verstehen und deren Zweckmäßigkeit und Harmonie als Ausdruck Gottes zu begreifen.

664 3.

Leibniz Nachwirkung

Von dem großen Einfluß abgesehen, den die Theodizee in ganz Europa ausübte, ist es schwer, die Wirkung Leibnizens abzuschätzen, denn wichtige Schriften erschienen erst Jahrzehnte und Jahrhunderte später; ebenso bereitet es Schwierigkeiten, den Einfluß des Briefwechsels zu würdigen, weil Leibniz sich in seinen Briefen der Begrifflichkeit seiner Briefpartner anpaßte. Schließlich blieben so aufschlußreiche und wichtige Manuskripte wie die Generales inquisitiones bis 1903 gänzlich unbekannt; weite Teile des Nachlasses sind auch heute noch unveröffentlicht. Unmittelbar ablesbar ist jedoch die Wirkung Christian -»Wolfis und dessen dogmatische Adaption der Leibnizschen Metaphysik als Grundlage des Selbstverständnisses des aufklärerischen Denkens in Deutschland und Osteuropa. Gottscheds Literaturtheorie hat hier ihre Wurzeln, und selbst die von Chr. -»Thomasius ausgehende Gegenposition bedient sich der Methoden Wolfis und damit Leibnizens. Zahlreiche Lehrstühle, zunächst vor allem im protestantischen Norden, wurden mit Wolffianern besetzt; Wolfis lateinische Schriften, teils mit dem Imprimatur in Italien nachgedruckt, eröffneten der Leibniz-Wolffschen Philosophie den Weg in die katholischen Länder: War doch das Leibniz-Wölfische System das erste völlig durchgebildete System der neuzeitlichen Philosophie, das zugleich der tradierten Begrifflichkeit einen Platz zuzuweisen gestattete. Doch in Unkenntnis der logischen Kalküle wurde die Monadenlehre wieder in die Nähe der cartesischen Substanzmetaphysik geführt und in Kants Monadologia Physica sogar als eine Theorie von Kraftpunkten mit räumlicher Wirkungssphäre aufgefaßt. Das Leibnizbild war durch Wolff geprägt; darin änderte auch die Erstveröffentlichung der Nouveaux Essais 1765 wenig. Erst in der Spätphase der deutschen Aufklärung wandelt sich das Interesse an Leibniz, der nun jedoch bei -»Jacobi, Maimon und dem frühen -»Schelling im Lichte des Monismus Spinozas rezipiert wird. Erst -»Hegel betont den Unterschied zu Spinozas Substanzenlehre und hebt die Bedeutung der Individualität der Monaden hervor. - Mit den großen Werkausgaben stehen der philologisch-historischen Forschung von der Mitte des 19. Jh. an zuverlässige Texte zur Verfügung. Die Untersuchungen Russells, Couturats und Cassirers, verbunden mit der Edition der logischen Schriften Leibnizens, führten zu einer grundlegenden Wandlung der bis dahin vorwiegend metaphysisch orientierten Interpretation. So bezog Cassirer Leibnizens Reflexionen naturwissenschaftlicher Methoden in den Neukantianismus (-•Kant/Neukantianismus) ein, während -»Russells Analyse der Leibnizschen Begriffsund Urteilstheorie ihren Niederschlag im von -»Wittgenstein weitergeführten Logischen Atomismus fand. In seinen Cartesianischen Meditationen machte -»Husserl den Monadenbegriff für die phänomenologische Analyse fruchtbar, während -»Heidegger das Verhältnis von Logik und Ontologie und das Wesen des Satzes vom zureichenden Grunde in Auseinandersetzung mit Leibniz „seinsgeschichtlich" neu bestimmte. Hintikkas Konzeption möglicher Welten geht im Ansatz auf Leibniz zurück, ebenso wie die ersten modallogischen Kalküle von Lewis und Langford. Gewiß wird man nicht sagen können, Husserls Phänomenologie oder Wittgensteins Tractatus beruhten auf Leibnizschen Ideen, sowenig wie man Einsteins Relativitätstheorie als Folge der von Leibniz vertretenen Vorstellung der Relativität von Raum und Zeit wird sehen dürfen oder Freuds Theorie des Unterbewußten als Ausprägung des Leibnizschen Begriffes des Unbewußten; dennoch ist es Leibniz gewesen, der die Anstöße hierzu gegeben hat. Quellen Werkausgaben: GW. Hg. v. Georg Heinr. Pertz. I. Folge: Gesch. I—IV, Hannover 1843-1847. Mathematische Schriften. Hg. v. C.I. Gerhardt, Berlin/Halle, I—VII 1849-1863 ( = Hildesheim 1962). - Die phil. Sehr. Hg. v. C.I. Gerhardt, Berlin, I - V I I 1875-1880 ( = Hildesheim 1973). Opuscules et fragments inédits. Hg. v. L. Couturat, Paris 1903 ( = Hildesheim 1961).-Sämtl. Sehr. u. Briefe. Hg. v. der Preußischen, später: Dt. Akad. der Wiss., jetzt: Akademie der Wiss. d. DDR, Darmstadt (später Berlin) 1923 ff. (Hist.-krit. GA; geplant 80 Bde.; derzeit erschienen: 19 Bde.) Zweisprachige Ausgaben und Übersetzungen: Neue Abh. über den menschlichen Verstand, übers, v. Ernst Cassirer, 1926 u.ö. (PhB 69). - Confessio philosophiae [dt./lat.], eingel., übers, u.

Leichenpredigt

665

k o m m . v. O. Saame, F r a n k f u r t / M . 1967. - Discours de métaphysique/Metaphysische Abhandlung, übers., mit Vorw. u. Anm. hg.v. H. Herring, H a m b u r g 1958 (PhB 260). - F r g m . zur Logik. Hg. v. F. Schmidt, Berlin/DDR 1960. - Hauptschr. zur Grundlegung der Phil. Ubers, v. A. Buchenau, hg. v. E. Cassirer, 2 Bde., H a m b u r g 3 1966 (PhB. 107/108). - Die Hauptwerke, zusammengefaßt u. übertr. v. G. Krüger, Stuttgart 5 1967 (Kröner TB 112). - Monadologie, übers., eingel. u. eri. v. H . Glockner, Stuttgart 1954 (Reclam 7853). - Monadologie/Vernunftprinzipien der N a t u r u. der Gnade. - Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison. - Mit Einf. u. Anm. v. H . Herring, H a m b u r g 1956 (PhB 253). - Protogaea [lat./dt.]. Übers. W. v. Engelhardt, Stuttgart 1949. - Fünf Sehr, zur Logik u. Metaphysik, übers, u. hg. v. H . Herring, Stuttgart 1966 (Reclam 1898). - Phil. Sehr. Studienausg. [zweisprachig], 5 Bde. Hg. v. H. H . Holz/W. v. Engelhardt u. a., Darmstadt 1959ff. - Politische Sehr., 2 Bde. Hg. v. H . H . Holz, Frankfurt/Wien 1966-67. - Die Theodizee, übers, v. A. Buchenau, H a m burg 1925 u.ö. (PhB.71). Literatur Hilfsmittel: Leibniz-Bibliographie. Die Lit. über Leibniz bis 1980, begr. v. K. Müller, hg.v. A. Heinekamp, F r a n k f u r t / M . 1984 (Veröffentl. des Leibniz-Aichivs 10) [umfassendste Bibliogr. Sachregister. Regelmäßige Ergänzungen in: StLeib], - Leben u. Werk v. Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Chronik. Hg. v. Kurt Müller/Giesela Krönert, Frankfurt 1969 (Veröffentl. d. Leibniz-Archivs 2). - E . Ravier, Bibliographie des oeuvres de Leibniz, Paris 1937 ( = Hildesheim 1966). Monographien: Die seit 1969 erscheinende Zeitschrift Studia Leibnitiana mit Supplementa und Sonderheften gibt mit ihren Artikeln und Kongreßakten den besten Aufschluß über den gegenwärtigen Stand der Leibnizforschung. Christos Axelos, Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie v. Leibniz, Berlin 1973. Yvon Beiaval, Leibniz. Initiation à sa phil., Paris 4 1975. - Ders., Etudes leibniziennes. De Leibniz à Hegel, Paris 1976. - Ernst Cassirer, Leibniz' System in seinen wiss. Grundlagen, M a r b u r g 1902 = Darmstadt 1962. - Pierre Costabel, Leibniz et la dynamique en 1692. Textes et commentaires, Paris 1981. - Louis Couturat, La logique de Leibniz d'après des documents inédits, Paris 1901 = Hildesheim 1969. - Eduard Dillmann, Eine neue Darst. der Leibnizischen Monadenlehre auf Grund der Quellen, Leipzig 1891 = Hildesheim 1974. - Paul Eisenkopf, Leibniz u. die Einigung der Christenheit. Überlegungen zur Réunion der ev. u. kath. Kirche, 1975 (BÜT 11). - Kuno Fischer, G.W. Leibniz, Werk u. Lehre (1855), Heidelberg '1920. - Albert Görland, Der Gottesbegriff bei Leibniz, Gießen 1907 (Phil. Arbeiten 1.3). — Gaston Grua, Jurisprudence Universelle et Théodicée selon Leibniz, Paris 1953. - Martial Gueroult, Leibniz. Dynamique et métaphysique (1934), Paris 2 1967. - Aron Gurwitsch, Leibniz. Phil. des Panlogismus, Berlin 1974. - Albert Heinekamp, Das Problem des Guten bei Leibniz, Bonn 1969. - Kurt Huber, Leibniz, München 1951. - Hide Ishiguro, Leibniz's Philosophy of Logic and Language, London 1972. - Wolfgang Janke, Leibniz. Die Emendation der Metaphysik, F r a n k f u r t / M . 1963. - Raili Kauppi, Über die Leibnizische Logik. Mit bes. Berücksichtigung des Problems der Intension u. der Extension, Helsinki 1960. - Dietrich Mahnke, Leibnizens Synthese v. Univcrsalmathematik u. Individualmetaphysik, Halle 1925 ( = Stuttgart 1964).-Gottfried Martin, Leibniz, Logik u. Metaphysik, Köln 1960, Berlin 2 1967. - Robert McRae, Leibniz. Perception, Apperception and Thought, Toronto Buffalo 1976. - Massimo Mugnai, Astrazione e realtà. Saggio su Leibniz, Mailand 1976. - Ingetrud Pape, Leibniz. Zugang u. Deutung aus dem Wahrheitsproblem, Stuttgart 1949. - George Henry R. Parkinson, Logic and Reality in Leibniz's Metaphysics, Oxford 1965. - Hans Poser, Z u r Theorie der Modalbegriffe bei G. W. Leibniz, Wiesbaden 1969. - Nicolas Rescher, Leibniz. An Introduction to his Philosophy, Oxford 1979. - Bertrand Russell, A Criticai Exposition of the Philosophy of Leibniz, London 5 1958. - H . Schiedermair, Das Phänomen der M a c h t u. die Idee des Rechts bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Wiesbaden 1970. - Hans Peter Schneider, Justitia universalis. Quellenstud. zur Gesch. des ,christl. Naturrechts' bei Leibniz, Frankfurt/M. 1967. - Michel Serres, Le système de Leibniz et ses modèles mathématiques, 2 Bde., Paris 1968. - Gerhard Stammler, Leibniz, München 1930. Sammelbände: Leibniz. Criticai and Interpretive Essays. Hg. v. M. Hooker, Manchester/Minn. 1982. - Leibniz. A Collection of Criticai Essays. Hg. v. G . H . Frankfurt, Garden City/N.Y. 1972. Leibniz. Sein Leben, sein Wirken, seine Zeit. Hg. v. W. T o t o k / C . Haase, Hannover 1966. — Leibniz' Logik und Metaphysik. Hg. v. A. Heinekamp/F. Schupp, Darmstadt 1985. - Leibniz zu seinem 300. Geburtstag. Hg. v. E. Hochstetter, Berlin 1964-1972.

Hans Poser Leichenpredigt 1. Die Ursprünge 2. Die Entwicklung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts 3. Die Leichenpredigt als Grabrede 4. Z u m Druck von Leichenpredigten 5. Wirkung und Wertung (Quellen/Literatur S. 669)

666 1. Die

Leichenpredigt Ursprünge

Mit einer seiner „köstlichen Trostschriften", nämlich Eytt[emj Sermon von der Bereytung zum Sterben aus dem Jahre 1519 (WA 2 , 6 8 5 - 6 9 7 ) , bewirkte Martin -»Luthereinen frömmigkeitsgeschichtlichen Neuanfang und schuf zugleich den geistlichen Nährboden, auf dem in der Folge für rund zwei Jahrhunderte (1550-1750) das Genos der Leichenpredigten gedeihen sollte. Der Reformator selbst hielt die ersten uns gedruckt überlieferten Leichenpredigten, in denen er auch ihre Funktion evident werden läßt; so aus Anlaß der Bestattung Kurfürst -»Friedrichs des Weisen 1525 in der Exegese I Thess 4 , 1 3 ff, durch die er seinen Zuhörern Trost, Hoffnung und Stärkung des Glaubens vermitteln wollte (WA 17/1,196ff). Noch deutlicher wird Luther in der Vorrede zu Zwo Predigt über der Leiche des Kiirfursten Hertzog Johans zu Sachssen (Wittenberg 1532): „ M e i n lieben freunde / weil sich der fall itzt also mit unserm lieben Landsfürsten zugetragen / und die gewonheit und weise mit den Seelmessen und Begengnissen / wenn man sie zur erden bestetiget hat / abgangen ist / Wollen wir dennoch diesen Gottes dienst nicht lassen nach bleiben / das wir Gottes wort predigen / Dar jnn G o t t gepreiset / und die leute gebessert w e r d e n " (WA 36,237).

Das Lob Gottes sowie Tröstung, Erbauung und Belehrung der Gemeinde waren die vornehmsten Aufgaben dieser Predigten. In jener von Luther begründeten Tradition standen zeitgenössische und spätreformatorische Prediger wie -»Melanchthon, -»Bugenhagen, Mathesius, -»Selnecker und Herberger, von denen die beiden letzteren ein weiteres Element in der Leichenpredigt stärker in den Vordergrund rückten, das selige Sterben nämlich, das im 17. Jh. zentrales Motiv der Quellen werden sollte. Aber auch biographische Notizen zum Verstorbenen fanden ihren Platz in den spätreformatorischen Predigten, sofern sie der Lehre, dem Trost und der Erbauung dienten. 2. Die Entwicklung

bis zur Mitte des 18.

Jahrhunderts

Um die Wende des 16. zum 17. Jh. ist die Vcrselbständigung der Biographie des Verstorbenen als Personalia, Ehrengedächtnis bzw. curriculum vitae in den Leichenpredigten zu beobachten (z.B. Matthias Hoe von Hoenegg, Johann Heermann), die dazu diente, das vorbildhafte Leben des Verstorbenen als Vorbereitung auf den eigenen Tod und das gelöste glückselige Sterben in der Gewißheit auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes den Hörern vorzustellen. Die Anklänge zur spätmittelalterlichen katholischen -*ars (bene) moriendi sind unübersehbar, wie die Leichenpredigten noch zahlreiche weitere Elemente des katholischen Kultes aufweisen. Mit dieser allmählichen Verselbständigung des Personalteils in den Quellen, in dem die ausgeprägte, hohe Sterbekultur im Schöße der protestantischen Kirche beschrieben wird, erwies sich die Leichenpredigt einerseits immer stärker als Vehikel zur Durchsetzung bzw. Vertiefung der -»Reformation, andererseits aber auch als .Bollwerk' gegen die aufbrandende -»Gegenreformation. Im Verlaufe des 17. Jh. gewann das Genos an Umfang durch die Hinzunahme weiterer Teile wie der Abdankung, Standrede und Epicedien in das Gesamtdruckwerk und entwickelte zusehends säkularisierten Charakter, der neben anderen den Rostocker orthodoxen Theologen Heinrich Müller auf den Plan rief, welcher zum einen bemüht war, der Leichenpredigt wieder den ihr von Luther zugewiesenen Stellenwert zu verschaffen, zum anderen aber mit deutlicher Kritik an dieser barocken Zeiterscheinung mit all ihren modischen Hypertrophien nicht zurückhielt. Auch bei Müller, einem Wegbereiter des -»Pietismus, nahmen die Schilderung der Vorbereitung auf das selige Sterben sowie der eigentliche Akt des vorbildhaften Sterbens und die Erbauung der Gemeinde breiten Raum ein. Die von Müller formulierte Kritik am Institut Leichenpredigt zeigte nur zu deutlich dessen Niedergang an, hatte es sich doch in der zweiten Hälfte des 17. Jh. von der Motivation Luthers zur Begründung des Brauches hin zu einem Mittel der Selbstdarstellung für die protestantischen Ober- und Mittelschichten mit allen dem -»Barock gemäßen Überschwang entwickelt. Auch die Reformversuche Ph. J . -»Speners, der die Leichenpredigt

Leichenpredigt

667

sowohl aus der Aufgabe, das Gedächtnis des Gerechten in Ehren zu halten, als auch aus der, die Lebenden durch Gottes Wort zu erbauen, rechtfertigte und damit in der altlutherischen -»Orthodoxie verharrte, blieben ergebnislos. Barocker Sprachschwulst, das Einsetzen der -»Aufklärung mit der Hinwendung des Menschen zur ratio, obrigkeitliche Einschränkungen und Verbote durch Landes-, Polizei- und Kirchenordnungen sowie eine durchgreifende Änderung der Lesegewohnheiten - die Abkehr von dem Erbauungsschrifttum (-»Erbauungsliteratur) hin zur Literatur - ließ die Gattung Leichenpredigt um die Mitte des 18. Jh. in die Bedeutungslosigkeit sinken. 3. Die Leichenpredigt

als Grabrede

3.1. Die Leichenpredigt als Grabrede oder als Predigt in der Kirche hat es zweifelsfrei bereits vor der Reformation gegeben. Sowohl für das Mittelalter als auch für die vorchristliche Zeit lassen sich Grabreden und Predigten aus Anlaß eines Begräbnisses nachweisen, wie die laudationes funebres der Römer oder die Grabreden der Griechen, deren bekannteste der Epitaphios des Perikles auf die ersten Opfer des Peloponnesischen Krieges (Winter 431/430) ist (Thukydides 2,35-46). Im frühen Mittelalter findet man im Deutschen Reich gelegentlich Bischofsreden aus Anlaß eines Begräbnisses. Erst im späteren Mittelalter erscheinen sie häufiger, ohne jedoch sonderliche Bedeutung als Quellenoder Literaturgattung zu erlangen. Anders verhält es sich zu jener Zeit in Italien und Frankreich. Hier hatte die Predigt bei Begräbnissen allgemeinen Eingang gefunden, wie z. B. die Kasualpredigtensammlung des Johannes de S. Geminiano aus dem späten 13. Jh. zeigt, die auch Leichenpredigten enthält. 3.2. Daß die Leichenpredigten des 16., 17. und 18. Jh. vorwiegend für Lutheraner, aber auch für die Anhänger -»Calvins und -»Zwinglis, abgefaßt und gedruckt wurden, resultiert aus den verschiedcntlichen Verboten, die die Römische Kirche diesem Brauch entgegensetzte. So erlaubte das Konzil von Rouen 1581 biographische Leichenpredigten nur für gloriosi, illustres et bene meriti, das Konzil von Toulouse von 1590 machte die Abhaltung einer laudatio von der erzbischöflichen Erlaubnis abhängig. Ebenso verboten zahlreiche Provinzialsynoden die katholische Leichenpredigt. Daß diese Einschränkungen und Verbote nicht immer Beachtung fanden, zeigen die Leichenpredigten der -»Jesuiten (Sommervogel, X 1909, 1067-1122) sowie die auf hohe katholische geistliche und weltliche Würdenträger 4. Zum Druck von

Leichenpredigten

Die Blütezeit des Brauches, Leichenpredigten zu drucken, lag zum einen in den beiden Jahrzehnten vor und dann schließlich in übersteigerter Form in den drei Dezennien nach dem -»Dreißigjährigen Krieg. Beschied man sich in der Entstchungsphase des Brauches noch mit zehn bis zwanzig Druckseiten im Oktav- oder Quartformat, so waren im ausgehenden 17. Jh. 100, 200 und mehr Druckseiten nicht nur im Quart- oder Folio-, sondern auch im Großfolioformat notwendig, um dem Abgeschiedenen die ihm gebührende Ehre zu erweisen, die häufig genug die finanziellen Möglichkeiten der Hinterbliebenen überstieg, da der Druck der Leichenpredigt, ausgestattet mit zahlreichen Kupfertafeln, ein recht kostenintensives Unterfangen war. 5. Wirkung

und "Wertung

5.1. Die Leichenpredigt war - wie bereits gesehen - ein Phänomen der protestantischen Ober- und Mittelschichten mit geringen Ausuferungen in die Unterschichten. Ihren Ausgang nahm sie mit der Reformation in Mitteldeutschland — dem Kerngebiet der Reformation - , wobei sie bis zur Jahrhundertwende in den protestantischen Reichslanden Verbreitung fand. Untersuchungen zu ihrer regionalen Distribution und zur Verteilung auf Geschlecht, Stand und Beruf der Verstorbenen zeitigten in jüngster Zeit folgende Ergebnisse: Das Leichenpredigten-Aufkommen konzentrierte sich auf Mitteldeutschland, begrenzt im Süden durch den Main und im Norden durch eine gedachte Linie

668

Leichenpredigt

z w i s c h e n O s n a b r ü c k u n d B e r l i n , d a n e b e n in g e r i n g e r e m M a ß e a u f d i e o b e r d e u t s c h e n Reichsstädte. Niederdeutschland erscheint demgegenüber unterrepräsentiert.

Die

s t i m m u n g des Anteils, den M ä n n e r , F r a u e n und K i n d e r a n den D r u c k w e r k e n

Be-

hatten,

e r g a b für M ä n n e r einen solchen von rund 6 5 % , für F r a u e n einen Anteil von rund 3 2 % und für Kinder n u r einen v o n 2 , 6 % v o m G e s a m t a u f k o m m e n . E i n e Aufgliederung d e r Quellen nach Schichtzugehörigkeit der Gefeierten erbrachte folgenden Befund: 8 7 %

wa-

ren der O b e r s c h i c h t , nur 8 , 5 % A n g e h ö r i g e n der M i t t e l s c h i c h t g e w i d m e t . Typische U n t e r s c h i c h t - V e r t r e t e r w i e K u t s c h e r , F u h r l e u t e , D i e n s t b o t e n e t c . s i n d in d e m S a m p l e n i c h t enthalten. 5 . 2 . In d e r r u n d 2 0 0 J a h r e w ä h r e n d e n B l ü t e d i e s e s B r a u c h e s e n t s t a n d e i n e V i e l z a h l , z u m Teil u m f a n g r e i c h e r L e i c h e n p r e d i g t e n - S a m m l u n g e n , d i e a u s d e n u n t e r s c h i e d l i c h s t e n M o t i v e n a n g e l e g t w u r d e n . A u f v i e r d i e s e r B e s t ä n d e soll e x e m p l a r i s c h e i n g e g a n g e n w e r den: S o stellte die Reichsgräfin Sophie Eleonore zu Stolbcrg-Stolberg ( 1 6 6 9 - 1 7 4 5 ) , die die Leichenpredigten ihres Erbauungs- und T r o s t c h a r a k t e r s wegen schätzte, im Laufe ihres irdischen Daseins mit Unterstützung von Geistlichen und einer umfangreichen Korrespondenz annähernd 4 5 0 0 0 gedruckte Leichenpredigten z u s a m m e n , eine S a m m l u n g , die auch nach Aussonderung der Dubletten noch immer 2 4 6 0 0 D r u c k e u m f a ß t , als die g r ö ß t e ihrer Art gilt und inzwischen als Depositum in der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel lagert. H e r z o g August d. J . von Braunschweig-Lüneburg ( 1 5 7 9 - 1 6 6 6 ) , der N a m e n s g e b e r eben dieser B i b l i o t h e k , hatte in allen bedeutenden Druck- und Verlagsorten des Alten Reiches Bücheragenten, die Neuerscheinungen für ihn bzw. seine Bibliothek a n k a u f t e n , darunter natürlich auch Leichenpredigten, die durchaus ihren , M a r k t ' hatten (vgl. G . - R . Koretzki, Leichenpredigten und ihre Druckherstellung: Lenz, Leichenpredigten 11,1979, 3 3 3 - 3 5 9 ) . R u n d 1 1 0 0 0 dieser D r u c k e wurden von ihm und seinen N a c h f o l g e r n in der Herzog August Bibliothek zusammengetragen. D a r ü b e r hinaus sammelten zahlreiche Prediger die von ihnen verfaßten Predigten, um Belege für ihre T ä t i g k e i t zu besitzen. Andere wiederum tauschten Leichenprcdigten mit ihren Amtsbrüdern und sammelten die D r u c k w e r k e , um auf diese Weise Anregungen zu erfahren, wie die braunschwcigischen Pastoren J a c o b Blum ( 1 6 5 4 - 1 7 1 2 ) und Heinrich von Blum ( 1 6 9 5 - 1 7 4 4 ) , die „Diesen so reichen Vorraht / und vortrefliche Collection, von ctzlichen tausenden Leich-Predigten" (Die Lcichenpredigten des Stadtarchivs Braunschweig, H a n n o v e r , 1 1976, X I ) b e w u ß t anlegten, der heute mit der Sammlung Heinrich von Kalms den 8 0 0 0 Stücke umfassenden Bestand des Stadtarchivs B r a u n schweig bildet. Weitere M ö g l i c h k e i t e n w a r e n , d a ß Prediger aufgrund ihrer seelsorgerischen Leistungen gebeten wurden, ihre Leichenpredigten in S a m m e l b ä n d e n zusammengefaßt zu veröffentlichen, wie diejenigen von Philipp J a k o b Spener, die in nahezu jeder Bibliothek mit Altbestand zu finden sind. Des weiteren sammelten städtische Bibliotheken systematisch die Leichenpredigten der jeweils tätigen Prediger, gleiches gilt auch für adelige Patronatsherren. N i c h t vergessen sollte man die Sammlungen, die Liebhaber anlegten, wie Philipp August Schlüter und E r n s t Ludolph von Stedern, deren S a m m lungen heute den rund 1 1 4 0 0 Leichenpredigten umfassenden Bestand der Niedersächsischen Staatsund Universitätsbibliothek G ö t t i n g e n darstellen. Z u m e i s t fanden solcher Art zusammengetragene Sammlungen als Schenkungen oder als Deposita den Weg in öffentliche Bibliotheken und Archive. Die Gesamtzahl der heute noch erhaltenen Leichenpredigten wird aufgrund einer Umfrage mit rund 2 5 0 0 0 0 Stücken a n g e n o m m e n . 5 . 3 . S t a n d d i e w i s s e n s c h a f t l i c h e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e n L e i c h e n p r e d i g t e n bis v o r anderthalb J a h r z e h n t e n nahezu ausschließlich unter genealogischen Aspekten, wie auch d e r L i t e r a t u r b e r i c h t v o n F r i t z R o t h z e i g t , h a t s i c h in d e n l e t z t e n J a h r e n ein d e u t l i c h e r W a n d e l vollzogen. A u c h a n d e r e wissenschaftliche Disziplinen h a b e n die außerordentlic h e B e d e u t u n g d e r L e i c h e n p r e d i g t e n als multi- u n d interdisziplinäre Quelle e r k a n n t u n d s c h ö p f e n a u s ihr I n f o r m a t i o n e n für die J a h r h u n d e r t e z w i s c h e n R e n a i s s a n c e und Aufklärung. W e l c h e B e d e u t u n g d i e s e Q u e l l e f ü r d i e G e n e a l o g i e b e s i t z t , ist a l l g e m e i n

bekannt.

V e r m a g sie d o c h bei g e r i n g e m A r b e i t s a u f w a n d , v e r g l i c h e n e t w a m i t F o r s c h u n g e n in K i r chen- und Bürgerbüchern, Geburts- und Steuerregistern, nahezu vollständige Genealog i e n z u b i e t e n , d i e in a l l e r R e g e l b e l e g t s i n d . M i t V o r s i c h t j e d o c h s o l l t e m a n

langen

S t a m m b ä u m e n in e i n z e l n e n L e i c h e n p r e d i g t e n b e g e g n e n , d i e d a z u d i e n e n , d a s A n s e h e n

Leiden

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und die Bedeutung der Familien zu unterstreichen. Hier kann sich leicht - aus Gefälligkeit des Predigers - belegbare Tradierung mit Legende verquicken. Sozial- und medizinhistorische Untersuchungen waren neben der juristischen Dissertation von W. J . G . Hantelmann, De eo quod justum est circa conciones funebres — Von Leichen-Predigten, Jena 1701, in welcher Entstehungsgeschichte und Brauchtum der Leichenpredigten dargestellt werden, Wegbereiter für Studien im Bereich der Theologie wie Frömmigkeitsgeschichte (Trost- und Erbauungsliteratur) und -»Homiletik, der Wirtschafts- und Sozial-, Kultur- und Stadtgeschichte, der Brauchtumsforschung, der Biographik, der Sprach-, Literatur-, Kunst-, Musik- und Pharmaziegeschichte. (Für diese Disziplinen sei auf Lenz, Leichenpredigten I, 1975, verwiesen.) Aber auch für Emblematik, Ikonographie, Heraldik, Historische Demographie, für Geistes- und Wissenschaftsgeschichte, Rhetorik, Lexikographie und Geschichte des Buchdruckes und des Buchwesens ist die Leichenpredigt Quelle (vgl. Lenz, Leichenpredigten 11,1979). Ebenfalls läßt sie sich als Quelle für Untersuchungen zur Mentalität und Ideologie, zur Bildungsgeschichte und zur Sozialgeschichte des Sterbens in Anspruch nehmen (vgl. Lenz, Leichenpredigten 111,1984). Erst in jüngster Zeit erwies sich die Leichenpredigt auch als hervorragende Quelle für die Historische Familienforschung und für die Geschichte der Kindheit, vermag sie doch Auskunft über die Binnenbeziehungen familialer Gruppierungen in der frühen Neuzeit zu geben und damit die ideologisch überfrachteten, teilweise tendenziösen Darstellungen zur Familie und zur angeblich nicht erfahrenen Kindheit zu widerlegen. Quellen Werner Julius Gunther Hantelmann, Dissertatio juridica de eo quod justum est circa conciones funebres - Von Leichen-Predigten, Jena 1701. - Martin Luther, Eyn Sermon von der Bereytung zum Sterben, Wittenberg 1519: WA 2, 680-697. - Ders., Z w o predigt über der Leiche des Kürfursten Herzogen Friderichs zu Sachsen, Wittenberg 1525: WA 1 7 / 1 , 1 9 6 - 2 2 7 . - D e r s . , Z w o Predigt über der Leiche des Kürfursten Hertzog Johans zu Sachssen, Wittenberg 1532: WA 36, 237-270. - Carlos Sommervogel, Bibliothèque de la Compagnie de Jésus, Paris, X 1909,1067-1122. - Georg Wilhelm Zapf, Augsburgischc Bibliothek oder hist.-krit.-lit. Verzeichnis aller Sehr., welche die Stadt Augsburg angehen, Augsburg, I 1795, 202-539. Literatur Leichenpredigten als Quelle hist. Wiss., hg. v. Rudolf Lenz, Köln/Wien, I 1975, Marburg a . d . Lahn, II 1979, III 1984. - Rudolf Lenz/Gundolf Keil, Johann Christoph Donauer (1669-1718). Unters, zur Soziographie u. Pathographie eines Nördlinger Ratskonsulenten aufgrund der Leichenpredigt: ZBLG 39 (1975) 317-355. - Marburger Personalschr.-Forschungen, hg. v. dems., M a r b u r g a.d. Lahn, Iff 1978ff (darin u.a.: Lcichenpredigten. Eine Bestandsaufnahme. Bibliographie u. Ergebnisse einer Umfrage, hg. v. dems., Marburg a. d. Lahn, III 1980; Stud. zur deutschsprachigen Leichenpredigt der frühen Neuzeit, hg. v. dems., Marburg a . d . Lahn, IV 1981 sowie Rudolf M o h r , Der unverhoffte Tod. Theol.- u. kulturgesch. Unters, zu außergewöhnlichen Todesfällen in Leichenpredigten, M a r b u r g a.d. Lahn, V 1982).-Ders., Prot. Theol. und Frömmigkeit im Angesicht des Todes während des Barockzeitalters hauptsächlich auf Grund hessischer Leichenpredigten. Diss. theol. Marburg 1964. - Fritz Roth, Lit. über Leichenpredigten u. Personalschr.: Schrifttumsberichte zur Genealogie u. zu ihren Nachbargebieten I, 12 (1959) 285-316. - Ders., Restlose Auswertung v. Leichenpredigten u. Personalschr. f. genealogische u. kulturhist. Zwecke, Boppard/Rhein, I - X 1959-1980. - Ludwig Ruland, Die Gesch. der kirchl. Leichenfeier, Regensburg 1901. - Eberhard Winkler, Die Leichenpredigt im dt. Luthertum bis Spener, 1967 (FGLP 34). - Theodor Woltersdorf, Zur Gesch. der Leichenreden im MA: ZPrTh 6 (1884) 359-365.

Rudolf Lenz Leiden I. II. III. IV. V.

Altes Testament Judentum Neues Testament Historisch/Systematisch/Ethisch Praktisch-theologisch

670 672 677 688 707

670

Leiden I

I. Altes Testament 1. Terminologie S. 672)

1.

2. Umwelt des Alten Testaments

3. Leiden im Alten Testament

(Literatur

Terminologie

Das Alte Testament ist reich an Bildern für Leiden und schildert es eindrucksvoll, besitzt aber keinen typischen Terminus dafür, sondern umschreibt es (Bitterkeit = märäh, Bedrängnis = säräh, Mühsal = jägon, Schlag = makkäh; —»Krankheit). Dadurch wird zwar die Schilderung sehr anschaulich, aber die Unterscheidung zwischen leiblichem und seelischem Leiden ist sehr erschwert. Erst das nachbiblische Hebräisch prägt den Begriff jissürim, eigentlich Züchtigungen, von jsr = züchtigen. L X X umschreibt Leiden mit ,das Böse' (KÜKÖV),,Schlag' (nXtjyr/),züchtigen' (naiSevciv) und verschiedenen Ausdrücken für ,Schmerz' (aXyoq, ßäaavoQ, XvntTZÖVOQ) in freier Wiedergabe hebräischer Termini; nur 9XTi//ig entspricht fast immer hebräisch säräh. Nur selten kommen nd(ixeiv und 7tä9og vor. 2. Umwelt

des Alten

Testaments

Beim Optimismus der Ägypter wird das Leiden kaum als bedrängendes Problem empfunden. Persönliches Leiden wird nur in wenigen Inschriften der 18. Dynastie aus Karnak als Strafe für Vergehen aufgefaßt. Nationales Leiden wird nur in Weisheitsschriften aus den „Zwischenzeiten" politischen Niedergangs beklagt. Hethiter und Akkader schließen bei persönlichen Leiden auf den Zorn der Götter über Vergehen und wenden sich in leidenschaftlicher Klage an sie um Hilfe. Nationales Leiden (Pest, Untergang einer Stadt) führen die hethitischen „Pestgebete des Murschili" auf Vergehen eines königlichen Vorgängers zurück und lassen sumerische und akkadische Klagelieder nur Schutzgöttinnen beklagen (A. Falkenstein/W. v. Soden, Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete, Zürich 1953; A N E T 3 9 4 - 3 9 6 ) . Die akkadischen Sprichwörter und der aramäische Achikar-Text von Elephantine vertreten die Auffassung von der schicksalwirkenden Auswirkung des sittlichen Verhaltens, wonach gute Taten Glück und Erfolg, böse aber Unglück und Leiden zur Folge haben. Die akkadische Weisheit widmet dem Leidensproblem eigene Abhandlungen, beklagt unverdientes Leiden und ist der Sinnfrage gegenüber hilflos. 3. Leiden

im Alten

Testament

Nur selten deutet die Erzählungsliteratur Leiden als Strafe für persönliche Sünden (Num 12,10f; II Chr 2 1 , 1 5 - 1 9 ; I Makk 6 , 8 - 1 3 ; II Makk 3 , 2 3 - 3 0 ) . Häufiger gelten Leiden in einer Familie oder Dynastie als Folge der Sünden des pater familias bzw. Dynastiegründers (Gen 12,17; 20,17; I Sam 2 , 3 0 - 3 4 ; II Sam 12,10f; I Reg 1 4 , 9 - 1 1 par) und die Leiden des Volkes als Folge der Sünden des Königs (Ex 7 - 1 2 ; II Sam 21,1; 2 4 , 1 1 - 1 7 ; II Chr 21,14), wobei das Leiden nicht als Kollektivstrafe für das Volk, sondern als Strafe für den König anzusehen ist (D. Daube: ruler punishment). Auch vom Vergehen der Stammväter leitet man die Leiden ganzer Völker und Stämme (Gen 9,25; 4 9 , 3 - 7 ) und der ganzen Menschheit ab (Gen 3 , 1 6 - 1 9 ) . Zumeist betrachtet die alttestamentliche Geschichtsschreibung nationale Katastrophen als Gottesgericht über den Bundesbruch des ganzen Volkes (Lev 2 6 , 1 4 - 3 5 ; Dtn 2 8 , 1 5 - 6 8 ; Jdc 2 , 1 - 4 . 1 1 - 1 8 ; 6 , 1 - 6 ; II Reg 1 7 , 7 - 2 5 ; 2 1 , 9 - 1 5 ; II Chr 36,13—21). Die nationalen Leiden sollen aber die Umkehr und damit die Rettung Israels bewirken (Lev 2 6 , 4 0 - 4 5 ; Dtn 4 , 2 9 - 3 1 ; 3 0 , 1 - 1 0 ) . Ähnlich denken die Propheten. Die Leiden des Volkes sind verursacht durch die Untreue Israels (Am 5,16 f; Jes 3 , 1 6 - 2 6 ; Mi 1 , 8 - 1 6 ; Jer 2,37; 4,18; Ez 7 , 1 4 - 2 7 u.v.a.). Das ist nicht Kollektivstrafe, sondern dadurch bedingt, daß Väter und Söhne, Volk und Könige miteinander solidarisch sind im Abfall (Am 2,4.7; Hos 9 , 9 - 1 2 ; Jes 1,4; Jer 2,2—8.20—32; Ez 2,3—5; 1 6 , 4 4 - 5 2 u.a.). Auch nach den Propheten soll das Leiden des Volkes zur Umkehr führen und somit die Rettung einleiten (Hos 1 1 , 8 - 1 1 ; 14,5; Jes

