Theologische Realenzyklopädie: Band 24 Napoleonische Epoche - Obrigkeit [Reprint 2020 ed.] 9783110878332, 9783110145960

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Theologische Realenzyklopädie: Band 24 Napoleonische Epoche - Obrigkeit [Reprint 2020 ed.]
 9783110878332, 9783110145960

Table of contents :
Napoleonische Epoche - Neuchâtel
Neue Religionen - Nominalismus
Nommensen - Obrigkeit
Anhang
Namen/Orte/Sachen

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Theologische Realenzyklopädie Band XXIV

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G

Theologische Realenzyldopädie In Gemeinschaft mit Horst Balz James K. Cameron Wilfried Härle - Stuart G. Hall Brian L. Hebblethwaite • Wolfgang Janke Hans-Joachim Klimkeit • Joachim Mehlhausen Knut Schäferdiek • Henning Schröer Gottfried Seebaß - Hermann Spieckermann Günter Stemberger herausgegeben von Gerhard Müller

Band XXIV Napoleonische Epoche - Obrigkeit

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1994

Redaktion: D r . Petra Sevrugian Lieferung 1 / 2 Napoleonische E p o c h e - Neujahrsfest II O k t o b e r 1 9 9 4 Lieferung 3 / 4 Neujahrsfest II - N o r m e n III Dezember 1 9 9 4 Lieferung 5 N o r m e n III - Obrigkeit Dezember 1 9 9 4

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ClP-Einheitsaufnahme

Theologische Realenzyklopädie / Haupthrsg. Gerhard Müller. Berlin ; New York : de Gruyter. Teilw. hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller. - Nebent.: T R E ISBN 3-11-002218-4 NE: Krause, Gerhard [Hrsg.]; Müller Gerhard [Hrsg.]; T R E Bd. 24 Napoleonische Epoche - Obrigkeit. - 1994 Abschlußaufnahme von Bd. 24 ISBN 3-11-014596-0

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Copyright 1994 by Walter de G r u y t e r & C o . , D 10785 Berlin.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Napoleonische Epoche

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Napoleonische Epoche 1. Begriff 2. Geschichtlicher Verlauf 2.1. Frankreich 2.1.1. Verfassung und Verwaltung 2.1.2. Rechtswesen 2.1.3. Staat und Kirchen 2.1.4. Die jüdischen Gemeinden 2.2. Europa 2.2.1. Deutschland 2.2.2. Italien 2.2.3. Polen 2.2.4. Schweiz 2.2.5. Belgien und Niederlande (Hilfsmittel/Literatur S. 8)

1. Begriff Am 15. 12.1799, fünf Wochen nach dem Staatsstreich vom 18. Brumaire, erklärte Napoleon dem französischen Volk: „Bürger, die Revolution ist auf die sie auslösenden Prinzipien zurückgeführt und damit beendet" (Amerikanische und Französische Revolution 538). Von einer Napoleoniscben Epoche zu reden, bereitet trotz dieses nachdrücklichen Hinweises auf eine Zäsur einige Schwierigkeiten, ist diese Zeit doch mehr durch Widersprüche als durch Einheitlichkeit gekennzeichnet. Innerhalb der Zeit des säkularen Wandels im „Zeitalter der europäischen Revolution" weist sie sowohl retardierende wie beschleunigende Züge auf. Sie kann deshalb nicht einfach der -»Französischen Revolution oder der -»Restauration zugeschlagen werden. Gleichgültig aber, ob die restaurativen oder die revolutionären Züge, der epochale oder episodenhafte Charakter betont werden, alle Autoren sind sich mit Georges Lefèbvre, der eine Zeit und keine Person beschreiben wollte, einig, daß diese Zeit nur den Namen eines Mannes tragen kann: Napoleon. Während er in Frankreich die Ergebnisse der Revolution zu Gunsten der Bourgeoisie begrenzte, wirkte er außerhalb Frankreichs revolutionierend: als Vorbild im französischen Einflußbereich, als Herausforderung bei den Gegnern. Auf diese Weise hatte die Napoleonische Epoche für Europa eine homogenisierende Wirkung (Fehrenbach, Ancien Régime 3). 2. Geschichtlicher

Verlauf

2.1. Frankreich Das Direktorium hatte einen starken M a n n gesucht, um herzustellen, wozu es selbst nicht in der Lage war: Ruhe, Sicherheit und Frieden. Innenpolitische Probleme waren die religiöse Spaltung, die galoppierende Inflation und die Bedrohung der öffentlichen Sicherheit durch das Bandenwesen. Außenpolitisch befand sich Frankreich in einer unsicheren Kriegslage ohne Aussicht auf ein Ende. Diese Probleme konnte Napoleon mit dem Sieg von Marcngo und der Vcrwaltungsreform, dem -»Konkordat und dem Code civil weitgehend lösen. Der Friede von Amiens (März 1802) brachte Frankreich erstmals, wenn auch nur für kurze Zeit, den Frieden mit allen Gegnern und verstärkte so den „Mythos des Retters" (Tulard, Napoléon). 2.1.1. Verfassung und Verwaltung. Die Verfassung des Jahres VIII (12. 12. 1799), von Sieyès konzipiert, verzichtete auf die -»Menschen- und Bürgerrechte und sah folgende Einrichtungen vor: Drei Konsuln, vom Senat ernannt; der Conseil d'Etat, vom 1. Konsul ernannt; das Tribunat mit 100 Mitgliedern, vom Senat ernannt; das Corps législatif mit 300 Mitgliedern, vom Senat ernannt; der Senat mit 80 Mitgliedern, kooptiert sich aus Vorschlägen des 1. Konsuls, des Tribunats und des Corps législatif. Alle Mitglieder dieser Einrichtungen werden aus Notabelnlisten ausgewählt, die von den Aktivbürgern im Verhältnis von 10 : 1 zunächst auf kommunaler Ebene, dann auf der des Departements und schließlich der Nation erstellt werden. Die dauerhafte Verwaltungsreform vom 17. 2. 1800 verstärkte die schon bestehende Tendenz zur Zentralisation. Die Departements erhielten einen Präfekten, die Arrondissements einen Unterpräfekten und die Gemeinden über 5000 Einwohner einen Bürgermeister, die alle vom 1. Konsul ernannt wurden. Die Bürgermeister der kleineren Gemeinden wurden vom Präfekt ernannt. An ihrer Seite standen beratende Gremien, deren Mitglieder aus den Notabelnlisten ausgewählt wurden.

2.1.2. Rechtswesen. Auch die Neuordnung des Rechtswesens trug erheblich zur Stabilisierung des Regimes bei. Neben dem Code civil (1804) traten unter Napoleon in

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Kraft: der Code de procédure civile (1806), der Code de commerce (1807), der Code d'instruction criminelle (1808) und der Code pénal (1810). Während das Strafrecht mit seinen Sondergerichten gegen aufrührerische Versammlungen, Strassenraub und Falschmünzerei stark repressive Züge trug und sich auch mit den Strafen zunehmend an das Ancien régime anlehnte, wird dem Code civil neben dem Konkordat die größte Bedeutung für die Befriedung und Wiederherstellung Frankreichs zugeschrieben. Nach vier vergeblichen Versuchen der Kodifikation zwischen 1793 bis 1799, legte die von Napoleon eingesetzte Kommission nach vier Monaten einen Entwurf vor. Von den 102 Beratungen im Staatsrat leitete Napoleon 57 selbst, die Annahme im Tribunat setzte er mit Hilfe eines Personalaustausches durch.

Am 21.3.1804 wurden die 36 Einzelgesetze als Code civil zusammengefaßt und verabschiedet. Er war ein Kompromiß zwischen dem Norden und Süden, sowie der Tradition und dem Recht der Revolution (droit intermédiaire), wobei das konservative Element überwog; lediglich im Bereich des Zivilstands und hier besonders bei der Verweltlichung der -»Ehe und der Beibehaltung der Ehescheidung dominierte das revolutionäre Recht. Freiheit der Person und des Eigentums und vor allem der Schutz der Familie sind besondere Charakteristika. Die an sich starke Stellung der Familie und in ihr des Vaters, wird zusätzlich hervorgehoben durch den Ausschluß jeglicher gesellschaftlicher Organisation als Rechtsträger. Das ursprüngliche Verbot der Einrichtung von Erbgütern wurde 1807 zugunsten des zu schaffenden napoleonischen Adels aufgehoben (Art. 896). Der Code organisierte „la paix bourgeoise" (Arnaud), war aber durch seine klare und leicht verständliche Sprache geeignet, zur „wahren Verfassung Frankreichs" und schließlich zu dem am weitesten verbreiteten Gesetzbuch Europas zu werden. 2.1.3. Staat und Kirchen. Napoleon war kein religiöser Mensch, Religion war für ihn ein wichtiges soziales Phänomen zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Entsprechend waren für ihn Pfarrer Funktionäre für Gehorsam und nützten so dem Staat, der sie dafür bezahlte. 2.1.3.1. Katholische Kirche. Um eine wirkliche Befriedung Frankreichs zu erzielen, mußte Napoleon nach dem Bruch durch die Revolution dringend einen Ausgleich mit der -»Römisch-katholischen Kirche suchen. Von Anfang an bemühte sich die Politik des Konsulats um Annäherung und Ausgleich. In dieser Linie lag die Abmachung von Montfaucon (18. 1. 1800) mit den Aufständischen der Vendée, das Entgegenkommen gegenüber den Emigranten, die Beendigung der Deportationen eidverweigernder Priester und die Öffnung der Kirchen an Sonntagen (28. 12.1799). Mit Entgegenkommen allein war jedoch eine dauerhafte Befriedung nicht möglich. Dies war nur durch die Uberwindung der Kirchenspaltung zu erreichen, denn die konstitutionelle Kirche konnte sich nach wie vor nur auf etwa die Hälfte der Geistlichen stützen und nur 59 der 87 Diözesen hatten einen Bischof, während gleichzeitig 82 eidverweigernde Bischöfe der einst 135 Diözesen ihren Anspruch auf ihr Amt aufrechthielten. Angesichts der tiefsitzenden Abneigung gegen die Kirche im Regierungslager, gilt die Aufnahme der Verhandlungen mit Rom als eine der mutigsten Initiativen Napoleons (Latreille, L'ère napoléonienne 107). Die Verhandlungen waren mühsam und langwierig. Sie wurden zunächst (25. 6. 1800) in Paris geführt. In einer zweiten Phase wurde über einen Entwurf Napoleons in Rom beraten, der trotz dessen Ultimatums vom 12. 5.1801 nicht angenommen wurde, aber zur Entsendung -»Consalvis nach Paris führte. Dort führte erst das direkte Eingreifen Napoleons zur Unterzeichnung am 15.7. 1801 um Mitternacht. Die Hauptschwierigkeit hatte die Formulierung des ersten Satzes gemacht. Nach zehn verschiedenen Entwürfen einigte man sich darauf, die katholische Religion sei die „Religion der großen Mehrheit der französischen Bürger". Das Konkordat brachte die Anerkennung der Republik, die Pluralität der Religionen und das Einvernehmen von Staat und Kirche. Für die Kirche brachte es vor allem die Freiheit der Kultausübung als öffentliches Recht (vgl. TRE ll,370,3ff; 12,20,35ff). Das Konkordat brachte eine Normalisierung; im Pariser Becken und im Süden war jedoch ein vollständiger Wiederaufbau der Kirche

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nötig. Sämtliche Bischöfe, eidverweigernde und konstitutionelle, mußten zurücktreten. 16 eidverweigernde, 12 konstitutionelle und 32 neue Bischöfe sollten eine ausgewogene Mischung für die 60 neuen Diözesen (einschließlich der annektierten Gebiete) herstellen. Von Regierungsseite verhielt sich Portalis recht wohlwollend gegenüber dem Aufbau des kirchlichen Schulwesens und der Wiederherstellung von pflegenden und unterrichtenden Orden, während die „Pères de la Foi" verboten wurden (22. 6.1804). Die weiblichen Orden wurden begünstigt, wie überhaupt Frauen und Kinder, die Benachteiligten des Code civil, weitgehend der Kirche überlassen wurden. Auch die als Gegenleistung zum Verzicht der Kirche auf die enteigneten Güter gewährte finanzielle Leistung des Staates konnte sich sehen lassen: Das Budget stieg von 300.000 Francs 1805 auf 7,6 Millionen 1807.

Eine häufig gestellte Frage ist die nach dem Sieger dieser Auseinandersetzung von Staat und Kirche (eine Abwägung bei Langlois, Religion). Napoleon hat die Früchte des Konkordats sofort geerntet: der Rückhalt der bourbonischen Opposition war gebrochen und damit gab es keinen ernstzunehmenden Gegner mehr; die Kirche hielt sich mit Ausnahme der Ehescheidung an die staatliche Ordnung und beteiligte sich an der Verbreitung seines Ruhms. Die Anwesenheit des Papstes bei der Krönung (1804) und die Einführung des catéchisme impérial (1806) waren Höhepunkte dieser neuen Verständigung von Staat und Kirche. Auf der anderen Seite begnügte sich die Kirche nicht mit dem Erreichten, sondern suchte zäh, Verlorenes zurückzugewinnen. Erst der von Napoleon neu heraufbeschworene Konflikt durch die Annexion des -»Kirchenstaats (1809) hatte mit dem Papst einen eindeutigen Sieger (-»Pius VII.). Die ohne Nennung des Namens ausgesprochene Exkommunikation „aller Verräter des Patrimoniums Petri" war noch folgenlos, aber die Weigerung des Papstes, neue Bischöfe zu ernennen, setzte die Bischöfe einem Loyalitätskonflikt aus, in dem sie sich für den Papst entschieden: selbst Napoleons Onkel, Kardinal Fesch, weigerte sich, das Amt des Erzbischofs von Paris anzutreten. „Napoleon hatte sich eine gallikanische Kirche gewünscht, und er erhielt eine ultramontane. In der Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser blieb der Papst auf der ganzen Linie Sieger" (Tulard, Napoléon 418). Bei der Gesamtbewertung wird das Konkordat für die Kirche überwiegend positiv beurteilt: Es habe die Wiederaufwertung der religiösen Aspekte des politischen Lebens gebracht (Langlois) und die katholische Erneuerung eingeleitet (Bergeron). Gerade in dieser Hinsicht widersprach jedoch Plongeron: die Annäherung der Kirche an den Staat habe den begonnenen geistigen Neubeginn der Kirche unterbrochen. Wie weit die napoleonische Zeit das religiöse Leben verändert hat, ist noch kaum abzuschätzen, dazu sind die regionalen Unterschiede zu groß. So praktizierten in Rennes nur 2 % der Männer die Sakramente, aber in Caux 90% der Frauen. Unter dem Aspekt der Dauer bleibt mit A. Latreille festzuhalten, daß das Konkordat eine moderne Ordnung des kirchlichen Lebens geschaffen hat, das in Frankreich bis 1905 Bestand hatte (im Elsaß und dem Departement Moselle bis heute) und darüber hinaus für andere Kirchen und Länder als Vorbild diente. 2.1.3.2. Die protestantischen Kirchen. „Nutznießer" des Konkordats wurden als erste die protestantischen Kirchen. Die angebliche Sympathie Napoleons für die Protestanten beruhte auf deren Einstellung zur Obrigkeit und vor allem auf taktischen Überlegungen, ein wirkliches Verständnis für den Protestantismus besaß er nicht, und er hat ihn auch nicht begünstigt. Die Reformierten (-»Reformierte Kirchen) hatten unter der Revolution mehr gelitten als die Lutheraner. Ahnlich wie der katholischen Kirche fehlten ihnen die Pfarrer; noch 1820 lag ihre Zahl unter der von 1789. Politische Differenzen, die Abwendung der reicheren Bourgeois und der intellektuelle Verlust verhinderten ein schnelles Wiederaufleben unter dem Direktorium. Kultusminister Jean Portalis (1746-1807) wollte zunächst eine einheitliche Organisation für alle Protestanten, dagegen wehrten sich die Reformierten, die ihre alte synodale Verfassung wollten. Doch d a r a u f g i n g Portalis nicht ein, weil er ähnliche Forderungen der Katholiken vermeiden wollte. So wurden die Reformierten in 81 künstlichen „églises consistoriales" mit je 6.000 Seelen zusam-

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mengefaßt; die Mitglieder der Konsistorien (neben dem Pfarrer 6 - 1 2 Laien) mußten aus den Reihen der Höchstbesteuerten gewählt werden. Je 5 solcher Gemeinden konnten zu einer „synode d'arrondissement" zusammenkommen, aber nur nach Genehmigung durch die Regierung und unter Anwesenheit des Präfekten. In der Praxis waren die neuen Konsistorialkirchen isoliert und schwach (vgl. T R E 11,378,34ff). 1804 wurden auch die reformierten Pfarrer vom Staat besoldet, je nach Größe der Stadt mit 1.000 bis 3.000 F (Paris), 1810 wurde die auf Staatskosten ausgestattete theologische Fakultät von M o n t a u b a n eröffnet. Die anfängliche Sympathie der Reformierten für Napoleon ließ jedoch nach, weil in der Frage der Verbesserung der Organisation keine Fortschritte erzielt werden konnten.

Die etwa 200.000 Lutheraner (-»Lutherische Kirchen) des Elsasses und Montbeliards waren vor der Revolution in 160 Gemeinden mit 200 Pfarrern organisiert. Auf Grund der territorialen Zersplitterung bildeten sie keine Einheit; Straßburg war lediglich ein anerkanntes geistiges Zentrum. Nach der Beseitigung der bisherigen politischen Ordnung verloren die Gemeinden den Rückhalt an der bisherigen weltlichen Obrigkeit und die Isolierung wurde zur Schwäche. In dieser Zeit entstand die nicht realisierte Idee einer Kirche des -»Elsaß. Auch bei den Lutheranern bildeten die willkürlichen Konsistorien mit 6.000 Seelen die kleinste Einheit, fünf dieser Gemeinden bildeten eine „Inspektion" mit 5 Pfarrern und 5 Laien. Das Generalkonsistorium in Straßburg sicherte die Einheit der Lutheraner. An seiner Spitze stand ein von Napoleon ernannter Laie, zwei Geistliche wurden ebenfalls von der Regierung ernannt, dazu kamen 7 Laien aus den Inspektionen. Das eigentliche Führungsgremium war jedoch das Direktorium aus Präsident, einem Kleriker, einem von Napoleon ernannten und zwei vom Generalkonsistorium gewählten Laien. 2.1.3.3. Gedanken und Vorschläge zur Annäherung der Kirchen (-»Unionen, Kirchliche). Bei den „bruits de la reunion" wird man unterscheiden müssen zwischen theoretischen Plädoyers und praktischen Vorschlägen. Von einer Wandlung des Christentums, einer religiösen Annäherung und einer möglichen Einigung durch -»Toleranz gingen -»Chateaubriand, Louis de Bonald (1754-1840) und Mathieu Tabaraud (1744-1832) aus. Konkrete Annäherungsversuche gab es auf katholischer Seite bei dem ehemaligen konstitutionellen Bischof Claude le Coz und Bischof Perier von Avignon, allerdings beruhten ihre Bemühungen weniger auf einem ökumenischen Dialog als auf der Hoffnung, die Protestanten in eine gewandelte katholische Kirche zurückführen zu können. Ernsthafter waren die Überlegungen bei den Reformierten. Den Vorschlag einer Gleichbehandlung von Reformierten und Lutheranern durch Portalis hatte Rabaut-Dupui noch in der Hoffnung auf die Synodal verfassung zurückgewiesen, die Isolierung und Schwäche der Reformierten hatten ihn jedoch veranlaßt, eine Annäherung an Lutheraner (1804) und Katholiken (1806) vorzuschlagen. Er hielt eine Einigung für möglich, wenn sie von Napoleon herbeigeführt würde. Die Vielzahl der dazu publizierten Werke läßt eine Tolerierung durch die Zensur erkennen, aber ernsthafte Überlegungen zur Schaffung einer einheitlichen Kirche mit protestantischer Grundlage gab es bei Napoleon nicht. 2.1.4. Die jüdischen Gemeinden. Eigentlich hätte man von der Französischen Revolution erwarten können, daß sie zu einer raschen und vollständigen Emanzipation der Juden gelangen würde. Warum dies nicht so war, lag in der auch bei den Aufklärern festzustellenden Abneigung gegen die Juden, der Vorstellung einer einheitlichen Nation und den großen sozialen Unterschieden zwischen den Sephardim und den vorwiegend im Elsaß ansässigen Ashkenasim. Am 28. 9. 1790 erhielten die Sephardim das Aktivbürgerrecht, erst am 28. 9. 1791 wurden alle Ausnahmeverordnungen aufgehoben, aber die Geldforderungen gegenüber christlichen Schuldnern auf ein Drittel reduziert. Unter Napoleon verschlechterte sich die Lage der Juden wieder. Kultusminister Portalis war der Überzeugung, die Juden seien weniger eine Religionsgemeinschaft als eine Nation. Einer Notabeinversammlung wurden 12 Fragen zum Familienrecht, Patriotismus, Rabbinat und Wirtschaft gestellt. Als die Antworten zufriedenstellend ausfielen, wurde der Große Sanhedrin einberufen.

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Hier zeigte sich Napoleons Begabung für Propaganda, denn in Wirklichkeit war nicht an ein Mitspracherecht der Juden gedacht. Die Juden erhielten eine Kirchenverfassung (17. 3. 1808) analog den christlichen Kirchen mit Gemeinden von mehr als 2.000 Seelen, einem Oberkonsistorium in Paris und Bezirkskonsistorien in den Departements, die behördlicher Bestätigung bedurften. Von nun an setzten sich die Begriffe „Israelit" und „israelisch" durch, um die Judenheit als bloße Religionsgemeinschaft zu charakterisieren. Mit dem gleichen Datum wurde aber auch das décret infâme erlassen, das die wirtschaftliche Betätigung und Freizügigkeit der Juden einschränkte. 2.2. Europa Im Exil von St. Helena arbeitete Napoleon an seiner eigenen Legende, zu der auch seine angeblich gesamteuropäische Zielsetzung gehörte. Davon kann keine Rede sein. Immer standen Frankreich und später das Grand Empire im Zentrum, selbst die neuen Modellstaaten mußten sich deren Interessen unterordnen und verloren so die Möglichkeit, die Zustimmung ihrer Untertanen zu gewinnen. Den nachhaltigsten Einschnitt brachte die Napoleonische Zeit durch das Ende des Alten Reichs für die deutschen Länder. 2.2.1. Deutschland. Das Ende des Alten Reichs wird markiert durch den Reichsdeputationshauptschluß (RDH 25.2.1803), den Rheinbund (12.7. 1806) und die Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. (6. 8. 1806). Der R D H vollzog das in einzelnen Verträgen mit Frankreich beschlossene Prinzip der Entschädigung für linksrheinische Gebiete durch -»•Säkularisation und Mediatisierung und entsprach weitgehend einem von Frankreich und Rußland gemeinsam vorgelegten Vorschlag. Er war der entscheidende Schritt auf dem Weg der Reduzierung der Staaten- und Herrschaftsvielfalt der über 300 Reichsstände auf die 39 Staaten des Deutschen Bundes. Von dauernder Bedeutung war, daß neben Österreich und Preußen eine Reihe von Mittelstaaten traten, wodurch die föderalistische Lösung einer späteren Gesamtstaatsverfassung stark präjudiziert wurde. 2.2.1.1. Staatliche Reformen. In den Rheinbundstaaten lag die Priorität der Politik auf der Verteidigung der eben erworbenen Souveränität und der Integration der neuerworbenen Gebiete, die häufig politisch, sozial, wirtschaftlich und konfessionell völlig heterogen waren. Aus diesem Grund war die Zielsetzung aller Reformen die Schaffung eines modernen Staatswesens mit einer leistungsfähigen Verwaltung und durch eine effektive Bürokratie. Hier diente Frankreich als Vorbild, wobei allerdings -»Bayerns leitender Minister Maximilian Joseph v. Montgelas (1759-1838) an seine bisherige Politik anknüpfen konnte. Abgeschlossen wurde diese Politik der auf staatliche Integration zielenden Reformen durch die 1815-1820 erlassenen Verfassungen ( - • Konstitutionalismus). In einer völlig anderen Situation befand sich -»Preußen, denn hier galt es, einen auf die Hälfte reduzierten Staat vor dem Untergang zu bewahren und gleichzeitig verstärkten Anforderungen auszusetzen. Die preußischen Reformen tendierten deshalb stärker auf die Mobilisierung der sozioökonomischen Kräfte. Agrarreformen, Gewerbefreiheit und Heeresreform bildeten den Kern, die Verfassungsreform blieb stecken. In -*Österreich wurde von Franz I. (1792-1835, als Römischer Kaiser bis 1806 Franz II.) die Reformpolitik seiner Vorgänger Josef II. und Leopold II. in weiten Teilen rückgängig gemacht. Wirtschaftliche Mißerfolge führten 1811 zum Staatsbankrott. Lediglich auf dem Gebiet des Rechtswesens wurden die begonnenen Reformen fortgeführt und ein neues Strafgesetzbuch (1803) und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (1811) erlassen. 2.2.1.2. Säkularisation. Der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 brachte neben der Mediatisierung geistlicher und weltlicher Reichsstände auch die Rechtsgrundlagen

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für die Vermögenssäkularisation reichs- und landesunmittelbarer Vermögensträger. Darüber hinaus unterstellte er die frommen und milden Stiftungen dem Staat. Von der Säkularisation waren auch die evangelischen Kirchen betroffen, besonders in Preußen und -»Württemberg. Für die katholische Kirche brachte sie allerdings mit dem Ende der Reichskirche einen fundamentalen Einschnitt, der noch heute in der Kirchengeschichtsschreibung als Katastrophe begriffen wird. Aus dieser Perspektive gilt die Säkularisation als Niederlage des Katholizismus und als Beginn seiner geistigen und kulturellen Inferiorität (nähere Einzelheiten im Artikel -»Säkularisation). 2.2.1.3. Verhältnis von Staat und Kirche. Die Abtretung der linksrheinischen Gebiete und die innerdeutschen territorialen Veränderungen durch die napoleonischen Friedensschlüsse machten eine völlige Neuorganisation der katholischen Kirche notwendig, die von den nun souveränen Staaten benutzt wurde, das territoriale Prinzip und die staatliche Kirchenhoheit durchzusetzen. Pläne für ein Reichskonkordat oder wenigstens eines Konkordats für den Rheinbund, die vor allem von Karl Theodor v. Dalberg (1744—1817) vertreten wurden, scheiterten an den neuen Souveränen. Das führte zum Ende des alten Staatskirchentums, brachte aber keine radikale Trennung von -»Kirche und Staat. Der religiös neutrale Staat gewährte -»Religionsfreiheit, sicherte das von der Säkularisation nicht betroffene Kirchengut und gewährte finanzielle Leistungen. Die drei christlichen Konfessionen blieben jedoch bei der Besetzung öffentlicher Ämter bevorzugt und erhielten einen öffentlich-rechtlichen Status. Im Gegenzug wurden die Pfarrer Staatsdiener, die zu Treue und Gehorsam gegenüber dem Staat verpflichtet wurden. 2.2.1.4. Judenemanzipation. Der Forderung nach Emanzipation der Juden, wie sie der preußische Kriegsrat Christian Wilhelm Dohm (1751-1820) in seiner Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden 1781 vertreten hatte, war vor der Französischen Revolution nur von Josef II. seit 1782 in Teilen der Habsburger Monarchie entsprochen worden (vgl. T R E 17,361,9ff). Zur Zeit des Grand Empire war sie in weiten Teilen Deutschlands mit den französischen Gesetzen eingeführt worden. Eine uneingeschränkte Judenbefreiung erfolgte im M o d e l l s t a a t Westfalen (1808) und ähnlich weitgehend in F r a n k f u r t / M . und Berg. In Baden (1808) und Bayern (1813) blieben kleinere Einschränkungen bestehen, auch das preußische Emanzipationsgesetz (1812) durchbrach das Prinzip der völligen Gleichstellung der J u d e n durch den Vorbehalt bei Besetzung öffentlicher Ä m t e r . Auf dem W i e n e r Kongreß k o n n t e die beabsichtigte allgemeine Regelung für den Deutschen B u n d nicht durchgesetzt werden. So k a m es lediglich zu einer Absichtserklärung in Art. 16. Die Formulierung „ j e d o c h werden den B e k c n n e r n dieses G l a u b e n s bis dahin die denselben von den einzelnen Bundesstaaten bereits eingeräumten R e c h t e e r h a l t e n " , erlaubte es sogar den Freien Städten, d i e französischen Gesetze wieder rückgängig zu m a c h e n .

Die meisten Emanzipationsgesetze hatten einen erzieherischen Charakter. Sie verstanden die Gewährung von Rechten als Vorleistung für eine erwartete Verhaltensänderung und erzeugten so einen Assimilationsdruck. Die dem Vorbild der christlichen Kirchen angeglichenen Konsistorialverfassungen stärkten das reformbereite Judentum und gewährten dem Staat Einflußmöglichkeiten auf die jüdischen Gemeinden. Auch die Rabbiner wurden nun wie die Pfarrer Staatsdiener. 2.2.2. Italien. In -»Italien war die Wirkung der napoleonischen Zeit ambivalent und nicht so dauerhaft wie in Deutschland. Die von Napoleon geschaffenen Staaten waren künstlich und überstanden den Wiener Kongreß nicht, der das Prinzip der Restauration nur in Italien voll verwirklichte. Die Revolution hatte auch in Italien Anhänger gehabt, aber 1799 verband sich mit Napoleon mehr die Hoffnung auf Ruhe und Ordnung. Der wichtigste von Napoleon geschaffene Staat, die Italienische Republik (seit 1805 Königreich Italien) wurde Zentrum einer gesamtitalienischen Politik von allerdings sehr begrenzter Wirkung. Eine wirkliche Autonomie ließ Napoleon genausowenig wie bei allen andern Vasallenstaaten zu. Begrüßt wurde die Einführung des französischen Verwaltungssystems, und auch der Code civil wurde in den italienischen Staaten, mit Ausnahme der obligatorischen Zivilehe und der Ehescheidung, ohne Widerstand eingeführt.

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Beides wurde dann 1814 auch in den Staaten abgeschafft, die den Code civil beibehielten (Genua, Parma, Lucca). In Norditalien hatte der aufgeklärte Absolutismus einige Zielsetzungen schon vorweggenommen, hier gab es auch eine Bourgeoisie, die den Wunsch nach Rechtskodifizicrung und Zentralisierung hatte. Im Süden dagegen änderten sich die sozialen Strukturen auch nach Abschaffung des Feudalsystems und der Säkularisation der Kirchengüter nur wenig, da die Großgrundbesitzer den größten Teil der zum Verkauf angebotenen Güter erwerben konnten. Gegenüber der katholischen Kirche hat sich N a p o l e o n in Italien von Anfang an k o m promißbereit gezeigt und in der Italienischen Republik die Anerkennung des Katholizismus als Staatsreligion akzeptiert. Auch d a s K o n k o r d a t v o m 16. 9 . 1 8 0 3 war f ü r die Kirche günstiger als das mit Frankreich. Die Kirche behielt die Jurisdiktion in Ehesachen und nicht veräußerte Kirchengüter wurden zurückerstattet. Die Kurie hat auch nach Napoleon die Konkordatspolitik in Italien erfolgreich fortgesetzt (1815 Toskana, 1817 Piemont, 1818 Sizilien). 2.2.3. Polen. In —»Polen waren die H o f f n u n g e n , die mit Napoleon verbunden w u r d e n , besonders groß. Nach der ersten Teilung (1772) w a r es zu verstärkten R e f o r m b e m ü hungen gekommen, die in der Verfassung von 1791 gipfelten. N a c h den weiteren Teilungen sammelten sich die Emigranten in Frankreich. Polen k ä m p f t e n auf französischer Seite in Oberitalien, Süddeutschland und San D o m i n g o , doch erfüllten sich die Erwartungen nach der Niederlage Preußens nicht. Das im Frieden von Tilsit (1807) gebildete Herzogtum Warschau k a m in Personalunion zu Sachsen. M i t dem Statut constitutionnel wurden die französischen Verwaltungsprinzipien eingeführt und der Code civil übern o m m e n . Am Krieg gegen Rußland beteiligte sich Polen mit 100.000 M a n n . Trotz der halbherzigen Politik stärkte die „französische" Zeit das Bürgertum, und das polnische Nationalbewußtsein w a r nicht mehr an den Adel gebunden. 2.2.4. Schweiz. Gegen die französische Besetzung 1798 war, begünstigt durch die helvetische Revolution, in der -»Schweiz nur von Bern militärischer Widerstand geleistet worden. Das bedeutete aber nicht, d a ß die nach französischem Vorbild geschaffene zentralistische Verfassung der Helvetischen Republik (am 12. 4. 1798 konstituiert) sich ohne große Schwierigkeiten durchsetzen ließ. Vor allem die Landgemeindekantone mußten mit französischer Hilfe militärisch zur A n n a h m e der Verfassung gezwungen werden. Auch danach w a r sie auf die französische Präsenz angewiesen. N a c h dem Frieden von Luneville (1801) w a r die Schweiz nicht mehr Kriegsschauplatz, und in Napoleons Interesse lag es nun, R u h e und O r d n u n g herzustellen und die verlangten Militärkontingente zu bekommen. Die von Napoleon zusammen mit Talleyrand ausgearbeitete Verfassung von M a l maison (29. 5. 1801) sollte dieses Ziel durch einen K o m p r o m i ß zwischen Unitariern und Föderalisten erreichen. Als das nicht gelang, zog N a p o l e o n die französischen Truppen zurück. Dem darauf sofort einsetzenden Bürgerkrieg bereitete N a p o l e o n mit der „ M e diationsakte" (18. 2.1803) ein Ende. Den zur Beratung der Verfassung nach Paris beorderten 70 Vertretern der Regierung und der Kantone blieb keine Alternative. Die „ M e diationsakte" stellte die Souveränität der Kantone wieder her und gab der Schweiz die Form eines Staatenbundes. Die am 4. 7. 1803 geschlossene Defensivallianz sicherte die französischen Interessen. Gegenüber der Schweiz verzichtete N a p o l e o n sowohl auf die Einführung des Code civil wie seiner Kirchenpolitik, die somit auf die annektierten Gebiete beschränkt blieb. So gab es Kantone mit Staatsreligion, paritätische Kantone und Mischformen; das Kirchengut blieb erhalten. Trotz der stark restaurativen Tendenzen, die über 1815 hinaus erhalten blieben, w u r d e auch Dauerhaftes geschaffen bzw. von der Helvetik ü b e r n o m m e n , so die territoriale Gestalt der Kantone, die Abschaffung des Untertanenlands und das Ende der Privilegien von O r t e n , G e b u r t , Person und Familien.

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Nappoleonische Epoche

2 . 2 . 5 . Belgien und Niederlanden. Die Auswirkung d e r französischen Zeit w a r in -•Belgien und den - • N i e d e r l a n d e n n durchaus verschieden. Wirtschaftlich wirkte sich die Annexion für Belgien positiv ausis, denn nun öffnete sich für seine Industrie der französische M a r k t und so konnte sich fifrüh eine Großindustrie entwickeln. Antwerpen wurde wieder zu einem Welthandelshafeen. N i c h t nur die Wallonen, auch die flämische Oberschicht orientierten sich z u n e h m e n o d an Frankreich. N a c h den Bauernunruhen gegen die Konskriptionen in Brabant inndd Flandern 1 7 9 8 / 9 9 b r a c h t e N a p o l e o n die Wiederherstellung der Ruhe. In den N i e d e r l a n d e n w a r e n die K ä m p f e zwischen den an Frankreich orientierten Radikalen und G e e m ä ß i g t e n heftiger. A u c h hier b r a c h t e N a p o l e o n ein E n d e der Auseinandersetzung unid t erzwang mit der Verfassung v o m 14. 9. 1801 einen K o m p r o m i ß . Die alten Regentenfamnilien kehrten zurück und bestimmende Figur wurde der bisherige Gesandte in Paris R u t ( t g e r J a n Schimmelpennink. Die wirtschaftlichen Folgen des franzaösischen Einflusses waren für den niederländischen Handel jedoch durchweg negativ. Daran ändiertcte auch der Übergang zur Monarchie mit Louis Napoléon als König nichts. Sein Widerstand giege;en die konsequente Durchführung der Kontinentalsperre führte schließlich zur Annexion 1810. Naach der Schlacht von Leipzig kam es am 15. und 17. 9. 1813 zu Aufständen in Amsterdam und im FHaag. In den kirchlichen Fragen w a x e n n die Reaktionen gerade umgekehrt. Die niederländischen Katholiken begrüßten i m aallgemeinen den französischen Einfluß, weil er das E n d e der Privilegien der Refornnienrten Kirche brachte. Die anderen protestantischen Kirchen, Katholiken und Juden w u n r d e n nun gleichberechtigt. In Belgien dagegen hatte es schon gegen die josefinischen RLefcformen ( - » Josefinismus) erheblichen Widerstand gegeben. N a c h dem Fructidor w u r d e c n die Kongregationen verboten, die Seminare und die Universität - » L ö w e n a u f g e h o b e c n . D a s w a r mit ein Grund für die erwähnten Bauernaufstände. Napoleons Kirchempoolitik b r a c h t e eine gewisse Beruhigung, doch blieben die belgischen Katholiken auch i n / Z u k u n f t an R o m orientiert. Hilfsmittel/Literatur 1. Hilfsmittel, Qtiellensammlungem, C Gesamtdarstellungen: Amerik. u. Franz. Revolution, bearb. v. Wolfgang Lautemann, München 19'81 l (Gesch. in Quellen). - Karl Otmar Frhr. von Aretin/Gerhard A. Ritter (Hg.), Historismus u. moöderne Geschichtswiss. Europa zwischen Revolution u. Restauration 1 7 9 7 - 1 8 1 5 . 3. dt.-sowjetisches:s Historikertreffen 1978, Stuttgart 1987. - Owen Connelly, Hist. Dictionary of Napleonic France H 7 9 9 - 1 8 1 5 , London 1985. - Dictionnaire Napoléon. Sous la direction de Jean Tulard, Paris 19'87.\ - Roger Dufraisse, Napoléon, Paris 1987 (Que sais-je? 2358). - Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancicien Régime zum Wiener Kongreß, München 1981 "1986 - Jacques Godechot, L'Europe et 1'A.méérique à l'époque napoléonienne (1800-1815), Paris 1967. - Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huiberr (Hg.), Staat u. Kirche im 19. u. 20. Jh. Dokumente zur Gesch. des dt. Staatskirchenrechts I. Staat t u. Kirche vom Ausgang des alten Reichs bis zum Vorabend der bürgerlichen Revolution, Berlin 119773. - André Latreille, L'Eglise catholique et la révolution française. II. L'ère napoléonienne (18!00->—1815), Paris 1950. - Ders., L'Ere napoléonienne ( = collection U), Paris 1974. - Georges Lefièbvvre, Napoléon, Paris '1969 (Peuples et Civilisations XIV); dt.: Baden-Baden 1955. - Walter M a r k o w , Die Napoleon-Zeit. Gesch. u. Kultur des Grand Empire, Stuttgart 1985. - Ernst Münch, Vollst. SSammlung aller älteren u. neuem Konkordate, nebst einer Gesch. ihres Entstehens u. ihrer Schick:salile. II. Konkordate der neuern Zeit, Leipzig 1831. - Bernard Plongeron, Théologie et politique au sièccle des Lumières 1 7 7 0 - 1 8 2 0 , Genf 1973. - Daniel Robert (Hg.), Textes et documents relatifs à l'histoire des églises réformées en France 1800-1830, Genf/Paris 1962. - Heinz-Otto Sieburg ('(Hg.), Napoleon u. Europa, Köln 1971 (NWB 44). - Hans Bernd Spies (Hg.), Die Erhebung gegien Napoleon 1806-1814/15, Darmstadt 1981 (Quellen zum politischen Denken der Deutschen inn 139. u. 20. Jh. 2). - Staat u. Kirche in Frankreich. II. Vom Kultus der Vernunft zur napoleonischien i Staatskirche, bearb. v. Ernst Walder, Bern 1953 (Quellen zur neueren Gesch. 20/21). - Jean Tiulanrd, Napoléon ou le mythe du sauveur, Paris 1977 '1986; dt.: Napoleon oder der Mythos des JRettters, Tübingen 1978. - Eberhard Weis, Der Durchbruch des Bürgertums 1776-1847, Frankfurt/AM. 1978 (Propyläen Gesch. Europas Bd. 4). 2. Literatur zu Frankreich: Robert AAnchel, Napoléon et les Juifs. Essai sur les Rapports de l'Etat franç. et du Culte israélite de 118006 à 1815, Paris 1928. - André-Jean Arnaud, Les origines

Napoleonische Epooche

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Nasiräer

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Hans-Otto Binder

Nasiräer (s.a. -»Askese, -»Gelübde) (Literatur S. 12)

Als ti'zirim, „Geweihte" (sg. ttäzir), werden im Alten Testament Personen bezeichnet, die zeitweilig oder lebenslänglich Weingenuß und Unreinheit (insbesondere Leichenberührung) vermeiden, sowie ihr Haupthaar nicht scheren lassen. Dadurch sind sie von der Menge des Volkes abgesondert und befinden sich ständig in einem engen Verhältnis zu Gott, das sie zu besonderen Diensten geeignet macht. Das Verbum näzar hat entsprechend die Bedeutung „weihen", „sich enthalten", „absondern". Es steht in naher Verwandtschaft zu ttadar, „geloben", und ist vielleicht als eine Sonderbildung im Hebräischen anzusehen. Der Gebrauch beider Begriffe ist jedenfalls nur im Hebräischen und - wohl von ihm abhängig - im Syrischen belegt. Im einzelnen bezeugen die alttestamentlichen Aussagen über das Nasiräertum sehr unterschiedliche Auffassungen. Joseph wird im Jakobssegen (Gen 49,26) und im Mosesegen (Dtn 33,16) „der Geweihte unter seinen Brüdern" genannt. Beide Texte reflektieren die Josephsgeschichte (Gen 37; 3 9 - 5 0 ) und spielen auf Josephs herausragende Position unter den Jakobssöhnen an. Die Kennzeichen des Nasiräers fehlen Joseph. Noch weiter entfernt vom Nasiräertum im engeren Sinne ist der Gebrauch von näzir T h r 4,7, wo allgemein die Vornehmen Jerusalems gemeint sind, falls nicht n'ziritn an die Stelle eines ursprünglichen tt"ärim (Jünglinge) geraten ist. Als eine komplexe Gestalt erscheint Simson in der Überlieferung. Er wird zu den Richtern (-»Richterbuch) gezählt (Jdc 16,31) und gehört zu den Charismatikern unter ihnen. Jeweils vor seinen Heldentaten kommt der Geist Jahwes über ihn (Jdc 13,25; 14,6.19; 15,14). Die Verunreinigung durch Tote scheut er im blutigen Streite mit den Philistern nicht. Auch mit Tierkadavern geht er unbedenklich um (Jdc 14,6ff; 15,15ff). Des Weines und ähnlicher Getränke enthielt er sich nicht (14,10ff). Gleichwohl läßt ihn die Überlieferung sich selbst als näzir von Geburt an bezeichnen (16,17). Einziges Charakteristikum seines Nasiräertums ist der unberührte Wuchs seines Haupthaares. Seine Intaktheit ist die Voraussetzung für die außergewöhnlichen Kräfte des Helden, d.h. für das Wirksamwerden des Geistes Gottes (-»Geist/Heiliger Geist). Hierbei spielen alte und weitverbreitete magische Vorstellungen mit. Mittelbar wird auch das Verbot des

Nasiräer

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Genusses von Wein, anderen berauschenden Getränken und unreinen Speisen eingehalten. In der vorangestellten Geburtslegende Simsons befolgt es die Mutter des Helden während ihrer Schwangerschaft (Jdc 13,4.7; in erweiterter Form 13,14: „Nichts genießen, was vom Weinstock kommt"). Ähnlich ist die Geburtslegende -»Samuels gestaltet, der in verschiedener Hinsicht Simson verwandt ist. Seine Mutter gelobt, ihn „ f ü r sein ganzes Leben" Gott zu weihen. „Kein Schermesser soll an sein Haupt kommen" (I Sam 1,11). Doch wird Samuel nirgends rtaztr genannt. Im redaktionellen Zusammenhang der Jugendgeschichte Samuels erscheint das Scherverbot als Voraussetzung sowohl für seine Aufnahme in den Kultdienst am Heiligtum in —»Silo (2,18f) als auch für seine Berufung zum Propheten (3,1-21). Ausdrücklich nebeneinander werden Nasiräer und Propheten Am 2,11 f genannt. Beide stehen im Auftrage Gottes. Arnos erwähnt nur das Weinverbot, zu dessen Übertretung die Nasiräer frevelhaft gezwungen werden. Das könnte darauf verweisen, daß Scherverbot und Weinverbot ursprünglich nicht zusammengehören. Zur Verleitung von Abstinenz übenden frommen Gruppen vgl. Jer 35. Hier fordert Jeremia auf Gottes Geheiß die Rekabiten zum Weingenuß auf. Sie widerstehen der Versuchung. Nach Jer 35 steht die Enthaltung von Wein bei den vorbildlich jahwetreuen Rekabiten in Zusammenhang mit einer generellen Ablehnung der Lebensweise des Kulturlandes (—•Nomadentum im Alten Testament). Eine ähnliche Einstellung ist wahrscheinlich für die Nasiräer vorauszusetzen. Die seltenen Erwähnungen von Nasiräern in den Geschichts- und Prophetenbüchern haben nur wenig gemein mit den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen, die N u m 6 , 1 - 2 1 als torat hannaztr (Weisung für den Geweihten: V. 13.21) bzw. torat tiezcer (Weihe-Weisung: V. 21) zusammengestellt sind. Danach kann ein nccdccr nazlr (Geweihten-Gelübde: V. 2) oder ticedccr nez&r (Weihe-Gelübde: V. 5) von Männern und Frauen abgelegt werden. Wie das zu geschehen hat, wird im Text nicht festgelegt. Auch über den speziellen Zweck eines solchen Gelübdes verlautet nichts. Es handelt sich also offenbar um eine fromme Leistung, die ihren Wert in sich selbst trägt. Die drei Enthaltungsgebote, die während der Dauer des Weihegelübdes eingehalten werden müssen, gehen z.T. über das hinaus, was von Nasiräern der Vergangenheit berichtet wird. So darf der Nasiräer überhaupt keine Produkte des Weinstockes zu sich nehmen, auch keine Rosinen, Ranken oder Blätter. Um die Verunreinigung durch einen Leichnam auf jeden Fall zu vermeiden, darf er nicht einmal das Haus eines Verstorbenen betreten, auch wenn es ein naher Verwandter ist. Dieses im Rahmen von P (-»Priesterschrift) überlieferte Nasiräergesetz setzt nachexilische Verhältnisse voraus. Es wird ergänzt durch eine Bestimmung für den Fall, daß ein Nasiräer unabsichtlich mit einem Toten in Berührung k o m m t (V. 9 - 1 2 ) . Der von solchem Mißgeschick Betroffene hatte das Nasiräat abzubrechen, nach sieben Tagen sein Haupt zu scheren und ein Sühnopfer durch den Priester darbringen zu lassen, entsprechend dem Mindestopfer von zwei Tauben bei anderen Reinigungszeremonien (vgl. Lev 12,8; 14,21 f.30f; 15,14f). Weiterhin wird noch die Darbringung eines einjährigen Lammes als Schuldopfer gefordert (V. 12). Das Motiv für ein solches -»Opfer ist unbekannt. Ein Nachtrag bietet in V. 1 3 - 2 1 in einem ursprünglich wohl selbständig überlieferten Gesetz die Bestimmungen über die feierliche Beendigung des befristeten Nasiräer-Gelübdes. Erforderlich sind umfangreiche -»Opfergaben: Je ein einjähriges Lamm als Brandopfer bzw. Sündopfer, ein Widder und Backwaren als Gemeinschaftsopfer (Heilsopfer) sowie Speis- und Trankopfer (Zusatz?). Der Nasiräer wird geschoren und das H a a r im Opferfeuer verbrannt. Nach der Darbringung der Opfer darf der Nasiräer wieder Wein trinken. Detaillierte Bestimmungen aus späterer Zeit finden sich im Mischna-Traktat Nazir: Mindestdauer für ein Nasiräat 30 Tage, Ablegung des Gelübdes in Notsituation und bei Krankheit, Übernahme der Kosten für das Auslösungsopfer armer Nasiräer als ver-

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Nassau

dienstliches Werk. Act 2 1 , 2 3 - 2 7 wird berichtet, daß Paulus angeblich vier Männern das Opfer bezahlt und selbst an den Auslösungsriten teilgenommen habe, um Zweifel in der Jerusalemer Gemeinde an seiner Gesetzestreue zu beseitigen. Das Gelübde, das Paulus nach Act 18,18 veranlaßt haben soll, sich in Kenchreä das Haupt scheren zu lassen, kann kein Nasiräergelübde gewesen sein. Literatur M . Boertien, Nazir (Nasiräer), 1971 (Die Mischna 111,4). - Joseph Henninger, Zur Frage des Haaropfers bei den Semiten: Die Wiener Schule der Völkerkunde. FS anläßlich des 25-jährigen Bestandes des Institutes für Völkerkunde der Univ. Wien, Wien 1956, 3 4 9 - 3 6 8 = ders., Arabica sacra, 1981 ( O B O 40) 286 - 3 0 6 . - Diether Kellermann, Die Priesterschr. v. Numeri 1,1 bis 10,10 literarkrit. u. traditionsgesch. untersucht, 1970 (BZAW 120). - Georg Mayer, N Z R : T h W A T V (1986) 3 2 9 - 3 3 4 . - Zvi Weisman, T h e Biblical Nazirite, its Types and Roots: Tarbiz 36 (1967) 2 0 7 - 2 2 0 . - Ernst Zuckschwerdt, Zur literarischen Vorgesch. des priesterlichen Nazir-Gesetzes Num 6 , 1 - 8 : Z A W 88 (1976) 1 9 1 - 2 0 5 .