Leiden I

671

30,19—21; Jer 3,21 f; Ez 33,10 f), ja Leiden können geradezu als Geburtswehen einer neuen Heilszeit gesehen werden (Jes 8,22f; 26,20f; Mi 4,10; 5,2; Jer 30,6f; 3 1 , 1 5 - 1 7 ) , wobei freilich solche Texte heute zumeist als spät gelten. M a n hofft, daß Jahwe einst alles Leiden beseitigen wird (Jes 25,8; 3 5 , 4 - 1 0 ; Jer 3 1 , 3 3 - 3 7 ) . Jer 31,29f; Ez 3 , 1 7 - 2 1 ; 18,2-29; 3 3 , 1 - 2 0 wenden sich ausdrücklich gegen eine kollektive Deutung des Leidens und betonen demgegenüber die persönliche Verantwortung; Leiden und - » T o d sind die Folge persönlicher Sünden. In Gebeten und Sündenbekenntnissen werden Leiden nie ausschließlich als Folge der Sünden der Väter gedeutet. Seit etwa Josia (vgl. II Kön 22,13) bekennt man aber bei nationalem (Jer 3,25; Esr 9,6f; Neh 1,6; 9,2; Thr 5,7.16; Jdt 7,28; Dan 9 , 1 5 - 1 9 ; Bar 1,15-22), aber auch bei persönlichem Leiden (Tob 3,3; vgl. Dan L X X 3 , 2 7 - 3 9 [ = Luther Bibel, Stücke zu Daniel 1,3-16]) neben den eigenen Sünden auch die der Väter. Nach den Weisheitslehrern bringen Sünde und Bosheit dem Toren nur Leiden ein, während der Fromme Glück und Erfolg erlebt (immanente Sanktion des Sittengesetzes, schicksalwirkendc Tatsphäre; vgl. Prov 5,4; 23,29; Koh 7,25 f; Sir 3 1 , 1 - 7 ; ähnlich denken die Freunde Hiobs: Hi 5 , 2 - 7 . 1 3 - 2 1 ; 8 , 5 - 7 . 1 2 - 2 2 ; 1 1 , 1 3 - 2 0 u.a.). Nach Ps 3 2 , 3 - 5 ; 9 4 , 1 0 - 1 2 ; 119,75; Wcish 11,9 f; 12,2.21 f ist Leiden heilsame Züchtigung durch Gott, den liebenden und sich um den Menschen sorgenden Vater. So alt wie der Glaube an den Strafcharaktcr des Leidens ist der Protest gegen unverdientes Leiden. Man beschwert sich bei Gott gegen unverdientes Leiden, sei es eigenes oder fremdes oder Leiden des Volkes (Gen 18,23-25; 20,4; J o s 7,7f; II Sam 24,17; vgl. Ex 5,22f; Num 11,11-15). Ungeduldig fragt man Gott „ Wie lange noch?" oder „Warum?" (Ps 6,4; 10,1.13; 35,17; 88,15; 89,47 u.a.). Das Aufbegehren steigert sich zur Leidenschaft in Ps 22, in den Konfessionen des Jeremia (12,1-4; 15,10-18; 2 0 , 7 - 1 0 ) und bei Hiob (9f; 19,6-12; 30,18-31). Wie bei -»Krankheit weiß sich der Mensch auch bei anderen Leiden vor das Angesicht Gottes gestellt und klagt ihm unumwunden sein Leid, zumeist ohne dafür getadelt zu werden; Hiob und Jeremia erhalten für ihre uns fast wie Gotteslästerung klingenden Vorwürfe nur einen sehr milden Verweis (Hi 38,2; 40,2.7; Jer 12,5; 15,19-21). Im Leiden hat sich der Mensch zu bewähren; es ist für ihn eine Prüfung durch Gott (vgl. insbesondere Gen 22). Hiob hat sich trotz seiner heftigen Vorwürfe gegen Gott bewährt, weil er dennoch von diesem Gott nicht ließ, wie der Satan in 1,11 und 2,5 und die eigene Frau in 2,9 erwartet und die Freunde befürchtet hatten. Eine befriedigende Antwort auf die Warum-Frage hat er allerdings nicht erhalten. Er muß sich mit dem Gedanken zufrieden geben, Gott wisse in seiner Schöpferweisheit schon, was er will. Die späte Weisheit vergleicht das Leiden mit der Läuterung des Edelmetalls im Schmelzofen (Sir 2,4f; Wcish 3,5 f). Im allgemeinen muß sich der Fromme im Alten Testament bei Leiden mit dem Gedanken trösten, daß Gott gerade die großen Gottesmänner, die er in den Dienst seiner Heilsgeschichte gestellt hat, viel leiden läßt: Josef in Ägypten, M o s e (vgl. Ex 5,22f; 17,4; N u m 11,11-15), Elia (I Reg 19,10), Arnos (7,10-17), Jeremia (1,8.17-19; 1 2 , 1 - 4 ; 15,10-18; 18,19-23; 2 0 , 7 f . l 4 - 1 8 ) , Baruch (Jer 45,3), aber auch Frauen wie Hanna (I Sam 1,15f) und Noomi (Ruth l,20f). Hosea ( 1 - 3 ) und Ezechiel (24,15-24) müssen ihr Leiden in den Dienst ihrer Predigt stellen und ihre Leidenserfahrung als Sinnbild für das Verhältnis zwischen Jahwe und ihrem Volk ertragen. Erstmals vorsichtig angedeutet in Gen 4 4 , 1 3 - 3 4 (Juda will die Strafe für die Sünde der Brüder auf sich nehmen und sich in Sklaverei für sie alle begeben), bricht der Glaube an das Leiden als stellvertretend übernommene Sühne während des Exils in Jes 52,13-53,12 durch. In diesem Licht dürfte auch Sach 12,10-14 zu verstehen sein, und in Dan L X X 3,39f ( = Luther-Bibel, Stücke zu Daniel 3,16 f) und in II M a k k 7,37 f ist ein Nachklang dazu zu hören. In Jes 5 3 , 1 0 - 1 2 ; II M a k k 7,11.36 und Weish 5 kommt die Hoffnung auf einen jenseitigen Lohn und Ausgleich für unverdientes Leiden des Frommen zum Durchbruch. Damit sind die wirksamsten Motive für das Durchhalten auch bei schwerstem Leiden gegeben. Sinnlos ist das Leiden nur für die Verstockten und endgültig Verworfenen (Dan 12,2; Jdt 16,17; Weish 5 , 5 - 1 4 , vgl. Jes 66,24); für sie ist es sinnlos wie Geburtswehen,

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Leiden II

denen keine N i e d e r k u n f t folgt ( H o s 13,13). U n b e k a n n t ist dem Alten T e s t a m e n t ein asketisches Leiden, das m a n b e w u ß t aufsucht, um die H e r r s c h a f t der Seele ü b e r den L e i b zu gewinnen, wie bei den S t o i k e r n o d e r den späteren christlichen und islamischen Asketen. Literatur -•Krankheit, dazu die Literatur in den unter 1. erwähnten Begriffen in den bibeltheologischen Wörterbüchern. Vgl. auch Lit. zu -»Hiob. David Adamo, Suffering in t h e O T : DBM 18 (1989) 3 0 - 4 2 . - M a t t h i a s Augustin, Sinn des Lebens - Sinn des Leidens: FS Claus Westermann, Stuttgart 1989, 1 0 6 - 1 7 7 . - Emil Balla, Das Problem des Leidens in der Gesch. der israelit.-jüd. Religion: FS Hermann Gunkcl, Tübingen 1923, 2 1 4 - 2 6 0 . James L. Crenshaw, A Whirpool of Torment, Philadelphia 1984. - Jean Duhaime, La souffrance dans les psaumes 3 - 4 1 : ScEs 41 (1989) 3 3 - 4 8 . - Carole R. Fontaine, Arrows of the Almighty (Job 6 : 4 ) : AThR 66 (1984) 243 - 251. - Erhard S. Gerstenberger/Wolfgang Schräge, Leiden, Stuttgart 1977 (Kohlhammer T B 1004), bes. 9 - 1 1 7 . - Antonius H . J . Gunneweg, Habakuk u. das Problem des leidenden saddiq: ZAW 98 (1986) 4 0 0 - 4 1 5 . - Emst Haag, Vom Sinn des Leidens im AT: IKaZ 17 (1988) 4 8 1 - 4 9 4 . - Reuven Hammer, Two Approaches to the Problem of Suffering: Jdm 139 (1986) 3 0 0 - 3 0 5 . - Otto Kaiser, Schicksal, Leid u. Gott: AT u. christl. Verkündigung. FS Antonius H . J . Gunneweg, Stuttgart 1987, 3 0 - 5 1 . - Walter C. Kaiser, A Biblical Approach to Personal Suffering, Chicago 1982. - Hans Klein, Die Bewältigung der Not im A T u. N T : T h Z 40 (1984) 2 5 7 - 2 7 4 . - Karl Theodor Kleinknecht, Der leidende Gerechte. Die atl.-jüd. Tradition vom „leidenden Gerechten" u. ihre Rezeption bei Paulus, 2 1988 (WUNT II/13). - Rolf Kühn, Leid als bes. Glaubenssituation des Menschen u. Jahwes Zuspruch im AT: WiWei 45 (1982) 9 7 - 1 3 0 . - Ernst Kutsch, Von Grund u. Sinn des Leidens nach dem AT: H. Schulze (Hg.), Der leidende Mensch, Neukirchen 1 9 7 4 , 7 3 - 8 4 = ders., KS zum AT, 1986 (BZAW 168), 3 3 6 - 3 4 7 . - Joäno E. Martins Terra, Vozes e messages da Biblia sobre o sofrimento: REB 44 (1984) 2 0 - 3 6 . - Michael S. Moore, Human Suffering in Lamentations: RB 90 (1983) 5 3 4 - 5 5 5 . - Norbert Peters, Die Leidensfrage im AT, 1923 (BZfr 11/3-5). - Horst Dietrich Preuß, Die Frage nach dem Leid des Menschen. Ein Versuch bibl. Theol.: AT u. christl. Verkündigung. FS A.H. J . Gunneweg, Stuttgart 1 9 8 7 , 5 2 - 8 0 . - J . T . E . Renner, Aspects of Pain and Suffering in the O T : Colloquium (Sidney) 15 (1982) 3 2 - 4 2 . - Lothar Ruppert, Der leidende Gerechte, Würzburg 1972 (fzb 5). - Eberhard Ruprecht, Leiden u. Gerechtigkeit bei Hiob: ZThK 73 (1976) 4 2 4 - 4 4 5 . Jose Salgucro, Finalidad del dolor segün el AT: CTom 90 (1963) 3 6 9 - 3 9 7 . - Josef Scharbert, Der Schmerz im AT, 1955 (BBB 8). - Adrian Schenker, Hiob. Gibt es Trost im Leid?: WuA 29 (1988) 161 - 1 6 5 . - Seizo Sekine, Die Theol. des Leidens im Deuterojesajanischen Buch - unter redaktionsgcsch. Gesichtspunkt: AJBI 8 (1982) 5 0 - 1 1 2 . - O d i l HannesSteck, Israel u. das gewaltsame Geschick der Propheten, 1967 ( W M A N T 23). - Mathew Varlyamattom, The Language of Suffering in the Book of Jeremiah, Rom 1988. - Dieter Vetter, Warum leiden? Antwort aus dem Judentum: A.T. Khoury/P. Hünermann (Hg.), Warum leiden? Die Antwort der Weltreligionen, Freiburg/Br. 1987 (Herder Taschenbuch 1383), 7 4 - 1 0 9 . - Otto Wahl, Ich glaube an Gott, den Allmächtigen ...?: Beitr. z. Körperbehindertenfürsorge 44 (1989) 6 7 - 8 3 . - Willie W. White, What the Bible Says about Suffering, Joplin/Mo. 1984. - Heinz Zahrnt, Wie kann Gott das zulassen? Hiob - Der Mensch im Leid, München/Zürich 1985.

. , r , , Joset Scharbcrt

II. J u d e n t u m 1. Anknüpfungen an die Hebräische Bibel 2. Leiden, Sünde, Tod 2.1. Universale Verfügung 2.2. Individuelle Verantwortung 2.3. Verschiedene Leiden 3. Leiden und Sühne 3.1. Mittel zur Sühne 3.2. Mittel zur Herstellung des göttlichen Wohlgefallens 3.3. Einstehen für andere 4. Leiden und jüdische Identität (Quellen/Literatur S. 676) 1. Anknüpfungen

an die Hebräische

Bibel

Die F r a g e nach dem Sinn menschlichen Leides ist ein bedeutsames geistig-religiöses E r b e der H e b r ä i s c h e n Bibel und des F r ü h j u d e n t u m s , das v o m r a b b i n i s c h e n J u d e n t u m aufgegriffen und m i t neuen N u a n c i e r u n g e n versehen w u r d e . N a c h Sanders (1) zählt die H e b r ä i s c h e Bibel acht Sinngebungen für das Leiden a u f , die j e d o c h (nach W i c h m a n n ) a u f fünf P u n k t e reduziert werden k ö n n e n : (1) Leid als Vergeltung und V o r b e u g u n g für Sünden, (2) als V o r w e g n a h m e der Strafe im E s c h a t o n b z w . im J e n s e i t s , (3) als Prüfung und Läuterung der G e r e c h t e n , (4) als G l a u b e n s z e u g n i s und Ausdruck reiner G e b o t s e r f ü l l u n g und (5) als Stellvertretung. D a s r a b b i n i s c h e J u d e n t u m hat diese Auffassungen ü b e r n o m -

Leiden II

673

men und sie mit konkreten Beobachtungen angereichert. Es wählte für „die Leiden" den Sammelbegriff yissurin (plurale tantum), dem es bisweilen den Begriff pur'anüt (Heimsuchung, Unglück) zugesellte. Den Rabbinen waren auch die großen historischen und metahistorischen Daten zur Deutung der Leiden unentbehrlich: Schöpfung, Erzväter, SinaiOffenbarung, Gegenwart und Erlösung (ge'ülla, yemötham-maschiach, 'atidlavo', 'olam hab-ba'). In MShem 19,1 (S. 101) werden die Leiden heilsgeschichtlich periodisiert: „In drei Teile sind die Leiden eingeteilt worden: Ein Teil für die (vorabrahamitischen) Generationen und die Erzväter, ein Teil für die Zeit der Religionsverfolgung (döro schel schemad) und ein Teil für (die Zeit des) Königs Messias; das ist es, was geschrieben steht: ,Er ist durchbohrt wegen unserer Verbrechen' (Jes 53,5)". - Die Tradenten dieses Spruches sind palästinische Amoräer zur Zeit der Verfolgung unter Gallus (351). Weil also auch die messianische Zeit noch große Leiden bringt, waren einzelne Rabbinen unsicher, ob es gut sei, diese Zeit herbeizusehnen (bSan 98 b). 2. Leiden, Sünde,

Tod

2.1. Universale Verfügung. Laut TanBer wayyeschev 4 (150f) ist der Todesengel am ersten Schöpfungstag erschaffen worden. Der Tod ist demnach nicht erst die Folge der Adamssünde. Faktisch beginnt er als Naturgesetz mit Adam und Eva (BerR 17,8: ThA 1,159f; Urbach 372-375). Es gibt aber auch die Meinung, daß der Tod nicht in die Welt gekommen wäre, wenn Adam nicht gesündigt hätte; die ewige Existenz Elijas spreche gegen diese Auffassung (WaR 27,3: S. 627-629, im Anschluß an Koh 3,15). Auf die Frage, ob nicht die Annahme der Tora den Tod überwinden könne, gibt MekhY zu 20,19 (S. 237) zwei verschiedene Antworten: a) Gottes Satz Dtn 5,26 wird als irrealer Wunschsatz gedeutet: Wäre es möglich, den Todesengel zu entfernen, hätte ich ihn entfernt; aber die nicht hinterfragbare Verfügung (gezera) ist getroffen, b) Rabbi Yöse sagt unter Berufung auf Ps 82,6, die Israeliten seien am Sinai gestanden, damit ('al tena'y, wörtl.: unter der Bedingung, daß) der Todesengel keine Macht über sie habe. Die Israeliten haben aber ihre Taten verdorben (sc. durch das goldene Kalb) und müssen deshalb — gemäß Ps 82,7 - sterben. MekhY zu 20,19 will also keinen Ausgleich zwischen der ausnahmslos geltenden Todesverfügung und der Frage nach der Verquickung von Sünde und Tod herstellen (vgl. SifDev 339: S. 388, wo die ausnahmslose Geltung der Todesverfügung betont wird). An anderer Stelle wird deutlich gemacht, daß es keinen einsichtigen Zusammenhang zwischen Leiden und göttlichem Ratschluß gibt (bMcn 29 b). Einen Zusammenhang mit Adam und Eva stellt bShab 55 b her: Vier (außer den Stammeltern) sind durch die Verleitung der Schlange gestorben, und zwar: Benjamin, der Sohn Jakobs; Amram, der Vater Moses; Isai, der Vater Davids; Kilab, der Sohn Davids. - Diese Baraita wird als Widerlegung der Ansicht des Rav Ami (ebd. 55 a) bezeichnet, wonach es „keinen Tod ohne Sünde und kein Leid ohne Schuld" gibt. Die Baraita nennt nur Leute, von denen keine besonderen Sünden, aber auch keine besonders guten Leistungen bekannt sind (Urbach 376f). Als völlig unabhängig von jeder Sünde wird der Tod in MTann (zitiert bei Urbach 237) hingestellt. Keiner der Erzväter ist wegen einer Sünde gestorben; ihr Tod bezeichnet lediglich das Ende ihrer (Regierungs-) Zeit (griech. äpx>J)• Ähnlich bShab 30a: Die Lebenszeit des Menschen wird ihm grundsätzlich nicht bekanntgegeben; David erfährt nur, daß die Herrschaft (malkhüt) Salomons angebrochen ist. Eine Aufhebung von Leid und Tod wird sich erst im Eschaton (nach den Tagen des Messias; vgl. o. 1) ergeben. Die conditio humana (vgl. Gen 8,21) und ihre Korrektur im Eschaton wird ausgesprochen in TanBBer bereschit 40 (1,27): Der Heilige, gelobt sei er, sagte: In dieser Welt ist der böse Trieb vorhanden, und deshalb sind die Leiden bei den Menschen vorhanden. Aber für die künftige Welt rotte ich sie euch aus; es heißt nämlich: ,Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch' (Ez 36, 26), und mache eure Gliedmaßen neu; denn so hat Jesaja gesagt: ,Die aber, die dem Ewigen vertrauen, schöpfen neue Kraft, sie bekommen Gliedmaßen wie Adler' (Jes

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40,31). In WaR 18,3 (S.407) wird Ex 32,16 zitiert: „ , . . . eingegraben (charüt) auf den Tafeln)'. Lies nicht ,eingegraben', sondern ,Freiheit' (chêrût)'. Rabbi Yehûda, Rabbi Nechemya und die Rabbanen: Rabbi Yehuda sagte: Freiheit vom Todesengel; Rabbi Nechemya sagte: Freiheit von der Fremdherrschaft (malkhût); die Rabbanen sagten: Freiheit von den Leiden" (vgl. Urbach 375). 2.2. Individuelle Verantwortung. Jeder Mensch ist für seine Sünden selbst verantwortlich und kann sie nicht auf Adam abschieben: „Kein Tod ohne Sünde (des Einzelnen)" (bShab 55 a). Nach bShab 156 b (vgl. bBB lOa-b; bezüglich des Todes Moses: bShab 55 b) war Rabbi 'Aqîva der Auffassung, Prov 10,2 ( = 11,4: Gerechtigkeit aber rettet vor dem Tod) bedeute, ein gerechtes Leben rette vor einer ausgefallenen Todesart (mita meschtmna). Nach einer anderen Tcxtübcrlieferung (ebenfalls in bShab 156 b) soll Rabbi 'Aqîva gemeint haben, Gerechtigkeit rette vor dem Tod überhaupt (Urbach 235 f, Anm.33 und 33*). Wenn ein Mensch von Leiden heimgesucht wird, soll er nach bBer 5 a „seine Handlungen prüfen . . . Hat er geprüft und nichts gefunden, so schreibe er es der Vernachlässigung der Tora (bittûl tôra) zu ... Hat er auch dazu keinen Grund gefunden, so sind es sicherlich Leiden der Liebe (yissûrin schel 'ahava)". Hier ist sowohl die Liebe Gottes zum Menschen als auch jene des Menschen zu Gott gemeint. In den folgenden Passagen wird daher vom Lohn für liebende Annahme der Leiden gesprochen: Kinder, langes Leben und erfolgreiche Erfüllung von Gottes Begehr (nach Jes 53,10). Es wird dann noch hinzugefügt, daß als „Leiden der Liebe" nur solche in Frage kommen, die den Betroffenen nicht am Studium und/oder Gebet hindern. Weil Leiden mit Eigenverantwortung zusammenhängen, sind sie ein Zeichen der Würde und Bevorzugung durch Gott. Der Erzvater Jakob hat für sich und die Israeliten um Krankheit vor dem Tod gebeten, damit man sein Haus bestellen könne. Seit dem König Hiskija gibt es wiederholte Krankheiten vor dem Tod, damit der Mcnsch Buße tue. Dem Erzvater Isaak wurde das Tetragrammaton kundgetan, weil er blind = leidend war (BerR 65,9: S. 717f). - In den Zusammenhang von Menschenwürde und Leid gehört auch die Vorstellung, daß der Gerechte sich seines Viehs erbarmt (WaR 27,11: S.644f) und keine Tierquälerei begeht (bBM 31a). 2.3. Verschiedene Leiden. In der rabbinischen Literatur gibt es Stellen, an denen Leiden unter bestimmten Schlagwörtern zusammengefaßt werden, wobei auch Zahlenreihen mitspielen können. In bEr 41 b steht folgende tannaitische Tradition: „Drei bringen den Menschen um seinen Willen und lassen ihn den Willen seines Schöpfers verfehlen: Götzendiener, ein Dämon, drückende Armut. In welcher Hinsicht ist das von Bedeutung? Damit man für die betroffenen Menschen um Erbarmen flehe. - Drei Gruppen von Menschen werden die Hölle nicht sehen müssen: Die unter drückender Armut leiden, unter Leibschmerzen, unter Fremdherrschaft; manche sagen: Auch wer eine böse Frau h a t . . . In welcher Hinsicht ist das von Bedeutung? Damit man (diese Leiden) in Liebe auf sich nehme. - Drei Gruppen von Menschen sterben, wenn sie reden: Die Wöchnerin, wer Leibschmerzen hat, der Wassersüchtige. In welcher Hinsicht ist das von Bedeutung? Damit man ihnen Sterbekleider bereithalte" (vgl. mShab 2,6: Wöchnerin, bShab 33a: Wassersucht). - In bBes 32b ist von drei Menschengruppen die Rede, „deren Leben kein Leben ist: Wer nach dem Tisch seines Nächsten Ausschau halten muß (weil er selbst nichts hat), wer von seiner Frau unterdrückt wird, wessen Leib von Schmerzen gequält wird". - Nach bNed 64b gleichen wer einem Toten: „Ein Armer, ein Aussätziger, ein Blinder und ein Kinderloser" (-»Armut). - Aus diesen Listen ersieht man, welche Leiden von den Rabbinen als besonders drückend gewertet worden sind. 3. Leiden und

Sühne

3.1. Mittel zur Sühne. Unter Sühne (kappara) verstehen die Rabbinen das Wegschaffen von Sünden (ha'avarat 'awônôt) mit Hilfe bestimmter Mittel, wobei die menschliche

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Disposition und Intention in verschiedenem Ausmaß zum Tragen kommt. Die Sühne dient der Wiederherstellung des göttlichen Wohlgefallens. Auch die Leiden sind ein Mittel (aber nicht das einzige), durch das die Sünden unter Gottes Lenkung weggeschafft werden können. Nach ySan 10,1 (27c) haben die Umkehr (tjschüva), der Versöhnungstag, der Sündenbock, die Leiden und der Tod sühnende Kraft. Welches Sühnemittel wirksam wird, hängt von der Schwere der Sünde ab. Für die Sühne der schwersten Sünde (Entweihung des göttlichen Namens) sind Umkehr, Versöhnungstag und leidvoller Tod (die Parallele yYom 8,8: 45 c: mita 'im yissürin) als zusammenspielende Sühnemittel erforderlich (vgl. bYom 86a). ö f t e r wird betont, daß Kinder oder Gerechte leiden müssen, um ihre sündige Generation zu entlasten: „In einem Zeitalter, in dem Gerechte vorhanden sind, werden die Gerechten wegen der Sünden des Zeitalters erfaßt; in einem Zeitalter, in dem keine Gerechten vorhanden sind, werden Schulkinder (die das Verdienst des Torastudiums haben) erfaßt" (bShab 33 b; in bKet 8 b wird diese Auffassung auf Resch Laqisch — zwei Generationen früher - zurückgeführt). Nach WaR 20,10 (S.467) kommt der Tod der Kinder von Gerechten zu deren Lebzeiten Gott doppelt so schwer an wie die Väter. So ist es nur logisch, daß einem jähen Tod von Kindern sühnende Kraft zugeschrieben wird (bBer 5 b). Auch der Tod der Gerechten hat sühnende Wirkung: „Der Tod der Gerechten sühnt wie der Versöhnungstag" (WaR 20,12: S. 471 f). Uber ein Höchstmaß von Sühneleiden berichtet bTaan 21 a von Nachum aus Gamzu: Mit drei beladenen Eseln unterwegs zu seinem Schwiegervater, wird er von einem Armen um Nahrung gebeten. Nachum versündigt sich dadurch, daß er den Armen warten läßt, um etwas vom Esel abzuladen; unterdessen stirbt der Arme. Darauf ruft Nachum alle erdenklichen Leiden auf sich herab: Armut, Blindheit, Verlust der Extremitäten, Geschwüre am ganzen Leib. Bemerkenswert ist an der Geschichte, daß Nachum zwei Gebote erfüllt: Das Gebot der Elternchrung gilt auch für die Schwiegereltern, ein beladenes Tier nicht erleichtern, bedeutet Tierquälerei. 3.2. Mittel zur Herstellung des göttlichen Wohlgefallens. Eine Hauptstelle dafür ist MckhY zu 20,23 (S.239f): Rabbi 'Aqiva (gest. 135n.) war der Ansicht, daß „sich der Mensch mehr über die Leiden freuen soll als über das Gute. Denn auch wenn der Mensch alle Tage Gutes erfährt, erwirkt ihm dies nicht Verzeihung seiner Sünden. Was aber bewirkt ihm Verzeihung der Sünden? Die Leiden." Im Anschluß an dieses Diktum sagt Rabbi 'Eli'ezer ben Ya'aqov (mit Bezug auf Prov 3,11 f): „Wer verursachte (garam), daß der Sohn das Wohlgefallen des Vaters erregte (le-razzöt 'et_ ha'av)? Die Leiden." Etwas weiter unten (S. 240) sagt Rabbi Nechemya (um 160 n.): „Innig geliebt sind die'Leiden! Wie nämlich die Opfer (haq-qorbanöt) Wohlgefallen erregen, so erregen Leiden Wohlgefallen . . . Darüber hinaus erregen die Leiden mehr Wohlgefallen als die Opfer. Weshalb? Weil die Opfer mit Geld abgeleistet werden, die Leiden aber mit dem Körper." - Leiden bewirkt also Sühne für Sünden und führt damit zum Wohlgefallen Gottes. 3.3. Einstehen für andere. Das sühnende Einstehen für andere durch Annahme von Leiden kommt vor. Man kann jedoch die Idee vom stellvertretenden Sühneleiden im christlichen Sinn in den rabbinischen Texten nicht finden. Wohl aber ist in ihnen von Leiden einzelner die Rede, durch die Mitmenschen entlastet werden. Dabei wird größte Zurückhaltung bezüglich der Sünden der betroffenen Mitmenschen geübt. Nach bBM 85 a hat Rabbi Yehuda Hannasi dreizehn Jahre lang gelitten, und die Welt hatte während dieser Zeit keinen Regen nötig. Rabbi 'El'azar ben Rabbi Schim'on hat dreizehn Jahre unverschuldete Leiden in Liebe auf sich genommen, und in dieser Zeit ist kein Mensch vorzeitig gestorben. Wenn jemand laut bQid 31b die Lehre seines verstorbenen Vaters vorträgt und dabei sagt: „Mein Vater, mein Meister, für dessen Lager ich eine Sühne sei", dann hilft dies vermutlich dem Verstorbenen, die Läuterung im Gehinnom schneller zu überstehen. Nach mNeg 2,1 sagte Rabbi Yischma'el, wenn er von aussätzigen Israeliten sprach: „Ich sei ihre Sühne". Nach mSan 2,1 wurde ein trauernder Hoherpriester vom

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Leiden II

Volk mit d e n W o r t e n g e t r ö s t e t : „ W i r seien d e i n e S ü h n e " . - D i e A u s s a g e n in b Q i d 31 b , m N e g 2 , l u n d m S a n 2 , l stehen in W u n s c h f o r m . I h n e n h a f t e t k e i n e S a k r a m e n t a l i t ä t a n ; sie sind eher eine F ü r b i t t e . 4. Leiden

und jüdische

Identität

In BerR 88,1 (S. 1077) w i r d g e f r a g t , w a r u m es u n t e r d e n V ö l k e r n „ T r a u r i g e , B e k ü m m e r t e , v o n A r m u t G e q u ä l t e u n d A u s s ä t z i g e " gebe. R a b b i C h a m a b e n R a b b i C h a n i n a b z w . R a b b i S c h e m ü ' e l b a r N a c h m a n sagen: „ D a m i t die V ö l k e r nicht d i e Israeliten t a d e l n : Seid ihr nicht ein Volk v o n B e k ü m m e r t e n , v o n A u s s ä t z i g e n u s w . ? " Es h a n d e l t sich h i e r w o h l u m eine Z u r ü c k w e i s u n g d e r a n t i j ü d i s c h e n P o l e m i k , w o n a c h d i e J u d e n w e g e n ihres Aussatzes a u s Ä g y p t e n h i n a u s g e j a g t w o r d e n seien (Ap 1,229). H i e r w i r d d a s Leid zu e i n e r F r a g e jüdischer I d e n t i t ä t u n t e r d e n V ö l k e r n . N o c h intensiver geschieht dies in d e r bereits e r w ä h n t e n Stelle M e k h Y zu 20,23 (S. 239). D o r t w i r d gesagt, d a ß die N i c h t i s r a e l i t e n „ i h r e G ö t t e r e h r e n , w e n n ihnen G u t e s z u s t ö ß t . W e n n a b e r Leid (pur'anüt) ü b e r sie k o m m t , fluchen sie ihren G ö t t e r n . " D i e J u d e n sollen sich v o n dieser d o - u t - d e s - E i n s t e l l u n g u n t e r s c h e i d e n : „ I h r a b e r sollt d a n k e n , w e n n ich G u t e s ü b e r euch bringe. Ihr sollt a u c h d a n k e n , w e n n ich die Leiden ü b e r e u c h g e b r a c h t h a b e . " R a b b i Y o n a t a n b r i n g t diese I d e n t i t ä t s a u s s a g e in d e n B u n d e s z u s a m m e n h a n g : „ W i e d e r B u n d f ü r d a s L a n d geschlossen ist, so ist ein B u n d f ü r die Leiden geschloss e n " (S. 240). R a b b i S c h i m ' ö n ben Yochay w ä h l t s t a t t „ B u n d " d e n A u s d r u c k mattana (Gabe) u n d b r i n g t a u c h d i e T o r a u n d d i e k o m m e n d e Welt d a m i t in V e r b i n d u n g : „ D r e i g u t e G a b e n w u r d e n d e n Israeliten g e g e b e n , u n d a u c h die W e l t v ö l k e r b e g e h r t e n sie. A b e r sie w u r d e n ihnen n u r d u r c h Leiden g e g e b e n . Es sind f o l g e n d e : die T o r a , d a s L a n d Israel u n d die k o m m e n d e W e l t . " D a die B e s c h n e i d u n g als Leiden (SifDev 32: S. 55) u n d als Bundcszeichen gilt, ist die Vorstellung v o m L e i d e n s b u n d d e n R a b b i n e n geläufig. Der auf die Leiden zugespitzte B u n d e s g e d a n k e impliziert, d a ß a u c h G o t t als B u n d e s p a r t n e r mit Israel z u s a m m e n leidet. In m S a n 6,5 w i r d im Z u s a m m e n h a n g mit e i n e m h i n z u r i c h t e n d e n jüdischen V e r b r e c h e r gesagt: (Worte d e s R a b b i M e ' i r ) : „ W e n n ein M e n s c h in N o t ist — in w e l c h e r S p r a c h e d r ü c k t sich die s h e k h i n a aus? G l e i c h s a m : M e i n Kopf ist mir s c h w e r , m e i n A r m ist m i r s c h w e r ! W e n n G o t t w e g e n d e s Bluts d e r Frevler, d a s vergossen w i r d , so in N o t ist, u m wie viel m e h r ist er w e g e n des Blutes der G e r e c h t e n in N o t ! ? " In r a b b i n i s c h e n Gleichnissen ist h ä u f i g d a v o n d i e R e d e , d a ß G o t t nicht n u r M i t leid mit seinem Volk h a t ( S y m p a t h i e ) , s o n d e r n d a r ü b e r h i n a u s ins Leid seines Volkes verstrickt ist ( E m p a t h i e ) . M a n k a n n dies nicht n u r als bildliche R e d e w e i s e a b t u n . Vielm e h r steht d a h i n t e r die Ü b e r z e u g u n g , d a ß G o t t sich a u c h d u r c h seine E m p a t h i e als B u n d e s p a r t n e r Israels e r w e i s t ( K u h n ; T h o m a / L a u e r 4 0 . 1 3 9 f . 2 2 4 - 2 3 6 ) . In d e r z w e i t e n B c r a k h a des A c h t z e h n g e b e t e s (ca. 9 0 / 1 0 0 n.) heißt es: „ E r e r n ä h r t d i e L e b e n d e n in G n a d e , belebt T o t e in g r o ß e m E r b a r m e n , s t ü t z t F a l l e n d e u n d heilt K r a n k e u n d löst G e f e s s e l t e . . . Wer ist wie d u . . . , d e r endzeitliche H i l f e (yeschü'a) sprießen l ä ß t ? " D a m i t ist i n d i r e k t a u c h auf d i e - n a c h r a b b i n i s c h e r A u f f a s s u n g h a u p t s ä c h l i c h e n - Leiden verwiesen: m a n g e l n d e r L e b e n s u n t e r h a l t , T o d , K r a n k h e i t , m e n s c h l i c h e b z w . v o n e i n e r h ö h e r e n irdischen G e w a l t a u s g e h e n d e B e d r ä n g n i s . V o l l k o m m e n e H e i l u n g ist die letzte H o f f n u n g . W e n n sie n i c h t im Diesseits g e s c h e h e n k a n n , d a n n e r f o l g t sie in d e r k o m m e n d e n Welt ( M e k h Y zu 15,26: S. 158). Quellen Mechilta d'Rabbi lsmael, ed. H.S. Horovitz/I. A. Rabin, Jerusalem 2 1970. - Midrash Bereshit Rabba, Critical Edition with Notes and Commentary, by J. Theodor/Ch. Albeck, 3 Bde., Jerusalem 2 1965.-Midrasch rabba, 2 Bde., Wilna, o. J. (Nachdr. Jerusalem 1975).- Midrasch Schemü'el, ed. S. Buber (Nachdr. Tel-Aviv o. J.). - Midrasch Shemot Rabbah, Chapters I-X1V, by Avigdor Shinan, Tel-Aviv 1984. - Midrasch tanchüma (mit Ergänzungen aus TanB), ed. Chanokh Zündel, 2 Bde., Jerusalem (Nachdr.) 1975. - Midrasch tanchüma haq-qadüm we-hay-yaschan, ed. S. Buber, 2 Bde., Wilna 1891 (Nachdr. Jerusalem 1966). - Midrasch Wayyikra Rabbah, by Mordecai Margulies, 3 Bde., Jerusalem 2 1972.-Midrasch YalqutSchim'öni 'al töra' nevi'im u-khetüvim 2 Bde., Wilna 1898.

Leiden III

677

- Mischna: 6 sidre mischna, meföraschim bide Chanökh 'Albeq u-menüqqadim bide Chanökh Yallön, Jerusalem, 4 . - 6 . Aufl. 1976-1978. - Pesiqta' deRav Kahana, ed. Bernard Mandelbaum, 2 Bde., New York 1962. - Siphre d'be Rab. Siphre ad Numeros adjecto Siphre zutta, hg.v. H.S. Horovitz, Jerusalem 2 1966. - Siphre ad Deuteronomium, ed. Louis Finkelstein, Neudr. New York 1969. - Talmud Bavli mefusaq (Wilnaer Ausgabe), 20 Bde., Neudr. Jerusalem 1968. - Talmud Yeruschalmi, ed. Krotoschin 1866, Nachdr. Jerusalem 1969. - Clemens Thoma/Simon Lauer, Die Gleichnisse der Rabbinen. 1. T. Pesiqta' deRav Kahana', Bern/Frankfurr/New York 1986. - T h e Tosefta, ed. Saul Liebermann, The Order of Mo'ed, New York 1962. Literatur Adolf Büchler, Studies in Sin and Atonement in the Rabbinic Literature of the First Century (1927), Neudr. New York 1967.-Arnold Goldberg, Erlösung durch Leiden, Frankfurt 1978 ( F J S 4 ) . Louis Jacobs, The Sugya on Sufferings in B. Berakhot 5 a, b: Studies in Aggadah, Targum and Jewish Liturgy, in Memory of Joseph Heinemann, hg. v. J a k o b J. Petuchowski/Ezra Fleischer, Jerusalem 1981, 3 2 - 4 4 . - Peter Kuhn, Gottes Trauer u. Klage in der rabbinischen Überlieferung (Talmud u. Midrasch), 1978 (AGJU 13). - Jim A. Sanders, Suffering as Divine Discipline in the O T and PostBiblical Judaism: Colgate Rochester Divinity School Bulletin 28 (1955) (Special Issue). - Ephraim E. Urbach, The Sages, Their Concepts and Beliefs (hebr.), Jerusalem 1969. - Wolfgang Wichmann, Die Leidenstheol. Eine Form der Leidensdeutung im Spätjudentum, 1930 (BWANT IV/2).

Simon Lauer III. Neues Testament 1. Jesus von Nazareth und die synoptische Überlieferung 2. Grundmustcr nachösterlicher Leidensdeutung 3. Paulus 4. Paulusschule 5. 1. Petrusbrief 6. Hebräerbrief 7. Zusammenfassung (Literatur S. 687)

1. Jesus vott Nazareth

und die synoptische

Überlieferung

1.1. Jesu Hinwendung zu den Leidenden steht in direktem Zusammenhang mit seiner Ansage des unmittelbar bevorstehenden Anbruchs der —»Herrschaft Gottes (s. T R E 15,201 ff). Die Teilhabe an ihr wird gerade den materiell Armen zugesprochen (Lk 6,20; vgl. auch 16,19-26) und das mit ihr anbrechende eschatologische Heil nach 6,21 den „Hungernden" und den „Weinenden" (Mt 5,4: den „Trauernden") verheißen. Die Heilswirklichkeit der Gottesherrschaft ist hiernach dadurch gekennzeichnet, daß in ihr gegenwärtige Leidenserfahrung aufgehoben und in ihr Gegenteil verkehrt wird. Dies läßt auch das wohl sicher authentische Logion Lk 11,20 par. Mt 12,28 erkennen, in dem Jesus seine -•Exorzismen im Horizont seiner Basileia-Verkündigung deutet: In der konkreten exorzistischen Heilung des einzelnen ist bereits in der Gegenwart die Herrschaft des Satans und seiner - • D ä m o n e n als der für das menschliche Leiden verantwortlichen Unheilsmächte gebrochen (Lk 10,18; vgl. Mk 3,27), und Gott hat seine Herrschaft anzutreten begonnen. - Analog weist auch in Jesu Krankenheilungen die Überwindung menschlichen Leidens über sich selbst hinaus: Sofern nach überkommenem Verständnis -»Krankheit als „Symptom eines weiterreichenden Unheils und tiefergreifenden Bruches" (Schräge, Heil 205) von Gott trennt, stellt die Beseitigung des körperlichen Gebrechens die heilvolle Gemeinschaft mit Gott wieder her (vgl. Kleinknecht 169), und sofern dies durch Jesus als den eschatologischen Propheten der Basileia Gottes geschieht, ist die Beseitigung menschlichen Leidens selbst schon irdische Konkretion des der Gottesherrschaft innewohnenden Heils. Dadurch daß die Überwindung des Leidens in den Kontext der Heraufführung eschatologischen Heils gerückt wird und Jesus in den Exorzismen und Therapien nicht nur -»Heilung, sondern vor allem auch Heil vermittelt (vgl. Schräge, Heil 200ff), wird der das Leiden wirkende Unheilszusammenhang der Welt aufgebrochen. Jesus beseitigt den Entfremdungszustand zwischen Gott und den Menschen und richtet Gottes heilvolle Schöpfungsordnung wieder auf, indem er den Leidenden wieder in dessen ihm schöpfungsmäßig bestimmte Integrität des Lebens einsetzt. Die in Lk 13,1 - 5 überlieferte Stellungnahme Jesu zum Zusammenhang von -»Sünde und Leiden ist in den Einflußbereich der Gerichts- und Umkehrpredigt -»Johannes des Täufers auf Jesus einzu-

678

Leiden III

ordnen (vgl. J . B e c k e r , J o h a n n e s der T ä u f e r u. Jesus v. N a z a r e t h , 1972, 8 6 f ) : Die von den in V.1.4 genannten Katastrophen verschont Gebliebenen sind deswegen nicht weniger sündig als die dabei U m g e k o m m e n e n . V i e l m e h r steht ihnen, wenn sie nicht alle (V.3.5) u m k e h r e n , im k o m m e n d e n Vernichtungsgericht das gleiche Schicksal bevor, w o m i t das in V . l . 4 geschilderte individuelle Leidensgeschick als bereits vollzogenes Gerichtsgeschehen gedeutet wird, das allen angedroht ist, die die U m k e h r verweigern.

1.2. Jesusbewegung. Den in unmittelbarer historischer Kontinuität zu Jesu Jüngerkreis stehenden nachösterlichen Wandercharismatikern (vgl. dazu G. Theißen, Stud. zur Soziologie des Urchristentums, 2 1983, 79ff.l06ff) stellte sich die ihre Existenzweise bestimmende leidvolle Erfahrung der „soziale(n) Entwurzelung" (ebd. 106; ders., Soziologie der Jesusbewegung, 1977,16 ff: Heimat-, Familien-, Besitz- und Schutzlosigkeit) nicht als beklagenswertes Geschick dar, sondern sie wurde von ihnen als bewußt übernommenes Ethos verstanden und praktiziert. Dies spiegelt sich außer in den Berufungsszenen (Mk 1,16-20; 2,14; vgl. auch Lk 5 , 1 - 1 1 ) in einer Reihe von Logien, die es dieser Gruppe ermöglichten, ihr Lcidensgeschick als Bestandteil des Sendungsauftrags wie als Kriterium ihrer Zugehörigkeit zu Jesus zu verstehen (vgl. das in Lk 10,3 par. Mt 10,16 a; Mk 6 , 8 - 1 1 ; 10,21.29f; Lk 6,22 f par. Mt 5,11 f; Mt 10,37 par. Lk 14,26; Lk 9,57f.59 f par. Mt 8,19f.21 f; Lk 1 2 , 4 - 7 par. Mt 10,28-31; Lk 12,22ff par. Mt 6,25 ff; Lk 12,51-53 verarbeitete Traditionsgut). - Ihr Zentrum fand diese Leidensdeutung im Gedanken der -»Nachfolge: Beinhaltete Jesu Ruf in die Nachfolge zuallererst die Aufforderung zum Eintritt in die sozial entwurzelte Lebensgemeinschaft mit ihm (vgl. Mk 1,17; 2,14; Lk 9,57f par.; Mt 8,21 f; s. auch Joh 12,26), wurde nach Ostern auch Jesu eigenes Leidens- und Todesgeschick in den Nachfolgegedanken hineingenommen: Das erst nachösterlich gebildete Jesuswort vom Kreuztragen und Nachfolgen (Mk 8,34; Lk 14,27 par. Mt 10,38) macht vor allem in seiner wohl ebenfalls auf den nachösterlichen Kreis der Wandercharismatiker zurückgehenden Verbindung mit dem Logion vom Verlust und Gewinn des Lebens (Mk 8,35; Mt 10,39 par. Lk 17,33; s. auch Joh 12,25/26) sichtbar, daß Nachfolge jetzt auch die Bereitschaft zum Eintritt in die Leidens- und Todesgemcinschaft mit Jesus einschloß (s. auch Mt 10,24; Joh 15,20a). Ein charakteristisches Element wandercharismatischer Leidensdeutung bewahrt auch der erstmals in der Logienqui'lle begegnende R ü c k g r i f f auf die Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten, auch wenn diese primär an der T ä t e r s c h a f t Israels orientiert ist (vgl. M t 5 , 1 1 f par.; 2 3 , 3 4 f . 3 7 par.; s. auch M k 12,5; Act 7 , 5 2 ; R o m 11,3; I T h e s s 2 , 1 5 ; dazu: O . M . Steck, Israel u. das gewaltsame Geschick der Propheten, 1967): D a s die Boten J e s u treffende Lcidensgeschick stellt sie in die Kontinuität der von Israel abgewiesenen Propheten und ermöglicht ihnen so die Integration ihrer Leidenserfahrung in ihr eigenes Selbstverständnis.

1.3. In der erzählerischen Vergegenwärtigung der Leidensgeschichte Jesu durch die synoptischen -»Evangelien werden Jesu Aufforderung zur Nachfolge und Übernahme des Kreuzes wie seine Ansage des über seine Jünger kommenden Leidens (s.o. Abschn. 1.2) auf die Leidenssituation der Gemeinde hin transparent. Dies wird vor allem im Markusevangelium greifbar (Lukas schwächt die Leidensaussagen seiner Markusvorlage an mehreren Stellen ab bzw. historisiert sie; vgl. Lk 8,13/Mk 4,17; Lk 9,23/Mk 8,34; Lk 21,16.23.25/Mk 13,12.19.24): Der markinischen Darstellung zufolge haben Jesu Leiden und Tod ihren bestimmenden Grund in seiner vollmächtigen Verkündigung einer neuen Lehre (1,27) als Bestandteil des Evangeliums Gottes (vgl. 1,14-3,6; der Abschnitt endet folgerichtig mit dem Todesbcschluß). Dadurch wird es der aufgrund ihres Bekenntnisses und ihrer Orientierung am Evangelium (8,35; letzteres mk Ergänzung; s. auch V. 38) leidenden Gemeinde ermöglicht, ihre eigenen Leidenserfahrungen im Geschick Jesu Christi wiederzufinden. Zudem wird die Gemeinde in der dem Passionsteil des Evangeliums vorgeschalteten und seinen Inhalt zusammenfassenden markinischen Komposition von 8,27—9,1 in die Leidensnachfolge eingewiesen. Die Bindung an den Sohn Gottes und an sein Evangelium sieht Markus nur dann erhalten, wenn die Gemeinde dem Menschensohn auf seinem Leidensweg nachfolgt und sich nicht wie die Jünger unverständig (8,32 f; 9,32.33 ff; 10,35 ff) und furchtsam (9,32; 10,32) dem Leiden entzieht.

Leiden III 2. Grundmuster

nachösterlicher

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Leidensdeutung

2.1. Gegenstand theologischer Reflexion ist in den neutestamentlichen Texten zuallererst diejenige Leidenswirklichkeit, der die frühen christlichen Gemeinden aufgrund ihres Christseins unterworfen waren und die von ihnen auch in diesem Sinne wahrgenommen wurde (vgl. I Petr 4,16; Hebr 12,8): Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die daraus gezogenen Konsequenzen der Existenzorientierung bildeten den Realgrund des sich in sozialer Isolation wie aggressiver Ablehnung und gewalttätiger Verfolgung von Seiten der nichtchristlichen Umwelt konkretisierenden Leidens. Diese Kausalität wird von einer R e i h e relativ fest geprägter Präpositionalverbindungen festgehalten, die vor allem innerhalb der synoptischen Überlieferung, aber auch sonst im Neuen T e s t a m e n t (vgl. Satake) ganz summarisch den Leidensgrund (Sid mit A k k . ; evcKa, -cv; 671 ip mit G e n . [vgl. H . Riesenfeld: T h W N T 8 , 5 1 7 , 2 6 f f ] ) benennen: Dies sind Jesus Christus oder sein N a m e ( M k 8,35 par.; M t 10,39 [QJ; M k 13,9.13 par.; M t 5,11 par. Lk 6,22: „wegen des M e n s c h e n s o h n e s " ; J o h 15,21; A c t 5 , 4 1 ; 9 , 1 6 ; 15,26; 2 1 , 1 3 ; R o m 8,36: zit. L X X Ps 43,23 unter Umdeutung auf Christus; II K o r 4 , 1 1 ; Phil 1,29; I Petr 4 , 1 4 ; Apk 2 , 3 ; vgl. auch II T i m 3 , 1 2 ) , die - » G e r e c h t i g k e i t ( M t 5 , 1 0 ; I Petr 3 , 1 4 ) , der kdyot; ( M k 4 , 1 7 par.; s. auch Apk 1,9; 6 , 9 ; 20,4) oder das Evangelium ( M k 8 , 3 5 ; 10,29 - jeweils mk R e d a k t i o n ) . - Traditionsgeschichtlich stehen hinter diesen Aussagen Formulierungen, die im Z u s a m m e n h a n g der frühjüdischen Darstellung des leidenden Gerechten Verwendung finden: Dieser leidet „ u m G o t t e s " (Ps 4 4 , 2 3 ; 6 9 , 8 ; IV M a k k 9,8; 16,19.25; vgl. auch J e r 15,15) oder „ u m des Gesetzes w i l l e n " (II M a k k 7 , 9 . 1 1 . 2 3 . 3 7 ; 8 , 2 1 ; IV M a k k 6 , 2 7 . 3 0 ; 13,9; 16,14; J o s e p h u s , Ant 12,281; vgl. I M a k k 2 , 5 0 ; weitere T e x t e bei Kellermann 71 ff (Nr. 4 - 1 0 ) .

2.2. Nahezu alle neutestamentlichen Überlieferungsbereiche belegen, daß diese Konfrontation mit dem Leiden in den jungen Gemeinden Krisensituationen evozierte, die zentrifugale Kräfte freisetzen und zur Abwendung vom Glauben führen konnten (vgl. Mk 4,17; 8 , 3 4 - 3 8 ; Joh 12,42f; 16,1; I Thess 3,3 f; II Tim 1,8.12; 2,12f; I Petr 4,16; Hebr [s. u. Abschn.6]; I Joh [s. E. Stegemann: T h Z 41,284-294]; Apk 2,13; 3,8). Dem entspricht, daß im Vordergrund der neutestamentlichen Leidensaussagen die Intention steht, dem Leidensgeschick der Christen seinen Charakter als Differenzerfahrung zu nehmen (explizit z.B. Mk 13,5.9.23; I Petr 4,12) und den Gemeinden damit seine Bewältigung, d.h. eine positive Einstellung zu ihrem Leiden zu ermöglichen (vgl. Klein 257). Die zu diesem Zweck beigezogenen Dcutckategorien sind in der alttcstamcntlich-jüdischen Tradition vorgebildet (vgl. Wichmann; Korn; Wolter, Rechtfertigung 139ff; Kleinknecht 56ff; Kellermann 71 ff) und wollen das Leiden als Bestandteil des heilvollen Umgangs Gottes mit dem Frommen verstehbar machen: Deutung des Leidens als Versuchung ( napaopdi) und Prüfung (SoKifii/): Lk 8 , 1 3 (statt ij öicoypö^ in M k 4 , 1 7 ) ; Act 2 0 , 1 9 ; R o m 5,3 f; II Kor 8,2; I T h e s s 3 , 5 ; H e b r 2 , 1 8 ; 4 , 1 5 ; I Petr 1,6 f; 4 , 1 2 ; Apk 2 , 1 0 (vgl. auch Lk 2 2 , 2 8 ) . Das Leiden wird in diesem Z u s a m m e n h a n g begriffen als von G o t t für den Glaubenden vorgesehene Gelegenheit, die Belastbarkeit und Echtheit seines G l a u b e n s zu erweisen. P r o b a n d u m von Prüfung und Versuchung ist d e m g e m ä ß vor allem der G l a u b e (vgl. Lk 8 , 1 3 ; I T h e s s 3,5; II T h e s s 1,4; I Petr 1,6 f; Apk 2 , 1 0 ; s. auch H e b r 1 1 , 3 6 - 3 9 ) , und gefragt ist angesichts des Leidens die Tugend der „ S t a n d h a f t i g k c i t " ( i m o f t o v i j , vgl. M k 13,13; R o m 5,3 f; 12,12; II K o r 1,6; 6 , 4 ; II T h e s s 1,4; II T i m 2 , 9 f ; 3 , 1 0 f ; H e b r 10,32.36; J a k 5 , 1 0 f ; I Petr 2 , 2 0 ; Apk 1,9; 2 , 2 f ; 13,10). Deutung des Leidens als Erziehung bzw. Züchtigung(jiaiSeia) durch Gott: I Kor 1 1 , 3 0 - 3 2 ; II K o r 6 , 9 ; H e b r 12,5 ff; Apk 3 , 1 9 . Von der Vorgeschichte dieser Kategorie her (vgl. Sanders; O . M i c h e l , H e b r , 7 1 9 7 5 , 4 3 9 f ) ist es möglich, die Erfahrung des Leidens als Erfahrung der Z u w e n d u n g G o t t e s wahrzunehmen ( H e b r 12,5ff; Apk 3 , 1 9 zitieren Prov 3,11 f bzw. spielen darauf an) und das Leiden positiv als Ausdruck eines engen Gottesverhältnisses zu begreifen (vgl. die Zuspitzung in H e b r 1 2 , 7 f ) . Die nicht von G o t t E r w ä h l t e n werden nicht gezüchtigt, sondern vernichtet.

Eschatologische Leidensdeutung: Unter Rückgriff auf apokalyptische Traditionen (—>Apokalyptik) werden k o n k r e t e Verfolgungserfahrungen als Bestandteil der endzeitlichen Drangsal begriffen, die durch die die G e g e n w a r t beherrschende widergöttliche M a c h t heraufgeführt ist ( - » A p o k a lypse des J o h a n n e s ; M k 13 sowie die Leidensdeutung der Logienquelle: vgl. hier vor allem die in L k 1 0 , 2 f bewahrte Z u o r d n u n g des Logions von der Sendung der B o t e n „wie Schafe unter die W ö l f e " zur Ansage des E s c h a t o n s ; M t 11,12 par.; Lk 1 1 , 4 9 - 5 2 par.; s. dazu insgesamt P. H o f f m a n n , Stud. zur T h e o l . der Logienquelle, 3 1 9 8 2 , 6 6 ff.293 ff). Diese Drangsal vermag die G e m e i n d e in der G e w i ß h e i t des unmittelbar bevorstehenden Anbruchs der Herrschaft G o t t e s durchzustehen. D i e Vergewisse-

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L e i d e n III

rung der Abfolge von gegenwärtigem Leiden und zukünftiger Herrlichkeit zielt hierbei darauf ab, die augenblickliche Bedrückung zu relativieren, was bisweilen noch dadurch verstärkt wird, daß das Leiden gegenüber dem zukünftigen Heil als nur geringfügig oder „kurz" dargestellt wird (Mt 5,10; 5,11 f par.; Mk 10,28-31; Act 14,22; Röm 8,18; II Kor 4,17f; II Thess 1,4-7; I Petr 1,4-6; 4,13.17; 5,10; Apk 20,4; II Makk 7,36; Weish 3,5; syrBar 44,8; 48,50; Josephus, Bell 1,653). Röm 8,17 (s. dazu u. Abschn. 3.5); II Tim 2 , 3 . l l f ; Apk 3,21 (vgl. auch Phil 3,10) begründen diese Abfolge durch den Verweis auf das entsprechende Geschick Christi (vgl. Lk 24,26), das die zu ihm Gehörenden mit ihm teilen werden (s. auch u. Abschn. 3.1). - In diesen Zusammenhang gehört auch das Motiv der Freude im Leiden (vgl. dazu Nauck; Ruppert 176ff; Millauer 165ff; Kellermann 73 [Nr. 25]): Traditionsgeschichtlicher Ausgangspunkt sind Aussagen, in denen das eschatologische Heil, das auf das Leiden für die Standhaften folgt, Grund und Gegenstand der -»Freude ist (Freude trotz des Leidens; vgl. Josephus, Bell 1,653; Tob 13.16BA; Jer 31,13; Testjud 25,4; 1QS 4,6 f; äthHen 103,3; IV Esr 7,96). Im Neuen Testament reflektiert I Petr 1,6 dieses Stadium (s.auch Phil 2,17). Von dorr aus wird über die Zuordnung von Leiden und eschatologischer Herrlichkeit (s.o.) die Freude dann direkt auf das Leiden bezogen (Freude über das Leiden; syrBar 52,6; Act 5,41; Röm 5,3 f; II Kor 7,4; 8,2; Kol 1,24; I Thess 1,6; Hebr 10,34; I Petr 4,13; s. auch Hebr 11,25 f). Alle T e x t e w o l l e n nicht lediglich ü b e r d a s Leiden b e l e h r e n , s o n d e r n es geht ihnen d a r u m , negative L e i d e n s e r f a h r u n g positiv in d e n Vollzug christlicher E x i s t e n z zu integrieren; ihre Lcidcnsdeutung d i e n t d e r Leidcnsbewältigung: Angesichts der bedrängenden E r f a h r u n g des Leidens w e r d e n die G e m e i n d e n t r ö s t e n d ihrer I d e n t i t ä t als von G o t t erw ä h l t e r e s c h a t o l o g i s c h e r H e i l s g e m e i n s c h a f t vergewissert (vgl. J o h 16,33). - D a r ü b e r hina u s eignet d e r a r t i g e r L e i d e n s d e u t u n g p a r ä n e t i s c h e F u n k t i o n , s o f e r n sie z u r b l e i b e n d e n B e w a h r u n g d e r ausschließlichen H e i l s o r i e n t i e r u n g a n Jesus C h r i s t u s a u c h im Leiden veranlassen will (vgl. z. B. M k 13,13; II T i m 2,12; H e b r 10,36; A p k 2 , 1 0 f ; 14,12 f s o w i e d e n p a r ä n e t i s c h e n R ü c k g r i f f auf a l t t e s t a m e n t l i c h e Vorbilder in H e b r 11,25 f.35 ff; J a k 5,10 f). — Was es d e n f r ü h e n C h r i s t e n a b e r in inhaltlicher Folgerichtigkeit v o r allem e r m ö g l i c h t e , d a s Leiden als Bestandteil g e r a d e d e r christlichen E x i s t e n z w a h r z u n e h m e n , w a r d a s Leidensgeschick Jesu Christi selbst (vgl. bereits o. A b s c h n . 1.2f): Jesu eigenes Leiden u n d Sterben w u r d e zur m a ß g e b l i c h e n G r u n d l a g e u n d M i t t e d e r f r ü h c h r i s t l i c h e n Leidenstheologie in ihren u n t e r s c h i e d l i c h e n A u s f o r m u l i e r u n g e n , v o n d e n e n d i e wichtigsten im f o l g e n d e n skizziert w e r d e n sollen. 3.

Paulus

3.1. Der leidende Apostel als Teilhaber am Leidensgeschick Jestt. Eine g a n z e R e i h e von T e x t e n lassen e r k e n n e n , d a ß —»Paulus seine eigenen L e i d e n s e r f a h r u n g e n als Folge u n d Bestandteil seines a p o s t o l i s c h e n A u f t r a g s d e r m i s s i o n a r i s c h e n V e r b r e i t u n g d e r Heilsb o t s c h a f t w a h r n i m m t (vgl. a u ß e r P h l m 1.9.13 n o c h II K o r 1,6; 4,11; 12,15; Phil 1,7.13; 2,17; I T h e s s 2,2). C h a r a k t e r i s t i s c h ist d a b e i a b e r n u n , d a ß P a u l u s sein eigenes Leidensgeschick mit d e m j e n i g e n Jesu Christi v e r k n ü p f t : Die naS^iata roß Xpiarov sind ü b e r ihn „ a u s g e g o s s e n " (II K o r 1,5; vgl. a u c h Phil 3,10), u n d er t r ä g t a n seinem Leibe die VEKpmaiQ (II Kor 4,10) b z w . die axiyfiaxa Jesu (Gal 6,17). D a s hierin a u s g e d r ü c k t e Verhältnis v o n C h r i s t u s - u n d Apostclleiden ist w e d e r m y s t i s c h (gegen S c h n e i d e r ; Schweitzer u . a . ) n o c h als ein „ c h r i s t o l o g i s c h e s E p i p h a n i e g e s c h c h c n " ( G ü t t g e m a n n s 107), s o n d e r n im Sinne einer d u r c h g e m e i n s a m e T e i l h a b e a n e i n e m realen G e s c h i c k hergestellten G e m e i n s c h a f t (vgl. KOivaivia in Phil 3,10) zu v e r s t e h e n : In seinem u m C h r i s t i u n d d e r V e r k ü n d i g u n g des E v a n g e l i u m s willen g e t r a g e n e n Leiden e r f ä h r t P a u l u s sich m i t seiner g e s a m t e n Existenz als d e m g e k r e u z i g t e n H e r r n z u g e h ö r i g (zum f r e u n d s c h a f t s e t h i s c h e n H i n t e r g r u n d dieses G e m e i n s c h a f t s v e r s t ä n d n i s s e s vgl. W o l t e r , A p o s t e l , A b s c h n . II, 1 b). A u f g r u n d dieser d u r c h d a s Leiden hergestellten Z u g e h ö r i g k e i t zu C h r i s t u s b e k o m m t P a u l u s Anteil a u c h a n dessen A u f e r s t e h u n g (vgl. II K o r l , 9 f ; 4 , 1 0 f ; 13,4; Phil 3 , 1 0 f ) , d i e sich f ü r d e n A p o s t e l in d e r R e t t u n g a u s d e r T o d e s g e f a h r (II K o r l , 9 f ) w i e a u c h im Leiden selbst, u n d z w a r in d e r B e w a h r u n g v o r d e r P r e i s g a b e a n d i e Heillosigkeit d e r G o t t e s f e r n e , erweist ( 4 , 8 - 1 1 ) . P a u l u s k a n n sich d a r u m in A n k n ü p f u n g a n e n t s p r e c h e n d e a l t t e s t a m e n t l i c h - j ü d i s c h e Selbstberichte als l e i d e n d e n G e r e c h t e n d a r s t e l l e n , d e r d i e i h n ins R e c h t setzende u n d seine E r w ä h l u n g b e s t ä t i g e n d e Z u w e n d u n g G o t t e s als T r o s t im Leiden e r f ä h r t (II K o r 1,4 f; vgl.

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z.B. Jes 57,17ff; Ps 86,17; 94,19; 119,50.52.76.82; 1 Q H 9,13; Testjos 1,6). Der Trost besteht in den außerneutestamentlichen Texten darin, daß der Leidende seiner Zugehörigkeit zu Gott versichert wird; Paulus nimmt diese Zugehörigkeit in der Erfahrung seiner Leiden als 7ta9rjfiaTa TOV XpioxoO wahr. 3.2. Leiden und Kreuz Christi. Z u m Korrelat des spezifischen Inhalts seiner Verkündigung macht Paulus sein apostolisches Leidensgeschick dort, wo dieser Inhalt das -»Kreuz und dessen Heilsbedeutung ist: Im -»Galaterbrief integriert Paulus die Deutung seines Leidens in die Verteidigung der Freiheit der Glaubenden vom -•Gesetz. Zufolge der auf den ganzen Brief berechneten Bemerkung in 6,17 begründet sein Leiden seine apostolische Autorität, weil die dabei empfangenen Narben (vgl. II Kor 11,23—27) als axiypaxa xov 'Iijcrov Zeichen der paulinischen Leidensgemeinschaft mit dem Gekreuzigten sind. Allein dieser und das Skandalon seines Kreuzes aber sind als Garanten der Freiheit vom Gesetz auch der exklusive Inhalt der paulinischen Verkündigung (vgl. Gal 3,1; 6,14) und der maßgebliche Grund für des Apostels Verfolgungsleiden (5,11; 6,12): Das Leidensgeschick des Apostels belegt darum die Authentizität seiner Heilspredigt, denn deren Inhalt ist das Kreuz. - Analog macht zufolge I Kor 2 , 2 - 5 die äußere Schwäche (s.u. Abschn.3.3) der paulinischen Existenz als Modus der apostolischen Verkündigung (V. 3) sichtbar, daß nicht menschliche Weisheit, sondern allein Gott das Heil zueignen kann (V.5), denn in ihr spiegelt sich, daß Gott im abgründigen Geschehen des Kreuzes zum Heil gehandelt hat (1,18 ff). 3.3. Leiden und apostolisches Amt. In der Korrespondenz mit der korinthischen Gemeinde (-»Korintherbriefe) stehen die paulinischen Aussagen über sein Leidensgeschick im Kontext der Auseinandersetzung um seine apostolische Autorität. Kristallisationspunkt dieser Auseinandersetzung ist die von seinen Gegnern Paulus zum Vorwurf gemachte (II Kor 10,10) Schwäche (aoScvcia) seines leiblichen Auftretens. Dem entspricht, d a ß Paulus seine apostolische Existenz mit Ausnahme von Gal 4,13 nur im Zusammenhang dieser Kontroverse mit diesem Begriff und seinen Stammverwandten beschreibt, und zwar außer in I Kor 2,3; 4,10 wiederum nur im sog. „Tränenbrief" (II Kor 11,21.29 f; 12,5.9 f; 13,4.9). D a s d e m Konflikt zugrundeliegende Verständnis von &o9i\xia ist auf d e m H i n t e r g r u n d d e r religionsgeschichtlichen Provenienz d e r G e g n e r zu b e s t i m m e n , bei denen es sich in beiden Briefen jeweils u m m i t e i n a n d e r v e r w a n d t e E r s c h e i n u n g s f o r m e n hellenistisch-jüdischen P n e u m a t i k e r t u m s h a n d e l n d ü r f t e (vgl. zuletzt G . Sellin, D e r Streit u m die A u f e r s t e h u n g der T o t e n , 1986, 65 ff): D e r gegen Paulus gerichtete Vorwurf basiert auf der A n s c h a u u n g von der d u r c h die leibliche Substanz bedingten „ S c h w ä c h e " der menschlichen Kreatürlichkcit (vgl. Weish 9,5; Philo, A b r 7 6 ; V i t M o s 1,84; SpecLcg 4,201; C h e r 89; Sacr 139; I m m 80; IV Esr 14,14), die erst d u r c h den E i n s t r o m p n e u m a t i s c h e r D y n a m i s ü b e r w u n d e n w i r d . D e r von den G e g n e r n des II Kor gegen P a u l u s e r h o b e n e (und h i n t e r I Kor 1 - 4 implizit s i c h t b a r werdende) Vorwurf bestand d a n n d a r i n , n o c h d e r nichtigen Beschaffenheit des Kreatürlichen u n t e r w o r f e n zu sein (vgl. II Kor 10,2).

Im Gegenzug streitet Paulus diesen Vorwurf nicht ab, sondern kehrt ihn zum positiven Kriterium seines Gesandtseins durch Gott um, so daß er sich gerade seiner Schwäche „ r ü h m e n " kann (II Kor 11,30; 12,5.9). Wenn er für sich und seine Verkündigung die Präsenz von Gottes Dynamis reklamiert, so ist dies für ihn nicht anders aussagbar, als daß diese Dynamis ihre notwendige Entsprechung in seiner leiblichen Schwäche und deren Konkretion, dem Leiden, findet. Durch die Verleihung göttlicher Kraft wird die Unterworfenheit unter das Leiden nicht aufgehoben; sie bildet vielmehr diejenige existentielle Befindlichkeit, durch die allein die apostolische Dynamis Gottes Kraft bleibt (vgl. II Kor 12,9 f). In diesem Z u s a m m e n h a n g k a n n Paulus d a r u m in einer R e i h e von gleichlautenden G e g e n ü b e r stellungen g e r a d e auf sein Leidensgeschick als Ausweis d a f ü r verweisen, d a ß seine apostolische Vollmacht nicht menschlicher H e r k u n f t ist, s o n d e r n von G o t t s t a m m t : I Kor 2,5 (s.o.): d a m i t d e r G l a u b e nicht auf menschlicher Weisheit, s o n d e r n auf der D y n a m i s G o t t e s basiere; II Kor 1,9: Leiden, d a m i t wir nicht „ a u f uns selbst" s o n d e r n „ a u f G o t t " Vertrauen setzen; 3,5: Die apostolische wca-

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vöxtjQ kommt nicht „von uns selbst", sondern „von G o t t " (s. auch 10,18); 4,7: Die apostolische Dynamis stammt „von Gott und nicht von uns", denn Paulus trägt den „Schatz", d.h. die öö£a seines Amtes (vgl. 3,8ff), nur im „irdenen Gefäß" seiner hinfälligen äußeren Existenz (vgl. 4,16). Konkretisiert wird diese Hinfälligkeit dann in der ab V.8 folgenden Aufzählung der Leiden des Apostels. Es handelt sich hierbei um den ersten der in II Kor an mehreren Stellen begegnenden sog. apostolischen Peristasenkataloge ( 4 , 8 - 9 ; 6 , 4 - 1 0 ; 11,23 - 2 9 ; 12,10; außerdem I Kor 4 , 9 - 1 3 ; s. auch II Tim 3,10f; vgl. dazu jeweils mit älterer Lit. Schräge, Leid; Hodgson; K. Berger: ANRW II/25/2 [1984] 1 3 5 5 - 1 3 5 9 ; ders., Formgesch. des NT, 1 9 8 4 , 2 2 5 - 2 2 8 ; Fitzgerald). Ihren traditionsgeschichtlichen Hintergrund haben sie in (auto)biographischen Aufzählungen von Leidenswiderfahrnissen (vgl. Testjos 1 , 4 - 7 ; Plutarch, mor. 3 2 7 a - c ; Arrian, an. VII,9,6-10,2). Die Intention der Katalogform besteht (wie auch in den Pflichten-, Tugend- und Lasterkatalogen) darin, den Eindruck von Vollständigkeit zu vermitteln.

Leitthema der paulinischen Peristasenkataloge ist das apostolische Amt (vgl. II Kor 4,7; 6,3f; 11,23; 12,9): Die Peristasen signalisieren zum einen, daß Paulus über keinerlei eigene ¡Kdvöxtjq (II Kor 3,5) oder Sovapiq (4,7) verfügt, sondern sein Amt Gottes Gnadengeschenk ist (12,9) und darum allein auf Gottes Dynamis basiert (s.o.). Dadurch gelingt es Paulus, seine eigene apostolische Existenz zur Verifikation seiner Rechtfertigungsbotschaft zu machen (vgl. Schräge, Leid 152 sowie die den oben aufgeführten Gegenüberstellungen analogen in Rom 10,3; Phil 3,9). Weil dies aber zum anderen so ist, kann Paulus gerade im Leiden seine Erwählung wahrnehmen (vgl. die Antithesen in II Kor 4,8 ff; 6,9 f sowie 12,10: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark"). 3.4. Die leidende Gemeinde als Teilhaberin am Leidensgeschick des Apostels. Wenn Paulus in Briefen an von ihm gegründete Gemeinden (und nur in diesen; zum Rom s. Abschn. 3.5; vgl. die ausführlichere Darstellung bei Wolter, Apostel) auf deren Leidenserfahrungen zu sprechen kommt (II Kor 1,6 f; Phil 1 , 2 7 - 3 0 [s. dazu Walter]; I Thess 1,6; 2,13 f; 3,3 f), ordnet er diese stets seinem eigenen apostolischen Leiden zu und macht sie zu einem konstitutiven Element der durch Verkündigung und Annahme der Heilsbotschaft begründeten und seitdem als gemeinsame Teilhabe am Evangelium bestehenden Gemeinschaft zwischen Apostel und Gemeinde (vgl. expressis verbis Phil 1,5). Dieser Sachverhalt zeigt (gegen Güttgemanns) an, daß Paulus sich gegenüber der Gemeinde durch sein Leiden nicht für ausgezeichnet hält. Vielmehr kommt hier das Leiden gerade als gemeinsame Erfahrung in den Blick, die Apostel und Gemeinde auf der Basis des Evangeliums miteinander verbindet. Diese Basis stellt gleichzeitig sicher, daß die Lcidcnsgemeinschaft von Gemeinde und Apostel sich nicht zu einer bloßen Analogie oder Verlängerung der paulinischen Teilhabe an Jesu Leiden verselbständigt. Wenn Paulus die Leidenserfahrungen der Gemeinden mit den seinen identifiziert (II Kor 1,6: xd auxd na9rjpaxa\ Phil 1,30: 6 avrög ayebv) oder die Gemeinden zu „Teilhabern" (II Kor 1,7: Koivcovoi) bzw. zu „Nachahmern" (I Thess 1,6: fiipqxai, hier zu verstehen im Sinne eines objektiv bestehenden gemeinsamen Geschicks; s. auch 2,14) seines Leidens werden läßt, so ist die hierin explizierte Selbigkeit des Leidens darin begründet, daß die Leiden der Gemeinde wie die des Apostels na9rjßjaxa roßXpiaxoö sind (II Kor 1 , 5 - 7 ; s.o.); wie Paulus ev Xpiaxü) gefangen ist (Phil 1,13), leidet die Gemeinde vnep Xpiaxov (1,29). Apostel und Gemeinde leiden um des Evangeliums willen: jener, weil er es verkündigt, diese, weil sie es angenommen hat. Entsprechend partizipiert die Gemeinde auch am Trost, den Paulus empfangen hat (II Kor 1 , 4 - 7 ) . - Zufolge I Thess 1,5 f; 2,2 (als Konkretion von 1,5) wird die Leidensgemeinschaft von Apostel und Gemeinde dadurch hergestellt, daß der paulinischen Verkündigung des Evangeliums ev KO?JM ÄYCÜVI (2,2) dessen Aufnahme e'v 9My/EI NOAAIJ auf Seiten der Gemeinde entsprochen hat (1,6). Weil demgemäß das Leiden der Thessalonicher seinen Grund darin hat, daß sie die paulinische Verkündigung als Wort Gottes aufgenommen haben (2,13 f), wird ihr Leidensgeschick zum Zeichen der lebendigen Präsenz des Evangeliums unter ihnen. Im Leiden sind Apostel und Gemeinde kraft göttlicher Setzung (3,3 b) zusammengeschlossen (3,3 f), und diese Gemeinschaft hat die Gemeinde ihrerseits dadurch zu bewahren, daß sie sich nicht durch Abwendung vom Glauben dem Leiden entzieht (3,2 f), sondern „im Herrn steht" ( 3 , 6 - 8 ) . - Analog versteht sich in Phil 1,27ff die

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Aufforderung zur ausschließlichen Existenzorientierung (7iohtEvea9ai) am Evangelium gerade im Leiden (1,27) als Aufforderung, die Koinonia mit dem leidenden Apostel auch über die räumliche Trennung hinweg zu bewahren. N e b e n dieser theologischen Verortung des Leidens dient a u c h die hellenistische S p o r t m e t a p h o r i k {oovaiMsTv Phil 1,27; äytbv 1,30; vgl. Pfitzner, bes. 114ff) d e m Z w e c k , der G e m e i n d e eine positive A k z e p t a n z ihrer L e i d e n s e r f a h r u n g zu ermöglichen: Diese a u c h in IV M a k k 6,10; 9,23; 11,20 u . ö . ; syrBar 15,8; T e s t H i 4,10; 2 7 , 3 - 5 (vgl. Pfitzner 57ff; Kellermann 73 [Nr. 23]; B. D e h a n d s c h u t t e r : E n t s t e h u n g 215 ff) zur D e u t u n g des Leidens herangezogene Begrifflichkeit will d a s Leiden als „ m i t d e m sportlichen W e t t k a m p f . . . v e r b u n d e n e Anstrengungen u n d E n t b e h r u n g e n " (G. D a u t z e n b e r g : Exeget. W b . z. N T 1,60) verstehen lehren, an deren erfolgreich erlangtem E n d e d e r Siegespreis (hier die acorrjpia: 1,28) steht. Die G e m e i n d e wird d a d u r c h in d a s Leiden nicht als in ein passiv hinzunehmendes W i d e r f a h r n i s , s o n d e r n als in einen von ihrer Seite aus aktiv zu gestaltenden u n d d a m i t g e w i n n b a r e n Kampf eingewiesen (vgl. auch die U b e r w i n d e r s p r ü c h e in Apk 2,3/7.10f. 13/17.26; 3 , 4 f . l 0 / 1 3 . 2 1 ; 12,11; 21,7).

3.5. Leiden und Eschatologie. Wenn Paulus in Rom 5 , 2 - 5 und 8 , 1 7 - 3 9 die christliche Erfahrungwirklichkeit des Leidens im Zusammenhang seiner -»Eschatologie thematisiert, so geschieht dies, ohne daß er (trotz 8,18; s. auch II Kor 4,17) angesichts einer leidvollen Gegenwart lediglich auf eine bessere Heilszukunft vertröstete und die Gegenwart damit ihrer heilvollen Bestimmtheit durch das Christusgeschehen entleerte. Vielmehr wird die gegenwärtige Leidenswirklichkeit als eine solche zur Sprache gebracht, die von der ihr vorgängigen, weil im Christusgeschehen gründenden Gewißheit zukünftiger Heilsteilhabe umgriffen ist. - Weil die Christen mit Christus durch den —»Geist verbunden sind (vgl. 8,9-11), gilt für sie nach 8,17 die gleiche Abfolge von Leiden und Herrlichkeit wie für diesen. In 8,18-25 stellt Paulus die Realität des Leidens der Christen in kosmisch-dualistischem Rahmen als Ausdruck der in ihrer Kreatürlichkeit begründeten Hcilsfernc dar, in der sie mit der gesamten Schöpfung verbunden sind (8,18-23), und formuliert auf dieser Basis den eschatologischen Vorbehalt: Die christliche Leidenswirklichkeit zeigt an, daß die gegenwärtige Heilswirklichkeit des Geistes allein im Modus der -»Hoffnung präsent ist (8,24f), die aber der zukünftigen Erlösung gewiß ist (8,23). - In unterschiedlicher Nuancierung bildet der Rekurs auf die Hoffnung Ausgangs- und Zielpunkt des Gedankenganges von 5 , 2 - 5 : Paulus expliziert hier die Gewißheit zukünftiger Hcilsvollendung (5,2 b) auf der Basis der Leidcnswirklichkeit, die der christlichen Existenz vorgegeben ist, mit Hilfe eines Kettcnschlusses (s. dazu Wolter, Rechtfertigung 137ff), der frühjüdische Leidensdeutung aufnimmt und (wie auch 8,25) die vnofiovt) (s.o. Abschn. 2.2) als die in der Leidenssituation vom Glaubenden geforderte Haltung benennt. Hierbei wird das Leiden als der Ort bestimmt, in dem die Z u k u n f t in die Gegenwart hineinreicht und Heil stiftet, insofern sie im Leidenden als Hoffnung Gestalt gewinnt, die ihrer Erfüllung gewiß ist. Daß dies eine Hoffnung ist, die nicht nur Ausständigkeit von Heil markiert (8,24 f), sondern als in der gegenwärtigen Leidcnswirklichkeit präsente Heilsgabe erfahren werden kann, begründet der Verweis auf die -»Liebe (5,5 b.8; 8,35.37.39), die Gott in der Hingabe seines eigenen Sohnes für die Gottlosen und Sünder erwiesen hat (5,6.8; 8,32). Der hierin offenbar gewordene unbedingte und sich über alle Widerstände hinwegsetzende Hcilswille Gottes kann auch durch das Leiden nicht widerlegt werden, weil er im Christusgeschehen wahrnehmbar bleibt. Diese Gewißheit läßt darum im Leiden nicht zuschanden werden, weil sie Hoffnung ermöglicht (5,5 unter Rückgriff auf LXX Ps 21,6; 24,20; mit Kleinknecht 330, gegen Wolter, Rechtfertigung 150 f), ebenso wie sie im Leiden als „Sieg" über die Gegenmacht des Leidens erfahren wird (8,37: Präsens!): Im Leiden ist die heilvolle Zugehörigkeit zu Gott nicht suspendiert, denn es gibt keine Macht, die Gottes „Für-uns-sein" außer Kraft setzen (8,31; vgl. auch die Gegenüberstellungen in V.32ff) und die Leidenden von Gottes heilstiftender Liebe trennen könnte (8,35.39). 3.6. Zusammenfassung. Die skizzierten paulinischen Umgangsweisen mit der christlichen Leidenswirklichkeit lassen sich zu einem leidenstheologischen Grundkonzept zu-

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Leiden III

sammenfügen. Eine hermeneutische Annäherung an die paulinische Leidenstheologie wird stets zu bedenken haben, d a ß Paulus an keiner Stelle über das Leiden als Außenstehender und Nichtbetroffener schreibt, sondern immer nur als einer, der von derselben Leidenswirklichkeit betroffen ist wie seine Adressaten: 1. Das Leiden zeigt an, d a ß die Christen nicht der Welt entnommen sind, sondern weiterhin in ihren weltlichen Bezügen leben. Es ist Folge des in der christlichen Existenz des einzelnen wie der Gemeinde stattfindenden Aufeinandertreffens von Heilswirklichkeit und Weltwirklichkeit. 2. Das Leiden evoziert d a r u m nicht die Frage nach der -»Gerechtigkeit Gottes (-»Theodizeeproblem), und es verbirgt auch nicht die N ä h e Gottes (hierin unterscheidet sich die paulinischc Leidenstheologie von Aussagen wie in Jes 57,17; T e s t j o s 2,6 b u.ö., denen zufolge Gottes Ferne und menschliches Leiden ursächlich miteinander verbunden sind), denn Gottes Heilswille bleibt im Christusgeschehen w a h r n e h m b a r und versichert der Zugehörigkeit zu G o t t auch im Leiden. 3. Das Leiden markiert d a r u m nicht die definitive Abwesenheit von Heil und erwartet dieses allein von der noch ausstehenden Z u k u n f t , sondern es läßt „Tag für T a g " (II Kor 4,16) Erfahrung von Heil zu, die im Trost (II Kor 1), in H o f f n u n g (Rom 5), in der Gemeinsamkeit des Glaubens (Phil 1; vgl. V.29: das Leiden ist „geschenkt"), in der Gewißheit, von Gott geliebt zu sein (Rom 5; 8), in der Freude (I Thess 1) sowie in zur Sendung autorisierender Kraft und G n a d e Gottes (II Kor 1 0 - 1 3 ) Gestalt gewinnt. Umgekehrt heißt dies, d a ß Gottes N ä h e und Heilswille nicht nur in der Abwesenheit von Leiden w a h r n e h m b a r sind. 4. Das Leiden isoliert nicht, denn es stellt in Gemeinschaft nicht nur mit anderen Leidenden (vgl. I Kor 12,26; I Thess 2,14), sondern vor allem mit dem leidenden Gottessohn und erweist darin die nicht a u f h e b b a r c Zugehörigkeit der Leidenden zu diesem. 5. Das Leiden weist den Menschen von sich selbst und dem Versuch eigener Heilssicherung weg, denn es ist eine dem einzelnen schlechthin überlegene Macht. Weil diese aber durch Gottes M a c h t begrenzt und durch Gottes Heilswillen umgriffen ist, lehrt es ihn, auf Gott zu schauen und von ihm her die hcilvollc Integrität seiner Existenz zu empfangen. 4.