Karl-Heinz Bernhardt

Nassau 1. Die Nassauer Grafschaften im Mittelalter 2. Die Nassauer Grafschaften bis zum Ende des alten Reiches 3. Das Herzogtum Nassau 1 8 0 6 - 1 8 6 6 4. Die Preußische Provinz Hessen-Nassau 1 8 6 6 - 1 9 4 5 (Bibliographien/Quellen und Zeitschriften/Literatur S. 17)

Die Geschichte Nassaus ist durch eine großräumige Verteilung des Territorialbesitzes, der im Westen bis über die Grenzen des alten Reiches hinausging, und dessen häufig wechselnde Aufteilung in zahlreiche Teilgrafschaften bestimmt. 1. Die Nassauer

Grafschaften

im

Mittelalter

1.1. Die frühmittelalterliche Herkunft der Grafen von Nassau geht wahrscheinlich über die Herren von Laurenburg im Unterlahngebiet (11. Jh.) auf die Grafen Drutwin im Königssondergau um Wiesbaden zurück. Seit 1160 nennen sich die Laurenburger nach der von ihnen um 1125 erbauten und gegen das Domstift Worms seit 1159 endgültig behaupteten Burg Nassau (jetzt Trierer Lehen). Etwa gleichzeitig erwerben sie die Herborner Mark und die Kalenberger Zent (Beilstein/Ww.) als Thüringer Lehen und (gemeinsam mit den Grafen von Katzenelnbogen) von den Herren von Isenburg die Grafschaft auf dem Einrich. Diese stammt aus dem Erbe der Grafen von Arnstein, aus dem die Nassauer auch die Vogtei über Koblenz besitzen. Dazu kommen die Vogteien über die Stifte Limburg, Dietkirchen und Weilburg. Um 1170/80 erwerben sie den Reichshof Wiesbaden, ebenso (als Lehen des Erzstifts -»Mainz) die Wildbannrechte über die Forste im Rheingau. 1.2. Der Aufstieg des Hauses Nassau zu einer der führenden Territorialmächte endet mit der 1255 zwischen den Grafen Walram II. und Otto I. vereinbarten Teilung der Grafschaft. Otto erhielt das Gebiet nördlich der Lahn mit Siegen und Dillenburg, Walram den südlichen Teil mit Weilburg, Idstein und Wiesbaden. Die ottonische und walramische Hauptlinie haben diese Spaltung dauernd aufrecht erhalten und dazu ihre Teilgrafschaften ständig weiter geteilt. 1.3. Der sich 1303 in die Linien Siegen, Dillenburg und Hadamar aufspaltende ottonische Zweig verliert zwar 1401 die Herrschaft Limburg/L. an das Erzstift -»Trier, erwirbt aber 1403 die Herrschaft Breda und 1420 die Grafschaft Vianden. Die Teilung von 1516 trennt endgültig die Siegen-Dillenburger Stammlande von den niederländischluxemburgischen Besitzkomplexen und fördert dieEinwurzelungdes nassau-ottonischen Hauses im niederländischen Raum (-»Niederlande), was dann zur Beteiligung des Grafenhauses am niederländischen Freiheitskampf führt. 1530 wird durch Heirat das (künf-

Nassau

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tig namengebende) Fürstentum Oranien an der unteren Rhone, das 1544 an Wilhelm von Nassau-Oranien (und 1713 an Frankreich) fällt, erworben. Im Katzenelnbogener Erbfolgestreit (1500-1557) muß Nassau-Dillenburg auf die Ober- und Niedergrafschaft Katzenelnbogen zugunsten von -»Hessen verzichten, erhält dafür aber dessen Anteil an der Grafschaft Diez. 1.4. Die nassau-walramische Stammlinie erwirbt 1326 die Pfandschaft Neuweilnau (mit Usingen) und 1328 die Herrschaft Merenberg (mit der Reichsvogtei Wetzlar). Die 1355 entstandene (ältere) Idsteiner Linie stellt im 14./15. Jh. vier Mainzer Erzbischöfe. Territoriale Erfolge erzielt aber nur die ebenfalls 1355 entstandene (ältere) Nassau-Weilburg-Saarbrückener Linie (1381 Erwerb der Grafschaft Saarbrücken, 1394 der Herrschaft Kirchheimbolanden und Ottweiler sowie der Grafschaft Saarwerden im Elsaß). 2. Die Nassauer Grafschaften

bis zum Ende des allen

Reiches

Die Aufspaltung der nassauischen Linien, die zahlreichen Kondominate und der Katzenelnbogener Erbfolgestreit beeinflussen auch die (zeitlich unterschiedliche) Einführung der -»Reformation in Nassau. Vor allem in der Grafschaft Diez wirkt sich auch der Einfluß von Kurtrier aus, dessen Territorium (nach 1564) von Koblenz über Montabaur und Molsberg bis nach Limburg und Camberg reichte. 2.1. Graf Philipp III. von Nassau-Weilburg berief 1526 den lutherischen Prediger Erhard -»Schnepf nach Weilburg, erließ 1533 eine -»Kirchenordnung und führte 1536 eine -»Visitation durch. Die von Superintendent Caspar Goltwurm gemeinsam mit dem Nassau-Dillenburger Reformator Erasmus Sarcerius 1546 verfaßte Kirchenordnung für Nassau-Weilburg und Nassau-Dillenburg fiel dem -»Interim zum Opfer. 1553 erließ Goltwurm eine Kirchenordnung nach Nürnberger Vorbild. Mit der Einführung der auf die Hessische -»Agende von 1574 zurückgehenden „Nassau-Saarbrückenschen Kirchenordnung und Agende" von 1576 auch in Nassau-Weilburg kam die Reformation dort zum Abschluß. - In Nassau-Idstein-Wiesbaden gewann die Reformation erst nach 1540 an Boden; sie wurde 1609 mit der Einführung der Nassau-Saarbrückenschen Kirchenordnung von 1576 abgeschlossen. - Ab 1550 drang die Reformation in die Grafschaft Saarbrücken ein, wo sie aber erst nach dem Ubergang der Herrschaft an Nassau-Weilburg (1574) offiziell anerkannt wurde. 2.2. In Nassau-Dillenburg berief Graf Wilhelm der Reiche 1529 den lutherisch gesinnten Heilmann Bruchhausen von Crombach als Hofkaplan nach Dillenburg, und 1530 Leonhard Wagner nach Siegen. 1532 erschien die Kirchenordnung „Bedenken von heiligen Trachten, Wallfahrten, Kirchenweihungen etc. und anderen Ceremonien etc. vor alten Zeiten". 1534 wurden die Pfarrer angewiesen, sich an die Nürnberger Kirchenordnung von 1533 zu halten. 1537 erschien die „Instruction für einfeltige Pfarrherren und Kyrchendiener", auch „Nassauische Kirchenordnung" genannt. 1538 kam Erasmus Sarcerius als Hofprediger und Superintendent nach Dillenburg. Im gleichen Jahr fand dort die erste Synode statt. Im Interim versuchten Mainz und Trier vergeblich eine Rekatholisierung des Territoriums. In seinem Diezer Teil konnte Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg die Reformation erst 1564 einführen. 2.2.1. Aus Glaubensüberzeugung, aber auch aus sonstigen persönlichen (verwandtschaftliche Beziehungen zu den Niederlanden) und politischen Gründen (Modernisierung des gräflichen Herrschaftssystems) führte Graf Johann VI. 1578 das reformierte Bekenntnis in Nassau-Dillenburg ein. Als Führer des Wetterauer Grafenvereins unterstützte er ähnliche Bestrebungen in Sayn, Wittgenstein, Wied, Solms-Braunfels, Isenburg-Büdingen und Hanau-Münzenberg und schließlich in Hessen-Kassel. Geistiger Mittelpunkt wurde -»Herborn mit der 1584 gegründeten Hohen Schule. 1582 bzw. 1586 (Herborner Generalsynode) wurde die um das obrigkeitliche Kirchenregiment erweiterte Middelburger Kirchenordnung in Nassau-Dillenburg eingeführt.

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Nassau

Während sich die (bis 1755 gedruckte) Herborner Bibel von 1595 an Luthers Übersetzung (mit Beifügung der Psalmen Lobwassers und des -»Heidelberger Katechismus) hielt, wurde die sog. Piscator-Bibel 1611 in Nassau verboten. 1586 erschien das (bis 1694 gedruckte) vierstimmige Herborner -»Gesangbuch, das neben den Psalmen von Ambrosius Lobwasser mit ihren französischen Melodien auch lutherische Lieder enthielt. Das Nassau-Dillenburger Gesangbuch von 1711 wurde 1751 von Heinrich Schramm ergänzt. 1777 erschien die letzte nassau-oranische Kirchenordnung, 1786 das letzte nassau-oranische Gesangbuch. 2.3.1. 1606 teilte Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg sein Land unter seinen fünf Söhnen auf, woraus sich die Linien Nassau-Beilstein, Nassau-Siegen, Nassau-Dillenburg, Nassau-Diez und Nassau-Hadamar entwickelten. 1612 kehrte Graf Johann VIII. von Nassau-Siegen zum Katholizismus zurück; 1649 wurde das Siegerland (bis 1734 bzw. 1743) auf eine evangelische und eine katholische Linie aufgeteilt. Nach seinem Übertritt zum Katholizismus 1629 rekatholisierte Graf Johann Ludwig von Nassau-Hadamar seine Grafschaft. Seine Versuche, in Verbindung mit Nassau-Siegen die Nassau-Walramischen Gebiete zu erobern (1636 Siegener Pakt), scheiterten. Die jüngere nassau-oranische Linie (Diez) beerbte schließlich alle ottonischen Linien: 1702 Nassau-Oranien, 1711 Nassau-Hadamar, 1738 Nassau-Dillenburg und 1743 Nassau-Siegen. 1783 kam es zum Erbvertrag zwischen den nassau-oranischen und nassau-walramischen Linien. 2.3.2. Die Vereinigung aller walramischen Grafschaften unter Graf Ludwig II. von Nassau-Saarbrücken von 1605-1629 blieb eine Episode. Wegen ihres Bündnisses mit -•Schweden kamen 1635 Wiesbaden an Kurmainz, Idstein an den Fürsten von Schwarzenberg, Weilburg an den Fürsten von Lobkowitz und Saarbrücken an den Herzog von Lothringen. Erst der —»Westfälische Frieden gab den Grafen ihre Territorien zurück. Seit 1728 bestanden die walramischen Hauptlinien Nassau-Weilburg und Nassau-Saarbrücken-Usingen. 1735 kam es aber wieder zu einer Teilung in eine Usinger und eine Saarbrückener Linie; letztere existierte bis 1797. 1744 wurde die Residenz der Usinger Linie nach Biebrich und die Regierung nach Wiesbaden verlegt. 1793 wurde Saarbrücken von den französischen Revolutionsheeren besetzt (—»Französische Revolution). 1799 erbte Nassau-Weilburg die Grafschaft Sayn-Hachenburg. 2.4. In Nassau-Weilburg (Johann Adam Haßlocher), Nassau-Usingen (Viselius), Nassau-Idstein (Johann Daniel Herrnschmid, Johann Christian Lange, Egidius Günther Hellmund) sowie in Nassau-Oranien (Henrich Horche, Christoph Balthasar Klopfer, Johann Heinrich Schramm) finden sich Ansätze für eine (zum Teil radikale) pietistische Bewegung (-»Pietismus). Die -»Aufklärung blieb dem Landvolk eher fremd. Die Erweckungsbewegung (—»Erweckung/Erweckungsbewegungen) breitete sich im 19. Jh. vor allem in Nordnassau aus. 3. Das Herzogtum

Nassau

1806-1866

3.1. Durch den Reichsdeputationshauptschluß von 1803 erhielten Nassau-Usingen und Nassau-Weilburg (am 30. August 1806 wurden sie zu einem unteilbaren, souveränen Herzogtum erklärt) von Kurmainz den Rheingau und die Untermainlande, von Kurtrier Montabaur und Limburg, von Kurköln Deutz, Linz, Königswinter u. a., die Grafschaft Sayn-Altenkirchen und den hessen-darmstädtischen Anteil an der Niedergrafschaft Katzenelnbogen. Beide Linien traten 1806 dem Rheinbund bei und erwarben noch die Grafschaft Holzappel (mit Schaumburg), Diez, Neuwied, Teile der Grafschaft Solms sowie die Herrschaft Reifenberg und Kransberg; ihre Fürsten erhielten den Herzogstitel. Nassau-Oranien lehnte den Beitritt ab und verlor seine 1803 erworbenen Gebiete Bistum Fulda, Hochstift Corvey, Dortmund, Weingarten, Dietkirchen u. a.; mit Wied-Runkel, Westerburg und Schadeck kam es zum Großherzogtum Berg.

Nassau

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3.2. Nach dem Zusammenbruch der französischen Herrschaft übernahm Wilhelm VI. von Nassau-Oranien wieder die Herrschaft in Nassau-Dillenburg und die Statthalterschaft in den Niederlanden. Aufgrund des Vertrags vom 31. Mai 1815 bestieg er als König Wilhelm I. den Thron des Königreichs der Niederlande. Von den beiden noch bestehenden walramischen Linien Nassau-Usingen und Nassau-Weilburg erlischt erstere 1816; seitdem gibt es nur noch zwei nassauische Hauptlinien, die oranische (aus ottonischem Stamm) in den Niederlanden, dem damals auch das Großherzogtum -»Luxemburg in Personalunion verbunden war, und die weilburgische im Herzogtum Nassau. Durch Tauschvertrag vom 31. Mai 1815 trat Nassau an -»Preußen alle Bezirke ab, aus denen die preußischen Kreise Neuwied, Altenkirchen und Wetzlar sowie der rechtsrheinische Teil des Kreises Koblenz gebildet wurden. Dafür erhielt Nassau die nassau-dillenburgischen Gebiete, die Preußen von Fürst Wilhelm VI. von Nassau-Oranien gegen Luxemburg eingetauscht hatte. Das Siegerland blieb bei Preußen, das auch die Niedergrafschaft Katzenelnbogen von Kurhessen erwarb, sie aber 1816 an Nassau wieder abtrat. 3.3. 1815 erschien das Edikt über die Verwaltungsorganisation des aus über 30 Herrschaften zusammengewachsenen Herzogtums Nassau, das in 28 Ämter eingeteilt wurde. Von den etwa 300.000 Einwohnern waren um 1820 ca. 140.000 Katholiken und 160.000 Evangelische. Auf der Generalsynode in Idstein am 5. August 1817 einstimmig beschlossen und durch Edikt von Herzog Wilhelm am 11. August 1817 verkündet, wurden die lutherischen und reformierten Gemeinden des Herzogtums zur „Evangelisch-christlichen Kirche" vereinigt (->Unierte Kirchen). Das Kirchenedikt vom 8. April 1818 regelte ihre Organisation. Von 1827 an hatte Nassau einen evangelischen Landesbischof. 1843 erschien die „Liturgie bei dem öffentlichen Gottesdienste der evangelisch-christlichen Kirche in dem Herzogtum Nassau", 1831 der „Evangelisch-christliche Landeskatechismus für das Herzogtum Nassau" und 1841 das „Gesangbuch für die evangelisch-christlichen Einwohner des Herzogtums Nassau". Die 1817 eingeführte nassauische Simultanschule bedeutete nicht die Entkonfessionalisierung (1866 waren von 716 Elementarschulen faktisch noch 411 evangelisch, 249 katholisch), wohl aber die Verstaatlichung des Schulwesens. Oberhalb der Elementarschulen gab es die Pädagogien in Wiesbaden, Dillenburg, Idstein und Hadamar. Das Landesgymnasium befand sich in Weilburg, das (simultane) Lehrerseminar in Idstein. 1853 kam es zur faktischen konfessionellen Trennung des Lehrerseminars in ein katholisches in Montabaur und in ein evangelisches in Usingen. Der sog. „allgemeine —»Religionsunterricht" wurde bis 1844 in Nassau wieder aufgehoben. 3.4. Die katholischen Teile des Herzogtums stammen aus Kurtrier, Kurmainz und Nassau-Hadamar. Nach dem Verlust der linksrheinischen Gebiete verwaltete das Limburger „Vikariat" (seit 1802 „Generalvikariat") das rechtsrheinische Restbistum Trier mit den Landkapiteln Dietkirchen, Kunostein-Engers und Kamp. Erst 1821 wurden ihm auch die früheren mainzischen Landkapitel Höchst, Königstein und Rheingau unterstellt. Die päpstlichen Bullen von 1821 und 1827 begründeten die Oberrheinische Kirchenprovinz und schufen für das Herzogtum Nassau das neue Bistum Limburg. Das zunächst rigide Staatskirchentum (-»Staatskirche) in Nassau, auch der katholischen Kirche gegenüber, schwächte sich im Laufe der Zeit aber ab. 1866 genoß Herzog Adolf bei den großdeutsch und pro-österreichisch eingestellten Katholiken wohl größere Sympathien als beim protestantisch-liberalen Bürgertum. 3.5. Die eher bürokratisch-autoritärer Geisteshaltung entspringende, damals als modern geltende nassauische Gesetzgebung und die drückende wirtschaftliche Lage (Nassau war damals eines der Hauptauswanderungsländer Deutschlands) führten 1848/49 zu politischen Unruhen. 1866 mobilisierte Nassau, dessen Hof und Regierung überwiegend auf österreichischer Seite standen (-»Österreich), gegen Preußen. Nach der Niederlage wurde Nassau annektiert und Herzog Adolf abgesetzt. Durch das Aussterben des nassauottonischen Hauses in den Niederlanden im Mannesstamm 1890 wurde er, aufgrund

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Nassau

des nassauischen Erbvertrags von 1783, Großherzog von Luxemburg. 1912 erlosch mit seinem Sohn Wilhelm IV. der letzte, der walramische Mannesstamm des Hauses Nassau. 4. Die Preußische

Provinz Hessen-Nassau

1866-1945

4.1. Zusammen mit -»Hannover, Kurhessen, Frankfurt/M. und Teilen von HessenDarmstadt wurde Nassau von Preußen 1866 annektiert. 1868 wurden die 1867 gebildeten Regierungsbezirke Kassel und Wiesbaden zur neuen preußischen Provinz -»Hessen-Nassau vereinigt. Der neugebildete Regierungsbezirk Wiesbaden umfaßt das ehemalige Herzogtum Nassau, Frankfurt/M. und die von Hessen-Darmstadt abgetretenen Gebiete (außer Vöhl). Kurhessen, Nassau und Frankfurt/M. bleiben aber selbständige (jetzt preußische) -»Landeskirchen; der bisherige Bekenntnisstand bleibt erhalten. 1877 erschien die „Kirchengemeinde- und Synodal-Ordnung für die evangelischen Gemeinden im Amtsbezirk des Consistoriums zu Wiesbaden". An der Spitze der Geistlichkeit stand jetzt ein Generalsuperintendent. 4.2. Auch das Bistum Limburg erfuhr einige territoriale Veränderungen. 1884 gingen die katholischen Gemeinden der von Preußen 1866 annektierten Landgrafschaft HessenHomburg von Mainz auf Limburg über, ebenso der Kreis Biedenkopf. 1889 kamen die ehemals nassauischen Enklaven Harheim und Dornassenheim, inzwischen hessen-darmstädtisch geworden, von Limburg nach Mainz. 1929 kamen die Fuldaer Gebiete um Frankfurt/M. als Folge von Eingemeindungen und 1933 das Trierer Gebiet um Wetzlar zu Limburg, nachdem 1932 der bisher zum Regierungsbezirk Koblenz gehörende Kreis Wetzlar mit dem Regierungsbezirk Wiesbaden vereinigt worden war. Auf evangelischer Seite blieb Wetzlar aber (bis heute) bei der Evangelischen Kirche im Rheinland. 4.3. Nach Beendigung des landesherrlichen Kirchenregiments in Preußen gingen dessen Befugnisse in Nassau durch Kirchengesetz 1922 auf das Konsistorium und den Bezirkssynodalvorstand über. Am 5. Dezember 1922 wurde die neue „Verfassung der Evangelischen Landeskirche in Nassau" angenommen und durch das preußische Gesetz vom 8. April 1924 bestätigt. Die Inkraftsetzung erfolgte abschnittsweise. Am 19. März 1925 wurde D. August Kortheuer einstimmig zum Landesbischof gewählt. 4.4. 1933 ging auch im Bereich der preußischen Provinz Hessen-Nassau die Macht an die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) über, was in der Folgezeit auch zur Veränderung der Verwaltungsstruktur führte, die der Parteistruktur angeglichen wurde: Neben der staatlichen Organisation des Landes gab es nämlich eine abweichend von ihr aufgebaute Verwaltungsorganisation der NSDAP. Diese umfaßte den Gau Kurhessen und den Gau Hessen-Nassau (Sitz: Frankfurt/M.) mit dem Regierungsbezirk Wiesbaden, dem Volksstaat Hessen und die von Kassel abgetrennten Kreise Hanau, Gelnhausen und Schlüchtern. Am 1. April 1944 wurde die bisherige preußische Provinz Hessen-Nassau aufgelöst. Die jetzt neugebildete Provinz Kassel erhielt den Regierungsbezirk Kassel ohne den Kreis Schmalkalden, der zu Thüringen kam, und ohne die Kreise Hanau, Schlüchtern und Gelnhausen, die dem Regierungsbezirk Wiesbaden zufielen, aus dem dann die neue Provinz Nassau gebildet wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt der Regierungspräsident in Wiesbaden am 1. Mai 1945 Regierungsbefugnisse für die ehemalige preußische Provinz Nassau. Die Kreise Ober- und Unterwesterwald, Unterlahn und St. Goarshausen fielen dann an das Land Rheinland-Pfalz der französischen Besatzungszone; das übrige nassauische Gebiet kam an das im Oktober 1945 neugebildete Land Hessen der amerikanischen Besatzungszone. 4.5. Am 12. September 1933 versetzte der neugewählte Dritte Landeskirchentag der Evangelischen Landeskirche in Nassau unter dem Einfluß der -»„Deutschen Christen" Landesbischof D. Kortheuer in den Ruhestand und beschloß den Beitritt zur „Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen".

Nassau

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N a c h dem Z u s a m m e n b r u c h wurde am 18. 0 5 . 1 9 4 5 die vorläufige Leitung der (wiedererstandenen) Evangelischen Kirche in N a s s a u gebildet; Landesbischof Kortheuer w a r v o m Regierungspräsidenten in Wiesbaden mit der Leitung der kirchlichen Angelegenheiten betraut worden. A m 3 0 . 0 9 . 1 9 4 7 „bestätigt der Kirchentag der Ev. Kirche in Hessen, N a s s a u und F r a n k f u r t / M . den Z u s a m m e n s c h l u ß der Evangelischen Kirche im Gebiet der früheren Landeskirche N a s s a u - H e s s e n kirchlich und rechtlich". Die Kirche trägt den N a m e n : „Evangelische Kirche in Hessen und N a s s a u " . D a m i t ist auch kirchlicherseits N a s s a u untergegangen. A n seine frühere Landeskirche erinnern heute noch der N a m e der neuen Kirche und die Propsteibereiche N o r d n a s s a u und Südnassau. Bibliographien Harry Gerber, Schrifttumskunde zum nassauischen Kirchenwesen (bis zum Jahre 1935 einschließlich), 1952 (JHKGV) - Karl E. Demandt, Schrifttum zur Gesch. u. gesch. Landeskunde v. Hessen, 3 Bde., Wiesbaden 1965-1968; fortges. durch Winfried Leist, Marburg, I 1973 II 1979; dann durch Wolfgang Podehl, III 1979 IV 1984 (bis 1976 einschließlich); fortges. durch: Hessische Bibliogr., hg. v. der Stadt- u. Univ.bibliothek Frankfurt/M. in Zusammenarbeit mit den wiss. Bibliotheken des Landes Hessen, bisher 12 Bde., München 1979-1988 (wird jährlich fortges.). Quellen und

Zeitschriften

Almanach. Jb. des Bistums Limburg, 1973 ff. - AMRhKG. - JHKGV. - NasA. Literatur Alfred Adam, Die Nassauische Union v. 1817: JHKGV 1 (1949) 35-408. - Johannes Arnoldi, Gesch. der Oranien Nassauischen Länder u. ihrer Regenten, Hadamar, I 1799 II 1800 III.l 1801 III.2 1816 Reg. 1819 = Kreuztal 1985-1988. - Karl E. Demandt, Gesch. des Landes Hessen, Kassel 1959 "1972-1980. - Karl Dienst, Zur Reformation an der unteren Lahn. Bad Ems u. Nassau: JHKGV 40 (1989) 225 - 237. - Ders., Kleine Gesch. der Ev. Kirche in Hessen-Nassau, Frankfurt/M. 1992 »1994. - C. Georg Firnhaber, Die Nassauische Simultanvolksschule, 2 Bde., Wiesbaden 1881/ 83. - Gesch. der Dt. Länder („Territorien-Ploetz"), 2 Bde., Würzburg 1964/1971. - Gesch. Atlas v. Hessen. Begr. u. vorbereitet v. Edmund E. Stengel, bearb. v. Friedrich Uhlhorn. Kartenwerk, Marburg 1960-1978. - Gesch. Atlas v. Hessen. Text- u. Erläuterungsbd., hg. v. Fred Schwind, Marburg 1984. - Herzogtum Nassau 1806-1866, Wiesbaden 1981. - Gerhard Kleinfeldt/Hans Weirich, Die ma. Kirchenorganisation im oberhessisch-nassauischen Raum, 1937 (SIGLH 16). - August Kortheuer, Aus der Endzeit der Ev. Landeskirche v. Nassau: JHKGV 2 (1950/51) 116-143. - Rüdiger Mack, Forschungsber. Pietismus in Hessen: JGP 13 (1987) 181-226. - Gerhard Menk, Die H o h e Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584-1660), Wiesbaden 1981 (VHKN 30). - Paul Münch, Nassau. Ottonische Linien, 1992 (KLK 52) 234 - 2 5 2 (Lit.). - Otto Renkhoff, Nassauische Biographie, Wiesbaden 1985 2 1992 (VHKN 39) (Lit.). - Klaus Schatz, Gesch. des Bistums Limburg, 1983 (QMRKG 48) (Lit.). - F.W.Theodor Schliephake/Karl Menzel, Gesch. v. Nassau v. den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, 4 Bde., Wiesbaden 1864-1875; fortges. v. Karl Menzel, Gesch. v. Nassau v. der Mitte des 14. Jh. bis zur Gegenwart, Bd. 5 - 7 , Wiesbaden 1879-1889. - Heinrich Schlosser/Wilhelm Neuser, Die Ev. Kirche in Nassau-Oranien 1530-1930,2 Bde., Siegen 1931/1933. - Georg Schmidt, Die „Zweite Reformation" im Gebiet des Wetterauer Grafenvereins: SVRG 195 (1986) 184-213. - Carl Spielmann, Gesch. v. Nassau, 2 Bde., Montabaur 1926. - Meinhard Sponheimer, Landesgesch. der Niedergrafschaft Katzenelnbogen, 1932 (SIGLH 11). - Heinrich Steitz, Gesch. der Ev. Kirche in Hessen u. Nassau, Marburg 1961-1971 = 1977. - Johann Hermann Steubing, Kirchen- u. Reformationsgesch. der Oranien-Nassauischen Lande, Hadamar 1804 = Kreuztal 1987. - Christian Daniel Vogel, Beschreibung des Herzogtums Nassau, Wiesbaden 1843. - Walter Wagner, Das Rhein-Main-Gebiet 1787, Darmstadt 1938-1975. - Anton Josef Weidenbach, Nassauische Territorien vom Besitzstande unmittelbar vor der Franz. Revolution bis 1866: NasA 10 (1870) 253-360 = N a c h d r . Neustadt/Aich 1980. Karl Dienst

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Nathan

Nathan 1. Das biblische Nathanbild und seine Nachwirkungen teratur S. 20)

1. Das biblische Nathanbild

und seine

2. Der geschichtliche Nathan

(Li-

Nachwirkungen

Zeitgleich mit dem Königtum tritt in Israel das Prophetentum in Erscheinung (—»Propheten/Prophetie). Einer seiner ersten Vertreter ist Nathan, der zur Zeit -»Davids und -•Salomos wirkt, d.h. um 1000 v.Chr. In seinem Bild, wie die Bibel es zeichnet, prägen sich bereits die wichtigsten Züge des biblischen Prophetismus aus. Nathan ist der getreue Begleiter und Berater der ersten Könige der Davidsdynastie (II Sam 7; I Reg 1) - er geht aber auch unerbittlich mit dem großen David ins Gericht, als der sich verfehlt (II Sam 12); er wird als Orakelgeber befragt (II Sam 7,1-3) - meldet sich aber auch ungefragt als Gottesbote zu Wort (II Sam 7,4ff; 12,1 ff); er schaltet sich in das politische Gegenwartsgeschehen ein (II Sam 12,1-7.25; I Reg 1) - blickt aber auch voraus in die nahe und ferne Zukunft (II Sam 7,11 ff; 12,8ff). So schildert aus weit distanziertem Rückblick, am Ende der Königszeit, das deuteronomistische Geschichtswerk (—•Deuteronomium/Deuteronomistisches Geschichtswerk) den Propheten Nathan. Das chronistische Geschichtswerk (-+Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk) sieht in ihm gar den Mitverfasser der David- und den Hauptverfasser der Salomo-Partien des Vorgängerwerkes sowie den Mitbegründer des Jerusalemer Tempelkultes (I Chr 29,29; II Chr 9,29; 29,25; —•Tempel). Seinen denkwürdigen Zusammenstoß mit David übergeht der Chronist mit Schweigen, um desto heller die große Dynastieweissagung aufstrahlen zu lassen (I Chr 17//II Sam 7 — wobei freilich der Gerichtsgedanke von II Sam 7,14 wegbleibt und das irdische in ein göttliches Königtum transzendiert wird, I Chr 17,11.14). — Im „Lob der Väter" des -»Sirachbuches wird der Abschnitt über David mit einer Notiz über Nathan eröffnet (47,1), so als gebühre dem Propheten Vortritt gegenüber dem König. Größere Nachwirkung noch als die Gestalt Nathans hat sein Wort gehabt, namentlich dasjenige über die Unvergänglichkeit des Davidhauses. Die Psalmen 2; 89 und 132 scheinen darauf anzuspielen, in manchen Prophetensprüchen hat man es anklingen hören (z.B. Jes 7,1—9; 55,3; Am 9,11 ff sowie in den sog. messianischen Weissagungen, -»Messias). Der „Davidsbund" wird zu einem Eckpfeiler israelitisch-jüdischen Selbstverständnisses und messianischer Zukunftshoffnung. Im antiken Judentum integriert er sich in die Tora-Frömmigkeit (z.B. PsSal 17; 4Qflor.), im frühen Christentum in den Christusglauben (z.B. Mt 1,1; 21,9). Einige haggadische und frühchristliche Traditionen identifizieren den Propheten Nathan mit dem gleichnamigen Sohn Davids (II Sam 5,14; I Chr 14,4) und Bathsebas (I Chr 3,5; s. Abel 206-210). Möglicherweise liegen diese Traditionen der Aufnahme Nathans in den Stammbaum Jesu (Lk 3,31) zugrunde. 2. Der geschichtliche

Nathan

In der neueren Forschung besteht Konsens nur über ein paar wenige Fakten: Da Nathan erst ab Davids Ubersiedlung nach —»Jerusalem (II Sam 5) auftritt, ist er wohl Jerusalemer. Er agiert als Einzel- und nicht als Gruppenprophet, stets in enger Bindung an den Königshof. Alles andere ist umstritten, hängt ab von der jeweiligen Quellenanalyse. 2.1. Relativ sicheren Grund bieten die Stellen, an denen Nathan als Vertrauter Salomos erscheint. Gleich nach seiner Geburt wird dieser ihm zur Erziehung übergeben (II Sam 12,25); er ist maßgeblich beteiligt an seiner Machtergreifung (I Reg 1); er hat zwei Söhne unter den Spitzenbeamten Salomos (I Reg 4,5). (Daß die Dynastieverheißung II Sam 7 , l l b . l 6 ursprünglich Salomo zugesprochen gewesen wäre, so v. Löwenclau, ist unwahrscheinlich.) Salomo ist im Machtkampf um die Nachfolge Davids offenbar der Repräsentant einer Stadtjerusalemer Partei um Nathan, den Priester -»Zadok und den

Nathan

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Söldnergeneral Benaja, die einer landjudäischen Gegenpartei um den Kronprinzen Adonja, den Priester Ebjatar und den Heerbannführer J o a b zuvorkommt. Das politische Gewicht im Staate verschiebt sich vom Tribalismus zum Zentralismus kanaanäischer bzw. gemeinorientalischer Prägung. Nathan, der dies entscheidend mitbetrieben hat, kann nicht Vertreter eines urisraelitischen, gar amphiktyonischen Jahwismus gewesen sein (gegen Rendtorff, Maass). Wohl sind die Namen, die er seinen Söhnen, und der Beiname, den er Salomo zugelegt hat, Jahwe-haltig. Doch bedurfte es dazu kaum einer förmlichen Konversion (Haag), sondern nur der Adaption mitgebrachter Frömmigkeit an den Dynastie- und Staatsgott. Die Trennlinien waren ohnehin nicht scharf, was sich an der Person des Zadok zeigt, der vom jebusitischen zum Oberpriester des salomonischen Staatsheiligtums avancieren konnte. 2.2. Das Bild des Hofpropheten Nathan gewinnt neue Züge in der II Sam 7.

Nathanweissagung

Das gewichtige Kapitel hat eine Flut von Diskussionsbeiträgen ausgelöst, die sich um mehrere Kernfragen zentrieren: - Wie hängen das Tempelorakel V. 1 - 7 und das Dynastieorakel V. 8 - 1 7 zusammen? Durch ägyptische Parallelen (Herrmann, Görg) und durch mesopotamische Analogien (Ishida, Malamat) läßt sich die Zusammengehörigkeit beider Teile nicht zwingend erweisen, weil die Divergenzen zu II Sam 7 doch zu groß sind. Möglicherweise wurden hier zwei verschiedene Orakel nachträglich miteinander verbunden: durch die deuteronomistische Redaktion (Coons, Veijola) oder durch eine prodynastische Bearbeitung der Thronfolgeerzählung (v. Löwenclau - freilich mit problematischer Frühdatierung). Oder das Tempelbauverbot ist zur Gänze deuteronomistisch (Dietrich, David). - Welches sind die Motive des Tempelbauverbots V. 5 ff? Man hat sie in Nathans streng-jahwistischer (z.B. Simon) oder gerade in seiner unjahwistischen Einstellung gesucht (Ahlström). Man hat darin Vorbehalte gegen eine bestimmte Tempelfrömmigkeit (Weiser, ähnlich Kumaki) oder gegen königliche Eigenmächtigkeit in einer so wichtigen Frage (Gese) gesehen. Man dachte an eine Entschuldigung Davids für seine diesbezügliche Untätigkeit (Mowinckel). - Wie verhalten sich die Verheißung eines Nachfolgers und einer ganzen Dynastie zueinander? V. 14 f reden von einem auf dem Davidsthron, dem Gott wie ein Vater sein wolle, V. 12 vom „Samen", den Gott nach Davids Ableben aufrichten wolle. Ist damit Salomo allein gemeint (Mettinger) oder jeder Nachfahr des Dynastiegründers (so die meisten) oder eine künftige, messianische Gestalt (Kruse)? In V. llb.16 ist eindeutig die gesamte Dynastie im Blick, doch bleibt strittig, ob dies die ältesten (Rost) oder gerade die jüngsten Textbestandteile (Veijola) sind. - Wie ist die literarische Beschaffenheit des Kapitels? Ist es (abgesehen von V. 13a, der allgemein als sekundär geltenden Weissagung des salomonischen Tempels) einheitlich vordeuteronomistisch (Gese, Herrmann, Ishida, Kutsch, Noth) oder einheitlich deuteronomistisch (mit der Annahme älteren Materials: Carlson, Kumaki, McCarthy)? Stellt es die Kurzfassung einer einst viel ausführlicheren Weissagung (Kruse) oder umgekehrt das Endstadium eines sukzessiven Wachstumsprozesses dar (Coppens, Dietrich, Levin, Mettinger, Rost, Veijola: mit je verschiedenen Modellen)? - Wie verträgt sich die Erwählung des Davidshauses mit derjenigen Israels? Anders als die Selbstverpflichtung Gottes gegenüber Israel ergehen die Zusagen an David in V. 11 ff bedingungslos (Tsevat). Werden die Herrscher auf dem Davidsthron der Verpflichtungen Israels gegenüber seinem Gott enthoben, baut sich ein Dualismus auf zwischen Davidbund und Mosebund (Brueggemann)? Oder wird durch die wiederholte Hervorhebung „Israels" vor allem in V. 6 ff der Davidbund gerade eingebunden in den Israelbund (Levenson, Noth)? Z u m Hofpropheten Nathan paßt sehr gut eine Dynastiezusage — sei es, daß er sie gegeben, sei es, daß man sie ihm bald zugeschrieben hat. Die Seitentexte aus dem Alten Testament (und durchaus nicht nur aus dessen Spätzeit) erfordern geradezu diese Annahme. Als Grundbestand dafür bietet sich der Passus II Sam 7 , 1 2 . 1 3 b - 1 5 ( . 1 7 ) an. Nicht zufällig schillert er in mehrfacher Hinsicht: zwischen Individuum (Salomo) und Kollektiv (Dynastie), zwischen Verheißung und Verwarnung (hier spricht kein Hoflakai, sondern ein Prophet im Namen Gottes). Die volltönenden Zusagen eines „ewigen Hauses" V. l l b . 1 6 blicken nach der Zäsur von 587 v.Chr. auf die lange Geschichte der Dynastie zurück und vielleicht auf ihr erhofftes Wiederaufleben voraus. Die Rede vom „ H a u s " knüpft an den Diskurs über ein „ H a u s " für die Gotteslade in V. 1—7 an. Dieser ist wohl insgesamt deuteronomistisch (vgl. den Nachweis bei Rupprecht) und wird in der Tat

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Nathan

ausgelöst sein durch Davids Inaktivität auf dem Gebiet des Tempelbaus (V. 1 - 5 . I I b . 13a). In V . 6 f . 1 0 . l l a klingt aber ein anderer, grundsätzlich tempelkritischer Ton auf: H a t G o t t bisher etwa einen Tempel gebraucht? War er seinem Volk nicht ohne ihn n a h e - und wird es auch künftig sein? Das g e m a h n t an spät-deuteronomistische Texte wie I Reg 8,27 ff und hängt wahrscheinlich zusammen mit d e m Ringen um den Wiederaufbau Jerusalems und des Tempels in nachexilischer Zeit (Dietrich). 2.3. Die königskritischen Züge im Nathan-Bild, wie sie - freilich sekundär - in II Sam 7 eingezeichnet sind, kulminieren in der berühmten Erzählung II Sam ll,27b-12,15. N a t h a n , immerhin auch hier a m Hof agierend, ü b e r f ü h r t den heimlichen Ehebrecher und M ö r d e r David und sorgt f ü r seine Verurteilung, indem er ihm einen fingierten Rechtsfall vorträgt, ihn zu einem Urteilsspruch verlockt - und diesen zum göttlichen Urteil über ihn erklärt ( 1 2 , l - 6 . * 7 - 1 0 ) . Die dabei benutzte Parabel, wiewohl im Genre nicht einzig in der Bibel (vgl. Schottroff), ist von besonderer Feinheit und Eindringlichkeit. Die deuteronomistische Reaktion überarbeitete die deutende Prophetenrede und setzte die gesamte Erzählung in den Kontext ein (Dietrich, Prophetie; Werner; Würthwein). Ihre Geschichtstheologie hat keinen Platz f ü r einen ungestraft sündigenden König und einen bedingungslos an den König gebundenen Propheten. N a t h a n zwingt David vor G o t t in die Knie, und das gereicht beiden, es gereicht vor allem G o t t zur Ehre. Viel stärker auf die Ehrenrettung Davids ausgerichtet ist die jetzt auf die Nathan-Szene folgende Geschichte vom T o d des Erstgeborenen Batsebas (V. [13 f] 1 5 b - 2 4 a ) , die vermutlich Salomo von dem M a k e l befreien sollte, Frucht eines Ehebruchs zu sein (Veijola, Dynastie). 2.4. Das Nathan-Bild weist somit zwei G r u n d f a r b e n auf: die hofprophetische und die gerichtsprophetische; die eine eignet ihm von Anfang an, die andere ist nach und nach hinzugekommen. Gerade diese Farbmischung macht den biblischen N a t h a n aus: den großen Begleiter und Gegenspieler zweier großer Könige; gewissermaßen den Begründer der Dynastie von G o t t e s m ä n n e r n , welche die Königsdynastien begleiten und a m Ende überdauern sollte. Meinten die Könige, Geschichte zu machen, so standen die Propheten f ü r Gott als den H e r r n der Geschichte ein. Wie er den Mächtigen M a c h t verleiht (II Sam 7,11 ff; I Reg 1), so kann er sie begrenzen und entziehen (II Sam 7,1 ff; 12); seine ohnmächtigen, über nichts als das Wort verfügenden Boten spielen dabei eine seltsam machtvolle Rolle. N a t h a n bedeutet: „Er hat gegeben". Literatur E.L. Abel, The Genealogies of Jesus O XPIITOE: NTS 20 (1974) 203 -210. - Gösta Werner Ahlström, Der Prophet Nathan u. der Tempelbau: VT 11 (1961) 113-127. - Walter Brueggemann, Trajectories in OT Literature and the Sociology of Ancient Israel: JBL 98 (1979) 161-185. - Rolf August Carlson, David, the Chosen King, Uppsala 1964. - George W. Coats, II Samuel 12,l-7a: Interp. 40 (1986) 170-175. - Charles S. Coons, Contemporary Thought Processes and Ideologies Underlying the Biblical Passage of II Samuel 7, Diss. phil. New York 1975. - Joseph Coppens, La prophétie de Nathan et sa portée dynastique: FS J.P.M. van der Ploeg, 1982 (AOAT 211) 91-100. - Walter Dietrich, Prophetie u. Gesch. Eine redaktionsgesch. Unters, zum dtr. Geschichtswerk, 1972 (FRLANT 108). - Ders., David, Saul u. die Propheten. Das Verhältnis von Religion u. Politik nach den prophetischen Uberlieferungen vom frühesten Königtum in Israel, '1992 (BWANT 122). - Hartmut Gese, Der Davidsbund u. die Zionserwählung: ZThK 61 (1964) 10- 26 = ders., Vom Sinai zum Zion, 1974 (BEvTh64) 113-129.- Manfred Görg, Gott-König-Reden in Israel u. Ägypten, 1975 (BWANT 105). - Herbert Haag, Gad u. Nathan. Archäologie u. AT: FS K. Galling, 1970, 135-143. - Siegfried Herrmann, Die Königsnovelle in Ägypten u. in Israel: WZ(L) 3 (1953/54) 51-62 = ders., GS zur Gesch. u. Theol. des AT, 1986 (TB 75) 120-144. - Ders., 2 Samuel VII in the Light of the Egyptian Königsnovelle — Reconsidered: Pharaonic Egypt. The Bible and Christianity, hg. v. Sarah I. Groll, Jerusalem 1985, 119—128. - Tomoo Ishida, The Royal Dynasties in Ancient Israel. A Study on the Formation and Development of Royal-Dynastic Ideology, 1977 (BZAW 142). - Ders., Solomon's Succession to the Throne of David - A Political Analysis: Studies in the Period of David and Solomon and Other Essays, hg. v. T. Ishida, Winona Lake 1982,175-187.

Nationalismus

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Walter Dietrich Nationalismus 1. Begriff 2. Formen des Nationalismus Sozialethik (Literatur S. 34)

3. Geschichte

4. Nationalismus und christliche

1. Begriff Nationalismus ist eine politische Einstellung, die der Nation als sozialer Gemeinschaft große Bedeutung beimißt. Er behauptet, die Menschheit sei in eine Anzahl von Nationen aufgeteilt, deren jede ihre besonderen Merkmale aufweise. Die jeweils eigene Nation erscheint in spezifischer Hinsicht von anderen unterschieden. Als politische Anschauung betrachtet der Nationalismus den Nationalstaat als Idealgestalt politischer Organisation. Er vertritt die Auffassung, daß jede Nation als solche ein Recht auf politische Selbstbestimmung habe und jedes Staatswesen auf nationaler Unabhängigkeit beruhen sollte. Desgleichen strebt er kulturelle Selbstbestimmung an und verficht die Ansicht, daß die stärkste Verpflichtung des einzelnen der eigenen Nationalität gelten müsse. Grundlegend ist für den Nationalismus das Nationalitätsprinzip. Es besagt, daß eine Staatsbildung sprachlich oder kulturell vorgegebenen Nationalitätsgrenzen zu entsprechen habe. Jeder Staat soll demnach eine Nation bilden, und jede Nation hat das Recht, einen eigenen Staat zu bilden. Das Bestreben nach nationaler Selbstbestimmung erweist sich somit als bestimmender Grundzug des Nationalismus. Nicht allein das einzelne Individuum, sondern auch die Nation als soziale Gruppe habe ein Recht auf Selbstbestimmung. Der Nationalismus überträgt damit den Gedanken der -»Freiheit vom einzelnen Individuum auf die Nation in ihrem Verhältnis zu anderen Nationen. -»Autonomie wird zu einer grundlegenden politischen Zielsetzung. Wie jeder Mensch hat auch jede Nation das Recht, ihr eigenes Dasein selbständig und ohne fremde Einmischung zu gestalten. Dazu soll sie in einem unabhängigen -»Staat vereint sein, der souverän und autonom ist.

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Nationalismus

Als politische Einstellung unterscheidet Nationalismus sich von Patriotismus. Nationalismus schließt eine bestimmte, häufig politisch ideologisch eingebundene Vorstellung von staatlicher Gestaltung ein (-»Ideologie/Ideologiekritik). Patriotismus dagegen ist ein allgemeines Empfinden der Liebe zum Heimatland und der Verbundenheit mit der eigenen Nation, das nicht mit einer spezifischen politischen Theoriebildung verbunden ist.

2. Formen des

Nationalismus

Nationalismus ist eine politische Einstellung, die das Recht einer jeden Nation auf Selbstbestimmung behauptet. Er stellt aber allein noch keine eigenständige politische Ideologie dar. Vielmehr kann seine Forderung nationaler Unabhängigkeit eine Verbindung mit unterschiedlichen politischen Vorstellungen eingehen. Nationalismus kann mit -•Liberalismus, Konservatismus, -»Faschismus oder -»Sozialismus verbunden sein und dadurch ganz unterschiedliche Ausformungen erfahren. Demnach lassen sich zumindest vier Arten des Nationalismus unterscheiden. 2.1. Der liberale Nationalismus ist eine Form des Nationalismus, bei der sich das Streben nach nationaler Selbstbestimmung mit dem nach Gleichheit und individueller Freiheit vereint. Er verficht zugleich mit dem Grundsatz, daß jede Nation unabhängig sein müsse, die Überzeugung, daß der Staat eine Schöpfung von Individuen sei, die sich in freier Entscheidung zusammengeschlossen haben und darum dem Staat nicht völlig untergeordnet sind. Das Nationalitätsprinzip verbindet sich mit der Auffassung, daß politische Macht vom Volk ausgeht und ihre Ausübung auf der freien Zustimmung der Bürger beruhen muß. Diese Ausformung des Nationalismus geht einher mit der Achtung der individuellen Rechte und dem Streben nach politischer -»Demokratie. Der liberale Nationalismus geht auf Vorstellungen zurück, die sich im Zusammenhang der -»Französischen Revolution ausgebildet haben. Er knüpft an Gedanken an, die den demokratischen Nationalismus -»Rousseaus kennzeichnen. In erster Linie begegnet er innerhalb des englischen Nationalismus, wie er in besonderer Weise von John Locke entfaltet worden ist. Grundlegend ist für diesen konstitutionellen Nationalismus die Auffassung, daß die Ausübung politischer Macht durch das Volk von einer Verfassung geregelt werden soll. Auch in den Vereinigten Staaten begegnet ein mit dem Liberalismus verbundener Nationalismus. 2.2. Der konservative Nationalismus ist eine Gestalt des Nationalismus, die sich mit einem organischen Gesellschaftsverständnis verbindet. Danach bilden Menschen mit bestimmten Wesensmerkmalen eine natürlich ausgegrenzte Gesamtheit, die ein organisches Ganzes ist und nicht lediglich eine Anhäufung ihrer Teile darstellt. Der konservative Nationalismus betont den Wert nationaler Zusammengehörigkeit unter dem Band eines geschichtlich vorgegebenen kulturellen und sozialen Erbes. Er mißt der militärischen Verteidigung als einem Mittel zur Wahrung der nationalen Identität und Zusammengehörigkeit große Bedeutung bei. Diese Art des Nationalismus beruht auf Gedanken, die in der deutschen -»Romantik des ausgehenden 18. J h . begegnen. Für diesen romantischen Nationalismus, dessen vornehmlichste Vertreter -»Herder und -»Fichte sind, ist der Volksbegriff grundlegend. Jede Nation wird von einem -»Volk mit einer eigenen Sprache und Kultur gebildet. Das Volk stellt eine organische Ganzheit dar, während Individuen sich mit der kollektiven Persönlichkeit identifizieren müssen, um sich zu verwirklichen. Dem romantischen Nationalismus zufolge ist die Nation eine naturgegebene Größe, die nicht auf einer Entscheidung von Individuen beruht. Die Nationen sind durch Gott voneinander geschieden und haben von ihm ihre jeweiligen Eigenheiten und Aufgaben erhalten. 2.3. Der faschistische Nationalismus ist eine Gestalt des Nationalismus, die sich mit einem Streben nach Ausdehnung und Machterweiterung der eigenen Nation verbindet.

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Es ist ein aggressiver, von einer negativen Einstellung gegenüber anderen Völkern gekennzeichneter Nationalismus. Er begegnet im italienischen Faschismus, nach dessen Zielvorstellung die eigene Nation eine beherrschende Großmacht werden sollte. Um dieses Zieles willen wird der Krieg verherrlicht und eine starke Militärmacht aufgebaut. Nach Mussolinis Vorstellung ist der Staat totalitär, und der einzelne hat sich völlig dem staatlichen Willen unterzuordnen. Im deutschen -»Nationalsozialismus begegnet der Nationalismus im Verbund mit einer Rassenideologie (-»Rassismus). Er behauptet, es gäbe von Natur aus unterschiedliche Rassen mit unterschiedlichem Wert. Die arische Rasse habe den höchsten Wert, und das umso mehr, je reiner sie sei, weshalb Rassenmischung vermieden werden müsse. Im Brennpunkt des nationalsozialistischen Denkens steht die Verachtung für das, was als Schwachheit gilt. Die arische Rasse ist die starke Rasse, die sich durchsetzen wird und durchsetzen muß. Die ihr nicht Angehörenden sind dagegen die Schwachen, die unterliegen werden. Für diese Ausformung des Nationalismus wird das eigene Volk von einer Gruppe von Menschen gebildet, die derselben Rasse angehören. Der Staat soll ein Mittel sein, durch das dieses Volk seinen Willen verwirklicht. Darum haben die einzelnen sich dem Staat unterzuordnen. Die Einschätzung des eigenen Volkes verbindet sich im faschistischen Nationalismus mit Verachtung für Menschen anderer Nationalität, die als Angehörige einer unterlegenen Rasse gelten. 2.4. Der sozialistische Nationalismus ist eine Form des Nationalismus, bei der sich das Streben nach nationaler Selbstbestimmung mit dem nach sozialer und wirtschaftlicher Gleichstellung verbindet. Er schließt eine scharfe Kritik des europäischen - » K o lonialismus und des westlichen -»Imperialismus ein. Um nationale Selbständigkeit in politischer wie in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht zu erreichen, strebt er eine Befreiung von jeder Art ausländischer wirtschaftlicher und politischer Kontrolle an. Diese Art von Nationalismus wächst nach dem Zweiten Weltkrieg in Asien und Afrika heran. Der Grundsatz nationaler Selbstbestimmung wird dabei für die Entwicklungsländer in ihrem Streben nach Befreiung von den europäischen Kolonialmächten bedeutsam. Zugleich mit dem Streben nach wirtschaftlicher und politischer Unabhängigkeit gegenüber dem Westen suchen sie auch eine eigene nationale Identität auszubilden. Auch wenn der Marxismus ( - » M a r x / M a r x i s m u s ) sich im allgemeinen kritisch gegenüber Nationalismen unterschiedlicher Art verhält, ist der zeitgenössische Nationalismus in der Dritten Welt noch häufig mit dem Sozialismus als Ideologie verbunden. Das macht sich in einer Kritik sowohl des wirtschaftlichen Imperialismus als auch bodenständigen sozialen Unrechts geltend. Gemeinsam ist diesen vier unterschiedlichen Ausformungen des Nationalismus die Auffassung, daß jeder Staat eine Nation darstellen solle und jede Nation das Recht hat, einen eigenen, selbstbestimmten Staat zu bilden. Dagegen unterscheiden sich unterschiedliche Formen des Nationalismus voneinander in der Frage, was eine „ N a t i o n " ausmacht. Zumindest fünf verschiedene Kriterien zur Bestimmung einer Nation sind vorgetragen worden. Einer Auffassung nach wird eine Nation von einer Gruppe von Individuen gebildet, die bestimmte gemeinsame Interessen haben, die sie zu wahren suchen. Eine Nation wird demnach dadurch konstituiert, daß die Individuen selbst sich für ihren Zusammenschluß zu einer politischen Organisation entscheiden. Diese ist eine Vereinigung von Individuen, die durch ein gemeinsames Gesetz regiert und durch die gleiche gesetzgebende Körperschaft vertreten werden. Ein solches Verständnis von Nation begegnet im demokratischen und liberalen Nationalismus. Nach einer anderen Auffassung wird eine Nation von einem Volk mit gemeinsamer Sprache und Kultur gebildet. Ihr Dasein beruht demnach nicht auf einer Entscheidung von Individuen. Das Volk ist von Gott geschaffen und hat von Natur aus sein eigenes Wesen. Dieses Wesen hängt eng zusammen mit der gemeinsamen Sprache, die wiederum Gestaltungsmittel der gemeinsamen Kultur ist. Diese Auffassung begegnet in dem auf die deutsche Romantik zurückgehenden konservativen Nationalismus.

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Für die dritte Auffassung wird eine Nation von einer Gruppe von Menschen mit gemeinsamem Erbe gebildet. Eine gemeinsame Sprache und Kultur ist danach nicht hinreichend zur Konstituierung einer Nation. Es ist vielmehr darüber hinaus erforderlich, d a ß die Gruppe eine gemeinsame Tradition hat. Was die Nation konstituiert, ist einesteils eine gemeinsame Geschichte und anderenteils der Wille zu einer das gemeinsame Erbe lebendig erhaltenden Lebensgemeinschaft. Auch diese Vorstellung begegnet in bestimmten Ausformungen eines konservativen Nationalismus. Nach einer vierten Auffassung wird eine Nation von einem Volk gebildet, das derselben Rasse angehört. Die Zugehörigkeit zu einer Nation wird demnach nicht durch eine Entscheidung der einzelnen Individuen bestimmt. Sofern die Rassen als ungleichwertig gelten, verbindet sich diese Vorstellung mit einer Mißachtung von Menschen anderer Nationalität. Diese Sicht begegnet im faschistischen Nationalismus. Einer fünften Auffassung zufolge wird eine Nation von einer Gruppe von Individuen mit bestimmten gemeinsamen politischen Zielen gebildet. Danach konstituiert sich eine Nation dadurch, daß die Individuen selbst sich für einen Zusammenschluß zu einer politischen Organisation entscheiden. Die den sich Zusammenschließenden gemeinsamen Ziele können soziale Gerechtigkeit oder Befreiung von einer Kolonialmacht sein. Das die Gruppe Verbindende kann einfach das Bestreben zur Umwandlung einer Kolonie in einen politisch unabhängigen Staat sein. Diese Vorstellung begegnet im zeitgenössischen afrikanischen und asiatischen Nationalismus.