Patilusschule

4.1. D a ß das Leiden ein wesentlicher Bestandteil der paulinischen Existenz ist, fließt auch in das nachpaulinischc Paulusbild ein. Auch der nachpaulinischc Paulus leidet um Jesu Christi und um des Evangeliums willen (Eph 3,1; 4,1; Kol 4,3; II T i m 1,12; 2,9 f; 3,11; Act 9,16; 15,26; 21,13; s. auch 5,41) und setzt sein Leben für die Gemeinden ein (Eph 3,1.13; Kol 1,24). Die Ubereinstimmung mit den authentischen Aussagen beruht kaum auf literarischer Abhängigkeit (vgl. aber Eph 3,1 par. Phlm 1), sondern dürfte durch paulinischc Sprach- und Personaltradition vermittelt sein. W ä h r e n d in der -»Apostelgeschichte d a s paulinische Leidensgeschick mit H i l f e der christologischen Anspielungen i n n e r h a l b der lukanischen P a u l u s d a r s t e l l u n g (vgl. z.B. Act 9,16/Lk 9,22; 17,25; Act 20,22f; 21,11/Lk 9,44; 18,32; Act 2 2 , 3 0 f f / L k 22,66ff; s. d a z u m i t weiteren Parallelen W. R a d i , Paulus u. Jesus im lukanischen D o p p e l w e r k , 1975; A. J. M a t t i l l : N T 17 [1975] 30ff; J. Roloff: E v T h 39 [1979] 529ff) auf d a s Leiden Christi bezogen w i r d , stellen die d e u t e r o p a u l i n i s c h e n Schriften keine derartige V e r b i n d u n g her.

4.2. In II T i m (-»Pastoralbriefe) wird der leidende und in den Tod gehende Apostel zum Vorbild f ü r seinen Nachfolger im Leiden für das Evangelium und das rechte Verhalten darin (1,8/12; vgl. auch 3,10f; 4,5). Hier findet sich auch erstmals der Gedanke der Militia Christi (2,3): Das Mitleiden und -sterben mit seinem Feldherrn gehört zu den Tugenden des antiken Soldaten (vgl. I Sam 31,5; H e r o d o t 5 , 4 7 ; Nicolaus v. D a m a s k u s bei Athenaeus 6,249a.b; Strabo 17,2,3; Josephus, Bell 3,390; Tacitus, hist. 2,49; s. mit weiteren Belegen: C. Spicq: Melanges bibliques en h o m m a g e au R.P. Beda Rigaux, 1970, 318 Anm. 3).

Leiden III 5.1.

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Petrusbrief

5.1. Die Leidenswirklichkeit, um deren Bewältigung es dem Verfasser des I Petr ( - • Petrusbriefe) geht, ist nicht die einer blutigen und staatlich organisierten Verfolgung (Simy/iOQ/öicbKeiv fehlt in I Petr, ebenso 9XTt//iq und S t a m m v e r w a n d t e ; die häufig in diesem Sinne interpretierte nvpoaiQ [Feuersglut] in 4 , 1 2 gehört mit l , 6 f in den Z u s a m m e n h a n g der Deutung des Leidens als Versuchung und Prüfung; s . o . Abschn. 2 . 2 ) , sondern besteht in der alltäglichen Erfahrung der sozialen Isolation und Diskriminierung der angeredeten Gemeinden von Seiten ihres nicht-christlichen gesellschaftlichen Umfeldes (vgl. 2 , 1 2 ; 3 , 9 . 1 6 ; 4 , 4 . 1 4 ) .

5.2. In dieser Situation geht es dem I Petr darum, die Autonomie des christlichen Leidens sicherzustellen. Er integriert die Leidensaussagen in die Paränese zum „guten Wandel unter den Heiden" (2,12; vgl. auch 3,2.16 sowie die Zusammenfassung des Briefinhalts in 5,12) und trägt dabei eine Grund-Bestimmung christlichen Leidens vor: Wenn die Christen diskriminiert oder gar kriminalisiert werden (vgl. 3,15), so darf dies seinen Grund nicht darin haben, daß sie für Verstöße gegen die geltenden Gesetze und Sozialnorm e n - w i e dies bei Mördern, Dieben u.ä. der Fall ist-leiden (2,20; 3,17c; 4,15), ihr Leiden seinen Grund also lediglich in der innergesellschaftlich festgeschriebenen Kausalität von Verfehlung und entsprechender Sanktion hätte. Demgegenüber muß das von den Christen zu ertragende Leiden im Sinne dieser Kausalität „ungerecht" sein (2,19). Es entgeht der Fremdbestimmung nur dann, wenn die Christen allein aufgrund ihres Christseins leiden (4,16: cbg Xpionavög, vgl. auch 3,14; 4,14). Von daher versteht sich die mitunter mit Leidensaussagen verbundene Aufforderung zum dya9onoieiv (2,15; 3,17; 4,19) von dem Bemühen her, christliches Leiden von einer heteronomen Bestimmung freizuhalten: Gerade bzw. ausschließlich in seiner nach weltlichen Maßstäben bestehenden Schuldlosigkeit (vgl. 2,19) ist die unverwechselbare Identität christlichen Leidens wahrnehmbar. Wenn die Christen unschuldig leiden, brauchen sie darin kein „fremdes", ihrem Selbstverständnis widersprechendes (4,12; vgl. III Makk 7,3) Geschick zu sehen. Denn gerade dadurch, daß sie allein „als Christen" leiden, stehen sie in Gemeinschaft mit dem leidenden Christus (4,13). Das unschuldige christliche Leiden bezieht seine Plausibilität vom Leidensgeschick Christi her und steht demgemäß unter der Gnade der göttlichen Erwählung der Christus Zugehörigen (2,19-21), weil auch Christus - wie 2,21 f unter Rückgriff auf Jes 53 ausführt (s. auch 3,18) - als der erwählte Gottesknecht unschuldig gelitten hat. Dieser wird dadurch zum paränetischen Vorbild (2,21) für das rechte Verhalten in einem unschuldig zu ertragenden Lcidcnsgeschick (vgl. 2,23 mit 3,9). Weil Christus als „Gerechter" litt (3,18), können diejenigen, die „um der Gerechtigkeit willen" leiden, selig gepriesen werden (3,14; s. auch 4,14). - Die in 4,12 aufgeworfene Frage nach dem Warum unschuldigen Leidens führt darum nicht in die Aporie, sondern wird vom Leiden Christi her beantwortbar, denn es ist Ausdruck der „Gemeinschaft" (V. 13) mit dem unschuldigen Leidensgeschick Christi. 6.

Hebräerbrief

Auch der -»Hebräerbrief weist die durch das Leiden angefochtene und von der Versuchung des Glaubensabfalls bedrohte Gemeinde (vgl. 2,18; 3,12; 4,15; 6,6) auf das Leiden Christi. Von den anderen ncutestamentlichen Ausformulierungen dieser Zuordnung unterscheidet er sich aber nicht nur insofern, als er auch Jesu Leiden als Versuchung darstellt (2,18; 4,15; s. auch 5,7); vielmehr erscheint das Verhältnis von Christus- und Christenleiden von der dem Hebr eigentümlichen Soteriologie her umgekehrt: Das Gefälle lautet hier nicht: ,Weil Christus litt, leiden auch die Christen', sondern (sinngemäß): ,Um seine leidenden Brüder zu erlösen, hat Christus das Leiden auf sich genommen.' Nicht vom Mitleiden der Christen mit Christus (Rom 8,17; s. auch Phil 3,10; I Thess 1,6; I Petr 2,21; 4,13) ist hier die Rede, sondern vom Mitleiden Jesu mit „unserer äo9evEia" (4,15; vgl. auch 5,2; zum inhaltlichen Verständnis des Begriffs s.o. Abschn.3.3). Zum Mitleiden wird Jesu Leiden dadurch, daß es Bestandteil seiner Menschwerdung, der Gleichwerdung mit seinen Brüdern (2,17; vgl. auch 2,14; 4,15) ist, die der präexistente

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Gottessohn auf sich nehmen mußte (2,17), um die Seinen zum Heil führen zu können. Damit ist auch der Ansatz für die Hohepriesterchristologie des Hebr gegeben: Jesu hohepriesterliche Heilsmittlerfunktion ist erst dadurch möglich geworden, daß er der leidvollen Existenzweise derer, denen er Zugang zum himmlischen Heiligtum verschafft, gleich wurde, daß das einmalige (9,26) „Leiden seines Todes" (2,9) ein Mitleiden mit diesen war. Seinen Ursprung hat das Erfordernis des Erlösungsvollzugs durch Gleichwerden und Mitleiden in der präexistenten Verbundenheit von Erlöser und zu Erlösenden (2,10ff), die als „Brüder" beide „von einem" abstammen (V.llf.17). Der fugenlose Anschluß der Leidensparänese des Hebr hieran wird dadurch möglich, daß sein Verfasser die gegenwärtige Situation seiner Adressaten auf Jesu Geschick überträgt und auch dessen Leiden als Versuchung darstellt (s.o.). Er kann seine Leser damit auf Jesus als den ebenfalls im Leiden Angefochtenen verweisen (vgl. 12,2.3), der in der Versuchung gehorsam (5,8) und darum „ohne Sünde" (4,15) blieb und vollendet wurde. Hierbei ergibt sich das paränetische Anliegen nicht lediglich vom Vorbildgedanken her, sondern ist weiter gefaßt: Erst wenn die Christen in ihrem Leiden wie Jesus der Versuchung nicht erliegen, sondern wie er gehorsam sind (5,9) und wie er der Sünde widerstehen (12,4; gemeint ist die drohende Gefahr des Abfalls vom Glauben; s. auch 10,26), werden sie ihm gleich (vgl. 13,12 f) und bekommen Anteil an seinem Heilsgeschick: Der im Leiden vollendete Gottessohn kann dadurch zum Stifter und Urheber auch ihres Heils werden (2,10; 5,9). 7.

Zusammenfassung

Wie der alttestamentlich-jüdischen Tradition (s.o. Abschn. I u. II) geht es auch den neutestamentlichcn Autoren darum, das als -»Entfremdung von der auf —»Heil angelegten schöpfungsmäßigen Bestimmtheit des -»Menschen wahrgenommene Leiden in den Glauben an den grundsätzlich Heil wollenden und Heil schaffenden Gott zu integrieren und von diesem Glauben her theologisch zu deuten. Zu diesem Zweck greift das frühe Christentum zunächst auf eine Reihe von Kategorien zurück, die alttestamentlicher und frühjüdischer Leidensdeutung entstammen (s. o. Abschn. 2). - Aus der anderen Richtung betrachtet, fällt allerdings auf, daß sich das Neue Testament des Gesjwiinventars der von jener Tradition bereitgestellten Leidensdeutungen überaus selektiv bedient, und zwar in aufschlußreicher Weise: Während diejenigen Kategorien, die das Leiden im Horizont des heilvollen Umgangs Gottes mit dem Frommen und Gerechten erklären, in breitem Umfang rezipiert werden (s. o. Abschn. 2.2), tritt die traditionell kaum weniger weit verbreitete Deutung der eigenen Leidenserfahrung im Kontext des Zusammenhangs von Tun und Ergehen, -»Sünde und Strafe im Neuen Testament nahezu vollständig zurück. Es ist sicher kein Zufall, daß diese Weise der Leidensdeutung mit Ausnahme von I Kor 11,30 (vgl. aber die unmittelbar folgende Relativierung in V. 32) nie auf das Leiden von Christen bezogen wird (vgl. Lk 21,20f; Act 12,23: Gottesfeindtypologie, s. W. Nestle: ARW 33 [1936] 2 4 6 - 2 6 9 ; auch Joh 9,2f). Die in diesem einseitigen Rückgriff auf die Tradition sichtbar werdende theologische Deutung des Leidens durch die Autoren des Neuen Testaments läßt sich auf einen doppelten Grund zurückführen: Zum einen spiegelt sich darin der Sachverhalt, daß es das aufgrund der eigenen Identität von seiten der nichtchristlichen Umwelt erlittene Leiden war, das in den frühen christlichen Gemeinden die Wahrnehmung menschlichen Leidens dominierte und vor allen anderen negativen Existenzerfahrungen nach einer theologischen Deutung verlangte. Diese Deutung konnte um so eher in der skizzierten Weise erfolgen, als die spezifische Leidenswirklichkeit ihr Korrelat in dem Selbstbewußtsein der Gemeinden als von der gottfeindlichen Welt ausgegrenzter eschatologischer Heilsgemeinschaft fand, die sich im Besitz des -»Geistes als gegenwärtiger wie als Zeichen zukünftiger Heilswirklichkeit wußte. Zum anderen bzw. vor allem anderen wird eine positive Integration des Leidens in den christlichen Existenzvollzug dadurch möglich, daß dieser sein Fundament und seine Mitte ausschließlich in Jesus Christus findet: Weil dieser selbst gelitten hat, kann der Leidende gerade in seinem eigenen Leidensgeschick seine heilschaf-

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fende Z u g e h ö r i g k e i t zu d e m E r h ö h t e n und W i e d e r k o m m e n d e n erfahren ( s . o . A b s c h n . 1 . 2 - 3 ; 3 - 6 ) . — D e m e n t s p r e c h e n d wird das Leiden der sich zu J e s u s Christus Bekennenden nicht als heilloser E n t f r e m d u n g s z u s t a n d der G o t t f e r n e begriffen, s o n d e r n kann als integraler Bestandteil christlicher E x i s t e n z plausibel g e m a c h t w e r d e n . Die sich d u r c h das g e s a m t e N e u e T e s t a m e n t hindurchziehende Benennung der mo/xovrj

als der in der Situa-

tion des Leidens v o m Glaubenden verlangten H a l t u n g ( s . o . S. 6 7 9 , 4 1 f) intendiert d a r u m unter den g e n a n n t e n Voraussetzungen w e d e r eine „ L e i d e n s r e c h t f e r t i g u n g " (U. H e d i n g e r , W i d e r die Versöhnung G o t t e s mit d e m Elend, 1 9 7 2 , 1 7 7 ) noch akzentuiert sie die F o r d e rung der passiven H i n n a h m e und Widerstandslosigkeit gegenüber d e m Leiden. Ihr ist es vielmehr allein d a r u m zu tun, den Glaubenden in die B e w a h r u n g der allein heilstiftenden Existenzorientierung an J e s u s C h r i s t u s a u c h im Leiden einzuweisen (vgl. T R E 1 2 , 1 4 0 f ) . Literatur Barnabas M . Ahem, T h e Fellowship of His Sufferings (Phil 3,10). A Study of St. Paul's Doctrine on Christian Suffering: C B Q 22 (1960) 1 - 3 2 . - Theofried Baumeister, Die Anfänge der Theol. des Martyriums, 1980 ( M B T h 45). - Günther Bornkamm, Sohnschaft u. Leiden. Hebr 1 2 , 5 - 1 1 : ders., Gesch. u. 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Leiden IV

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1.

Darstellungsprobleme

D e n k e n u n d S p r e c h e n ü b e r Leiden als einer - » E r f a h r u n g des m e n s c h l i c h e n u n d christlichen L e b e n s unterliegt b e s o n d e r e n B e d i n g u n g e n . Die A k t u a l i t ä t u n d die I n d i v i d u a l i t ä t v o n Leiden lassen die R e f l e x i o n , z u m a l d i e f r e m d e , stets als a b s t ä n d i g u n d flach erschein e n ; die geschichtlich e n t w i c k e l t e E r f a h r u n g s d i s p o s i t i o n u n d d e r D e u t u n g s r a h m e n , d e n d e r B e t r o f f e n e m i t a n d e r e n M e n s c h e n einer Lebens- u n d K u l t u r g e m e i n s c h a f t teilt, sind so k o m p l e x , d a ß n u r u n s i c h e r e , l ü c k e n h a f t e V e r s t ä n d i g u n g m ö g l i c h scheint. Die j ü n g s t e G e s c h i c h t e h a t Leiden j e d o c h in b e s o n d e r s irritierender Weise z u m A n s t o ß des D e n k e n s u n d H a n d e l n s g e m a c h t . Die E r f a h r u n g v o n Leiden e n t t ä u s c h t eine alltäglich g e w o r d e n e , d u r c h viele V e r b e s s e r u n g e n d e r L e b e n s v e r h ä l t n i s s e a u c h b e s t ä t i g t e E r w a r t u n g w e i t g e h e n d e r A b s c h a f f u n g d e s Leidens; d a ß d e r gesellschaftliche F o r t s c h r i t t a u c h neue Leiden erzeugt, w i r d d u r c h die V e r f ü g b a r k e i t v o n A n a l g e t i k a n u r v e r d r ä n g t . Vor allem a b e r ist Leiden in b i s l a n g u n e r h ö r t e m M a ß e u n d auf u n e r h ö r t e Weise absichtlich z u g e f ü g t w o r d e n ; „ A u s c h w i t z " läßt es als p u r e n Z y n i s m u s e r s c h e i n e n , n a c h Sinn u n d Z w e c k d a f ü r a u c h n u r zu s u c h e n . W e n n n i c h t d a s e n t t ä u s c h e n d e u n d v e r d r ä n g t e , s o sperrt sich d o c h d a s ein f ü r allemal „ s i n n l o s e " Leiden d e m e i n o r d n e n d e n , e r k l ä r e n d e n , r e c h t f e r t i g e n d e n D e n k e n . Vorgeschichte u n d g e g e n w ä r t i g e S i t u a t i o n stellen die t h e o l o g i s c h e D a r s t e l l u n g des T h e m a s v o r drei P r o b l e m e . a) Die christliche Theologie hat über Leiden stets in der Perspektive der oeconomia salutis gesprochen, d. h. im Zusammenhang (1) des Heilswillens Gottes, der das Leiden -»Jesu Christi am Kreuz einschließt, der aber auf die endzeitliche Aufhebung allen Leidens zielt, (2) der menschlichen -»Sünde, in deren Folge Leiden unvermeidlich ist, und (3) der Vorsehung Gottes, die es einstweilen strafend, aber auch läuternd gebraucht und zum Guten wendet. Das Thema ist daher kein selbständiger dogmatischer Topos; es wird in der Christologie, der Hamartiologie und in der Lehre von der göttlichen Providenz behandelt (so noch Gerhard Ebeling, Dogmatik des christl. Glaubens, Tübingen 1979, ll,169ff; 1,368ff; Ill,512ff). So hat es auch keine theologiegeschichtliche Forschungstradition; außer Einzeluntersuchungen liegen nur Darstellungen des hamartiologischen Aspekts und (theologische wie philosophische) Untersuchungen zum Theodizeeproblem, d.h. zu den Themen „Böses" und „Übel" vor (Billicsich; Gross; Sparn, Leiden). Nicht nur die Geschichte der Philosophie (Adorno, Negative Dialektik 154), sondern auch die des theologischen Denkens überliefern wenig von dem in der Geschichte erlittenen Leiden. b) Der theologische Kontext des Verständnisses von Leiden und die ihr entsprechende Ethik der christlichen Kreuzesnachfolge haben in der Moderne ihre selbstverständliche Geltung verloren; die daran orientierte pädagogische und pastorale Praxis der -»Kirche ist unsicher und strittig geworden. Zwar ist der moderne Erfahrungshorizont des Leidens ohne die Wirkungsgeschichte des Christentums nicht erklärlich, aber er hat sich nicht zuletzt aufgebaut in der Emanzipation eben aus dem christlichen Verständnis des Leidens. Nicht nur Philosophie, Literatur und bildende Kunst, sondern auch das öffentliche Bewußtsein und die persönliche Lebensführung beanspruchen einen authenti-

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sehen Umgang mit dem Leiden; ihm erscheint der christliche Umgang mit Leiden, sofern er über den diakonischen hinaus ein religiöser sein will, als wenig hilfreich, ja als unechte und uneinlösbare, zwischen Masochismus und Sadismus schwankende Vertröstung (Weyhofen); allenfalls „ H i o b " gilt als plausible Figur. In der Theologie wurde das Problem daher zunehmend ausschließlich als eines der ethischen Praxis betrachtet, d. h. der Verminderung von Leiden; selbst in der theologischen Ethik wurde die Erfahrung des Leidens als solche fast anonym'. Der Umgang mit vorhandenem und zu erwartendem Leiden wurde aus der theologischen Disziplin entlassen und der pastoralen Professionalität zugeschoben oder der religiösen Traktatliteratur überlassen. Auch die theologischen Lexika verzichteten auf eine dogmatische Behandlung des Problems, etwa zugunsten der Medizin, oder verstanden darunter die erbauliche Zusammenstellung von biblischen Zitaten. c) In jüngster Zeit jedoch ist Leiden wieder zu einem wichtigen Thema geworden. Die Krise der emanzipatorischen Praxis der Moderne ist in der ihr verpflichteten Theologie besonders schmerzlich empfunden worden und hat, auch wo man nicht vom „Ende des Fortschritts" sprechen wollte, die Aufmerksamkeit auf dessen Kosten und Folgen gelenkt, auf die körperlich und seelisch Leidenden, Kranken, Trauernden und Sterbenden, d.h. auf die Grenzen der Praxis. Die erneute Frage nach der Bedeutung der religiösen Erfahrung, und zwar in ihrer Verschiedenheit vom tätigen Leben, für den lebensförderlichen Umgang mit Leiden erfordert, statt bloß einer Alternative, die Korrelation von Verhinderung und Sinngebung des Leidens, von praktischem Protest und tröstender Kommunikation. Damit sind eine Reihe von ethischen und dogmatischen Problemen, einschließlich ihrer historischen Aspekte, wieder zu theologischen Themen geworden. Ihre Bearbeitung muß die säkulare Anthropologie und Ethik berücksichtigen, die ihrerseits die Problematik von Schmerz und Leiden neu wahrnimmt (Spaemann; Geyer, Leid; Müller; Leiden); die -»Religionsphilosophie geht so weit, das -»Theodizeeproblem (ihr Scheitern als Theorie unterstellt) wieder aufzurollen (Janßen; Teodicea). Die theologische Reflexion muß ferner die religionswissenschaftliche Differenzierung der Leidenserfahrung verschiedener Kulturen berücksichtigen (Bowker; T R T 4 3, 191 ff). 2 . Christliche

Leidenserfahrungen

2.1. Alte Kirche und Mittelalter. H i e r ist die Verfolgung die b e s t i m m e n d e Leidenserfahrung, denn in ihr b e k o m m e n B e k e n n e r und Blutzeugen Anteil am Kreuzesleiden J e s u Christi und ergänzen es an ihrem Teil ( - » C h r i s t e n v e r f o l g u n g c n ; - » K r e u z ) . S o m i t ein G u t , wird dieses Leiden s o g a r e r s t r e b t , wenn a u c h das - » M a r t y r i u m nicht geradezu gesucht werden soll. Weil die Passion Christi endzcitlichcs H e i l s h a n d c l n G o t t e s ist, kann jedes Leiden in der H o f f n u n g a u f die zukünftige, t r ä n e n l o s e Welt leicht ertragen werden; wie G o t t e s Sohn gelitten h a t , d a ß sie G o t t e s Kinder würden, so a h m e n sie, „ u m S ö h n e G o t t e s zu b l e i b e n " , die G e d u l d des Vaters n a c h : „ D i e K r o n e der Schmerzen und Leiden kann nicht empfangen werden, wenn nicht die Geduld in S c h m e r z und Leiden v o r a u s g e h t " ( C y p r i a n , b o n . pat. 2 0 ; 10; C h r y s o s t o m u s , Ad e o s qui skandalizati sunt). Der christliche Erlösungsglaube teilte mit der Spätantike die kosmische Entgrenzung der Leidenserfahrung; daher auch seine medizinische Mctaphorik. Aber er widersprach ihr, wo das die Verneinung der Welt als Schöpfung einschloß. Wenn auch die von Sünde und bösen Mächten geprägte Welt als „Tränental" empfunden wurde, so bildete das Christentum doch einen scharfen Gegensatz zur dualistischen -»Gnosis aus, die Leiden mit der irdischen Schöpfung als solcher gegeben sah, mit jener widergöttlichen Stoffwelt, die man im Gefolge des (scheinbar leidenden) Erlösers wieder zu verlassen hatte (K. Beyschlag, Grundriß der DG, Darmstadt, I 2 1988, § 8,3). Die Identität von Schöpfer und Erlöser trennte den christlichen Glauben auch vom tragischen Verständnis des Leidens im -•Mythos, dem zufolge Zeus oder die Göttin der Gerechtigkeit die Menschen durch Leiden lehrt, die Eifersucht der göttlichen Mächte zu fürchten und die Hybris des Glücks zu meiden (Jäger 307 ff.340 f; Geyer, Schicksalsglaube). Von der philosophischen Mythenkritik, mit der es freilich das ApathieAxiom für Gott und die göttliche Natur Christi teilt, unterschied sich das Christentum dadurch, daß das Tragen des Leidens nicht der (irdischen) I.eidensvermeidung dient: weder in der platonischen Form der Verwirklichung der -»Gerechtigkeit, d.h. der Herrschaft der -»Vernunft über die sinnlichen Leidenschaften und der Angleichung an Gott, noch in der epikureischen Form der Ausrichtung des Lebens an der Freiheit von körperlichen Schmerz und an der Ataraxie, noch auch in deren Wendung in der -»Stoa, der Leidensvermeidung durch Leidensübernahme. Im Lichte des endzeitlichen Sinnes jeden Leidens w a r die christliche T u g e n d schlechthin die Geduld (Tertullian; C y p r i a n ) . Sie w u r d e aktiv in der Askese der eigenen Leidenschaften und in der Z u w e n d u n g zu den (sozial a u f g e w e r t e t e n ; S c h l u m b e r g e r ) Leidenden in der - » N a c h f o l g e Christi (charismatischer - » E x o r z i s m u s , organisierte Krankenpflege;

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Beyschlag, a. a. O. 96 ff). Ihre passive Seite war die Annahme des von Gott einstweilen, vor dem Tag der Erlösung und Vergeltung (Cyprian, bon. pat. 21;23), zugeschickten Leidens. Dessen tröstliche Deutung orientierte sich an biblischen Mustern: die ausgleichende Gerechtigkeit oder der chirurgische Eingriff Gottes, der läuternde Schmelztiegel, den er schon Hiob bereitet hat, seine heilsam strafende Pädagogie. Solche weisheitlichen Auskünfte zogen allerdings nicht nur ähnliche außerchristlicher Herkunft nach sich, sondern legitimierten in der sich hinziehenden Zeit auch eine quasi-philosophische Distanzierung des Leidens. Diese weltüberlegene „Seelenruhe" entwickelte demonstrative Formen der -•Askese, näherte das Martyrium dem Heroenkult an und verknüpfte den Trost im Leiden mit dem stoischen Vorsehungsglauben oder der neuplatonischcn Gottanglcichung. Die Einstellung zum Leiden konnte sich auch wieder am Ideal der Apathie orientieren, wie das nach dem Ende der Christenverfolgung um so näher lag (Beyschlag, a . a . O . 100 ff). Dafür ist —»Boethius, der christliche Sokrates, repräsentativ: In seiner Consolatio Philosophie (524) erhebt sich der zum Tod verurteilte Politiker, durch sein Unglück belehrt, aus den irdischen Widerfahrnissen zur göttlichen Vorsehung, und in dieser wahren Sicht der Dinge erscheint der Schmerz des Leidens bloß als menschlicher Affekt. Eine Ursächlichkeit Gottes kann dabei allenfalls in der Möglichkeit gesucht werden, daß Menschen unter seinen Augen böse handeln; aber dies darf der Wirklichkeit des Guten und des guten Lenkers der Welt zugeordnet werden: „Si quidem Dens est, unde mala? Bona vero, si non estf" (I 4 pr.; vgl. IV 1 pr.; 5 pr.; Clemens Alexandrinus, str. VI 71 f; Beyschlag, a . a . O . 107).

Für die folgenden Jahrhunderte hat vor allem —• Augustin die christliche Leidensdeutung vorbildlich formuliert. Mit Boethius teilt er die veränderte, in der Antike ungelöst gebliebene Frage, wie trotz des Waltens Gottes die offensichtliche Verkehrung im menschlichen Leben möglich sei. Die Frage nach dem erlittenen Leiden steht also im Horizont der Frage nach dem verursachten Leiden; dies ist, einschließlich der terminologischen Verknüpfung unter dem Oberbegriff des malum (Contra Adimant. 26), bis in die Neuzeit wichtig geblieben. Gegen den -•Manichäismus radikalisierte Augustin aber die philosophisch vorbereitete Deutung des Übels als Mangel des Guten im Sinne des christlichen Schöpferglaubens: Alles (substantielle) Sein ist gut. Das Übel kann seine letzte Ursache daher nur im Menschen haben, der seine geschöpfliche -»Freiheit an vergängliches Gut gewandt hat. Diese Schuldzuwcisung erlaubt, mit dem Leiden als getanem Übel (malum peccati, „moralisches Übel") das Leiden von Schmerz, Mühsal, Krankheit und Tod als erlittenes Übel (malum poenae, „physisches Übel") ursächlich zu verknüpfen. Jenes ist eigentlich das einzige Übel, und seine Folge ist eigentlich gut, d.h. gerccht, denn selbst Unschuldige trifft es in ihrer Verflochtenheit in die Erbsünde. Diese moralisch-pädagogische Perspektive wird ergänzt durch eine kosmologische, die das Leiden (auch das der Tiere) den notwendigen Stufen und Gegensätzen zuordnet, kraft derer das Universum erst vollkommen und schön ist. Beide Perspektiven überlappen in der eschatologischen These, daß Gott die (also indirekt von ihm zugelassenen) Übel barmherzigerweise, durch Leiden prüfend und läuternd, gut gebraucht und in Gutes einmünden läßt (Augustin, Conf. VII 8; 29; Ench. 9 6 - 1 0 0 ; De civ. 18; IV 1; XXII). Trotz dieser theoretischen Harmonisierung verkörpert Augustin lebenspraktisch ein äußerst sensibles Verhältnis zum Leiden. Gerade weil es als Übel contra naturam ist, kann ein Christ, der das Reich Gottes (-•Herrschaft Gottes) erwartet, sich nicht damit abfinden; der stoische Weise erscheint demgegenüber so anspruchs- wie gefühllos. Die gesteigerte Empfindlichkeit hat, nach dem Ende der äußeren Bedrängnis, eine weitere Verinnerlichung zur Folge: „Nicht was, sondern wie man leidet, darauf kommt es a n " (De civ. 18; X I X 4). In der mittelalterlichen Kirche wurde das augustinische Leidensverständnis theologisch tradiert (mit Widerspruch etwa seitens des betroffenen ->Abaelard) und in der pastoralen Pädagogik praktisch eingeübt; als „geistliches", d. h. absichtliches, vervollkommnendes Leiden (Thomas v. Aquin, S.th. I q. 95 a.2) wurde es in der mönchischen -•Askese kultiviert. Die Theologie verstärkte mit erweitertem metaphysischem Instru-

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mentarium die heilsgeschichtliche Integration des Leidens und seiner Sündenursache: Wie Leiden -*Strafe für die Ursünde ist, so kann in deren Folge dem Menschen wiederum nur durch Leiden geholfen werden, nämlich als Medizin, die vor künftigen -»-Sünden bewahrt und die bislang entwickelten Tugenden läutert und mehrt, indem es die fromme Disziplinierung der passiones animae unterstützt (ebd., I/II q. 85 a. 5, q. 87 a. 7; II/II q. 108 a. 4; zum Gesamtzusammenhang auch I q. 2 a. 3; q. 22 a. 2; Summa contra Gentiles III 4 - 1 5 ) . Im übrigen ist das physische Leiden im Ganzen der Schöpfung nötig und wird, wie erst recht das moralische Übel, von der -» Vorsehung ihres allmächtigen wie allguten Erhalters der Verwirklichung des Guten zugeordnet (ders., De malo q. 1 a. 4; q. 3 a. 3; q. 5 a. 4). Dem entspricht die kirchliche Praxis in der erzieherischen Zumutung von Leiden, aber auch mit dessen satisfaktorischer und meritorischer Würdigung im Institut der -•Buße und im erwarteten -» Fegfeuer; ferner in der leidensbereiten Zuwendung zu Armen und Leidenden, aber auch in einem zunehmendem Maß an selbstzugefügtem Leiden, bis zum Flagellantentum, und mit gesteigerten Heilungserwartungen an den Reliquienkult (-»Reliquien/Reliquienverehrung). Als Strafe und Medizin werden auch die epochalen Hungersnöte, Pestepidemien und Kriege verstanden, werden aber auch die in Kreuzzügen, Ketzerverfolgung und Inquisition zugefügten Leiden gerechtfertigt. In der mönchischen Praxis nahm das geistliche Leiden der -»Askese, in Fortentwicklung auch der der östlichen Frömmigkeit, besonders der Theopathie des -»Dionysius Areopagita (De Div. Nom. 3,9), eine mystische Wendung (-»Mystik). In der zisterziensischen und franziskanischen Passionsmystik (-»Bernhard von Clairvaux, -»Bonaventura) verblassen die Leiden der irdischen „Wüste" zu Anlässen für die inneren Erfahrungen der Seele auf ihrem Weg hinauf zu Gott. Das hier zu erfahrende Leiden ist vor allem das Mitleiden der Passion Christi. Auf ihre einfühlende Erinnerung und Vergegenwärtigung konzentriert sich die Leidenstheologie der deutschen Mystik (-»Mechthild von Magdeburg, Meister -»Eckhart, Heinrich —»Scuse, -»Johannes Tauler, -»Theologia deutsch). Die Versenkung in die Wunden des Gemarterten erweicht das Herz zur einfühlenden -»Liebe, indem sie in das süße, göttliche Leiden des Gottesknechts hineinzieht. Hier, wo der an sich leidenslose Gott selbst mit dem Leidenden leidet, wo „mein Leid in Gott ist und mein Leid Gott ist", wird „Leid ohne Leid" erfahren (Eckhart, Tröstung 49; 22; Seuse 125). In diesem verwandelten Leiden ist die Seele vorbehaltlos empfänglich für das von Gott geschickte Leiden, für die -»Reue über die eigene Sünden und für das Mitleiden mit Christus, bis hin zum Schmerz der -»Stigmatisierung: „Empfange Leiden williglich, trage Leiden geduldiglich, lerne leiden christförmiglich" (Seuse 145). Die mystische Aufhebung des Leidens in „Gottleiden" erlaubt, die stoische Verständigkeit, wonach Leiden unvermeidlich ist, aber „kein Ungemach ohne G e m a c h " bleibt, als „Gelassenheit" oder „Abgeschiedenheit" (Tauler 327; Eckhart, Weisheit 14; 1 9 - 2 1 ; Abgeschiedenheit 412) noch einmal zu christianisieren. Um so mehr vermittelt die imitatio Christi ( - » T h o m a s a Kcmpis) das Selbstgefühl christlicher Vollkommenheit. Zwar implizieren Entwerden, Leere und Gottleiden die Selbsterkenntnis des Menschen (-»Mensch) als natürliches und sündliches Nichts, und die damit verbundene „Angst" ist keine selbstgewählte Askese; aber die auf diesem Weg erreichte Abwesenheit allen menschlichen Wirkens zugunsten der Fülle und Wirksamkeit Gottes ist die höchste Form christlicher Praxis: „Das schnellste Tier, das euch zu dieser Vollkommenheit trägt, ist das Leiden; denn es genießt niemand mehr ewige Süßigkeit als die, die mit Christus in der größten Bitterkeit stehen. Es ist nichts Galligeres als Leiden und es ist nichts Honigsüßeres als Gelitten-Haben" (Eckhart, Abgeschiedenheit 423.433; Seuse 249).

Die mystische Praxis des Leidens zielt also auf die Einheit von aktivem und kontemplativem Leben (Mieth), und darin ist sie ein königlicher, d.h. vervollkommnender Weg zur himmlischen Glorie (Thomas a Kempis 11,11 f). Die spätmittelalterliche Ikonographie der Martersäule, des Crucifixus und der Pietà dokumentieren eindrücklich die affektive Kraft der Leidensmystik (G. Schiller, Ikonographie d. christl. Kunst, II Die Passion Jesu Christi, Gütersloh 1968); deutlich ist aber auch die Anfälligkeit der Leidens- und Trostliteratur für das Ideal der Apathie (etwa in der „Zwölfmeisterlehre": Auer, Spätmittelalter 36ff.71ff). Ein solcher Stoizismus kennzeichnet dann auch den aufkommenden christlichen Humanismus: „Klug lerne alles zu ertragen: Du wirst glücklich sein" (Erasmus 240.104).

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2.2. -»Protestantismus 2.2.1. Das passionsmystische Leiden, aber auch der dabei ausbleibende Trost ist die Erfahrung, von der die -• Reformation ausging, die in ihr aber auch überwunden worden ist. -•Luthers Widerspruch galt nicht nur dem neuen Stoizismus und nicht nur der Vermischung der Passionsmystik mit der populär-asketischen Verdienstfrömmigkeit, sondern dem mystischen Verständnis des Leidens als solchem: Noch hierin macht sich menschliches Handeln, so sehr es sich in „wehtuender Übung" gegen sich selbst kehrt, als vervollkommnende Leistung geltend. Allerdings betont gerade Luther, die Leidens- und Anfechtungsscheu der -»„Priester" bloßstellend, daß „Gott nur in Leiden und Kreuz gefunden werden kann". Selbstverständlich bleibt auch, daß die Leiden des Christen und das Kreuz Christi zusammengehören, daß Christus in sein Leiden hineinzieht: „Christi Leiden muß nicht mit Worten und Schein, sondern mit dem Leben und wahrhaftig gehandelt werden" (Heidelberger Disputation [1518], zu These 21: WA 1, 362,28f; WA 2, 144,37). In dieser Leidensgemeinschaft wird jedoch nicht nur die Anschauung (die gefährliche Affekte hervorrufen kann), sondern auch die Nachahmung des Exempels Christi genau unterschieden von der Wirkung Christi als Sakrament (Althaus, Theologie 179ff). Das nachahmende Leiden ist eine Folge, aber kein Grund der Heilswirkung des Leidens Christi; diese vollzieht sich allein durch den Glauben, in der Weise eines „seligen Tausches zwischen den Gütern Christi und den Übeln des Sünders" (WA 2, 501,34 [mit Augustin]; 7, 25, 28; 54,31). Dies schließt zwar die Gewißheit ein, daß Christus den leidenden Christen „versteht" und ihm helfen kann, aber es schließt die Identifikation mit ihm gerade aus. Der Blick auf den Gekreuzigten tröstet, weil das Übermaß seines Leidens als von Gott Verfluchtem vom Christen gerade nicht mitgetragen werden muß: „Denn es ist kein Unglück und Leiden so groß, wir könnens ertragen, wo nur der Trost ist: Wir haben einen gnädigen Gott, es sei um unser Leiden, wie es wolle. Hier aber ist Gott wider ihn gewest". Das Bild des die Hölle der Gottverlassenheit erleidenden Christus ist trotzdem „himmlisch", weil Christi „allermächtigste Lieb e " diese Hölle überwunden hat; Gott bietet in diesem Bild seine Barmherzigkeit an. Daher macht es das menschliche Herz „süß", d. h. erweckt zuversichtlichen Glauben der Annahme durch Gott (WA 45, 370,36; 2,691,18; 6,216,26).

Christusförmig leiden heißt nunmehr nichts anderes als den Glauben an das -»Wort Gottes im Leiden Christi, und erst dieser Glaube ist wahres Gottlcidcn: passiva vita (WA 5,166,11). In diesem Leiden wird, diesseits der aktiven und der kontemplativen -»Werke und bleibend außerhalb dieser, die -»Person des Christen konstituiert (Joest 302ff; Link; Sauter441 ff). Die Rechtfertigungslehre (-»Rechtfertigung) unterscheidet mithin ein spezifisch religiöses Leiden vom praktischen, durch seine Korrelation mit dem Handeln definierten (daher mit ihm auch verrechenbaren): Das asketische Leiden verliert seine religiöse Funktion. Die dem rechtfertigenden Glauben entsprechende Reflexionsform der theologia crucis (Iwand) ist daher auch keine Mystik des leidlosen Leidens mehr, sondern eine Theologie des getrösteten -»Gewissens und des Trostes in der Kreuzesnachfolge. Die Ablösung der Askese durch den Glauben kann wegen dessen Gnadenhaftigkeit allerdings nicht bedeuten, daß das religiöse Leiden einmal ausgestanden und beendet werden könnte. Vielmehr wird nun die -»Anfechtung zur eigentümlichen und beständigen Erfahrung des Gewissens. Der Christ folgt seinem Haupt auch darin durch Strafe, Hölle und Tod nach, daß die zugesagte Liebe Gottes von der augenscheinlichen Erfahrung bestritten wird. Das gilt nicht nur von der leiblichen und irdischen Trübsal, in der gegen die Vernunft und die Ungeduld des eigenen Herzens darauf vertraut werden muß, daß ihr ein Ende bestimmt ist; es gilt auch für den naheliegenden Rückschluß auf einen Unheilswillen Gottes, für das gefühlte Nein, dem das geglaubte heimliche Ja entgegengehalten werden muß. Noch mehr und lebensbegleitend widerspricht dem Glauben das ausdrückliche -•Gesetz Gottes, das den Sünder verdammt und darin vom eigenen Herzen bestätigt wird; das zu Tode geängstete Gewissen fühlt nicht nur die Sünden stärker, sondern auch den kommenden Tod (Eiert 1,15ff; Althaus, Theologie 58ff.187ff.341f).

Die immer neue Flucht zum Gekreuzigten bedeutet daher den ebenso geduldigen wie heldenhaften Kampf mit dem verklagenden, dem zornigen Gott rechtgebenden Gewissen. „Summa, Leiden und Hoffen ist der Christen Sieg" (WA 48, 99,4; zur biographischen Verifikation vgl. M. Brecht, M . Luther, Stuttgart, I 1981, 82ff.335ff). In der Trostschrift i i

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Tessaradecas consolatoria (1520) hat Luther das christliche Leiden der Anfechtung und seine Überwindung durch die Güter Christi im Kontrast zur traditionellen Anrufung der Vierzehn Nothelfer anschaulich beschrieben. 2.2.2. Die protestantische Frömmigkeit hat die Unterscheidung des Erleidens der Gnade Gottes und des „lieben heiligen Kreuzes" des christlichen Lebens bis ins 18. Jh. hinein festgehalten, im Wirkungsbereich der Lutherschen Katechismen und der Augsburgischen Konfession und ihrer Apologie, aber auch in dem Calvins und des Heidelberger Katechismus' 2 . Uber die christliche Leidenspflicht in Disziplin und Kasteiung hinaus blieb auch die Möglichkeit der Verfolgung aus Glaubensgründen, bis hin zum Martyrium, ein fester Bestandteil des protestantischen Selbstbewußtseins. Luther, der selber Märtyrer besungen hat, wurde nicht ohne sein Zutun in der Nachfolge ->Hus' ikonographisch stilisiert; es folgten sowohl lutherische und calvinistische Martyriologien (Kolb). Das Verständnis der Kreuzesnachfolge prägte sich allerdings insofern verschieden aus, als auf reformierter Seite die Dankeswerke für die Wohltaten Christi, auf lutherischer Seite die Gleichgestalt mit dem Gekreuzigten akzentuiert wurden (der Betonung des Werkes Christi einerseits, der Person Christi andererseits entsprechend). Die lutherisch geprägte Leidenserfahrung versteht sich immer auch als „geistliche A n f e c h t u n g " , die schwerer ist als das Abtöten des Fleisches und sogar als das M a r t y r i u m , denn in ihr gerät die dort bewährte Z u g e h ö r i g k e i t zu Christus gerade in Zweifel. Der T r o s t in diesem Leiden ist das Bild des Gekreuzigten, der als die Einheit und gegenseitige Durchdringung von menschlichem Leiden und göttlicher H e r r l i c h k e i t geglaubt wird; daher wird der Karfreitag das eigentlich lutherische Fest. Die blühende - » E r b a u u n g s l i t e r a t u r pflegt eine intensive - » P a s s i o n s f r ö m m i g k e i t und verschreibt sich dem T r o s t für Leidende und Trauernde. Anders als Luther widmet sich die geistliche Dichtung des Luthertums p r o n o n c i e r t der Passion Christi (A. Gryphius, P. G e r h a r d t ; K r u m m a c h e r ; A x m a c h e r , G e r h a r d t ) ; die gottesdienstlich gebrauchte M u s i k der Passion und des „ K r e u z s t a b e s " des Christen entfaltet bis ins 18. J h . expressiven R e i c h t u m (H. - » S c h ü t z , J . S . - » B a c h ; Steiger). Wichtig ist in diesem Z u s a m m e n h a n g die Rezeption der vorrcformatorischen und der spanischen M y s t i k , die zwar konfessionell adaptiert wird, die aber auch die affektive und asketische N a c h a h m u n g Christi fördert. Z u r Einübung in die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gegen das Leiden des Herzens k o m m t die B e w a h r h e i t u n g der B u ß e im gebesserten Leben ( M . M o l l e r ; J . Arndt; A x m a c h e r , Praxis). D o c h ist dies kein „ M a s o c h i s m u s " ( H . - G . Kemper, D t . Lyrik der frühen Neuzeit, T ü b i n g e n , II 1987, 2 4 9 f f ) , denn die christliche Geduld gilt denjenigen Leiden, „denen man durch keine ordentliche Mittel entfliehen m a g " , und wir tun „weißlich daran / daß wir etliche Puñete wahren beständigen Trostes uns b e k a n n t m a c h e n " . Das glcichwohl zu tragende Leiden verleiht jedoch die Freiheit von M c n s c h e n f u r c h t , den „Adel des C r c u t z c s " (Arndt 840) und G o t t „leget seine H a n d unter / und trägt die Bürde a m schwersten T h e i l " (592; 6 0 0 ; 8 9 8 ; 1 1 , 4 4 - 5 7 ; 111,22).

Im Glauben an die unbedingte Verläßlichkeit der Liebe Gottes und in der Naherwartung des eigenen seligen Sterbens und der Wiederkunft Christi erfahren, ist das christliche Leiden keine „weltliche Traurigkeit" (4) über die Vanitas alles Irdischen: „Drumb wil ich / weil ich lebe noch / Das Creutz dir frölich tragen nach" (vgl. EKG 286, Str. 7). Die lutherische Leidenserfahrung neigt nicht zur mystischen Identifikation mit dem Gekreuzigten, wie im Kontrast der konvertierte Johannes -»Scheffler belegt 3 . Kennzeichnend ist vielmehr das Vertrauen in die göttliche Pädagogik, nicht nur in ihrer Weisheit („Kreuz und Elende/das nimmt ein Ende . . . " ) , sondern vor allem, die stoischen Gleichmutsformeln überbietend, in ihrer Liebe: „ . . . kein Zähr- und Tränlein ist so klein / du hebst und legst es bei" 4 . In der protestantischen ->Ethik setzt der Wegfall der religiösen Funktion der Askese nicht zuletzt Aktivität zur Vermeidung von Leiden frei. Die bislang „ncbenweltliche" mönchische, die nunmehr als Flucht vor dem christlichen Kreuz gilt, wird in beiden Konfessionen zur „innerweltlichen Askese" 5 , die dem Christen in -»Beruf und Amt die Verhinderung des durch Unrecht, Gewalt und Krieg verursachten Leidens zur Pflicht macht. Sie bringt ihm allerdings nicht nur wiederum Leiden ein, wie schon Luther betont (WA 32, 331,31; 51,412,23), sondern mutet ihm, als -»Obrigkeit in allen ihren Formen, auch die Verursachung von Leiden zu. Die Unterscheidung von Amt und Person besagt überdies, daß der Christ keinerlei Ansprüche auf Leidensfreiheit hat und nicht befugt ist,

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das Reich Gottes tätig, gar mit Gewalt, herbeiführen zu wollen: „Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz ist der Christen Recht, das und kein anderes" (M. Luther, Ermahnung zum Frieden, WA 18,310,28). Diese gemeinprostestantische Überzeugung wird im Prozeß der Konfessionalisierung freilich überholt, die im Dreißigjährigen Krieg ein Maß an Leiden mitverursacht, das die Zeitgenossen als noch nie dagewesen empfanden. Die Folge war, daß die Äußerung und Deutung von Leiden aus dem konfessionell christlichen Kontext auswandert (H. J . Chr. von Grimmelshausen, Der abenteuerliche Simplicissimus, 1669) und daß fortan religiöse Intoleranz als eine vermeidbare Ursache von Leiden gilt. Die Annahme einer sozialen und politischen Leidenspflicht des Christen veränderte sich aber auch ihrerseits in dem Maße, in dem die feste Relation zwischen Kirche und Staat sich auflöste und die chiliastische „Hoffnung besserer Zeiten" (Ph. J . Spener, 1675) die Endzeiterwartung zurücktreten ließ, die christliche Gemeinde also selber zum Träger gesellschaftlicher Praxis wurde: im -»Puritanismus und -»Pietismus. Individuelle Askese und soziale Disziplinierung, als Reichsgottesarbeit verstanden, verknüpfen Leiden mit einem veränderten Verständnis der christlichen Praxis als Ort und Ausweis des Erleidens Gottes; das Fühlen der „Leidensgnade" und eine zielbewußte sittliche und gesellschaftliche Aktivität bekommen gleichermaßen heilsame Bedeutung (A.H. -»Francke). 3.

Neuzeit

Nicht nur die ausdrückliche Erklärung, sondern auch die Bereitschaft und Fähigkeit zur Erfahrung von Leiden hat sich seit dem 18. Jh. tiefgreifend verändert. Dieser Wandel entwickelte einerseits die christliche Uberlieferung fort, vor allem in der emotionalen Radikalisierung, löste sich andererseits von ihr ab in der Absicht der theoretischen Auflösung der -»Kontingenz des Leidens und der praktischen Abschaffung seiner politischen, sozialen und religiösen Ursachen. Die Ambivalenz des Wandels ist früh erkannt worden, in der Theologie allerdings verzögert durch den Schein der Alternative, entweder für oder gegen den aufklärerischen Fortschrittsanspruch votieren zu müssen. 3.1. Metamorphosen

christlicher

Motive

Ein wesentlicher Faktor der -»Neuzeit ist ihr Widerwille gegen bislang hingenommenes Leiden; er folgt dem neuen Selbstverständnis des Menschen als eines in seinem Verhältnis zur -»Natur und zur -»Gesellschaft freien Lebewesens. Als „kleine Gottheit" kraft seiner Vernunft schien der Mensch dazu berufen, sich aus der Ubermacht einer stiefmütterlichen Natur zu befreien und die politischen Verhältnisse nach dem (auch religiöse Gegensätze übergreifenden) rationalen -»Naturrecht möglichst konfliktarm zu regulieren. Der „freie Mensch" ersetzte die -+ars moriendi durch eine seiner Selbsterhaltung dienende meditatio vitae (Baruch Spinoza, Ethica [1677], IV, propos. 67; [Ubelvermeidung] propos. 66). Daher zielen alle Programme des Fortschritts, die des naturwissenschaftlich-technischen seit F. Bacon, die des politisch-sozialen seit Th. -»Hobbes und J. Locke und die des pädagogischen seit A. -»Comcnius, auch auf die Verringerung menschlichen Leidens. Zunächst utopischer Grenzfall, erhoffen die revolutionären Ideologien seit J.-J. -»Rousseau oder A. de Condorcet seine Abschaffung als eines nicht frei gewollten Widerfahrnisses. A n g e s i c h t s d e r G r a u s a m k e i t d e r k o n f e s s i o n e l l e n B ü r g e r k r i e g e b e k ä m p f t e eine n e u s t o i s c h e E t h k die U r s a c h e n d e s L e i d e n s v o r a l l e m in d e n u n v e r n ü n f t i g e n L e i d e n s c h a f t e n u n d setzte d e m äußerlich z u g e f ü g t e n L e i d e n , a b e r a u c h d e m b l o ß affektiven M i t l e i d die U n e r s c h ü t t e r l i c h k e i t des Weisen entgeg e n (constantia, amor fati: J . Lipsius, B . - » S p i n o z a [ebd. IV, p r o p o s . 2 - 4 ; A p p e n d i x c a p . 3 2 ; V, p r o p o s . 3 3 ; 4 2 ] ; eine e p i k u r e i s c h u n g e s c h ö n t e K o n z e n t r a t i o n a u f d a s Selbst in all seinen V e r ä n d e r u n g e n des H a n d e l n s u n d L e i d e n s w o l l t e den S c h m e r z besiegen d u r c h d a s A u s l e b e n der persönlichen L e i d e n s c h a f t e n n a c h d e m M a ß d e r jeweiligen G e n u ß f ä h i g k e i t u n d Z u f r i e d e n h e i t ( M . d e - » M o n t a i g n e ) 6 . A m w i r k s a m s t e n w u r d e z u n ä c h s t j e d o c h diejenige G e s t a l t d e s n e u z e i t l i c h e n Bewußtseins, die, im E i n v e r s t ä n d n i s mit d e m Verblassen d e r a p o k a l y p t i s c h e n N a h e r w a r t u n g , den christlichcn A n s p r u c h a u f L e i d e n s f r e i h e i t in c h i l i a s t i s c h e r M o d i f i k a t i o n in sich a u f n a h m . C h a r a k t e r i s t i s c h f i r diese M e t a m o r p h o s e ist G . W . - » L e i b n i z ' F o r m e l des fatum Christianum ( T h e o d i c e e , P r e f a c e : I I / l ,

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18; §58). Sie steht f ü r eine Auffassung der göttlichen Vorsehung, die g l e i c h e r m a ß e n den n ü c h t e r n e n Realismus der jeweils gegebenen Verhältnisse, einschließlich d e r e r f a h r e n e n Leiden (als von G o t t faktisch gewollt), u n d eine h o h e M o t i v a t i o n zur u n v e r d r o s s e n e n Verbesserung der Verhältnisse u n d M e h r u n g menschlichen G l ü c k s (als von G o t t prinzipiell gewollt) s a n k t i o n i e r t e .

Die Frage nach dem Grund des Leidens stellt sich jetzt in veränderter Weise: als -*Theodizeeproblem. Leibniz fügt dem augustinischen Doppelbegriff des Übels den der Endlichkeit (malutti metaphysicum) hinzu, um Gott trotz der erlittenen und vor allem angesichts der vom (frei aber böse handelnden) Menschen erzeugten Übel ex ante als sowohl allmächtig wie allgut erweisen zu können. Das wurde bald nicht nur der theoretischen Selbstüberforderung, sondern auch einer zynischen Einstellung zum Leiden anderer Menschen geziehen; so in der Brutalität des Candide ou l'optimisme von -»Voltaire (1759). Doch lag das Defizit schon in der Verpflichtung, unbedingt gut zu handeln, und im Verbot, über Leiden zu klagen; dieser Täter (der sowohl aus der Erbsünde als auch aus dem -»Schicksal herausgelöst ist) kann Leiden immer nur zu distanzieren suchen, auch das eigene. Handlungszwang und Klageverbot kennzeichnen auch noch die Korrektur der Theodizee durch I. -»Kant; sie macht sogar das eigene Leiden zum Gegenstand von Praxis und rechnet dessen Schmerz der Selbstbestrafung des neuen Menschen als noch alten und schuldverhafteten zu 7 . Diese Moralisierung des Leidens wird in der erneuten, christlich gemeinten Korrektur der Theodizee durch G. W. E —»Hegel zwar wieder ermäßigt, so daß die gerade durch die menschliche Frciheitsgeschichte verursachten Leiden als solche zur Sprache kommen. Der Preis für diesen Realismus ist jedoch die Absenkung der menschlichen Glücksansprüche eben am M a ß der tatsächlichen Leidenserfahrungen, bis zu deren Fatalisierung. Die Weltgeschichte ist „nicht der Boden des Glücks", sondern eine „Schlachtbank", auf der die Leidenschaften und Leiden der Individuen, die dafür aufgeopfert werden, der Realisierung des vernünftigen Ganzen dienen; dies ist, in konsequenter Historisierung der -»Eschatologic, das „Weltgericht" 8 . Dies impliziert das Selbstverständnis der Neuzeit als einer Epoche des „absoluten Leidens", in dem die zu Herren über die Natur gewordenen Menschen die Folgen ihrer Herrschaft in „unendlichem Schmerz" erfahren müssen. So weitet sich die geschichtsphilosophische Theodizee theogonisch aus; im Gegensatz zur bisherigen -»Metaphysik, aber mit Bezug auf die Christologie oder doch auf die Mythologie wird Gott selbst das Schicksal eines „spekulativen Karfreitags" zugeschrieben: „ O h n e den Begriff eines menschlich leidenden Gottes . . . bleibt die ganze Geschichte unbegreiflich" 9 . 3.2. Christentumskritische Leidensverneinung Der Zerfall des —»Idealismus im 19. Jh. hat den Widerwillen der neuzeitlichen Subjektivität gegen die Kontingcnz des Leidens in den Antagonismus von Optimismus und —»Pessimismus auseinandertreten lassen. Beide -»Weltanschauungen konnten auf ein entschiedenes Ja zum Leiden und auf die Empörung dagegen hinauslaufen; in jedem Fall schlössen sie die christliche Annahme einer strafenden oder bessernden Schickung Gottes aus. 3.2.1. Die atheistische Kritik am Christentum als „pathologischem Denken" berief sich auf das dort nur wegerklärte oder verklärte Leiden: „Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus" (G. Büchner, Dantons Tod 111,1). Die materialistische „Philosophie der Z u k u n f t " (L. -»Feuerbach), die den unauflöslichen Zusammenhang zwischen der sinnlich-stofflichen Verfassung des Menschen und seiner Leidensfähigkeit betont („nur das schmerzensreiche Wesen ist göttliches Wesen"), erklärte doch im Blick auf das falsche, religiöse Leiden: „Dem Denken geht das Leiden voran" (Ludwig Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie [1842]; Kleine philosophische Sehr., 1950 [PhB 227], 67.63). In dem Maße, in dem der Anspruch auf Freiheit von gesellschaftlich verursachtem Leiden, d . h . vom Elend der Entfremdung seiner selbst, politisch-praktisch wurde (K. -»Marx), entging jedoch auch das materialistische Denken der Dialektik von Vermeidung und Erzeugung individuellen Leidens nicht. Je länger und schärfer sich der Kampf des neuen -»Humanismus mit den alten gesellschaftlichen Kräften hinzog, desto

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einseitiger machte sich das Nahziel der politischen Macht geltend, für deren Erringung die revolutionäre Avantgarde und für deren Erhalt die Nomenklatura dann nicht nur das Leiden des Klassenfeindes, sondern auch das der „neuen Menschen" ohne bürgerliche Sentimentalität in Kauf nahm oder gezielt einsetzte. Da es als solches nicht zum Thema werden durfte - das Stichwort fehlt daher in den meisten Lexika - , blieb es der illegalen Dokumentation und der dissidentcn Literatur überlassen (A. Koestler, Sonnenfinsternis, 1940; A. Solschenizyn, Archipel Gulag, 1974/78). Allerdings führte die bürgerliche, „realistische" Mutation des Idealismus zu einer nicht weniger unsentimentalen Einschätzung der Notwendigkeit des Leidens, vor allem wegen der Ansprüche des ökonomisch und militärisch abgestützten und auf den Ersten Weltkrieg zusteuernden -»Nationalismus. In der Diskussion der „sozialen Frage" konnten die systembedingten Leiden, sozialpolitisch nicht vergeblich, zur Sprache kommen; aber die Sachzwänge der industriell-bürokratischen Gesellschaft erzeugten in der kolonialen Expansion und im Ersten Weltkrieg neues Elend. Die weltanschaulichen Träger des Fortschritts blieben dem aufklärerischen Programm insofern verpflichtet, als sie im Leiden nur die Folge des Bösen (nicht zuletzt der -»Religion: Menschenopfer, Askese, Tierquälerei) zu sehen vermochten, von dem sich das eigene gute Handeln als terminus a quo stets nur abzustoßen hatte. Vollends stellte es für die monistische Äquivalenz von Egoismus und Altruismus kein „Welträtsel" mehr dar (Emst Haeckel, Die Welträthsel [1899], Kap. XIX). 3.2.2. Die Empfindsamkeit, die sich einer bloß praktischen Aufklärung entzog, hat Leiden sowohl in identifikatorischem (Selbst-)Mitleid (J.-J. Rousseau) als auch in lustvoll zugefügtem Schmerz (D. A. F. de Sade) neu wahrgenommen. Die Romantik wandte sich dann überhaupt der „Nachtseite" des Lebens zu, so daß wie das dämonisch Böse (—»Teufel; Daemmrich 71 f.269ff) auch das Leiden in seiner unvernünftigen und ordnungssprengenden Schmerzlichkeit als zugehörig erschien: „Neide die Leidensfreien nicht!" (F. Hölderlin, Hyperion 11,1). Die Möglichkeit, Leiden in melancholischen „Weltschmerz" oder aber in kriegerisches Pathos (E.M. Arndt) aufzulösen, wurde von A. -»Schopenhauer in einem metaphysischen Pessimismus entschieden, der erklärt, „wie wesentlich alles Leben Leiden ist" (Die Welt als Wille u. Vorstellung, 1,426; 11,46). Im Licht der Erbsündenlehre Augustins und Luthers sowie erstmalig auch des —»Buddhismus erscheint Leiden unvermeidlich, weil jede Individualisierung des Willens zum Leben, der die Welt insgesamt ausmacht, Kampf und Tod einschließt; es wird um so schlimmer empfunden, je bewußter ein Lebewesen sich in dieser Welt weiß. Das ist insofern noch einmal eine Kosmodizee, als die unmittelbare Einheit von Vergehen (Bejahung des Willens zum Leben) und Strafe (Leiden) eine „ewige Gerechtigkeit" vollzieht. Aber diese Einsicht kann nur den Ausstieg aus der Kreisbahn der Erscheinungen in die „Heilsordnung" des -»Quietismus, der Askese und der Mystik einleiten. Das vom Leben selbst verhängte Leiden ist ein „zweiter Weg" zur Überwindung des Lebenswillens, die Entsagung aus Einsicht, die —»Heiligung ist der erste; für ihn bleibt die Selbstverleugnung des gekreuzigten Heilands, im Gegensatz zum Schacher, ein Vorbild (ebd. 11,48f. 827f). Eine Peripetie der romantischen Sensibilität bedeutet der „Pessimismus der Stärke", mit dem F. -»Nietzsche auf den Zerfall des metaphysischen Erklärungsrahmens reagierte, den Schopenhauer mit der abendländischen Tradition noch teilte (Veit). Wenn es keine absoluten Werte mehr gibt, wenn insbesondere ihr Inbegriff „ G o t t " tot ist, dann hat auch Leiden keinen „ S i n n " mehr. Z u r Einsicht der Sinnlosigkeit der Welt befreit erst der „ g r o ß e S c h m e r z " der Enttäuschung einer absoluten E r w a r t u n g ; und der Pessimismus der S c h w ä c h e , die an sich selbst leidende, masochistische D e c a d e n c e hält ihn nicht aus oder flüchtet erneut, wie R . Wagner, in den falschen T r o s t von Erlösungsmythen. D a s tiefe L e i d e n k ö n n e n , das geradezu eine R a n g ordnung unter den M e n s c h e n begründet (11,744; 1057 [Ausg. v. K. Schlechta, M ü n c h e n 1966]), befreit zur Heiterkeit eines I m m o r a l i s m u s , der das Leid abschafft: Er verzichtet a u f die Rechtfertigung des Daseins angesichts des Leidens und damit auf dessen Wertung, n i m m t es vielmehr jenseits von G u t und B ö s e gleichermaßen an ( „ W i e d e r k e h r des G l e i c h e n " , amorfati) und fügt es zu („Wille zur M a c h t " , „ Ü b e r m e n s c h " ) . Dieser I m m o r a l i s m u s baut sich auf in einer radikalen Kritik der

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christlichen Askese. „ D e r M e n s c h , das tapferste und leidgewohnteste T i e r , verneint an sich nicht das Leiden; er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens" - und das asketische Ideal bot einen solchen Sinn. Aber der Preis für diese Rettung vor selbstmörderischem -»Nihilismus war, d a ß Leiden fortan nicht mehr als Zuchtmittel für, sondern als Einwand gegen das starke Leben zu betrachten war; sie „ b r a c h t e neues Leiden mit sich, tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes: sie brachte alles unter die Perspektive der - » S c h u l d . . . " (11,899). Die christliche „ M i t l e i d s - M o r a l " ist daher ein Ressentiment der Schwachen, der aus Armut Leidenden, gegen die aus Reichtum, in der Unschuld des Werdens und Vergehens Leidenden.

Nietzsche formuliert das starke, tragische J a zum Leiden ästhetisch (Spiel des Kindes, Kunst), aber auch moralisch („auch Hieb bejaht"), sogar theologisch: als „Leiden Gottes" an der Fülle der Lebensgegensätze, die dadurch als „Welt" gerechtfertigt und erlöst sind (1,14f; IH,563f). In dieser heraklitischen Kosmodizee bezeichnet „ G o t t " freilich den Maximalzustand des Lebens: „Dionysos gegen den ,Gekreuzigten'" (111,773). 3.2.3. Vorsichtiger äußerte sich der skeptische Historismus des ausgehenden Jahrhunderts, dessen Gegenstand, der „duldende, strebende und handelnde Mensch, wie er ist und immer war und sein wird", eine „gewissermaßen pathologische Betrachtung" erforderte (J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte [1868/71], hg. v. P. Ganz, München 1982, 226). Eine solche, wenngleich immer weniger mit ästhetischer Entlastung verknüpft, wandten die hermeneutisch sich definierenden Geistes- oder Kulturwissenschaften insgesamt an. Das konnte die Erklärung von Theodizeebildungen aus der Nötigung sozialer Integration der Anomie von Leiden bedeuten (M. -»Weber); die Einordnung von Optimismus und Pessimismus, als universaler Stimmungen angesichts des Rätsels des Lebens, in eine Typologie der Weltanschauungen (W. -»Dilthey); die Analyse des Leidens als einer Grenzerfahrung im Rahmen einer Psychologie der Geistestypen, ihrer Einstellungen und Weltbilder (K. -»Jaspers); seine metaphysische Deutung als Erlebnis der Nichtganzheit im Vorfeld des Todes (H. Driesch) 1 0 . Dagegen übernahm die psychoanalytische Erklärung des neurotischen Leidens durch S. -»Freud die christentumskritische Pointe Nietzsches, indem sie gerade die Religion für falsches, sadomasochistisch fixiertes Leiden verantwortlich machte. Sie wird als eine der Methoden dargestellt, mittels derer man, um den Preis der Selbsttäuschung über die Wirklichkeit und das in ihr biologisch oder sozial unvermeidliche Leiden, am Lustprinzip festzuhalten versuchen kann. Diese Leidensvermeidung ruft freilich das Leiden am schlechten Gewissen hervor, dessen Schuldbewußtsein wiederum zwanghaft fixiert wird. Ein solches Leiden hat allenfalls den Sinn, zur Therapie zu motivieren; aber den Umgang, der sich Trost durch bedingungslose Unterwerfung unter einen göttlichen Ratschluß erkauft, erspart sich, wer sich dem Realitätsprinzip beugt und der kulturell notwendigen Sublimation der individuellen Trieb- und Glücksansprüchc zustimmt 1 1 . Zwar nicht religions-, aber christentumskritisch wurde in der tiefenpsychologischen Schule C . G . -»Jungs die Nötigung, mit widerfahrenem Leiden und getanem Bösen lebensförderlich umzugehen, als spezifisch religiöse Aufgabe erklärt; aber statt durch Moralisierung neues Leiden zu erzeugen, muß an der Überwindung der Angst gearbeitet werden, die für das Böse aktiv und passiv anfällig macht. Das erfordert eine Revision des christlichen Theismus zugunsten der Annahme des Selbstopfers und der Wandlung Gottes zum Gott der Liebe: „Die Antwort auf Hiob wird am Kreuz gegeben" (Jung 247). Ohnehin nahm in dem sich säkularisierenden Lebensgefühl, erst recht angesichts der Gräber im Ersten Weltkrieg, diesem „Vergeuder der Schmerzen", die Abneigung gegen die fertigen Lösungen des kirchlichen „Trostmarktes" zu ( R . M . -»Rilke, Zehnte Duineser Elegie, Z. 9; 20). Die Kulturkritik nahm Leiden in Gestalt ohnmächtiger Lebensangst im Apparat der Massengesellschaft wahr, als „Kreuz der Wirklichkeit" (E. RosenstockHuessi; Jaspers, Situation 6.50f; -»Huizinga). Sie reagierte aber auch antipazifistisch mit der Verklärung des soldatischen Leidens (E. Jünger, G. Benn; Theweleit 1,229ff; 2,165ff). In philosophischer Disziplin konnte diese Spannung in die zwischen den Existentialien der Angst und des Seins zum Tode und der existentiellen Entscheidung zur Eigentlichkeit überführt und damit die Kontingenz des Leidens aufgelöst werden (M. -»Heidegger).

698 3.3. Theologische

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Vermittlungen

Seit dem 18. Jh. ist der theologische Umgang mit Leiden von starken Gegensätzen geprägt, insbesondere von seinem Abstand zum fortdauernden Gebrauch der biblischen Texte und der „alten Tröster" (Grosse) in -»Gottesdienst und -•Seelsorge. Die überlieferte heilsgeschichtliche Sicht wurde ein letztes Mal etwa von J . M . Goeze nach dem Erdbeben von 1755 vertreten; der als Zeuge gegen G . E . ->Lessing angerufene F.G. -•Klopstock zog sich jedoch schon auf lebensgeschichtliche Prüfungen zurück 1 2 . Die Neologie, die sich nicht zuletzt in der Absage an die Selbstquälerei des Halleschen Pietismus und an die Passionserotik -»Zinzendorfs konstituierte, verband sich mit der naturrechtlichen Rationalisierung der göttlichen Providenz in der Theodizee. Das bedeutete die moralisch-teleologische Zuordnung jedes von Gott geschickten (natürlichen) oder doch zugelassenen (moralischen) Leidens zur religiösen und moralischen Berufs- und Besserungspflicht (Schlingensiepen-Pogge 123 ff). Der Schmerz des Leidens, insbesondere die Unzufriedenheit (auch die mit der -» Armut), resultierte dann allein aus dem Versäumnis des pflichtmäßigen Tätigseins; die davon abziehende, törichte Leidenschaft, also die Sünde, wurde als „moralische Pathologie" aufgefaßt (Gottfried Leß, Hb. der Christi. Moral u. der Allg. Lebens-Theol., Göttingen 3 1787, 37). Auch wo man nicht verdrängen will, „daß es, bey aller Aufklärung unseres Jahrhunderts, noch unbeschreiblich viel Jammer und Elend auf unserm Planeten gebe", wird die Unabänderlichkeit von Leiden doch im Blick auf die unermeßlichen Kräfte des Ebenbildes Gottes strikt bestritten: „Und wenn der Mensch seine Kräfte anspannt, so muß ihm das Übel weichen" (Chr.G. Salzmann IV,4; 11,11). Umso mehr ist die Empfindung der moralischen Besserung „unausbleiblich eine Verbesserung des Glücks-Zustandes". Sie vermittelt eine „übernatürliche Beruhigung und Freude", und sie vergewissert bei noch begegnendem Leiden zuverlässig über seine göttliche Vorsehung, also darüber, „daß es eine Aussaat für die Tugend und für die Ewigkeit ist". Daher bleibt es insgesamt bei dem Bescheid: „Bei so viel Segen, so viel Huld, Bin ich nicht froh, ist's meine Schuld" 1 3 . Nicht umsonst hat sich der „pelagianische Hausmannsverstand" dieser rationalistischen Theologie die Verachtung Schopenhauers zugezogen (V,46; 457ff). Der Übergang zu einer pantheisierenden (-»Pantheismus) Interpretation der Providenz bei J . G. —»Herder und E —»Schleiermacher ermäßigte zwar die praktische Disziplinierung des Leidens, änderte aber nichts an seiner quasi-stoischcn Distanzierung als einem egoistischen und der „Wut des Verstehens" verfallenem Sträuben gegen den Geschichtszweck Gottes, die Bildung des Menschen zur Humanität - wogegen „Religion" die ruhig-zufriedene Heiterkeit der Einfügung in die „Begebenheiten der W e l t . . . , vorgestellt als Handlungen Gottes", verkörpert. Schleiermachers Erklärung der Welt als Ort „beharrlich wirkender Ursachen von Lebenshemmung" überbietet die Leibnizsche Theodizee darin, daß sie die Welt, als Schauplatz der Erlösung, nicht bloß als die bestmögliche, sondern als gut qualifiziert, das Leiden gleichwohl nicht auf den Zusammenhang von Strafe und Übel reduziert. In der Einheit des Gottesbewußtseins erlaubt das Bewußtsein dieses Zusammenhangs, das christliches Sündenbewußtsein allerdings immer begleitet, eine „fromme Ergebung", die einerseits nicht das Dulden des Übels um der Sünde willen erfordert, sondern die Aufgabe enthält, noch nicht errungene Herrschaft über die Natur anzustreben, die andererseits aber auch nicht die Aufgabe enthält, das Leiden als solches und überhaupt aufzuheben 1 4 . Die im 19. Jh. sich ausbildenden theologischen Richtungen haben durchweg die rationalistische Moralisierung des Leidens abgelegt, ohne daß sie doch die überlieferten Deutungsmuster hinreichend auf die neuartigen, von der industriellen Revolution und der damit verbundenen ökonomischen und sozialen Verelendung verursachten Leiden beziehen konnten; wie auch die christliche Praxis kaum sozialpolitische Formen der Leidensbekämpfung entwickelt hat. D i e erwecklichen Kreise konzentrierten sich nach wie vor auf die Kultur der individuellen „Leid e n s g n a d e " , die Christi Bild einprägt, die Sinne sammelt und den ungehorsamen Willen bricht: „ Z u

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des H i m m e l s höchsten Freuden/ werden nur durch tiefe Leiden/ Gottes Lieblinge v e r k l ä r t " (Karl F. H a r t m a n n / A l b e r t K n a p p , Endlich bricht der heiße T i e g e l , 1 7 8 2 / 1 8 3 7 [ E K G 3 0 5 unvollständig]). Die Konservativen empfanden die Verluste im Z u g e des gesellschaftlichen Wandels schmerzlicher, blieben allerdings den patriarchalischen F o r m e n des Trostes verhaftet. Die Liberalen glaubten, die Kosten des Fortschritts dem Willen und der T a t k r a f t , d . h . der asketischen Disziplin des christlichen Individuums aufbürden zu k ö n n e n , das auch sein eigenes Leiden der Pflicht zur Selbsterziehung zu „tugendhafter G l ü c k s e l i g k e i t " zuordnen soll (R. R o t h e , E t h i k , W i t t e n b e r g , IV 2 1 8 7 0 , § § 9 0 0 f f ) . Unbeschadet des G l a u b e n s dieses ethischen Optimismus an die richterliche Vergeltung hindert das christliche „ Z a r t g e f ü h l " immerhin, die besonderen Leiden eines M e n s c h e n als göttliche Strafen z u z u r e c h n e n " . Die A k k o m o d a t i o n an die neue Zeit verbot sich gänzlich den Verlustschmerz, um die ethische Zuversichtlichkeit nicht zu schwächen - die eben deshalb von den Zeitgenossen an „ H e i t e r l i n g e n " wie D . F r . - » S t r a u ß , welche die Leiden gar nicht sehen, die sie im D e n k e n b e k ä m p f e n , scharf kritisiert und der Heiterkeit eines Luther entgegengesetzt wurde (Nietzsche 1,297). D e m L e i d e n in s e i n e r S c h m e r z l i c h k e i t z u r S p r a c h e zu v e r h e l f e n , g e l a n g w e i t b e s s e r a u ß e r h a l b d e r z ü n f t i g e n T h e o l o g i e , e t w a bei F. - » D o s t o j e w s k i ( D i e Brüder

Karamasow

[ 1 8 7 9 / 8 0 ] ) o d e r L . - » T o l s t o i u n d in S. - » K i e r k e g a a r d s p s y c h o l o g i s c h e n A n a l y s e n d e r S ü n d e in Der

Begriff

Angst

( 1 8 4 4 ) u n d d e r Krankheit

zum

Tode

( 1 8 4 9 ) . H i e r ist es j e d e s -

m a l d i e S p a n n u n g z w i s c h e n E m p ö r u n g u n d G e d u l d , in d e r d i e E r f a h r u n g d e s L e i d e n s p r o d u k t i v w i r d ; p l a u s i b e l e r s c h e i n t d a n n zu s a g e n : „ W a s C h r i s t s e i n h e i ß t , z e i g t d a s V o r bild, n ä m l i c h d a ß es L e i d e n v o n A n f a n g bis E n d e i s t " ( K i e r k e g a a r d , W W X I , 2 A 4 3 4 ) . I m B e w u ß t s e i n e i n e r K u l t u r k r i s e k o n z e d i e r t e die R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e u m d i e J a h r h u n d e r t w e n d e die e i g e n t ü m l i c h e Überlegenheit des religiösen U m g a n g s mit Leiden g e g e n ü b e r d e m „ R e i c h d e r A r b e i t " , in d e m ein v e r e d e l n d e s W i r k e n d e s L e i d e n s b l o ß b e h a u p t e t w i r d ( R u d o l f E u c k e n , D e r Sinn u. W e r t d e s L e b e n s , L e i p z i g 4 1 9 1 4 , 1 2 3 - 1 2 8 . 1 5 1 ) . D i e W i r k u n g solcher A u t o r e n , die N i e t z s c h e - D e b a t t e und die im Ersten Weltkrieg u n w i d e r s p r e c h l i c h w e r d e n d e K r i s e d e r M o d e r n e ( u n d d e r ihr z u g e h ö r i g e n T h e o l o g i e d e s s i t t l i c h e n

Han-

d e l n s ) ließen L e i d e n a u c h w i e d e r z u m t h e o l o g i s c h e n P r o b l e m w e r d e n ; d a s ist f ü r d i e m e i s t e n W o r t f ü h r e r d e r N e u o r i e n t i e r u n g d e s 2 0 . J h . a u c h b i o g r a p h i s c h b e l e g t . Ihr K r i t e r i u m d e r E x i s t e n z i a l i t ä t d e s t h e o l o g i s c h e n D e n k e n s ließ d e n t h e o r i e r e s i s t e n t e n C h a r a k t e r d e s L e i d e n s a l s -*Paradox

s c h a r f h e r v o r t r e t e n , selbst d o r t , w o die p a s t o r a l e A b s i c h t a u f

seine p ä d a g o g i s c h e D e u t u n g nicht v c r z i c h t c n wollte (Blau 5 8 f ; Schick). Dies w u r d e im folgenden unterschiedlich

expliziert.