3. Geschichte Nationalismus ist eine Einstellung, die sich zuerst im ausgehenden 18. Jh. in Europa herausbildet. Der moderne Nationalismus hat vor allem zwei Quellen. Deren eine ist die -»Französische Revolution, in der die Nation mit dem Staat gleichgesetzt wird und deren Erklärung der -»Menschenrechte den Grundsatz nationaler Souveränität enthält. Die zweite Quelle ist die deutsche -»Romantik, von der die Nation als naturgegebene Gemeinschaft verstanden wurde, wobei jedes Volk seine sprachliche und kulturelle Eigenart hat. Indessen hat dieser neuzeitliche Nationalismus weiter zurückreichende Wurzeln. Die mittelalterliche Gesellschaft war universalistisch in dem Sinn, daß man eine übernationale Gemeinschaft anstrebte und sich die Gesellschaft nicht in Nationen aufgeteilt vorstellte. Mit der -»Renaissance und der -»Reformation verfiel jedoch die mittelalterliche europäische Einheit der Auflösung. Mit der italienischen Renaissance verband sich ein -»Individualismus und ein wachsendes Nationalbewußtsein. Bei -»Machiavelli stößt man sowohl auf einen auf den Nationalismus vorausgreifenden Patriotismus als auch auf die Vision eines autonomen säkularen Staates. Die lutherische Reformation geht Hand in Hand mit einem wachsenden Nationalbewußtsein und der Herausbildung des neuzeitlichen Nationalstaats. Im Gefolge des Calvinismus werden bestimmte nationalistische Züge des Alten Testaments wieder ins Leben gerufen, und zumal der -»Puritanismus wird für die Herausbildung des englischen Nationalismus bedeutsam. In entscheidendem Maße hat indessen die Französische Revolution zum Aufkommen des neuzeitlichen Nationalismus beigetragen. Der Grundsatz nationaler Souveränität verband sich hier mit einer Kritik an den Vorrechten von Adel und Geistlichkeit. Die Souveränität sollte dem Volk und nicht dem Monarchen zukommen. Das war ein demokratischer Nationalismus, der sich mit dem Streben nach Freiheit, Zusammenarbeit und Gleichheit verband. Einer der ersten Vertreter dieses demokratischen Nationalismus war Jean-Jacques -»Rousseau. Er verband Nationalbewußtsein mit einem eingehenden Eintreten für politische Demokratie. Seiner Ansicht nach gibt es Unterschiede zwischen den Nationen, doch er sah sie nicht als naturgegeben an. Vielmehr sah er in den Staaten Zusammenschlüsse freier verantwortlicher Individuen. Mit ihrem freiwilligen Eingehen eines Gesellschaftsvertrages haben sie ihre natürlichen Rechte nicht aufgegeben. Der englische Nationalismus hat seine Wurzeln schon in der puritanischen Revolution des 17. Jh. Sie knüpfte an nationalistische Züge im Alten Testament an, die Sicht Israels als des auserwählten Volkes mit einer gemeinsamen Geschichte und einer besonderen Berufung. Dementsprechend konnte der Puritanismus das englische Volk als auserwähl-

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tes Volk mit einem besonderen geschichtlichen Auftrag betrachten. Für John —»Milton bestand dieser Auftrag Englands darin, den Freiheitsgedanken bis ans Ende der Welt zu tragen. Ende des 17. und während des 18. Jh. entwickelte sich dann in England der liberale Nationalismus. Klaren Ausdruck hat er in der politischen Philosophie von John Locke (1632-1702) gefunden. In ihr stößt man auf einen konstitutionellen Nationalismus, der betont, daß die Regierung des Volkes sich auf die freie Zustimmung der Bürger stützen muß. Er verbindet sich mit einer hohen Achtung des einzelnen und seines individuellen Rechtes dem Staat gegenüber. Auch der amerikanische Nationalismus tritt Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jh. als liberaler Nationalismus in Erscheinung. Er geht mit dem Streben nach Freiheit und der Wahrung der Rechte des einzelnen einher. Gekennzeichnet ist er durch die Überzeugung, daß die eigene Nation anders ist als andere und daher einen besonderen Auftrag in der Welt hat. Demgemäß sehen T h o m a s Jefferson (1743-1826) und T h o m a s Paine (1737-1809) in Amerika ein Vorbild für andere Nationen, weil es die erste Nation ist, die das Streben nach Freiheit und grundlegender Gleichheit verwirklicht. In Deutschland tritt der Nationalismus Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jh. als romantische Haltung in Erscheinung. Im Unterschied zum französischen Nationalismus behauptet diese romantische Vorstellung, daß die nationale Gemeinschaft nicht in einem freien Willensentschluß gründe, sondern eine Naturgegebenheit sei. Dabei wird auch die liberale Lehre vom Recht des einzelnen zurückgewiesen und statt dessen unterstrichen, daß der einzelne ein Teil der Ganzheit sei, die das Volk ausmache. Für Johann Gottfried -»Herder, eine der herausragenden Gestalten des deutschen Nationalismus, hat der Volksbegriff zentrale Bedeutung. Das Volk hat für ihn den Charakter einer Persönlichkeit, und der einzelne ist lediglich ein Teil dieser höheren Ganzheit. Herder ist der Ansicht, daß jedes Volk eine Nation bilde und die Menschheit von N a t u r aus in unterschiedliche Nationen aufgeteilt sei. Die Aufteilung der Menschheit in Nationen, deren jeder ihr spezifisches Eigenwesen verliehen ist, gehöre zu Gottes Schöpfung. Jede Nation sei von Gott mit je eigenen Möglichkeiten und einer eigenen Aufgabe geschaffen worden und so von den anderen abgesetzt. Das nationale Eigenwesen komme in einer eigenen Kultur und einer gemeinsamen Sprache zum Ausdruck. Herder hat nicht daran gedacht, daß ein Volk über andere herrschen sollte, für ihn hat vielmehr jedes Volk seine in Gottes Schöpfungsplan liegende Aufgabe. Jede Nationalität ist nach seiner Auffassung ein lebendiger Organismus, und der einzelne Mensch kann sich nur innerhalb seiner eigenen Nationalität verwirklichen. Auch Friedrich —•Schleiermacher ist der Meinung, daß Gott bei der Schöpfung die Menschheit in unterschiedliche Nationen aufgeteilt habe. Daher gelte es, die zumal in der Sprache zum Ausdruck kommende besondere Identität der eigenen Nation zu pflegen. Die beste politische Ordnung sieht Schleiermacher darin, daß jede Nation ihren eigenen souveränen Staat bildet. Er entwirft eine organische Staatslehre und zeigt kein Verständnis für die liberale Menschenrechtslehre. Es erscheint ihm sinnlos, von Rechten der einzelnen gegenüber dem Ganzen zu sprechen, von dem sie ein Teil sind, und weist daher der Obrigkeit weitgehende Befugnisse zu. Bei Johann Gottlieb -»Fichte begegnet eine philosophische Begründung des Nationalitätsprinzips. Er knüpft an den Autonomiebegriff —»Kants an; doch während Kant von der Freiheit des einzelnen spricht, entfaltet Fichte die Vorstellung von der Nation als dem Träger der Selbstbestimmung. Auch er ist der Auffassung, daß die Menschheit von Natur aus in Nationen aufgeteilt sei und die Sprache ein äußeres Merkmal der zwischen diesen bestehenden Unterschiede darstelle. In seinen „Reden an die deutsche N a t i o n " (1808) vertritt er die Ansicht, d a ß ein Volk, das eine gemeinsame Sprache spricht, eine Nation sei und eine Nation einen Staat bilden müsse. Er schreibt, daß jede Nation ihren besonderen Auftrag habe und diesen Auftrag erfüllen müsse, und geht dabei insbesondere der Frage nach der Eigenart des deutschen Volkes nach.

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Nationalismus

Die in der Französischen Revolution und der deutschen Romantik begegnenden Vorstellungen werden während des 19. Jh. im liberalen und konservativen Nationalismus weiterentwickelt. Z u Beginn des 20. Jh. wächst jedoch in Verbindung mit dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus eine neue Art von Nationalismus heran. Es ist ein autoritärer Nationalismus, für den der einzelne völlig dem Staat untergeordnet ist und den ihm Übergeordneten unbedingten Gehorsam schuldet. Dadurch unterscheidet der faschistische Nationalismus sich vom liberalen und dessen Streben nach Freiheit und Gleichheit. Er unterscheidet sich aber auch vom konservativen Nationalismus, sofern er das jeweils eigene Wesen und den eigenen Auftrag einer jeden Nation nicht achtet. Stattdessen verficht er die Vorstellung, daß jede Nation von einem Volk gebildet werde, das einer bestimmten biologischen Rasse angehöre, und daß die Rassen unterschiedlichen Wert haben. Die nationalsozialistische Auffassung, daß die arische Rasse den höchsten Wert habe, begründet einen aggressiven Nationalismus, der durch eine abwertende Einstellung gegenüber anderen Nationen gekennzeichnet ist. Damit verbindet sich eine Verherrlichung von Krieg und Gewalt als legitimer Mittel der Politik. In Afrika und Asien begegnet nach dem Zweiten Weltkrieg eine ganz andere Art von Nationalismus. Er erwächst aus dem Kampf der Entwicklungsländer gegen die europäischen Kolonialmächte und darüber hinaus auch gegen den wirtschaftlichen Einfluß der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion in der Dritten Welt. Das Ziel dieses Nationalismus ist nicht allein politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung, sondern zugleich auch der Gewinn von Selbstvertrauen und kultureller Unabhängigkeit. Nach der Befreiung vom Kolonialismus versuchen die selbständigen afrikanischen und asiatischen Nationen ihre kulturelle Eigenart wieder zu beleben. Für eine Reihe nationalistischer Bewegungen in der Dritten Welt erweist sich der Sozialismus als anziehend; doch suchen sie dabei eine eigene, bodenständige Gestalt des Sozialismus zu entwickeln. Die Befreiung vom westlichen Kolonialismus und Imperialismus verbindet sich auf diese Weise mit dem Bestreben, auch eine Alternative zum westlichen Kapitalismus auszubilden. In vergleichbarer Weise ist der während der 80er Jahre des 20. Jh. in Osteuropa erwachsende Nationalismus eine Reaktion gegen die Herrschaft einer Großmacht. Sein Streben nach Befreiung geht allerdings nicht mit einer sozialistischen Ideologie einher, sondern stellt im Gegenteil eine Erhebung gegen die sowjetische Vormachtstellung und den -•Kommunismus als politisches System dar. Der Nationalismus in Osteuropa unterscheidet sich in mancher Hinsicht auch von demjenigen Westeuropas. Hier sahen die meisten Nationen seit langem ihre Identität im Rahmen unabhängiger souveräner Nationalstaaten gesichert. In Ost- und Mitteleuropa war dagegen die nationale Identität lange von unterschiedlichen Großmächten wie etwa dem Osmanischen und dem Russischen Reich bedroht, die die Idee des Nationalstaates ablehnten. Zugleich entsteht der Nationalismus hier in einer sozial instabilen Lage, die durch tiefgreifende wirtschaftliche Gegensätze und starke Spannungen zwischen einzelnen Volksgruppen bestimmt ist. Der Kommunismus ist in Osteuropa dem Nationalismus entgegengetreten und hat stattdessen einen proletarischen Internationalismus angestrebt. Er suchte die nationale Frage durch föderative Verfassungsgebilde zu lösen, in denen sich eine starke zentralisierte Staatsmacht mit Achtung vor den unterschiedlichen Kulturen und Sprachen verbinden sollte. Durch den Zerfall der Sowjetunion ergaben sich demgegenüber neue Möglichkeiten des Ausdrucks nationaler Identität. Jede Nation mit eigener Kultur verlangt nun das Selbstbestimmungsrecht in einem eigenen Hoheitsgebiet. Zugleich erwachen alte innereuropäische ethnische Gegensätze zu neuem Leben. In Osteuropa begegnet ein Nationalismus, der insofern konservativ ist, als er die Nationen mit der ihr eigenen Sprache und Kultur als Naturgegebenheit versteht. Zugleich damit begegnet auch ein expansionistischer Nationalismus, der anderen ethnischen Gruppen gegenüber aggressiv auftritt.

Nationalismus

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Besonders deutlich zeigt sich das am Beispiel des ehemaligen Jugoslawien. Dessen multiethnische Gesellschaft bildete nach dem Zweiten Weltkrieg einen Bundesstaat, innerhalb dessen die Identität der verschiedenen Nationen und ihre kulturelle Eigenart anerkannt wurden, während zugleich der Kommunismus die ideologische Grundlage für einen übernationalen Zusammenhalt bilden sollte. In dem Maße, in dem der Kommunismus an Bedeutung verlor, schwand auch das auf den Bundesstaat bezogene Identitätsbewußtsein und blühte der Nationalismus auf. Kroatische, slowenische und muslimische Nationalisten wollten anstelle des Bundes die eigene nationale Selbstbestimmung, während gleichzeitig alte ethnische Gegensätze zwischen Serben und anderen Volksgruppen wieder auflebten. 4. Nationalismus

und christliche

Sozialethik

Das Verhältnis zwischen -»Religion und Nationalismus ist dialektisch. Einerseits wird die Religion oft dazu herangezogen, unterschiedliche Ausprägungen des Nationalismus zu untermauern und zu legitimieren. Sie kann dazu benutzt werden, in einer Nation ein Gefühl des Zusammenhalts und eines gemeinsamen kulturellen Erbes zu schaffen. Sie kann einen bedeutsamen Teil der nationalen Tradition darstellen und daher dazu beitragen, ein Volk zu einen. So trägt das -»Judentum zum jüdischen Nationalismus und der -»Islam zu verschiedenen Formen des arabischen Nationalismus bei. In ähnlicher Weise spielt die katholische Kirche eine gewichtige Rolle für den polnischen und kroatischen Nationalismus. Die Reformation ist wahrscheinlich einer der Faktoren gewesen, die zur Entstehung des Nationalismus in Westeuropa beigetragen haben, der dann später wiederum auch bei einer Reihe protestantischer Theologen Rückhalt fand. Auf der anderen Seite kann die Religion auch zu einer theoretischen Kritik des Nationalismus beitragen. Eine solche Kritik findet sich in der heutigen protestantischen und katholischen Sozialethik. Ihre Vertreter zeigen ein gewisses Verständnis für den Nationalismus in der Dritten Welt und in Osteuropa als berechtigte Reaktion gegen den Kolonialismus und gegen Herrschaftsansprüche der Großmächte. Zugleich aber erhebt sich in der christlichen Sozialethik Kritik vornehmlich an allen Ausprägungen eines totalitären und aggressiven Nationalismus, die als hinderlich für das Bemühen um Frieden und internationale Solidarität angesehen werden. 4.1. Nationalismus in der protestantischen Theologie. Innerhalb der protestantischen Theologie ist lange eine positive Haltung gegenüber verschiedenen Formen des Nationalismus gepflegt worden. Bereits Herder hat dem Nationalismus eine theologische Begründung gegeben, sofern er behauptete, Gott habe bei der Schöpfung die Menschheit in verschiedene Völker und Nationen aufgeteilt. Eine ähnliche schöpfungstheologische Begründung des Nationalismus hat auch Schleiermacher gegeben. In seinem Gefolge stößt man im deutschen Protestantismus des 19. Jh. auf einen ausgeprägten Nationalismus. Christentum und Vaterlandsliebe gelten als untrennbar. Der einzelne erscheint als Teil eines Volkes, das von Gott mit einem eigenen Auftrag geschaffen ist. Gelegentlich begegnet selbst die Vorstellung vom deutschen Volk als Gottes auserwählter Nation. Nach 1895 erweist sich Friedrich - » N a u m a n n als einer der vornehmlichsten Vertreter dieses theologischen Nationalismus. In der protestantischen Theologie des beginnenden 20. Jh. begegnet eine Theologie der Schöpfungsordnungen, für die Volk und Nation als göttliche Schöpfungsordnungen erscheinen. Sie verbindet sich mit einer unkritischen Einstellung gegenüber dem konservativen und vielfach auch gegenüber dem heranwachsenden faschistischen Nationalismus. Der Unterschied zwischen verschiedenen Völkern und Rassen erscheint hier als von Gott in der Schöpfung gesetzt. In einer Arbeit von 1933 schreibt Walter Künneth, es gehöre zu Gottes Schöpferwillen, daß jedes Volk sich auf sein eigenes Wesen besinne. Daher müsse die Kirche das Streben des deutschen Volkes unterstützen, seine nationale Eigenart zu pflegen und von da aus eine Lösung der Judenfrage zu suchen. In derselben

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Schrift heißt es auch, die nationalsozialistische Staatsauffassung sei der liberalen und demokratischen vorzuziehen, da sie die Zugehörigkeit des einzelnen zu seinem Volk und den Gehorsam gegenüber der politischen Autorität zur Geltung bringe. Es finden sich auch Verfechter einer Theologie der Schöpfungsordnungen, die größere Distanz zum faschistischen Nationalismus wahren. So schreibt etwa Emil -»Brunner, daß das Volk wie das Individuum sowohl von Gott geschaffen als auch ein Produkt der Sünde seien. Die Nationalität gehört nach Brunner zu den Ordnungen Gottes, die wir nach seinem Willen beibehalten sollen, doch er ist zugleich der Meinung, in den Nationalstaaten liege die Gefahr einer möglichen Bedrohung für den Frieden und die internationale Zusammenarbeit. Auch Helmut -•Thielicke kritisiert einen Nationalismus, der das eigene Volk verabsolutiere. Er sieht im Volk einen Ausdruck des Schöpferwillens Gottes, aber zugleich auch einen Niederschlag der Zersplitterung der Menschheit im Gefolge des Sündenfalles. Nach dem Zweiten Weltkrieg stößt man in der protestantischen Sozialethik indessen auf eine weitergehende Kritik des faschistischen und auch des konservativen Nationalismus. Sie geht im allgemeinen einher mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Theologie der Schöpfungsordnungen. Ein Wortführer dieser Kritik ist Heinz-Dietrich Wendland. Früher hatte er zu denen gehört, die von einer Ordnungstheologie her eine autoritäre und totalitäre Staatsauffassung vertreten hatten. In seinen späteren sozialethischen Arbeiten kritisiert er jedoch eine derartige konservative Ordnungstheologie und wendet sich zugleich kritisch gegen jede Form des Nationalismus. 4.2. Christlicher Internationalismus. In seiner Sozialethik richtet Heinz-Dietrich Wendland seine Kritik nicht nur gegen den konservativen und faschistischen, sondern auch gegen den liberalen Nationalismus. Der Ausgangspunkt dieser Kritik ist das christliche Liebesgebot, das uns nach Wendland dazu aufruft, das Wohl aller Menschen und Völker anzustreben. Christliche Ethik ist universalistisch in dem Sinne, daß sie die Fürsorge für alle Menschen gebietet. Die Nächstenliebe soll nicht allein die Angehörigen des eigenen Volkes und der eigenen Nation umfassen. Sie soll vielmehr alle Grenzen zwischen Nationen und Rassen zu überwinden suchen. Ihr Ziel ist die Einheit des gesamten Menschengeschlechts und Solidarität zwischen allen unterschiedlichen Nationen. Wendland erhebt drei Einwände gegen den Nationalismus. Der erste ist, d a ß der Nationalismus gute Beziehungen der Nationen untereinander erschwere. Das universelle Liebesgebot ruft uns zur Fürsorge für die gesamte Menschheit und zur Zusammenarbeit zwischen den Nationen auf. Unsere Aufgabe ist es daher, gute internationale Beziehungen herzustellen und übernationale Organisationen auszubilden. Das wird durch den Nationalismus mit der in ihm liegenden Gefahr, Spannungen und Konflikte zwischen den Nationen heraufzuführen, erschwert. Der zweite Einwand besagt, daß der Nationalismus gute Beziehungen zwischen dem einzelnen und der Nation, der er angehört, erschwere. Er stellt eine Bedrohung der einzelmenschlichen Individualität dar, sofern er vom einzelnen die völlige Hingabe an die Nation verlange. Insbesondere dem faschistischen und dem konservativen Nationalismus wohnt eine kollektivistische Tendenz inne, die ein totalitäres System mit ernsthafter Bedrohung der Freiheit des einzelnen heraufführen kann. Wendlands drittes Argument gegen den Nationalismus lautet, daß er der Gefahr unterliegt, zu einer Pseudo-Religion zu werden, sofern er die Nation verabsolutiert und ihr einen nahezu metaphysischen Rang zuerkennt. Der Nationalismus macht die Nation zur höchsten N o r m politischen Handelns und zu einer uns mit letzter Verbindlichkeit betreffenden Gegebenheit, und das heißt, er vergöttlicht sie. Dabei übersieht er, d a ß sie eine geschichtlich begrenzte und vergängliche Größe ist. In eschatologischer Sicht steht die Nation für Wendland unter Gottes Herrschaft und muß daher relativiert werden. Sie gehört in eine unvollkommene Welt und hat eine begrenzte Aufgabe. In Gottes Reich dagegen gibt es keine Aufteilung in unterschiedliche Nationen und Völker.

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Für den in Afrika und Asien nach dem Zweiten Weltkrieg herangewachsenen sozialistischen Nationalismus zeigt Wendland ein gewisses Verständnis. Er richtet sich gegen den Kolonialismus und alle Formen eines nationalistischen Imperialismus. Zugleich trägt er zu politischer Integration bei. Er ermöglicht die Ausbildung neuer politischer Einheiten, die soziale Gegensätze und kulturelle Unterschiede überbrücken. Allerdings ist Wendland der Meinung, daß auch dieser Nationalismus mit der Universalität der christlichen Ethik in Konflikt gerät, sofern er die Interessen der eigenen Nation denen anderer vorordnet. Als Alternative zum Nationalismus befürwortet Wendland ein patriotisches Weltbürgertum. Er lehnt den Nationalismus ab, billigt aber den Patriotismus im Sinne eines allgemeinen Empfindens von Vaterlandsliebe. Der einzelne hat das Recht und die Pflicht, „Patriot" zu sein in dem Sinne, daß er dem eigenen Volk und Land dienen soll. Das ist eine Weise, das Gebot der Nächstenliebe zu verwirklichen. Zugleich aber soll der einzelne auch „Weltbürger" sein in dem Sinn, daß er allen Menschen, auch den Angehörigen anderer Rassen und Nationen, seine Sorge zukommen lassen soll. Das Liebesgebot verpflichtet uns, Solidarität zwischen allen Nationen und das Wohl der gesamten Menschheit anzustreben. Ein patriotisches Weltbürgertum ist für Wendland dadurch gekennzeichnet, daß es die eigene Nation als bedeutsame geschichtliche Größe ansieht und sie in ihrer Geltung zugleich darauf beschränkt, Teil einer übernationalen Ordnung zu sein. Jedwede quasireligiöse Verabsolutierung der eigenen Nation wird damit zurückgewiesen. Diese Haltung ermutigt den einzelnen zur Vaterlandsliebe und hebt zugleich hervor, daß die Interessen der eigenen Nation nicht die höchste Verbindlichkeit zu beanspruchen haben. Sie wendet sich gegen jede Art von nationalem Egoismus und ist offen für Solidarität und Zusammenarbeit mit anderen Nationen. Für sie ist es Aufgabe einer jeden Nation, das Wohl aller Nationen anzustreben.

4.3. Kritik des romantischen Nationalismus. Eine eingehende Kritik des auf die deutsche Romantik zurückgehenden konservativen Nationalismus findet man bei Wolfgang Schweitzer. Sie geht von der Auffassung aus, daß es allgemein menschliche Normen und Wertvorstellungen gibt, die unserem politischen Handeln zugrundeliegen sollen. Nach der lutherischen Zwei-Regimenten-Lehre (-+Zwei-Reiche-Lehre) ist es die Vernunft und nicht das Evangelium, die das weltliche Regiment führen soll. Damit wird nicht eine Eigengesetzlichkeit der Politik verfochten, da die Vernunft dem allgemein menschlichen Liebesgebot untersteht. Jedoch ist die Politik Angelegenheit der Vernunft, und sie soll es sein. Die -»Aufklärung hat Schweitzer zufolge eine Entmythologisierung des Staates mit sich gebracht. Hobbes, Locke und Rousseau haben alle in der Politik einen Bereich gesehen, der allein mit der menschlichen Vernunft zu tun hat. Der Staat wurde nicht mehr als Schöpfung Gottes und Vertreter seines Willens verstanden. Stattdessen wurde dem Menschen eine eigene Verantwortung für die Welt zugewiesen. Theologisch ist diese Entmythologisierung des Staates nach Schweitzer von der Zwei-Regimenten-Lehre her zu bejahen. Die deutsche Romantik sucht indessen frühere mythologische Staatsauffassungen wieder zu beleben. Sie sah den Staat als Vertreter Gottes an. Herder und Schleiermacher betrachten ihn zugleich als Organismus mit eigenpersönlichem Charakter. Sie hoben hervor, daß der Staat eine Ganzheit bilde, und ließen die zwischen dem einzelnen und dem Staat bestehenden Differenzen nicht gelten. Daher entwickelten sie auch keine Lehre von den Rechten des einzelnen. Sie wandten sich kritisch gegen die Französische Revolution und ihr Streben nach Freiheit und Gleichheit. Der innerhalb der deutschen Romantik sich entwickelnde Nationalismus unterscheidet sich nach Schweitzer wesentlich von dem liberalen Nationalismus. Die Nation wird in ihm nicht als Ergebnis einer von Menschen getroffenen Entscheidung angesehen, sondern als etwas Naturgegebenes. Herder und Schleiermacher waren der Meinung, daß Volk und Nation von Gott geschaffen seien und von ihm ihre besondere Eigenart und

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Aufgabe erhalten haben. Jedes Volk und jede Nation ist mit seiner kulturellen Eigenprägung ein Glied in Gottes Offenbarung. Darum hat auch jede Nation das Recht auf ihren eigenen Staat. Gegen diesen konservativen Nationalismus erhebt Wolfgang Schweitzer drei Einwände. Der erste ist, daß dieser Nationalismus im Widerstreit steht zu dem Universalismus, der zu einer christlichen Ethik gehört. Die Botschaft vom Reich Gottes ruft uns auf, über nationale Begrenzungen hinauszukommen. Die vornehmste Verpflichtung des Menschen soll nicht der eigenen Nation, sondern der Sorge für alle Menschen gelten. Auch wenn zwischen den Völkern kulturelle Unterschiede bestehen, so ist doch die Aufgabe gestellt, deren politische Bedeutung zu vermindern. Der zweite Einwand besagt, daß der konservative Nationalismus nicht mit der notwendigen Achtung des einzelnen und seiner Rechte verbunden ist. Schweitzer bejaht den liberalen Nationalismus, der vom einzelnen Menschen ausging und sich mit einer Lehre von den Menschenrechten auf Leben, Freiheit und Glück verband. Diese Menschenrechtslehre steht nach Schweitzer in Einklang mit einer christlichen Ethik. Der romantische Nationalismus ging demgegenüber mehr von der Gesamtheit als vom einzelnen aus. Daher wurde dem einzelnen keine Rechnung getragen, und seine Rechte dem Staat gegenüber fanden keine Beachtung. Das größte Gewicht mißt Schweitzer seinem dritten Einwand gegen den romantischen Nationalismus bei. Er setzt dabei an, daß diese Art des Nationalismus darüber hinwegsieht, daß wir bemüht sein sollen, politische Fragen nach allgemein menschlichen Normen und mit Hilfe der Vernunft zu entscheiden. Der Kardinalfehler der Romantik war es, daß sie mythologische Staatsauffassungen wiederzubeleben suchte. Doch Politik ist nach Schweitzer eine Sache der Vernunft. Wir müssen auf rein vernunftmäßige Weise zu entscheiden suchen, mit welchen Mitteln Politik betrieben werden soll. Kriterium rechten Handelns ist nicht seine Ubereinstimmung mit Gottes Schöpferwillen. Darum müssen wir auch die Vorstellung zurückweisen, Volk und Staat stellten göttliche Schöpfungsordnungen dar. Die Nation ist kein Medium der Offenbarung Gottes. 4.4. Kritik des liberalen Nationalismus. Auch in der amerikanischen Theologie ist der Nationalismus nach dem Zweiten Weltkrieg zum Gegenstand kritischer Untersuchung geworden. Im Rahmen einer eingehenden Analyse der unterschiedlichen politischen Ordnungsgestalten von Nation und Großmacht kritisiert Reinhold Niebuhr den liberalen Nationalismus. Er bejaht diese in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten ausgebildete Art des Nationalismus in weitem Umfang. Die neuzeitlichen autonomen Nationalstaaten entstehen in einer geschichtlichen Lage, in der die mittelalterlichen Reiche nicht mehr als Instrumente politischer Ordnung wirksam waren. Sie bieten Gruppen mit gemeinsamer Sprache, gemeinsamer Geschichte, gemeinsamem Territorium und gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen eine geeignete Form zur Bildung integrierter Gemeinschaften. Das Streben des liberalen Nationalismus nach nationaler Integrität und Autonomie müsse daher bejaht werden. Es ist eine Art des Nationalismus, der darum ansprechend erscheint, weil er sich mit dem Streben nach politischer Demokratie verbindet. Zugleich aber kritisiert Niebuhr die mit diesem liberalen Nationalismus verbundene Theorie internationaler Beziehungen. In der liberalen und demokratischen Tradition finden sich ein vager Universalismus und eine positive Einstellung zum Völkerbund und zu den Vereinten Nationen. Im übrigen aber rechne diese Tradition mit keiner organisierten Form von Gemeinsamkeit oberhalb der nationalen Ebene. Ein solch vager Universalismus findet sich bereits bei Locke, und Rousseau kritisiert am Christentum, daß es zu universalistisch sei. Er war offenbar davon überzeugt, daß ein Volk, das seine Freiheit und Selbstbestimmung erhält, niemals ein anderes Volk angreifen werde. Niebuhr ist der Meinung, daß der liberale Nationalismus in seinem Universalismus allzu unbestimmt sei. Das gilt insbesondere für den von ihm so genannten „naiven

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Liberalismus". Nach dessen Auffassung verändert die Demokratie das Wesen der Staaten in einer Weise, die sie weniger eigennützig sein läßt. Es bedürfe daher auch, wenn alle Nationen autonom werden, keiner weiteren Schritte mehr, um zu Frieden und internationaler Solidarität zu finden. Diese Sicht beruht für Niebuhr auf einem zu optimistischen Menschenbild. Sie sei sich nicht der starken Eigennützigkeit bewußt, die jeden Menschen und jede menschliche Gemeinschaft kennzeichnet. Der Kritik Niebuhrs am liberalen Nationalismus liegt sein eigenes realistisches Menschenbild zugrunde. Er betont, daß der Mensch als der, der nach dem Bilde Gottes erschaffen ist, die geistige Freiheit und das Vermögen besitzt, sich über sich selbst zu erheben. Er ist aber zugleich der Meinung, daß er mit eben dieser Freiheit auch ein von zerstörerischen Neigungen gekennzeichneter Sünder ist. Darum ist es nicht möglich, in der zeitlichen Wirklichkeit zu einer vollkommenen Gesellschaft zu finden. Daher sind auch politische Einrichtungen zum Schutz des Rechts und zur Zügelung der alle sozialen Gruppen prägenden Selbstsucht erforderlich. Aus dieser realistischen Sicht des Menschen hält Niebuhr es für notwendig, internationale Organisationen zur Förderung des Friedens und der Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Nationen zu schaffen. Er äußert das auf dem Hintergrund des Kalten Krieges zwischen zwei Supermächten, die beide imperialistische Neigungen zeigen, und der Drohung eines künftigen Kernwaffenkrieges. Das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Nationen sei zu achten. Zugleich aber bestehe ebenso ein Bedürfnis nach Organisationen für eine übernationale Zusammenarbeit zum Schutz des Friedens und der kollektiven Sicherheit. Die Vereinten Nationen sind ein solches notwendiges Forum der Begegnung unterschiedlicher Nationen. Sie müßten gestärkt werden, und es bedürfe auch darüber hinaus noch anderer internationaler Organisationen wie des Nordatlantikpaktes (NATO) oder der Europäischen Gemeinschaft zur Dämpfung nationaler Selbstsucht. Von seinem realistischen Menschenbild aus kritisiert Niebuhr auch die Verbohrtheit und Überheblichkeit, die seiner Ansicht nach bestimmte Formen des liberalen Nationalismus kennzeichnen. Jede Nation müsse sich ein realistisches Bild von ihren eigenen Begrenztheiten machen und dürfe den eigenen Utopien keine absolute Geltung zusprechen. Auch wenn man seinen eigenen Idealen huldigt, ist es wichtig, für die Weltgesellschaft einen -»Pluralismus gelten zu lassen. Das Bewußtsein der Unvollkommenheit der eigenen Gruppe bildet einen Damm gegen allzu besessene Bestrebungen, andere Nationen zur Übernahme der eigenen Ideale zu bringen. 4.5. Katholische Kritik am Nationalismus. In der katholischen Soziallehre begegnet ebenfalls eine eingehende Kritik an verschiedenen Ausprägungen des Nationalismus, die als Hindernis für das Bemühen um internationale Solidarität und Gerechtigkeit angesehen werden. Weil christliche Ethik universalistisch ist und die Zuwendung nicht nur zu den Angehörigen der je eigenen Nation, sondern zu allen Menschen gebietet, ist es angebracht, internationale politische Organisationen zu unterstützen. Nationalstaaten reichen nicht aus, um Frieden und internationale Gerechtigkeit zu fördern. Sie wahren ihre eigenen nationalen Belange und geben häufig Anlaß zu internationalen Konflikten. Aus dem Subsidiaritätsprinzip heraus, dem in der katholischen Soziallehre große Bedeutung beigemessen wird, ist es allerdings möglich, das Streben nach nationaler Selbstbestimmung zu bejahen. Nach diesem Prinzip soll Macht und Autorität nicht von Individuen und Institutionen auf niedrigerer Ebene an Institutionen auf höherer Ebene übertragen werden. Politische Entscheidungen sollen auf einer Ebene getroffen werden, die den davon Betroffenen so nahe wie möglich liegt. Zugleich wird jedoch in der katholischen Soziallehre auch hervorgehoben, daß es Probleme gibt, die nur auf internationaler Ebene gelöst werden können, weshalb internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen notwendig sind.

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In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils (-»Vatikanum II) wird betont, daß das Bemühen um Frieden und internationale Gerechtigkeit eine universale Wirtschaftsordnung voraussetzt. Deshalb müsse man sowohl dem Militarismus als auch dem Nationalismus entgegenwirken. Statt dessen sei es geboten, die Vereinten Nationen und andere Organisationen für internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit zu unterstützen. Die Kirche hat nach der Pastoralkonstitution in besonderem Maß die Aufgabe, solcherart internationale Zusammenarbeit zu fördern, da sie eine über allen Nationen stehende universale Gemeinschaft darstellt. Sie ist nicht innerhalb einer bestimmten Nation organisiert und grenzt sich nicht etwa durch die Sprache oder politische Verfassung von anderen Menschen ab. Als gute Staatsbürger sollen Christen Patrioten sein, doch sie müssen sowohl Rassismus als auch verschiedene Ausprägungen des Nationalismus meiden. Statt dessen sollen sie für eine universelle Liebe zu allen Menschen eintreten. Auch in der Encyklika Populorum progressio Papst -»Pauls VI. wird betont, daß der Nationalismus der Schaffung einer solidarischen Weltgemeinschaft hinderlich sei. Zur Förderung von Frieden und Entwicklung in der Dritten Welt sind eine internationale Zusammenarbeit und weltweite Organisationen wie die Vereinten Nationen erforderlich. Der Nationalismus trennt dagegen die Völker voneinander und ist ihrem eigenen Wohl abträglich. Diese Enzyklika erhebt ebenfalls Kritik am Nationalismus in der Dritten Welt. Zwar heißt es, es sei verständlich, daß die jungen Nationen in der Dritten Welt ihre nationale Einheit und ihr kulturelles Erbe wahren. Es wird jedoch zugleich hervorgehoben, daß dieses Bestreben von einer Liebe überhöht werden müsse, die alle Glieder der Menschheitsfamilie umfaßt. Einer der katholischen Moraltheologen, die sich kritisch gegen den Nationalismus gewandt haben, ist Bernhard Häring. Auch er betrachtet Nationalismus als Hemmnis für das Streben nach Frieden und internationaler Solidarität. Ein zentrales Ziel der katholischen Soziallehre sei eine Weltgemeinschaft, in der Gerechtigkeit, gegenseitige Hilfe und Friede herrschen. Das Streben nach diesem Ziel werde jedoch durch den Nationalismus und souveräne Nationalstaaten, die ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Belange an erste Stelle setzen, erschwert. Um zu einer Weltgemeinschaft zu kommen, muß daher nach Häring das Machtstreben der Nationalstaaten und ihr Kampf um die Durchsetzung ihrer Interessen begrenzt werden. Solange sie mit uneingeschränkter Souveränität und ungezügelter Selbstsucht ihre Kämpfe um wirtschaftliche und politische Herrschaftsinteressen austragen, werden die Würde und die Rechte des Einzelnen nicht den Vorrang erhalten. Solange dieser Konkurrenzkampf zwischen den Nationalstaaten anhalte, sei stets auch der Friede gefährdet. 4.6. Nationalismus und internationale Solidarität. Welche Folgerungen ergeben sich aus der in der gegenwärtigen christlichen Sozialethik geführten Diskussion über den Nationalismus? Zunächst einmal erweist es sich als schwierig, ein generelles Urteil über den Nationalismus schlechthin abzugeben. Jede Gestalt des Nationalismus muß für sich beurteilt werden. Dabei scheint es so, als seien bestimmte Formen des Nationalismus abzulehnen, während andere zumindest in gewisser Hinsicht anerkannt werden können. Der faschistische Nationalismus ist mit einer rassistischen Ideologie und der Vorstellung verbunden, daß Nationen und Rassen ungleichwertig seien. Gelegentlich verbindet er sich mit einer Mißachtung dessen, was ihm als Schwachheit erscheint. Diese Auffassungen widerstreiten dem Grundsatz der gleichen Würde aller Menschen unabhängig von Rasse, Nation oder Geschlecht. Dieser Grundsatz uneingeschränkter gleicher Menschenwürde aber erscheint fundamental in einer christlichen Ethik, in der er aus der Uberzeugung begründet werden kann, daß alle Menschen nach Gottes Bild erschaffen sind. Ein anderer Einwand gegen den faschistischen Nationalismus besteht darin, daß er dem Universalismus widerstreitet, der zur christlichen Ethik gehört. Wie Wendland betont, ruft das Gebot der Nächstenliebe zur Fürsorge für alle Menschen. Dieses Trachten nach dem Wohl aller Menschen gerät indessen in Konflikt mit der Aggressivität und der Lehre vom Herrschaftsanspruch bestimmter Nationen, die den faschistischen Nationalismus ausmachen. Der damit verbundene Staatsabsolutismus widerstreitet ebenfalls der Überzeugung, daß das einzelne Individuum bestimmte grundlegende Menschenrechte hat. Eine Folge des Grundsatzes der allgemeinen Menschenwürde ist es, daß der

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einzelne dem Staat gegenüber solche Rechte besitzt. Der faschistische Nationalismus erweist sich daher für einen angemessenen Entwurf christlicher Sozialethik als unannehmbar. Der konservative Nationalismus ist mit der Vorstellung verbunden, daß jede Nation naturgegeben, von Gott mit einem je eigenen Wesen und Auftrag geschaffen sei. Eine derartige Theologie der Schöpfungsordnungen bringt eine Absolutsetzung der Nation mit sich, die sich nicht als annehmbar erweist. Es erscheint angemessener, in der nationalen Aufgliederung der Menschheit ein Ergebnis menschlicher Entscheidungen zu sehen als einen Ausdruck des Schöpferwillens Gottes. Zudem verkennt die Vorstellung von der Nation als Schöpfungsordnung, daß der Mensch selbst dafür verantwortlich ist, wie er das politische Zusammenleben ordnet, und daß auch seine politischen Entscheidungen von seiner Sünde und Unvollkommenheit betroffen sind. Wie Schweitzer hervorhebt, versucht der konservative Nationalismus wieder eine Mythologie des Staates ins Leben zu rufen und verkennt dabei, daß Politik eine nach allgemein menschlichen Normen zu regulierende Angelegenheit der Vernunft ist. Ein zweiter Einwand gegen den konservativen Nationalismus besteht darin, daß er eine Bedrohung der Freiheit des einzelnen darstellt. Diese Art des Nationalismus geht mit einer organischen Gesellschaftstheorie einher, der zufolge der einzelne lediglich Teil einer höheren Ganzheit sei. Damit gerät sie offensichtlich in Konflikt mit der Auffassung, daß der einzelne in seinem Verhältnis zum Staat bestimmte Rechte auf Leben, Freiheit und Glück hat. Diese Menschenrechte lassen sich aus dem Grundsatz der gleichen Würde aller Menschen begründen. Der konservative Nationalismus läßt indessen mit seiner organischen und autoritären Staatsauffassung keinen hinreichenden Freiraum für die Achtung von Freiheit und Recht des einzelnen. Der liberale und der sozialistische Nationalismus erscheinen demgegenüber als Ausformungen des Nationalismus, die zumindest in einem gewissen Grad annehmbar sind. Der liberale Nationalismus ist mit dem Streben nach Freiheit und Demokratie verbunden. Er verficht die Meinung, daß die höchste politische Autorität nicht der Obrigkeit, sondern dem Volk zukomme. Der sozialistische Nationalismus ist mit dem Streben nach Befreiung vom westlichen Kolonialismus und Imperialismus verbunden. Alle diese Zielsetzungen dürften innerhalb des Rahmens eines angemessenen Entwurfs christlicher Sozialethik bejaht werden können. Grundlegend ist für den liberalen und sozialistischen Nationalismus das Nationalitätsprinzip, demzufolge jede Nation das Recht hat, einen eigenen Staat zu bilden. Wenn die Nation keine Naturgegebenheit ist, sondern auf einer Entscheidung der Individuen selbst zum Zusammenschluß beruht, dann scheint dieses Prinzip im Rahmen einer Menschen rechtslehre vertretbar zu sein. Der Grundsatz eines Selbstbestimmungsrechtes der Nation erscheint hier als Folge des Grundsatzes des individuellen Selbstbestimmungsrechtes. Damit erweist sich das Nationalitätsprinzip als Ausdruck des Strebens nach menschlicher Freiheit und Emanzipation. Zugleich erscheint es wichtig, daß der Nationalismus in einer Weise Gestalt findet, die ihn nicht in Widerstreit zu dem für eine christliche Ethik kennzeichnenden Universalismus bringt. Das Gebot der Nächstenliebe ist universalistisch, sofern es zur Fürsorge für das Wohl der gesamten Menschheit aufruft. Die Achtung des Selbstbestimmungsrechtes jeder Nation muß sich daher verbinden mit einem Eintreten für internationale Zusammenarbeit zur Förderung von Frieden und weltweiter Gerechtigkeit. Um eine internationale Gerechtigkeit zu erreichen, ist es erforderlich, daß die Nationen der Dritten Welt das Recht der politischen und wirtschaftlichen Selbstbestimmung erhalten. Zugleich aber sind, wie Reinhold Niebuhr betont, auch Organisationen für internationale Zusammenarbeit notwendig. Die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen müssen gestärkt werden. Der liberale und der sozialistische Nationalismus müssen sich demnach mit dem Eintreten für eine internationale Solidarität verbinden. Dadurch können sie es vermeiden,

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zu e i n e m engstirnigen, in selbstsüchtiger Weise lediglich u m die eigenen nationalen Interessen b e k ü m m e r t e n N a t i o n a l i s m u s zu w e r d e n . Es ist m ö g l i c h , d a s Nationalitätsprinzip und die G e b u n d e n h e i t d e s einzelnen an die eigene N a t i o n zu bejahen, d o c h m u ß d a m i t eine Fürsorge für das Wohl aller M e n s c h e n u n d ein Streben n a c h Solidarität z w i schen den N a t i o n e n einhergehen. D e r im christlichen Liebesgebot z u m Ausdruck k o m m e n d e Universalismus bedeutet, d a ß die Wahrung der eigenen n a t i o n a l e n Belange nur d a n n legitim ist, w e n n sie sich mit der Fürsorge auch für d a s W o h l anderer N a t i o n e n verbindet. Jede a n n e h m b a r e Gestaltfindung d e s N a t i o n a l i s m u s ist daher mit d e m Eintreten für internationale Solidarität verbunden. Literatur Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflection on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983.-Stanley I. Benn, Art. Nationalism: EncPhS (1967) 4 4 2 - 4 4 5 . - John C. Bennett/ Harvey Seifert, U.S. Foreign Policy and Christian Ethics, Philadelphia 1977. - Arnold Bergsträsser, Art. Nationalismus: R G G J 4 (1960) 1312-1315. - John J. Breuilly, Nationalism and the State, Manchester 1982. - Christofer Cviic, Remaking the Balkans, London 1991. - David Fromkin, The Independence of Nations, New York 1981. - Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Oxford 1983. - Carl-Henric Grenholm, Christian Social Ethics in a Revolutionary Age. An Analysis of the Social Ethics of John C. Bennett, Heinz-Dietrich Wendland and Richard Shauli, Uppsala 1973. - Bernhard Häring, Frei in Christus. Moraltheol. für die Praxis des christl. Lebens, Freiburg, III 1981. - Eugene Serge Kamenka, Nationalism. The Nature and Evolution of an Idea, London 1973. - Elie Kedourie, Nationalism, London 1960. - Ders., Nationalism in Asia and Africa, London 1971. - James K. Kellas, T h e Politics of Nationalism and Ethnicity, London 1991. - Hans Kohn, Nationalism. Its Meaning and History, Princeton 1955. - Ders., T h e Age of Nationalism. The First Era of Global History, New York 1962. - Ders., The Idea of Nationalism. A Study of Its Origins and Background, New York 1944. - Walter Künneth/Helmuth Schreiner, Die Nation vor Gott. Z u r Botschaft der Kirche im Dritten Reich, Berlin 1933 3 1934. - Eugen Lemberg, Gesch. des Nationalismus in Europa, Stuttgart 1950. - Ders., Nationalismus, 2 Bde., H a m b u r g 1964. - David Miller, Art. The Ethical Significance of Nationality: Ethics 98 (1988) 647-662. - Reinhold Niebuhr, The Structure of Nations and Empires, New York 1959. - ö y v i n d Österud, Nasjonenes selvbestemmelserett, Oslo 1984. - Harald Ofstad, Värt förakt för svaghet. Nazismens normer och värderingar - och vara egna, Stockholm 1972. - Jan-Gunnar Rosenblad, Nation, nationalism och identitet, Nora 1992. - Wolfgang Schweitzer, Der entmythologisierte Staat. Stud, zur Revision der ev. Ethik des Politischen, Gütersloh 1968. - Boyd C. Shafer, Nationalism. Myth and Reality, New York 1955. - Anthony David Smith, T h e Ethnic Origins of Nations, Oxford 1986. - Ders., Nationalist Movements in the Twentieth Century, Oxford 1989. - Heinz-Dietrich Wendland, Nationalismus u. Patriotismus in der Sicht der christl. Ethik, Münster 1965. - Ders., Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, Gütersloh 1967. - Ders., Einf. in die Sozialethik, Berlin 1971. - Reinhard Wittram, Das Nationale als europ. Problem. Beitr. zur Gesch. des Nationalitätsprinzips vornehmlich im 19. Jh., Göttingen 1954. Carl-Henric G r e n h o l m

Nationalsozialismus 1. Die Anfänge des Nationalsozialismus 2. Die NSDAP in der Weimarer Republik Nationalsozialismus an der Macht (Literatur S. 41) 1. Die Anfänge

des

3. Der

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D i e Geschichte des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s ist in ihren A n f ä n g e n e n g verknüpft mit d e n politischen U m b r ü c h e n und gesellschaftlichen Erschütterungen im G e f o l g e d e s verlorenen Ersten Weltkrieges und der R e v o l u t i o n v o n 1 9 1 8 / 1 9 (vgl. T R E 8 , 5 9 1 , 9 f f ) . In einer v o n vielen e m p f u n d e n e n A t m o s p h ä r e nationaler D e m ü t i g u n g , sozialer Unsicherheit, wirtschaftlichen N i e d e r g a n g s und der für real gehaltenen B e d r o h u n g durch d e n B o l s c h e w i s m u s ( - • R u ß l a n d ) , in die sich E l e m e n t e einer s c h o n vor der J a h r h u n d e r t w e n d e formulierten R a s s e n i d e o l o g i e ( - » R a s s i s m u s ) , der Zivilisationskritik u n d g a n z allgemein des U n b e h a g e n s an der M o d e r n e m i s c h t e n , w u c h s die E m p f ä n g l i c h k e i t für „ v ö l k i s c h e s " G e d a n k e n g u t (vgl. T R E 8 , 5 5 7 , 3 5 f f ) . Besonders zahlreich in Süddeutschland - als R e -

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aktion auf die Räterevolution in München - , aber auch in anderen Teilen des Reiches, schössen entsprechende Gruppen und Vereine empor: Gegenrevolutionär und antimarxistisch, antiliberal und antisemitisch, griffen sie in manchem auf alldeutsche Positionen der Vorkriegszeit zurück, blieben jedoch meist regional beschränkt. Das galt zunächst auch für die Anfang 1919 in München gegründete Deutsche Arbeiterpartei (DAP), deren 25-Punkte-Programm dort ein J a h r später Adolf Hitler ( 1 8 8 9 - 1 9 4 5 ) auf einer ersten G r o ß Versammlung verkündete. So wenig dieses bald für unabänderlich erklärte Programm der Partei irgendwelche Fesseln anlegte, so deutlich sprachen daraus doch bereits Anschauungen und Motive, aus denen sie ihre außerordentliche, über zweieinhalb Jahrzehnte anhaltende Antriebskraft und innere Dynamik bezog. Der im ersten Programmpunkt von der DAP geforderte „Zusammenschluß aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu einem Groß-Deutschland" stand für den mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg keineswegs erschöpften, durch die harten Bedingungen des Versailler „Schmachfriedens" im Gegenteil neu angestachelten Nationalismus; die spezifisch völkische Komponente zeigte sich in der nachfolgenden Unterscheidung zwischen den nach dem Kriterium des „deutschen Blutes" definierten „Volksgenossen", die allein „Staatsbürger" sein sollten, und den Juden sowie anderen Nicht-Deutschen, die unter „Fremden-Gesetzgebung" gestellt bzw. ausgewiesen werden sollten (vgl. T R E 3,161,24ff). Die Forderung nach „Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungs-Überschusses" nahm den ungebrochenen - » I m perialismus der Vorkriegszeit auf, wies in Kombination mit den aufgestellten Rassekriterien aber zugleich darüber hinaus. Parolen wie „Brechung der Zinsknechtschaft" und „Gewinnbeteiligung an Großbetrieben", das Verlangen nach einer sofortigen „Kommunalisierung der Groß-Warenhäuser", nach einem „großzügigen Ausbau der Altersversorgung", des „Volksbildungswesens" und nach „Hebung der Volksgesundheit" brachten neben dem virulenten —•Antisemitismus und den Interessen der einstweilen vorwiegend kleinbürgerlichen Klientel auch Elemente jenes antimarxistisch-idealistischen, im Rahmen einer „Volksgemeinschaft" zu verwirklichenden „nationalen Sozialismus" zum Ausdruck, den die Partei nicht nur in ihrem ergänzten Namen trug - sie firmierte seit Februar 1920 als Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) - , sondern, zumal auf ihrem linken Flügel, durchaus verkörperte. Entgegen dem Eindruck, den dieser Forderungskatalog und mehr noch die bald zum rhetorischen Kanon gehörende Berufung auf eine „nationalsozialistische Weltanschauu n g " erwecken könnten, blieben programmatische oder gar theoretische Anstrengungen innerhalb der NSDAP die Sache von Einzelgängern. Bei weitem wichtiger als alle Theorie war die „ T a t " . Das galt besonders für jene tief enttäuschten Angehörigen der Frontgeneration, die, überzeugt davon, „im Felde unbesiegt" geblieben zu sein, alle Schuld an der nationalen Misere den „Novemberverbrechern" anlasteten und nun in Freikorps und Einwohnerwehren darauf brannten, den Feind an den „blutenden G r e n z e n " nach außen wie im Innern zu bekämpfen. Für sie gründete die Attraktivität der Partei, die sich mit einer eigenen Saalschutz- und Propagandatruppe von Beginn an militärischgewalttätig gab und das vertraute Vokabular des heroischen „ K a m p f e s " , der soldatischen „ H a l t u n g " pflegte, in dem dort auch um seiner selbst willen gepredigten Radikalismus und Aktivismus. Darin befand sich die frühe NS-„Bewegung" zugleich am sichtbarsten in Übereinstimmung mit den übrigen europäischen Faschismen der Epoche. 2. Die NSDAP

in der Weimarer

Republik

2.1. Hitlers Eintritt im September 1919 hob die Partei beinahe augenblicklich aus dem konturlosen Vielerlei völkischer Gruppierungen heraus. Sein außergewöhnliches rednerisches Talent in Kombination mit der ebenso aggressiven wie effektvollen Propaganda, die er als „ W e r b e o b m a n n " entwickelte, machten die Nationalsozialisten und ihren „ T r o m m l e r " rasch bekannt. Im Sommer 1921 setzte sich Hitler durch vorüber-

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gehenden Parteiaustritt gegen Kräfte zur Wehr, die auf ein Zusammengehen mit verwandten Gruppen zielten, und verankerte damit zugleich seinen Führungsanspruch; der Begriff des „Führers" löste nun zunächst zwar nur die ursprüngliche Bezeichnung „Vorsitzender der NSDAP" ab, doch schon in den nächsten Jahren mehrten sich die Stimmen, die Hitler als den von vielen ersehnten künftigen „Führer" Deutschlands priesen. Begünstigt durch die zunehmende politische und wirtschaftliche Zerrüttung (rechtsextremistischer Terror, Inflation, Ruhrbesetzung, Separatismus) und die ebenso eingängige wie maßlose Kritik an der „Erfüllungspolitik" der Regierungsparteien, registrierte die NSDAP in diesem ersten Abschnitt der „Bewegungsphase" erheblichen Zulauf; beim ersten Parteitag im Januar 1923 in München verfügte sie über 20.000 Mitglieder und eine schlagkräftige „Sturm-Abteilung" (SA) unter dem Kommando von Ernst Röhm (1887-1934). Nicht zuletzt stimuliert durch Mussolinis Machtergreifung in Italien (vgl. T R E 16,415,4ff u. —•Faschismus), verfolgte Hitler einen klaren Putschkurs. Als aber der Staatsstreich gegen die Regierungen des Reichs und Bayerns durch die von ihm geführten bayerischen Kampfbundverbände am 8. November 1923 scheiterte und die Polizei den „Marsch auf die Feldherrnhalle" am Morgen des fünften Jahrestages der Ausrufung der Republik von Weimar stoppte, schien das Ende der Partei besiegelt zu sein. Doch im anschließenden Hochverratsprozeß, der die Verstrickung der Reichswehr und der konservativen Kräfte in die Diktaturpläne verschleierte, gelang es Hitler, sich gegenüber der Öffentlichkeit als der Alleinverantwortliche zu stilisieren, der ausschließlich von der Sorge um das Schicksal der Nation geleitet war. Er legte damit die Grundlage für sein politisches Comeback nach der vorzeitigen Entlassung aus der Festungshaft in Landsberg Ende 1924. 2.2. Der zweite Abschnitt in der „Bewegungsphase" der NSDAP begann mit ihrer Wiedergründung am 26. Februar 1925. In etwa parallel zu der politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung, die dem Wählerzustrom enge Grenzen setzte, konzentrierte sich die Partei auf den Ausbau ihrer Organisation und die Verdrängung unmittelbarer Konkurrenz. Tatsächlich gelang es Hitler, dessen im Gefängnis entstandene Bekenntnisschrift Mein Kampf in diesen Jahren ein Bestseller wurde, die NSDAP zum Alleinerben der völkischen Rechten und sich selbst zu deren unumstrittenem „Führer" zu machen. Zeichen seines gewandelten Selbstverständnisses war nicht zuletzt die parteiinterne Einführung des „Heil Hitler"-Grußes. Während Hitler alle Versuche einer programmatischen Arbeit unterband und erfolgreich auf der Zentralstellung der Münchener Parteiführung beharrte, trieben ihm größtenteils ergebene Gauleiter die regionale Ausdehnung und Vereinheitlichung der NSDAP voran. Nun nicht mehr nur in betontem Kontrast zu sektiererischen völkischen Splittergruppen, sondern in offener Konkurrenz zu den zwar etablierten, aber eben auch im selbstgenügsamen Honoratiorentum und in ideenloser Abwehrhaltung gegenüber der gesellschaftlichen und politischen „Vermassung" erstarrten Rechtsparteien, präsentierte sich die NSDAP als eine ausgesprochen junge, dynamisch-kämpferische „Bewegung". Hierin lag wohl ein wichtiger Grund dafür, daß die Destruktivität ihrer demagogischen Frontstellung gegen Parlamentarismus und —»Demokratie, -»Parteien und -»Gewerkschaften, Juden und Kommunisten, Kirchen und Großkapital nicht durchgängig abschreckend wirkte: Der schiere Hinweis auf den „nihilistischen" Grundzug dieser „Partei des Anti" verfing wenig bei den durch den Krieg aus ihrer Lebensbahn geworfenen Frontsoldaten, bei den von der Inflation sozial Deklassierten, bei verängstigten Kleinbürgern und bei Antisemiten, die an Hitler Gefallen gefunden hatten und sich vom unentwegten Aktionismus seiner Propagandabewegung mitreißen ließen oder sich in der Gemeinschaft der SA aufgehoben und geachtet fühlten. Die Zahl der am Rand der Gesellschaft stehenden Menschen, deren soziale und politische Ressentiments auch in den „guten J a h r e n " der Weimarer Republik nicht schwanden, war jedoch begrenzt. Darin lag der Grund dafür, daß die NSDAP in dieser Phase allenfalls lokale Erfolge feiern konnte und etwa bei der Reichtstagswahl 1928 nur auf 2,6 Prozent der Stimmen kam.