Lutherische T h e o l o g e n greifen auf die Unterscheidung zwischen dem „ f r e m d e n " und dem „eigen e n " Werk G o t t e s zurück, um das Leiden als notwendiges G e r i c h t G o t t e s verstehen zu k ö n n e n , o h n e es im Vorher- oder bei andern Wissenwollen ethisch zu rationalisieren. Allerdings begründet diese „dialektische" Unterscheidung bei P. —> Althaus auch die T h e s e , daß Leiden, selbst abgesehen von der Sünde, den M e n s c h e n als solches vorläufig nötig sei, um sie zum Glauben zu erziehen; denn in ihm „fordert G o t t den Verzicht nicht nur auf unsern sündigen W i l l e n , sondern auch auf den W i l l e n , den er selber g a b " 1 6 . Im prinzipiellen G e b r a u c h der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium k a n n , wie bei W. —»Eiert, das Problem a b e r auch absorbiert werden von der E r f a h r u n g des Leidens als Schicksal bzw. vom christlichen Vorsehungsglauben gegen die „ T a t s a c h e n " , die nur erlitten werden k ö n n e n , nämlich v o m G l a u b e n an G o t t gegen den verborgenen G o t t - ein „heroischer G l a u b e " (Der christl. G l a u b e [1940], H a m b u r g ' i 9 6 0 , §§ 1 2 - 1 6 ; § 5 0 ; Z i t . 287). In existentialer Interpretation des Christentums versteht R . - » B u l t m a n n das Leiden dagegen als eine Erfahrung der Entweltlichung und des Scheiterns des menschlichen Selbstruhms, die in der „radikale(n) Offenheit für die Z u k u n f t in der schlechthinnigen Preisgabe an die G n a d e G o t t e s " an ihr Ziel k o m m t . Hier k a n n der M e n s c h dann alle Begegnungen als Erweise dieser G n a d e erfahren, und aus dem Leiden „ w ä c h s t ihm eine innere Kraft zu, in der er jedem Schicksal überlegen i s t " . Anders als in dieser Engführung, die auf die je eigene „heitere Distanz zur W e l t " zielt ( G u V 11,207.209), unterscheidet die o n t o l o g i s c h e Analyse der Existenz durch P. - » T i l l i c h das Leiden als Element der Endlichkeit, das christlich mit M u t a n g e n o m m e n , in dem also (im Unterschied etwa zum Buddhismus) die geschöpfliche Endlichkeit individuellen Lebens bejaht wird, vom Leiden als destruktiver Entfremdung von sich und von den anderen, also jenem Leiden, dessen Aufhebung endzeitlich verheißen ist. Hier ist, trotz fließender Ubergänge, eine Unterscheidung zwischen sinnlosem und sinnvollem Leiden möglich und die R e d e von einer G n a d e glaubhaft, die „Seligkeit im Leiden s c h e n k t " . Denn sie bedeutet die Bereitschaft, sich den tragischen Folgen der E n t f r e m d u n g zu unterwerfen, o h n e das Leiden Christi und des Christen tragisch zu verstehen, d. h. praktisch die Verknüp-

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Leiden IV

fung der „Partizipation an der Situation der Entfremdung" mit dem „ K a m p f gegen s i e " (Syst. T h e o l . , I , 3 0 9 f ; 11,80f; 111,280.471; [Theodizeekritik] 423 - 4 2 5 . 4 5 6 - 4 5 9 ) . Noch einmal pointiert wird dieses differenzierte Verständnis, wenn K. - » B a r t h auch die Schöpfungslehre christologisch formuliert, das menschliche Leiden also völlig in den Horizont der Kreuzesleiden rückt (Krause 87 ff; Adriaanse: Teodicea 147 ff [s. Lit. zu 1]). Hier ist es erlaubt und geboten, sich dem Leiden in der „Schattenseite" der Schöpfung nicht zu entziehen oder in „schmerzloser Temperierung von Freud und L e i d " seiner Herr werden zu wollen, sondern zu weinen, zu klagen und anzuklagen; ebenso besteht kein Grund, den F a k t o r des „ N i c h t i g e n " im Leiden entweder auf Gott oder aber auf den Menschen zu verrechnen. Die Selbstkundgcbung Gottes geschieht zwar „in der Höhe auch über dem J a m m e r des D a s e i n s " , dies aber gerade so, daß das freie Tun und Lassen des Menschen Jesus „als Aktion und Passion Gottes selbst dargestellt und verstanden sein w i l l " , durch welche die menschliche Situation „objektiv entscheidend verändert i s t " . Insbesondere vollzieht sich im menschlichen Leiden nicht mehr das Gericht Gottes, das vielmehr dem Leiden Gottes auf Golgatha vorbehalten ist und von dem das menschliche Leiden eine Spur, ein „allerdings ernstes Zeugn i s " darstellt. Die Souveränität der Selbstbestimmung der Liebe Gottes zum eigenen Leiden entbindet den Menschen sowohl zum Mitleiden und tätigen Widerspruch gegen das Leiden der Mitmenschen als auch zur „vorläufigen" Geduld mit dem eigenen Kreuz: Es hat seine eigene Würde, aber auch seine von der Zukunft des Auferstandenen begrenzte Z e i t 1 7 . D i e s e v e r s c h i e d e n e n E x p l i k a t i o n e n spiegeln n i c h t z u l e t z t d i e e t h i s c h e Strittigkeit d e s L e i d e n s , die d e m B e w u ß t s e i n d e r K u l t u r k r i s e ü b e r h a u p t e i g e n t ü m l i c h w a r . D i e Differenz d e r individuellen L e b e n s f ü h r u n g z u m H a n d e l n u n d L e i d e n in s o z i a l e n u n d p o l i t i s c h e n S t r u k t u r e n k o n n t e , die Z u w e n d u n g z u m einzelnen L e i d e n d e n u n b e s t r i t t e n , z u r pazifistischen oder sozialistischen O p t i o n , aber auch zur L e g i t i m a t i o n des gerechten Krieges und d e r R e v o l u t i o n v o n r e c h t s f ü h r e n . D i e G e s t a l t d i e s e r W e l t k o n n t e in ihrer S c h i c k s a l h a f t i g keit als W e l t d e s K a m p f e s u n d L e i d e n s a u s d e r g ö t t l i c h e n P ä d a g o g i e s a n k t i o n i e r t w e r d e n , u n d z w a r im Blick n i c h t n u r a u f d a s erlittene, s o n d e r n a u c h a u f d a s z u z u f ü g e n d e L e i d e n weil G o t t H e l d e n t u m in T a t und L e i d e n , „ M a n n h e i t " will ( A l t h a u s , a . a . O . 4 1 7 ) .

4. „Nach

Auschwitz"

4.1. Öffentliches

Bewußtsein

D a s b e s c h ä m e n d e E r w a c h e n aus d e m neuzeitlichen T r a u m v o m vernünftigen Leiden h a t den N a c h l e b e n d e n v o r allem d i e E r i n n e r u n g an die O p f e r dieses T r a u m e s z u r Pflicht g e m a c h t ( S u s m a n ; W i c s c n t h a l ) . D a ß L e i d e n in einer W e l t , in d e r „ A u s c h w i t z " g e s c h e h e n k o n n t e , eine D i s t a n z n i c h t m e h r z u l a s s e , a u s d e r es e r k l ä r t u n d v e r g e s s e n w e r d e n k ö n n t e , ist zur B e d i n g u n g seiner D a r s t e l l u n g in d e r L i t e r a t u r u n d d e r b i l d e n d e n K u n s t g e w o r d e n ; o h n e d i e s im Blick a u f d e n H o l o c a u s t selbst (P. C e l a n , N . S a c h s , E . W i e s e l , P. L e v i , M . Chagall; Strack; D a e m m r i c h 175ff). Die Ästhetik der gelassenen Heiterkeit wurde prog r a m m a t i s c h a b g e l ö s t d u r c h die d e r „ B e t r o f f e n h e i t " ( H . B o l l , 1 9 5 5 ) . A u c h d a s p h i l o s o p h i s c h e D e n k e n v e r b o t sich d e n P a k t m i t d e m - » B ö s e n , d e n eine n e u t r a l e P e r s p e k t i v e s c h o n b e d e u t e n w ü r d e . U n e r t r ä g l i c h s c h i e n i n s b e s o n d e r e j e d e r V e r s u c h einer T h c o d i z c e , die d e n r a d i k a l v e r e i n z e l n d e n u n d r a d i k a l v e r n e i n e n d e n C h a r a k t e r d e s e r l i t t e n e n B ö s e n in ein g u t e s A l l g e m e i n e s e i n o r d n e n will - sie ließe n o c h e i n m a l d i e H e n k e r über die O p f e r triumphieren ( A d o r n o , Negative Dialektik 2 6 f . 2 0 0 f . 3 5 2 f f ) . Das betroffene Denken verlangt aber die Analyse des „Verblendungszusammenhanges", in dem „Auschwitz" möglich werden konnte. Ihr zufolge hat aufklärerische Neuzeit, kraft der ihr eigenen Rationalität, Leiden abgeschafft, aber in unerhörtem M a ß e allererst hervorgebracht. Ihre immanente Ambivalenz war und ist die Versuchung, ihre Erwartungen an Fortschritt und Glück, über das Individuum im Namen der Gesellschaft oder der Geschichte verfügend, totalitär und technokratisch durchzusetzen (Adorno/Horkheimer). Diese Einsicht nötigt zur „ T r a u e r a r b e i t " , gegen Verdrängung und Flucht in den ökonomischen Erfolg (Mitscherlich). Der „Historikerstreit" über die Einzigartigkeit des Holocaust hat die Last dieser Arbeit noch einmal b e l e g t 1 8 . D a s p h i l o s o p h i s c h e D e n k e n w u r d e freilich n i c h t n u r v o n d e r E x o r b i t a n z z e i t g e n ö s s i s c h e n L e i d e n s a n g e s t o ß e n , s o n d e r n a u c h v o n seiner N o r m a l i t ä t in t e c h n i s c h u n d ö k o n o m i s c h f o r t g e s c h r i t t e n e n , p o l i t i s c h liberalen u n d m o r a l i s c h p e r m i s s i v e n

Gesellschaften.

H i e r n i m m t es freilich diffusere F o r m e n a n : R e d u k t i o n d e s I n d i v i d u u m s a u f P r o d u k t i o n

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und Konsum, schleichende Alkohol- und D r o g e n a b h ä n g i g k e i t , Selbstverbot des Leidens in einer „Kultur der A n a l g e t i k a " , die um so mehr somatische und psychische T h e r a p i e erfordert. Das kulturkritische Bewußtsein der sechziger J a h r e t r a t d a h e r gegen die Eindimensionalität der Wohlstandsgesellschaft und gegen ihren ä u ß e r e n Preis auf, den E x p o r t von H u n g e r und Krieg in die Dritte Welt: „Keine Verwirklichung der Vernunft steht zu erwarten, so lange nicht d a s Leiden a u f g e h o b e n ist" (H. M a r c u s e , Vernunft u. Revolution, Neuwied/Berlin 1967, 239). Vernünftigem D e n k e n m u ß t e eine revolutionäre Praxis d e r Abschaffung von Leidensursachcn entsprechen. Diese Praxis ließ jedoch bald erkennen, d a ß das einfache „ E n d e der G e d u l d " (E. Bloch, Atheismus im C h r i s t e n t u m , F r a n k f u r t a . M . 1968, 148), d . h . ein abstraktes Realitätspostulat, die Dialektik des aufklärerischen Fortschritts noch einmal exekutierte; denn es erzeugte und verzweckte w i e d e r u m individuelles Leiden f ü r übergeordnete Interessen. D a s bestätigte, w o r a u f schon die medizinische Anthropologie in Korrektur der Psychoanalyse hingewiesen h a t t e (von Weizsäcker, Frankl): Soll die Absicht, die Ursachen von Leiden zu beseitigen, nicht in die Flucht in eine i m m e r erst herzustellende leidensfreie Z u k u n f t umschlagen und also neurotisch werden, so m u ß auch das jetzt erlittene körperliche und seelische Leiden mit Lebenssinn v e r k n ü p f t werden. Allerdings scheint jene Flucht eine Signatur einer technokratisch g e w o r d e n e n M o d e r n e zu sein: Weitgehend selbstverständlich g e w o r d e n ist eine Ideologie der M a c h b a r k e i t von allem, die nicht n u r neues Leiden, sondern überdies die Krankheit erzeugt, nicht leiden zu k ö n n e n , vielmehr vermeidbares Leiden im Gefolge des ichausweitenden G e b r a u c h s der Technik in Kauf zu n e h m e n und f r e m d e s Leiden publizistisch zu vermarkten oder f ü r politische Z w e c k e zu „ b o r g e n " . Kann m a n dies einen „ G o t t e s k o m p l e x " nennen (Richter 127ff), so ist es ebenso plausibel, die neuzeitliche Utopie des Fortschritts an ihr Ende g e k o m m e n und die offizielle Defatalisierung des menschlichen Lebens von seiner inoffiziellen Refatalisierung kontrastiert zu sehen. Die Aufgabe, die Unvcrmeidlichkeit u n v e r f ü g b a r e r Vorgaben und Folgen des H a n d e l n s zu b e d e n k e n 1 9 , bringt das philosophische Denken allerdings in eine zweideutige N ä h e zum theologischen, das einerseits mit der religiösen Bewältigung der Kontingenz des Leidens zu t u n , das andererseits die christliche E n t m ä c h t i g u n g des F a t u m s zu vertreten hat. 4.2. Theologische

Reaktionen

Die W a h r n e h m u n g des Leidens in der Theologie w a r zunächst d a v o n geprägt, d a ß die Kirche als solche weltweit der Verfolgung ausgesetzt w u r d e (Vicedom 6 f f ) . Der U m g a n g der vielen M ä r t y r e r mit ihrem Leiden stellte o h n e Zweifel ein unschätzbares theologisches Erbe dar. Die eigene E r f a h r u n g h a t D. - » B o n h o e f f c r nicht n u r die N o t w e n d i g k e i t , die geschichtlichen Ereignisse von u n t e n , aus der Perspektive der Leidenden, zu b e t r a c h t e n , s o n d e r n vor allem die A b s t r a k t h e i t der bloßen Entgegensetzung von Widerstand u n d Ergebung deutlich g e m a c h t (Widerstand 244). So wesentlich die Kreuzesnachfolge ist, einschließlich k ö r p e r l i c h e r Schmerzen u n d seelischer Angst, so wenig hat sie e t w a s Unterwürfiges o d e r g a r Eitles; sie b e d e u t e t vielmehr in freier, v e r a n t w o r t l i c h e r , die S c h u l d ü b e r n a h m e nicht scheuender T a t f ü r u n d in a n g s t f r e i e m Mitleiden mit den Brüdern die T e i l n a h m e an der Weite des H e r z e n s Christi ( N a c h f o l g e ; W i d e r s t a n d 23 f.327.382.395). N a c h „ Z u c h t " u n d „ T a t " ist d e s h a l b d a s zugeschickte Leiden eine der „ S t a t i o n e n auf d e m Wege zur F r e i h e i t " (403 f.406f). Im G e h e n dieses Weges, auf d e m Schicksal zu F ü h r u n g w i r d , ist es wieder möglich, Kreuz u n d Segen, Schmerz u n d Glück als zur „ P o l y p h o n i e des ganzen L e b e n s " gehörig zu verstehen (333f.366f; gegen Kierkegaard 406ff; Schultz).

Die in den Krieg und in die Vorbereitung des H o l o c a u s t verstrickten Kirchen k o n n t e n sich allerdings nicht als O p f e r darstellen o d e r v o m dritten O r t aus O p f e r und T ä t e r versöhnen zu wollen vorgeben. D a s Stuttgarter Schuldbekenntnis (1945) bedeutet d a h e r eine neue, nicht n u r aus Mitleid, sondern k r a f t der Bitte um Vergebung betroffene Einstellung zum Leiden (vgl. G . Sauter, W a h r n e h m u n g der Gesch.: G u L 5 [1990] 9 - 1 9 ) . Sie w u r d e allerdings erst spät w i r k s a m ; die Nihilismus-Debatte d e r vierziger und fünfziger J a h r e neigte stark zur Schuldzuweisung an die bindungslosen, säkularistischen Zeitgenossen. Erst in den sechziger J a h r e n begann sich ein „Leiden an der K i r c h e " (Thielicke)

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zu artikulieren, das nicht bloß die Erosionserscheinungen der -> Volkskirche meinte, sondern die Beunruhigung über die Trägheit der Kirche gegenüber und Mitschuld an der gesellschaftlichen Verursachung von Leiden. Das Motiv der neuen Programme war eben das „Ende der Geduld" mit dem demütigen Einverständnis in die bestehenden Verhältnisse (Moltmann, Hoffnung 21). Die politische und ökonomische Abschaffung der Ursachen von Leiden zielte auf ein Reich der Freiheit, dessen religiöse und praktische Aspekte jedoch nicht klar unterschieden wurden; es mangelte an der Kritik einer Praxis, die auch eine „Flucht ins Engagement" (W.W. Bartley) war. Im Kampf gegen das Leiden, besonders in der Dritten Welt, zeigte sich jedoch, daß gerade dem befreiend Handelnden Leiden zugemutet wurde, nicht bloß äußerlich, sondern als „Preis der Liebe" (Boff; Greshake) und daß der ausschließlich tätige Umgang mit dem Leiden, seine „Bewältigung" (Harbsmeier), apathisch für die Leidenden selbst machte. Wenn diese nicht wiederum für eine noch so emanzipatorisch gemeinte, aber technokratische Praxis instrumentalisiert werden sollten, bedurfte es der Erinnerung des erlittenen Leidens (Metz), das nicht mehr abzuschaffen ist, das aber das Leben des Betroffenen zu zerreißen droht. Statt Selbstverwirklichung und Annahme des Leidens alternativ zu setzen, muß gerade mit den Grenzen des eigenen Handelnkönnens lebensgeschichtlicher Sinn verknüpft werden 2 0 . So richtig es war zu sagen, daß Emanzipation sich nicht durch Erlösung ersetzen läßt, so gilt nun auch wieder umgekehrt, daß Erlösung sich nicht durch Emanzipation ersetzen läßt (Küng). Das vorläufige Ergebnis der theologischen Selbstkritik eines chiliastischen Praktizismus ist die erneute Unterscheidung von Trost im Leiden und Kampf gegen das Leiden — und die Einsicht, daß sie nicht theoretisch antizipiert werden kann. Die moderne, nach außen gerichtete Frage nach der möglichen Beseitigung der Ursachen von Leiden kann sinnvoll gestellt werden nur, wenn die traditionelle, nach innen gerichtete Frage nicht verdrängt wird, welchen Sinn Leiden habe und wie aus Leiden gelernt werden könne (Solle 11.111 f). 4.3. Dogmatische und ethische Aufgaben Leiden ist ein Problem der individuellen Lebensführung und des sozialen Verhaltens, aber ein Problem gerade an der Grenze des Handelnkönnens. Daher kann es nicht ausschließlich als ethisches Problem betrachtet werden; seine Behandlung aus der Perspektive der Ethik stößt auf das dogmatische Problem der religiösen Relativierung menschlicher Praxis, etwa angesichts der Nötigung, zwischen Lebenssinn und Lebenszwecken zu unterscheiden 21 . Andererseits kann das Problem auch nicht ausschließlich als dogmatisches betrachtet werden, wenn nicht die Kontingenz und Existenzialität, die der Leidenserfahrung wesentlich ist, theoretisch antizipiert werden soll. Gegenseitige Ausschließlichkeit würde eine Theorie (oder vielmehr: Ideologie) des Sinnes bisherigen Leidens und eine Praxis (oder vielmehr: Technik) der Vermeidung zukünftigen Leidens auscinanderfallen und sich gegenseitig dementieren lassen. Das Problem des Leidens ist insofern ein besonders scharfer Prüfstein der theologischen Methode (McGill). 4.3.1. Eine dogmatische Aufgabe bleibt es, die Notwendigkeit von religiösem Leiden christologisch zu begründen als dasjenige, in dem das in Tun und Leiden praktische Subjekt allererst in sein Leben und Recht vor Gott eingesetzt wird, das es in seiner Exzentrizität auch nie hinter sich lassen kann. Dieses Erleiden Gottes liegt nicht nur der menschlichen Praxis und ihrer Polarität von Aktivität und Passivität voraus, sondern auch der von „Leiden" im Sinne subjektiver Befindlichkeit (ursprünglich: in die Fremde, ins „Elend" ziehen) und „Leid" im Sinne des objektiven Tatbestandes zugefügter Verletzung (ursprünglich: „Beleidigung", Unrecht [Dt. Wb., hg. v. J. u. W. Grimm, Leipzig, VI 1885, 654.666]). „Gott erkennen, Gott erleiden" hat nichts Masochistisches, weil das Kreuzesleiden Christi schon für die christliche Anthropologie ein fundamentales Datum darstellt. Das schließt aber nicht aus, im humanwissenschaftlichen Kontext hinzuweisen auf die Normalität von Leiden für die Genese und die lebensgeschichtliche Entwicklung von Personalität, d. h. für den Vermittlungsprozeß zwischen Subjekt und Objekt, zwi-

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sehen dem Handeln ins Außen und der Einwirkung des Außen, Anderen, verunsichernd Fremden oder verneinend Feindlichen. Theologisch unzureichend wäre es, nur die physische, psychische und soziale Dimension des Leidens festzustellen (Weil 112); die Erfahrungen von körperlicher und seelischer Krankheit, von Verlust und Entwürdigung müssen mit der Struktur personalen Daseins verknüpft, d.h. als Krise des Selbstverhältnisses eines Individuums namhaft gemacht werden (Stock 546f). Nicht zufällig entzündet sich an Leiden in diesem Sinne ein zwar problematisches, aber unabhängig von christlicher Prägung elementares Interesse an Religion 2 2 . Die Unterscheidung von praktischem und religiösem Leiden bliebe in sich widersprüchlich, wenn sie nicht auch am theologischen Denken selbst vollzogen würde, als seine Selbstunterscheidung von der Erfahrung des Leidens; es muß den erfahrungsnäheren Medien und Formen der Äußerung dieser Erfahrung also immer neu Platz machen, den künstlerischen Sprachen und insbesondere der beredten und stummen religiösen Klage (Bayer). Die Kritik an dem moralistischen Selbstzwang, dem allerdings auch eine autobiographische Erzählung oder die literarische Anklage des Leidens verfallen können, setzt die Selbstkritik der theologischen Neigung voraus, Leiden theoretisch zu antizipieren. Der Verzicht darauf, sich aus der Angewiesenheit auf die Kontingenz religiöser Erfahrung und Sprache zu emanzipieren, ist im gelingenden Fall identisch mit der Kritik der Theodizee. Eine solche läge noch vor, wo Leiden teleologisch, und sei es unter dem Titel der Eschatologie (oder unter dem einer kosmischen Perfektibilität, oder der Reinkarnation), eingeordnet und entschärft, nämlich dem einzelnen Leidenden abgesprochen würde; ebenso noch, wo das Gelingen der Selbstverpflichtung auf gutes Handeln so antizipiert wird, daß das Leiden verursachende Böse stets nur als terminus a quo gilt, daß Täter und Opfer mithin abstrakt getrennt werden. Die Kritik an der Totalisierung menschlicher Praxis bedeutet allerdings nicht die Auflösung des Theodizeeproblems, so lange die Verheißung der Seligkeit der Leidtragenden noch Glauben findet (Moltmann, Theodizeefrage 37; Sparn, Aktualität 222ff). Der Anthropologie stellt sich die Aufgabe, einen Begriff von Individualität (-»Individuum/Individualismus) zu entwickeln, in dem die l.eistungs- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen unterschieden bleibt von seiner eigentümlichen Andersheit und Kreatürlichkeit (nicht zufällig wird die Bedeutung des menschlichen Antlitzes von jüdischen Autoren besonders betont: E. Lévinas). In der Gotteslehre steht die Kritik des Apathie-Axioms und seines impliziten Sadismus an. Allerdings dürfte die schon gebräuchliche Rede von einem leidenden Gott als kosmologisch-theogonische noch äquivalent sein mit dem metaphysischen Gottcsprädikat der Allmacht; ihre Begründung in der Trinitätslehre (Kitamori; Moltmann, Gott; Hedinger) ist noch strittig.

Außer Frage steht jedoch die Bedingung dafür, Leiden theologisch zu verstehen: „ . . . auf das Kreuz Jesu Christi blicken und mit seiner Passion zu leben und zu denken beginnen" (Sauter 440). 4.3.2. Eine ethische Aufgabe ist es, am Handeln die christliche Unterscheidung von Handeln und Leiden zur Geltung zu bringen und zwischen der Praxis der Vermeidung künftigen Leidens und der Kommunikation mit Leidenden, dem Mitleiden und Trösten, unterscheiden zu lernen. Vorausgesetzt ist dabei eigene Erfahrung, zumal die, daß die Verschiedenheit zwischen der personalen Normalität und der emphatischen Anomalität des Leidens, dessen Qual und Verzweiflung aktuell oder vielleicht permanent ohne erkennbaren Sinn und Nutzen bleibt, eine relative ist; daß ihre Ubergänge also fließen und je nach augenblicklicher Verfassung und langfristiger Prägung an sehr verschiedenen Stellen liegen. Vorausgesetzt ist aber auch die Erfahrung der -»Vergebung von Schuld; ohne sie müßte Leiden letztlich immer in bessernde Praxis absorbiert werden. Eine solche „Bewältigung" würde den Gegensatz von Täter und Opfer aber nur erneuern und nötigte zur Verrechnung von eigenem und fremdem Leiden, also zu einer „Sinngebung" in eben jener Veräußerlichung von Schuld, die das leidverursachende Böse stets fortzeugt. Beide Voraussetzungen sind in kontingenter, aber plausibler Weise in der christlichen Erfahrung der vita passiva gegeben. Der individuellen Lebensführung stellt sich die Aufgabe, in der

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E r i n n e r u n g w i d e r f a h r e n e r B e e n d i g u n g d e r eigenen H a n d l u n g s m ö g l i c h k e i t , L e i d e n s f ä h i g keit zu e r h a l t e n u n d e r n e u e r n . Dies e r f o r d e r t d i e S e l b s t a n n a h m e als eines L e b e w e s e n s , d a s w i e a n d e r e G e s c h ö p f e d e s k ö r p e r l i c h e n S c h m e r z e s f ä h i g u n d b e d ü r f t i g ist, u n d als einer P e r s o n , die wie a n d e r e M e n s c h e n seelisch verletzt w e r d e n k a n n u n d ü b e r die t a t s ä c h l i c h e n Verletzungen h i n a u s A n g s t v o r Leiden h a t (Larbig; Kössler). Es e r f o r d e r t f e r n e r die Bereitschaft zu B e s c h r ä n k u n g u n d Verzicht a u f d i e R e a l i s i e r u n g individueller W ü n s c h e u n d L e i d e n s c h a f t e n , d . h . d i e B e r e i t s c h a f t z u r Askese. N a c h christlicher E r f a h r u n g w i r d die Balance z w i s c h e n S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g u n d Leiden e r n e u e r t im Erleiden d e r R e c h t f e r t i g u n g des S ü n d e r s d u r c h G o t t ; erst sie b e f ä h i g t z u r A n n a h m e des z u g e s c h i c k t e n Leidens als K r e u z e s n a c h f o l g e Christi (Gestrich; Koch 2 6 4 f f ) . D i e A u f g a b e d e r U n t e r s c h e i d u n g v o n H a n d e l n u n d Leiden stellt sich a b e r a u c h im Verhalten n a c h a u ß e n , in d e r U n t e r s c h e i d u n g des persönlichen Verhältnisses zu L e i d e n d e n v o n d e r sozialen u n d politischen P r a x i s d e r A u f h e b u n g v o n U r s a c h e n v o n Leiden. U n b e s c h a d e t des E n g a g e m e n t s (das a u c h die T i e r e einbeziehen m u ß ) e r f o r d e r t d i e E x i s t e n z i a l i t ä t d e s Leidens einen U m g a n g m i t d e m L e i d e n d e n , d e r die S o l i d a r i t ä t d e r B e t r o f f e n h e i t u n d die D i s k r e t i o n d e r A c h t u n g a u s z u t a rieren versteht. Wer sich auf d i e potentielle U n i v e r s a l i t ä t u n d die q u a n t i t a t i v e M a s s c n h a f t i g k e i t von Leiden z u r ü c k z i e h t , ist z u m t r ö s t l i c h e n Z u h ö r e n , S c h w e i g e n , S p r e c h e n u n d Verhalten e b e n s o u n f ä h i g wie d e r , dessen M i t l e i d eine P r o j e k t i o n seines Selbstmitleids ist u n d d e r d a h e r die L a n g s a m k e i t d e r G e d u l d nicht a u s h ä l t . D a s V e r m ö g e n , T r o s t z u z u s p r e c h e n , schließt nicht n u r d i e Sensibilität f ü r die b i o g r a p h i s c h e S i t u a t i o n ein, s o n d e r n a u c h f ü r die soziale, religiöse u n d k u l t u r e l l e P r ä g u n g . A u c h in d e r Welt des C h r i s t e n t u m s h a t sich die D i s p o s i t i o n f ü r die E r f a h r u n g des Leidens s t a r k differenziert; d e r w e l t a n s c h a u lich-religiöse S y n k r e t i s m u s d e r n ö r d l i c h e n L ä n d e r r ü c k t es in d e n E i n f l u ß b e r e i c h vielfältigen A b e r g l a u b e n s bis z u r Alltagsastrologie, a b e r a u c h eines quasi-mythologischen D u a lismus von G u t u n d Böse o d e r in d e n eines h e r o i s c h e n o d e r t r a g i s c h e n Schicksalsglaubens. W ä h r e n d die v e r i n n e r l i c h t e Existenzialität d e s Leidens die P r o f e s s i o n a l i s i e r u n g des D e u t e n s u n d T r ö s t e n s z u m schwierigen P r o b l e m g e m a c h t h a t , ist im Blick auf d i e Kulturalität des Leidens die p r o f e s s i o n e l l e K o m p e t e n z d a h e r h e u t z u t a g e w i c h t i g e r d e n n je. Anmerkungen 1

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Walter Sparn V. Praktisch-theologisch 1. Leiden als Thema der Praktischen Theologie 2. Z u m Umgang mit dem Leiden 3. Interdisziplinäre Zusammenarbeit zur Bewältigung von Leiden 4. Psychosoziale Aspekte 5. Zusammenfassung (Literatur S. 711)

Leiden V

708

1. Leiden als Thema der Praktischen

Theologie

Unausweichliches Leiden erschüttert die sonst geübte Lebenspraxis eines Menschen und gerät damit zur mannigfaltig schmerzbesetzten und zugleich unfaßbaren Grenzerfahrung. Jeder zielgerichtete Umgang mit diesem Zustand setzt eine besondere Einstellung und ein reflektiertes Handeln voraus. Auch in diesem Kontext läßt sich Praktische Theologie als eine Handlungswissenschaft verstehen, der einmal die Verknüpfung theologischer und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse angelegen ist (Daiber 112) und die sich zum anderen der Aufgabe stellt, funktionale theologische Theorie der Kirche zu sein (Hübner 292). Die genannte Voraussetzung zeigt sich in ihrem Rahmen sowohl mit einer weltanschaulichen Basisannahme als auch mit institutionalisierten Umgangsformen zusammengebunden: Mit Leiden umzugehen, wird zu einer konkreten Angelegenheit des christlichen Glaubens in seiner persönlichen Ausprägung und in seiner organisierten Gestalt. Allgemein gefaßt kommt dieses Anliegen in jedem der praktisch-theologischen Arbeitsgebiete zum Tragen: Ein Gottesdienst ist nicht denkbar ohne die glaubenskonstitutive Erinnerung an die Leidensgeschichte Jesu Christi, die speziell in der Feier des Heiligen Abendmahls und besonders in der Passionszeit nahegelegt wird. Wenn der einzelne sich teilnehmend erinnern läßt, partizipiert er gleichzeitig an der liturgisch verarbeiteten und ritualisiert ausgedrückten Glaubensaussage, daß alle nur vorstellbare Leidenserfahrung sich auf Gott beziehen läßt. In der Predigt zentriert sich der Verkündigungsauftrag um die Zusage, daß das Evangelium tatsächlich allen Lebenslagen entspricht. Damit aber ist menschlichcs Leiden grundsätzlich als auf Hoffnung hin durchlebbar, also schlußendlich begrenzt aufzufassen. In der christlichen Unterrichtung beziehen sich die Lernvorgänge auf eine Lebensgestaltung, in welcher eine (an Vorbildern ausgerichtete!) Leidensbewältigung als ein wichtiger Teilaspekt aufgefaßt ist. Alles Nachdenken über einen Gemeindeaufbau hätte seinen Sinn verfehlt, wenn es die Verantwortung für die Leidenden sowohl vor Ort als auch grenzüberschreitend nicht als notwendiges Thema behandelte. Schließlich wird mit Seelsorge jenes Schwcrpunktgcbict der Praktischen Theologie bezeichnet, in dem es um Findung und rechten Gebrauch jener Mittel geht, die nötig sind, um sich christlich um seinen Mitmenschen „ k ü m m e r n " (Jentsch 9f) zu können, wenn dieser auf irgendeine Art und Weise zu den Leidenden gehört. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich mit der sogenannten Pastoralpsychologie innerhalb der Praktischen Theologie eine spezifische Wahmehmungseinstellung etabliert. Ihre Vertreter (Becher; Ricss; Scharfenberg) möchten das Leidenserleben gerade auch als Grenzerfahrung von deren empirischer Zugängigkeit her in die gegenwärtige praktischtheologische Fragestellung einbringen und damit den handlungswisscnschaftlichen Ansatz besonders unterstreichen. 2. Zum Umgang mit dem

Leiden

Diese generelle Einstellung, gezielten Umgang mit Leiden als praktisch-theologische Aufgabe zu begreifen, ist zunächst in der Lebenswelt des einzelnen zu konkretisieren. Dabei zeigt sich sehr bald, daß die individuelle Bearbeitung von Leidenszuständen in engster Korrespondenz mit dem persönlichkeitsspezifischen Glaubensmodus (Winkler) des Betroffenen zu sehen ist. Daß Leiden höchst unterschiedlich als herausfordernd schicksalshafte Realität, als Infragestellung existentieller Basisannahmen, als Prüfung, als Strafe für (verborgene) Verfehlungen, als quälendes Warten, als schreiende Ungerechtigkeit etc. erfahren wird, hängt unabdingbar mit der einstellungstypischen Vertrauensstruktur im Beziehungsbereich bzw. mit einem dementsprechenden Gottesbild zusam-

709

Leiden V

men. — Auf diesem Hintergrund geschieht entlastender zwischenmenschlicher Umgang mit Leidenden in benennbaren Handlungsphasen: Zunächst ist akutes Leiden (und gegebenenfalls dessen spontane weltanschauliche Zuordnung) als spezifisches Erleben der Person wahrzunehmen und dieser als solches zu bestätigen. Erst daraufhin sollte der Versuch unternommen werden, den charakteristischen Verlassenheits- und Isolierungsängsten eines Leidenden kompensatorische Zuwendungsakte (wie anwesend bleiben, schmerzlindernde Maßnahmen ermöglichen, ichstärkende Erinnerungen wachrufen etc.) entgegenzusetzen. - Diese Abfolge ist Voraussetzung dafür, zunehmend Kommunikationsmöglichkeiten zu eröffnen (Jörns). - Mit solchem Vorgehen ist eine doppelte Ausrichtung verbunden: Einmal wird der Leidende so am ehesten in Stand gesetzt, auf unabgegrenzt quälende Schmerzen Leibes und der Seele in einer anderen als der bisher gewohnten Weise zu reagieren. Unter Umständen kann es ihm dann auch leichter gelingen, sich vorgegebene Glaubenserfahrungen und theologische Einsichten zunutze zu machen. Entsprechende Identifikationsangebote, wie die Hinweisung auf den nicht nur an der Welt, sondern auch an Gott leidenden Jesus (Moltmann), die Hinweisung auf einen Gott, der nicht nur Mit-Leid, sondern auch Mit-Schmerz empfindet und sich parteilich auf Seiten der Opfer vorfindet (Kitamori, Solle), oder die Hinweisung auf die sich in allem Leiden widerspiegelnde göttliche Liebesrelevanz (Greshake) werden emotional zugänglicher. So erst erhalten sie eine das leidvolle Erleben strukturierende Funktion und können den individuell von Leid Betroffenen gleichzeitig dazu anregen, sich innerlich auf eine Solidarisierung aller Leidenden vorzubereiten (s.u. Abschn.4). - Z u m anderen gilt es, darüber zu kommunizieren, daß sich der moderne (Christen-) Mensch in zunehmendem Maße mit dem Eindruck einer irritierenden Unvereinbarkeit seiner unterschiedlichen Lebenserfahrungen abzufinden hat (Spam 247f). Konkret bedeutet das für viele den schmerzhaften Verzicht auf einen traditionellen Glaubensmodus, dessen metaphysische Begründungsstruktur es erlaubte, eine einheitliche Gotteserfahrung mit einer ebenso einheitlichen Daseins- und Sinnerfahrung gleichzusetzen. Für die Gottesbeziehung eines Leidenden setzt die mit dem Bruch entstandene Lage neue und meist ungewohnte Umgangsformen mit Angst, Aggression, Klage, Kränkung, Schuld(gcfühl), Ambivalenzempfindung sowie mit den überkommenen frommen Erwartungshaltungen voraus. Die Ausdrucksformen dieser affektiven Befindlichkeit im Leiden können vom einzelnen durchaus als direkt gegen Gott gerichtet erlebt werden. Dann sind sie seelsorgerlich gerade nicht als schuldhaftes Versagen, sondern als Aspekte einer verzweifelten Kontaktsuche zu behandeln (Piper; Josuttis 117ff). - Hilfestellung ist schließlich auch dort zu leisten, wo es immer wieder unternommen wird, tatsächliches, aber verdeckt oder verschoben wirksames Leiden aus der alltäglichen Wahrnehmung zu verdrängen bzw. ihm mit Verleugnung und Entwertung zu begegnen (Schulze 9ff). Sonst liegt nahe, eine entsprechende Tendenz der Gegenwart noch zu verstärken, womöglich pscudochristlich zu motivieren oder sogar in kurzschlüssiger Weise als direkte Glaubensfolge zu deklarieren. So erweist sich auch in diesem Kontext die Möglichkeit eines hilfreich veränderten Umgangs mit Leiden oft als eng verbunden mit einem notwendigen Wandel der Frömmigkeitsstruktur. 3. Interdisziplinäre

Zusammenarbeit

zur Bewältigung

von

Leiden

Solcher Wandel in der Frömmigkeitsstruktur zielt u. a. auch darauf ab, daß christliche Nächstenliebe über bloße Hilfsbereitschaft gegenüber Leidenden hinaus als lehr- und lernbare Hilfe in der Sache aufgefaßt und gehandhabt wird. Das läßt nach humanwissenschaftlichen Einsichten zum Thema Leiden fragen. Praktische Theologie hat hier die Aufgabe einer kritischen Uberprüfung und gegebenenfalls einer Integration therapeutischer Strategien der Leidensverarbeitung. Der Vorteil dieser interdisziplinären Zusammenarbeit liegt darin, noch weitergehend verborgene Leidensursachen mit dem Ziel aufdecken zu können, Fehlverarbeitungen entgegenzuwirken (Freud). Schwerpunkte der Auseinandersetzung und Bearbeitung sind dabei die Erlebensgebiete Krankheit inklusive Sucht (Mayer-Scheu/Kautzky, Harsch), Tod (Spiegel, Lindemann, Klaus/Winkler, Lük-

710

Leiden V

kel) bzw. Situationen besonderen körperlichen und seelischen Schmerzes oder Behindertseitis (Schuchardt). Einen breiten Raum nimmt Leiden als Folge von Beziehungsstörungen ein (Thilo). Hilfreich für die seelsorgerliche Arbeit auf allen Einzelgebieten ist die zunehmend differenziert mögliche Einsichtnahme in typische Abläufe und leidvolle Auswirkungen von Trennungsvorgängen (Mahler u.a.), von sadomasochistischer Beziehungsgestaltung (Reik), von sich psychosomatisch auswirkendem Kränkungserleben sowie von gehemmter oder verdrängter Aggressivität (Selg). Vor allem läßt eine effektive Krisenintervention die Zusammenarbeit von Theologen und Humanwissenschaftlern unabdingbar erscheinen (Sonneck). - Christliche Nächstenliebe ist bei all diesen praktischen Maßnahmen aber auch in dem Bestreben zu verwirklichen, die letztlich unausweichliche, aber in vielen Leidenszustär.den notgedrungen ausgesetzte Sinnfrage stellvertretend zu verwalten (Cullberg). 4. Psychosoziale

Aspekte

Ist theologisch reflektierter Umgang mit Leiden heute praktisch nicht mehr ohne besondere Berücksichtigung des psychosozialen Aspektes denkbar, so bedeutet das auch weltweite Verantwortung füreinander. Die entsprechende Auseinandersetzung bekommt von daher einen gesellschaftlichen Aspekt, der der Praktischen Theologie angelegen sein muß. Die Aufgabe, Leid zu teilen, ist unter den Einsichts- und Handlungsmöglichkeiten von heute zu radikalisieren und weltweit zu generalisieren (Hertel/Paffenholz). Die deutliche Unterscheidung von unabänderlichem Leiden, das nicht verdrängt werden sollte, und grundsätzlich vermeidbarem, weil zwischenmenschlich zugefügtem Leiden wird immer notwendiger. Ihr entspricht eine Grundeinstellung, die wachsende Solidarität mit den Leidenden in aller Welt nicht nur sentimental wünscht, sondern als Sachproblem erfaßt (Bahr, Spielregeln). Voraussetzung dafür ist die einzuübende Fähigkeit, allgemeine Einsicht und subjektive Betroffenheit zu koordinieren. Der situativ gerade nicht Leidende muß lernen, sich mit dem situativ oder unabgegrenzt Leidenden angstfreier zu identifizieren. Hierbei hat Praktische Theologie die Aufgabe, entsprechende Lernvorgänge zu institutionalisieren und damit zugleich fürsorgliche und prophylaktische Arbeit zu leisten. Erst auf dieser Grundlage kann Leiden als wirksam mit (stellvertretendem) Protest verbunden erlebt werden (Frey). Als Paradigma kann die Umgangsform mit Folter dienen: Menschen fügen anderen Menschen unter bestimmten sozialen und politischen Bedingungen extremes Leid zu. Der Vorgang ist nur bei pathologischer Spaltung der verschiedenen Erlebenselemente denkbar. Die Aufhebung solcher Persönlichkeits- und Rollenaufspaltung in Täter und Opfer im alltäglichen Bereich zu beginnen und in den politisch institutionalisierten Bereich hinein fortzusetzen, ist als genuin christliche Unternehmung konkret zu machen. 5.