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Die mangelnde Resonanz an den Wahlurnen in den mittleren Jahren der Republik relativiert die Bedeutung der häufig betonten Zielgerichtetheit Hitlers und seiner parteiinternen Stabilisierungspolitik. So konsequent der Weg der NSDAP in der Rückschau auch erscheinen mag: Die Gründe für ihre schlagartige Entwicklung zur Massenpartei kamen im wesentlichen von außen. 2.3. Z u m entscheidenden dritten Abschnitt in der „Bewegungsphase" der Partei wurden die Jahre der Wirtschafts- und Staatskrise ab 1929/30. Das sensationelle Ergebnis der NSDAP bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930, die ihr 107 Mandate (von 577) und damit die zweitgrößte Fraktion (nach der SPD) bescherte, war zweifellos ein Ausdruck des Protests gegen die nach Meinung vieler allzuoft miteinander im Hader liegenden Regierungsparteien, deren Versagen in der Weltwirtschaftskrise offensichtlich geworden schien. Aber die Entwicklung der übrigen oppositionellen Flügelparteien deutete an, daß die Motive der NSDAP-Wählerschaft offenbar komplizierter lagen. Denn nicht nur halbierte sich der Stimmenanteil der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), auch der Zugewinn der KPD hielt sich in bescheidenen Grenzen. Die in den beiden nächsten Jahren rasant sich fortsetzenden Wahlerfolge der NSDAP - und ihr Mitgliederzuwachs - waren nicht allein das Ergebnis einer durch die ökonomische Krise ausgelösten „Panik im Mittelstand", sondern in beträchtlichem M a ß e Ausdruck einer wachsenden „realen sozialen Motivation" und „Veränderungsdynamik" (Broszat), die nach politischer Partizipation drängte und in dem von Hitler verkörperten Nationalsozialismus ihr Medium fand. Die Perfektion und Modernität ihrer ganz auf den „Führer" zugeschnittenen Propaganda hob die NSDAP schon äußerlich aus dem Parteienspektrum heraus und dürfte vor allem zu ihren Siegeszügen im Dauer-Wahljahr 1932 erheblich beigetragen haben. Aber ihr außergewöhnlicher Appeal beruhte auf der Kombination dieses Erscheinungsbildes mit einem „Programm", dessen suggestives Pathos und Ambivalenz gerade seine Attraktivität ausmachte: Indem es rückwärtsgewandte Sekuritätsbedürfnisse und ständische Utopien ebenso ansprach wie Hoffnungen auf sozialen Fortschritt, „revolutionäre Erneuerung", „nationale Wiedergeburt" und eine machtvolle staatliche Ordnung. Der Zulauf, den die Hitler-Bewegung mit solchen vielfach widersprüchlichen Parolen verzeichnete, war gleichwohl weniger das Ergebnis besonders geschickter Manipulation als Ausdruck eines weit verbreiteten, in der Weimarer Republik unbefriedigt gebliebenen Hungers nach sozialer Integration und in gewisser Weise auch nach weltanschaulicher Bindung. Für diese Interpretation spricht im Umkehrschluß die hohe Stabilität des katholischen Zentrums, der Sozialdemokratie und der KPD, die als „Weltanschauungsparteien" über gleichsam ideologisch immunisierte Wählerschaften verfügten. Die stärksten Bastionen der Nationalsozialisten lagen im nationalprotestantisch-mittelständischen Milieu. Darüber hinaus aber zeigt die historische Wahlforschung (vgl. Falter), daß die NSDAP in der Endphase der Republik von allen Parteien am ehesten die soziologischen Kriterien einer Volkspartei erfüllte. Insofern hatte auch das Argument eine gewisse Berechtigung, auf Dauer könnte nicht gegen die mit Abstand erfolgreichste Partei und deren charismatischen „Führer" regiert werden. Das Faktum, daß die NSDAP erklärtermaßen angetreten war, die parlamentarische Demokratie zu überwinden, konnte schon deshalb nicht wirkungsvoll gegen sie ins Feld geführt werden, weil jene hochkonservativen Kräfte um den Reichspräsidenten, der über den Zutritt zum Reichskanzlerpalais entschied, selbst entschlossen waren, nach einer dreijährigen Phase letztlich unbefriedigender Präsidialkabinette die autoritäre Transformation von Staat und Gesellschaft voranzutreiben. Der Gedanke, die junge NS-„Volksbewegung", die die frühere Wählerschaft der „alten Rechten" inzwischen nahezu vollständig aufgesogen hatte, in diese Pläne einzubeziehen, lag zwar aus legitimatorischen Gründen nahe, stieß bei vorsichtigeren Verfechtern des Verfassungsumbaus jedoch auch auf Vorbehalte. Tatsächlich war, gerade weil die traditionelle Rechte

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über keine eigene Massenbasis verfügte, das nach langem Taktieren dann doch gewagte „Experiment" im Grunde schon gescheitert, noch ehe es am 30. Januar 1933 mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler begann. 3. Der Nationalsozialismus

an der

Macht

3.1. Unterschiedliche Kräfte aus deutschnationalem Bürgertum, Großagrariern, Wirtschaft, Bürokratie und Reichswehr hatten sich zuletzt für die Bündelung ihrer Interessen in einem „Kabinett der nationalen Konzentration" unter Einschluß der NSDAP bereitgefunden, in dem diese außer durch Hitler lediglich durch Hermann Göring (1893-1946) und Wilhelm Frick (1877-1946) vertreten war, letzterer allerdings in dem wichtigen Amt des Reichsinnenministers. Erklärte gemeinsame Absicht der Koalition war die Befreiung der deutschen Politik vom „ M a r x i s m u s " und die Abschaffung des parlamentarischen Systems. Entgegen den Wünschen der DNVP suchte Hitler aber zunächst eine plebiszitäre Bestätigung in Gestalt nochmaliger Wahlen, bei denen er angesichts der nun zur Verfügung stehenden staatlichen Propaganda- und Finanzmittel auf eine deutliche Verbesserung des im November 1932 abgesackten NSDAP-Ergebnisses hoffen konnte. Ehe der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 für die Außerkraftsetzung von Grundrechten durch die Verordnung „ Z u m Schutz von Volk und Staat" die Handhabe lieferte, verfolgten die Nationalsozialisten noch eine Taktik vorsichtiger Machteroberung und scheinbarer Legalität. Die dann aber sogleich einsetzende Verhaftungswelle gegen KPDFunktionäre und die massive Behinderung des Wahlkampfs auch von SPD und Zentrum steigerte sich nach der Reichstagswahl am 5. März 1933 zu wochenlangem ungehemmtem Terror, der sich unter dem erklärten Ziel der Monopolisierung der politischen Macht auf allen Ebenen (Reich, Länder, Gemeinden) zunehmend auch gegen die übrigen Parteien richtete. Parallel dazu erfolgte, teils unter Einsatz staatlicher Machtmittel von oben, teils auf Druck der Partei- und SA-Basis, die sogenannte Gleichschaltung nahezu aller gesellschaftlichen Gruppen, Vereine und Verbände. Bereits im Sommer 1933 war dieser Prozeß der politischen Formierung, der nicht zuletzt eine scharfe Zensur der Medien und die Ausschaltung sämtlicher Foren öffentlicher Kritik umfaßte, weit gediehen: Die Parteien und Gewerkschaften waren verboten (Gesetz vom 2. Mai 1933) oder hatten sich selbst aufgelöst, „unzuverlässige Elemente" und Juden waren aus dem Staatsdienst entfernt (Gesetz vom 7. April 1933), viele politische Gegner und kritische Intellektuelle waren geflohen, saßen in „Schutzhaft", in SA-„Bunkern" oder in den eilends errichteten Konzentrationslagern der SS („Schutz-Staffeln").

Die Geschwindigkeit und Effektivität, mit der sich diese Säuberung und Usurpation, die Ausweitung des „Führerprinzips" von der Partei auf Staat und Gesellschaft und die Eliminierung aller demokratischen Mechanismen vollzog, beruhte nicht allein auf dem Durchsetzungswillen der nationalsozialistischen Führung und der Gewaltbereitschaft ihrer „Alten Kämpfer", sondern auf der spezifischen „Verschränkung" (Mommsen) der NS-Führungsgruppen mit den traditionellen Eliten: Wesentliche Faktoren waren die anfangs wohlwollende Unterstützung, dann zunehmend hilflose Duldung dieser Vorgänge durch die Konservativen innerhalb und außerhalb des Kabinetts, durch Bürokratie und Wirtschaft — und das prinzipielle Einverständnis der Reichswehr. Hinzu kam die Begeisterung breiter Kreise der Bevölkerung über die in immer neuen Inszenierungen beschworene „nationale Erhebung"; diese Zustimmung fand — neben massenhaftem Opportunismus — ihren Niederschlag auch in einen Ansturm auf die NSDAP, deren Mitgliederzahl sich zwischen Januar 1933 und der im darauffolgenden Mai verhängten Aufnahmesperre auf 2,5 Millionen verdreifachte. Gegenstück der außerordentlich großen Bereitschaft zur Teilnahme an der „nationalen Erweckung" waren freilich außerordentliche Erwartungen an die Hitler-Regierung. Die dem pseudorevolutionären Taumel der ersten Monate deshalb unweigerlich folgende Ernüchterung angesichts zunächst weiter bestehender Massenarbeitslosigkeit,

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außenpolitischer Isolierung und wachsenden konservativen Disziplinierungsverlangens, insbesondere gegenüber der SA, deutete bereits die Kehrseite des noch im Aufbau steckenden „Führerstaates" an: seine Abhängigkeit von populären Erfolgen, deren Ausbleiben durch den charismatischen „Führer" und den Einsatz sowohl terroristischer wie propagandistischer Mittel zwar eine Zeitlang überbrückt, aber nicht auf Dauer ersetzt werden konnte. 3.2. Mit einem blutigen Doppelschlag gegen die Führung der SA, die auf eine „zweite Revolution" drängte, und gegen konservative Kritiker, die genau diese fürchteten, trieb Hitler mit Billigung der Reichswehr am 30. Juni 1934 die Stabilisierung der Diktatur voran. Seine Ernennung zum „Führer und Reichskanzler" und die Vereidigung der Reichswehr auf ihn sofort nach dem Tod von Reichspräsident Hindenburg am 2. August 1934 beschloß die Errichtung des „Führerstaates", die Hitler bezeichnenderweise in einem Plebiszit bestätigen ließ (fast 90 Prozent Ja-Stimmen). Die Phase der politischen „Machtergreifung" war damit definitiv abgeschlossen. In den folgenden Jahren konsolidierter Herrschaft ging es im Innern vor allem um die totalitäre Durchdringung und ideologische Mobilisierung der Gesellschaft. So deutlich sich diese Ansprüche des Regimes über den Bereich des Politischen hinaus auf das gesamte gesellschaftliche Leben und bis in die Privatsphäre hinein erstreckten, so unterschiedlich war doch auch der Grad ihrer Verwirklichung. Die Totalität der Herrschaft war eine Frage sowohl des Zeitpunkts wie des Gegenstandes. Eine streng totalitarismustheoretisch orientierte Analyse der NS-Zeit vermag deshalb weder die vielschichtige Lebenswirklichkeit noch die extreme Dynamik dieser Epoche zu erfassen. Für die große Mehrheit der „Volksgenossen" waren die mittleren Jahre des „Dritten Reiches" durchaus nicht in erster Linie geprägt von politischer Gewalt und Unterdrükkung. So wenig die Furcht vor der Gestapo und dem im Windschatten des NS-„Wirtschaftswunders" und des außenpolitischen Prestigegewinns ausgebauten Überwachungssystem auf jene Minderheiten beschränkt blieb, die dem Terror physisch ausgesetzt waren, so sehr bestimmten nun doch Regimeloyalität und „Führer"-Begeisterung, nicht Verweigerung und Widerstand die innere Siuation. Die Untergrundarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten war fast völlig zum Erliegen g e k o m m e n , und selbst die unspezifische, oft unpolitischen M o t i v e n entspringende, v o m Sicherheitsdienst der SS a b e r stets sorgfältig b e o b a c h t e t e Volksopposition w a r tendenziell zurückgegangen. D a ß gleichwohl nirgendwo Ansätze zu einer R ü c k k e h r in den 1 9 3 3 / 3 4 auf breiter F r o n t durchbrochenen N o r m e n s t a a t e r k e n n b a r wurden, im Gegenteil der „ M a ß n a h m e s t a a t " (Fraenkel) i m m e r weiter um sich griff, zur inflationären Bestellung von Sonderbeauftragten und zu i m m e r neuen institutionellen Wucherungen führte, werteten nur wenige als böses O m e n .

Die Schwierigkeit, aber auch das mangelnde Bemühen, den zerstörerischen Charakter des Regimes zu erkennen, gründete in der verwirrenden Alltagssituation, die bestimmt war durch die ständige Gleichzeitigkeit — nicht durch die Alternative - von Lockung und Zwang, Verführung und Verbrechen, Angeboten zur Integration und Drohung mit Terror. 3.3. Neuere wirkungsgeschichtliche Untersuchungen zeigen, daß die soziale Integration der deutschen Gesellschaft in der NS-Zeit insgesamt erheblich höher angesetzt werden muß, als eine auf den repressiven Apparat und seine Verfolgungsmechanismen konzentrierte Forschung nahelegt. Integrierend wirkte keineswegs allein die Verbesserung der materiellen Lage, sondern auch die beharrliche Arbeit des Regimes am sozialpsychologischen Uberbau: nicht nur die seit Beginn der rüstungsbedingten Hochkonjunktur steigenden betrieblichen Lohnneben- und die überbetrieblichen Sozialleistungen, die den offiziellen Lohnstopp unterliefen, oder etwa die (zumal dann während des Krieges) erweiterten Aufstiegschancen, sondern auch die unentwegt ventilierten Volksgemeinschafts-Parolen und die damit verbundenen, ebenso symbolischen wie suggestiven Aktionen (Winterhilfswerk, „Eintopfessen" usw.). Hinzu kam die Faszinations- und Mo-

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bilisationskraft des ob seiner zunehmenden außenpolitischen Erfolge enthusiastisch gefeierten „Führers". Mochten die Möglichkeiten des privaten Konsums schon aufgrund der teuren Autarkiebestrebungen begrenzt, im internationalen Vergleich bescheiden und im Fall des KdF-Wagens („Volkswagen") sogar ein unerfülltes Versprechen bleiben, so zehrten doch viele vom Glauben an die wiedergewonnene nationale Geschlossenheit und Größe. Zweifellos bedurfte der Nimbus der Volksgemeinschaft, ähnlich wie der des „Führers", der ständigen Aktualisierung. Doch indem diese erfolgte, wurde Wirkung erzielt: Stärker wohl in die Breite als in die Tiefe - aber das galt in gewisser Weise auch für die Politik der Ausgrenzung rassisch „Minderwertiger" und „Gemeinschaftsfremder", die mit der Ideologie einer Gemeinschaft auf völkischer Grundlage eng zusammenhing. Die neuere Forschung hat die Dimensionen des -»Rassismus und den Stellenwert der Bevölkerungs- und Rassenpolitik des „Dritten Reiches" akzentuiert. Dabei ist deutlich geworden, daß die nationalsozialistische Vision einer umfassenden „völkischen Erneuerung" den ideologischen Rahmen darstellte für die Praxis einer gesellschaftssanitären „Ausmerze", die 1933/34 mit der Erbgesundheits-Gesetzgebung und massenhaften Zwangssterilisationen eingeläutet wurde und nach dem verzweigten „Euthanasie"-Programm schließlich auch den Mord an den europäischen Juden ermöglichte.

Antisemitismus, Rassenbiologie und völkische „Lebensraum"-Utopien lagen im Kerngehäuse der NS-Weltanschauung eng beieinander; unter den Bedingungen des Krieges verschmolzen sie zu monströser Vernichtungskraft. Diese beruhte nicht zuletzt darauf, daß das Regime ideologische Uberzeugung und fanatischen politischen Willen mit den von wissenschaftlichen Experten bereitgestellten Handlungsangeboten moderner Sozialtechnik und Arbeitsteiligkeit zusammenband. 3.4. Seit Kriegsbeginn (1. September 1939) brach sich die weltanschauliche Dynamik des Nationalsozialismus immer stärker Bahn. Seine nach außen gerichtete Aggressivität führte nicht etwa zu einer Verringerung des ideologisch-politischen Druckes im Innern, sondern im Gegenteil auch dort zur forcierten „Gegnerbekämpfung" und zur Radikalisierung im Sinne der Verwirklichung oder wenigstens Anbahnung bislang zurückgestellter Weltanschauungs-Vorhaben. Ein Beispiel dafür waren die im Herbst 1940 (im Blick auf die vermeintlich schon bald bevorstehende großgermanische Nachkriegs-Ära) verkündeten sozialpolitischen Planungen der Deutschen Arbeitsfront. Wirkte das vorgeschlagene einheitliche „Versorgungswerk" und der Abbau von Statusunterschieden zwischen Arbeitern und Angestellten fraglos auf viele attraktiv und modern, so stachen doch die rassistische Grundstruktur und ein auf rücksichtslose Leistungsmaximierung ausgerichteter Biologismus hervor. In der Logik der Ideologen gehörte beides zusammen - und zu den Voraussetzungen deutscher Größe nach dem „Endsieg": Denn der mit unerbittlicher Härte geführte Krieg gegen die Sowjetunion sollte den „Lebensraum" für die Verwirklichung jener rassenimperialistischen Herrschaftsideen erbringen, in dem die Deutschen die Rolle des Herrenvolkes auszufüllen haben würden. Gerade diese in ihrer Vernichtungsdynamik immer widersinniger werdende Kriegführung und Besatzungspolitik in Polen und in der Sowjetunion, wo bezeichnenderweise auch der Mord an den Juden seine Tatorte fand, ist es freilich, die die Vermutung einer wohl strukturellen Unfähigkeit des Nationalsozialismus nahelegt, zu einer wie auch immer gearteten Begrenzung seines Herrschaftsanspruchs und damit zu einer Restabilisierung finden zu können. Diese Unfähigkeit war das Ergebnis einer sich allein durch Bezugnahme auf das Institut des „Führerwillens" legitimierenden Machtausübung weitgehend verselbständigtet Subsysteme und Satrapien, die an die Stelle des vielfach parasitär zersetzten Staatsapparates getreten waren oder diesen überlagert hatten. Geregelte Politikformulierung und rationaler Interessenausgleich scheiterten in dem zu keinem Zeitpunkt dem monolithischen Selbstbild genügenden „Führerstaat" zusehends an seiner oft beschriebenen polykratischen Zersplitterung. Im Innern und mehr noch im

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Äußeren resultierte daraus eine völlige Uberdehnung der politischen bzw. militärischen Möglichkeiten. Gleichwohl w a r es im engeren Sinne weder diese Hybris noch g a r das Handeln innerer Gegenkräfte, die d e m Nationalsozialismus ein E n d e setzten, sondern die militärische Anstrengung seiner äußeren Gegner. 3 . 5 . Die Wirklichkeit des „Dritten R e i c h e s " w a r geprägt durch eine nicht aufzulösende Verknüpfung von technischer M o d e r n i t ä t und reaktionärer Vision. Unbehindert von der Rückwärtsgewandtheit vieler seiner ideologischen Postulate bediente sich der Nationalsozialismus der modernen —»Technik und trieb auch ihre Durchsetzung v o r a n . Ein verbreitetes Verlangen nach materieller Teilhabe und sozialer - » E m a n z i p a t i o n wurde beantwortet mit permanenter klassenübergreifender Mobilisierung und dem expliziten Verzicht auf politische N o r m a l i t ä t . D a s Ergebnis w a r eine Gesellschaft im A u s n a h m e zustand (vgl. T R E 13,36,3ff). Die d a d u r c h dann tatsächlich begünstigte Aufweichung überkommener sozialmoralischer Bindungen setzte e n o r m e Energien frei. Diese beförderten die soziale und ö k o n o m i s c h e Modernisierung ebenso wie die ideologische T a t - und d a m i t einen singulären Prozeß der Kulturentledigung (vgl. T R E 2 0 , 2 0 2 , 4 1 ff), der T o d und Leid über Millionen von M e n s c h e n brachte. Im Abstand eines halben J a h r hunderts erscheint uns der Nationalsozialismus als Versuch, in der Inhumanität einer rassischen Ordnung den Herausforderungen der modernen Massengesellschaft zu begegnen. Literatur Die nachstehende Auswahl aus einer international kaum noch zu übersehenden Fülle von Veröffentlichungen zu Nationalsozialismus und „Drittem Reich" legt den Schwerpunkt auf monographische Darstellungen in deutscher Sprache. Laufende Orientierung, insbesondere auch über die hier nicht berücksichtigte Zeitschriftenliteratur, bietet die vom Institut für Zeitgeschichte seit 1953 herausgegebene „Bibliographie zur Zeitgeschichte" (Beiheft der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte [VZG]). Allgemein: Hannah Arendt, Elemente u. Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1955 = 1975. - Martin Broszat, Der Nationalsozialismus. Weltanschauung, Programm u. Wirklichkeit, Stuttgart 1960. - Ders./Norbert Frei (Hg.), Das Dritte Reich im Überblick. Chronik, Ereignisse, Zusammenhänge, München/Zürich 1989 3 1992. - Hans Buchheim, Totalitäre Herrschaft. Wesen u. Merkmale, München 1962. - Allan Bullock, Hitler, Düsseldorf 1953 Kronberg 1977. - Joachim C. Fest, Hitler, Berlin 1973 Frankfurt/M. 1979. - Sebastian Haffner, Anm. zu Hitler, München 1978 Frankfurt/M. 2 1983. - Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich, München 1979 '1991. - Peter Hüttenberger, Die Gauleiter. Stud. zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969. - Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsintcrpretationen u. Kontroversen im Überblick, Reinbek 2 1994. - Dietrich Orlow, The History of the Nazi Party, 2 Bde., Pittsburgh 1969/1973. - Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland u. Italien im Vergleich, Hamburg 1976. - Gerhard Schreiber, Hitler. Interpretationen 1923-1983, Darmstadt 1984 '1988. - Josef Peter Stern, Hitler. Der Führer u. das Volk, München 1978. - Rainer Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, Hamburg 1987 Stuttgart *1991. Zul.u. 2.: William Sheridan Allen, „Das haben wir nicht gewollt!". Die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930-1935, Gütersloh 1966. - Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1955 Düsseldorf 5 1984. - Martin Broszat, Die Machtergreifung. Der Aufstieg der NSDAP u. die Zerstörung der Weimarer Republik, München 1984 '1990. - Ders. u.a. (Hg.), Deutschlands Weg in die Diktatur, Berlin 1983. - Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991. - Rudolf Heberle, Landbevölkerung u. Nationalsozialismus, Stuttgart 1963. - Konrad Heiden, Gesch. des Nationalsozialismus, Berlin 1932. - Ders., Geburt des Dritten Reiches, Zürich 1934. - Heinz Höhne, Die Machtergreifung, Reinbek 1983. - Wolfgang Horn, Führerideologie u. Parteiorganisation in der NSDAP (1919-1924), Düsseldorf 1972. - Gotthard Jasper, Die gescheiterte Zähmung. Wege zur Machtergreifung Hitlers, Frankfurt/M. 1986. - Udo Kissenkoetter, Gregor Straßer u. die NSDAP, Stuttgart 1978. - Werner Maser, Die Frühgesch. der NSDAP. Hitlers Weg bis 1924, Frankfurt/M. 1965 = 1981. - Erich Matthias/Rudolf Morsey (Hg.), Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf 1960 = 1984. - Hans Mommsen, Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , Berlin 1990. - Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963 '1984. - Gerhard Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1975. - Walter Struve, Aufstieg u. Herrschaft des Nationalsozialismus in einer industriellen Kleinstadt. Osterode am Harz 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , Essen 1992.

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N a t i o n a l s o z i a l i s m u s u n d Kirchen

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Forschungsgeschichte

und

Forschungsaufgaben

Begriff

D i e G e s c h i c h t e d e r e v a n g e l i s c h e n K i r c h e in D e u t s c h l a n d w ä h r e n d d e r Z e i t d e r n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n H e r r s c h a f t ( — » N a t i o n a l s o z i a l i s m u s ) ist b i s l a n g f a s t i m m e r u n t e r d e r G e s a m t ü b e r s c h r i f t Kirchenkampf dargestellt worden.1 Dieses Wort w a r im Frühs o m m e r 1933 a u f g e k o m m e n u n d h a t t e schnell e i n e s e h r w e i t e V e r b r e i t u n g g e f u n d e n . A n f a n g s b e z o g m a n es a u s s c h l i e ß l i c h a u f d i e i n n e r k i r c h l i c h e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n ( „ K i r c h e n w i r r e n " : Gauger), die d u r c h d a s Vordringen d e r Kirchenpartei der - » D e u t s c h e n C h r i s t e n in d i e k i r c h l i c h e n L e i t u n g s g r e m i e n u n d L e i t u n g s ä m t e r a u s g e l ö s t w o r d e n w a r e n (s. u . 4.2.). S c h o n A n f a n g 1934 k o n n t e e i n e r d e r H a u p t b e t e i l i g t e n a n d i e s e m K a m p f in d e r K i r c h e um d i e K i r c h e , M . —•Niemöller, e r k l ä r e n , d a ß „ d e r K a m p f jetzt a b g e b r o c h e n " sei u n d r ü c k b l i c k e n d d a s G e s c h e h e n m i t d e n W o r t e n c h a r a k t e r i s i e r e n : „Es ist nach wie vor unsere Überzeugung: der Kampf, der seit dem Sommer 1933 gegen ein Gewaltregiment in der Deutschen evangelischen Kirche geführt worden ist, war und ist noch ein Ringen um die bekenntnismäßige Haltung und das evangeliumsgemäße Handeln unserer Kirche. Er begann damit, d a ß auf Synoden mit Majorität Gesetze beschlossen wurden, die den Bekenntnisstand der Kirche gegen die ernsten und gewissensmäßig begründeten Einwände einer erheblichen Minderheit kurzerhand abänderten" (JK 2 [1934] 140). Als B e z e i c h n u n g f ü r d i e s e w ä h r e n d d e r J a h r e 1 9 3 3 / 3 4 in d e r e v a n g e l i s c h e n K i r c h e sich e r e i g n e n d e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n u m d i e L e i t u n g d e r K i r c h e , i h r e O r d n u n g u n d i h r e n B e k e n n t n i s s t a n d , ist d e r Begriff Kirchenkampf d u r c h a u s z u t r e f f e n d ; als k i r c h e n g e s c h i c h t l i c h e E p o c h e n b e z e i c h n u n g f ü r d i e G e s a m t h e i t aller d i e K i r c h e n b e t r e f f e n d e n E r e i g n i s s e in d e n J a h r e n z w i s c h e n 1933 u n d 1945 k a n n e r h i n g e g e n n i c h t m e h r v e r w e n d e t w e r d e n . V o r a l l e m z w e i G r ü n d e z w i n g e n z u m Verzicht a u f d e n ü b e r J a h r z e h n t e h i n w e g in d e r F o r s c h u n g fest e t a b l i e r t e n Begriff: 1. Da es vergleichbare innerkirchliche Auseinandersetzungen in der Römisch-katholischen Kirche in Deutschland während der nationalsozialistischen Herrschaft nicht gab, engt der Begriff Kirchenkampf die historiographische Perspektive auf die evangelische Kirche ein; die Geschickte des deutschen Katholizismus zwischen 1933 und 1945 kann nicht unter der Überschrift Kirchenkampf dargestellt werden. 2. Völlig untauglich ist der Begriff Kirchenkampf, wenn mit ihm die Gesamthaltung der Kirchen in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur bezeichnet werden soll. N u r kleine bis kleinste Segmente des vielschichtigen Geschehens können als „ K a m p f " , als „resistentes Verhalten", als „Opposition" oder als „Widerstand" gegen die nationalsozialistische Herrschaft bezeichnet werden ( - • Widerstandsrecht). Weil das W o n Kirchenkampf bereits eine

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Nationalsozialismus und Kirchen

wertende Deutung des Geschehens in sich enthält, ist es als zeithistorische Epochenbezeichnung nicht verwendbar.

Die neuere Kirchliche Zeitgeschichtsforschung (-»Zeitgeschichte, Kirchliche) gibt dem Zeitabschnitt zwischen 1933 und 1945 die jede vorauslaufende Deutung vermeidende Uberschrift Nationalsozialismus und Kirchen. Durch die Zusammenstellung dieser beiden Worte wird ohne jede Wertung der Forschungsgegenstand benannt. Zu erforschen sind: 1. Die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten vor und nach der Übernahme der Regierungsverantwortung am 30. Januar 1933 und 2. die Haltung, die beide großen christlichen Kirchen zum Nationalsozialismus als -»Ideologie (bzw. als -»Weltanschauung) und als Herrschaftssystem eingenommen haben; darin eingeschlossen ist die Frage, wie die Kirchen auf die sie betreffenden Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung reagierten. Es liegt auf der Hand, daß es in beiden Bezugsfeldern eine Fülle von variablen Phänomenen gegeben hat, die sich zudem unter den jeweiligen politischen Rahmenbedingungen ständig veränderten. 1.2. Forschungsgeschichte 1.2.1. Die ersten Veröffentlichungen nach 1945, in denen über die Geschichte der Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus berichtet wurde, waren aus dem Blickwinkel von Beteiligten und Betroffenen geschrieben worden. Man versuchte entweder apologetisch die eigene Haltung in den Jahren zwischen 1933 und 1945 zu erklären und zu rechtfertigen oder man wollte „bezeugen, daß Gott heute noch Wunder tut, und daß Er durch seine Wundermacht eine müde und satte, kampfentwöhnte und leidensscheue Kirche gezwungen hat, eine bekennende Kirche zu werden" (W. Niemöller, Kampf u. Zeugnis 9). Die Herausgabe erster Dokumentensammlungen (Wolf, Zeugnisse [1946-1947]; Beckmann, KJ 1933-1944 [1948]; Hermelink, Kirche im Kampf [1950]) zeigte das früh einsetzende Bemühen, neben die persönlichen Erlebnis- und Erfahrungsberichte objektive Informationen zu stellen. Dennoch stand der Streit für und wider die „Kirchenkampflegenden" (Baumgärtel) bis in die Mitte der 50er Jahre im Vordergrund fast aller Veröffentlichungen zum „Kirchenkampf im Dritten Reich". 1.2.2. Eine erste deutliche Zäsur bildet in der Forschungsgeschichte die Berufung von kirchlichen Kommissionen, denen der Auftrag erteilt wurde, die jüngste Kirchengeschichte wissenschaftlich zu erforschen. So berief der Rat der EKD (TRE 10,672,43 ff) im Jahre 1955 eine Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit. Diese Kommission, deren erster Vorsitzender der Kirchenhistoriker Kurt Dietrich Schmidt (1896—1964) war, sollte die Voraussetzungen für eine später zu schreibende Geschichte der Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus schaffen. Dazu gehörten die Registrierung, Sicherung und Archivierung des nicht von Kirchenbehörden verwalteten Aktenmaterials, die Sammlung und Sichtung von Nachlässen sowie die Befragung noch lebender Beteiligter aller kirchenpolitischen Gruppierungen. Darüber hinaus regte die Kommission Einzeluntersuchungen zum Verlauf der Synoden der Bekennenden Kirche (BK) und zu anderen Themen an. In der Veröffentlichungsreihe Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes (AGK) erschienen bis 1975 29 Bände, die 1984 durch einen Registerband (Grünzinger-Siebert) erschlossen wurden. In einer Ergänzungsreihe (AGK.E) wurden Untersuchungen veröffentlicht, die sich mit Sonderentwicklungen (auch außerhalb Deutschlands) beschäftigten (bis 1978 11 Bde.). Die personelle Zusammensetzung der „Kirchenkampfkommission" - es handelte sich anfangs ausschließlich um Kirchenvertreter, die zwischen 1933 und 1945 selbst an exponierter Stelle gestanden hatten - brachte es mit sich, d a ß bei der Auswahl der Forschungsgegenstände Themen aus dem Bereich der BK bevorzugt wurden. „Das starke positionelle Legitimationsinteresse der Kirchenkampf-Geschichtsschreibung [in dieser Phase], der es immer auch um den .Ertrag' des Kirchenkampfes ging, implizierte, d a ß die historische Wahrheit in ihrer Einbindung in die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit nicht immer in ihrer Komplexität erkannt und analysiert wurde, zumal wenn die Vorentscheidungen im Hinblick auf die Resultate historischer Untersuchung bereits feststanden" (Nicolaisen: EvErz 42 [1990] 414).

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Die 1970 erfolgte Umbenennung der EKD-Kommission in Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte und der etwa gleichzeitig einsetzende Generationenwechsel unter den evangelischen Kirchenhistorikern führten zu einer Erweiterung des Forschungszeitraums und des Forschungsinteresses. Die Jahre 1933 bis 1945 wurden nicht mehr als ein in sich abgeschlossener Zeitraum angesehen, sondern als integraler Teil der gesamten Kirchlichen Zeitgeschichte, die schwerlich als bloße Vor- und Nachgeschichte des „Kirchenkampfes" betrachtet werden kann. Die neue Veröffentlichungsreihe der EKD-Kommission (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte [AKZG], Reihe A Quellen, B Darstellungen, bisher 28 Bde.) nimmt Untersuchungen zum gesamten Zeitraum und zu allen kirchenpolitischen und theologischen Positionen auf.

1.2.3. Die katholische Deutsche Bischofskonferenz (s. TRE 19,417,6-14) berief im Jahr 1962 eine Kommission für Zeitgeschichte zur „Anregung, Förderung, Durchführung und Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten über die Geschichte des deutschen Katholizismus im 20. Jahrhundert mit ihren Wurzeln im 19. Jahrhundert". Diese Formulierung zeigt, daß man auf katholischer Seite von Anfang an nicht allein die Periode der Herrschaft Hitlers behandeln wollte, sondern sich vornahm, umfassendere Problemstellungen zu erörtern, weil sonst „kein befriedigendes Verständnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts erwartet werden" könne. 2 Dennoch ist die Mehrzahl der Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte (VKZG, Reihe A Quellen, B Forschungen, bisher 42 u. 62 Bde.) Themen aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gewidmet. 1.2.4. Mitte der 70er Jahre waren die vorbereitende Quellencrschlicßung und die Klärung von wesentlichen Geschehensabläufen so weit vorangeschritten, d a ß nahezu gleichzeitig zwei große Gesamtdarstellungen mit ihrem Erscheinen beginnen konnten. Der Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Meier (geb. 1927) veröffentlichte 1976 den ersten Band des Werkes Der evangelische Kirchenkampf (1984 mit Bd. 3 abgeschlossen). Meiers Gesamtdarstellung zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Entwicklungen in der Reichskirche ebenso wie in den einzelnen -»Landeskirchen berücksichtigt. Der Tübinger Kirchenhistoriker Klaus Scholder (1930-1985) brachte 1977 den ersten Band einer Geschichte beider Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus heraus (Die Kirchen und das Dritte Reich). Der Untertitel Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934 deutete Scholders Periodisierungsvorschlag für die gesamte Kirchliche Zeitgeschichte an; der Untertitel des 1985 postum erschienenen zweiten Bandes, Das Jahr der Ernüchterung 1934. Barmen und Rom, hob die von Scholder programmatisch vertretene Konzentration der Darstellung auf die 1. Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche (s.u. 4.2.8.) und auf das Reichskonkordat (s.u. 4.3.2.) hervor (Lit. zur Diskussion der Thesen Scholders bei Mehlhausen: VF 34 [1989] 67f).

1.2.5. Nach dem Erscheinen dieser ersten maßstabsetzenden Gesamtdarstellungen — zu denen auf katholischer Seite Aufsatzsammlungen traten, die den gesamten Zeitraum im Überblick erschlossen (Albrecht; Gotto/Repgen) - ist die Forschung in großer Breite weiter vorangeschritten. Das Thema Nationalsozialismus und Kirchen blieb keineswegs die Domäne der Kirchenhistoriker. Auch Wissenschaftler anderer historischer Spezialdisziplinen wandten sich der Thematik mit unterschiedlichen Methoden zu. Die Quellenerschließung und die Klärung von Einzelproblemen wurden durch Zentenar-Gedenkfeiern (etwa: Barmen 1934-1984) kräftig gefördert. Zudem gaben Landeskirchen, kirchliche Einrichtungen und Werke die Erforschung ihrer Institutionengeschichte bei eigens berufenen historischen Kommissionen in Auftrag. Besonders brisante Fragenkomplexe, wie etwa die Haltung der Kirchen zu den sog. Euthanasieaktionen (-»Euthanasie), zur Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums (s.TRE 3,161,42ff; 17,367,42ff; 390,19ff), zur Entnazifizierung (vgl. Vollnhals) und zu den KriegsverbrecherProzessen der Alliierten (vgl. Klee), wurden und werden unter großer öffentlicher Beteiligung nicht nur von Fachhistorikern leidenschaftlich und kontrovers diskutiert. 1.3. Forschungsaufgaben Das gesamte Schrifttum zum Thema Nationalsozialismus und Kirchen ist so umfangreich geworden, daß es auch von Spezialbibliographien nicht mehr vollständig erfaßt werden kann. Dennoch gibt es Desiderate der Forschung:

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Es fehlen Biographien der Hauptbeteiligten aus allen kirchenpolitischen Lagern; noch sind nicht einmal alle wichtigen Nachlässe gesichert. Es fehlen ferner detaillierte Studien über Entstehung, Organisation, Konzeption, Aktivität und personelle Zusammensetzung wichtiger kirchlicher Gremien und Amtsstellen (vgl. Braun/Nicolaisen, Verantwortung II,XXIII; 5 5 6 - 5 6 2 ) . Es müßten Gesamt- und Übersichtsdarstellungen erarbeitet werden, die das Geschehen nicht nur von der kirchlichen Leitungsebene her betrachten, sondern die Alltags- und Mentalitätsgeschichte der Kirchenglieder zu erfassen versuchen. Zur Frömmigkeitsgeschichte des Zeitraums sowie zu Einzelfragen, wie etwa der Entwicklung der Predigt, gibt es noch keine Untersuchungen. Die Erforschung der Rolle der Frauen im Kirchenkampf steht noch in den Anfängen (vgl. Schröder/Nützel). Auch für die Thematik Kirchenkampf und Ökumene (vgl. Boyens; Schjorring) gibt es noch viele Desiderate. Ferner hat die anfängliche Konzentration der Forschung auf das Jahr 1933 - und hier wiederum auf theologische und theologiepolitische Fragen - bis heute zur Folge, daß die frühe Vorkriegszeit sowie die Kriegszeit wenig bekannt sind; dasselbe gilt für die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte der Christen in Deutschland im gesamten Zeitraum (vgl. KoGe l,VIIf). Schließlich ist der christlich motivierte Widerstand gegen den Nationalsozialismus - auch in den während des Krieges besetzten Ländern - bislang nur im Blick auf einige herausragende Persönlichkeiten (etwa D. -»Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi [1902-1945] und sein Kreis) untersucht worden (Übersichten bei Meier 111,587-616; Schmädeke/Steinbach [Hg.], Widerstand 2 2 7 - 3 2 6 ) .

2. Die Religionspolitik

der NSDAP

vor

1933

2.1. Innerhalb der politischen Zielsetzungen der NSDAP hatte in der Frühzeit der „Bewegung" die Stellung der Partei zu den beiden großen Konfessionskirchen in Deutschland nur eine untergeordnete Position eingenommen. Das 25 Punkte umfassende Parteiprogramm vom 24. Februar 1920 forderte in Art. 24 „die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- oder Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen". Auf diese Grundsatzforderung folgte der vielfältige Interpretationen zulassende Satz: „Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden" (Huber/Huber IV,438 A.7). Hitler wollte auf seinem Weg zur politischen M a c h t Konflikte mit den Kirchen vermeiden. Er betonte seine Indifferenz gegenüber theologischen und religiösen Streitfragen, sofern es sich nicht um das -•Judentum handelte. In Mein Kampf hatte er erklärt: „Es konnte in den Reihen unserer Bewegung der gläubigste Protestant neben dem gläubigsten Katholiken sitzen, ohne je in den geringsten Gewissenskonflikt mit seiner religiösen Uberzeugung geraten zu müssen". 3 2.2. Radikale kirchenkritische und antichristliche Thesen und Programme einzelner Parteigenossen wurden schon vor 1933 von der Parteiführung abgelehnt. Im Blick auf die Wähler - vor allem aus den protestantischen Bevölkerungskreisen - sollte es hier zu keinen unnötigen Konfrontationen kommen. So mußte Alfred Rosenberg ( T R E 8 , 5 5 7 , 3 5 - 4 1 ) sein 1930 erschienenes Werk Der Mythus des 20. Jahrhunderts im Vorwort und in einem Artikel im Völkischen Beobachter ausdrücklich als „Privatmeinung des Verfassers" bezeichnen, für die die Partei nicht verantwortlich gemacht werden könne. Auch zu besonders profilierten Vertretern der -»Deutschgläubigen Bewegungen ließ Hitler eine Trennlinie ziehen. Der thüringische NS-Gauleiter Arthur Dinter (1876-1948), der eine völkisch-freireligiöse Deutsche Volkskirche gegründet hatte und mit provozierenden antikatholischen Thesen über Religion und Nationalsozialismus hervorgetreten war, wurde nach einem langwierigen Verfahren 1928 aus der Partei ausgeschlossen. Damit hatte sich die Partei von einem Repräsentanten jener völkischen Tradition getrennt, „aus der sie 1919 entstanden war, der sie ihre Weltanschauung, ihre Grundlagen und ihre Ziele verdankte" (Scholder 1,122). Hinter dieser Entscheidung stand bei Hitler allerdings kein Abrücken von den alten Grundüberzeugungen, sondern die pragmatische Einsicht, daß theoretische Auseinandersetzungen über Weltanschauungsfragen der Partei auf ihrem Weg zur Macht nur schaden könnten.

2.3. Als die Nationalsozialisten seit Anfang der 30er Jahre in den Parlamenten mit immer größer werdenden Fraktionen vertreten waren, kam es zu heftigen Zusammenstößen mit den Abgeordneten der Zentrumspartei (-»Parteien), denen die Nationalso-

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zialisten -»Ultramontanismus sowie die Vermischung von Politik und Religion vorwarfen. Die NSDAP lehnte bis 1933 alle Staatskirchenverträge (-»Konkordate) grundsätzlich ab, weil solche Verträge in Staat und Kirche gleichgestellte Partner sehen. Demgegenüber vertrat die NSDAP den kirchenpolitischen Grundsatz, das Verhältnis zwischen -»Kirche und Staat müsse auf dem Weg der Gesetzgebung geklärt werden, weil auch dem nachrevolutionären Staat die Kirchenhoheit zustehe. Diese Argumentation wurde nicht nur gegen den „politischen Katholizismus" geltend gemacht, sondern - etwas abgemildert - auch gegenüber der evangelischen Kirche. Als im Preußischen Landtag nach jahrelanger Vorarbeit im Mai 1931 der Vertrag des Freistaates Preußen mit den Evangelischen Landeskirchen zur Abstimmung stand (Huber/Huber IV,705-722), erklärte der NSDAPFraktionssprecher, man achte die Rechte der christlichen Kirchen, sei aber der Meinung, „daß es Sache des Staates, und zwar des nationalsozialistischen Staates, ist, die Kirchen und ihre Interessen zu schützen und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche nach den Grundsätzen des Deutschtums und des Christentums zu ordnen". 4 3. Stellungnahmen

der Kirchen zum Nationalsozialismus

vor 1933

3.1. Katholische Kirche Die Katholische Kirche hat seit Mitte der 20er Jahre ihre Mitglieder in offiziellen Stellungnahmen vor der Weltanschauung des Nationalsozialismus gewarnt. Im Februar 1931 wurde eine Pastorale Anweisung des bayerischen Episkopats veröffentlicht, in der es hieß, der Nationalsozialismus setze „eine neue Weltanschauung an die Stelle des christlichen Glaubens". Art. 24 des Parteiprogramms wolle „das ewig gültige christliche Sittengesetz an dem Moralgefühl der gemanischen Rasse" nachprüfen und stehe somit „im Widerspruch mit der christlichen Gesellschaftslehre . . . Die Bischöfe müssen also als Wächter der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre vor dem Nationalsozialismus warnen, solange und soweit er kulturpolitisch Auffassungen kundgibt, die mit der katholischen Lehre nicht vereinbar sind". Man verbot die „Teilnahme von Nationalsozialisten an gottesdienstlichen Veranstaltungen in geschlossenen Kolonnen mit Uniform und Fahne". Aktiven Nationalsozialisten wurden Kirchenstrafen angedroht (Huber/ Huber IV,438). Eine Instruktion der Fuldaer Bischofskonferenz (TRE 19,417,4ff) vom 17. August 1932 erklärte „die Zugehörigkeit zu dieser Partei [NSDAP] für unerlaubt" ( a . a . O . 454). Bis zum Zeitpunkt der Machtübernahme Hitlers haben die katholischen Bischöfe insgesamt keinen Zweifel daran gelassen, daß es zwischen ihnen und dem Nationalsozialismus als Weltanschauung eine offene Gegnerschaft gebe, wenn sich auch der Tenor der Stellungnahmen unterschied: Der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, Adolf Kardinal Bertram (1859-1945), bevorzugte abgrenzende Aussagen lehrhaften Inhalts, während die bayerischen Bischöfe Anweisungen für die Seelsorge in Einzelfällen geben wollten. 3.2. Evangelische Kirche Die evangelischen Kirchenleitungen bemühten sich, ihre während der gesamten Weimarer Zeit eingenommene neutrale Haltung „über den Parteien" (Wright) auch gegenüber der NSDAP einzuhalten. Vor 1933 wurden keine grundsätzlichen Erklärungen zum Nationalsozialismus abgegeben. Die Stellungnahmen einzelner evangelischer Theologen zum Nationalsozialismus im gleichen Zeitraum reichten von wenigen entschiedenen Ablehnungen bis zur vorbehaltlosen Zustimmung. 3.2.1. Als namhafter Vertreter der -»Religiösen Sozialisten erklärte P. -»Tillich 1932: „Ein Protestantismus, der sich dem Nationalsozialismus öffnet und den Sozialismus verwirft, ist im Begriff, wieder einmal seinen Auftrag an der Welt zu verraten" (Huber/ Huber IV,819). Auf der anderen Seite des breiten Meinungsspektrums im deutschen Gesamtprotestantismus standen jene Theologen, die das völkische Gedankengut des Nationalsozialismus bejahten, in ihm die Chance für neue volksmissionarische Aktivi-

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täten sahen und mit der Kirchenpartei -*Deutsche Christen ( D C ) seit 1931 in die kirchlichen Leitungsgremien einzuziehen begannen, um d o r t nach d e m „ F ü h r e r p r i n z i p " den Aufbau einer Reichskirche durchzusetzen. Eine breite mittlere G r u p p e stimmte von einer national-konservativen Position aus den Zielen der Politik Hitlers zu, insbesondere der Frontstellung gegen - » K o m m u n i s m u s und parlamentarischen —»Pluralismus. D e r -»Antisemitismus der Nationalsozialisten w u r d e zumindest stillschweigend toleriert. Wahlanalysen belegen, d a ß die N S D A P in überwiegend protestantischen Gebieten ihre größten Erfolge hatte (vgl. Falter). 3.2.2. Charakteristisch für die Haltung vieler protestantischer Theologen zum Nationalsozialismus war, daß man sich durch ihn dazu herausgefordert fühlte, bestimmte theologische Sachfragen mit großer Intensität neu zur Diskussion zu stellen. Weil der Nationalsozialismus als Kraftquellen der Nation Blut, Boden, Geschichte und Religion hochschätzte und geradezu für heilig erklärte, erhielten die theologischen Fragen nach der Bedeutung einer Theologie der Schöpfungsordnungen (-»Schöpfer/Schöpfung; vgl. T R E 13,130-132) sowie nach der -»Offenbarung Gottes in der Geschichte (vgl. T R E 9,496,40ff) besonderes Gewicht (vgl. Klotz [Hg.], Kirche u. das dritte Reich; Künneth/Schreiner [Hg.], Nation vor Gott). So deutete Walter Künneth (geb. 1901) 1932 die nationalsozialistische Bewegung geschichtstheologisch mit den Worten: „Der Nationalsozialismus ist die aus deutscher Not geborene Bewegung der Nation . . . Das Ringen um ein anderes - drittes - Reich lebt aus der tiefsten Sinndeutung der deutschen Sendung in der Geschichte, die geschichtstheologisches Denken nicht ohne Fügung Gottes zu beurteilen vermag" (Huber/Huber IV,818). Bekannte Theologen wie P. -»Althaus, F. -»Brunstäd, W. -»Eiert, F. —»Gogarten und E. -»Hirsch entwickelten ihre Theologie in den 30er Jahren in einem durchaus Affinität signalisierenden Dialog mit völkischem Gedankengut. 3.2.3. Als im Juni 1 9 3 2 bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen S A - M ä n nern und Rotfront-Verbänden der K P D in Altona siebzehn Menschen getötet worden waren, nahmen die Altonaer Pastoren dieses Ereignis zum Anlaß, um ein Wort und Bekenntnis in der Not und Verwirrung des öffentlichen Lebens zu verfassen und es feierlich im Gottesdienst vor die Öffentlichkeit zu bringen. Hauptinitiator dieser kirchlich-theologischen Erklärung zur innenpolitischen Situation war H. -»Asmusscn. Das Altonaer Bekenntnis nahm zwar zum Nationalsozialismus nicht explizit Stellung, es wollte aber aufdecken, „wo der Staat, die Parteien und die einzelnen die von Gott gewollte und gesetzte Ordnung durchbrochen haben . . . Können wir die Not auch nicht beheben, so können wir doch, mit unter der Not des Volkes stehend, unserm Volk den Dienst erweisen, daß wir dies Wort von der rechten Ordnung sagen." Die Kirche dürfe sich in ihrer Verkündigung keinem „Einfluß einer politischen Macht unterstellen". Parteien, die „zu politischen Konfessionen geworden" seien, gefährdeten „nicht nur den Glauben an Gott, sondern auch den Bestand des Staates . . . Das alles kommt daher: Wir wissen nicht mehr, daß Christus, der Herr, verheißen hat, was dem Leiden der Zeit ein Ende bereitet, und daß er allein es geben wird" (Huber/Huber IV,823-826). M i t diesen Appellen zur Selbstbesinnung a u f das Wesen und den Auftrag der Kirche eröffnete das Altonaer Bekenntnis die Reihe der „grundsätzlichen Äußerungen zur Kirc h e n f r a g e " (Schmidt; vgl. T R E 1 3 , 4 3 3 , 1 5 f f ) , deren Argumentationsstruktur für die Auseinandersetzungen in der evangelischen Kirche mit den innenpolitischen Ereignissen in der Folgezeit kennzeichnend geworden ist: Weil m a n sich aus theologischen Gründen zu einer direkten Stellungnahme zu den konkreten „Schäden des öffentlichen L e b e n s " nicht legitimiert fühlte und weil m a n sich aus politischen Gründen auf eine gemeinsame Erklärung nicht einigen konnte, verlagerte m a n die Auseinandersetzungen in den Bereich eines kontroversen Diskurses über die Lehre von der - » K i r c h e . 5 4. Nationalsozialismus

und Kirchen

1933-1934

4.1. Die Kirchenpolitik

der Regierung

Hitlers

Hitler hat in seinen ersten öffentlichen Erklärungen als Reichskanzler kirchenpolitische Aussagen von so weitreichender Bedeutung g e m a c h t wie keiner seiner Vorgänger während der W e i m a r e r Z e i t . Schon im „ A u f r u f der Reichsregierung an das Deutsche V o l k " (1. F e b r u a r 1933) versicherte er, „die nationale R e g i e r u n g . . . wird das Christentum

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als Basis unserer gesamten Moral . . . in ihren festen Schutz nehmen" (Nicolaisen, Dokumente 1,1). Vor den Reichstagswahlen im März 1933 war Hitler darum bemüht, der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, daß eine an christlichen Grundwerten orientierte Regierung die Verantwortung im Staat übernommen habe. Aber auch in der auf den „Tag von Potsdam" folgenden Regierungserklärung (23. März 1933) nannte er die beiden christlichen Konfessionen „wichtigste Faktoren der Erhaltung unseres Volkstums". Er sagte zu, daß die von den Ländern geschlossenen Kirchenverträge respektiert und die Rechte der Kirchen „nicht angetastet werden" sollten. Er erwarte allerdings, „ d a ß die Arbeit an der nationalen und sittlichen Erhebung unseres Volkes, die sich die Regierung zur Aufgabe gestellt hat, umgekehrt die gleiche Würdigung erfährt." Ausdrücklich hob Hitler hervor, daß den Kirchen „in Schule und Erziehung" der „ihnen zukommende Einfluß" eingeräumt werde. Die Sorge der Regierung gelte „dem aufrichtigen Zusammenleben zwischen Kirche und Staat". M a n lege ferner „den größten Wert darauf, die freundschaftlichen Beziehungen zum Heiligen Stuhle weiter zu pflegen und zu vertiefen" ( a . a . O . 24). Die von der nationalsozialistischen Propaganda geschaffene erwartungsvolle nationale Hochstimmung und die kirchenfreundlichen Erklärungen Hitlers hatten zur Folge, daß in beiden großen Kirchen deutliche Zeichen der Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der neuen Regierung abgegeben wurden. Diese positive Einstellung kam nicht nur in offiziellen Erklärungen zum Ausdruck, sondern auch im Verzicht führender Kirchenvertreter auf Kritik an den ersten rigorosen Maßnahmen der Regierung. Gegen die auf den Reichstagsbrand folgenden Notverordnungen, die nahezu alle Grundrechte der Verfassung aufhoben, wurde kein Protest erhoben. Die Boykottmaßnahmen der SA gegen die Juden am 1. April 1933 wurden mit Stillschweigen übergangen oder sogar für verständlich erklärt. Wegen der Verhaftung zahlreicher Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftler hat es aus keinem kirchlichen Gremium rechtsstaatliche Rückfragen an die Regierung gegeben. Man wird nicht sagen können, daß der von den Nationalsozialisten bereits in diesen ersten Wochen ausgeübte Terror die Kirchenvcrtreter zum Schweigen gezwungen habe; es gab vielmehr gerade unter Protestanten sehr viel innere Zustimmung zum „energisch durchgreifenden" Handeln der Hitler-Regierung. Nach der innenpolitischen Konsolidierung ihrer Macht gab die Regierung dann allerdings zu verstehen, daß die angekündigten und von beiden Seiten gewünschten Neuordnungen im Verhältnis zwischen Kirche und Staat nur erreicht werden könnten, wenn die Kirchen zu Zugeständnissen bereit seien. Welche kirchenpolitischen Forderungen die Regierung nun geltend machte, wurde für die evangelische Kirche im Zusammenhang mit der Kirchenverfassungsfrage, für die katholische Kirche bei den Verhandlungen um das Reichskonkordat erkennbar (s. T R E 8,591,21—27). Es zeigte sich auf der Ebene des Reichs wie der Länder, daß die Nationalsozialisten zur Durchsetzung ihrer Ziele auch spektakuläre Aktionen gegen die Kirchen nicht scheuten; man war allerdings bemüht, die Person des Reichskanzlers aus derartigen Konflikten so lange wie irgend möglich herauszuhalten. Hitler sollte vor der Öffentlichkeit als derjenige gelten können, der Kirchenwirren jeweils durch überlegene Entscheidungen wieder beruhigt hatte. Diese Taktik gelang den Verantwortlichen gut. Sie trug dazu bei, daß bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft im Kirchenvolk weithin der Eindruck erhalten blieb, nur nachgeordnete Partei- und Regierungsstellen gingen aggressiv gegen die Kirchen vor, während der „Führer" verläßlich zu seinen Grundsatzerklärungen stehe. 4.2. Evangelische

Kirche

4.2.1. Die Verfassung der DEK und die Reichsbischofsfrage. Die 28 evangelischen Landeskirchen waren seit 1922 im Deutschen Evangelischen Kirchenbund (DEKB) zusammengeschlossen (TRE 10,662,15ff). Eine Reform der Bundesverfassung war während der Weimarer Zeit gelegentlich diskutiert worden, zu konkreten Vorarbeiten kam es

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aber bis 1933 nicht. Der Vorsitzende des Kirchenausschusses des DEKB, Hermann Kapler (1867-1941), der in diesem Amt der höchste Repräsentant des deutschen Protestantismus war, berief nach Vorverhandlungen mit staatlichen und kirchlichen Stellen am 23. April 1933 ein „Dreimännerkollegium", dem der Auftrag erteilt wurde, „unverzüglich eine Reform der Verfassung des deutschen Protestantismus einzuleiten". Im „Dreimännerkollegium" vertrat Landesbischof August Marahrens (TRE 14,434,51 ff) die —•Lutherischen Kirchen, Studiendirektor Hermann Albert Hesse (1877-1957) die Reformierten Kirchen und Kapier die -+Evangelische Kirche der Union. Am 25. April 1933 ließ Hitler der Öffentlichkeit mitteilen, er habe den Königsberger Wehrkreispfarrer Ludwig Müller (1883-1945) zu seinem „Bevollmächtigten für die Angelegenheiten der evangelischen Kirche" berufen und ihm „den besonderen Auftrag" gegeben, „alle Arbeiten zur Schaffung einer evangelischen deutschen Reichskirche zu fördern" (Schneider, Reichsbischof 103-110). Durch diese Ernennung gab Hitler seine kirchenpolitischen Ziele bekannt: 1. Die für den nationalsozialistischen Staat unübersichtliche und darum möglicherweise gefährliche Zersplitterung des deutschen Protestantismus sollte durch die Schaffung einer zentralistisch geführten „ R e i c h s k i r c h e " überwunden werden, und 2 . wollte Hitler über seinen „ V e r t r a u e n s m a n n " an dieser Entwicklung beteiligt werden. Das „ D r e i m ä n n e r k o l l e g i u m " sah sich in dieser Situation veranlaßt, Müller zu den im Kloster L o c c u m stattfindenden Beratungen hinzuzuziehen.