Zusammenfassung

Zusammengefaßt besteht der praktisch-theologische Auftrag im Umgang mit Leiden darin, den davon Betroffenen unter den jeweils individuell erlebten Umständen folgewirksam Trost zu vermitteln (Schneider-Harpprecht). Trost als eine zugleich reflektierte und emotional bezogene Handlung fordert dazu heraus, stummes Leid zur Sprache zu bringen, in realitätsbezogener Klage zu konkretisieren und daraufhin Erleichterungsmöglichkeiten und Unterstützungsangebote zukunftsorientiert in Gebrauch zu nehmen. Dabei ist die Unterscheidung von Trost und Vertröstung als ständige Aufgabe zu begreifen. Nur so läßt sich aus dem niederdrückenden Gefühl einer end-losen Niederlage heraus Hoffnung freisetzen, mit tragfähigen Glaubenssymbolen verbinden und auf Leidensbewältigung durch Gott und in Gott ausrichten (Bahr, Hoffen). In diesem Kontext ist sicher auch die Funktion von Gebet und Fürbitte in bezug auf Leidenssituationen zu reflektieren (Kroetke). Unterstützung erfährt das Trostbemühen in aller Regel durch Gruppenbildung (Stollberg). In den verschiedenen Beziehungskonstellationen gilt es jedenfalls, zunehmend eine auf Einfühlungsvermögen gegründete Phantasie zu entwickeln, um tatsächli-

Leiden,

Universität

711

c h e n F o r t s c h r i t t i m U m g a n g m i t L e i d e n zu e r r e i c h e n , o h n e d a ß d i e s e r m i t d e r n i c h t m e n s c h e n m ö g l i c h e n Leidensbefreiung gleichgesetzt erscheint. Literatur H a n s - E c k e h a r d Bahr, Versöhnung u. W i d e r s t a n d . Rel. u. politische Spielregeln gewaltfreien H a n d e l n s , M ü n c h e n / M a i n z 1983. - Ders., H o f f e n . Geschichten vom gelingenden Leben, Stuttgart 1988. - Werner Becher (Hg.), Seelsorgeausbildung, G ö t t i n g e n 1976. - J o h a n Cullberg, Keiner leidet g a n z u m s o n s t . M e n s c h e n b r a u c h e n Krisen zur E n t w i c k l u n g , G ü t e r s l o h 1980. - Karl-Fritz D a i b e r , G r u n d r i ß der P r a k t . T h e o l . als H a n d l u n g s w i s s . , M ü n c h e n / M a i n z 1977. - S i g m u n d F r e u d , D a s U n b e h a g e n in der Kultur: G W XIV, F r a n k f u r t 3 1963, 4 1 9 - 5 0 6 . - Ulrich Frey, Friedens- u. Versöhnungsdienste. A n i m a t i o n zur Parteilichkeit als Beitr. f. eine ö k u m . D i a k o n i e : P. Bloth/K.-F. D a i b e r / J . K l e e m a n n u . a . (Hg.), H b . der P r a k t . T h e o l . , G ü t e r s l o h , IV 1 9 8 7 , 3 7 4 - 3 8 1 . - Gisbert G r e s h a k e , D e r Preis der Liebe. Besinnung ü b e r d a s Leid, Freiburg i. Br. 1978. - H e l m u t H a r s c h , Hilfe f. A l k o h o l i k e r u. a n d e r e D r o g e n a b h ä n g i g e , M ü n c h e n / M a i n z 2 1977. - Peter H e r t e l / A l f r e d P a f f e n h o l z , Für eine politische Kirche: Schwerter zu Pflugscharen. Politische T h e o l . u. basiskirchl. Initiativen, H a n n o v e r 1982. - E b e r h a r d H ü b n e r , T h e o l . u. Empirie. Prolegomena zur p r a k t . T h e o l . , N e u k i r c h e n - V l u y n 1985. - Werner J e n t s c h , H b . der Jugendseelsorge, T. I G e s c h . , G ü t e r s l o h 1965. - Klaus-Peter J ö r n s , N i c h t leben u. nicht sterben k ö n n e n , G ö t t i n g e n 1979. - Kazoh K i t a m o r i , Die T h e o l . des Schmerzes G o t t e s , Göttingen 1972. - M a n f r e d Josuttis, Praxis des Evangeliums zw. Politik u. Religion. G r u n d p r o b l e m e der P r a k t . T h e o l . M ü n c h e n 1974. - Bernhard K l a u s / K l a u s W i n k l e r , B e g r ä b n i s - H o m i l e t i k . Trauerhilfe, Glaubenshilfe u. Lebenshilfe f. Hinterbliebene als Dienst d e r Kirche, M ü n c h e n 1975. M i c h a e l Kiessmann, Identität u. G l a u b e , M ü n c h e n / M a i n z 1980. - Wolf K r o e t k e , Beten h e u t e , M ü n chen 1987. - Friedrich-Wilhelm L i n d e m a n n , Seelsorge im Trauerfall. E r f a h r u n g e n u. M o d e l l e a u s der P f a r r e r f o r t b i l d u n g , G ö t t i n g e n 1984. - Kurt Lückel, Begegnung mit S t e r b e n d e n . , G e s t a l t s e e l s o r ge' in d e r Begleitung s t e r b e n d e r M e n s c h e n , M ü n c h e n •'1990. - M a r g a r e t S. M a h l e r / F r e d Pine/Anni B e r g m a n n , Die psychische G e b u r t des M e n s c h e n , F r a n k f u r t 1984. - J ü r g e n M o l t m a n n , D e r gekreuzigte G o t t . Das Kreuz Christi als G r u n d u. Kritik christl. T h e o l . , M ü n c h e n 5 1 9 8 7 . - H a n s - C h r i s t o p h Piper, Kranksein - Erleben u. Lernen, M ü n c h e n / M a i n z 1974. - T h e o d o r Reik, A u s Leiden Freuden ( L o n d o n 1940), H a m b u r g 1977. - Richard Riess, Perspektiven der Pastoralpsychologie, G ö t t i n g e n 1974. - J o a c h i m S c h a r f e n b e r g , Einf. in die Pastoralpsychologie, G ö t t i n g e n 1987. - C h r i s t o p h S c h n e i d e r - H a r p p r e c h t , Trost in der Scelsorgc, Stuttgart u . a . 1989. - Erika S c h u c h a r d t , „ W a r u m g e r a d e ich . . . ? " . Behinderung u. G l a u b e , Gelnhausen u . a . 1981. - H a n s Schulze (Hg.), D e r leidende M e n s c h . Beitr. zu einem u n b e w ä l t i g t e n T h e m a , N e u k i r c h e n - V l u y n 1974. - H e r b e r t Selg, Z u r Aggression v e r d a m m t ? , Stuttgart u . a . 6 1982. - D o r o t h e e Solle, Leiden, Stuttgart/Berlin 6 1984. - G e r n o t S o n n e c k , Suizid- u. K r i s e n p r o b l e m e bei Kindern u. Jugendlichen: Walter Spiel (Hg.), Die Psychologie des 20. J h . , Z ü r i c h , XII 1980, 7 0 7 - 7 2 0 . - Walter S p a m , Leiden - E r f a h r u n g u. D e n k e n . Materialien z u m T h e o d i z e e p r o b l e m , M ü n c h e n 1980. - Yorick Spiegel, D e r Prozeß des T r a u e r n s , M ü n c h e n / M a i n z 3 1977. - Dietrich Stollberg, Seelsorge d u r c h die G r u p p e , G ö t t i n g e n 1971. - H a n s - J o a c h i m T h i l o , Ehe o h n e N o r m ? , G ö t t i n g e n 1978. - Klaus W i n k l e r , Das persönlichkeitsspezifische C r e d o : W z M 34 (1982) 1 1 - 1 8 . Klaus Winkler

Leiden,

Universität

1. Universität 1.

2. T h e o l o g i s c h e F a k u l t ä t

(Quellen/Literatur S.713)

Universität

D i e Leidener Universität w u r d e auf W u n s c h v o n W i l h e l m v o n O r a n i e n v o n d e n Staat e n v o n H o l l a n d - d e r F o r m w e g e n n o c h i m N a m e n v o n K ö n i g P h i l i p p II. - g e s t i f t e t . D i e S t a d t L e i d e n w u r d e a l s Sitz g e w ä h l t , n i c h t n u r w e g e n ihrer W i c h t i g k e i t u n d z e n t r a l e n L a g e , s o n d e r n a u c h w e g e n ihrer H a l t u n g w ä h r e n d d e r B e l a g e r u n g d u r c h d i e s p a n i s c h e n T r u p p e n . A l s e r s t e U n i v e r s i t ä t in d e n n ö r d l i c h e n N i e d e r l a n d e n w u r d e s i e a m 8. F e b r u a r 1 5 8 6 o f f i z i e l l e r ö f f n e t . Ihrer S t i f t u n g l a g e n v e r s c h i e d e n e M o t i v e z u g r u n d e . I m H i n b l i c k auf d e n K a m p f g e g e n Spanien w a r es politisch wichtig, für die A u s b i l d u n g der f ü h r e n d e n S c h i c h t e n n i c h t l ä n g e r v o n d e r U n i v e r s i t ä t in - » L ö w e n u n d d a m i t v o n d e r s p a n i s c h e n Einflußsphäre a b h ä n g i g zu sein. Religiös k o n n t e die junge Universität n a m e n t l i c h durch die t h e o l o g i s c h e Fakultät, die als eine Pflanzstätte der reformierten Kirche g e p l a n t w a r , ein Instrument der Protestantisierung w e r d e n . Kulturell g a b sie d e m e m p o r s t r e b e n d e n

712

Leiden,

Universität

Norden ein eigenes Schwergewicht. Von Anfang an war die Universität nicht weniger vom -»Humanismus als vom Calvinismus (-»Reformierte Kirchen) geprägt, und obgleich im Laufe der Zeit der calvinistische Faktor an Einfluß gewann, hat die humanistische Tradition nie ihre Bedeutung verloren. Die vier Studienrichtungen, in der Stiftungsurkunde genannt (die theologische, die juristische, die medizinische und die philosophischliterarische) entfalteten sich allmählich zu vollwertigen Fakultäten. Die Professoren wurden von drei (von den Staaten von Holland ernannten) Kuratoren und den Bürgermeistern von Leiden ernannt. In formaler Hinsicht war die Universität frei von der Kirche, und für die Studierenden galt schon bald keine konfessionelle Verpflichtung. Schon in der Anfangszeit war den literarischen Studien breiter Raum zugestanden worden. In der ersten Zeit war die Universität noch zum größten Teil auf ausländische Kräfte angewiesen; allmählich aber mehrte sich die Zahl der niederländischen Professoren. Das 17. Jh. war für die Universität eine Blütezeit. Im gelehrten Europa gewann sie einen großen Namen. Überaus wichtig waren die orientalistischen Studien, die immer ein Schwerpunkt geblieben sind. Auch für die Theologie waren diese Studien von Bedeutung, da die calvinistische Bibelwissenschaft großes Interesse für das Alte Testament hegte. Unter den Philosophen gewann der Cartesianismus (-»Descartes) an Einfluß, ohne jedoch zur Alleinherrschaft zu kommen; in den Jahren nach 1672 wurden sogar auf Druck der Obrigkeit Maßnahmen gegen die Cartesianer unternommen. Im Gegensatz zur vorhergehenden Zeit war das 18. Jh. für die Universität keine Glanzzeit; allmählich verlor sie ihren internationalen Ruf. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. kam die Universität zu neuer Blüte; neben der Theologie können hier die Naturwissenschaften, die Orientalistik und die Geschichtswissenschaft erwähnt werden. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Universität von der Besatzungsinacht geschlossen, nachdem der Dekan der juristischen Fakultät, Rudolph Pabus Cleveringa (1927-1958), am 26. November 1940 öffentlich gegen die Entlassung von jüdischen Professoren protestiert hatte. Die Nachkriegszeit war gekennzeichnet durch eine große Ausweitung des wissenschaftlichen Personals und der Studentcnzahl. Die Universität zählt (1987) mehr als 18000 Studenten. Das wissenschaftliche Personal besteht aus 2300 Mitgliedern, darunter 255 Professoren. 2. Theologische

Fakultät

In der Anfangszeit war es schwierig, gute Professoren für den theologischen Unterricht zu finden, noch schwieriger, sie zu behalten. Bald aber besserte sich die Situation. In den ersten zehn Jahren war die Zahl der Theologiestudenten nur gering, aber die Errichtung des „Staaten-Kollegiums", eines Konviktes für Theologiestudenten - es bestand von 1591 bis 1797-, erhöhte die Anziehungskraft der Leidener theologischen Fakultät. Für die wallonischen Studenten wurde 1606 das Collège Walion errichtet, das bis 1699 bestand. In Franciscus Gomarus (1594-1611) fand die Fakultät einen fähigen Theologen von strenger calvinistischer Uberzeugung. 1603-1609 gerät er mit Jacobus -»Arminius, dem Bekämpfer der calvinistischen Prädestinationslehre, in Konflikt. Nach der Synode von -•Dordrecht wurden alle remonstrantischen Professoren der Leidener Universität entlassen. In der theologischen Fakultät blieb nur Johannes Polyander (1611 — 1646) übrig. Mit drei neuen Kollegen überwachte er das Erbe der Dordrechter Synode. Mit dem Orientalisten und Theologen Johannes -»Coccejus brach eine neue Zeit an. Orthodox, aber in seiner Theologie progressiver und weniger scholastisch als der Utrechter Professor Gisbertus -»Voetius übte er großen Einfluß auf das theologische Leben in den Niederlanden aus. Bei vielen seiner Anhänger bestand Sympathie für die cartesianische Philosophie. Im Laufe des 18. Jh. verschwanden die Gegensätze zwischen Voetianern und Coccejanern. Eine neue, biblisch orientierte, leicht vom Geist der Aufklärung berührte Theologie, deren am meisten hervorragender Repräsentant Johannes Alberti (1740-1762) war, gewann an Einfluß. Im 19. Jh. wurde die theologische Atmosphäre mehr und mehr liberal. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde die Fakultät in

Leiden,

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hohem M a ß e geprägt von der modernen Theologie. Die vornehmsten Vertreter des , M o dernismus* waren der Dogmatiker Johannes Henricus Schölten (1843—1881) und der Alttestamentler Abraham ->Kuenen. Ein Staatsgesetz von 1876 führte die Scheidung zwischen Staatsprofessoren und kirchlichen Professoren (den duplex ordo) herbei. Künftig lag die dogmatische und praktische Ausbildung der Theologiestudenten, die sich auf das Pfarramt in der Niederländischen Reformierten Kirche vorbereiteten, bei v o n der Kirche ernannten Professoren, die ihre Aufgabe neben der Staatsfakultät erfüllten, eine Situation, die bis heute fortbesteht. Das Verhältnis des remonstrantischen Seminars, das 1873 v o n Amsterdam nach Leiden übersiedelte, zur Fakultät ist analog. Die fast monolithische Alleinherrschaft der -»Liberalen T h e o l o g i e innerhalb der Fakultät machte am Ende des Jahrhunderts einer größeren Pluralität Platz: Die an -•Schleiermacher und -»Vinet orientierte ,ethische T h e o l o g i e ' hielt ihren Einzug in die Fakultät. In den exegetischen und historischen Disziplinen blieb die A n w e n d u n g der historisch-kritischen M e t h o d e maßgebend. Heute kennt die Fakultät, neben der kirchlichen Ausbildung, sechs Fachbereiche: Altes Testament, N e u e s Testament, Kirchengeschichte, Religionsgeschichte, Systematische T h e o l o g i e und soziale Wissenschaften. Die Studentenzahl beträgt (1987) ungefähr 200; das wissenschaftliche Personal besteht aus 39 Mitgliedern, darunter 13 ordentliche, außerordentliche und kirchliche Professoren. Quellen Album scholasticum academiae Lugduno-Batavae M D L X X V - M C M X L , Leiden 1941. - Album scholasticum academiae Lugduno-Batavae M C M X L - M C M L X X I V , Leiden 1975. - Album studiosorum aeademiae Lugduno-Batavae M D L X X V - M D C C C L X X V , Hagae Comitum 1875. - Album studiosorum academiae Lugduno-Batavae M D C C C L X X V - M C M X X V , Leiden 1925. - Herman Hardenberg, De archieven van senaat cn faculteiten benevens archief van de academische vierschaar der Leidsche universiteit, Zaltbommel 1935. - Ders./Evert Jan van de Pol, Her archief van curatoren der Leidsche universiteit, 2 Bde., Zaltbommel 1934/35. - Philipp Christiaan Molhuysen, Inventaris van de archieven der rijksuniversitcit te Leiden, Leiden 1909.-Ders., Bronnen tot degcschiedenisder Leidsche universiteit, 7 Bde., 's-Gravenhage 1913-1924 (Rijks Geschiedkundige Publicatien 20.29.38.45.48.53.56). — Henricus Joannes Witkam, De dagelijkse zaken van de Lcidse universiteit van 1581 tot 1596,10Tie. = 14Bde., Leiden 1970-1975.-Ders., Summiere beschrijving van stukken over de Leidse universiteit van 1574 tot 1580/81, Leiden 1976. Literatur Zu 1.: Willem Frederik Dankbaar, De stichting van de Leidsche Universiteit en deeerstedecennia van haar bestaan: ders., Hoogtepuntcn uit het Nederlandsche Calvinisme in de zestiende eeuw, Haarlem 1946, 126-161. - Petrus Johannes Idenburg, De Leidse universiteit 1928-1946,'s-Gravenhage 1978. - Theodoor Hendrik Lunsingh Scheurleer/Guillaume Henri Marie Posthumus Meyjes (Hg.), Leiden university in the seventeenth Century, Leiden 1975. - Willem Otterspeer, Een universiteit herleeft, Leiden 1984. - Pallas Leidensis MCMXXV, Leiden 1925. - Gilles Dionysius Jacobus Schotel, De academie te Leiden in de 16e, 17e en 18e eeuw, Haarlem 1875. - Matthijs Siegenbeek, Geschiedenis der Leidsche hoogeschool 1575-1825, Leiden, 11829, II 1832.-Jan Juliaan Woltjer, De Leidse universiteit in verleden en heden, Leiden 1965. Zu 2.: Johannes van den Berg, Theologiebeoefening te Franeker en Leiden in de achttiende eeuw: It Beaken 47 (1985) 181-194. - Eric Henri Cossee/Albert Jan Rasker/Gerrit Jan Hoenderdaal, Het Remonstrants Seminarie te Leiden 1873-1973: NAKG (NS) 55 (1974) 74-102. - Albert Eekhof, De theologische faculteit te Leiden in de 17 dc eeuw, Utrecht 1921. - Pieter Antoon Marie Geurts, Voorgeschiedenis van het Statencollege te Leiden 1575-1593: Lias 10 (1983) 1 - 1 0 3 . - S i m o n van der Linde, Art. Leiden, Universität: RGG 3 4 (1960) 305. - Guillaume Henri Marie Posthumus Meyjes, De geschiedenis van het Waalse College te Leiden 1606-1699, Leiden 1975. - Karel Hendrik Roessingh, De moderne theologie in Nederland. Hare voorbereidingen eerste periode, Groningen 1914 = ders., Verzamelde werken, Arnhem, I 1926, 1 - 1 8 2 . - Christiaan Sepp, Het godgeleerd onderwijs in Nederland gedurende de 16 de en 17de eeuw, 2 Bde., Leiden 1873/74. - Ders., Proeve eener pragmatische geschiedenis der theologie in Nederland van 1787 tot 1858, Amsterdam 1868. Johannes van den Berg

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Leidensgeschichte Jesu

Leidensgeschichte Jesu 1. Die Erzählstruktur: Vorhersage/Erfüllung 2. Die Erzählstruktur: Verwerfung/Rehabilitierung 3. Die Kategorie „ L e i d e n s g e s c h i c h t e " als Leser-Anweisung? 4 . D i e nachmarkinischen R e daktionen 5 . Historisches Substrat? (Literatur S. 7 1 9 )

1. Die Erzählstruktur:

Vorhersage/Erfüllung

Die eine Woche zum Wallfahrtsfest in Jerusalem umgreift das letzte Drittel des ältesten Jesus-Buches Mk 11 - 1 6 ; die Zeit von Mk 1 — 10 ist auf wenige Monate veranschlagt, da die auf die letzte Woche hinführenden Ereignisse und Ortswechsel in und um Galiläa seit dem Jordan-Tauchbad in schneller Folge anreihend verbunden sind. Das Schlußdrittel ist die Schlußphase der Lehrer/Schüler-Relation in dem Buch, das hellenistisch als Darstellung des Schüler sammelnden Lehrers begann; hier erreicht die hinzutretende Relation des Lehrers Jesus zu seinen Feinden ihren Höhepunkt im Rahmen der erzählend dargestellten Zeit in der Tötung Jesu Mk 14f. Mk 14 f ist auch darum nicht gegenüber dem voranstehenden wie nachfolgenden Text zu isolieren (vgl. Juel). 1.1. Die Textsequenz Mk 14,1-16,8 hat dieselbe makrosyntaktische Struktur von Vorhersage und Eintreffen, wie sie das Buch seit 1,2ff (Jesaja/Täufer; Täufer/Jesus; Jesus/Gottesherrschaft) bestimmt (Petersen). Neben den Rückblicken (14,49 auf die Tempellehre von 11,1-13,37; 14,58 Falschzeugen; 14,72 Absage gemäß 14,30; 15,39 Sohn Gottes; 15,40f Galiläa; 16,7 auf 14,28) blicken folgende Stellen auf Ereignisse innerhalb des Erzählrahmens voraus: 14,1 f.lOf.18.41 f auf die Auslieferung und den Auslieferer 14,43 ff; 14,8 auf das Begräbnis 15,42ff; 1 4 , 1 2 - 1 5 auf das Finden V. 16 (wie 11,2-6); 14,25 auf den Weinverzicht 15,23.36; 14,27-31 auf die Trennung aller Schüler 14,50-52.54. 6 6 - 7 2 , die mit 14,72 aus der Darstellung überhaupt verschwinden. Uber den Rahmen der Darstellungszeit hinaus werden vorhergesagt: 14,9 die weltweite Bekanntmachung des Buchkonzepts ( = 13,10), 14,25 die Nähe der Gottesherrschaft, 14,28 ( = 16,7) das Vorangehen nach Galiläa, 14,62 die Einsetzung Jesu zum Richter über die Feinde ( = 12,36) und sein Erscheinen als solcher ( = 8,38; 13,26f). 1.2. Funktionsgleich mit dem Muster des Eintreffens der wunderbaren Vorhersagen Jesu ist das Muster des Eintreffens von Schriftvorhersagen (14,21.49 im Vor- bzw. Rückblick auf V.27), das sich damit teilweise überlagernd dcckt (14,27.62). Im letzten Drittel des Buches, Mk 1 1 - 1 6 , hat die Maximalbestimmung (Kee in Auseinandersetzung mit Minimalbestimmungen) die Mikrostruktur eines Mosaiks von 57 Zitaten und ca. 160 Anspielungen ausgemacht, in dem ursprünglich isolierte LXX-Elemente aufgenommen und gemäß dem Kode des Autors neu verbunden sind, um so die Plangemäßheit der Ereignisse in ihrer empirischen Realität darzustellen. 1.3. Beide Denkmuster sind nicht unter der Kategorie „Heilsgeschichte" zu klassifizieren, da es nicht nur um positive Ereignisse geht, sondern allgemeiner als „Vorsehungsgeschichte". Beide Denkmuster sind auch nicht auf eine nur apologetische Funktion zu reduzieren, da sie nicht auf die Funktion eines Ausräumens von Anstößen begrenzt werden können. Sie erlauben auch nicht eine Trennung von „historischen" Aussagen einerseits und „theologischen" andererseits, da ja das erzählte Eintreffen von der Autor-Annahme der jeweiligen Faktizität ausgeht, um von daher auch das Eintreffen der noch für die Zukunft vorausgesagten Ereignisse für den Leser zweifelsfrei gewiß zu machen. Diesem leserbezogenen Buchziel dient auch das Darstellungsmittel der Blindheit und des Unverständnisses, in denen sich alle Erzählfiguren - außer dem Autor, seinem Gott, seiner Jesusfigur und seinen Lesern - bis zum Schlußsatz des Buches befinden, denn auch die Flucht der Frauen 16,8 gehört noch zu der 14,27 geweissagten Zerstreuung der Herde. Der Autor und seine Leser teilen den verstehenden Blickpunkt dieses Vorsehungsgottes und seines Jesus, dessen Worte ( = Vorhersagen) unvergänglich sind (13,31), im Kontrast zu dem Blickpunkt der Schüler und Feinde, der „menschlich" ( = im Unverständnis) ist (8,33 wie in allen weiteren Torheitsbekundungen). Der wesentliche Einschnitt liegt von daher nach der letzten Vorbereitung der Schüler auf die Trennung 14,32—42 (als Hauptfunktion

Leidensgeschichte Jesu

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von Gethsemani: Mohn) und dem Beginn der Trennung Jesu von seinen Schülern durch die Verhaftung 14,43-52 (dieser strukturbestimmte Einschnitt ist darum kein Indiz für die Gewinnung einer erst hier einsetzenden vor-mk Passionsgeschichte, wofür auch Joh nicht als flankierender Beleg herangezogen werden kann, da Joh von den synoptischen Redaktionen abhängig ist; gegen Bultmann, Dibelius, Jeremias, Schneider, Mohr u.a.). 2. Die Erzählstruktur:

Verwerfung/Rehabilitierung

Was den Gottesplan inhaltlich grundlegend prägt, ist das Grundschema von „Verwerf u n g " und „Rehabilitierung des Gcrcchten" (Nickelsburg; Ruppert), wie es Gen 37ff, Est, II Makk 7, III Makk, äthHen 91 ff, Dan 3; 6, ZusDan, Weish 2; 5 u. a. vorgeprägt ist. Zu diesem konventionellen Erzählmuster gehört neben seinen beiden zentralen Elementen aber auch noch die vorausgehende „Provokation" und das „Komplott" wie die nachfolgende „Bestrafung" der Feinde. Innerhalb des Dualismus der mk Handlungsträger „Jesus" und „Feinde Jesu" haben wir also: (1) Jesu Provokationen (2,1—3,5; 7 , 1 - 1 5 ; 10,3—9; 11,15-17; 11,27-12, 11; 12,14-40); (2) Komplott (3,6; 11,18; 12,12f; 14,1.10f); (3) Anschuldigung (3,22; 12,10b; 14,57-62; 15,2), zuletzt im Rahmen eines Prozesses (14,53-64; 15,1-15; s. u. 3.1), der mit der Verurteilung (14,64; 15,15; s. u. 3.2) und Tötung (15,24; s.u. 3.3) endet; (4) die Rehabilitierung durch Gott (3,23-27; vorhergesagt 8,31; 9,9f.31; 10,34; 12,10f. 36; 14,9.25.28.62; 16,7; erbeten 15,34; ironisch angespielt in der „Einsetzung" 15,17 und den „Akklamationen" 15,18.26.29-32a; rahmend im positiven Kontrast dazu 15,39); (5) die Bestrafung der Feinde (3,28-30; 11,20f; 12,9; 14,21 b.62 „Sehen"; 15,38), wie sie bei den Lesern des Buches im Untergang des jüdischen Tempels augenfällig als empirische Erfüllung außerhalb des Erzähltextes vorausgesetzt ist. 2.1. Das Wortfeld der Christologie (-»Jesus Christus) wird bei M k wie bei seinen Nachfolgern in diesem übergeordneten Erzählmuster durch das semantische Paradigma der „Feinde" mitgeprägt, so daß die jeweilige Jesulogie mit dem Antijudaismus in korrelativer Entsprechung steht (Ruether). Der Endkonflikt ist nicht nur und erst durch die mikrosyntaktischen Verwerfung/Rehabilitierungs-Orakel Mk 8 - 1 0 vorausgesagt, sondern schon durch die Galiläa-Konflikte Mk 2 - 3 und 7 angespielt. Die redaktionell (wie 11,18; 12,12) schon 3,6 dem Autor (und damit dem Leser) noch vor Jesus (da 2,20 im Zusammenhang sich eher auf Abfall bezieht) bekannte Tötungsabsicht wie die Darstellung aller mündlichen Konflikte als öffentliche mit den offiziellen Autoritäten und auch die Angaben 3,22 und 7,1,die die „Juristen" der Kontroversen als „aus Jerusalem" kommend stilisieren, sind autorspezifische Vorweiser auf den Endkonflikt. Dabei wird bei M k die Künstlichkeit und Nachträglichkeit dieser Verbindung noch daran deutlich (Schubert 328), daß die Sanhedristen als jüdische Gegner Jesu im Endkonflikt (8,31; 11,27; 14,43.53; 15,1) nicht identisch sind mit denen der voranstehenden Kapitel (erst M t 21,45; 22,15; 27,62 hat „Pharisäer" in konsequent terminologischer Verstärkung der Mk 12,13 mit 3,6 gezogenen Linie eingetragen, worin ihm auch Joh 11,46f. 57; 18,3 folgte). Daß diese Tendenz, den Tod Jesu als Konsequenz seines Wirkens darzustellen, nachträglich ist, ergibt sich auch daraus, daß die beiden einzigen Sabbat-Diskussionen M k 2 , 2 3 - 2 7 (hungernde Schüler) bzw. 3 , 1 - 5 (Jesus berührt den Kranken gar nicht) in ihrer vor-mk Gestalt im pharisäischen Sinne gar keinen tatsächlichen Sabbat-Bruch und darum keine feindschaftlichen „Kontroversen" darstellten (Carson 61). 2.2. Eher könnte noch für -»Johannes den Täufer gelten, daß sein Tod die Konsequenz seines Wirkens darstellte (Josephus, Ant 18,117-119; vgl. Schenk, Gefangenschaft). Ihn hat Mk als Exempel ebenso konsequent in das Schema von Verwerfung/Rehabilitierung eingezeichnet wie das damit verbundene Elijah-Konzept: Der Täufer wurde ausgeliefert (1,14), getötet (6,17-29; 9,13), begraben (6,29) und rehabilitiert (6,14; 9,4f), woran das seltsame Zentralglied des Chiasmus 15,35 f dann nochmals betont den Leser erinnern soll (Brower). Diese Schemata sind in ihrer logischen Progression Ausdruck eines philosophischen Historismus, der deterministisch die jeweiligen Ereignisse der Zukunft durch ihre Vergangenheit in Mustern von historischen Gesetzmäßigkeiten festge-

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legt sieht. Ebenso wie das Bild des Lehrers prägte dieser Determinismus auch das normierende Wertesystem der Schüler (vgl. die Parallelisierung von 8,34-38; 9,35; 10,36 f; 13,9-20 im Anschluß an die Vorhersagen), sofern auch die „Kreuzesnachfolge" in diesem Systemzwang gedacht ist: Zum „ewigen Leben" erhöht wird man systemgerecht nur durch die Verfolgung, die darum 13,9-11 (stärker als bei allen Seitenreferenten) völlig positiv als die missionarische Gelegenheit schlechthin erscheint (Dupont). Das „Kreuz" ist also bei Mk alles andere als ein erst zu lösendes Problem; es ist vielmehr, wie für Elijah und den Täufer, so auch für Jesus und seine Schüler das systemnotwendige Durchgangsstadium. 3. Die Kategorie „Leidensgeschichte"

als

Leser-Anweisung?

„Leidensgeschichte" (wie „Leidensankündigung") stellt eine nicht beschreibungsadäquate Rezeptions-Klassifikation für den Schlußteil des Mk und seiner literarischen Nachfolger dar. Die so viele nachträgliche Zwischenüberschriften leitende Kategorie des Leidens wurde nur untergeordnet in dem redaktionellen Syntagma „viel erleiden durch" der Vorhersagen 8,31 und 9,12 (nach dem Bezug auf Krankheit 5,26) verwendet (expandiert nur von Lk 9,22; 17,25; 22,15; 24,26.46; Act 1,3; 3,18; 17,3; getilgt bei Joh). Doch gerade in solchen Vorhersagen taucht das Leiden nicht nur als bloßer Teilaspekt der „Verwerfung" auf, sondern auch in Relation zu der „Rehabilitierung" als dem eigentlichen Zielpunkt der Gesamtstruktur. Reine „Leidens"- (präziser: „Verwerfungs"-) Ankündigungen gibt es bei Mk nicht, da solche nur scheinbar vorliegen und durch die Textsequenz als vorhergesagte „Verwerfung" auf die ebenso vorhergesagte „Rehabilitierung" ausgerichtet sind (9,12/10; 12,8/10f; 14,8/9.18-24/25.27/28). Eine „Bewältigung von Leidenserfahrung" ist nicht der Horizont dieser Texte. 3.1. Selbst in der Schlußphase beim Exekutionsvollzug hat Mk „das Leiden eher unterbetont!" (Burchard 2): 15,16-27 zeigt (in Korrespondenz zu 15,2-15) „nicht, daß und wie Jesus leidet..., sondern wie seine Henker ihn unwissend legitimieren" (ebd. 5); auch in der rahmenden Darstellung des jüdischen Beitrags zur Exekution 15,29-39 (in Korrespondenz zu 14,53-15,1) zeigt Mk „nicht so sehr, wie Jesus leidet, als vielmehr, welche falschen Erwartungen er bestätigen würde, wenn er herabstiege" (ebd. 6). Das verbindet die markinische mit der romanhaften Darstellung einer Kreuzigung bei Xcnophon v. Ephes. 4,2, wo außerdem ebenso sowohl das Gebet am Kreuz (4,2,4 f) wie die bewundernde Akklamation am Schluß (4,2,10) als zum romanhaften Erzählmuster gehörig erwiesen werden. Der finale („wozu?", nicht kausal „warum?") Kreuzesschrei Mk 15,34 ruft als Aufforderungsfrage im Endstadium der Verwerfung durch Menschen nach der Rehabilitierung durch Gott, ist also „nicht als Schrei der Gottcsvcrlassenheit gemeint . . . Jesus drängt" vielmehr „Gott zum Handeln . . . Er klagt den Zweck seines Todes ein"; der Kreuzesschrei ist darum wie alle vorherigen nichtgriechischen Worte bei Mk ein „wunderwirkendes Wort" (Burchard 8). 3.2. Auch die nur hier eingesetzte und wiederholte „Königs"-Titulatur als das Spezifikum von M k 15 (V. 2.9.12.18.26.32; Matera) bedient sich eines konventionellen Erzählmusters: Das bestimmende Wortfeld ist nicht eine Antithese von „politisch" und „religiös", sondern das Konzept des für die Seinen sterbenden Königs, wie es in den vier Reden über die wahre Königlichkeit bei Dion Chrysostomus 3 - 4 erscheint (Williams 137-254). Hier werden genannt: der Wille, Widerstand zu erdulden (3,2), die Pflicht, anderen zu helfen und zu dienen (3,55; 4,66), Hirt der Seinen zu sein (3,41; 4,31), das Recht auf die Loyalität (niaxiQ 3,55) der Seinen und darum ihr Abfall als seine größte Last (3,114). I Clem 55,1 belegt die Bekanntheit des Musters: „Doch um auch pagane Exempel zu bringen: Viele Könige und Herrscher haben sich, wenn eine Zeit des Unheils herrschte, aufgrund von Weissagungen dem Tode ausgeliefert (Jtapeöcoxav), um (fva) durch ihr Blut (Siä.. .aifiaTog) die Bürger zu retten (pvacovtai)". Der Zusammenhang mit der einzigen Selbsthingabe-Aussage Mk 10,45 ist augenfällig wie auch mit Einzelzügen der Schlußphase der Lehrer-Schüler-Relation bei M k (Robbins 187-191): Der weise, Schüler sammeln-

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de Lehrer ist zugleich der zugunsten der Seinen freiwillig sterbende König, wobei die hellenistische Gleichung „wahrer Weiser" = „wahrer König", wie Philo sie auf Mose adaptierte, vorausgesetzt bleibt (bei Dion Chrysostomus 4,21 ist es der König, der den richtigen Weg kennt; vgl. 4,70: „Meine nicht, ein König zu sein, ehe du Weisheit erlangt hast!"). 4. Die nacbmarkinischen

Redaktionen

4.1. Mt hat 80% seines Stoffes von Mk bezogen, dem er auch in der Sequenz der Erzählsegmente treu bleibt aufgrund der affirmativen Übernahme des Kompositionsschemas von Verwerfung und Rehabilitierung. Seine Zusätze (in 26,1 -5.25.42.50.52-55 a. 72; 27,3-10.19.21.24f. 43.51 b - 5 3 . 6 2 - 6 6 ) sind redaktionell geschaffene Erweiterungen zum Zwecke der Verstärkung dieses Grundschemas (Senior, Passion [BEThL 39], 1 f; ein Rehabilitierungs-Orakel wird schon 12,40 den Gegnern gegeben, so daß es 16,21, an die Schüler gerichtet, kein Novum mehr darstellt; auch 27,51 b - 5 3 hat die Funktion, die göttliche Rehabilitation schon unmittelbar beim Tode Jesu zu signalisieren: Schenk, Passionsbericht 7 5 - 8 1 ; Senior, Death 38). Die Souveränität der Person Jesu wird noch stärker hervorgehoben (26,1-5: Jesu Initiative ermöglicht den offiziellen Tötungsbeschluß; 26,17-19: Mahlvorbereitung als Ausführung eines Befehls Jesu; 26,25: Direkte Entlarvung des Judas, wie 27,3: Das Schicksal des Judas als Erfüllung des Jesusorakels von 26,24 und das Schicksal seines Geldes als Erfüllung eines Jeremia-Orakels; 26,26-29: Das Herrenmahl wird [als Teil des mt Religionsgesetzes] als Eintrittsbedingung mit Lohnzusage befohlen; 26,47-56: Der mt Jesus erlaubt und gestattet seine der Vorsehung gemäße Gefangennahme unter Verzicht auf Engelbeistand), so daß man noch weniger als bei M k von einer Mt-„Passion" sprechen kann. In der Komplenymität der Wortfelder von Christologie und Antijudaismus wird die angebliche Verantwortung der Juden für den Tod Jesu noch gesteigert (Fischer; vgl. 26,57-68: der sanhedristische Scheinprozeß als offene Ablehnung des wahren Wesens der offenkundigen Gottessohnschaft Jesu; 2 7 , l f . l 5 - 2 5 : die Übernahme der Verurteilungsverantwortung durch das ganze jüdische Volk; 27,43: der gesteigerte Spott; 27,62-66: die verblendeten Machenschaften der jüdischen, durch „Pharisäer" erweiterten Führer, die sich nicht scheuen, den Sabbat zu brechen, um beim römischen Statthalter eine Grabeswache zu organisieren). 4.2. Parallel zu Mt hat auch Lk um die Wende zum 2. Jh. eine Bearbeitung der mk Vorlage vorgelegt (gegen Schneider, Verleugnung, dürfte sich auch bei Verhör und Verspottung keine Sonderquelle nachweisen lassen und gegen Taylor, Passion, keine noch weiter gehende). Wenn Lk dabei stärker unigestaltend eingegriffen hat, so stehen seine Umstellungen (22,18 Reichs-Weissagung vorgezogen und statt dessen Verurteilung des Auslieferers 22,21-23 nachgestellt; Vorhersage der durch die Reue ergänzten Petrusabsage 22,31 - 3 4 vorgezogen wie deren Ausführung 22,56-62; Mißhandlung vor dem Verhör 22,63-65), Auslassungen (Salbung, Schülerflucht, Soldatenverspottung) und Zusätze (Anklagen 22,3.5; Herodesepisode 23,6 - 1 5 zur Steigerung der Unschuldserklärung; Antithetisierung der Mitgehenkten 23,39-42; Reue aller 23,48; vor allem ist Lk Schöpfer von Jesusworten 22,15-17.24-30.35-38.48.67f; 23,27-31.43.46) zunächst im Dienst von Plausibilitäts-Glättungen (Schenk, Passionsbericht 86-122), um den Verlauf des Vorsehungsplans als geschichtlich wahrscheinlich ins Bild zu setzen (einschließlich solcher Scheinrationalisierungen wie der „Sonncn"-finsternis 23,44f). Im Prinzip bleibt er bei dem von Mk eingeführten Schema von Verwerfung und Rehabilitierung, das er durch wiederholte Renominalisierung der Vorhersagen (13,33; 20,18) wie durch die summarischen Rückblicke in 24,7.20.26f.46 und Act 2,23f.36; 3,13-15; 4,10.27; 5,30f; 7,52; 10,39f; 13,28-30 noch verstärkt (Rese, Aussagen). Dies wird noch über 20,17 hinaus als Vorsehungsplan in der Schriftweissagung (18,31 als „Erfüllung" nur bei Lk, wie auch Jes 53 nur bei ihm in 22,37 und Act 8,32f herangezogen wird; Rothfuchs 147—151) verankert und bleibt vor Ostern unverstanden (9,45; 18,34), um erst danach (24,8.25.32.45) zur Erkenntnis gebracht zu werden. Auf Lk geht die Einbringung des „Satans" in den Pas-