Am 20. Mai 1933 veröffentlichte das um Müller erweiterte „Dreimännerkollegium" sein Beratungsergebnis (Loccumer Manifest: Schmidt 1,153f). Der kurze Text legte für die künftige Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) folgende Grundzüge fest: „Ein Reichsbischof lutherischen Bekenntnisses steht an ihrer Spitze. Ihm tritt ein geistliches Ministerium zur Seite . . . Einer deutschen Nationalsynode liegt ob die Mitwirkung bei der Gesetzgebung und der Bestellung der Kirchenleitung . . . Beratende Kammern verbürgen den im deutschen evangelischen Volkstum lebendigen Kräften die freie schöpferische Mitarbeit im Dienst der Kirche an Volk und Reich." Ausdrücklich wurde betont, daß durch die neue Kirchenverfassung die Bekenntnisgrundlagen der Landeskirchen nicht angetastet werden sollten. Umrahmt wurde die Verfassungsskizze von Sätzen, in denen die „Wende" der deutschen Geschichte als „Gottes Fügung" eine geschichtstheologische Deutung erhielt. Auf der Grundlage des Loccumer Manifests sollte nun ein Verfassungstext ausgearbeitet werden. Während dies geschah, entstand über die Person des künftigen Reichsbischofs ein folgenreicher innerkirchlicher Streit. 4.2.1.1. Die Glaubensbewegung Deutsche Christen (GDC) hatte Anfang April 1933 in Berlin ihre erste „Reichstagung" abgehalten, auf der in Anwesenheit hoher Regierungsvertreter (Frick, Göring) die rückhaltlose Bejahung des Nationalsozialismus programmatisch zum Ausdruck gebracht und der eigene Führungsanspruch lautstark angemeldet wurde. Die GDC war eine Sammlung recht unterschiedlicher völkisch-christlicher und dem Nationalsozialismus nahestehender kirchlicher Gruppierungen (Stemma bei Hey 149). „Führer" der GDC war zunächst Joachim Hossenfelder (1899-1976), der die Parole ausgab: „Der Staat Adolf Hitlers ruft nach der Kirche, die Kirche hat den Ruf zu hören" (Huber/Huber IV,828). Am 16. Mai 1933 übernahm Müller die „Schirmherrschaft" über die GDC und ließ ein neues Programm (Ziele der GDC) ausarbeiten (Schmidt 1,143 f), das gegenüber den älteren, von Hossenfelder verfaßten Richtlinien vom Mai 1932 (Schmidt 1,135f) gemäßigter war (u.a. Verzicht auf Aussagen zur „Rassenlehre" und zur „Judenmission"). Die GDC proklamierte Müller zum Kandidaten für das Reichsbischofsamt. Man forderte, der Reichsbischof solle durch Urwahl des „gesamten evangelischen Kirchenvolks" in sein Amt berufen werden. 4.2.1.2. Am 9. Mai 1933 stellte sich die Jungreformatorische Bewegung als neue Kirchenpartei der Öffentlichkeit vor. Unterzeichner des Gründungs-Aufrufs (Schmidt I,145f) waren u.a. H. —»Lilje, W. Künneth, F. Gogarten, K. -»Heim, Karl Bernhard Ritter (1890-1968; ->Michaelsbruderschaft) und Wilhelm Stählin (1883-1975); später schlössen sich auch M . Niemöller und D. —•Bonhoeffer dieser Bewegung an, die sich

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als theologische und kirchenpolitische Alternative zur GDC verstanden wissen wollte. Die Jungreformatorische Bewegung forderte, „daß bei den kommenden Entscheidungen einzig und allein aus dem Wesen der Kirche heraus" gehandelt werde. Die „Ausschließung von Nichtariern aus der Kirche" wurde „grundsätzlich" — unter Berufung auf den „Glauben an den Heiligen Geist" — abgelehnt. Man vertrat ferner die Ansicht, der Reichsbischof solle umgehend durch das „Dreimännerkollegium" ernannt werden. Als Kandidat wurde der hoch angesehene F. v.-»Bodelschwingh d.J. vorgeschlagen. Die große Spannweite der bei den Jungreformatoren vertretenen theologischen Positionen brachte es mit sich, daß man im Grunde nur in einem Punkt einig war: Das Eindringen der GDC in die kirchlichen Leitungsämter sollte verhindert werden. Trotz der dringlichen Einwände der Kirchenjuristen, die geltend machten, ein Reichsbischof könne erst gewählt werden, wenn eine förmlich in Kraft gesetzte neue Kirchenverfassung dieses Amt vorsehe, wurde nach recht tumultuarischen Wahlhandlungen v. Bodelschwingh am 27. Mai 1933 von den Vertretern der Landeskirchen zum Reichsbischof gewählt. Später wurde die „Wahl" in eine „Designation" umbenannt (Meier 1,90-109; Scholder 1,413-421). Der unterlegene Kandidat Müller und die G D C entfesselten eine rücksichtslose Kampagne gegen v. Bodelschwingh und dessen „unrechtmäßige" Wahl. Hitler und Reichspräsident v. Hindenburg weigerten sich, den „designierten" Reichsbischof auch nur zu einem Gespräch zu empfangen. Nach vier Wochen verzichtete V.Bodelschwingh auf das ihm angetragene Amt (Nicolaisen, Dokumente 1,55-60).

4.2.2. Das Staatskommissariat in Preußen. Mit welcher Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit die Nationalsozialisten gegen die evangelische Kirche vorzugehen bereit waren, zeigte sich, als der 66jährige EOK-Präsident Kapler Anfang Juni 1933 um Versetzung in den Ruhestand gebeten hatte und sein Amt kommissarisch auf Ernst Stoltenhoff (1879-1953) übertragen worden war, der dem Nationalsozialismus aufgeschlossen gegenüberstand. Der preußische Kultusminister Bernhard Rust (1883-1945) bemängelte formal völlig zu Recht, daß aufgrund von Art. 7 des Preußischen Kirchenvertrages der Kirchensenat verpflichtet gewesen wäre, vor der Besetzung dieses leitenden kirchlichen Amtes bei der Regierung anzufragen, ob „Bedenken politischer Art" gegen den Vorgeschlagenen bestünden (Huber/Huber IV,710). Der Minister erklärte, die Kirche habe „den Rechtsboden" verlassen und könne nicht mehr „rechtsgültig" handeln. Der Leiter der Kirchenabteilung im Kultusministerium, August Jäger (1887-1949), wurde zum Staatskommissar „für den Bereich sämtlicher ev. Landeskirchen Preußens" ernannt (Nicolaisen, Dokumente 1,69). Jäger begann ein rücksichtsloses Regiment. Er beurlaubte die leitenden Geistlichen (s.TRE 8,729,38ff); kirchliche Gebäude (u.a. Pressehaus, Kirchenbundesamt) ließ er von der SA besetzen. Gewählte Kirchenvertretungen wurden aufgelöst und in Schlüsselpositionen Anhänger der DC berufen. Die „Schreckensherrschaft" Jägers, die durch eine fehlerhafte Entscheidung des Kirchensenats ermöglicht worden war, führte allen Verantwortlichen vor Augen, daß die Regierung eine Konfrontation mit den Kirchen überhaupt nicht scheute, sondern — wie zuvor schon in -»Mecklenburg - auch geringfügige Vorgänge zum Anlaß nahm, um ihre zentralistischen kirchenpolitischen Ziele gewaltsam durchzusetzen und den DC zur Macht in der Kirche zu verhelfen. Proteste aus allen Kreisen der evangelischen Kirche halfen zunächst nichts. Erst als sich v. Hindenburg an Hitler gewandt hatte und ihm vorhielt, aus einer Fortdauer der Herrschaft Jägers werde „schwerster Schaden für Volk und Vaterland erwachsen" (Huber/Huber IV,859), wurde die Aktion am 13. Juli 1933 abgebrochen. Hitler nutzte geschickt die Gelegenheit der Fertigstellung der Verfassung der DEK, in der jetzt auch das Reichsbischofsamt verankert war (TRE 10,666,26-43), um die „sofortige Aufhebung aller staatlichen Notverordnungen" verfügen zu lassen. Er telegrafierte an den Reichspräsidenten: „Die auch mir besonders am Herzen liegende innere Freiheit der Kirche wird durch Zurückziehung der Kommissare... des Staates außer Zweifel gestellt. Der innere Neubau der Landeskirchen wird nach kirchlichem Recht durch freie Wahl des evangelischen Kirchenvolkes einer baldigen Vollendung entgegengeführt werden" (Nicolaisen, Dokumente 1,87). In der Öffentlichkeit mußte

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Hitler als derjenige angesehen werden, der den Frieden in der Kirche wiederhergestellt und mit der Anordnung von demokratischen Kirchenwahlen eine korrekte Entscheidung getroffen hatte.

4.2.3. Die Kirchenwahl des Jahres 1933. In der sehr kurzen Vorbereitungszeit für die in ganz Deutschland am 23. Juli 1933 abzuhaltenden Kirchenwahlen stellten sich drei Kirchenparteien der Öffentlichkeit vor: Die von den örtlichen Parteidienststellen der NSDAP massiv unterstützten DC, die Jungreformatorische Bewegung und die nur in Bonn antretende Liste von K. -»Barth Für die Freiheit des Evangeliums. Mit diesen Kirchenparteien wurden die grundsätzlichen Positionen sichtbar, die weit über die Kirchenwahl hinaus den deutschen Protestantismus in drei Fraktionen geteilt haben: 1. Die erste Gruppe bildeten jene Kirchenvertreter, die prinzipiell den Nationalsozialismus bejahten, seine politischen wie kirchenpolitischen Ziele zu fördern versuchten, eine zentralistisch geführte Reichskirche anstrebten und nur beiläufig um eine theologische Legitimation ihres eigenen Programms bemüht waren. 2. In der Mitte stand eine weiträumige Sammlungsbewegung, die sich selbst kirchlich und theologisch als Alternative zur ersten Gruppe verstand, zeitweise auch zu offener Gegnerschaft gegen sie bereit war, aber in ihrer national-konservativen Gesinnung und in ihrer an Ordnungsvorstellungen orientierten Mentalität so viele Berührungspunkte mit ihrem Gegner gemeinsam hatte, daß eine Kooperation in bestimmten Situationen möglich blieb. 3. Die dritte, noch im Entstehen begriffene Gruppe betonte nachdrücklich den Primat der Theologie vor aller Politik und Kirchenpolitik und war zu keinerlei Kompromissen bereit, wenn es galt, die evangelische Kirche vor Einflüssen zu bewahren, die sich nicht durch die Heilige Schrift und die Bekenntnisse der Reformation legitimieren ließen. Für diese dritte Gruppe war ein völliger Rückzug der Kirche aus den Öffentlichkeitsaufgaben einer -•Volkskirche eher denkbar als ein vermittelndes Eingehen auf die Grundsätze der beiden anderen Fraktionen. 4.2.3.1. Die Deutschen Christen traten zur Kirchenwahl mit folgenden Parolen an: Ihr Reichsbischofskandidat Müller genieße das besondere Vertrauen des Reichskanzlers; Hitler verdanke man die in der neuen Kirchenverfassung zum Ausdruck kommende Einigung der evangelischen Kirche, die keine „öde Gleichmacherei" sei, sondern die „zersplitterten Kräfte" des deutschen Protestantismus „auf dem gemeinsamen und unaufgebbaren Grunde der Reformation einheitlich zum Einsatz" bringen werde. Man betonte den dynamischen, volksmissionarischen Charakter der eigenen Bewegung, die gegen „reaktionäre Selbstgebundenheit" und „verrottete bürgerliche Weltanschauung" antreten werde. Man lehnte eine „Staatskirche" ab und erklärte: „Das nationalsozialistische Deutschland ruft nach der Kirche, nicht aus politischen Gründen, sondern weil es darum weiß, daß nur das Evangelium uns die Kraft geben kann, die unser Volk braucht, um den großen Kampf, in den es gestellt ist, durchfechten zu können!" Gegen die ökumenische Bewegung gerichtet war die Ablehnung eines sog. „weltbürgerlichen Christentums". „Wir sollen als Christen an der Stelle verantwortlich sein, an die uns Gott gestellt hat. Und er hat uns in unser Volk und unsere Rasse hineingestellt. Diesem unserem Volke, das aus langer Schmach und Schande erwacht ist und mitten in einem ungeheuren Kampfe steht, schuldet die Kirche das reine Evangelium.'" 4.2.3.2. Die Jungreformatorische Bewegung hatte in dem kurzen Wahlkampf große organisatorische Schwierigkeiten zu bewältigen. Durch eine einstweilige Verfügung wurde ihr untersagt, unter dem Listennamen Evangelische Kirche anzutreten; bereits mit diesem Namen bedrucktes Propagandamaterial wurde von der Polizei beschlagnahmt (Scholder 1,563). Man gab sich den neuen Namen Evangelium und Kirche. Inhaltlich bemühte man sich, die Forderung nach einer freien Kirche mit unbedingter Staatsloyalität zu verbinden. Man hoffte auf Stimmen aus der breiten kirchlich-konservativen Mittelschicht, der die radikalen Ziele der D C unter Hossenfelders Leitung noch in Erinnerung waren. Zugleich setzte man auf konfessionelle Kreise, denen die Bewahrung des Be-

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kenntnisstandes der Landeskirchen besonders am Herzen lag. Insgesamt gelang es den Jungreformatoren aber nicht, innerhalb so kurzer Zeit ein überzeugendes alternatives Programm gegen die DC aufzustellen. Die bemerkenswerten Beiträge zum Wahlkampf aus Bonhoeffers Freundeskreis (Bethge, Bonhoeffer 3 4 5 - 3 4 8 ) wurden über Berlin hinaus kaum bekannt. 4.2.3.3. K. -*Barth hat bei der Kirchenwahl in Bonn eine theologisch konsequent begründete Ablehnung beider Positionen vertreten. Schon in seiner am 1. Juli 1933 erschienenen Schrift Theologische Existenz heute! hatte er die Jungreformatorische Bewegung wegen ihres kirchenpolitischen Taktierens in der Reichsbischofsfrage und wegen ihres unklaren theologischen Profils einer scharfen Kritik unterzogen. „Was wir heute in erster Linie brauchen, ist doch ein geistliches Widerstandszentrum, das einem kirchenpolitischen erst Sinn und Substanz geben würde" (TEH 1 [219,1984] 80). Als Barth die Wahlkundgebungen der Jungreformatoren und der DC in Bonn miterlebte, entschloß er sich, mit wenigen Freunden die Wahlliste Für die Freiheit des Evangeliums aufzustellen. Bei einem am Vorabend der Wahl gehaltenen Vortrag (TEH 2) wiederholte Barth seine fundamentale theologische Kritik an allen bisherigen Bemühungen, sich gegen die DC zur Wehr zu setzen. Barth erhielt am Wahltag immerhin so viele Stimmen (439), daß er als einziger kompromißloser DC-Oppositioneller in das Bonner Presbyterium einziehen konnte. Die überregionale Bedeutung dieses Protestaktes wurde erst in den folgenden Monaten sichtbar. 7 Am Abend vor den Kirchenwahlen hielt Hitler eine über den Rundfunk verbreitete Ansprache. Er erklärte, an die Stelle „der Vielzahl der evangelischen Kirchen" solle, „wenn irgend möglich, eine einige Reichskirche" treten. „Im Interesse des Wiederaufstieges der deutschen Nation . . . wünsche ich daher verständlicherweise, daß die neuen Kirchenwahlen in ihrem Ergebnis unsere neue Volks- und Staatspolitik unterstützen werden." Der Staat sei bereit, „die innere Freiheit des religiösen Lebens zu garantieren". Er hoffe, daß „diejenigen Kräfte gehört werden möchten, die entschlossen und gewillt sind, auch ihrerseits für die Freiheit der Nation sich einzusetzen . . . Diese Kräfte sehe ich in jenem Teil des evangelischen Kirchenvolkes in erster Linie versammelt, die als .Deutsche Christen' bewußt auf den Boden des nationalsozialistischen Staates getreten sind" (Nicolaisen, Dokumente 1,121).

Die Kirchenwahlen endeten mit einem überwältigenden Wahlsieg der DC (im Durchschnitt etwa 7 0 % ) . 8 In einigen Landeskirchen hatte man auf eine Wahl verzichtet und sich auf Einheitslisten geeinigt bzw. Vereinbarungen getroffen, die den DC Mehrheiten in den Synoden sicherten. Die Jungreformatorische Bewegung erklärte nach der Wahl „ihre kirchenpolitische Betätigung" für beendet; man wolle künftig alle Kräfte „auf die innerkirchliche Arbeit in Theologie und Gemeinde" wenden (JK 1 [1933] 80). Die DC hatten ihr Ziel erreicht: die Reichskirche unter ihrer Führung konnte errichtet werden. Auch in vielen Landeskirchen lösten die DC die bisherigen Leitungsorgane ab („zerstörte Kirchen"). DC-Leitungen erhielten die Kirchenprovinzen der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union ( T R E 10,680,7ff; eine Ausnahme bildete -»Westfalen), die Landeskirchen von -»Anhalt, -•Hessen (TRE 15,276,44ff), -»Pfalz, -»Thüringen, -»Sachsen und in den Hansestädten. Die Landeskirchen von -»Bayern ( T R E 5,383,8ff), -»Hannover ( T R E 14,435,14ff) und -»Württemberg behielten ihre bisherigen Leitungen („intakte Landeskirchen"), weil man mit den DC Vereinbarungen getroffen hatte, die diesen einen jeweils angemessen erscheinenden Einfluß einräumten.

4.2.4. Reichskirche und Reichsbischof. Am 27. September 1933 trat in Wittenberg die erste deutsche Nationalsynode zusammen. Sie wählte durch Akklamation den im August bereits zum preußischen Landesbischof ernannten Ludwig Müller zum Reichsbischof. Müller berief zu Mitgliedern des Geistlichen Ministeriums: Simon Schöffel (1880-1959; lutherischer Landesbischof von Hamburg; T R E 14,411,28 ff), Otto Weber (1902-1966; reformierter Seminardirektor in Elberfeld), Hossenfelder (seit dem 6.9.1933 unierter Bischof von Brandenburg) und als rechtskundiges Mitglied Friedrich Werner (1897—1955). Müller hatte am Vortag Hitlers Zustimmung für die Ernennung dieser Kirchenminister eingeholt, die bis auf Schöffel alle Mitglieder der NSDAP waren.

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Müllers erstes Reichskirchenkabinett brach schon im November 1933 auseinander. Anlaß war eine im Berliner Sportpalast abgehaltene Großveranstaltung der Berliner DC. Der Hauptredner, Reinhold Krause (1893-1980), hatte Müller scharf kritisiert, weil dieser die Kirchenreform zu zögerlich betreibe und nicht bereit sei, die Reichskirche in eine „völkische Kirche" umzugestalten. Zugleich hatte Krause „die Befreiung" der Kirche „von allem Undeutschen im Gottesdienst und im Bekenntnismäßigen, Befreiung vom Alten Testament" und die Beseitigung der „Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus" gefordert (Meier 1,122-145; Scholder 1,702-706). Die Folgen des Sportpalastskandals waren sehr weitreichend: Die GDC brach wieder auseinander und verlor in der Mitte viele Mitglieder; ihr radikaler Flügel wurde zum unerbittlichen Gegner des Reichsbischofs, der keine Hausmacht mehr hatte, auf die er sich verlassen konnte. Auf der anderen Seite stärkte die wüste Theologiekritik Krauses die eben heranwachsende innerkirchliche Opposition gegen ihn und die DC-Kirchenleitungen (s. 4.2.5.). In den folgenden Monaten versuchte Müller in Zusammenarbeit mit wechselnden Beratern, z.T. aber auch völlig autokratisch, innerkirchliche Neuordnungen durchzusetzen, die von der Regierung Hitlers für wünschenswert gehalten wurden. Hierzu gehörte die Zusammenfassung kleinerer Landeskirchen zu neuen Großkirchen. Dies gelang für die Kirchen von Nassau, Hessen-Darmstadt und Frankfurt/M., nicht aber für eine Großhessische Kirche (TRE 15,277,4ff). Der Plan zur Bildung einer großen Niedersächsischen Kirche blieb unausgeführt (Meier 1,116). Die Forderung der DC nach Einführung des Arierparagraphen in der Reichskirche konnte Müller wegen einer Intervention des Auswärtigen Amtes nicht erfüllen (Nicolaisen, Dokumente I,130f). Müller erklärte allerdings vor der Nationalsynode, es werde sich noch „als Selbstverständlichkeit erweisen, daß die Träger öffentlicher Ämter in Deutschland unserer Art und Abstammung sein müssen" (vgl. Gesetzbl. DEK 1 [1933] 1 1 - 1 4 ) . Tief griff Müller in die Rechte und geistlichen Aufgaben seiner Kirche ein, als er den Forderungen der Reichsjugendführung nachkam und am 19. Dezember 1933 die Eingliederung des Evangelischen Jugendwerks (fast 800.000 Jugendliche) in die HitlerJugend verfügte (Nicolaisen, Dokumente 1,182-184). Die wachsende Kritik an seiner Amtsführung versuchte er durch einen „Maulkorberlaß" zum Verstummen zu bringen (a.a.O. 11,2 A.l). 4.2.5. Der Pfarrernotbund. In Analogie zum Reichsgesetz vom 7. April 1933 wurde in mehreren Landeskirchen noch im Herbst 1933 ein Arierparagraph eingeführt. Pfarrer und Kirchenbeamte mußten in den Ruhestand versetzt werden, wenn sie jüdische Eltern oder ein jüdisches Großelternteil hatten (Beschluß der Preußischen Generalsynode vom 5.9.1933; ähnliche Gesetze in den Landeskirchen von Sachsen, Schleswig-Holstein, Braunschweig, Lübeck, Mecklenburg, Nassau-Hessen, Thüringen und Württemberg: Gauger 1,100; betroffen waren etwas mehr als 100 Theologen: Röhm/Thierfelder, Juden 1,199 f). Durch die Beschlüsse der „braunen" Preußischen Generalsynode veranlaßt wandte sich Niemöller an die ehemaligen Mitglieder der Jungreformatorischen Bewegung und forderte sie auf, „sich der Not derjenigen Brüder, die darunter leiden müssen, nach bestem Vermögen anzunehmen" (W. Niemöller, Texte 4). Aus dieser Initiative entstand der Pfarrernotbund, dem nach der „Sportpalastkundgebung" der DC mehr als 6000 Pfarrer (über ein Drittel der deutschen Pfarrerschaft) angehörten. Die Mitglieder mußten eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, in der es hieß „[ich] bezeuge, daß eine Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des Arierparagraphen im Raum der Kirche Christi geschaffen ist" (Schmidt 1,78). Die Theologischen Fakultäten von -»Marburg und -»Erlangen erstellten Gutachten zu der Frage, ob der Arierparagraph mit der Heiligen Schrift, den Bekenntnissen der Kirche und der Präambel der Verfassung der DEK vereinbar sei. Marburg hielt eine Beschränkung der Rechte nichtarischer Christen für bekenntnis- und schriftwidrig (Schmidt 1,178-182; TRE 22,73,28ff), Erlangen gab den Rat, derartige Gesetze nur mit Zurückhaltung anzuwenden (Schmidt 1,182-186;

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T R E 10,163,17ff). Zwanzig deutsche Neutestamentier (R. -»Bultmann, H . -»Lietzmann, H . v. -•Soden u.a.) erklärten, ein Arterparagraph könne vom Neuen Testament her theologisch nicht legitimiert werden (Schmidt 1,189-191).

Der Pfarrernotbund wurde um die Jahreswende 1933/34 zum Sammlungsort der Opposition gegen Reichsbischof Müller und die DC-Kirchenleitungen in den Landeskirchen. Auch die süddeutschen Bischöfe Theophil Wurm (1868-1953; -»Württemberg) und Hans Meiser (1881-1956; T R E 5,383,1 ff) näherten sich ihm an (Braun/Nicolaisen, Verantwortung I,132ff). Hitler, der aus außen- wie innenpolitischen Gründen die Kirchenwirren möglichst rasch beigelegt wissen wollte, lud Kirchenführer aller Fraktionen zu einem Gespräch ein, bei dem die Beschwerden der Opposition zur Sprache kommen sollten, auch die Tatsache, daß Müller seit November 1933 ohne ein korrekt besetztes Geistliches Ministerium amtierte. Z u Beginn des Empfangs (25. Januar 1934) verlas Göring ein von der Gestapo abgehörtes Telefongespräch Niemöllers, in dem sich dieser recht salopp über den Reichspräsidenten geäußert hatte. Dies gab Hitler die willkommene Gelegenheit, statt über seinen „Vertrauensmann" Gericht halten zu müssen, nun über den Leiter des Pfarrernotbundes seinen Unmut zum Ausdruck bringen zu können. Hitler klagte darüber, daß der Streit in der evangelischen Kirche von der Auslandspresse dazu ausgenutzt werde, seine Regierung anzugreifen. Wenn man ihm nur Schwierigkeiten mache, „ziehe er seine Hand zurück, auch in finanzieller Hinsicht" (Meier 1,160-165; Scholder 11,37-73). Müller ging gestärkt aus dem Kanzlerempfang hervor, denn auf Drängen Hitlers erklärten die beiden süddeutschen Bischöfe ihre Bereitschaft, wieder mit dem Reichsbischof zusammenzuarbeiten. Diese Zusage von Meiser und Wurm bedeutete die Spaltung der Opposition.

4.2.6. Gleichschaltung und Eingliederung der Landeskirchen. Müller errichtete in den ersten Monaten des Jahres 1934 eine Reichsbischofsdiktatur, in der er mit wenigen Ratgebern' die „Eingliederung" der noch selbständigen Landeskirchen in die Reichskirche gewaltsam durchzusetzen begann. Unterstützt wurde er durch staatliche Stellen, die mit Härte gegen die kirchliche Opposition vorgingen. Mitglieder des Pfarrernotbundes wurden verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Die Länderregierungen förderten die Eingliederungspolitik, weil sie ein notwendiger Beitrag der Kirchen zur zentralistischen Strukturreform im Innern Deutschlands sei. Die Preußische Landeskirche wurde bereits am l . M ä r z 1934 in die Reichskirche eingegliedert. Es folgten Nassau-Hessen (27. April), Sachsen (4. Mai), Schleswig-Holstein (8. Mai), Thüringen (14. Mai), Hannover (15. Mai), H a m b u r g (24. Mai 1934). Die Kirchen mußten das Gesetzgebungsrecht an die Reichskirchc abgeben und vielfältige Eingriffe der Reichskirchenregierung in ihre Verwaltung hinnehmen (Meier 1,205). Als Müller auch die beiden großen süddeutschen Landeskirchen „gleichschalten" wollte, sorgte er ungewollt dafür, d a ß sich die gespaltene Opposition gegen ihn wieder sammelte. Ein erster „Einbruch des Reichsbischofs in Württemberg" (März/April 1934; Schäfer 111,111-261) führte zu einer eindrucksvollen Solidarisierung der Mehrheit der Pfarrerschaft und der Gemeinden mit ihrem gemaßregelten Landesbischof. Wurm wurde ermutigt, erneut Verbindung mit dem Pfarrernotbund und anderen oppositionellen Gruppierungen in ganz Deutschland aufzunehmen.

4.2.7. Die Sammlung der Opposition. Schon im Juli 1933 waren im -»Rheinland und in -»Westfalen von entschiedenen Gegnern der D C Pfarrerbruderschaften gegründet worden. Die reformierten Gegner des neuen Kirchenregiments sammelten sich seit September 1933 im Coetus reformierter Prediger (Immer, Coetus-Briefe). Aus diesen Kreisen kam im Dezember 1933 der Aufruf zur Bildung einer Freien reformierten Synode, die am 3./4. Januar 1934 in Barmen-Gemarke zusammentrat (mit Barth als Hauptredner) und „die erste ,Bekenntnissynode* des Kirchenkampfes" genannt werden kann (Beckmann, Bekenntnissynoden 4f). Weitere Freie Synoden und Gemeindetage folgten im März und April 1934. Der diese Versammlungen ermöglichende ekklesiologische Grundsatz lautete: Wenn eine Kirchenleitung „ihre Bekenntnisgrundlage durch Irrlehre" selbst angreift, werden Prediger und Älteste „von Gottes Wort aufgerufen und zusammengeführt, um als freie Synode zu [den] Gemeinden zu reden" ( a . a . O . 89). Freie Synoden stellen sich in casu confessionis neben das offizielle Kirchenregiment und erheben den Anspruch, die wahre Kirche bekennend zu vertreten (vgl. T R E 13,443,36-444,4).

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Am 22. April 1934 fand auf Einladung von Wurm in Ulm ein von 5000 Menschen besuchter Bekenntnisgottesdienst statt. Meiser verlas dort eine „Kundgebung der bekennenden Deutschen Evangelischen Kirche" ( = Ulmer Einung). Unterschrieben war dieser Text u.a. von Meiser, Wurm, Karl Koch (1876-1951; Präses der Westfälischen Bekenntnissynode), Niemöller, Asmussen „und 27 anderen Kirchenvertretern aus allen Gauen Deutschlands". Man erklärte als rechtmäßige evangelische Kirche Deutschlands: „Das Bekenntnis ist in der DEK in G e f a h r ! . . . Das Handeln der Reichskirchenregierung hat seit langer Zeit keine Rechtsgrundlage mehr. Es geschieht Gewalt und Unrecht, gegen welche alle wahren Christen beten und das Wort bezeugen müssen" (Gauger 1,181). Es wurde beschlossen, sofort eine Bekenntnissynode für die gesamte DEK vorzubereiten. 4.2.8. Die 1. Bekenntnissynode der DEK und die Barmer Theologische Erklärung. Vom 29. bis 31. Mai 1934 tagte in Barmen die 1. Bekenntnissynode der DEK. Die 139 „Vertreter lutherischer, reformierter und unierter Kirchen, freier Synoden, Kirchentage und Gemeindekreise" verabschiedeten einstimmig die Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche, das wichtigste theologische Dokument des gesamten Kirchenkampfes, dessen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte bis in die Gegenwart anhält. 10 Die Barmer Theologische Erklärung ( = BTE: BurgsmülIer/Weth; zum Inhalt vgl. T R E 13,434,6-18) war in kurzer Zeit in einem vielschichtigen Redaktionsprozeß entstanden: Als Hauptverfasser hat Barth zu gelten, der für einen ersten Entwurf auf Thesen zurückgriff, die er für die „Evangelische Bekenntnisgemeinschaft B o n n " (s.o. 4.2.3.3.) geschrieben hatte. Barths Entwurf wurde u.a. von Asmussen, Thomas Breit ( 1 8 8 0 - 1 9 6 6 , Stellvertreter von Meiser) und dem Erlanger Kirchenhistoriker Hermann Sasse ( 1 8 9 5 - 1 9 7 6 ) kritisch kommentiert und z.T. ergänzt; während der Barmer Synode sind weitere Änderungen eingearbeitet worden (vgl. Nicolaisen, Der Weg 2 7 - 5 9 ) . Die einstimmige Annahme des Gesamttextes durch die Synode wurde ermöglicht, weil es im Beschlußantrag hieß, die Synode nehme die B T E „im Zusammenhang mit dem [Einführungs-] Vortrag" von Asmussen „auf ihre Verantwortung" und übergebe „diese Erklärung den Bekenntniskonventen zur Erarbeitung verantwortlicher Auslegung von ihren Bekenntnissen aus" (Burgsmüller/Weth 62). Damit war durch die Synode selbst festgelegt, daß die B T E eine Auslegungsgeschichte haben müsse und nicht als statutarischer Bekenntnistext gelten könne. Offen blieb die Frage, ob eine sofortige Anerkennung der B T E für die Zugehörigkeit zur BK konstitutiv sei oder ob das Ergebnis der in Auftrag gegebenen „Auslegung von . . . [den] Bekenntnissen aus" abgewartet werden könne (vgl. Problemskizze und Dokumente bei Braun/Nicolaisen, Verantwortung I . X X X I V - X X X V I I ; 2 8 0 - 3 1 7 ) .

Die B T E ist in ihren sechs Thesen, denen jeweils Schriftzitate vorangehen und Verwerfungssätze nachfolgen, ein exklusiv theologischer Text. Kritische Stellungnahmen zum Nationalsozialismus oder gar zur Regierung Hitlers wären bei der Zusammensetzung der Synode völlig unannehmbar gewesen. Viele Synodale hofften vielmehr darauf, Hitler werde der „Bekenntnisfront" beim Sturz des Reichsbischofs helfen (eine historisch-kritische Problemanalyse: Hüffmeier, Für Recht u. Frieden 2 2 - 3 3 ) . Doch der vor allem in den Thesen I, II und V ausgesprochene Absolutheitsanspruch des Evangeliums und die in ihm enthaltene konsequente Ablehnung jeglicher ideologischer Überfremdung der Verkündigung der Kirche wurden schon 1934 auch als Ablehnung politischer Totalitätsansprüche verstanden (vgl. T R E 13,433,15ff). Die Barmer Synode erklärte, daß „das derzeitige Reichskirchenregiment... den Anspruch verwirkt" habe, „rechtmäßige Leitung" der DEK zu sein" (Erklärung zur Rechtslage: Burgsmüller/Weth 69). Man berief sich auf Art. 1 der Verfassung der DEK: „Die unantastbare Grundlage der DEK ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten ist" (Huber/Huber IV,861). Durch die Erklärung zur Rechtslage wurde die Bekennende Kirche (BK) konstituiert. Zu ihrer Leitung bestimmte die Synode keine Einzelperson (Ablehnung des „Führerprinzips"), sondern einen aus zwölf Personen bestehenden BruderratDie Tatsache, daß man nicht klar entschied, ob die BK „an die

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Stelle der DEK trete oder neben dieser fungiere, belastete die Kooperation der verschiedenen Gruppen" in der Zukunft erheblich (Hauschild: T R E 10, 667,lOf). 4.2.9. Die 2. Bekenntnissynode der DEK in Dahlem und die 1. Vorläufige Kirchenleitung (VKL I). Müller und sein „Rechtswalter" Jäger gliederten auch nach der Barmer Synode weiter Landeskirchen in die Reichskirche ein. Dies gelang in -»Oldenburg (11. Juni), -»Bremen (13. Juni), -»Lübeck und Eutin (13./17. Juni), -»Pfalz (28. Juni), HessenKassel mit Waldeck (16. Juli) und Mecklenburg (20. Juli 1934; Meier 1,205). Der Versuch hingegen, auch Württemberg und Bayern in die Reichskirche zu inkorporieren, mißlang. Obgleich die Landesbischöfe Wurm und Meiser für abgesetzt erklärt und von der Polizei unter Hausarrest gestellt wurden (Schäfer 111,524- 672; Nicolaisen, Dokumente 11,180-194), konnte ihr Widerstand nicht gebrochen werden. Eine eindrucksvolle Solidarisierung der Pfarrerschaft und der Gemeindeglieder, die im In- und Ausland Aufsehen erregte, veranlagte Hitler, Wurm und Meiser aus dem Arrest heraus nach Berlin zu einem Gespräch einzuladen. Durch diesen Empfang (30. Oktober 1934) wurden die süddeutschen Bischöfe „als rechtmäßige Kirchenführer anerkannt [und] ermächtigt, ihr Amt wieder zu übernehmen" (Nicolaisen, Dokumente 11,197). Jäger mußte seine Tätigkeit als „Rechtswalter der DEK" beenden. Die Reichsbischofsdiktatur Müllers war gescheitert. Müller blieb zwar in seinem Amt, war aber entmachtet. Er widmete sich in der folgenden Zeit - vielfach taktierend - „geistlichen Aufgaben" (Schneider, Reichsbischof 218ff). Wieder war es Hitler gelungen, als Vermittler im Kirchenstreit auftreten zu können, ohne seinen „Vertrauensmann" völlig zu desavouieren. Auf dem Höhepunkt der Unruhen in Württemberg und Bayern versammelte sich die BK zur 2. Bekenntnissynode in Berlin-Dahlem (19./20. Oktober 1934). In einer „Botschaft" rief sie angesichts der ,,angemaßte[n] Alleinherrschaft des Reichsbischofs und seines Rechtswalters" das kirchliche Notrecht aus. Den DC-Kirchenleitungen sollten - von der Gemeindebasis bis zu den Synoden - an Schrift und Bekenntnis gebundene Leitungsorgane (Bruderräte) entgegengestellt werden (KJ 1933-1944 [ 2 1976] 82f). Nach schwierigen Verhandlungen des Reichsbruderrats mit Vertretern der „intakten" und der „zerstörten" Landeskirchen wurde am 22. November 1934 eine fünfköpfige Vorläufige Kirchenleitung berufen (VKL I; Vorsitzender Marahrens), die an Stelle der Reichskirchenregierung Ordnung und Einheit der DEK wieder herstellen sollte (Texte und Personen: Gauger 11,391-395; vgl. Braun/Nicolaisen, Verantwortung 1,348-359). Der Reichsbruderrat bemühte sich nach der Dahlemer Synode darum, innerhalb der Landeskirchen bekenntnisgebundene Leitungsgremien aufzubauen, weil man den Weg in die -»Freikirche aus vielerlei Gründen nicht gehen wollte. 11 Die Folge war, daß es in den „zerstörten" Landeskirchen zu einer Dreiteilung der Leitungsinstanzen kam: Es konkurrierten miteinander DC-Leitungsgremien, BK-Leitungsgremien und eine große Gruppe von „neutralen" Amtsinhabern, die ihre Gemeinden aus dem Kirchenstreit herauszuhalten versuchten. Die „intakten" Landeskirchen vertraten die Ansicht, in ihren Gemeinden sei es nicht notwendig, BK-Leitungsgremien zu berufen, weil die Bekenntnisgrundlage ihrer Kirche nicht zerstört worden sei. In diesen Kirchen sammelten sich die entschieden oppositionellen Kräfte in besonderen Arbeitsgemeinschaften, wie etwa der Kirchlich-Theologischen Sozietät in Württemberg (Schäfer IV,187-196 u.ö.). 1 3 4.3. Katholische Kirche 4.3.1. Der Deutsche Katholizismus besaß beim Regierungsantritt Hitlers zwei Leitungsgremien. Neben der Fuldaer Bischofskonferenz (mit den Erzbistümern Köln, Breslau, Freiburg und [seit 1930] Paderborn) stand die Freisinger Bischofskonferenz (Erzbistümer München-Freising und Bamberg). Der -»Vatikan unterhielt diplomatische Vertretungen in München und Berlin. Am 28. März 1933 gab die Fuldaer Bischofskonferenz eine „Kundgebung betreffend die Stellungnahme der Katholiken zur nationalsozialistischen Bewegung" heraus. Kardinal Michael v. Faulhaber (1869-1952) stimmte für die bayerischen Bischöfe dem Text „einheitshalber" telegraphisch zu. Diese „Kundgebung"

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war die Reaktion auf Hitlers Zusagen in seiner Regierungserklärung. Die Bischöfe mahnten zwar auch jetzt noch, „wachsam . . . einzutreten . . . für Schutz der christlichen Religion und Sitte, für Freiheit und Rechte der katholischen Kirche und Schutz der konfessionellen Schule und katholischen Jugendorganisationen", die früheren „allgemeinen Verbote und Warnungen" hingegen seien „nicht mehr . . . notwendig" (Huber/Huber IV,468). Dieser überraschend schnelle Kurswechsel des Episkopats erfolgte wohl aus der Sorge, Hitler könne seine Garantieerklärung wieder zurückziehen, wenn man ihm nicht entgegenkomme und die alten Verurteilungen aufhebe. In ein vielschichtiges und vieldeutiges Motivationsgeflecht eingebunden war der neue Kurs der deutschen Bischöfe mit der Zustimmung der Zentrumspartei zum „Ermächtigungsgesetz" (24. März) und dem nur wenige Tage später bekannt werdenden Beginn von Konkordatsverhandlungen zwischen der Regierung Hitlers und dem Vatikan (TRE 19,468,10ff). Es ist eine vieldiskutierte Frage, ob der Vorsitzende des Zentrums, Prälat Ludwig Kaas (1881-1952), bei Geheimgesprächen die Zusage erhalten hat, die Regierung sei zu Verhandlungen über ein Reichskonkordat bereit, wenn das Zentrum dem „Ermächtigungsgesetz" zustimme. 1 4

4.3.2. Bei den Konkordatsverhandlungen (Anfang April bis Mitte Juli 1933) nannte die Regierung als kirchenpolitische Hauptforderung: Die Mitgliedschaft bzw. Tätigkeit von Geistlichen und Ordensleuten in politischen Parteien solle nicht bloß erschwert werden (Regelung durch -»Dispens), sondern der Hl. Stuhl müsse sie durch ein generelles Verbot unterbinden. Hitler und sein Verhandlungsführer Franz v. Papen (1879-1969) setzten einen solchen „Entpolitisierungsartikel" (Art. 32) gegen den anfänglichen Widerstand von Eugenio Pacelli (1876-1958; —»Pius XII.) durch. Dafür gestand die Reichsregierung der Katholischen Kirche Rechte und Freiheiten zu, wie sie so umfassend von keiner Weimarer Regierung angeboten worden waren. „Freiheit des Bekenntnisses und der öffentlichen Ausübung der katholischen Religion" (Art. 1); Bestätigung der Länderkonkordate (Art. 2); Staatsschutz für die Geistlichen bei „Ausübung ihrer geistlichen Tätigkeit" (Art. 5); Körperschaftsrecht (Art. 13); freies kirchliches Besetzungsrccht für alle Kirchenämter (Art. 14; allerdings Pflicht der Bischöfe zum Treueid [Art. 16]); Erhalt der Katholisch-Theologischen Fakultäten (Art. 19); katholische Bekenntnisschulen mit ausschließlich katholischen Lehrern (Art. 23 f); Schutz der „katholischen Organisationen und Verbände, die ausschließlich religiösen, rein kulturellen und karitativen Zwecken dienen" (Art. 31 mit differenzierenden Zusatzbestimmungen, s. H u b e r / H u b e r IV,516); Recht der Kirche, Steuern zu erheben (Schlußprotokoll zu Art. 13).

Das Reichskonkordat (mit erläuterndem Schlußprotokoll und einem geheimen Anhang, der die Frage der Wehrpflicht für katholische Geistliche regelte) wurde am 20. Juli 1933 veröffentlicht (Huber/Huber IV,505-516). Es brachte Hitler einen Prestigegewinn ein, weil es als außenpolitischer Durchbruch seiner Regierung angesehen wurde. Die Katholische Kirche konnte mit Hilfe des Konkordats „im totalitären Deutschland ihre Eigenständigkeit im wesentlichen bewahren" (Lill: T R E 19,469,9f). Die zunächst so heftig umstrittene Entpolitisierung des Klerus hatte langfristig zur Folge, daß katholische Geistliche - im Unterschied zu den evangelischen Pfarrern - vor einer Mitarbeit in der NSDAP geschützt waren. 4.3.3. Auch die Katholische Kirche wurde mit der nationalsozialistischen Gleichschaltungs-Politik konfrontiert (Huber/Huber IV,469-489). Trotz der Zusicherungen des Konkordats blieben insbesondere die katholischen Jugendorganisationen und Verbände gefährdet. Am 19. Juli 1933 wurde eine Doppelmitgliedschaft in Hitlerjugend und konfessionellen Jugendvereinen verboten. Verfügungen untersagten katholischen Jugendlichen das Tragen von Uniformen, das Halten von Spielmannszügen u . ä . Auch eine doppelte Mitgliedschaft in einem katholischen Verband und in der Arbeitsfront wurde verboten (vgl. TRE 19,377,50ff). Katholische Beamte, die sich in Laienorganisationen engagierten, verloren ihre Ämter. Die katholische Presse wurde zur „Entpolitisierung" gezwungen. Kirchennahe Zeitungen mußten ihre Namen und redaktionelle Arbeitsweise den Wünschen des Propagandaministeriums anpassen (vgl. Nicolaisen, Dokumente III,XX VI).

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4.3.4. Die kritische Auseinandersetzung mit der Weltanschauung der Nationalsozialisten wurde von einzelnen Bischöfen auch nach Abschluß des Reichskonkordats weitergeführt. Gegen die Herabsetzung des Alten Testaments wandte sich der Münchner Erzbischof Kardinal Faulhaber in viel beachteten Adventspredigten (Dezember 1933; Druckauflage 150.000). Der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen (1878-1946), übernahm im Herbst 1934 die Verantwortung für die Veröffentlichung einer Aufsatzsammlung, die sich mit Rosenbergs Myifews-Buch kritisch auseinandersetzte. Die Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts (1934 S 193S) erschienen als „Amtliche Beilage" in Kirchlichen Amtsblättern (Köln, München, Würzburg, Breslau, Berlin). Katholische Gelehrte unternahmen hier den Versuch, den Angriff Rosenbergs gegen die Kirche historisch und exegetisch zu widerlegen. Den Anstoß zu diesen Arbeiten hatte der Bonner Kirchenhistoriker Wilhelm Neuss gegeben ( T R E 7,78,49ff). Die Studien hoben die enge Verbundenheit Jesu mit dem Alten Testament hervor und wiesen Rosenbergs Behauptung zurück, erst der Jude Paulus habe das Alte Testament in die Kirche gebracht. Rosenbergs Rassenlehre wurde energisch bestritten. „Wer aus Rassewertungen heraus das A. T. verwirft, lehnt Christus a b " (Baumgartner, Weltanschauungskampf 154-168, bes. 161). Gestärkt wurde die zunächst noch sehr vorsichtige resistente Haltung einzelner Katholiken durch die Nachricht, daß sich unter den Mordopfern des 30. Juni 1934 („Röhmputsch") auch führende katholische Laien befanden. Zu ihnen gehörte Erich Klausener (1885-1934), der Vorsitzende der -»Katholischen Aktion, der wenige Tage vor seiner Ermordung auf dem Berliner -»Katholikentag ein „Treuegelöbnis für die Kirche, für Papst und Bischof" gesprochen „und so die Existenz einer vom Staat unabhängigen, der offiziellen Ideologie widerstreitenden Organisation demonstrativ unter Beweis gestellt" hatte (Immenkötter: Hampel 1,242; vgl. Hürten, Katholiken, Kirche u. Staat 141-158).

Insgesamt hatte sich der deutsche Katholizismus in den beiden ersten Jahren der Hitlerregierung durch das Reichskonkordat institutionell sichern können. Die katholische Bevölkerung wurde aber insbesondere bei öffentlichem Auftreten (z.B. -»Prozessionen) von SA und Hitlerjugend rüde angegriffen (vgl. T R E 8,50,7-39). Die dadurch entstehende Unruhe im Kirchenvolk führte zu einer innerkirchlichen Kritik an den Improvisationen und Versäumnissen des Jahres 1934. Der deutsche Episkopat mußte seine Haltung zum Nationalsozialismus überprüfen. Dies geschah 1934/1935 in zwei Denkschriften, deren „Katalog kirchlicher Beschwerden" zeigte, „wie sehr sich die Gesamtsituation seit Mitte 1934 verschlimmert hatte" (Volk: Albrecht, Katholische Kirche 5 3 - 5 6 ) . 5. Nationalsozialismus 5.1. Evangelische

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1935-1939

Kirche

5.1.1. Lösungsvorschläge nach dem Zusammenbruch der Reichskirche. Anfang 1935 war das Scheitern des Versuchs, eine evangelische Reichskirche zu schaffen, für jedermann sichtbar. Die gewaltsame Eingliederung der Landeskirchen in die von Müller geführte DEK hatte abgebrochen werden müssen; Gesetze, die die Eingliederungspolitik vorantreiben sollten, waren wieder aufgehoben worden. Müller und die DC mußten zur Kenntnis nehmen, daß das Interesse an Kirchenfragen bei einflußreichen Regierungsvertretern nachließ. Man favorisierte unter der Parole „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens" eine Trennung der Kirche vom Staat. Gleichzeitig meldeten sich die -+Deutschgläubigen Bewegungen mit neuen Aktivitäten zu Wort (Meier 11,12—35). Die Hoffnung der BK, die VKL I unter Marahrens (s.o. 4.2.9.) werde mit staatlicher Zustimmung die Reichskirche neu ordnen können, erwies sich als trügerisch (Meier 11,36-44). Als die VKL I anläßlich der Eidesverweigung von Barth ( T R E 5 , 2 5 3 , 3 8 - 4 2 ; 9,394,28-34) mit einer Erklärung zum -»Eid an die Öffentlichkeit getreten war, nutzten die Staatssekretäre Wilhelm Stuckart (1902-1953; s.Zt. ohne Amt, zuvor Kultusministerium) und Hans Heinrich Lammers (1875-1962; Reichskanzlei) Differenzen innerhalb der BK geschickt aus, um die mangelnde Kompetenz der VKL I aktenkundig zu machen (Nicolaisen, Dokumente 11,240-243).

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Für Hitler war die auch in der Ökumene aufmerksam zur Kenntnis genommene (Boyens 1,123-132) Zerrissenheit der evangelischen Kirche in miteinander konkurrierende und sich befehdende Leitungen ein innen- wie außenpolitisches Ärgernis. Verschiedene an ihn herangetragene Lösungsvorschläge verwarf er. Auch das Bemühen des Reichsbischofs, den alten Rechtszustand wiederherzustellen, mißlang (Schneider, Reichsbischof 2 1 2 - 2 1 5 ) . In dieser Situation gab eine Denkschrift von Staatssekretär Stuckart den Anstoß zu einer Wendung der staatlichen Kirchenpolitik (Nicolaisen, Dokumente 11,249-261). Stuckart empfahl „eine Verschärfung der staatlichen Oberaufsicht über die Kirche" und eine Zentralisierung der Landeskirchen in einer dem Innenministerium unterstellten Verwaltungsinstanz. Voraussetzung für eine solche Lösung sei „eine scharfe Abgrenzung des staatlich-weltlichen Bereiches von dem kirchlich-religiösen Bereich" ( a . a . O . 253). Stuckart griff auf die alte, im Landesherrlichen -•Kirchenregiment praktizierte Trennung eines ius in Sacra (innerkirchliches Regiment) von einem ius circa sacra (Kirchenhoheitsrechte des Staates) zurück, die noch in den Kirchenverfassungen des 19. Jh. wirksam gewesen war (vgl. T R E 19,486,33-39).

Hitler nahm Stuckarts Grundgedanken auf und übertrug am 16. Juli 1935 dem bisherigen Reichsminister ohne Geschäftsbereich, Hanns Kerrl (1887-1941), die Bearbeitung der kirchlichen Angelegenheiten (Nicolaisen, Dokumente 11,333). 5.1.2. Das Reichskirchenministerium. Am 24. September 1935 wurde ein Gesetz zur Sicherung der DEK erlassen, das den Kirchenminister ermächtigte, „zur Wiederherstellung geordneter Zustände in der DEK und in den Landeskirchen . . . Verordnungen mit rechtsverbindlicher Kraft zu erlassen". Die Präambel des Gesetzes sprach von „tiefster Besorgnis" der Reichsregierung im Blick auf „den Kampf kirchlicher Gruppen untereinander und gegeneinander . . . , der die Einigkeit des Kirchenvolkes zerreißt, die Glaubens- und Gewissensfreiheit des einzelnen beeinträchtigt, die Volksgemeinschaft schädigt und den Bestand der Evangelischen Kirche selbst schwersten Gefahren aussetzt." Der Staat müsse „als Treuhänder" eintreten; er dürfe die Neuordnung „keiner der kämpfenden Gruppen" überlassen, sondern selbst möglichst bald eine Lösung herbeiführen, die es der Kirche ermögliche, „in voller Freiheit und Ruhe ihre Glaubens- und Bekenntnisfragen selbst zu regeln" (KJ 1933-1944 [ 2 1976] 105f). Das Programm Kerrls lautete: „Die Kirchen beider Konfessionen erfahren in jeder Beziehung staatliche Hilfe und Förderung; sie haben sich jedoch auf ihr religiöses Gebiet zu beschränken" (JK 4 [1936] 115). Um dies zu erreichen, errichtete er Kirchenausschüsse, denen auf Reichsebene und in den Landeskirchen die „innerkirchliche" Leitung übertragen wurde. Personell stützte sich Kerrl auf die kirchliche Mittelpartei und einige DC, die, des Streites müde, die politisierenden Radikalen ablösen sollten (vgl. Braun/Nicolaisen, Verantwortung II,XVIf). Vorsitzender des aus acht Personen bestehenden Reichskirchenausschusses (RKA) wurde der allseits geachtete Wilhelm Zoellner (1860-1937, Westfälischer Generalsuperintendent i.R.; weitere Mitglieder: Meier 11,81). In seinem ersten Aufruf crmahnte der RKA „die evangelischen Gemeinden, in Fürbitte, Treue und Gehorsam zu Volk, Reich und Führer zu stehen. Wir bejahen die nationalsozialistische Volkwerdung auf der Grundlage von Rasse, Blut und Boden" (KJ 1933-1944 ['1976] 108). Dieser Aufruf machte es vielen Vertretern der BK von Anfang an unmöglich, mit dem RKA zusammenzuarbeiten. Die Bruderräte lösten sich deshalb nicht auf. Daraufhin verbot Kerrl alle neben den Kirchenausschüssen bestehenden Leitungsorgane; das Verbot betraf auch die VKL I (20.Dezember 1935; a . a . O . 110). Von diesem Tag an war die Tätigkeit der Bruderräte „illegal" und mit Sanktionen bedroht. Die Frage, wie man sich nun zu verhalten habe, führte zu Kontroversen, die die Spaltung der BK zur Folge hatten.

5.1.3. Die Spaltung der Bekennenden Kirche. Auf der 4. Bekenntnissynode der DEK in Bad Oeynhausen ( 1 7 . - 2 2 . Februar 1936) gelang es nicht, für die gesamte BK einen einheitlichen Kurs zu finden; die VKL I trat zurück (Meier 11,101-115). Nach der Synodaltagung wurde eine VKL II gebildet, die jegliche Zusammenarbeit mit den Kirchenausschüssen ablehnte und wegen ihrer konsequenten Orientierung an den Beschlüssen der Synode in Dahlem (s.o. 4.2.9.) der „dahlemitische" Flügel der BK genannt wird. Die Bischöfe der „intakten" Landeskirchen (Bayern, Hannover, Württemberg; „bischöf-

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licher Flügel der BK") traten der VKL II nicht bei, sondern vereinigten sich gegen sie mit lutherischen Bruderräten in den „zerstörten" Landeskirchen zum Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands („Lutherrat" 18. März 1936; vgl. Braun/Nicolaisen, Verantwortung II,XXf; T R E 10,667,13ff; 14,435,30ff). Die DEK hatte erneut drei miteinander konkurrierende Leitungsorgane. Eine Fülle von Einzelkonflikten war die Folge. 5.1.4. Die kirchenpolitische Wende 1936/1937. Kirchenminister Kerrl drohte nun damit, ein Verordnungswerk zu erlassen, das eine klare staatskirchliche Steuerung der evangelischen Kirche ermöglichen werde. Diese Androhung und eine Behinderung seiner Bemühungen um Beilegung eines Kirchenstreits in Lübeck (TRE 21,495,47 ff) veranlaßten Zoellner, mit dem gesamten RKA zurückzutreten (12. Februar 1937). Gegen Kerrls Plan, jetzt eine Art Staatskirchenregierung zu bilden, erhob sich in der NSDAP (Goebbels, Frick, Hess, Himmler, Heydrich) größter Widerspruch. Eine so enge Verbindung von Staat und Kirche lehnte man aus ideologischen Gründen ab. Hitler, der auf diese Stimmen und auf die außenpolitischen Konsequenzen einer „Knebelung" der DEK achten mußte, verfügte durch Erlaß vom 15. Februar 1937 erneut Kirchenwahlen (Nicolaisen, Dokumente III,320f). Er erhoffte sich von dieser demokratischen Lösung einen neuerlichen Prestigegewinn im In- und Ausland; zudem ging er davon aus, d a ß eine von ihm favorisierte Kirchenpartei als Sieger aus den Wahlen hervorgehen werde. Als während der Wahlvorbereitungen erkennbar wurde, d a ß es dem Reichsbruderrat gelingen könnte, die Kirchenwahl zu einer offenen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Weltanschauung zu nutzen, erlosch das Interesse Hitlers an den Kirchenfragen. Er betrieb von nun an keine konstruktive Kirchenpolitik mehr, sondern begnügte sich mit taktischen Entscheidungen. 15 Die Wahlen wurden abgesagt, und bis Kriegsbeginn blieb es bei einem unübersichtlichen Nebeneinander von Kirchenministerium, VKL II, Reichsbruderrat und Lutherrat sowie einigen noch bestehenden DC-Leitungsorganen. Eine Konferenz der im leitenden Amt der Kirche stehenden kirchlichen Amtsträger („Kirchenführerkonferenz", Leitung: Marahrens ) versuchte, zwischen den Gremien zu vermitteln und so die Leitungsaufgaben für die DEK wahrzunehmen (vgl. Braun/Nicolaisen, Verantwortung II,XXIIf; TRE 14,435,37-40). 5.1.5. Staatliche Maßnahmen gegen die Kirche. Seit 1935/36 war es an vielen Orten zu Übergriffen und Gewaltmaßnahmen gegen Mitglieder der BK gekommen (vgl. die Übersicht: T R E 8,49,28-50,6). Die kirchenpolitischen Mißerfolge der D C gaben jenen Kräften in der NSDAP und in der SA Auftrieb, die eine Distanzierung von den Kirchen und die Ausbildung eigener, nichtchristlicher Glaubens- und Lebensformen anstrebten. Die VKL II befürchtete zu Recht eine „Entchristlichung der Bevölkerung" und die Bedrohung von „Sittlichkeit und Recht". Weil man davon ausging, daß der Reichskanzler über diese Vorgänge nicht zureichend informiert sei, übergab die VKL II Anfang Juni 1936 eine Denkschrift der BK an Hitler." Die Bedeutung der Denkschrift lag darin, d a ß sie nicht nur gegen Eingriffe in das kirchliche Leben protestierte, sondern sich zum Anwalt der gesamten Gesellschaft machte und recht deutlich die Ideologie und Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus kritisierte. Der vertrauliche Text der Denkschrift wurde der Presse im Ausland zugespielt und in mehreren Ländern im vollen Wortlaut veröffentlicht. Der für diese Übermittlung (mit)verantwortliche Kanzleileiter der VKL II, Friedrich Weißler (1891-1937), wurde in ein Konzentrationslager eingeliefert und dort sechs Tage später zu Tode gebracht. Die VKL II - mit dem Vorwurf des Landesverrats konfrontiert - gab in einer Kanzelabkündigung wenigstens Teilinhalte der Denkschrift ihren Gemeinden bekannt (23. August 1936).

Z u einer Krise innerhalb der BK führte 1938 (nach dem „Anschluß" Österreichs) die Frage, ob Pfarrer einen Treueid auf Hitler leisten sollten. In Gang gesetzt wurde die Diskussion zu dieser Frage durch die DC in Thüringen. Nach höchst kontroversen Beratungen stimmte die Mehrheit der BK der Eidesleistung zu bzw. gab die Entscheidung dem einzelnen Pfarrer frei (KJ 1933-1944 [ J 1976] 250-256). Doch statt einer Anerken-

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nung für dieses Zeichen der Loyalität erhielten die Kirchenvertreter eine Mitteilung aus der Reichskanzlei, dem Eid komme „lediglich eine innerkirchliche Bedeutung" zu, weil man ihn angeordnet habe, ohne „vorher die Entscheidung des Führers herbeizuführen" (Meier 111,51). Sehr tiefgehende Folgen für die Einheit der BK hatte eine anläßlich der drohenden Kriegsgefahr im September 1938 von der VKL II veröffentlichte und an die Gemeinden weitergegebene Gebetsliturgie für den Frieden (KJ 1933-1944 [ 2 1976] 2 5 6 - 258). Die SS-Zeitung Das Schwarze Korps nannte diesen Text eine „politische Kundgebung des Verrats und der Sabotage an der geschlossenen Einsatzbereitschaft des Volkes in ernsten Stunden". Die „politisierende Pastorei" gefährde „die Sicherheit des Volkes"; die „Ausmerzung dieser Verbrecher" sei „Pflicht des Staates" (Brakelmann, Kirche im Krieg 51). Nach diesem vehementen Angriff veranlaßte Kirchenminister Kerrl die Bischöfe Marahrens, Wurm und Meiser, eine Erklärung zu unterschreiben, in der sie den Gottesdienstentwurf der VKL II verurteilten und sich förmlich „von den für diese Kundgebung verantwortlichen Persönlichkeiten" trennten (Meier 111,57). Diese Erklärung riß einen kaum mehr zu überbrückenden Graben zwischen der VKL II und dem „bischöflichen" Flügel der BK auf. 5.1.6. Zum Judenpogrom vom 9. November 1938 („Reichskristallnacht") schwiegen die Kirchenleitungen. 17 Ganz vereinzelt kam es zu widerständigen Reaktionen einiger Pfarrer in Gottesdiensten und Predigten. Einer der wenigen, die hier mutig hervortraten, war Julius v.Jan (1897—1964); er wurde von der SA mißhandelt und wegen Landfriedensbruch vor Gericht gestellt (vgl. Schäfer VI,111 - 1 6 4 ; zu der sich seit 1938 zunehmend verschärfenden Situation der „nichtarischen Christen" s.u. 6.2.2.2.). 5.2. Katholische

Kirche

5.2.1. Prozesse gegen Priester und Ordensleute. Im März 1935 begann eine sich über Jahre erstreckende gezielte Verleumdungskampagne der Nationalsozialisten gegen katholische Priester und Ordensleute. Zunächst wurde die Buchhaltung zahlreicher Klöster von den Zollfahndungsbehörden durchsucht. Wo immer man Belege dafür fand, daß ein Kloster über die Staatsgrenzen hinweg mit ausländischen Klöstern seines -»Ordens finanzielle Transaktionen vorgenommen hatte, wurden Prozesse wegen Devisenvergehen in Gang gebracht. Bei etwa 60 derartigen Prozessen wurden Nonnen und Mönche zu Gefängnisstrafen verurteilt (vgl. Rapp, Devisenprozesse); die Orden mußten hohe Geldstrafen zahlen. Das Propagandaministerium wertete diese Prozesse als Beweise für eine staatsfeindliche, korrupte Haltung der katholischen Ordensleute insgesamt. Mit noch größerem publizistischen Propagandaaufwand wurden vom Mai 1936 bis zum Juli 1937 Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Geistliche und Ordensbrüder in der Öffentlichkeit als Beweise für die sittliche Verkommenheit angeblich sehr vieler katholischer Amtsträger herausgestellt. Verurteilt wurden insgesamt 274 Personen (weniger als 0,5 % aller Welt- und Ordensgeistlichen), zumeist wegen homosexueller Vergehen (vgl. Hockerts, Sittlichkeitsprozesse). Pater Rupert Mayer SJ (1876-1945; 1987 seliggesprochen), der sich in Predigten gegen die Verleumdungskampagne zur Wehr gesetzt hatte, wurde wegen Verletzung des Kanzelparagraphen und des Heimtückegesetzes zu Gefängnis und KZ-Haft verurteilt, an deren Folgen er starb. 5.2.2. Die Enzyklika „Mit brennender Sorge". Kardinalstaatssekretär Pacelli (-»Pius XII.) protestierte in einem Aide-Memoire des Hl. Stuhls gegen „die tief verletzende Weise" der Presseberichterstattung über die Sittlichkeitsprozesse (Albrecht, Notenwechsel 1,330). Als die Antworten der Reichsregierung für den Vatikan unbefriedigend ausfielen, wurde die Enzyklika Mit brennender Sorge (Hauptverfasser Kardinal v. Faulhaber; Text a. a. O. 4 0 2 - 4 4 3 ) erarbeitet und am 21. März 1937 in 11500 deutschen Pfarrkirchen verlesen. In einem von Pacelli verfaßten Abschnitt der Enzyklika wurde betont, daß der Hl. Stuhl mit dem Reichskonkordat (s.o. 4.3.2.) den deutschen Katholiken „im Rahmen des Menschenmöglichen

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. . . Spannungen und Leiden ersparen" wollte, „die andernfalls unter den damaligen Verhältnissen mit Gewißheit zu erwarten gewesen w ä r e n " . Der „Anschauungsunterricht der vergangenen J a h r e " enthülle jedoch „Machenschaften, die von Anfang an kein anderes Ziel kannten als den Vernichtungskampf". „In die Furchen, in die Wir den Samen aufrichtigen Friedens zu pflanzen bemüht waren, streuten andere . . . die Unkrautkeime des Mißtrauens, des Unfriedens, des Hasses, der Verunglimpfung, der heimlichen und offenen . . . mit allen Mitteln arbeitenden grundsätzlichen Feindschaft gegen Christus und seine Kirche." Der Papst sei nicht müde geworden, den „verantwortlichen Lenkern der Geschicke" in Deutschland „die Folgen darzustellen, die aus dem Gewährenlassen oder gar aus der Begünstigung solcher Strömungen sich zwangsweise ergeben müßten". Nach einer Erörterung religiöser Gegenwartsfragen schloß die Enzyklika mit dem Wunsch, der wahre Frieden zwischen Kirche und Staat in Deutschland möge wiederhergestellt werden. „Wenn aber - ohne Unsere Schuld - der Friede nicht sein soll, dann wird die Kirche Gottes ihre Rechte und Freiheiten verteidigen im Namen des Allmächtigen, dessen Arm auch heute nicht verkürzt ist" ( a . a . O . 406f.443).

5.2.3. Die Folgen der Enzyklika. Wegen des Drucks der Enzyklika (300.000 Exemplare) wurden Druckereibesitzer enteignet; es kam zu Verhaftungen und zu Prozessen gegen zahlreiche an der Verbreitung beteiligte Personen. Der befürchtete große Gegenschlag der Regierung gegen die Katholische Kirche blieb jedoch aus. Das Reichskonkordat wurde nicht gekündigt. Pläne für eine Kündigung hatte es seit 1936 im Reichskirchenministerium gegeben (vgl. Nicolaisen, Dokumente III,XXIIIf; Hürten, Katholiken, Kirche u. Staat 183-188). Die Sittlichkeitsprozesse wurden bis zum Juli 1937 weitergeführt und dann ohne erkennbaren Anlaß eingestellt. Der deutsche Episkopat konnte sich in der Folgezeit auf keinen gemeinsamen Kurs gegenüber der Regierung einigen. Kardinal Bertram (s.o. 3.1.) lehnte die Forderung des Berliner Bischofs Konrad v. Preysing (1880-1950) ab, „alle noch laufenden Verhandlungen mit dem Staat einzustellen, solange die Gegenseite keinen .Waffenstillstand' gewähre" (Immenkötter: Hampel 11,204). Ein Hirtenbrief aller deutschen Bischöfe zur aktuellen Situation kam nicht zustande. Eintragungen im Tagebuch von Goebbels belegen, daß Hitler noch im Mai 1937 von einem „großen Feldzug" gegen die Katholische Kirche gesprochen hat. Er begrüßte wiederholt die „radikale Wendung der Pfaffenprozcssc". Er plante ein Verbot des Zölibats, den Einzug des Kirchcnvermögens, eine Erschwerung des Theologiestudiums, die Auflösung der Orden, und er wollte „den Kirchen die Erziehungsberechtigung" nehmen, - „nur so kriegen wir sie in einigen Jahrzehnten klein" (Goebbels, Tagebücher 111,129.143). Goebbels riet davon ab, die Konfrontation zu diesem Zeitpunkt auf die Spitze zu treiben.

Im Zusammenhang mit der Wende seiner gesamten Kirchenpolitik (s.o. 5.1.4.) verlor Hitler das Interesse an der Katholischen Kirche. Ihn beschäftigte immer mehr die Vorbereitung des Krieges. Im November 1937 teilte er seinem engsten Führungskreis mit, daß er die Frage des deutschen Lebensraumes bald unter Anwendung von Gewalt zu lösen gedenke. Vor dieser großen Perspektive überließ er die Kirchenfragen nachgeordneten Partei- und Regierungsstellen, die weiterhin einen kaum im voraus zu berechnenden Kurs zwischen Repression und Duldung einschlugen. 6. Die Kirchen im Zweiten

Weltkrieg

6.1. Überblick 6.1.1. Kriegsbegeisterung wie im August 1914 gab es am 1. September 1939 in den deutschen Kirchen nicht. Dennoch wurde in Erklärungen und Kanzelworten versichert, daß die Kirchen treu zur Staatsführung stünden und dazu beitragen wollten, die großen Aufgaben für Volk und Nation mit zu bewältigen. Immer wieder wurde die traditionelle und als selbstverständlich empfundene Verpflichtung der Christen betont, mit der Waffe Heimat und Vaterland zu verteidigen. Eine genaue Analyse der vielen kirchlichen „Worte" zeigt jedoch, daß der Grad der Identifizierung mit dem gegebenen Staat durchaus unterschiedlich war (vgl. Brakelmann, Kirche im Krieg 126—144). In dieser Differenziertheit kündigten sich die Loyalitätskonflikte an, die nach der ungeheuren Ausweitung

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des Kriegsgeschehens und beim Bekanntwerden der Staatsverbrechen zumindest bei einzelnen Christen zu der Frage führten, ob und in welcher Form Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft geleistet werden müsse (s.u. 6.3.). 6.1.2. Staatliche Kirchenpolitik. Hitler hatte wenige Tage nach Beginn des Polenfeldzugs erklärt, daß „jede Aktion gegen die katholische und protestantische Kirche für die Dauer des Krieges" verboten sei (Nicolaisen: Hampel 111,289). Diese Anweisung wurde im Juli 1940 noch einmal in aller Form wiederholt (Röhm/Thierfelder, Kirche zw. Kreuz u. Hakenkreuz 122). Im Kreis seiner Vertrauten sprach Hitler allerdings seit Mitte 1941 davon, d a ß er nach Kriegsende das „Kirchenproblem" endgültig lösen werde: „Es muß abfaulen wie ein brandiges Glied" (Nicolaisen: Hampel 111,290). Doch während des Krieges wollte er diese Probleme auf sich beruhen lassen. Kirchenminister Kerrl erhielt keine neuen Aufträge; als er am 14. Dezember 1941 starb, wurde sein Amt nicht wieder besetzt. Martin Bormann (1900-1945 verschollen; in Nürnberg in Abwesenheit zum Tode verurteilt) und die Parteikanzlei der NSDAP übernahmen die politischen Entscheidungen in Kirchenfragen, sofern solche überhaupt noch erforderlich schienen (Melzer, Vertrauensrat 270-301). 6.1.3. Evangelische Kirche. Die zerstrittenen Fraktionen des deutschen Protestantismus vereinbarten zu Kriegsbeginn einen „Burgfrieden"; der Kirchenkampf sollte ausgesetzt werden. Es wurde ein Geistlicher Vertrauensrat der DEK (GVR) gebildet, dessen Kompetenzen zwar nie völlig klar beschrieben worden sind, der sich aber bis in die letzten Kriegstage hinein als ein Zentralorgan der DEK mit ziemlich allen die Kirche betreffenden Angelegenheiten beschäftigte und zu ihnen Stellung nahm (vgl. Melzer, Vertrauensrat 91-119). Das Gremium wurde paritätisch mit Vertretern der kirchenpolitischen Hauptrichtungen außer den Bruderräten („Illegalen" 18 ) besetzt: Marahrens (KK/Lutherrat), Walther Schultz (1900-1957; DC-Landesbischof von -»Mecklenburg), Johannes Hymmen (1878-1951; „neutraler" Verwaltungsfachmann der ApU) und Otto Weber (1902-1966; Vertreter der Reformierten, assoziiertes GVR-Mitglied). Der GVR nahm zur Regierung eine grundsätzliche Loyalitätshaltung ein. Diese kam in mehreren öffentlichen Kundgebungen deutlich zum Ausdruck. Auf der anderen Seite waren die Mitglieder des GVR bemüht, eine Abdrängung der DEK in ein öffentlichkeitsfernes Ghetto zu verhindern. So setzte man sich für den Erhalt konfessioneller Kindergärten und des schulischen Religionsunterrichts ein; man protestierte beharrlich gegen die Behinderung des christlichen Schrifttums- und Pressewesens und wich auch der Konfrontation mit den „weltanschaulichen Distanzierungskräften" nicht aus, die während des Krieges aus der Dienststelle des Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP (Dienststelle Rosenberg) kamen (Melzer, Vertrauensrat 232-239). Z u einem besonderen Konfliktfcld wurde der Reichsgau Wartheland. Als dieser „Modellgau" Ende Oktober 1939 nach der Aufteilung -»Polens aus der früheren preußischen Provinz Posen gebildet worden war, gingen die Kirchenvertreter davon aus, d a ß dieses „ n e u e " Reichsgebiet kirchlich an die DEK bzw. ApU angegliedert werde. Der Reichsstatthalter des Warthegaus erklärte jedoch, daß es in diesem Gebiet „keine Kirchen mehr im staatlichen Sinne" geben werde, sondern „nur noch religiöse Kirchengesellschaften im Sinne von Vereinen". Staatskirchenrechtliche Bestimmungen seien nicht mehr notwendig. In diese Religionsvereine könne man „nicht hineingeboren" werden; eine Mitgliedschaft dürften nur Volljährige erwerben (KJ 1933-1944 [ 2 1976] 434). Trotz aller Proteste wurde das „Experiment Warthegau" verwirklicht, von dem man vermuten konnte, d a ß es im Falle eines siegreichen Ausgangs des Krieges zum Modell für die Kirchenpolitik auch im Altreich werden sollte (vgl. Meier 111,114-133).

Seit November 1941 setzte sich der inzwischen 73jährige Bischof Wurm für die Errichtung eines Kirchlichen Einigungswerkes ein, das die im Kirchenkampf auseinandergebrochenen Gruppen des deutschen Protestantismus wieder zusammenführen sollte. Mit 13 Sätzen zum Auftrag und Dienst der Kirche lud Wurm Ostern 1943 „zur Gemeinsamkeit des Handelns" ein, „um eine einheitliche geistliche Ausrichtung und Führung

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des Amtes und der Kirche zu gewinnen" (KJ 1933-1944 [ 2 1976] 423f; vgl. Thierfelder, Einigungswerk). Bis Kriegsende kam dem Einigungswerk keine große Bedeutung zu. Aber die Initiative Wurms bereitete für die Nachkriegszeit eine Konzeption vor, wie man durch Sammlung einer sehr weit gefaßten kirchenpolitischen Mittelpartei - unter Einschluß der gemäßigten DC - die Folgen der Kirchenwirren überwinden könne (s.u. 7.). 6.1.4. Katholische Kirche. Kardinal Bertram (s.o. 3.1.) fühlte sich als Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz nach Kriegsbeginn verpflichtet, seine angepaßte Haltung zur Regierung beizubehalten. Dem deutschen Katholizismus sollte im Kriege nicht der Vorwurf gemacht werden können, es fehle ihm an patriotischer Gesinnung. Als auch nach Kriegsbeginn Unterdrückungsmaßnahmen gegen katholische Verbände fortgesetzt wurden, versuchte Bertram mit nicht-öffentlichen Eingaben bei den Behörden zu intervenieren. Demgegenüber vertrat Bischof Preysing (s.o. 5.2.3.) die Auffassung, man dürfe es nicht hinnehmen, daß unter Ausnutzung der Kriegslage antikatholische und christentumsfeindliche Kreise der NSDAP dem deutschen Katholizismus seine vom Reichskonkordat verbürgten Rechte nähmen; er riet zu einer Mobilisierung der katholischen Bevölkerung gegen die Ubergriffe von Gestapo, SA und anderen Parteiverbänden. Preysing konnte sich nicht gegen Bertram durchsetzen (vgl. Adolph, Geheime Aufzeichnungen 2 7 3 - 275), der die Kirche als Seelsorgeinstitution nicht gefährden wollte. Im April 1940 schrieb Bertram, ohne sich zuvor mit den anderen Bischöfen abgesprochen zu haben, an Hitler einen Gcburtstagsglückwunsch: „Es geschieht das im Verein mit den heißen Gebeten, die die Katholiken Deutschlands am 20. April an den Altären für Volk, Heer und Vaterland, für Staat und Führer zum Himmel senden. Es geschieht in dem tiefen Bewußtsein der ebenso vaterländischen wie religiösen Pflicht der Treue zum jetzigen Staate und seiner regierenden Obrigkeit im Vollsinne des göttlichen Gebotes, das der Heiland selbst und in seinem N a m e n der Völkerapostel verkündet h a t " (Volk, Akten V,47). Diese Erklärung spaltete den deutschen Episkopat; die Ö f fentlichkeit erfuhr von dem bis Kriegsende anhaltenden Konflikt zwischen den Bischöfen jedoch nichts.

Durch einen Geheimerlaß der Parteikanzlei wurde im Januar 1941 allen Gauleitern die Vollmacht erteilt, Klöster und deren Liegenschaften ohne Rücksicht auf gesetzliche Bestimmungen zu beschlagnahmen. Diesem „Klostersturm" fielen während des ersten Halbjahres 1941 120 Klöster zum Opfer, die vor allem als Ferien- und Erholungsheime für Parteigenossen genutzt wurden. Diese Beschlagnahmen und die mit ihnen verbundenen Vertreibungen von Mönchen und Nonnen lösten beim Klerus wie bei vielen Laien große Besorgnis aus (Volk, Kath. Kirche u. Nationalsoz. 83-97); es kam zu widerständigen Reaktionen, die wiederum Polizeimaßnahmen zur Folge hatten. Die Zahl der Verhaftungen von Priestern und Ordensangehörigen stieg sprunghaft an. Von den 418 Priestern in KZ-Haft sind 110 umgekommen, 59 weitere wurden hingerichtet oder starben an den Folgen von Mißhandlungen (vgl. v. Hehl, Priester unter Hitlers Terror). 6.2. Die Kirchen und die Staatsverbrechen 6.2.1. Die Ermordung Kranker und Behinderter. Durch einen (zurückdatierten) Geheimcrlaß vom 1. September 1939 hatte Hitler den Auftrag gegeben, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden k a n n " . " Der nun beginnenden „Euthanasie"-Aktion fielen bis zum Ende des Krieges etwa 275.000 Menschen zum Opfer (vgl. T R E 10,553,8). Viele dieser Kranken hatten zuvor in kirchlichen Pflegeeinrichtungen gelebt und waren von dort - unter administrativer Mithilfe von kirchlichen Mitarbeitern - in Tötungsanstalten verlegt worden (vgl. Lauterer, Liebestätigkeit 141-148). In beiden großen Konfessionskirchen sind Verantwortliche früh über die Aktion „ G n a d e n t o d " informiert worden. Spätestens im Juli 1940 erfuhr der GVR, d a ß es sich bei plötzlichen Todesfällen von Patienten in evangelischen Pflegeeinrichtungen „um ein planmäßiges Vorgehen zur Ausmerzung der angeblich hoffnungslos Kranken" handele.

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In einer ersten Eingabe an die Reichskanzlei bat der GVR um Auskunft, ob vor der Tötung von Schwerkranken eine „gründliche Prüfung nach der rechtlichen, medizinischen, sittlichen und staatspolitischen Seite" vorgenommen werde. Mit dieser Anfrage signalisierte der G V R ein gewisses Einverständnis mit der grundsätzlichen Möglichkeit von „Euthanasie"-Aktionen. Wesentlich kritischer abgefaßte Entwurfstexte für eine Eingabe (von Marahrens und Hymmen) wurden in der Kirchenkanzlei der DEK zwar bearbeitet, aber nicht an das Innenministerium weitergeleitet (Melzer, Vertrauensrat 2 5 7 - 262). Entschlossen handelte Bischof Wurm, der am 19. Juli 1940 direkt an den Innenminister schrieb. Er könne nur „mit Grausen daran denken, daß so, wie begonnen wurde, fortgefahren" werde. „Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Gott läßt sich nicht spotten." Pfarrer Paul Gerhard Braune (1887-1954), Leiter der Anstalten in Lobetal bei Berlin, verfaßte eine den Sachverhalt schonungslos aufdeckende Denkschrift für Hitler, die mit den Worten schloß: „Mögen die verantwortlichen Stellen dafür sorgen, daß diese unheilvollen Maßnahmen aufgehoben werden" (KJ 1933-1944 [M976] 396 - 406). Bodelschwingh gelang es durch beharrliche Interventionen, das Leben fast aller in Bethel versorgten Kranken zu retten (vgl. TRE 6,747,13 - 23). Die eindrucksvollste Protestaktion gegen den Krankenmord unternahm Bischof Clemens August Graf v. Galen (s.o. 4.3.4.), der im Sommer 1941 in drei Predigten die Öffentlichkeit über die Vorgänge informierte und sagte: „Wenn einmal zugegeben wird, daß Menschen das Recht haben, ,unproduktive' Mitmenschen zu töten,... dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben" (Löffler, Galen 11,883).

Hitler gab am 24. August 1941 die Anweisung, die Aktion einzustellen. Nach dem „Endsieg" solle eine endgültige Regelung durch Gesetz erfolgen. Diese Entscheidung Hitlers verhinderte nicht, daß es in den Konzentrationslagern und in staatlichen Anstalten zu weiteren Krankenmorden kam („wilde Euthanasieaktionen"), die bis in die letzten Kriegstage anhielten (zur Lit. vgl. Strohm/Thierfelder [Hg.], Diakonie 2 6 4 - 2 8 4 ) . 6.2.2. Der

Völkermord

6.2.2.1. Die größte theologische, ethische und politische Herausforderung, die der Nationalsozialismus den Christen in Deutschland stellte, haben die Kirchen damals in ihrer ganzen Tragweite und Tiefendimension nicht wahrgenommen. Man erkannte nicht, daß die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden „ein bisher singuläres Geschehen in der Geschichte der Menschheit und insofern auch ein Wendepunkt für diese selbst" war (Dexinger: T R E 17,367,51 f). Die wenigen Aktionen der Solidarität und des Widerstandes unterstreichen nur die Tatenlosigkeit der großen Mehrheit und das Versagen der kirchlichen Leitungsinstanzen angesichts eines Geschehens, dessen historische Einzigartigkeit nicht relativiert werden k a n n . " Die Ermordung von sechs Millionen Juden (Schoab; Holocaust; vgl. T R E 17,390,19-37) in eigens hierfür eingerichteten Vernichtungslagern (vgl. Pressac) wurde vor der Bevölkerung mit Erfolg geheim gehalten. Sie war aber der Schlußpunkt eines Prozesses, dessen beide ersten Phasen sich im hellen Licht der Öffentlichkeit abgespielt hatten: Die Ausgrenzung und die Vertreibung der Juden geschahen weder in Deutschland noch in den besetzten Staaten im Verborgenen. 21 Gleiches gilt für die Ausgrenzung, Verfolgung und Tötung der Sinti und Roma, der -»Zeugen Jehovas („Ernste Bibelforscher"; vgl. Garbe), der Homosexuellen (vgl. Jellonnek) u.a.m. Vom ersten Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 (s.o. 4.1.) über den Judenpogrom vom 9.November 1938 (s.o. 5.1.6.) bis zum Abtransport der jüdischen Bürgerinnen und Bürger „in den Osten" gab es für die Christen in Deutschland viele Anlässe, die rechtliche Zulässigkeit und die humanitäre Vertretbarkeit dieser staatlichen Maßnahmen in Frage zu stellen und das eigene Verhalten an den ethischen Grundnormen des christlichen Glaubens zu überprüfen, auch wenn man von der weiteren Eskalation des Geschehens noch nichts wissen konnte. Doch auf dem öffentlichen Weg „Vom Boykott zur .Entjudung'" (Barkai) gab es Station für Station immer nur wenige Christen, die „dem Rad selbst in die Speichen zu fallen" versuchten (Bonhoeffer, GS 11,48)."

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Die besonderen Geheimhaltungsmaßnahmen, mit denen nach der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 (vgl. Pätzold/Schwarz) die „Endlösung der Judenfrage" umgeben wurde, hielten konkrete Informationen über Umfang und Ausmaß des Völkermords von der Mehrheit der Bevölkerung fern. Die Tätigkeit der „Einsatzgruppen" hinter der deutschen Front (vgl. Krausnick) unterlag strengster Geheimhaltung, wie auch die Vorgänge in den Konzentrationslagern (vgl. Boberach: StL7 3 [1987] 660-663) vor der Öffentlichkeit abgeschirmt wurden. Alle diese Maßnahmen konnten aber nicht verhindern, daß in den Kirchen zumindest leitende Persönlichkeiten über die Staatsverbrechen Kenntnis erhielten. Die verschiedenen Eingaben von Bischof Wurm an hohe Regierungsvertreter und insbesondere sein Brief an Hitler vom 16. Juli 1943 (vgl. Meier, Kirche u. Judentum 39f.l22; Wurm, Erinnerungen 168), der Appell von Bischof Preysing an Papst - P i u s XII. vom 6. März 1943 (vgl. Schneider 239 A.l) und die Bußtags-Kundgebung der Bekenntnissynode der Altpreußischen Union in Breslau vom 16./17. Oktober 1943 (KJ 1933-1944 [ 2 1976] 385.387) belegen exemplarisch, daß es in den Kirchen informierte Personen und Kreise gab. Der Münchner Laienbrief (Ostern 1943) ist als ein weiteres derartiges Dokument aus einem völlig anderen Umfeld anzusehen.13 6.2.2.2. Die Christen „nichtarischer Abstammung" wurden mit geringfügigen Phasenverschiebungen konsequent in die Judenverfolgung mit einbezogen (vgl. Büttner, Not). So waren diese Menschen für alle Gemeindeglieder unübersehbare Opfer des staatlichen Terrors. Ihr Weg in die Deportation und in den Tod bewirkte aber - wie das Beispiel der Familie Jochen Kleppers (1903-1942) zeigt" - keine Verhaltensänderung bei der Mehrzahl der Christen. Der GVR hatte am 22. Dezember 1941 ein Rundschreiben an alle evangelischen Landeskirchen gebilligt, in dem es hieß, man bitte darum, „geeignete Vorkehrungen zu treffen, daß die getauften Nichtarier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinde fernbleiben" (Melzer, Vertrauensrat 264). Neben diesem scriptum atrum der DEK (a.a.O. 269) stehen die Hilfsaktionen des Büro Grüber (vgl. Ludwig, Opfer) und des Hilfswerks zugunsten katholischer Nicht-Arier (Bernhard Lichtenberg [1875-1943)) in Berlin sowie das Engagement von einzelnen wie Katharina Staritz (1903-1953; vgl. Schwöbel, Staritz) und Margarethe Sommer (1893-1965; vgl. Immenkötter: Hampel 111,340f). Sie konnten das Leben einiger bedrohter „nichtarischer" Christinnen und Christen retten (vgl. T R E 8,51,7-14); sie brachten aber keinen Prozeß des Umdenkens in den Gemeinden in Gang, wie ihn Bonhocffer schon 1933 klarsichtig gefordert hatte (vgl. T R E 7,56,3-6).

6.2.2.3. Die vielfältigen Gründe für das Versagen der Kirchen vor der Herausforderung durch die nationalsozialistischen Staatsverbrechen sind in einem langwierigen, noch nicht abgeschlossenen „Reifungsprozeß" (Bethge: KoGe 1,1 -37.21 ff) in der NachkricgsKirchengeschichte der beiden großen Konfessionen in Umrissen sichtbar geworden (vgl. Hermle; Rendtorff/Henrix). Ob diese späten Einsichten zu einer umfassenden „Umkehr und Erneuerung" im Verhältnis der Christen zum Judentum führen werden (vgl. T R E 17,390-403 [Lit.]), kann noch nicht gesagt, muß aber dringend gehofft werden." 6.3. Die Kirchen und die Widerstandsbewegung 6.3.1. Die neuere Zeitgeschichtsforschung hat den Widerstandsbegriff vielfach differenziert, indem sie eine den Umsturz planende Fundantentalopposition von anderen Formen des Widerstands unterschied, die in ihrer bewußten oder unbewußten Zielsetzung begrenzter waren und doch politisch nicht bedeutungslos genannt werden können (vgl. Steinbach [Hg.], Widerstand). Für den totalitären nationalsozialistischen Staat galt jeder Versuch, sich seinen Normen in irgendeinem Lebensbereich zu entziehen, bereits als Widerstand. Dennoch liefert die politische Kategorie Widerstand einen „nur begrenzt zureichenden Interpretationsrahmen für das Verhalten der Kirche unter nationalsozialistischer Herrschaft"." Innerhalb der Kirchen muß ein breites Verhaltensspektrum beachtet werden. Es reichte vom Vorbehalt, der die eigene Lebensform und Wertewelt zu bewahren versuchte und sie nicht mit der nationalsozialistischen vertauschen wollte (Resistenz, passiver Widerstand), über die nonkonformistische Verweigerung und innere Emigration bis zur offenen Ablehnung einzelner Regierungsmaßnahmen (Protest) und hatte seine Spitze in der Kon-

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spiration, die aktiv den Umsturz des Regimes vorbereitete und durchzuführen versuchte. Es gab ein widerständiges Verhalten („Widerstandspotential", „Widersetzlichkeit"") der Kirchen und einzelner Christen auf verschiedenen Stufen, das man allerdings nicht insgesamt unter dem Begriff Widerstand subsumieren sollte (vgl. v. Roon, Widerstand 79). Die gesamte Bandbreite der überhaupt möglichen Verhaltensweisen zum Nationalsozialismus läßt sich — für beide großen Konfessionen — mit folgenden Begriffen umschreiben: Kooperation - Anpassung - Selbstbehauptung - Abwehr - Protest - Fundamentalopposition/Widerstand." Gewiß ist es schwierig, diesen Begriffen festumrissene Ereignisse und Personengruppen zuzuordnen, weil die Ubergänge stets fließend waren. Dennoch kann man sagen, daß die DC die Kooperation suchten, eine breite Mittelpartei in beiden Kirchen die Anpassung, die BK und die Mehrheit der katholischen Geistlichkeit und des Episkopats um Selbstbehauptung bemüht waren, der „dahlemitische" Flügel der BK und kleine Gruppen im deutschen Katholizismus (vgl. Hürten: Ausgew. Aufs. 141-158) zumindest gelegentlich Abwehr und Protest praktizierten, während nur einige wenige Christen aus beiden Konfessionen in die konspirative Widerstandsbewegung eintraten. Gerade sie mußten zur Kenntnis nehmen, daß die Leitungsorgane ihrer Kirchen diesen Schritt nicht billigten (vgl. Bethge, Bonhoeffer 893f.l042; Lindt, Totalitarismus 2 1 9 - 2 2 5 ) .

6.3.2. Die nach dem Familiengut der Grafen Moltke vom Reichssicherheitshauptamt als Kreisauer Kreis bezeichnete Widerstandsgruppe um Helmuth James Graf v. Moltke (1907-1945) und Peter Graf Yorck von Wartenburg (1904-1944) bemühte sich mit besonderer Intensität um die Klärung ethischer Grundsatzfragen sowohl des Widerstandes („Tyrannenmord") als auch im Blick auf den Neuaufbau Deutschlands nach dem Ende der Hitler-Herrschaft aus dem Geiste des Christentums (vgl. v. Roon, Neuordnung). Augustin Rösch SJ (1893-1961) und Alfred Delp SJ (1907-1945) stellten Verbindungen zwischen dem Kreisauer Kreis und dem Episkopat sowie zur katholischen Arbeiterbewegung her. Eugen Gerstenmaier (1906-1986), Mitarbeiter im Kirchlichen Außenamt der DEK, nahm Verbindung mit Wurm auf, der zwar in die Attentatspläne nicht eingeweiht wurde, aber Informationen über die Ermordung der Juden erhielt (Wurm, Erinnerungen 170-172). D. -»Bonhoeffer wurde über seinen Schwager Hans v. Dohnanyi (1902-1945; vgl. Strohm, Ethik) zum Mitwisser der militärischen Widerstandsbewegung um Ludwig Beck (1880-1944) und Claus Schenk Graf v. Stauifenberg (1907-1944). Er konnte auf Reisen nach Norwegen, in die Schweiz, nach Schweden und Italien Informationen über die Widerstandsbewegung an Freunde in der Ökumene weitergeben (vgl. v. Klemperer, Verschwörer 2 2 6 - 2 6 7 ) . Den Freiburger Widerstandskreis, an dem sich auch Carl Goerdeler (1884-1945) beteiligte, regte Bonhoeffer zu einer Denkschrift an (Politische Gemeinschaftsordnung, ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit; vgl. T R E 7,56,44 ff; Bethge, Bonhoeffer 8 7 0 - 8 7 3 ) . Mit seinem Freund Friedrich-Justus Pereis (1910-1945; vgl. Schreiber, Pereis) entwarf Bonhoeffer für den Beck-Kreis eine neue Ordnung für die Beziehungen zwischen Staat und Kirche nach einem Umsturz (GS 11,433-437); auch einen „Entwurf zu einer KanzelAbkündigung" legte er für diesen Fall vor (GS 11,438 - 4 4 0 ) . 6.3.3. Die Mitwirkung an Umsturzplänen, die ein Attentat auf Hitler einschlössen, mußte von den beteiligten Christen ausschließlich selbst verantwortet werden. Eine ethische Theorie des Widerstands war in der protestantischen Theologie noch nicht entwickelt worden (-• Widerstandsrecht). Noch im Juli 1945 erklärte die neue brandenburgische Kirchenleitung zur Wiederkehr des 20. Juli 1944: „Die Kirche Jesu Christi kann einen Anschlag auf das Leben eines Menschen niemals gutheißen, in welcher Absicht er auch ausgeführt werden mag" (Wolf, Kirche 33). Der GVR telegrafierte nach dem Attentat eine Treueversicherung an Hitler: „In allen evangelischen Kirchen wird heute im Gebet der Dank zum Ausdruck kommen für Gottes gnädigen Schutz und seine sichtbare Bewahrung. Unsere inbrünstige Fürbitte geht dahin, daß Gott der Herr Sie,

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unseren Führer, weiterhin schütze und Ihnen für die großen Aufgaben der Zukunft Kraft schenke" (Melzer, Vertrauensrat 195). Die in der Widerstandsbewegung tätigen Christen haben ihre Entscheidung als einen Akt persönlichen Glaubensgeborsams auf die eigene Verantwortung genommen (vgl. T R E 12,154,40ff). Bonhoeffer brachte das, was ihn und seine Gefährten im Widerstand von den allermeisten anderen Christen in der Zeit des Nationalsozialismus menschlich und theologisch unterschied, in den Sätzen zum Ausdruck: „Wir haben in diesen Jahren viel Tapferkeit und Aufopferung, aber fast nirgends Civilcourage gefunden . . . Civilcourage aber kann nur aus der freien Verantwortlichkeit des freien Mannes erwachsen. Die Deutschen fangen erst heute an zu entdecken, was freie Verantwortung heißt. Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht" (Widerstand u. Ergebung, NA 1970, 14 f).

7. Der Übergang in die

Nachkriegszeit

7.1. Bei Kriegsende waren die Kirchen trotz aller äußeren Zerstörungen und inneren Zerwürfnisse die einzigen großen gesellschaftlichen Verbände, die über eine leidlich funktionierende Organisation verfügten und nicht pauschal als politisch diskreditiert galten. Sie standen sogar bei den Siegermächten in dem Ruf, dem Nationalsozialismus weitgehend widerstanden zu haben. Einzelne ihrer bekanntesten Vertreter wie Niemöller, Asmussen, Wurm und Graf v. Galen genossen weltweites Ansehen. Über den Weltkatholizismus bzw. über die -»Ökumene konnte man schon bald wieder internationale Kontakte anknüpfen, die Notlage in Deutschland schildern und um Hilfe bitten (vgl. Boyens 11,232-289). Die Militärverwaltungen - einschließlich der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) — behandelten auf regionaler wie überregionaler Ebene Kirchenvertreter wohlwollend und zogen sie zu ersten Neuordnungsmaßnahmen hinzu. 2 ' Begünstigt wurde solche Kooperation im Bereich der Evangelischen Kirche dadurch, daß sich die DC nach dem 8. Mai 1945 nicht mehr zu Wort meldeten. In den „intakten" Landeskirchen des „bischöflichen" Flügels der BK entfernte man einige wenige DC-Vertreter aus ihren Ämtern, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. In den „zerstörten" Landeskirchen übernahmen die Bruderräte und die Mittelpartci die Leitungsfunktionen, wobei man zu Kompromissen in Personalfragcn bereit war, wenn es sich nicht um allzu profilierte frühere Gegner im Kirchenkampf handelte. Schon vor der Konferenz von Treysa am 24./25. August 1945, auf der eine Vorläufige Ordnung der EKD beschlossen wurde (s. T R E 10,668,23 - 4 2 ) , zeichnete es sich ab, daß die Konzeption des Einigungswerks von Wurm (s.o. 6.1.3.) für die Nachkriegszeit bestimmend werden sollte, das sich als eine breite innerkirchliche Sammlungsbewegung aus der Mitte heraus verstand (vgl. Thierfeldcr, Einigungswerk). Nicht durchsetzen konnte sich Niemöller, der als „Ertrag" des Kirchenkampfes einen Neuaufbau von bekennenden Gemeinden auf der Grundlage der BTE und des Dahlemer „Notrechts" forderte. Ohne Erfolg blieb auch der Lutherrat, der die Bildung einer Lutherischen Kirche wünschte (s.TRE 10,669,4-21; 21,603,37- 41).

7.2. Die rasche Uberbrückung der tiefen Gräben, die die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Evangelischen Kirche aufgerissen hatte, war aus pragmatischen Gründen sinnvoll. Im zerstörten Nachkriegsdeutschland wurden die Kirchen, deren Strukturen über die Grenzen der Besatzungszonen hinausreichten, für vielfältige Hilfsmaßnahmen von allen Seiten in Anspruch genommen und mußten handlungsfähig sein (vgl. Wischnath, Kirche; Rudolph, Vertriebene). Eine viele Kräfte bindende selbstkritische Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit mit möglicherweise neuen Grenzziehungen und Parteiungen wäre in den Gemeinden auf Unverständnis gestoßen. Vermutlich wären die neuen Hauptverantwortlichen in der EKD einer „Bewältigung" ihrer Vergangenheit zunächst gänzlich ausgewichen, wenn nicht Anstöße von außen sie dazu gezwungen hätten, sich mit der Schuldfrage und der Entnazifizierung zu befassen. 7.2.1. Die Stuttgarter Schulderklärung wurde vom Rat der EKD am 19. Oktober 1945 vor Vertretern der Ökumene gesprochen, die um ein solches „Wort" gebeten hatten, um „einen neuen Anfang" mit den Kirchen in Deutschland machen zu können (zum Inhalt vgl. T R E 8,596,1-25; 13,434,19-24). In dem von H. Asmussen und O. -»Dibelius entworfenen Text wurde der Nationalsozialismus nur an einer Stelle beim Namen genannt:

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„Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben" (Greschat, Schuld 102).