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sionszusammenhang zurück (22,3.31), der aber ein untergeordnetes Subjekt des Vorsehungsplanes bleibt und nur die Dominanz der „Finsternis" ( „ i h r " 22,53) in der Episode der „Verwerfung" signalisiert. Lk 23,25 stilisiert überhaupt die Juden zu Vollziehern der Kreuzigung selbst, weshalb er 2 3 , 2 7 - 3 1 sein fünftes und letztes Untergangsorakel (nach Q-Vorgaben 1 1 , 4 9 - 5 1 und 1 3 , 3 3 - 3 5 gebildet in 1 9 , 4 1 - 4 6 ; 2 1 , 2 0 - 2 4 ) der Strafvergeltung für die unbußfertigen Juden (unter Ausschluß jeder Umkehrmöglichkeit) anschließt (Neyrey). Dagegen können die Engelerscheinung Lk 22,43f wie das vermeintliche siebte Kreuzeswort 23,34a (Fürbitte für die Feinde als Widerspruch zu 20,18 wie zu den Untergangsorakeln) nicht für die Deutung der Lk-Passion herangezogen werden, da sie textkritisch als nachträgliche Zusätze beurteilt werden müssen. Im Schema des Vorsehungsplans ist auch die Passion des lk Paulus an die Passion des lk Jesus angeglichen worden (Vorhersagen Act 2 0 , 2 2 - 2 5 ; 2 1 , 1 0 - 1 4 ; Aufbruch nach Jerusalem Act 21,15/Lk 19,28; im Tempel Act 21,26/Lk 1 9 , 4 5 - 4 8 ; die Auferweckungsfrage Act 2 3 , 6 - 9 / L k 2 0 , 2 7 - 3 3 ; Gefangennahme Act 21,30/Lk 22,54; Tötungsforderung Act 21,36; 22,22/Lk 23,18; Verwerfung durch das Synedrium Act 22,30-23,10/Lk 2 2 , 6 6 - 7 1 ; Begegnung mit dem römischen Statthalter Act 24/Lk 23,1—6, gefolgt von einer mit dem herodianischen König Act 25,22-26,32/Lk 2 3 , 6 - 1 6 , als Zeugen der staatspolitischen Ungefährlichkeit). 4.3. Joh 1 8 - 1 9 stellt in eigenwilliger Bearbeitung des M a t e r i a l s aller drei Synoptiker (Borgen; Schenk, Passionsbericht 1 2 3 - 1 3 9 ; Sabbe gegen Dauer, M o h r ; —• Johannesevangelium) noch weniger als diese eine „Passion" d a r , sondern den souveränen Wiederaufstieg des Offenbarers als Rückkehr in die präexistente Heilswirklichkeit. Der joh Jesus wird nicht gefangengenommen, sondern gibt sich selbst in die Hand der gewaltig gesteigerten und doch ohnmächtigen Feindesmacht ( 1 8 , 1 - 1 4 ) . Sein übermächtiges Erscheinen erlaubt es der angeschwollenen Satansmacht, ihn voraussagegemäß zu verhaften, wie er auch Petrus nicht erlaubt, diesen Weg jetzt unvorhersagegemäß zu teilen. Er allein durchschreitet die Sphäre der jüdischen Priesteraristokratie: 1 8 , 1 5 - 2 7 ist weder Verhandlung noch gar Verhör oder Prozeß, da die Verurteilung schon 1 1 , 4 7 - 5 3 stattfand; hier wird nur deutlich gemacht, daß mit diesem beginnenden Aufstieg die Zeit der Offenbarung vorbei ist. Auch vor Pilatus findet kein Prozeß statt, sondern ein weitergehender unaufhaltsamer Aufstieg durch eine neue Sphäre (18,28-19,12), weshalb der Pilatus-Äon vom Juden-Äon streng geschieden bleibt und eine Rückauslieferung Jesu zur Steinigung verhindert w i r d , weil seine Erhöhung seit 3,14 als Kreuzigung vorhergesagt ist. Statt einer Verurteilung führt der konsequente Aufstieg weiter über die Gerichtsbühne ( 1 9 , 1 3 - 1 6 a ) , der sich nun eine Übergabe an die „ J u d e n " anschließen kann, weil jetzt der Erhöhungsweg über das Kreuz (statt der Steinigung 8,59; 1 0 , 3 1 - 3 3 ; 11,8) gesichert ist. Souverän setzt Jesus den Aufstieg über den Schädelort und das Erhöhungskreuz fort, wobei seine Präexistenzherrlichkeit sichtbar in Erscheinung tritt (19,16 b—37). DieSieghaftigkeit wird noch durch die Lächerlichkeit des gescheiterten Versuchs, Jesu Kreuzeserhöhung rückgängig zu machen und seinen Aufstieg zu verhindern ( 1 9 , 3 8 - 4 2 ) , unterstrichen (Joh 2 0 - 2 1 ist dann Fortsetzung des Aufstiegs durch den Schüler-Äon). Am Kreuz wird „deutlich, d a ß Jesus nicht zur Welt, sondern zu Gott gehört. Darum ist das Geschehen, das die Ablehnung Jesu durch die Welt konsequent zu Ende bringt, das Kreuz, zugleich seine Verherrlichung und Erhöhung. Der H a ß der Welt wird zum Ausdruck der Liebe des Vaters und der Einheit mit i h m " (Osten-Sacken, Leistung 162). Der darauf hinführende Spannungsbogen beginnt schon damit, daß mit der Vorverlegung der Tempelhandlung auf 2,13 ff ein erster Jerusalemaufenthalt geschaffen wird, der als Autorkommentar die Schülererinnerung 2,17(.22) mit dem in Ps 68,10 LXX eingesprengten Futur enthält: „Der Eifer um dein H a u s wird mich ins Verderben bringen". (Die nur aus Psalmen und Propheten entnommenen joh Erfüllungszitate sind konsequent auf das Handeln der Feinde beim Aufstieg hin orientiert: 1 2 , 3 8 - 4 1 ; 19,24.28.36f als Autorkommentar bzw. von daher im M u n d e Jesu 13,18; 15,25; 17,12; Rothfuchs 1 5 1 - 1 7 7 ) . Der zweite Jerusalemaufenthalt wiederholt die Tötungsabsicht der „ J u d e n " als Autorkommentar (5,16, wegen des Sabbatbruchs gesteigert zur christologischen Ab-

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sage 5 , 1 8 ) wie auch der dritte 7 , 1 . 3 0 , w o er in den M u n d Jesu selbst ( 7 , 1 9 ; 8 , 3 7 . 4 0 ; 10,32) bzw. der Feinde ( 7 , 2 5 ; 10,33) übergeht, worauf sich 1 9 , 7 zurückbezieht. 5. Historisches

Substrat ?

Einer historischen Rückfrage sind durch die notwendige Beschränkung auf M k und dessen schematische Prägung enge Grenzen gesetzt: „ D a s gesicherte Kern-Faktum ist, d a ß Jesus gekreuzigt wurde. D a r a u s kann geschlossen werden, d a ß man ihn verhaftete und daß ein Gerichtsverfahren erfolgte, und zwar ein römisches . . . Alles übrige a m Ablauf der Ereignisse ist strittig" (Conzelmann 7 4 f ) . Die Fragwürdigkeit betrifft auch eine Handlung Jesu im Tempelvorhof wie die des J u d a s . Jesus ist in der hochexplosiven Situation eines jüdischen Wallfahrtsfestes, des Passa, das gerade der Befreiung von der Fremdherrschaft gedachte, auf Verdacht und vielleicht Denunziation hin hingerichtet worden ( - » K r e u z ) . „Schwerlich kann diese Hinrichtung als die innerlich notwendige Konsequenz seines Wirkens verstanden werden; sie geschah vielmehr aufgrund eines Mißverständnisses seines Wirkens als eines politischen" (Bultmann, Exegetica 4 5 3 ) . 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Wolfgang Schenk Leipzig,

Universität

1. Universität (allgemeiner graphien/Literatur S. 728)

1. Universität

(allgemeiner

Uberblick)

2. Theologische

Fakultät

(Quellen/Biblio-

Überblick)

Mit der Gründung der Universität Leipzig am 2.12.1409 (Urkunde Alexanders V. vom 9.9.1409) entstand für Mittel- und Norddeutschland ein neues geistiges Zentrum. In den

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Leipzig,

Universität

nationaltschechischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen um -»Hus und die Beschickung des Konzils von -»Pisa änderte König Wenzel IV. (1361-1419) an der Universität -»Prag die Stimmenverhältnisse zugunsten der böhmischen Nation, was im Mai 1409 zum Auszug von etwa 700 romtreuen Magistern und Studenten führte (-»Prag), von denen ein Teil sich nach Leipzig wandte. Die Meißner Markgrafen Friedrich IV. (1369-1428) und Wilhelm II. (1371-1428) sowie die Stadt unterstützten die Neugründung einer Universität, die wie -»Heidelberg eine Folge des abendländischen -»Schismas darstellt. Die Landesherren sorgten für eine gute wirtschaftliche Fundierung. Seit 1438 erhielt die Universität Erträge von drei Städten und 42 Dörfern in Höhe von 685 Gulden, die trotz der Teilung von 1485 weitergezahlt wurden. Grünciungsrektor wurde der aus Prag kommende Theologe Johann (Otto) von Münsterberg (um 1365-1460). Von Prag wurde die mittelalterliche Grundstruktur der Gliederung nach Nationen übernommen (-»Universitäten), die in Leipzig bis 1830 bestand. 1411 erscheint mit dem aus Erfurt übergesiedelten Konrad Thus der erste Ordinarius der Juristenfakultät in den Quellen. 1415 konstituierte sich die Medizinische Fakultät. Die ersten Doktorpromotionen sind für Theologen 1428, für Mediziner 1431 und für Juristen erst 1501 nachweisbar. Wie andere neugegründete Universitäten besaß Leipzig eine große Anziehungskraft: Im ersten Semester ließen sich 369 Studenten und graduierte Akademiker immatrikulieren. Bis 1430 behauptete Leipzig den ersten Platz vor -»Erfurt und Heidelberg. Mit Peter Luder (gest. nach 1474), der 1462 seine Antrittsrede hielt, begann der Frühhumanismus in Leipzig Fuß zu fassen, den die enge Verbindung mit Buchdruck und Buchhandel sehr förderte und zu dem u. a. Samuel Korach von Lichtenberg, Conrad Celtis (1459-1509), Paul Niavis (Schneevogel, gest. nach 1514) u.a. zählten. Prägend konnte der -»Humanismus in Leipzig nicht werden. 1500/03 stritten Martin Pollich von Melierstadt (gest. 1513) und Konrad Wimpina (um 1465-1531) über das Verhältnis von Poesie und Theologie. Die wenig erfolgreiche Reform (1502) Herzog -»Georgs von Sachsen führte zu einer bescheidenen Aufwertung des Humanismus (Hermann von dem Busche [um 1468-1534], Johannes Rhagius Aesticampianus [1460—1520], Johannes Ergranus [um 1480/85-1535], Richard Crocus [um 1515-1558], Petrus Mosellanus [1493-1524], Caspar Borner [um 1492-1547]). Mosellan hielt auf der Leipziger Disputation 1519 die Eröffnungsrede. Die von ihm begonnenen Reformen nach Wittenberger Vorbild blieben durch die antilutherische Haltung Herzog Georgs unvollendet.

Die Einführung der Reformation im albcrtinischen Sachsen 1539 leitete einen neuen Abschnitt ein. Borner, unterstützt von -»Melanchthon und Joachim Camerarius (1500-1574) setzte entscheidende Veränderungen durch. Herzog -»Moritz verbesserte beispielgebend die wirtschaftlichen Grundlagen und bestätigte neue Statuten. Die Übereignung des Dominikanerklosters an die Universität gab geeignete Lehr-, Wohn- und Wirtschaftsräume. Aus Beständen der Klosterbibliotheken entstand die Universitätsbibliothek. Die fünf „neuen Universitätsdörfer" aus dem Besitz des Leipziger Thomasklosters verstärkten das wirtschaftliche Fundament. Kurfürst August (1526-1586) vollzog die Integration der Universität in die Landesverwaltung, erließ 1580 eine Universitätsordnung und bekräftigte Leipzigs Funktion als lutherische Territorialuniversität. Die Restauration nach dem Tod Christians I. (1560-1591) vertiefte diesen Prozeß und schränkte die Autonomie weiter ein. 1609 fanden erstmals größere Jubiläumsfeiern statt. Die Auswirkungen des -»Dreißigjährigen Krieges erreichten Stadt und Universität erst mit dem Kriegseintritt Kursachsens 1631. Eine wichtige Rolle im akademischen und geistigen Leben spielten im 17. und 18. Jh. die Gelehrten Gesellschaften. Bereits 1641 entstand das Collegium Gellianum zur Pflege der biblischen Philologie, der Altertumskunde und der Musik. Aus dem 1656 gegründeten Collegium Anthologicum entwickelten sich die Acta Eruditorum, die ihr Gründer O t t o Mencke (1644-1707) zu einem Zentrum der Leipziger Frühaufklärung machte und die in ihrer 100jährigen Geschichte besonders die -»Aufklärung in Sachsen förderten. 1645 studierte S. -»Pufendorf in Leipzig. Die Juristenfakultät verweigerte 1666 G.W. -»Leibniz die Promotion wegen „zu großer Jugend". Chr. -»Thomasius kündigte Vorlesungen in deutscher Sprache an und mußte Leipzig 1690 verlassen. Nach 1648 stand Leipzig mit -»Wittenberg und -»Jena an der Spitze der deutschen Universitäten, erst später kamen -»Halle und -•Göttingen hinzu. 1707 ging Chr. -»Wolff nach Halle. Johann Burkhard Mencke (1674-1732)

Leipzig,

Universität

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bemühte sich um Quelleneditionen und die Leipziger Universitätsgeschichte. 1750/51 erschien das Allgemeine Gelehrten-Lexicon von Christian Gottlieb Jöcher ( 1 6 9 4 - 1 7 5 8 ) . Zu den aus Leipzig vertriebenen Professoren gehörte C. F. -»Bahrdt. Für die Arabistik trat vor allem Johann J a k o b Reiske ( 1 7 1 6 - 1 7 7 4 ) ein. 1734 wurde Johann Christoph Gottsched ( 1 7 0 0 - 1 7 6 6 ) zum Professor für Logik und Metaphysik berufen. Wenig später hielt Chr.F. -»Geliert vielbesuchte Philosophievorlesungen. Seit 1723 bestritt J . S . -»Bach mit den Thomanern die Musik an den hohen Festen in der Universitätskirche St. Pauli.

Bereits im ausgehenden 18. Jh. verstärkte sich die Kritik an der Verfassung, die seit 1580 wenig Veränderungen erfahren hatte. 1812 wurde die Unterschrift unter -»Konkordienformel und -»Konkordienbuch auf die Professoren der Theologie beschränkt. Im Jubiläumsjahr 1809 gründete Christian Daniel Beck ( 1 7 5 7 - 1 8 3 2 ) als direkte Fortsetzung der Gelehrten Gesellschaften das Philologische Seminar, das zur Keimzelle von neuen Lehrformen und Methoden wissenschaftlichen Arbeitens wurde. Nach zahlreichen Versuchen - der erste 1806 - zur Neuordnung der Universität verfügte Anfang März 1830 die Dresdener Regierung noch vor Beginn der großen Staatsreform einschneidende Veränderungen. An der Spitze des Reformsenats stand der Philosoph und Staatswissenschaftler Wilhelm Traugott Krug ( 1 7 7 0 - 1 8 3 2 ) , der 1813 zum Kampf gegen Napoleon aufgerufen hatte. Die vier Fakultäten wurden gleichgestellt, alle ordentlichen Professoren bildeten den Senat. An die Stelle der Nationen traten die Fakultäten als Grundstruktur der neuen Universität, um die Rolle der wissenschaftlichen Arbeit in der angestrebten neuen Universitätsverfassung hervorzuheben. Die halbjährige Amtszeit des Rektors wurde auf ein Jahr ausgedehnt. Nur schwer konnte die Universität sich mit den Veränderungen abfinden, die entscheidend in ihre Autonomie und Selbständigkeit eingriffen, aber für ihre Einbindung in den mit der sächsischen Staatsreform von 1830 einsetzenden Prozeß der Umgestaltung des Landes von der feudalen Ordnung zu einem bürgerlichen Staat unumgänglich waren. Die Eingriffe betrafen neben dem inneren Aufbau vor allem die wirtschaftlichen Grundlagen und die Gerichtshoheit der Bildungsstätte. Ohne die Eigentumsrechte in Frage zu stellen, übernahm der Staat 1832 die Vermögensverwaltung. Zwei Jahre später erhielt die Universität einen festen Haushalt. Die Allgemeine Städteordnung beseitigte wichtige Sonderrechte. Die Universität mußte 1836 endgültig auf eine eigene Gemeindeverfassung verzichten und wurde Teil der Stadtgemeinde Leipzig. Die Studenten unterstanden jedoch noch bis 1877 zivilrechtlich und disziplinarisch dem Universitätsgericht.

Die Universitätsreform zwischen 1830 und 1836 bedeutete den tiefsten Einschnitt in die Verfassung und das Leben der Universität seit der Reformation. Die Landesuniversität erhielt eine völlig veränderte Funktion in der gescllschaftlich-politischen Ordnung, dem die grundlegende Neugestaltung der materiellen Ausstattung entsprach. Dieser Ubergang von einer Universität als Inhaber selbständiger Herrschaft und als Korporation zur Staatsuniversität war zugleich die Vorbedingung für die Bewältigung der Herausforderungen im 19. Jh. Er ist die unabdingbare Voraussetzung für den Aufschwung der Leipziger Universität in diesen Jahrzehnten. 1836 erhielt die Universität mit dem klassizistischen Hauptgebäude einen neuen Mittelpunkt. In der Gesamtreform trat die Philosophische Fakultät deutlich in den Vordergrund, was den Geisteswissenschaften zugute kam, die zu einem Wesensmerkmal der Leipziger Universität bis in die Gegenwart wurden. Das Verhältnis der geistes- und naturwissenschaftlichen Professuren zueinander verschob sich zunächst nur unwesentlich. Von den 99 ordentlichen und außerordentlichen Professuren im Jahr 1869 gegenüber 67 des Jahres 1830 gehörten 60 zu den Geisteswissenschaften, 16 zu den Naturwissenschaften und 23 zur Medizin. Von 223 Ordinarien, Extraordinarien und Privatdozenten 1908 gehörten 18 zur Theologie, 15 zum Jus, 65 zur Medizin und 125 zur Philosophie.

In den Ereignissen 1848/49 unterstützten nur wenige Professoren und ein Teil der Studenten die radikal-demokratische Bewegung. Wegen ihres Eintretens für die Reichsverfassung und wegen Bewaffnung von Aufständischen hatten sich die Professoren Moritz Haupt (1808-1874), Otto Jahn (1813-1869) und Theodor Mommsen ( 1 8 1 7 - 1 9 0 3 ) vor Gericht wegen Hochverrat zu verantworten. Sie mußten die Universität verlassen. Als der Senat einen Vertreter für die reaktivierte Ständeversammlung 1850 wählen sollte, sah das die Mehrheit als Verfassungsbruch an und verweigerte die Nominierung. Ohne Rück-

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Leipzig, Universität

sieht griff die Regierung durch. Sie beseitigte zugleich die 1830 festgeschriebene Stellung des Senats und der Ordinarien mit einem neuen Statut für die Universität, das am 11.8.1851 in Kraft trat und mit wenigen Abänderungen bis 1945 gültig blieb. G i n g die S t u d e n t e n z a h l bis 1859 z u r ü c k , so w u r d e die Frequenzzahl von 1000 e r s t m a l s 1865 u n d bei den E r s t i m m a t r i k u l a t i o n e n 1870/71 ü b e r s c h r i t t e n . In den folgenden J a h r e n erreichte Leipzig die höchsten S t u d e n t e n z a h l e n (1889/93: 9066; 1899/1903:10371; 1904/08: 11801; 1914:5532) u n d n a h m v o r ü b e r g e h e n d den ersten Platz u n t e r d e n deutschen H o c h s c h u l e n ein. E r h ö h t e Staatszuschüssc ermöglichten einen großzügigen A u s b a u . 1891 stand die neue Universitätsbibliothek zur Verfügung. Eine völlige U m g e s t a l t u n g des H a u p t g e l ä n d e s a m A u g u s t u s p l a t z schloß sich a n , die m i t d e m N e u b a u des A u g u s t e u m s (nach Kriegsschäden 1968 endgültig beseitigt) 1897 z u m A b s c h l u ß k a m . Leipzig w u r d e zu einem Z e n t r u m der Geschichtswissenschaft. D a n e b e n erlangten die S p r a c h w i s s e n s c h a f t u n d die Psychologie b e s o n d e r e Bedeutung. 1909 g r ü n d e t e Karl L a m p r e c h t ( 1 8 5 6 - 1 9 1 5 ) d a s Institut f ü r Kultur- und Universalgeschichte. Rudolf Kötzschke ( 1 8 6 7 - 1 9 4 9 ) vertrat die Landes- u n d Siedlungsgeschichte, die 1906 ein eigenes Institut erhielt. Vom h o h e n Stand der biblischen Philologie gingen Impulse f ü r die Orientalistik aus. Heinrich Leberecht Fleischer ( 1 8 0 1 - 1 8 8 8 ) p r ä g t e n a c h h a l t i g die Arabistik. Für d e n neuerrichteten Lehrstuhl f ü r Ägyptologie berief m a n 1870 G e o r g Ebers ( 1 8 3 7 - 1 8 9 8 ) . Im I n d o g e r m a n i s c h e n Institut w u r d e n Abteilungen f ü r slawische Sprachen u n d Sanskrit eingerichtet, wobei August Leskien (1840-1916) entscheidend die Slawistik förderte. Z u m Begründer der Psychophysik w u r d e G u s t a v T h e o d o r Fechner ( 1 8 0 1 - 1 8 8 7 ) , w ä h r e n d sich M o r i t z Wilhelm D r o b i s c h ( 1 8 0 2 - 1 8 9 6 ) mit dem Verhältnis von Psychologie u n d M a t h e m a t i k beschäftigte. Wilhelm W u n d t ( 1 8 3 2 - 1 9 2 0 ) g r ü n d e t e 1877 d a s erste Seminar f ü r experimentelle Psychologie. Der technische und industrielle Fortschritt erschloß d e n N a t u r w i s s e n s c h a f t e n u n d der Medizin neue Möglichkeiten. 1873 erfolgte der N e u b a u des physikalischen Institutes. 1880 b e g r ü n d e t e die Philosophische F a k u l t ä t d a s M a t h e m a t i s c h e Seminar. 1904 e n t s t a n d d a s Institut f ü r theoretische Physik. G r o ß e B e d e u t u n g erlangte d a s Physikalisch-chemische Institut Wilhelm O s t w a l d s ( 1 8 5 3 - 1 9 3 2 ) . N o c h im G r ü n d u n g s j a h r 1905 ü b e r n a h m Karl Sudhoff (1853-1938) d a s Institut für Geschichte der Medizin. Ähnlich großzügig vollzog sich der A u s b a u der M e d i z i n . Vor d e m Ersten Weltkrieg zählte die Medizinische F a k u l t ä t zu den g r ö ß t e n u n d a m besten ausgestatteten Institutionen ihres Fachcs in D e u t s c h l a n d . Die E n d e des 19. J h . angeregte Verlegung der D e u t s c h e n Tierärztlichen H o c h s c h u l e von Dresden nach Leipzig k a m erst 1923/24 z u s t a n d e .

Eine konservative Grundhaltung bestimmte in den Wirren nach der Revolution von 1918 die Entscheidungen von Rektor, Professoren und Studenten. Die politischen Veränderungen führten zu Änderungen im Statut. An der Rektorwahl konnten auch Vertreter der Dozenten, Assistenten und Studenten teilnehmen. Eine Univcrsitätsversammlung trat neben Senat und Professorenversammlung. Im Allgemeinen Studentenausschuß, dem Organ der studentischen Selbstverwaltung, dominierten bereits 1931 die nationalsozialistischen Kräfte. Der sofortigen Ablehnung verfiel die Forderung der sächsischen Linksregierung von 1923, einen Lehrstuhl für marxistische Gesellschaftswissenschaft zu errichten. Anfang März 1933 unterschrieben über 100 Professoren einen Aufruf zur Wahl Adolf Hitlers. In den folgenden Monaten verloren nach dem Reichsgesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 30 Professoren und Dozenten aus politischen oder rassischen Gründen ihre Stellung, u.a. der Kirchenrechtler Erwin Jacobi (1884-1965), von 1947/49 Rektor, der Historiker Sigmund Hellmann (1872-1942), der Philosoph Hans Driesch (1867-1941), der Direktor des Institutes für Kultur- und Universalgeschichte Walter Goetz (1867-1958). Theodor Litt (1880-1962), der dann 1947 weichen mußte und nach Bonn ging, wurde die Lehrbefugnis entzogen. Die Immatrikulationszahlen sanken erheblich (1919/20:5678,399 Frauen; 1931/32:7348,1049 Frauen; 1934/35:4569, 573 Frauen; 1939:1558,166 Frauen). Der Senat verlor durch das 1935 eingeführte Führerprinzip seine Funktion. Die Bombenangriffe 1943/45 trafen die Universität besonders schwer. Uber 60% der Gebäude wurden zerstört. Der Neuaufbau nach 1945 war schwierig. Bereits a m 1 6 . 5 . 1 9 4 5 erfolgte die Wahl des A r c h ä o l o g e n B e r n h a r d Schweitzer ( 1 8 9 2 - 1 9 6 6 ) z u m ersten N a c h k r i e g s r e k t o r . M i t d e m Kollegium d e r D e k a n e b e m ü h t e er sich u m den W i e d e r b e g i n n des Lehrbetriebes z u m 3 1 . 1 0 . 1 9 4 5 . Die sowjetische B e s a t z u n g s m a c h t lehnte jedoch d e n T e r m i n a b u n d verlangte eine w e i t e r g e h e n d e Entnazifizierung von L e h r k ö r p e r u n d Studenten. Schweitzer m u ß t e

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Universität

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Anfang 1946 zurücktreten. Ihm folgte Hans-Georg Gadamer (geb. 1900), der im Herbst 1947 nach Heidelberg übersiedelte. Die Neueröffnung fand am 5 . 2 . 1 9 4 6 statt. 767 Studenten begannen mit dem Studium. Die vorläufige Arbeitsordnung vom 7 . 6 . 1 9 4 9 unterstellte die Universität ganz der politischen Verwaltung und beseitigte alle Reste einer Autonomie. Als folgenreich sollte sich die Umbenennung in Karl-Marx-Universität am 5.5.1953 erweisen. Sie wurde begründet mit der „hervorragenden Rolle" Leipzigs „bei der Einführung und Verstärkung des Arbeiter- und Bauernstudiums und bei der Durchsetzung der Wissenschaft des Marxismus-Leninismus". Dem Neubau der Universität von 1968 bis 1973 gingen Abriß und Sprengung der verbliebenen Teile des Hauptgebäudes und der Universitätskirche voraus. 1 9 6 8 begann mit der 3. Hochschulreform eine erneute völlige N e u o r d n u n g der Universitäten mit der Bildung von Sektionen und wenigen dem R e k t o r direkt unterstellten Instituten. Damit entstanden neue wissenschaftliche Strukturen, die die umfassende Einbindung von Lehre, Studium und Forschung in die von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) beherrschte Staatsordnung gefördert und die bis zum S o m m e r 1 9 9 0 das Bild der Universität bestimmt haben. Seitdem bemüht sich die Universität, die Gesamtheit der universitas litterarum wiederzugewinnen und die lähmende Überfremdung durch den Marxismus-Leninismus abzubauen.

2 . Theologische

Fakultät

Über die Anfänge der Leipziger Theologischen Fakultät im 15. J h . lassen sich k a u m Aussagen machen. Seit 1409 fanden Vorlesungen der zur Universität gehörenden Doktoren der Theologie statt. Zu den Promotionen von 1428 bis 1539 liegt ein Verzeichnis in Verbindung mit den Statuta antiqua vor. Der Gründungsrektor von Münsterberg besuchte als Vertreter der Universität das Konzil von -•Konstanz. Aus Prag kam auch Johann Hoffmann (um 1377-1451) nach Leipzig, der in Münsterbergs Testament 1416 sacrae theolopae professor genannt wird. In einem Traktat wandte er sich 1421 gegen die von den Hussiten vertretene Laienkommunion. Das Meißner Domkapitel wählte ihn 1427 zum Bischof. Der unter den 1409 zugewanderten Baccalarii erwähnte Vincentius Gruner (1378-1442) wurde schon 1413 Abt des Zisterzienserklosters Altzclla (Nossen). Auf dem Konzil von -»Basel vertratseit 1433 Nikolaus Weigel (um 1395-1444) die Universität. Konziliaristische Neigungen (-»Konziliarismus) verrät ein Gutachten, in dem die vom Basler Konzil betriebene Absetzung des Papstes Eugen IV. gebilligt wurde. Die Zustimmung zum Gegenpapst Felix V. zeigte wenig Wirkung, als sich der Merseburger Bischof für Nikolaus V. erklärte. Z u den prägenden Gestalten der letzten J a h r z e h n t e der vorreformatorischen Fakultät g e h ö r t e Hieronymus Dungersheim ( 1 4 6 5 - 1 5 4 0 ) , der zu den frühen und entschiedenen Gegnern Luthers zählte. 1504 kehrte er nach Leipzig zurück, wo er studiert und 1489 zum Magister artium promoviert hatte. Er übernahm den Lehrstuhl der thomistischen Theologie. Die Fakultät nahm ihn 1506 als stimmberechtigtes Mitglied auf. Als Vertreter des 1409 zum Kanzler der Universität bestellten Merseburger Bischofs wurde Dungersheim Ende 1508 zum Vizekanzler gewählt. 1512 erschien sein Tractatus de modo discendi et docendi, 1516 folgten Conclusiones cum rationibus ad partes Summae Aquinatis. Zwei Streitschriften gegen die -»Böhmischen Brüder fanden besondere Aufmerksamkeit: Confutatio Apologetici (1514, Herzog Georg gewidmet) und Reprobatio orationis excusatoriae Picardorum. Der Leipziger Disputation stand er von Anfang an ablehnend gegenüber. Die Fakultät mußte sich schließlich dem herzoglichen Wunsch beugen. Wie kein anderer erkannte Dungersheim bereits 1519, daß -»Luther nicht mehr auf dem Boden der altgläubigen Lehre stand. Ohne Zögern nahm er den Kampf auf und bemühte sich in Briefen, ihn zur Umkehr zu bewegen. Mehr der Verteidigung der spätmittelalterlichen Glaubenslehre galten die acht lateinischen und zehn deutschen antilutherischen Schriften, die Valentin Schumann (gest. 1543) in dem Sammelband Aliqua opuscula contra Martinum Lutherum 1531 druckte. Als Herzog Georg Anfang Januar 1523 ein Gutachten zu Luthers Septembertestament wünschte, erfüllte Dungersheim diese Aufgabe. Er war nicht in der Lage, das Grundanliegen Luthers zu begreifen. Zu sehr war er bei aller Gelehrsamkeit in der traditionellen Theologie verhaftet. Als Martin Meindorn 1538 starb, übernahm Dungersheim das Dekanat der Theologischen Fakultät. Bis zuletzt leistete er der Reformation Widerstand. Am 3. Februar 1540 wollte er mit Matthäus Metz und Johann Sauer (gest. 1554) vom -»Augsburger Bekenntnis mit der Apologie nur das annehmen, was weder dem Evangelium, der Wahrheit noch den

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Leipzig,

Universität

Kirchenvätern widersprach. Erst als Dungersheim wenig später a m 2 . M ä r z starb, war der Weg frei zur reformatorischen Umgestaltung der F a k u l t ä t .

Erst seit Ende 1542 erhielt die Universität wieder eine arbeitsfähige theologische Fakultät. Am 10. Oktober 1543 fanden die ersten Promotionen der erneuerten Fakultät statt, von denen Wolfgang Schirrmeister (gest. 1555), Bernhard Ziegler (1496-1552) und Johann Pfeffinger (1493-1573) bald in die Fakultät eintraten. Nikolaus Scheubel starb 1541. Trotz der Unterstützung, die Jakob Schenk (gest. 1546) von Kurfürst -»Johann Friedrich erhielt, konnte er wegen seiner Kontroverse mit Luther und Melanchthon nicht in Leipzig bleiben. Auf -»Melanchthons Empfehlung kam 1542 A. -»Alesius von Frankfurt/Oder nach Leipzig. Eine Berufung von J. -»Brenz scheiterte. Herzog Moritz erließ 1543 ein neues Statut, das die Lehre des Evangeliums auf der Grundlage der Confessio Augustana festschrieb. Bereits ein Jahr zuvor waren je eine Professur für Altes und Neues Testament sowie für Hebräisch festgelegt worden. 1545 predigte Luther erstmals in der zur Universitätskirche umgebauten Paulinerkirche. Die eigentlich prägende Gestalt der ersten drei Jahrzehnte war Pfeffinger. Der Schüler Luthers und Melanchthons zugleich Superintendent von Leipzig - entwickelte sich immer mehr zum Garanten des theologischen Ausgleichs. Ihm ist es zu verdanken, daß die Leipziger Fakultät 1574 von den kurfürstlichen Maßnahmen gegen die —»Kryptocalvinisten weitgehend verschont blieb. Die in Konkordienformel und Konkordienbuch mündenden theologischen Ausgleichsversuche unterstützte besonders N. -»Seinecker, der unter Christian I. vertrieben wurde. Die umfassende lutherische Restauration 1591/92 bedeutete für Christoph Gundermann (gest. 1622) die Absetzung, Gefängnis und Ausweisung. Die Rückkehr zum Luthertum des Konkordienbuches schloß sich an die Zeit vor 1586 an. Die Leipziger Fakultät trug in der Folgezeit ein sehr einheitliches Gepräge. Hauptziel der akademischen Arbeit wurde der Ausbau der im Konkordienbuch festgeschriebenen Lehre. Seit 1607 gehörte der Liederdichter Vinccntius S c h m u c k ( 1 5 6 5 - 1 6 2 8 ) der Fakultät an. D e r 1 6 1 4 / 1 5 von Wittenberg nach Leipzig berufene Polykarp Leyser ( 1 5 8 6 - 1 6 3 3 ) verblieb in den B a h n e n traditioneller Rechtgläubigkeit. N o c h nach 1648 bleibt die enge Anlehnung an - » W i t t e n b e r g bestehen, die auch unter J o h a n n H ü l s e m a n n (1602—1661), der von Wittenberg k o m m e n d 1646 in Leipzig tätig wurde, zunächst zu b e o b a c h t e n ist. Verband der gemeinsame Kampf gegen G . - » C a l i x t noch die beiden kursächsischen F a k u l t ä t e n , so trat doch bei Hülsemann zur Polemik die sachbezogene theologische Arbeit. J o h a n n Adam Scherzer ( 1 6 2 8 - 1 6 8 3 ) war nicht mehr bereit, G e g n e r der reinen Lehre mit aller Schärfe zu b e k ä m p f e n , diese wären eher zu unterrichten. Der 1655 nach Vorüberlegungen Hülsemanns von H i e r o n y m u s K r o m a y e r ( 1 6 1 0 - 1 6 7 7 ) und Daniel Heinrici ( 1 6 1 5 - 1 6 6 6 ) erarbeitete Consensus repetitus fidei vere Lutberanae k o n n t e sich nicht durchsetzen.

In den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg gelang es der Leipziger Fakultät, sich von Wittenberg wieder schrittweise zu lösen und, anknüpfend an das 16. Jh., eigene Denkmuster zu entwickeln. Dazu gehörte besonders die Auseinandersetzung mit pietistischem Gedankengut, die zu einer sichtbaren Abgrenzung zum akirchlichen Pietismus führte und über Gesangbuch und Gottesdienst - wie Johann Günther (1660-1714) - die kirchliche Frömmigkeit zu festigen suchte. Die Konversion des Kurfürsten Friedrich August I. (1694-1733) zwang zur Zurückhaltung in der Auseinandersetzung mit dem römischen Katholizismus, was ebenfalls eine Besinnung auf die reformatorischen Grundlagen verstärkte und den Prozeß der inneren und äußeren Konfessionalisierung unterstützte. Bereits in die Auseinandersetzungen um die Pietisten führte Valentin Albcrti (1635-1697). Das Collegium philobiblicum, zu dem die Lehrbeauftragten der Philosophischen Fakultät, A.H. -»Francke, Paul Anton (1661-1730) und Johann Caspar Schade (1666-1698) gehörten, bewahrte er vor der Auflösung, wobei er den Anliegen der Pietisten nicht ablehnend gegenüberstand. Die von Wittenberg angebotene Hilfe, den -»Pietismus zurückzudrängen, lehnte die Fakultät ab. Da Francke keinen akademischen Grad an der Theologischen Fakultät erworben hatte, untersagte diese ihm jede Lehrtätigkeit. Zum Hintergrund dieses Verbotes gehörte das Zusammenwirken Franckes mit Chr.

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- • T h o m a s i u s . U m 1700 erhielten mit J o h a n n O l e a r i u s ( 1 6 3 9 - 1 7 1 3 ) u n d A d a m R e c h e n berg ( 1 6 4 2 - 1 7 2 1 ) F r e u n d e des Pietismus Einfluß in d e r F a k u l t ä t . I m - • T e r m i n i s t i s c h e n Streit s t a n d e n sie T h o m a s Ittig ( 1 6 4 3 - 1 7 1 0 ) g e g e n ü b e r , d e r d e n P i e t i s m u s als einen v o m „Satan angestifteten U n f u g " zurückwies. Als Wegbereiter philologisch-historischer Schriftauslegung wirkte Christian Friedrich Börner (1683-1753). 1729-1734 betreuteer die Leipziger Ausgabe der Schriften Luthers. Sein Bemühen um die philologische Aufarbeitung des Bibeltextes bereitete das Wirken Johann August Ernestis (1707-1781) vor, dessen Institutio interpretis Novi Testamenti 1761 erschien und einen wichtigen Schritt in der Entwicklung einer kritischen Bibelexegese bedeutete. Einen anderen Weg in ihrer kritischen Annäherung an die Bibel gingen Christoph Wolle (1700-1761), einer der Beichtväter Bachs, und Christian August Crusius (1715-1775), die sich auf den Anti-Wolffianer Andreas Rüdiger (1673-1713) bezogen. Z u Beginn des 19. J h . ist eine deutliche E r n e u e r u n g d e r F a k u l t ä t zu b e o b a c h t e n . Heinrich Gottlieb Tzschirner bewarb sich 1809 um eine Professur. Er las Kirchengescliichte, Dogmatik und Homiletik. Von -