Das Fehlen von Konkretionen und die „nicht nur sprachlogisch verunglückten Komparative" (Sauter: Besier/Sauter 91) sind 1945 nicht als Schwächen des Textes empfunden worden und haben seine Wirkung als ernste Bitte um -»Versöhnung in der Ökumene nicht beeinträchtigt. Problematisch war hingegen die sofort nach der Veröffentlichung des Wortlauts einsetzende kontroverse Diskussion in Deutschland, ob die Mitglieder des Rates der EKD berechtigt gewesen seien, ein „kollektives Schuldbekenntnis" abzulegen (Texte bei Greschat, Schuld 110ff). Das vorsichtige Abrücken einzelner Mitunterzeichner von dem Text (man weigerte sich, ihn „amtlich" zu veröffentlichen) und die ungeklärt bleibende Frage, welche Funktion er auf längere Sicht haben solle, führten dazu, daß durch die Schulderklärung unmittelbar keine selbstkritische Auseinandersetzung mit den Ereignissen in der Zeit des Nationalsozialismus in Gang gebracht wurde (für die in dieser Hinsicht weithin parallele Entwicklung in der Katholischen Kirche vgl. U. v.Hehl: KoGe 2,146-175). Das Darmstädter Wort des Bruderrates der EKD „zum politischen Weg unseres Volkes" vom 8. August 1947 wollte die Stuttgarter Schulderklärung konkretisieren, radikalisieren und vertiefen; doch auch dieses „Wort" hatte in der frühen Nachkriegszeit nur geringe Wirkung (vgl. Klappert). 7.2.2. Papst Pius XII. hatte schon während des Krieges jeden Kollektivschuld-Vorwurf als moralische Legitimation für Sanktionen konsequent abgelehnt. Diese grundsätzliche Einstellung teilten die deutschen Bischöfe. Sie forderten nach Kriegsende in Denkschriften und Ansprachen eine „Rechristianisierung" des deutschen Volkes als „Rückkehr zu Gott", wozu eine sorgfältige Gewissenserforschung Voraussetzung sei. Nach längeren Vorarbeiten veröffentlichte die Fuldaer Bischofskonferenz am 23. August 1945 einen Hirtenbrief, in dem zur Schuldfrage gesagt wurde: „Wir beklagen es zutiefst: Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ihre Haltung dem Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden . . . Es ist eine Forderung der Gerechtigkeit, daß immer und überall die Schuld von Fall zu Fall geprüft wird, damit nicht Unschuldige mit den Schuldigen leiden müssen. Dafür sind wir Bischöfe von Anfang an eingetreten und dafür werden wir uns auch in Zukunft einsetzen." 30 7.2.3. Die Ausrottung des Nationalsozialismus hatte zu den erklärten Kriegszielen der Alliierten gehört ( K o n f e r e n z von Jalta, Februar 1945). Neben die Verfolgung und strafrechtliche Ahndung individuell nachweisbarer Verbrechen (Kriegsverbrecherprozesse-, vgl. T R E 20,42,7-40; Klee, Pässe [Lit.]) sollte eine „politische Säuberung" der deutschen Gesellschaft insgesamt treten, die durch Erziehungsmaßnahmen (re-education) zu ergänzen war. 31 Die zwischen 1945 und 1949 durchgeführte Entnazifizierung zielte darauf ab, alle Personen aus öffentlichen Ämtern sowie von verantwortlichen Posten in wichtigen Privatunternehmen zu entfernen, die als Mitglieder der NSDAP „nicht nur nominell in der Partei tätig waren", sondern den „Nazismus oder Militarismus aktiv unterstützt" hatten (Vollnhals, Entnazifizierung [1991] 99). In allen Besatzungszonen wurde die Entnazifizierung der Pfarrer grundsätzlich den Kirchen überlassen, weil die Militärbehörden davon ausgingen, daß die Kirchenleitungen an einer „Selbstreinigung" hoch interessiert seien (Vollnhals, Entnazifizierung [1989] 54; Besier, „Selbstreinigung" 6 6 - 9 9 ) . Die Überprüfung der Pfarrerschaft verlief in den Landeskirchen unterschiedlich. Die Zahl der von kirchlichen Gremien disziplinierten Pfarrer blieb aber insgesamt weit unter dem Prozentsatz der von den Militärregierungen bzw. Spruchkammern gefällten Urteile über die Gesamtbevölkerung. Die Kirchen wehrten sich aus prinzipiellen Gründen gegen alle Entnazifizierungsaktionen der Alliierten. Als Vorsitzender des Rates der EKD schrieb Bischof Wurm im April 1946 an die amerikanische Militärregierung, man könne „nicht anerkennen, daß eine menschliche Obrigkeit

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nunmehr zu strafen unternimmt, was allein nach göttlichem Recht als Unrecht zu gelten" habe (Vollnhals, Entnazifizierung [1989] 118). 7.3. In der frühen N a c h k r i e g s z e i t ist es in d e n Kirchen zu keiner tiefergehenden A u s einandersetzung mit ihrer jüngst zurückliegenden G e s c h i c h t e im N a t i o n a l s o z i a l i s m u s g e k o m m e n . D e r materielle und organisatorische W i e d e r a u f b a u , die Versorgung u n d Integration der Flüchtlinge aus d e m O s t e n s o w i e der Kriegsheimkehrer b a n d e n b e s o n d e r s in der Evangelischen Kirche die Kräfte. So blieben fast alle Bruchlinien u n d kirchlicht h e o l o g i s c h e n A b g r e n z u n g e n , die z w i s c h e n 1933 und 1945 e n t s t a n d e n w a r e n , unter der Oberfläche unverändert bestehen u n d sorgten - vor allem im b e g i n n e n d e n Ost-WestKonflikt - für n e u e K o n f r o n t a t i o n e n ( - » Z e i t g e s c h i c h t e , Kirchliche). W e n n die Zeitges c h i c h t s f o r s c h u n g beharrlich versucht, die Verstrickungen der Kirchen in den N a t i o n a l s o z i a l i s m u s a u f z u d e c k e n und zu erklären, s o tut sie dies mit d e m Z i e l , aus d e m G e s a m t g e s c h e h e n w i e aus den D e t a i l s W a h r n e h m u n g s h i l f e n -zu g e w i n n e n , die für eine kritische Selbstprüfung kirchlichen H a n d e l n s in der G e g e n w a r t dienlich sind. 3 2 Anmerkungen 1

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Vgl. H . Hermelink, Kirche im Kampf (1950); W. Niemöller, Hb. des Kirchenkampfes (1956); H . Brunotte: EKL 2 (1958) 7 3 7 - 749; E. Wolf: RGG J 3 (1959) 1443-1453; K.D. Schmidt/K. Till: EStL (1966) 940-954; K. Scholder: EStL 2 (1975) 1177-1200; U. v . H e h l / C . Nicolaiscn: StL 7 3 (1987) 429-435. In der ursprünglichen Konzeption der Stichwortliste der T R E war ebenfalls ein Artikel Kirchenkampf vorgesehen, vgl. z.B. T R E 5,215,27; 487,1; 13,433,16; Register zu Bd. 1 - 1 7 , 137.157. K. Repgen: VKZG.A 1 (1965) VIII; vgl. U. v. Hehl/K. Repgen (Hg.), Der dt. Katholizismus 9 - 1 7 . A. Hitler, Mein Kampf 97.-101. Aufl., München 1934, 632. L. Siegele-Wenschkewitz, Nationalsoz. u. Kirchen 26. Vgl. J. Mehlhausen, Kirchenkampf als Identitätssurrogat? Die Verkirchlichung des dt. Protestantismus nach 1933: Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Tanner (Hg.), Prot. Identität heute, Gütersloh 1992, 192-203.288-293. v. Norden/Schoenborn/Wittmütz (Hg.), Barmer Theol. Erklärung Dok. 3. Vgl. J. Mehlhausen, Kirche zw. Irrtum u. Wahrheit. Barmen 1934-1984: R. Clausscn/S. Schwarz (Hg.), Widerstand 101-114; ders., Kirchenpolitik. Erwägungen zu einem undeutlichen Wort: Z T h K 85 (1988) 275-302. F.s fehlen für fast alle Landeskirchen bzw. Kirchenprovinzcn genaue Wahlanalysen. Die Lit. orientiert sich weithin an Gauger 1,95. Vgl. aber Wilhelm H . N e u s e r , Die Kirche u. ihre O r d n u n g - die Kirchenwahlen des Jahres 1933 in Westfalen: JWKG 76 (1983) 2 0 1 - 2 2 1 . Berater Müllers waren Heinrich Obcrhcid (1895-1977; vgl. Faulenbach, Oberheid) und A. Jäger (s.o. 4.2.2.), der vom April bis zum Oktober 1934 als „Rechtswalter" der DEK tätig war (vgl. Schneider, Reichsbischof 191-195). Als z . Z t . neuestes Dokument vgl. W. Hüffmeier (Hg.), Das eine Wort Gottes 11,13-17.121-130 (beide von Hüffmeier hg. Sammelbände erschließen die Lit. zur Rezeptionsgeschichte der BTE). Listen mit den N a m e n aller Personen, die den zentralen kirchl. Leitungsorganen nach 1934 angehörten, gibt es noch nicht. Die Lit. stützt sich meist auf die Angaben bei Gauger. Eine neue Übersicht bei Braun/Nicolaisen, Verantwortung 11,556-562. Aufschlußreich sind die Argumente, die hierzu in den Sitzungen des Bruderrats ausgetauscht worden sind; vgl. Braun/Nicolaisen, Verantwortung 1,297-302.333.336.339 f.343f u.ö. Vgl. J. Mehlhausen, Die Rezeption der Barmer Erklärung in der theol. Arbeit der württembergischen Sozietät: W.-D. Hauschild/G. Kretschmar/C. Nicolaisen (Hg.), Die luth. Kirchen 271-288; Martin Widmann, Die Gesch. der Kirchl.-theol. Sozietät in Württemberg: Bauer, Predigtamt 110-190. Eine Einf. in die Kontroverse bietet K. O . v. Aretin, Einleitende Vorbemerkungen zur Kontroverse Scholder-Repgen: Scholder, GA 171-173; Lit. bei H u b e r / H u b e r IV,485 A . l . K. Scholder, Politik u. Kirchenpolitik im Dritten Reich. Die kirchenpolitische Wende in Deutschland 1936/37: ders., GA 213 -227.227. M . Greschat, Widerspruch 104-143 (mit den Anlagen zur Denkschrift). Z u m 9. November 1988 veröffentlichten der Rat der EKD und der Bund der Ev. Kirchen in der DDR ein „Wort zum 50. Jahrestag des Pogroms", in dem es heißt: „Auch die Christen - von wenigen Ausnahmen abgesehen — haben damals geschwiegen" (KJ 115 [1988] 176). Z u m Pogrom vgl. Walter H . Pehle (Hg.), Der Judenpogrom 1938. Von der „Reichskristallnacht" zum Völkermord, F r a n k f u r t / M . 1988 (Lit.).

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" Z u m Begriff vgl. H . Ludwig, Die „Illegalen" im Kirchenkampf: Bauer (Hg.), Predigtamt 23 - 7 0 . " Dokumente bei Götz Aly (Hg.), Aktion T 4 1939-1945. Die „Euthanasie"-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 2 1989, 14; vgl. N o w a k , „Euthanasie"; Klee, Dokumente. 10 Die wichtigsten Veröffentlichungen zum Historikerstreit: „Historikerstreit". Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsoz. Judenvernichtung, München/Zürich 1987; Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsoz. Geschichte? Z u Historisierung u. Historikerstreit, F r a n k f u r t / M . 1987 (Lit.); Bernd Faulenbach/Rainer Bölling, Geschichtsbewußtsein und hist.politische Bildung in der BRD. Beitr. zum „Historikerstreit", Düsseldorf 1988 (Lit.); Hans-Ulrich Wehler, Entsorgung der dt. Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum „Historikerstreit", München 1988; Richard J. Evans, In Hitler's Shadow. West German Historians and the Attempt to Escape from the Nazi Past, N e w York 1989 (Lit.); Uwe Backes/Eckhard Jesse/Rainer Zitelmann (Hg.), Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsoz., Frankfurt/ M./Berlin 1990 (Lit.); Helmut Donat/Lothar Wieland (Hg.), „Auschwitz erst möglich gemacht?" Überlegungen zur jüngsten konservativen Geschichtsbewältigung. Mit einer Bibliogr. zum „Historikerstreit" [1.203 Titel], Bremen 1991; Bibliographien in VZG. 21 Vgl. Lea Rosh/Eberhard Jäckel, „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland". Deportation u. Ermordung der Juden. Kollaboration u. Verweigerung in Europa, Hamburg 1990. 22 Aus der umfangreichen Lit. seien hervorgehoben Gerlach, Zeugen; Greschat/Kaiser (Hg.), Holocaust (Lit.); Röhm/Thierfelder, Juden, Christen, Deutsche 1/11,1 + 2 (Lit.). " Vgl. Markus Wurster, Der Münchner Laienbrief (1943): v. Norden/Wittmütz (Hg.), Kirche im Zweiten Weltkrieg 7 7 - 1 0 2 . Z u r Information der Ö k u m e n e über die „Endlösung" vgl. Boyens 11,117-151. " Vgl. Büttner, Not; Ludwig, Opfer; J. Mehlhausen, Jochen Klepper. Eine Gedenkrede u. Anm. zum Forschungsstand: ZKG 104 (1993) 358-376. 25 Vgl. E. Bethge, Schoah (Holocaust) u. Protestantismus: KoGe 1,1-37; 21 ff. " H . Hürten, Zehn Thesen eines profanen Historikers zur Diskussion um den Widerstand der Kirchen in der nationalsoz. Zeit: KZG 1 (1988) 116 f. - Das gesamte Heft 1/1988 der KZG ist dem Themenschwerpunkt „Der Widerstand von Kirchen u. Christen gegen den Nationalsoz." gewidmet. 27 Vgl. Scholder, GA 2 0 4 - 212; v . N o r d e n , Widersetzlichkeit von Kirchen u. Christen: Benz/Pehle (Hg.), Lexikon 6 8 - 8 2 . 21 Vgl. L. Siegcle-Wenschkewitz, Ist Ethik eine Kategorie der Historiographie?: EvTh 51 (1991) 155-168.167 (leichte Änderung der von Siegele-Wenschkewitz vorgeschlagenen Kategorienreihe). " Eine Ubersichtsdarstellung bietet J. Thierfelder: Besier/Thierfelder/Tyra, Kirche nach der Kapitulation 1,8-50. 10 Z u r „katholischen Schulderörterung" nach Kriegsende vgl. Konrad Repgen, Die Erfahrung des Dritten Reiches u. das Selbstverständnis der dt. Katholiken nach 1945: Conzemius/Greschat/ Kocher (Hg.), Die Zeit nach 1945, 127-179; dort der Text der „Schulderklärung der Fuldaer Bischofskonferenz vom 23. August 1945" 161 f. 11 Vgl. James Tent, Mission on the Rhine. Reeducation and Denazification in American-occupied Germany, Chicago 1982; C. Vollnhals (Bearb.), Die ev. Kirche nach dem Zusammenbruch. Berichte ausländischer Beobachter aus dem Jahre 1945, 1988 (AKZG.A 3). 32 Vgl. J. Mehlhausen, Methode 518-521. Quellen (Abk.: NS = Nationalsozialismus; nat.soz. = nationalsozialistisch) 1. Zeitgenössische gedruckte Quellen (nur Titel, die in der Darstellung zitiert werden) Karl Barth, Theol. Existenz heute! (1933), neu hg. u. eingel. v. Hinrich Stoevesandt, 1984 (TEH 219). - Arthur Dinter (Hg.), Das Geistchristentum. Monatsschr. zur Vollendung der Reformation durch Wiederherstellung der reinen Heilandslehre 1 - 2 (1928-1929). - Joachim Gauger, Chronik der Kirchenwirren ( = Gotthard Briefe 138 ff, Bd. 12-14). I. Vom A u f k o m m e n d e r „Deutschen Christen" 1932 bis zur Bekenntnis-Reichssynode im Mai 1934; II. Von der Barmer Bekenntnis-Reichssynode im Mai 1934 bis zur Einsetzung der Vorläufigen Leitung der Dt. ev. Kirche im November 1934; III. Von der Einsetzung der Vorläufigen Leitung der Dt. Ev. Kirche im November 1934 bis zur Errichtung eines Reichsministeriums für die kirchl. Angelegenheiten im Juli 1935, Elberfeld 1934/1935/1936. - Leopold Klotz (Hg.), Die Kirche u. das dritte Reich. Fragen u. Forderungen dt. Theologen, 2 Bde., Gotha 1932. - Walter Künneth/Helmuth Schreiner (Hg.), Die Nation vor Gott. Z u r Botschaft der Kirche im Dritten Reich, Berlin 1933. - Alfred Rosenberg, Das Parteiprogramm. Wesen, Grundsätze u. Ziele der NSDAP, München 1922 17 1943. - Ders., Der Mythus des 20. Jh. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930 "1934. - Kurt Dietrich Schmidt (Hg.), Die Bekenntnisse u. grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage. I. 1933, Göttingen 3 1934; II. Das Jahr 1934, Göttingen 1935; III. Das Jahr 1935, Göttingen 1936.

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- Stud. zum Mythus des XX. Jh. I + II: Kirchl. Anzeiger für die Erzdiözese Köln. Amtl. Beilage, Köln J 1935. 2. Nach 1945 veröffentlichte

Quellen

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(Hg.), Texte zur Gesch. des Pfarrernotbundes, Berlin 1958 (KIT 180). - Günther van Norden, Der dt. Protestantismus im Jahr der nat.soz. Machtergreifung [mit Dokumenten], Gütersloh 1979. - Ders./Paul Gerhard Schoenborn/Volkmar Wittmütz (Hg.), Barmer Theol. Erklärung. Kirchenkampf. Eine Sammlung ausgew. Dokumente, Wuppertal-Barmen 2 1984. - Ders., Das 20. Jh. Quellen zur rheinischen KG V, Düsseldorf 1990. - Kurt Pätzold/Erika Schwarz (Hg.), Tagesordnung: Judenmord. Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur „Endlösung", Berlin 2 1992. - Anselm Reichhold, Die dt. kathol. Kirche zur Zeit

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Nachschlagewerke

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Übersichtsdarstellungen

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Sammelwerke

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Monographien

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Nationalsozialismus und Kirchen

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Territorialgeschichte

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Natürliche Religion I

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Biographien/Memoiren

Enno Konukiewitz, Hans Asmussen. Ein luth. Theologe im Kirchenkampf, 1984 (LKGG 6). - Wolfgang Lehmann, Hans Asmussen. Ein Leben für die Kirche, Göttingen 1988. - Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen u. autobiograph. Texten, München J 1979. - Joachim Beckmann, Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit. Erlebte KG, Neukirchen-Vluyn 1986. - Manfred Hcllmann, Friedrich V.Bodelschwingh d . J . Widerstand für das Kreuz Christi, Wuppertal/Zürich 1988. - Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe/Christ/Zeitgenosse, München 5 1983. - Hermann Klemm, Im Dienst der Bekennenden Kirche. Das Leben des sächsischen Pfarrers Karl Fischer 1896-1941, bearb. v. Gertraud Grünzinger-Siebert, 1986 (AGK.E 14). - Rudolf Morsey, Clemens August Kardinal v. Galen. Bischöfliches Wirken in der Zeit der Hitler-Herrschaft, Düsseldorf 1987. - Stefan Rahner, „Treu deutsch sind wir - wir sind auch treu katholisch". Kardinal v. Galen u. das Dritte Reich, Münster 1987. - Günter Wirth, Heinrich Grüber, Berlin/DDR 1987. - Heiner Faulenbach, Ein Weg durch die Kirche. Heinrich Josef Oberheid, 1992 (SVRKG 105). - Matthias Schreiber, Friedrich Justus Pereis. Ein Weg vom Rechtskampf der Bekennenden Kirche in den politischen Widerstand, München 1989 (HUWJK 3). - Gerlind Schwöbel, „Ich aber vertraue". Katharina Staritz - eine Theologin im Widerstand, Frankfurt/M. 2 1992. - Franz Tügel, Mein Weg 1888-1946. Erinnerungen eines Hamburger Bischofs, hg. v. Carsten Nicolaisen, 1972 (AKGH 11). - Theophil Wurm, Erinnerungen aus meinem Leben, Stuttgart 1953. J o a c h i m Mehlhausen Natürliche Religion I. Theologie und Religionsphilosophie der Antike II. Theologie und Religionsphilosophie vom 17. J h . bis zur Gegenwart

. . . S. 80

I. Theologie und Religionsphilosophie der Antike (Literatur S. 80) Der Begriff der natürlichen Religion ist sicherlich in vollständiger Weise erst in der Religionsphilosophie der europäischen Aufklärung systematisch entfaltet und reflektiert worden ( - » D e i s m u s ) . Insofern ist die Vorstellung von Religion, die dem Nachdenken über eine in der menschlichen N a t u r gleichsam angelegte Religiosität zugrunde liegt, aufs engste mit christlichen Traditionen verbunden. Auch wenn sich der Sache nach auch in nichtchristlichen Traditionen (z.B. in den Hindureligionen, -»Hinduismus) religionsphilosophische und religionstheologische Reflexionen erkennen lassen, die die Einheit und Vielfalt der Religionen mit dem, was spezifisch für den Menschen, was ihm „ n a t ü r l i c h " ist, zu korrelieren versuchen, scheint es angebracht, dem Konzept der natürlichen Religion in christlich geprägter oder in Auseinandersetzung mit dem Christentum formulierter Religionsphilosophie nachzugehen. Die bemerkenswerte Vielfalt in der unterschiedlichen Beantwortung der Frage, was die den Menschen „ n a t ü r l i c h e " Religion sei, hängt in erster Linie an der Unklarheit des Begriffs „ n a t ü r l i c h " , dessen Mehrdeutigkeit die Entfaltung unterschiedlichster Standpunkte zur Folge hatte. Diese Mehrdeutigkeit ist schon daran erkennbar, d a ß der Begriff des „ N a t ü r l i c h e n " angesichts unterschiedlicher Gegenbegriffe herausgearbeitet wurde, und je nach seinem Gegenbegriff veränderte sich die Perspektive dessen, was als die

Natürliche Religion I

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Natur des Menschen in den Blick geriet. So unterschied beispielsweise der römische Polyhistor Varro eine sachlich hierher gehörende theologia naturalis als die dem Philosophen angemessene Religionsform von einer theologia civilis, die als dem Staate dienende (äußerliche) Religion den Gegensatz von innen und außen reflektiert. Diese Prägung des Begriffs hat über Augustin Eingang in die christliche Religionsphilosophie gefunden. Schon in der altkirchlichen Auseinandersetzung mit vorchristlicher und zeitgenössischer Religionsgeschichte und Philosophie (-»Apologetik I) sind Anschauungen zu erkennen, die eine allen Menschen gemeinsame „Natur" voraussetzen. Denn bei der Verteidigung des christlichen Glaubens angesichts von dessen (auch politischer) Verdächtigkeit hatten sich die Apologeten auch gegen den Vorwurf des Plagiats zu wehren, wesentliche Grundanschauungen des Christentums seien nicht nur schon in der vorchristlichen Philosophie und Religionsgeschichte vorgebildet, vielmehr hätten die Christen als die Anhänger der jüngsten Religion diese nur übernommen und entstellt (so wohl vor allem Celsus in seinem durch Origenes' Contra Celsum zu rekonstruierenden aXr}!)i}t; XoyoQ). Damit war den christlichen Apologeten die doppelte Aufgabe gestellt, für die (möglicherweise scheinbaren) Analogien zwischen den Religionen ebenso eine theoretische Begründung zu geben wie Religionen und Philosophie in ihrer antiken Vielgestalt überhaupt zu sichten und die vera religio des Christentums inmitten und angesichts des zeitgenössischen religiösen Pluralismus zu erweisen. Bemerkenswerterweise wählten die Christen keinen anderen Begriff auch zur Selbstbezeichnung ihres Glaubens als eben den der religio, freilich mit dem unterscheidenden Merkmal vera. Und so konnte ein bedeutsamer Topos auch des später entwickelten Konzepts der natürlichen Religion herausgearbeitet werden, wenn -»Justin der Märtyrer in Aufnahme des stoischen Gedankens von den Xoyoi anep/iaxixoi (-»Stoa) vom Xöyog anepfiarixdg spricht, der auch außerhalb des Christentums in allen Menschen wirken kann und wirkt, die alle gleichermaßen Anteil am Xöyog haben, der vollkommen in Christus offenbar wurde. Daß es folglich auch „Christen vor Christus" gegeben habe, wird von —•Tertullian mit der Spitzenaussage anima naturaliter christiana (Apol. 17) auf den Punkt gebracht. Das Wesen des Menschen wird hier in einem Begriff gefaßt, der ihn von Natur aus (naturaliter) auszeichnet. Oder mit den Worten Augustins: Die vera religio sei das, was schon „bei den Alten vorhanden gewesen ist und niemals seit Anfang des Menschengeschlechts gefehlt hat, bis Christus im Fleisch erschien, von wo an die wahre Religion, welche schon vorhanden war, die christliche genannt zu werden begann" (Retract. 1,13,3). Diese Wesensbeschreibung des Menschen faßt das ihm Natürliche als das, was sich überzeitlich, d.h. seit Anbeginn der Schöpfung gleicht; sie ist damit ein Gegenbegriff zu dem, was historisch als Widersprüchlichkeit der heidnischen Philosophie oder gar als der Greuel des volkstümlichen -»Polytheismus zu brandmarken war. Die vor allem im Deismus aus der Geschichte der Religionen entwickelte Depravationstheorie ist hier ebenso vorgebildet wie die theoretischen Begründungen für das Vorhandensein polytheistischer Religionsformen überhaupt trotz dieser doch eigentlichen und natürlichen Verfaßtheit der menschlichen Seele. Zur Erklärung des vorchristlichen Polytheismus und damit dieses Widerspruchs sind zahlreiche Theorien entwickelt worden. So seien die Menschen durch Dämonen (wegen deren Eifersucht und Hochmut) zur Idolatrie und damit zum Polytheismus, d. h. zur Anbetung ebendieser Dämonen, verführt worden, zum anderen konnte die Herkunft der Götzen des Polytheismus mit dem Hinweis auf den geschlechtlichen Verkehr der „Göttersöhne" mit den Menschentöchtern nach Gen 6 geklärt werden (zu diesen altkirchlichen Theorien über die Entstehung des Polytheismus siehe Pinard de la Boullaye). Ebenfalls eine Sichtung und Beurteilung des paganen Polytheismus ist methodische Voraussetzung für die Antwort des -»Origenes auf den dXrj^rjg Xöyog, den Celsus in den antiken Religionen verwirklicht sah. Bemerkenswert an seiner Antwort ist nicht nur die Zurückweisung des Plagiatsvorwurfs, sondern die Begründung, die Origenes

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Natürliche Religion II

für die zahlreichen religionsgeschichtlichen Parallelen o d e r Analogien zwischen C h r i stentum und H e i d e n t u m gibt. D i e s e Ü b e r e i n s t i m m u n g e n seien entweder pure Z u f ä l l e , o d e r sie entsprängen allgemein verbreiteten, xoivai ëvvoiai, o d e r a b e r U b e r e i n s t i m m u n gen zwischen C h r i s t e n t u m und den anderen R e l i g i o n e n seien wegen der Verschiedenheit der ihnen zugrunde liegenden unterschiedlichen Intentionen nur scheinbar ( C o n t r a Celsum 7 , 6 3 ) . Ähnlich a r g u m e n t i e r t Augustin: „ W e n n du nicht glaubst, w a s die H e i d e n g l a u b e n , nicht hoffst, w a s die H e i d e n hoffen, nicht liebst, w a s die Heiden lieben, . . . dann bist du von den H e i d e n unterschieden. D a n n k a n n dich die äußerliche Ähnlichkeit bei einer so g r o ß e n Verschiedenheit des Geistes nicht e r s c h r e c k e n " ( S e r m o de kal. 2 , 2 ) . A u c h unter einer anderen Perspektive, angesichts eines weiteren Gegenbegriffs, gew a n n die natürliche R e l i g i o n in diesen Auseinandersetzungen einen spezifischen I n h a l t , n ä m l i c h in dem G e g e n s a t z von natürlicher Religion und Offenbarungsreligion. Auch dieser G e g e n s a t z w u r d e im G e f o l g e der A u f k l ä r u n g - besonders deutlich in dem „ G l a u b e n s b e k e n n t n i s des savoyischen V i k a r s " i m 4 . B u c h seines „ E m i l e " (1762) von J e a n J a c q u e s - » R o u s s e a u - zu e i n e m e m p h a t i s c h e n B e k e n n t n i s der Superiorität der natürlichen Religion über die O f f e n b a r u n g s r e l i g i o n (en) in ihrer historischen Pluralität und d a m i t R e l a t i v i t ä t gesteigert: „ D i e h ö c h s t e n Vorstellungen von der G o t t h e i t k o m m e n uns allein aus der V e r n u n f t . . . M a n sagt m i r , d a ß es einer O f f e n b a r u n g bedürfte, u m die M e n s c h e n zu lehren, a u f w e l c h e Weise sie G o t t dienen müssen; als Beweis d a f ü r führt m a n die Verschiedenartigkeit der seltsamen Kulte a n , die sie eingeführt h a b e n , und e r k e n n t nicht, d a ß ebendiese Verschiedenartigkeit aus d e m W a h n der O f f e n b a r u n g e n k o m m t . Seit die V ö l k e r a u f den G e d a n k e n k a m e n , G o t t sprechen zu lassen, hat jeder ihn a u f seine Weise sprechen lassen und ihn sagen lassen, w a s er hören wollte. H ä t t e m a n nur auf das g e h ö r t , w a s G o t t d e m M e n s c h e n h e r z e n sagt, hätte es i m m e r n u r eine R e l i g i o n auf Erden g e g e b e n " ( J e a n - J a c q u e s R o u s s e a u , E m i l e oder Uber die Erziehung, hg. v. M a r t i n R a n g , Stuttgart 1 9 6 3 , 6 0 3 f ) . T r o t z der d i a m e t r a l entgegengesetzten Bew e r t u n g der —»Offenbarung (bei R o u s s e a u n u r im Z u s a m m e n h a n g mit der A n s c h a u u n g von der E n t a r t u n g der zahlreichen R e l i g i o n e n im Unterschied zu der einen und wahren natürlichen R e l i g i o n gesehen) ist diese S p a n n u n g zwischen natürlicher und O f f e n b a rungsreligion ebenfalls in der Auseinandersetzungsliteratur der alten K i r c h e zu e r k e n n e n . N a t ü r l i c h e Religion ist in beiden Fällen hinsichtlich der Art der Entstehung von religiöser E r k e n n t n i s von der E r k e n n t n i s durch O f f e n b a r u n g geschieden. Die prinzipiell o d e r (bei R o u s s e a u ) f a k t i s c h e N o t w e n d i g k e i t der O f f e n b a r u n g wird allgemein mit der Hinfälligkeit und S c h w ä c h e der M e n s c h e n begründet. S o äußerte - » G r e g o r von N a z i a n z den G e d a n k e n , d a ß die O f f e n b a r u n g G o t t e s nur schrittweise möglich w a r und sich d e m jeweiligen E n t w i c k l u n g s s t a n d der M e n s c h e n a n p a ß t e , da G o t t nicht wie ein T y r a n n den M e n s c h e n begegnen w o l l t e , sondern als P ä d a g o g e und Arzt ( n a i ô a y c o y i x m ç Te xai iarpixùiç: O r a t . 3 1 , 2 5 f). - Z u r weiteren G e s c h i c h t e des Begriffs - » N a t ü r l i c h e T h e o l o g i e , - » D e i s m u s . Z u r systematischen B e d e u t u n g der natürlichen Religion in der N a t u r r e c h t s lehre - » N a t u r r e c h t . Literatur Edmund Hardy, Zur Gesch. der vergleichenden Religionsforschung: ARW 4 (1901) 4 5 - 6 6 . - Henri Pinard de la Boullaye, L'étude comparée des religions. I. Son histoire dans le monde occidental, Paris *1929. - Simone Zurbuchen, Naturrecht u. natürliche Religion. Zur Gesch. des Toleranzproblems von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau, Würzburg 1991. Hans Wißmann II. T h e o l o g i e und Religionsphilosophie v o m 17. J h . bis zur Gegenwart (Literatur S. 85) I m folgenden sollen die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs „ n a t ü r l i c h e R e l i g i o n " in T h e o l o g i e und R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e seit d e m Beginn des 17. J h . dargestellt und mit e x e m p l a r i s c h e m Q u e l l e n m a t e r i a l belegt w e r d e n . D a diejenigen, die den Begriff

Natürliche Religion II

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gebrauchten, sich in der Regel nicht seiner verschiedenen, manchmal widersprüchlichen Inhalte bewußt waren, sind die Beschreibungen von „natürlicher Religion" und Auseinandersetzungen über ihre Bedeutung, wie sie ihren Höhepunkt in der Mitte des 18. Jh. hatten, häufig bereits im Ansatz verworren. Lector caveat! 1. Eine gebräuchliche Verwendung des Begriffs „natürliche Religion" bezeichnet eine auf den Verstand gegründete religiöse Überzeugung und Praxis, die jedermann zugänglich ist und deren Wahrheit schlicht durch rationale Überlegung gerechtfertigt werden kann. Derartige „natürliche Religion" ist also von universaler Gültigkeit. Sowohl in ihrem Ursprung als auch in ihrer Ausdehnung unterscheidet sie sich daher von einer Religion, deren Überzeugungen und Praktiken von göttlicher Offenbarung hergeleitet werden und deren tatsächlicher Geltungsbereich deshalb auf jene beschränkt ist, die diese Offenbarung empfangen haben. So formuliert beispielsweise „A. W." in einem Brief in Charles Blounts (1654-1693) Oracles of Reasott (London 1693): „Natürliche Religion ist die Überzeugung, die wir von einem ewigen geistigen Wesen haben und von der Pflicht, die wir ihm schuldig sind, wie wir von unserer Vernunft belehrt wurden, ohne Offenbarung oder positives Gesetz" (197). Dieses Verständnis von natürlicher Religion ist der Gegenstand von David - • H u m e s klassischem Werk Dialoglies Concerning Natural Religion. In diesem 1779 in London postum veröffentlichten Werk setzt H u m e sich kritisch mit den verschiedenen Argumentationsweisen auseinander, die besonders im Laufe der vorausliegenden einhundert Jahre vorgebracht worden waren zum Erweis der Wahrheit der „Existenz G o t t e s , . . . die der Grund aller unserer Hoffnungen ist, das sicherste Fundament der Moral, die festeste Stütze der Gesellschaft" (Oxford 1935, 158). Es sind in der Hauptsache zwei Weisen rationaler Überlegung, die zu einem Verständnis führen sollen, das eine derartige natürliche Religion hervorbringt. Einigen Denkern zufolge ist das betreffende Verständnis seinem Wesen nach der menschlichen Vernunft inhärent und für sie grundlegend. Entsprechend wird es von der Vernunft entdeckt, indem sie ihre eigene Natur betrachtet. -»Herbert von Cherbury z.B. behauptet, daß es bestimmte „allgemeine Vorstellungen" (common notions) gebe, die, wenn sie einmal zu Bewußtsein gebracht sind, von jedermann und allerorts als wahr anerkannt werden und die Normen für wahre Erkenntnis bereitstellen. In De Veritate (Paris 1624, London 31645) zählt er die fünf grundlegenden allgemeinen Vorstellungen der Religion auf: (1.) die Anerkennung der Wirklichkeit des einen Gottes, der (2.) zu verehren ist, (3.) Tugend und Frömmigkeit als die wichtigsten Bestandteile von Religion, (4.) Reue angesichts von Sünde als Mittel zu ihrer Sühne und (5.) Lohn und Strafe nach dem Tod. Diese Prinzipien, die für jedermann die wahre religiöse Überzeugung und Praxis definieren, seien universal anerkannt, in jeder Religion, zu jeder Zeit und in allen Ländern, allen Perversionen des Priestertums zum Trotz. In De Religione Gentium (Amsterdam 1663, engl. Übers. London 1705) sucht er zu zeigen, daß das Zeugnis der tatsächlich vorhandenen Religionen mit dieser Behauptung übereinstimmt. Für die Platoniker von Cambridge (-»Cambridge, Platoniker von) wie z.B. John Smith ist die Besinnung auf den menschlichen Intellekt der Weg zur Kenntnis des Göttlichen: „Wir müssen die Augen der Sinne schließen und das hellere Auge unserer Verstandeskräfte öffnen, jenes andere Auge der Seele, wie der Philosoph unser intellektuelles Vermögen nennt." Dann werden wir anfangen, „klar zu sehen; das Licht der göttlichen Welt wird auf uns fallen, und jene heiligen . . . reinen Funken unsterblicher und ewiger Wahrheit werden in uns hinein scheinen, und in Gottes eigenem Licht werden wir ihn erblicken" (Select Discourses, London 1660,16). Dies ist eine optimistische Einschätzung der Kräfte des menschlichen Verstandes, die viele nicht teilten. Robert South (1634-1716) beispielsweise gibt zwar zu, daß solch eine Beschreibung auf Adam vor dem Sündenfall zutrifft, danach jedoch, meint er, „ist das Licht in uns Finsternis geworden, und der Verstand, der Auge für die blinde Willenskraft sein sollte, ist selbst blind" (Twelve Sermons, London 3 1715, 72).

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Natürliche Religion II

Anderen Denkern zufolge ist das Verständnis, das zu den universalen Wahrheiten der natürlichen Religion gelangt, das Ergebnis von Überlegungen a posteriori. So ist z.B. James Martineau (1805-1900) der Ansicht, daß wir „durch Reflexion auf die Ordnung der physischen und moralischen Welt" zur „natürlichen Religion" gelangen, zum Glauben an einen „göttlichen Geist und Willen, der das Universum regiert und in moralischer Beziehung zur Menschheit steht" - ein Glaube, dem er die ,,übernatürliche Religion" gegenüberstellt, deren Grund „einer unmittelbaren Kommunikation des göttlichen Geistes mit dem menschlichen zugeschrieben" wird (A Study of Religion, Oxford 1888,1 f). Dies ist die Gestalt von „natürlicher Religion", die von manchen der radikalen Kritiker des traditionellen christlichen Glaubens vertreten wurde, die allgemein als „Deisten" (-»Deismus) bezeichnet werden. So versucht z.B. William Wollaston (1660-1724) in The Religion ofNature Delineated (London 1726) zu bestimmen, welche Gedanken über Religion von jedem „heidnischen Philosophen, ohne jede andere Hilfe", lediglich mittels der Vernunft, zu erwarten sind (211). Das Ergebnis, auf moralischer Empfindung und kosmologischen und teleologischen Argumenten basierend, geht in Richtung eines ausschließlich moralischen Gottesglaubens. Wollaston schließt die Möglichkeit nicht aus, daß diese natürliche Religion einer Erweiterung durch Wahrheiten bedürfen könnte, die auf dem Weg der Offenbarung von Gott mitgeteilt werden. So wie Samuel -»Clarke in seinen Boyle-Lectures 1704 und 1705 sind einige der Meinung, daß das Christentum zwar die in der natürlichen Religion wahrgenommenen Wahrheiten voraussetzt, daß aber wegen der geistigen Beschränktheit und der moralischen Korruption des Menschengeschlechts eine Offenbarung notwendig sei, sowohl um Irrtümer in der Wahrnehmung der Vernunft zu korrigieren, als auch um Inhalte zu eröffnen, die außerhalb der Reichweite der Vernunft liegen. Andere, wie Matthew Tindal (ca. 1656—1733), vertreten wiederum die Ansicht, daß „die Religion der Natur" ausreichend und das eigentliche Christentum nichts als eine präzise Darstellung ihres Inhaltes sei. 2. Ein zweiter Gebrauch des Begriffs „natürliche Religion" bezieht sich auf die Religion, die Adam von Gott empfangen haben soll und die dann mehr oder weniger sorgfältig dem ganzen Menschengeschlecht weitergegeben worden sei. Ist sie einmal korrekt identifiziert, so stellt sie den Prüfstein dar, an dem sich entscheidet, was an den tatsächlichen Religionen der Welt gültig und was verfälscht ist. So argumentiert der klassische Kritiker des Deismus, John Leland (1691-1766), in The Advantages and Necessity of the Christian Reuelation (London 1764), daß „durch die göttliche Güte die ersten Eltern und Ahnen des menschlichen Geschlechts ein Wissen von Religion in ihren hauptsächlichen, fundamentalen Prinzipien hatten, von Gott selbst ihnen gegeben, als sie zum ersten Mal die Welt betraten" (1,70). In dieser Sicht trägt die authentische „natürliche Religion" ihre Bezeichnung nicht deshalb, weil sie ihren Ursprung in einer Entdeckung der natürlichen Vernunft hätte, und auch ein geoffenbarter Grund wird nicht bestritten. Vielmehr besteht sie aus von Gott erschlossenen Wahrheiten, die, wenn sie einmal bekannt sind, von der Vernunft als solche anerkannt werden (bzw. anerkannt würden, wenn die Vernunft nicht korrumpiert worden wäre) (1,5). Einige meinen, daß Spuren dieser ursprünglichen Religion immer noch in den Überzeugungen und Praktiken der verschiedenen Religionen der Welt nachgewiesen werden können. Leland beispielsweise sucht diese Behauptung mit dem Hinweis auf einen Glauben an „eine oberste Gottheit" zu rechtfertigen, der sich nach „den neuesten und besten Berichten" bei den Bewohnern des südlichen Afrika, Indiens, Ceylons und Amerikas finden lasse (ebd. 1,88 f). Es wird allerdings auch festgehalten, daß das Wissen um die ursprüngliche und in diesem Sinn „natürliche" Religion in seiner Überlieferung seit dem adamitischen Zustand massiv korrumpiert und verzerrt worden ist. Einige setzen den Beginn der Korruption mit dem Zeitpunkt des Sündenfalls gleich, andere sehen erst nach der Sintflut „eine unheilvolle Abgötterei sich zunehmend über die Erde aus-

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Natürliche Religion II breiten" (so East Apthorp [1760-1809] in Letters London 1778, 256).

on the Prevalence

of

Christianity,

3. Eine dritte Verwendungsweise gebraucht den Ausdruck „natürliche Religion" im Gegensatz zur eben dargestellten Bedeutung zur Beschreibung eines gänzlich menschlichen und deshalb zu verwerfenden Unterfangens. Wahrer Glaube dagegen sei eine Folge göttlicher Offenbarung. Dieses Verständnis natürlicher Religion wird von Benjamin -»Jowett beschrieben, wenn auch nicht akzeptiert, wenn er schreibt: „Natural religion has öfter, bcen depressed with a view to the exaltation of revealed... Natural religion has sometimes been regarded as the invention of human reason; at other times, as the decaying sense of primeval revelation" (Natürliche Religion ist oft abgewertet worden im Blick auf die Verherrlichung der geoffenbarten . . . Natürliche Religion ist manchmal als die Erfindung der menschlichen Vernunft angesehen worden; zu anderen Zeiten als der verfallende Sinn einer uranfänglichen Religion: The Interpretation of Scripture and other Essays, London/New York o. J., 392). Diesem Religionsverständnis entsprechend spiegelt sich Ludwig Feuerbachs Schlußfolgerung „Der Mensch ist der Anfang der Religion, der Mensch der Mittelpunkt der Religion, der Mensch das Ende der Religion" (Das Wesen des Christentums, Stuttgart 1969, 283) in Karl Barths These, daß wir, wenn wir Gott „den höchsten Platz in unserer Welt zuweisen" und „an ihn" glauben, in Wirklichkeit „uns selber rechtfertigen, genießen und anbeten" (vgl. K. Barth, Der Römerbrief, Zürich 7 1940, 1 8 - 2 4 ) . Eine Variante dieses Gebrauchs des Begriffs „natürliche Religion", die ihn ebenfalls der Offenbarung gegenüberstellt, zielt nach Jowett auf den „Aspekt oder die Sichtweise, in der Religion erscheint, wenn sie vom Judentum oder Christentum getrennt wird. Er umfaßt alle Entwürfe von Religion oder Moral, die nicht bewußt vom Alten oder Neuen Testament abstammen" (Jowett a . a . O . 393). 4. Ein vierter Gebrauch des Ausdrucks „natürliche Religion" bezeichnet die religiösen Überzeugungen und Praktiken, deren Vorhandensein in der Welt die empirische Forschung nachweisen soll. John -•Wesley beispielsweise versucht Wollastons Verständnis von „natürlicher Religion" zu widerlegen, indem er sich auf das von ihm für „wild" befundene Verhalten der Heiden beruft. Edmund Gibson (1669-1748) macht Gebrauch von Reiseberichten über Bosheit, Ausschweifung und groben Irrtum unter den Heiden, um die Notwendigkeit göttlicher Offenbarung zu belegen. Andere kommen angesichts des Befundes allerdings zu einem anderen Ergebnis. Sie deuten das Vorhandensein von wahrer Lehre und vorbildlichem Verhalten unter den Anhängern anderer Religionen auf die Universalität der göttlichen Vorsehung. Isaac Barrow (1630-1677) z.B. hält den „Sturzbächen natürlicher Verderbtheit" zum Trotz die Beobachtung der „überaus deutlichen Spuren göttlicher Gnade . . . sogar unter Heiden" für möglich (The Works, London 4 1716, 111,329). 5. Der Begriff „natürliche Religion" wird fünftens gebraucht, um die Religion derer zu bezeichnen, die sich im „Naturzustand" des Menschseins befinden, also derjenigen, deren Gedanken und Umgangsweisen angeblich unbeeinflußt von Zivilisation sind. Dies ist die Religion des vermeintlichen „edlen Wilden", der in Fiktionen wie Ibn Tufayls Geschichte des Hayy Ibn Yokzan (engl. v. George Keith [1639?—1716], anonym publiziert 1674) lebt, von Daniel Defoes Freitag (in seinem Roman Robinson Crusoe, London 1719) oder von Will Atkins' Eingeborenenfrau. Dieser natürlichen Religion als der reinen Form von Religion werden die bürgerlichen und mythischen Gestalten von Religion gegenübergestellt, die im Dienst der Interessen politischer und religiöser Autoritäten entstanden seien. Jean-Jacques -»Rousseau beispielsweise unterscheidet zwischen der „allgemein menschlichen Religion" (die „die reine einfache Religion" der „innerlichen Verehrung des höchsten Gottes" und der „ewigen sittlichen Pflichten" ist) und „der Religion des Staatsbürgers" (die durch Dogmen und „gesetzlich vorgeschriebene" Riten

84

Natürliche Religion II

gekennzeichnet ist) (Der Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen u. eingel. v. Fritz Roepke, Berlin o . J . , 136 [Buch 4, Kap. 8]).

des Staatsrechts,

übers,

6. Ein sechster Gebrauch des Begriffs „natürliche Religion" dient zur Bezeichnung des Gemeinsamen in den verschiedenen empirischen Religionen der Welt. Insofern steht er für etwas, das lediglich als Abstraktion existiert. Immanuel -•Kant z.B. spricht zustimmend von „natürlicher Religion" als dem „Substrat aller Religion", dessen Einfachheit so weit gehe, daß es auch von dem am wenigsten Verständigen begriffen werde

(Vorlesungen über Philosophische

Theologie, engl. 1978, 26; Vorlesungen über Ethik,

engl. 1963, 81). Friedrich -•Schleiermacher bemerkt dagegen jedoch kritisch, „daß gerade die positiven Religionen diese bestimmten Gestalten sind, unter denen die unendliche Religion sich im Endlichen darstellt"; er verurteilt „natürliche Religion" als „eine unbestimmte, dürftige und armselige Idee . . . , die für sich nie eigentlich existieren kann"

{Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. v. Rudolf Otto,

Göttingen 7 1967, 169 [248 Orig.ausg.]). 7. Der Gedanke einer natürlichen Religion wird siebtens gebraucht, um das zu bezeichnen, was als eine bestimmte Fähigkeit der Menschheit angesehen wird. Friedrich M a x -»Müller z.B. stellt die These auf, daß der Mensch ebenso, wie er das Endliche wahrnehme, auch des Unendlichen gewahr werde, das es bestimmt. Seiner Ansicht nach entsteht natürliche Religion dort, wo die Wahrnehmung des Unendlichen mit Moral verbunden wird (vgl. Natural Religion, London/New York/Bombay 1899, 123.188). Herbert H. Farmer (1892-1981) bestimmt „natürliche Religion", indem er auf den Unterschied zwischen ihr und „natürlicher Theologie" aufmerksam macht, als die „spontaneren religiösen Reaktionen und Überzeugungen des menschlichen Geistes". Das, was Farmer als „natürliche Religion" versteht, bildet „im Geist eine Disposition zu einem theistischen Glauben", der das Denken der natürlichen Theologie überzeugend macht (Revelation and Religion, London 1954, 9.13). 8. Eine achte Art und Weise, den Ausdruck „natürliche Religion" zu gebrauchen, bezeichnet die Werte und Verhaltensweisen derjenigen, die nach Muster und Prinzipien der Natur zu leben versuchen. In einem seiner Aufsätze verknüpft z.B. Henry St. John, Viscount Bolingbroke (1678—1751) natürliche Religion mit der „Religion der Natur", indem er von der ersteren sagt, daß sie „einfach und rein" sei, und von letzterer, daß sie durchweg mit der Vernunft übereinstimme, da „die gesamte Ordnung der Verfügungen Gottes für den Menschen aus einem Stück" sei (The Works, London 1754, IV, 260). Woran Bolingbroke denkt, wird in einem seiner „Fragments or Minutes of Essays" deutlich, wenn er feststellt, daß natürliche Religion in China reiner und unvermischter als in irgendeinem anderen Land erhalten zu sein scheine. Der „Atheismus" der alten Chinesen wird als Folge des „bescheidenen,... vernünftigen . . . und frommen Grundsatzes" verstanden, der einen Streit über die Realität Gottes für ungesetzlich erklärt. Ihre natürliche Religion war eine Angelegenheit der Beobachtung der „Ordnung der Natur", von der „alle Regeln für private Moral wie öffentliche Politik" abgeleitet wurden. Bolingbroke mag zwar eine höchst romantisierende Sicht von den alten Chinesen und ihrer Religion gehabt haben, doch seinem Urteil nach erfüllten die Prinzipien dieser natürlichen Religion, gestärkt durch gesellschaftliche Autorität, die Zwecke wahrer Religion viel besser, als sie jemals durch sämtliche Mittel erfüllt wurden, die von Philosophen, Gesetzgebern und Priestern erdacht worden sind (ebd. V, 228 f). 9. Ein weiterer Gebrauch des Begriffs „natürliche Religion" meint neuntens, was man sonst eher „Religion der N a t u r " nennt (-»Naturreligionen). Darunter versteht man eine Religion, die ihr Zentrum in der Macht oder den Mächten hat, die in der natürlichen Welt und durch sie manifest sind. John Oman ( 1 8 6 0 - 1 9 3 9 ) beschreibt sie als eine Form der Religion, für die die Erlösung im „Fortbestehen im Natürlichen" liegt und deren Anhänger „an eine animistische Kraft von unbestimmter Zahl und vager Einheit" glau-

Natürliche Theologie

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ben. „Natürliche Religion" kann sie allerdings auch in dem Sinn heißen, daß in ihr Segen sich in natürlichen Gütern bemißt und ihre Riten darauf zielen, das Natürliche versöhnlicher und verläßlicher zu stimmen ( T h e Natural and the Supernatural, Cambridge 1931, 368). Im Blick auf die Verwirrung über die Bedeutung des Ausdrucks „natürliche Religion" ist es nicht verwunderlich, daß viele religiöse oder theologische Debatten darüber widersprüchlich gewesen sind und daß die Geschichte dieses Gegenstandes eine komplizierte Geschichte mehrerer voneinander zu unterscheidender Erörterungen ist. Wer den Ausdruck „natürliche Religion" liest, sollte deshalb sorgfältig bestimmen, was der Autor im speziellen Kontext mit ihm meint - in der Hoffnung, daß der Autor den Begriff in einheitlicher und folgerichtiger Weise gebraucht. Das ist nicht immer der Fall. Literatur Peter Byrne, Natural Religion and the Nature of Religion, London/New York 1989. - Peter Harrison, .Religion' and the Religions in the English Enlightenment, Cambridge 1990. - David A. Pailin, Attitudes to Other Religions. Comparative Religion in Seventeenth- and Eighteenth-Century Britain, Manchester 1984, 2 3 - 4 4 . 1 6 2 - 1 8 0 .

David A. Pailin

Natürliche Theologie Einleitung l . D i e Umformung der vorchristlichen natürlichen Theologie 2. Wissenschaftliche natürliche Theologie und Naturfrömmigkeit seit dem Mittelalter 3. Die philosophische Emanzipation der natürlichen Theologie in der Neuzeit 4. Die theologische Kritik der natürlichen Theologie 5. Fundamentaltheologische Revisionen (Quellen/Literatur S. 95)

Einleitung Gehalt und Gebrauch des Unterscheidungsbegriffes „natürliche Theologie" bestimmten sich stets im Zusammenhang mit seinen Seiten- und Gegenbegriffen („vernünftige" bzw. „übernatürliche", „offenbarte" -»Theologie) sowie im Blick auf den ihn spezifizierenden Kontext: In der Wechselbeziehung der theologischen Annahme einer „natürlichen Gotteserkenntnis" und der philosophischen Rede von -»„Gott" und „natürlicher Theologie" oder -»„natürlicher Religion" haben sich Bedeutung und Zuordnung der Begriffe -»„Natur", -»„Vernunft", —»„Offenbarung" von Anfang an, in neuerer Zeit zweifellos tiefgreifend, verändert. Die theologische natürliche Theologie spiegelte auch immer eine Einschätzung des Verhältnisses zwischen dem Anspruch des Christentums auf allgemeine Geltung und seiner historischen Realität. Im Verlauf seiner Geschichte wurde der Topos daher in sehr unterschiedlichen Funktionen beansprucht, zumal in seiner neuzeitlichen, in der die im Wort „natürlich" oder in der Metapher „Buch der Natur" unterstellte Zusammengehörigkeit von äußerer (vernünftig geordneter) Natur und innerer Vernunftnatur des -»Menschen verblaßte. Die Komplexität des Begriffes der natürlichen Theologie ist allerdings nicht immer hinreichend in Rechnung gestellt worden. Speziell in der deutschsprachigen evangelischen Theologie des 20. Jh. gehört die natürliche Theologie zu den umstrittensten Themen. Nur darüber scheint Konsens zu bestehen, daß man den irreführenden Terminus der Historie überlassen sollte (Birkner 195; Pannenberg, Syst. Theol. 1,83). l.Die

Umformung der vorchristlichen

natürlichen

Theologie

Die altkirchliche Theologie hat den Begriff vorgefunden. Seit der mittleren -»Stoa (Panaitios) bezeichnet theologia naturalis die Gotteslehre der Philosophen, im Unterschied zur „mystischen Theologie" der Dichter und zur „zivilen Theologie" der Staatskulte (SVF 11,1009).

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Natürliche Theologie

Weil sie das Göttliche seiner eigenen Natur gemäß vorstellt, hat sie kritische Funktion gegenüber menschlich „gesetzten" religiösen Vorstellungen und Verhaltensweisen. In diesem normativen Sinne von „natürlich" versichert sich ihrer die christliche Theologie von Anfang an, überbietet aber ihren Wahrheitsanspruch: Wer und was „seiner Natur nach" Gott ist, sagt ausschließlich und endgültig die Offenbarung Gottes in Jesus Christus (Joh 14,6). Der apostolischen Predigt (Act 14,15ff; 17,22ff) und den theologischen Kriterien von Rom l,19f und 2,14f folgend rezipiert die Theologie, in apologetischer, bald auch systematischer Absicht, wesentliche Elemente des stoischen und des platonischen Gottes-, -»Welt- und -»Seelenbegriffs: die Einzigkeit, Geistigkeit, -»Unsterblichkeit und Ewigkeit des wahren Gottes; die Ordnungsschönheit und Zweckvernünftigkeit des Kosmos; die Unsterblichkeit der (nichtstofflichen) Vernunftseele. Diese kritische Rezeption vollzieht sich auch, wo „Jerusalem" in scharfem Gegensatz zu „ A t h e n " steht. Bei -»Tertullian taucht der Begriff erst am Rande auf (Ad nat. 2; ähnlich Euseb, Praep. Evang. IV,1), doch zeichnet er die zwei Quellen der natürlichen Gotteserkenntnis aus, auf die dann jede natürliche Theologie, wenngleich unterschiedlich gewichtet, zurückgeht: das sinnlich wahrnehmbare Zeugnis der äußeren Welt (Apolog. 18,1; Adv. M a r c . 1,18) und das „Zeugnis der Seele", deren „eingeborene Gotteserkenntnis" sie zur anima naturaliter christiana (De test. animae; Apolog. 17,6) qualifiziert. -»Augustin füllt den Begriff, den er durch M.T. Varro kennt (Deciv. Dei VI,5ff),als Gotteslehre, Seelenlehre und Kosmologie und verknüpft diesen Komplex mit dem christlichen -»Schöpfungsglauben, indem er ihn auf die notitia Dei naturalis zurückführt. Lange nachwirkend gleicht er die pagane -»Ästhetik des Kosmos der -»Hermeneutik der Heilsoffenbarung an, indem er die Welt ebenfalls als geschriebenes Wort auffaßt, liber naturae eines Autors, dessen Intellekt seinerseits ein liber lucis aeternae sei (De trin 14,15), lesbar wie der Uber Scripturae (-»Schrift, Heilige) desselben Autors (De Gen. ad litt.: MPL 32, 219ff). Diese natürliche Theologie rechtfertigt die Güte der Schöpfung, d. h. die Identität von Erlöser und Schöpfer gegen gnostische Verdächtigung; das Gefälle zwischen Hören und Sehen (und das zwischen dem Gelehrten und dem Laien) bleibt jedoch erhalten (Enarr. ps. XLV.6; Blumenberg 29ff.49ff). Diese natürliche Theologie wird, ohne daß der Begriff prominent würde, von -»Bonaventura vertieft mit der Vorstellung, daß das Weltbuch zweifach geschrieben sei und der liber scriptus intus jene ewige Kunst und Weisheit Gottes bezeichne, an welcher die Seele auf ihre Weise partizipiere: Gott will durch beide Bücher erkannt werden (Brevil. 11,5.11; Apk 5,1; Nobis 957f). Das durch den Sündenfall verwischte Weltbuch wurde wieder lesbar gemacht durch das Buch der Schrift, das den Dingen ihre ursprüngliche metaphora, ihren Zeichensinn wiedergab (Coli, in Hex. XIII,12). Der Aufstieg des (geistlichen) Menschen zur -»Weisheit Gottes entspricht dem mystischen Abstieg der Seele in sich selbst; im „Buch der Schöpfung" leuchtet die schaffende -»Trinität wider (Brevil. 11,12). 2. Wissenschaftliche

natürliche Theologie

und Naturfrömmigkeit

seit dem

Mittelalter

2.1. Die augustinische Zuordnung von natürlicher Theologie und Naturbuch wurde im lateinischen Mittelalter einerseits zu einer das Naturwissen (Krolzig 286 ff; natura) und die (trinitarische) Doxologie verschmelzenden, sapientialen theologia naturalis fortentwickelt, andererseits zu einer szientifischen cognitio Dei naturalis, die von der T h e o logie dem christlichen Glauben zugeordnet, aber auch deutlich von ihm unterschieden wurde. „ N a t ü r l i c h " ist diese Rede von „ G o t t " als Äußerung der Vernunftnatur des Menschen und seiner Entsprechungsfähigkeit zur äußeren N a t u r ; doch wird dieses Vermögen dem übernatürlichen Gnadenwirken im Rahmen einer übergreifenden Seinsordnung eingefügt. In diesem Sinne spricht - » T h o m a s von Aquino nicht von natürlicher Theologie, auch nicht vom Naturbuch (und lehnt die „abergläubische" physica theologia der Platoniker ab: Summa Theol. I I - I I q 9 4 a l c ) , sondern beläßt es bei der Feststellung der Leistungen des lumen naturale intellectus, die im übernatürlichen Licht als praeambula fidei (I q 2 a 2 a d l ) vorausgesetzt werden. Dies sind die fünf Wege zur Erkenntnis nicht schon der Eigenart, sondern nur der Existenz „ G o t t e s " (-*Gottesbeweise) aus der geordnet bewegten Welt (I q 2 a 3; q 12 a 12 f). 2.2. Die sapientiale Auffassung von natürlicher Theologie wurde in der -»Mystik und vor allem im platonisch inspirierten Renaissance- -»Humanismus weiterentwickelt.

Natürliche Theologie

87

Sie hatte zunächst theologische Absichten, konnte sich aber, da sie das Buch der Natur dem der Schrift gleichstellte, der Offenbarungstheologie auch entziehen. Verbürgt der intellectus fidei die Einheit von Wahrheit und die Lesbarkeit des Buches der Natur, dann können die allgemein, d. h. von Christen, Juden und Moslems anerkannten Wesenseigenschaften Gottes als Grundlage für eine kategoriale ars inveniendi so formalisiert werden, daß sogar einem Nichtchristen der trinitarische Gottesbegriff als logische Bedingung vernünftiger Welterkenntnis einleuchten sollte: Dieses Programm Raymundus -•Lullus' (Ars generalis, 1303/08) hat dann die erste monographische natürliche Theologie realisiert, die lange einflußreiche Theologia naturalis seu Liber creaturarum (1436; „natürliche Theologie" seit 1485) des -»Raimund von Sabunde. In Verschmelzung von rationaler Naturphilosophie und christlicher Theologie erklärt diese natürliche Theologie die Harmonie des „lebendigen Buchs der N a t u r " und des Offenbarungsbuches auf allen ontologischen Stufen (Sein, Leben, Empfinden, Denken). Da jedes Geschöpf einen von Gott geschriebenen Buchstaben darstellt, ergibt sich eine creaturarum scala, die zur Erkenntnis des Schöpfers und der Stellung und Aufgaben des Menschen in der Welt führt (Prol. 26.47).

2.3. In der - » R e f o r m a t i o n spielte natürliche Theologie zunächst keine Rolle. Doch das wieder recht verstandene Bibelbuch setzte (nicht nur die Prediger und Lehrer, sondern betont auch die Laien) instand, das Buch der Natur besser, nämlich als Bekräftigung des Schöpfungsglaubens zu lesen. Allerdings ließ die Modifikation des Ergänzungsverhältnisses von Natur und -»Gnade bzw. Offenbarung durch die komplexere Unterscheidung von —»Gesetz und Evangelium nicht mehr zu, die Erfahrung der Natur, wie auch die der —»Geschichte, mit der des —» Rechtfertigungsglaubens teleologisch zu harmonisieren. Erst die Zuordnung der Theologie als -»Wissenschaft zur Vernunft als Organ von Wissen bzw. zur Philosophie nötigte dazu, die cognitio Dei naturalis nicht nur in ihrem Charakter als (falsche) Gottesverehrung, sondern auch als (zweideutige und unzureichende) Gotteserkenntnis zu thematisieren. Dafür wurde auch wieder der Terminus natürliche Theologie gebraucht. 2.3.1. Nicht der Titel natürliche Theologie, wohl aber das natürliche Wissen von Gott, d . h . das in der äußeren Natur und im menschlichen Handeln offenbare Wirken Gottes, ist bei -»Luther katechetisch und dogmatisch durchweg präsent.

In Verknüpfung von Rom l,19f und 2,14f ist selbstverständlich, daß die „natürliche Vernunft" eine unauslöschliche notio divinitatis hat und die lex naturalis in sich trägt (WA19, 205,27ff; 56,176,29; Althaus, Ethik 32ff; Pannenberg, Syst. Theol. 1, 121 ff). Doch hat die „Synteresis" (-»Gewissen) darum nicht schon an der lex aeterna, d.h. am Wissen Gottes teil (56,177,15; Wolf 191 ff); vielmehr mißbraucht der Sünder seine innere und äußere Wahrnehmung der Gottheit unvermeidlich zur Vergötzung irdischer Größen (19, 206,13ff; 301,135,lff). Die allgemeine Kenntnis Gottes ist ohnedies ein kränkliches Schlußverfahren „von außen", während die eigentliche Gotteserkenntnis „von innen", aus dem offenbarten Herzen des dreieinigen Gottes kommt (40 I, 607,28; 39 11,346,1 ff; 45,89,28ff). In dieser cognitio legalis kehrt Gott dem Sünder den Rücken, nicht aber sein barmherziges Antlitz zu (46,667,7ff; Althaus, Theologie 27ff). Um so mehr öffnet das Evangelium die Augen für die Geschöpfe als „Larven und Vermummungen" des Segenshandelns Gottes, für die „täglichen Wunder der weiten Welt" und für die Welt „voller Bibel" (17 11,203,9; 22,121,5ff; 49,434,16). So kann Luther sich einerseits des philosophischen Gottesbegriffs und der stoischen Naturrechtslehre bedienen, andererseits die soteriologische Ambivalenz der natürlichen Gotteserkenntnis im Streit mit ihrem (keineswegs neutralen) Gebrauch in der Philosophie akzentuieren, ja das (christologische) Postulat der duplex veritas (-»Wahrheit) aufstellen (39 1,229,27ff; 39 11,7,9ff; vgl. Lohse 45ff. 59ff; Bayer 115ff). Gleiches gilt für -»Calvin (1,1,1; sensus divinitatis 1,3), auch wenn seine stärker augustinische Fassung des theologischen Themas ein kühleres Verhältnis zur Natur besagt, andererseits das Naturwissen näher zur offenbarten -»Weisheit Gottes rückt, also

88

Natürliche Theologie

auf eine heidnische Philosophie überbietende Christiana philosophia rede OS 111,7; P. Brunner; Niesei 39ff). .

zielt (111,7,1; Vor-

Den Rahmen einer reformatorischen natürlichen Theologie (noch ohne den Terminus) zeichnet -»Melanchthon vor. Im Zuge seiner methodologischen Revision der Theologie (Bayer 127 ff) ergänzt er die cognitio insita, d . h . die naturrechtliche Verpflichtung zur Gottesverehrung (StA 11/1,42,6ff; Platt 10 ff; Link 42 ff) um die Gotteserkenntnis aus der Welterfahrung, cognitio acquisita, und behandelt sie nicht mehr im Locus vom Gesetz, sondern in dem von der Schöpfung (CR 21,641ff; in den weiteren Fassungen der Loci werden hier die Gottesbeweise behandelt: StA II/1,214,26 ff). Der nun virulente Fatalismus der stoischen Kosmologie wird ebenso wie der epikuräische Atheismus mit der christlichen Gewißheit der freien Gegenwart Gottes auch in den Naturprozessen abgewiesen (215,23ff; 218,28ff). Die philosophische Erkenntnis Gottes bleibt also in der Sphäre des Gesetzes bzw. der iustitia civilis (ApolCA XVIII,4).

2.3.2. Zur Professionalisierung der protestantischen Theologien um 1600 gehört, mit der Einführung eines Locus de theologia und der theologisch propädeutischen —• Metaphysik (Sparn, Wiederkehr 6ff.30ff; Krise 71ff), auch eine doppelte Rezeption des Terminus natürliche Theologie (Clasen). Gehalt und Gebrauch, in beiden Konfessionen mehrheitlich (außer in fideistischen Gruppen, vor allem im Puritanismus W. Amas'; Schmidt) übereinstimmend, blieben vom Schriftprinzip bzw. von der Rechtfertigungslehre bestimmt (lutherisch: FC, SD 11,9). Neu ist aber, daß der Rang der notitia Dei naturalis als theologisches Wissen vorab zurückgeführt wird auf die Mitteilung der Kenntnis der göttlichen Dinge durch das lumen naturale und deutlich von dem „im offenbarten Wort entzündeten Licht der G n a d e " unterschieden wird. Da auch die Laien Theologen sind, heißt diese Gotteserkenntnis theologia naturalis. Im soteriologisch pointierten Unterschied zur übernatürlichen Theologie wird sie als inadäquat gekennzeichnet (deutlicher als in der tridentinischen natürlichen Theologie: Suarez 1,1; X X I X f . XXXV; Bellarmini). Doch gehört sie immerhin zur theologia viatorum, da sie sich göttlicher Mitteilung verdankt; so gegen die These der „doppelten Wahrheit" (Grawer; Martini; Barth 280ff), gegen den aufkommenden „Atheismus", aber auch gegen die Identifikation von Offenbarung und religio rationalis (Wissowatius) des Sozinianismus (Gerhard, Prooem. 63ff; Hunnius 147ff). Dagegen stellt die von der Vernunft bloß erfundene „philosophische Theologie" eine (wie auch die mythische und zivile) „falsche natürliche Theologie" dar (Schröder; Gerhard, Prooem. 13-17; Meisner 734ff; Martini 731 ff; Ratschow I,28.36f; Hirsch 308f.393; Heppe/Bizer 1 - 1 0 ; Platt 3ff). Die wahre natürliche Theologie wird zum einen in der Dogmatik diskutiert, in der Schöpfungslehre, in der Seelen- und -•Engellehre, vor allem in der Gotteslehre. Das eingeborene Wissen aus dem „inneren", „subjektiven" Buch der N a t u r ist das praktische Zeugnis des Gewissens, daß ein Gott sei, daß er zu verehren und Richter des Unrechts sei; das aus dem „äußeren", „objektiven" Natur- oder auch Kreaturbuch zu erwerbende Wissen besteht aus den Gottesbeweisen (Gerhard 11,59-61; Ratschow II,18ff.29ff). Z u m andern, und das ist ebenfalls neu, werden Gott (Existenz, Attribute), die Seele und die Intelligenzen (Engel) auch von den protestantischen Philosophen in der speziellen Metaphysik als immaterielle Substanzen behandelt, nicht selten separat unter den Titeln „Theologia naturalis", „Pneumatica" oder „Pneumatologia" (Chr. Scheibler; A. Calov; P. Voet; A. Heereboord; Wundt 81 ff; Mahlmann 996). Gegen die Trennung von Denken und Materie und gegen den Gottesbegriff R. -»Descartes' entwickelten J. Musaeus und seine Schüler zwei Neuerungen. Z u m einen beschränken sie, anders als die pansophisch gemeinte Neuausgabe Sabundes durch J. A. -»Comenius, die eingeborene Gotteserkenntnis auf einen instinetus naturalis, der erst durch die Wahrnehmung der äußeren Welt, d . h . durch die Unterscheidung von Gott und allen endlichen Dingen als notitia acquisita gehaltvoll wird (Musaeus 41 f; Ratschow 11,36ff; Birkner 280ff). Z u m andern nehmen sie den (bislang öffentlich-rechtlich verstandenen) Religionsbegriff in dem abstrahierten Sinne auf, den er seit - » N i kolaus von Kues und T h o m a s - » M o r u s und nun auch im deistischen (-»Deismus) Begriff einer religio naturalis hatte. Um den Vergleich von Religionen, d. h. Kulten, Doktrinen usw., soteriologisch qualifizieren zu können, wird natürliche Theologie nun gleichgesetzt mit „natürlicher Religion" im Sinne eines habitus religionis, der zum Menschsein als solchem gehörigen Gottesverehrung in Kenntnis Gottes (Musaeus 34 f; Walch 2146-2150; Ratschow 1,58 ff; derselben Absicht, die Reduktion von „ N a t u r " auf „natürliche Vernunft" zu vermeiden, diente seit A. -»Calov die Rede von einer revelatio generalis sive naturalis). In methodischer Folge wird im Übergang zum 18. Jh. dieser Religionsbegriff mit dem Theologiebegriff korreliert und an den Beginn der Dogmatik gerückt, nach wie vor im Unterschied zu einer methodisch exemten, in sich abgeschlossenen philosophischen natürlichen Theologie (Budde 11 c I; Walch 2547; Pannenberg, Syst. Theol. 1,46ff. 134ff).

Natürliche Theologie

89

2.3.3. Die theoretische Bearbeitung der natürlichen Theologie hat ihren katechetischen Gebrauch keineswegs abgebrochen (gegen Link 20); beides war nicht selten in Personalunion verbunden. Der usus practicus orientierte sich an den Zwecken der natürlichen Theologie an sich (pädagogisch: Suche nach der Gemeinschaft der wahren Gottesverehrung; didaktisch: Beleuchtung der offenbarten Gotteserkenntnis; paideutisch: die Ehrbarkeit der äußeren Lebensführung) und, spezifisch theologisch, an dem aus Mißbrauch entstandenen Zweck (Unentschuldbarkeit); daher wird der Gebrauch unter Heiden und Christen unterschieden (Gerhard 11,88; Ratschow 2, 29.42 f; erstere auch bei Walch 2548 f). Den Christen gelten die Predigten der einschlägigen Perikopen, die Lieddichtung (z.B. P. Gerhardt: EKG 361; 371) und eine reiche Erbauungsliteratur. J. -»Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum" (1605/10) stellt ausführlich „das große Welt-Buch der N a t u r " vor, aus Raimund von Sabunde und, mit der Korrespondenz von Makrokosmos und Mikrokosmos, aus Paracelsus und der Tradition der Mystik schöpfend (Arndt 850-1032; Geschichte 130ff). 3. Die philosophische

Emanzipation

der natürlichen

Theologie in der

Neuzeit

Die als Habitus natürlicher Religion (bald „Religiosität": Fritsche 775 f) verstandene natürliche Theologie löste sich im 18. Jh. aus der soteriologischen Disziplin des Christentums. Die Unterscheidung zwischen „natürlich" und „offenbart" verlor als theologische ihre allgemeine Zustimmung und wurde im „Streit der Fakultäten" auch ausdrücklich durch philosophische Unterscheidungen ersetzt (I. -»Kant). Der Wahrheitsanspruch der christlichen Offenbarung mußte nun mit Begriffen von „ N a t u r " und „Vernunft" arbeiten, die prinzipiell ohne Rücksicht auf diese Offenbarung definiert wurden; die Verteidigung und Neuausgabe Sabundes durch M. de -»Montaigne zeigte dies drastisch. Doch kam es zu dieser spannungsvollen Situation sogar aus christlichen Motiven. 3.1. Kaum merklich allerdings verselbständigte sich die ->Physikotheologie, die seit etwa 1650 für ein Jh. lang der natürlichen Theologie größte Verbreitung verschaffte (Philipp 21 ff; H.-M. Barth 251 ff; Lorenz; Krolzig 166ff; Kemper; Groh/Groh). In apologetischer Absicht gegenüber dem „Naturalismus" verfolgte sie die in der natürlichen Theologie an sich liegenden pädagogischen Zwecke und bezog das Schöpferlob nur auf die Durchsichtigkeit der Weltmaschine für die Vernunft und ihre Zweckmäßigkeit für den Menschen. Eine zur pbilosophia perennis oder rationalen Theologie fortentwickelte natürliche Theologie konnte dem (gereinigten) Christentum günstig bleiben, w o auch der natürlichen Religion keine absolute Gewißheit zugeschrieben und w o das Christentum als deren Wiederherstellung verstanden wurde, wie im Umkreis J. Lockes (Blount). Nicht als Gegensatz faßt auch G.W. -»Lcibniz das Verhältnis von Offenbarung und natürlicher Theologie bzw. Religion, deren Autorität als „öffentliches D o g m a " er der Wirkung des Christentums zuschreibt (Essais, Pref. 4ff). Er erweitert die metaphysische Pneumatik um die praktische Verpflichtung zur Verehrung Gottes; das epochale Konzept der -»Theodizee, einschließlich der Verknüpfung des ontologischen und des kosmologischen Gottesbeweises, versteht sich als christliche natürliche Theologie. In derselben Meinung schränkt Ch. -»Wolff die natürliche Theologie wieder auf die spezielle Metaphysik ein und weist die natürliche Ethik dem Naturrecht zu (Proleg. 5). Umso höher wertet er ihre apologetische Kraft, da sie so die Insuffizienz der natürlichen Religion und die Vortrefflichkeit und Notwendigkeit der offenbarten Religion darlege (Proleg. 18ff). Die Ambivalenz auch dieser natürlichen Theologie tritt kraß zutage im Wechsel S.H. -»Reimarus' von der Apologie der Religion (Wahrheiten 1754) zur Apologie der Vernunft „gegen die Zunöthigung eines uns aufgedrungenen Glaubens": Die christliche, auch die theodizistische Verknüpfung inkompatibler Gottesprädikate scheitert am „Grund- und Prüfe-Stein" der Selbstübereinstimmung der Vernunft (Apologie 1,54.62; SchmidtBiggemann 174ff).

3.2. Die protestantische Theologie hat im 18. Jh. den philosophischen Begriff natürlicher Religion christlich umzuprägen gesucht. Zunächst formte sie die traditionelle theologia naturalis in eine -»Religionsphilosophie um (Feiereis; Dierse 662ff).

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Natürliche Theologie

Die Versuche von Schülern Wolfis, die natürliche Theologie als „Wissenschaft von der natürlichen Religion" apriorisch anzusetzen und dadurch der supranaturalen Theologie anzupassen (Carpzov; Canz), aber auch stärker an Leibniz bzw. an der Physilcotheologie orientierte natürliche Theologien (Bilfinger) erschienen um die Jh.mitte als rationalistische Verkürzungen der wirklichen Religion. An die Stelle dieser „natürlichen Gottesgelahrtheit" (Bielcken; Chr. W.F. Walch; Birkner 283 ff) trat, zugleich in Ablösung vom pietistischen Moralismus, die Reflexion auf die „innere Empfindung". Die anthropologische Thematisierung von Religion verabschiedete das äußere Buch der Natur zugunsten des inneren Buches der Selbsterfahrung, in dem jetzt allerdings differenzierter gelesen wird als früher im „Buch des Gewissens". Stilbildend hat dies zuerst J . J . -»Spaldings „Bestimmung des Menschen" (1748) dargestellt, in Verknüpfung der Leibniz'schen Anthropologie mit der angelsächsischen Moralphilosophie (-»Shaftesbury) und im Gegenzug gegen den atheistischen Materialismus und die Optimismuskritik der französischen Aufklärung ( J . O . de La Mettrie; -•Voltaire). Dieser neue Typ natürlicher Theologie unterläuft das deistische Wahrheitskriterium für offenbarte Religion: Seine affektive Simplizität und individuelle Authentizität machen das offenbarte Christentum zur Wiederbekanntmachung der natürlichen Religion (Spalding 60 ff; Jerusalem l,330ff; 2,1 ff). An die Stelle des rationalen Konstrukts der natürlichen Religion tritt die anthropologische Bestimmung des religiösen „Wesens des Christentums" (Dierse 662 ff; Pannenberg, Syst. Theol. 1,133f); dies freilich um den Preis theologischer Dogmen- und Bibclkritik. Der von D. - » H u m e geäußerte erkenntniskritische Zweifel gerade an der Rationalität der natürlichen Religion wird durch die Erkenntniskritik I. Kants bestätigt; die frühneuzeitliche natürliche T h e o l o g i e k o m m t damit an ihr philosophisches Ende. Allerdings behält für Kant die „ r a t i o n a l e T h e o l o g i e " , verstanden als „transzendentale T h e o l o g i e " (kosmologisches und ontologisches Argument) und als „natürliche T h e o l o g i e " (physikotheologisches und moraltheologisches Argument), einen Platz in der Architektonik der reinen Vernunft, weil sie die Funktion einer Z e n s u r anthropomorphistischer Gottesvorstellungen hat (KrV B 860ff). Wegen der praktisch postulierten Ideen G o t t , Freiheit und Unsterblichkeit behält der „symbolische A n t h r o p o m o r p h i s m " der moralischen Vernunftreligion „in u n s " diese Funktion auch gegenüber offenbarten Religionen (Religion 2 2 9 f f . 2 5 5 f f ; Weischedel 1,191 ff). Gleichauf mit der philosophischen Kritik führt die theologische Konkretisierung der Wesensbestimmung des Christentums als positive Religion ebenfalls zur Destruktion aller natürlichen Theologie. „Natürlich" kann im Blick auf Religion nur die -»Erziehungs- und -»Bildungsgeschichte der Menschheit sein, zu der auch das (seinerseits perfektible) Christentum gehört. Neben F. Chr. - » ö t i n gers Emblematik und J . G . -» Hamanns Fassung des hermeneutischen Gefälles zwischen dem Buch der Schrift und dem der Natur ist es vor allem J . G . -»Herders Verständnis von Religion als „Tatsache" und „Geschichte", das die vermeintlich natürliche Religion als sekundäres Destillat der Religionsgeschichte kritisiert. Die Einsicht, daß Religiosität stets im Medium sprachlichen Austausches und kulturellen Ausdrucks existiert, schließt so etwas wie natürliche Theologie aus, historische Theologie jedoch konstitutiv ein. Gerade so wird auch das Buch der Natur als Schöpfung lesbar, nämlich in seinem Charakter als Text, den (nur) eine poetische Hermeneutik entschlüsselt (z.B. M . Claudius: EKG 368; Leese 214ff; Schoberth). Ihr theologisches Ende findet die alte natürliche Theologie endgültig in F. —»Schlcier machers Verdikt der „natürlichen Religion", in der gerade das charakteristisch Positive und individuell Bestimmte von Religion geleugnet werde (Religion 235ff.277ff; Birkner 286ff). Die konstruktive Lösung des Problems ist aber nicht eine supranaturalistische Flucht in die historische Faktizität als solche, sondern eine subjektivitätstheoretisch geklärte Religionsphilosophie, die jenseits metaphysischer und moralischer Beweise das Wesen des Christentums als Frömmigkeit bzw. Glaubensgemeinschaft zu erklären vermag. Wie die christliche Glaubenslehre sich im Kontext von philosophischen Lehnsätzen expliziert, so enthält auch die theologische Enzyklopädie eine philosophische Theologie und darin eine Apologetik, in der die Korrelation des „Natürlichen" und des „Positiven" geschichtlicher Erscheinungen aus der Religionsphilosophie übernommen werden. Eine natürliche Theologie aber bleibt ausgeschlossen (Glaube §2,1; § 6 Zusatz; § 10 Zusatz; Fischer 90ff).

4. Die theologische Kritik der „natürlichen

Theologie"

4.1. Im 19. J h . gibt es im deutschen Protestantismus keine natürliche Theologie mehr; der Terminus eignet sich nur n o c h als historisches Z i t a t .

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Auch die Erneuerung der Gottesbeweise durch G.W.F. -»Hegel distanziert die vormalige „rationelle natürliche Theologie", die Gott „nur als Gegenstand des Bewußtseins" denken konnte, als religiös blindes „Verstandesdenken" (16,17). Die Theologie steht überdies dem Begriff des „Natürlichen" zunehmend mißtrauisch gegenüber; angesichts des Zugriffs der „positiven" Realwissenschaften auf die Natur gibt sie die Hermeneutik des „Buchs" der Natur auf; seine ästhetische Phänomenalität wird nur noch selten wahrgenommen als „Gleichnis" des Reiches Gottes (Leese 227f; zu J.W. -»Goethe: Blumenberg 214ff), und „des Christen Freude an der Natur" (Kübel) wird theologisch heimatlos. Der Begriff der Natur wird durch den der „Welt" ersetzt, und die Annahme der natürlichen Gotteserkenntnis diffundiert in die sog. theistische Weltansicht, wie sie von der spekulativen Philosophie und insbesondere von der theologischen -»Apologetik des 19. Jh. im „Weltanschauungskampf" gegen -»Materialismus und -»Atheismus verfochten wurde (Sparn, Krise 86ff). Diese weltanschauliche Funktion der natürlichen Theologie - bei Vermeidung des Begriffs und seines Begründungsanspruchs - wird für das protestantische Deutschland charakteristisch. Im angelsächsischen Sprachbercich lebte dagegen die Tradition der natural theology fort. Sie hob freilich noch weniger auf demonstratives Wissen ab, sondern auf die gesellschaftliche Verständigung über die intellektuelle Möglichkeit, die moralische Glaubwürdigkeit und die soziale Vernünftigkeit von (christlicher) Religion (Boyle Lectures; Foster; Paley; Bridgewater Treatises; Gifford Lectures; Lorenz 952; Brooke). In der katholischen Theologie wurde die theologia naturalis gegen modernistische Abwertung sogar akzentuiert. Das —»Vatikanum I dogmatisiert, daß Gott von jedem Menschen durch das Licht der natürlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen „sicher erkannt werden k ö n n e " (DS 3004); daß dies auch verwirklicht werden kann, wird im Antimodernistenstreit bekräftigt (DS 3538). Die Neuscholastiker (-»Scholastik) erklären die leichte Erreichbarkeit und Sicherheit der natürlichen Gotteserkenntnis für einen Glaubenssatz, die Möglichkeit eines förmlichen Gottesbeweises für einen dem Glauben nächststehenden Satz (Diekamp 97 ff). Da man den Offenbarungsbegriff für die Theologie vorbehalten will, zieht man statt des Terminus natürliche Theologie „christliche Philosophie" oder „ T h e o d i z e e " vor, bei breitester Ausarbeitung in zahlreichen Lehrbüchern (Gutberleth 1 f; Donat 1 f; Diekamp 4 f ) . 4.2. Angesichts der verblassenden Plausibilität des „Idealismus" und der materialistischen Bestreitung von Religion überhaupt hat A. - * Ritsehl seine Begründung des christlichen Offenbarungsbegriffs mit massiver Polemik gegen die „natürliche Theolog i e " flankiert. Seine Anwendung dieses Terminus auf die katholische Theologie seit ihrer patristischen Platonisicrung, aber auch auf die protestantische Theologie von Melanchthon bis zu Schleiermacher entleert ihn allerdings zum Ketzernamen, der hinfort der immer neuen Selbstabgrenzung der Offenbarungstheologie dient (Birkner 288). Im Vorwurf, metaphysische Motive in das christliche Gottesverständnis einzutragen, werden Gottesbeweise, natürliche Gotteserkenntnis, natürliche Theologie, natürliche Religion und Religionsphilosophie nicht mehr unterschieden. Überdies steht „natürliche Theologie" für etwas angeblich „Allgemeines", dessen Priorität vor dem christlich „Besonderen" dieses seiner Positivität beraubte. Das Kriterium für die Ablehnung aller natürlichen Theologie ist ihre angebliche Gleichgültigkeit gegen den „Art- und Werthunterschied von Geist und Natur" (Theologie 33ff). Vermittelt durch den positivistischen Offenbarungsbegriff der Ritschl-Schule und die Rezeption der -»Feuerbach--»Nietzsche'schen -»Religionskritik hat K . - » B a r t h seit 1929 die theologische Polemik gegen „natürliche T h e o l o g i e " (zu der jetzt auch Ritsehl selbst zählt) noch einmal verschärft (vgl. W. Link; Thielicke). Im Kontrast zu einer Theologie des Wortes Gottes gilt natürliche Theologie als das Wort, das der Mensch selbst über Gott meint sagen zu können - der „Bourgeois" (KD H/1,157) in seiner Selbstauslegung, Selbstbehauptung, Selbstrechtfertigung. Die „unbändigste Hybris" der Vernunft (Nein! 55) ist es, die synergistische Anmaßung einer ergänzenden Verknüpfung der natürlichen Theologie mit der Offenbarung methodologisch zu wenden und natürliche Theologie als „allgemeine" Voraussetzung für die Plausibilität des „besonderen" Wortes Gottes zu empfehlen, denn dies ist eine materiale Vorentscheidung über dessen mögliche Wahrheit und Wirklichkeit, eo ipso

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gegen die Souveränität des gnädigen Gottes gerichtet. Diese überflüssige Theologie, „von der der Mensch von N a t u r h e r k o m m t " , ist daher „sang- und klanglos", aber auch „erbarmungslos auszuscheiden" (Nein! 14; KD I I / l , §26, Zit. 188.190; Prenter; Szekeres; Wissink).

4.3. Pointiert forderte E. —• Brunner demgegenüber eine „christliche theologia naturalis", welche den Anknüpfungspunkt jeder christlichen Verkündigung bei der Ansprechbarkeit menschlicher Personalität als der auch im Sünder verbliebenen „formalen Gottebenbildlichkeit" thematisiert (Natur 9ff). Im Unterschied zur „subjektiven" rationalen natürlichen Theologie thomistischer Prägung soll diese natürliche Theologie die „objektive Erkennbarkeit Gottes in seinem Schöpfungswerk" (50) besagen. Allerdings nennt Brunner, um das Mißverständnis einer menschlichen „Offenbarungsmächtigkeit" zu vermeiden, die Schöpfungsoffenbarung bald nicht mehr „natürliche Theologie", sondern reserviert den Terminus für die „anthropologische Tatsache" der Unvermeidlichkeit des (götzendienerisch verkehrten) Gottesgedankens bzw. der damit verknüpften Verantwortlichkeit (Lehre 137ff; Gestrich 172ff.342ff). R. -»Bultmann sprach lieber vom Vorverständnis des Glaubens im vorgläubigen Selbstverständnis des Menschen. Wie der -»Glaube die Offenbarung nicht als etwas Neues im Sinn supranaturaler Information, sondern sich selbst in ihr neu versteht, so ist auch jenes Vorverständnis keine natürliche Theologie in der Art eines religionsphilosophischen Unterbaus für die Dogmatik, sondern eine Analyse der fragwürdigen Bewegtheit der ungläubigen Existenz vom gläubigen Daseinsverständnis aus (1,298). Auch das Phänomen von Religion ist Gegenstand einer solchen natürlichen Theologie, ebenso die Philosophie, die formale, auch für das gläubige Dasein geltende Daseinsstrukturen aufweist. Die natürliche Theologie ist daher ständiger Bestandteil der dogmatischen Arbeit, die insgesamt das „natürliche" Existenzverständnis aufklärt: soteriologisch als Unglaube und hermeneutisch als Vorverständnis der Verkündigung (308.311 ff; Gestrich 313ff). Wie Brunner bezog sich auch P. -»Althaus für seine Unterscheidung einer Ur-Offenbarung von der Heilsoffenbarung (37ff) auf die These von A. -»Schlatter, daß sowohl das persönliche Leben als auch, über die Leiberfahrung vermittelt, die äußere Natur den Gottesgedanken unvermeidlich mache („Beweis": Schlatter 22ff). Auch er verwendet natürliche Theologie zitierend oder polemisch; insbesondere stimmt er N. -»Söderblom zu, daß die Lehre von der Religion und den Religionen die traditionelle natürliche Theologie ersetzen könne und müsse. Ohne die Annahme allgemeiner, besser: ursprünglicher Offenbarung dagegen blieben die Phänomene von Religion theologisch unbegriffen (Wahrheit 53). Die Unterscheidung zwischen natürlicher Theologie, dem menschlichen Unternehmen, und Ur-Offenbarung, der Tatsache menschlicher Betroffenheit von Gott, ist also legitim (42.58; Pöhlmann; Gestrich 296ff.314ff; Link 251 ff; entsprechend W. -•Eiert für seine Phänomenologie des Schicksals: 143ff). Methodisch konsequent, d.h. im Rahmen einer Korrelationsmethode - ein dritter Weg zwischen vorkritischer natürlicher Theologie und autonomer Religionsphilosophie (Syst. Theol. 1,39 f) nimmt P. -»Tillich das hermeneutische Motiv der natürlichen Theologie einschließlich der Gottesbeweise auf (1,238 ff; 11,20 f). Die „natürliche Theologie" (so anstelle des widerspruchsvollen Begriffs der „natürlichen Offenbarung") muß auf die philosophische Existenzanalyse beschränkt werden — so aber wird sie als „Frage der Vernunft nach ihrem Grund und Abgrund" wirklich ernst genommen (1,144f). 5. Fundamentaltheologische

Revisionen

5.1. Die ethischen und politischen Hintergründe des Barth'schen Votums (Barmer Theologische Erklärung 1934) sowie die Verknüpfung seiner normativen Religionskritik mit D. -»Bonhoeffers (Feil 159ff) scheinbar deskriptiver These eines religionslosen Zeitalters haben die Bearbeitung des Problems der natürlichen Theologie eine Zeitlang nahezu unmöglich gemacht. Abgesehen von Hinweisen darauf, daß die alte natürliche Theologie zwar verschwunden, ihr Platz aber nie unbesetzt geblieben sei (Birkner 294 f;

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Herrmann; Kinder; Gestrich), waren es nicht zuletzt Barths späte Äußerungen zur „Lichterlehre" (Link 286ff; Berkhof), die in einer veränderten theologischen und kulturellen Lage nahelegten, das durch die natürliche Theologie sei es repräsentierte, sei es dissimulierte Problem zu erfassen. Hermeneutisch (auch soteriologisch?) anders als einst stellt sich das Problem in der katholischen Theologie dar, soweit sie von der neuscholastischen natürlichen Theologie Abstand genommen hat (vgl. aber noch DS 3875.3890ff) zugunsten einer fundamentaltheologisch ausgewiesenen Anthropologie „transzendentaler Erfahrung". Hier lassen sich sowohl der christentumskritische Atheismus als auch die außerchristliche Religionspraxis, z.B. in der Figur des „anonymen Christen" (-•Rahner; Jüngel, Entsprechungen 178ff), mit der offenbarten Gotteserkenntnis ebenso verknüpfen, wie die kirchliche Gnadenlehre sich die „Natur" seinsanalog zugeordnet hatte (Przywara; Söhngen; v. Balthasar; vgl. Mechels). Das -»Vaticanum II hat die natürliche Gotteserkenntnis so betont der göttlichen Offenbarung zugeschrieben (DV 6), daß die natürliche Theologie mit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium verknüpft und ihr materialer Reichtum als Beitrag des Katholizismus zu einer ökumenischen Theologie der Natur und Theologie der Religionen formuliert werden kann (Knauer 292f; Werbick; Beck; Kraus; Prospects). Die Arbeit der protestantischen Theologie am erneut gestellten Problem läßt sich in drei Vorschläge bündeln. Sie kommen in wichtigen Punkten überein: daß dieses Problem ein grundsätzliches sei; daß es eine notwendige und fortlaufende Aufgabe darstelle; daß dabei von Gott immer nur der Offenbarung Gottes nachgängig, „im N a m e n Gottes" gesprochen werden könne; daß die Wahrheit des Problems in der Allgemeinheit und „Selbstverständlichkeit" des Geltungsanspruches des besonderen christlichen Wortes „Gott" bestehe. Die Annahme, daß der Topos überhaupt mit einem theologischen Problem befaßt ist, schließt in jedem Fall aus, ihn dualistisch - duplex veritas - oder positivistisch - credo quia absurdum - aus der Welt schaffen zu wollen. Das in der Nachfolge K.Barths stehende Votum (Gestrich, Spaltung 381 ff; Link 32ff; Jüngel, Entsprechungen 158-201; Geheimnis IXff) hält den Weg einer „natürlichen Theologie" für grundsätzlich nicht gangbar. Als „natürliche" müsse sie versuchen, die fragliche Universalität und also die Notwendigkeit Gottes remota fide zu erweisen; dies überantworte die Bestimmung von „natürlich", „selbstverständlich", „vernünftig" (und damit auch: „offenbart") einer philosophischen Instanz. Weil die natürliche Theologie, das Wesen göttlicher Offenbarung verkennend, die Einheit von fides qua und fides quae unvermeidlich aufspalte, sei ihr Kardinalfehler schon sie selbst, d.h. ihre prinzipielle Unterscheidung von der Theologie der Offenbarung. Statt vorgängig die mögliche Erfahrbarkeit Gottes erweisen zu wollen, lege dagegen die Hermeneutik des Glaubens vom Ereignis der Offenbarung des trinitarischen Gottes her die Möglichkeit neuer Erfahrung frei, als Erfahrung mit der „natürlichen" Erfahrung (und dies sei kein einzelner Topos, sondern eine durchgängige Aufgabe der Dogmatik). Eine solche „natürliche" Theologie wende Gott um seiner selbst willen ihr Interesse zu, aber gerade so auch der „natürlichen" Erfahrung um ihrer selbst willen, auch in ihrer Gestalt als neuzeitliches, wissenschaftlich und naturbeherrschend sich sicherndes Freiheitsbewußtsein. Weil die dialektische Theologie gegenüber der Problematik des neuzeitlichen Freiheitsbewußtseins versagt habe, plädiert W. Pannenberg, ebenfalls der „Logik des Glaubens" folgend, für eine Erneuerung der natürlichen Theologie (Grundfragen 1,223-386; Syst. Theol. 1,73-205). Da der christliche Offenbarungsbegriff eine rein rationale natürliche Theologie ausschließt, handelt es sich auch hier um den Ausweis des Wahrheitsanspruches des christlichen Gebrauchs des Wortes „Gott". Aber gerade als von Gott begründet, müsse sich der christliche Gottesglaube verstehen als durch ein (logisch) vorausgesetztes und (nachgängig) gegenüber Dritten darstellbares Wissen begründet. Diese fides historica sei das Wissen vom Geschick Jesu und seiner grundsätzlich erkennbaren universalhistorischen Bedeutung; eben deshalb sei die fides quae mehr als ein Implikat oder gar Produkt der fides qua. Ihre allerdings strittige Plausibilität könne und müsse bewährt werden im religionsgeschichtlich induzierten und anthropologisch fundierten Aufweis der menschlichen Nötigung, sich als endliches Wesen zu transzendieren zu einem wenn auch unbestimmt Unendlichen. In diesem Aufweis identifiziere die natürliche Theologie den Gottesgedanken. Derart die christliche Rede von Gott an der Welt der menschlichen Erfahrung zu bewähren, baue einen „philosophische(n) Rahmenbegriff" für das auf, was ,Gott* genannt zu werden verdiene - wobei dieser Rahmen stets selbst Gegenstand des Gesprächs der Theologie mit der Philosophie bleibe (Syst. Theol. 1,120). Dieses Konzept erneuert die traditionelle Figur der cognitio Dei naturalis insita und die neuzeitliche Religionsphilosophie.

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Ein drittes, besonders im angelsächsischen und skandinavischen Bereich vertretenes Votum will die abstrakte Problemstellung, die derart gegensätzliche Lösungen überhaupt zuläßt, im Blick auf die kommunikativen Kontexte, in denen die Thematik der natürlichen Theologie verhaltensorientierend präsent ist, konkretisieren. Das bedeutet die Rückbindung der kognitiven Ansprüche 5 ihrer Behauptungen an performative Sprachhandlungen und pragmatische bzw. ethische Situationen (K.E. Logstrup; Wisnefske). Eine „philosophische Theologie" hat, wenn auch mit vorsichtigerem Anspruch auf theoretische Reichweite als die Religionsphilosophie katholischer Prägung, die Diskussion des (ästhetisch stets eindrucksvollen) kosmologischen und physikotheologischen und des (theoretisch nach wie vor anstößigen) ontologischen Arguments für das Dasein und für Eigen10 Schäften Gottes neu aufgenommen (Hubbeling, Einf. 77 f; Pannenberg, Syst. Theol. 1,75 ff; Kvist; Feil 151 ff). Weiter geht eine neue wissenschaftstheoretische Plazierung der Themas im Dialog von Theologie und Naturwissenschaften (A. Peacocke; T . E Torrance; Achtner); am weitesten geht die materiell ausgeführte prozeßphilosophische natürliche Theologie (Ch. —•Hartshorne; Hubbeling 176 ff). 15

5.2. Allen d i e s e n V o t e n ist g e m e i n s a m , d a ß sie d i e m ö g l i c h e B e d e u t u n g v o n n a t ü r licher T h e o l o g i e v e r b i n d e n m i t d e r E r f a h r u n g d e s b e f r e m d l i c h e n A b s t a n d s z w i s c h e n G l a u b e n d e n u n d N i c h t g l a u b e n d e n , speziell z w i s c h e n d e r c h r i s t l i c h e n T h e o l o g i e u n d e i n e m D e n k e n , d a s v o n G o t t n i c h t s w e i ß , w i s s e n will o d e r w i s s e n zu k ö n n e n m e i n t . D a ß diese Differenzerfahrung t h e o l o g i s c h n i c h t g l e i c h g ü l t i g sei, ist d a s M o t i v j e d e r n a 20 t ü r l i c h e n T h e o l o g i e , a u c h d e r a u f ihr „ w a h r e s P r o b l e m " r e d u z i e r t e n . D e r m ö g l i c h e S i n n v o n n a t ü r l i c h e r T h e o l o g i e ist d a h e r z u e r s t d i e W a h r n e h m u n g d e r h i s t o r i s c h e n K o n t i n g e n z u n d s o z i a l e n P a r t i k u l a r i t ä t d e s C h r i s t e n t u m s als eschatologischer Differenz zwis c h e n E r l ö s u n g u n d S c h ö p f u n g . E i n e c h r i s t l i c h e n a t ü r l i c h e T h e o l o g i e ist m i t h i n als theologia viatorum l e g i t i m ; als s o l c h e n i m m t sie A n t e i l a n d e r V e r g e w i s s e r u n g d e s c h r i s t l i c h e n is G l a u b e n s ü b e r seine W a h r h e i t .

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Als solche auch kommt ihr auf jeden Fall die negative Funktion zu, auszuschließen, daß diese Vergewisserung durch soziale und intellektuelle Abspaltung des Christentums von der „Welt" versucht wird. Gegen solche fundamentalistische Versuchungen erinnert natürliche Theologie, wie strittig auch immer das Wort „natürlich" werden mag, daran, d a ß die Umwelt des Glaubens, wie fremd sie ihm auch entgegentritt, das Eigentum Jesu Christi (Joh 1,11) bleibt. Keine natürliche Theologie kann daher auch ernstlich den Ort der Differenzerfahrung, von der sie sich allererst veranlaßt sieht, verheimlichen wollen. Jede theologische natürliche Theologie ist daher eine Gestalt der fides quaerens intellectum, des zuversichtlichen, doch in Anfechtung erfahrenen Glaubens. Offen ist freilich auch dann noch, wie jene Differenzerfahrung zum Tragen kommt; wo die Kategorialität in Frage steht, unter der das Eigene des christlichen Glaubens und das ihn Befremdende unterschieden werden, können sich die Wege trennen. Die Konstruktion eines (stets veränderlichen) Rahmens menschlicher Verständigung über Gott, Welt und Mensch (eingeschlossen das, worüber man sich glaubt nicht verständigen zu können) ist aber dann ein Denken des Glaubens, wenn und soweit es gelingt, den sehr besonderen Entdeckungszusammenhang seiner Wörter „ G o t t " , „Mensch", „Welt" in einen gegebenen Verstehenszusammenhang zu übersetzen - nicht in den, der allzu weiträumig als „das Denken", „das Natürliche", „das Allgemeine" usw. „vorausgesetzt" würde, sondern in den, der als Sich-Verstehen in der jeweiligen, begrenzten Sprach- und Kulturgemeinschaft gegeben ist und vom Glaubenden selbst mitrepräsentiert wird. Eine solche Ubersetzung ist dem Glauben möglich und aufgegeben, weil sein Wort „ G o t t " einen Begründungszusammenhang in sich trägt, der die Welt im ganzen erschließt, der also, mit dem traditionellen Ausdruck, als Metaphysik ausgearbeitet werden kann (Härle/Herms 48ff). Eine solche Übersetzung erzeugt im Medium menschlicher Sprache und vernünftiger Verständigung einen Überschuß, der im Blick auf dieses Medium die zugleich kritische und konstruktive Funktion hat, das bislang Natürliche und Selbstverständliche durch die Erinnerung an das noch Natürlichere, Selbstverständlichere (Jüngel 195f.l98ff) zu beschämen und zu bereichern. Die Möglichkeit einer christlichen natürlichen Theologie hängt daran, daß die Hermeneutik des christlichen Glaubens nach Maßgabe der Unterscheidung von Evangelium und Gesetz differenziert werden kann (äquivalent „ Ö k o n o m i e " und „Theologie": Mildenberger 1,231). Als theologisches Reden im Sprachraum des Gesetzes identifiziert die natürliche Theologie Erfahrung als „natürliche Gotteserkenntnis"; sie geht mit Erfahrung also in ihrem pädagogischen Sinn gemäß Gal 3,24 f um. Ihre apologetische Aufgabe ist es, auf natürliche Gotteserkenntnis im Konflikt mit anderen Identifikationen derselben Phänomene (Bayer 511 ff) als auf das „Natürlichere" hinzuweisen.

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Christliche natürliche T h e o l o g i e ist s o m i t eine t h e o l o g i s c h e F o r m kultureller Refiexivität. Ihre H e r m e n e u t i k bedarf selbstredend der p n e u m a t o l o g i s c h e n B e g r ü n d u n g ( - • G e i s t , Heiliger); ihre Pragmatik lebt v o n den tatsächlich geführten D i a l o g e n mit der P h i l o s o p h i e b z w . R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e u n d mit d e n positiven W i s s e n s c h a f t e n , aber auch mit der Wirklichkeitsdeutung der Künste — v o n D i a l o g e n mit Laien also, die stets nur in begrenzten, b e s t i m m t e n kulturellen K o n t e x t e n m ö g l i c h sind u n d daher allenfalls mittlere R e i c h w e i t e haben. D i e beteiligten Kulturwissenschaften m a c h e n , v o n der T h e o l o g i e her gesehen: in einer Außenperspektive, auf P h ä n o m e n e a u f m e r k s a m , die in der theologischen Innenperspektive als „natürliche G o t t e s e r k e n n t n i s " , d. h. als R e f l e x e der Präsenz G o t t e s in seiner Welt, beschrieben (!) u n d im Licht d e s E v a n g e l i u m s sich selbst m ö g l i c h e r w e i s e besser erschlossen w e r d e n als sie sich „ n a t ü r l i c h e r w e i s e " erschlossen sind. D i e T h e m e n einer christlichen natürlichen T h e o l o g i e sind in d e n drei E l e m e n t e n ihrer klassischen Gestalt vorgezeichnet: cognitio Dei, cognitio insita, cognitio acquisita. In der gegenwärtigen kulturellen Situation bedeutet das die theologische Auseinandersetzung mit den Religionswissenschaften, mit der Anthropologie (und Historie) und mit den Naturwissenschaften (vgl. Ebeling 1,278 f; Jüngcl 196 f; Pannenberg). Die zu einer Kulturtheorie fortentwickelte natürliche Theologie hält dabei die Frage offen, was „Religion", was „ V e r n u n f t " in Wissen und Handeln, was „Natur" sei. Dies bedeutet nicht selten den Konflikt mit den Selbstverständlichkeiten, die, in theologischer Perspektive, reduzierte Begriffe von Religion, Wissen und Natur sind. Produktiv wird aber auch der schärfste Konflikt, wenn er die fraglichen Phänomene in der Epoche der Nichtselbstverständlichkeit sie selbst sein läßt, so d a ß vom Geheimnis ihrer Wirklichkeit zu sprechen nicht unsinnig, sondern auf eigentümliche Weise „natürlich" erscheint. Quellen Allgemeines: BSLK. - BSRK. - Die Dogmatik der ev.-ref. Kirche, hg. v. Heinrich Heppe/Ernst Bizer, Neukirchen 1935 2 1958. - Emanuel Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, Berlin 1937 = 4 1964. - Carl H. Ratschow, Luth. Dogmatik zw. Reformation u. Aufklärung, 2 Bde., Gütersloh 1964/66. 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Natur 1. Grundsätzliches 2. Altes und Neues Testament 3. Antike/Alte Kirche 4. Mittelalter, Renaissance und Reformation 5. Neuzeit 6. Gegenwärtige Fragestellungen (Literatur S. 106) 1.

Grundsätzliches

Natur (von lat. natura-, griech. ipüoit;) kann auf ganz verschiedene Weise verstanden und bestimmt werden. Diese Bestimmungsvielfalt läßt sich kaum zu einem alle Aspekte harmonisierenden Begriff von der Natur zusammenfassen, so daß eher von verschiedenen Auslegungen oder Verstehensweisen von Natur als von einem eindeutig und präzise zu definierenden Naturbegriff gesprochen werden sollte. Ein Indiz für die Schwierigkeit, einen einheitlichen Begriff von Natur zu finden, ist schon der äußerliche sprachliche Befund, daß das eine und selbe Wort Natur 1. als Kontrast- oder Komplementärbegriff in ganz unterschiedlichen, spannungsreichen, z.T. widersprüchlichen Gegenüberstellungen benutzt wird: zu -»Gesetz, -»Technik, -»Kultur, -•Geist, -»Gnade, Ubernatur, -»Geschichte und -»Freiheit, um nur die wichtigsten zu nennen. Im Unterschied zu diesen Relationspaaren, die zumindest das eine gemeinsam haben, daß Natur immer nur einen bestimmten Teilbereich des Seienden im Sinne des jeweils entgegenstehenden Anderen meint, kann Natur aber auch 2. das All des Seienden, manchmal einschließlich, manchmal ausschließlich des -»Menschen oder auch -»Gottes, bzw. des Göttlichen bezeichnen. Von diesen ersten beiden Bedeutungsfeldern ist 3. das Verständnis von Natur als Wesen einer Sache oder Person zu unterscheiden, das auch 4. überleiten kann zur Auffassung der Natur als ethischer, pädagogischer wie auch ästhetischer - » N o r m , so daß das Natürliche das Normale oder auch das Schöne wie Ideale wird, z . B . als Inbegriff der -»Reinheit, -»Gesundheit und Ursprünglichkeit. So kann im Blick auf die wirkungsgeschichtlich bedeutsamen formalen Differenzierungen Natur

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Natur als Komplementär-,

als Universal-,

als 'Wesens-

o d e r Normbegriff

m i t jeweils weitrei-

c h e n d e n a n t h r o p o l o g i s c h e n , k o s m o l o g i s c h e n , m e t a p h y s i s c h e n , soteriologischen, ethischen, p ä d a g o g i s c h e n und ästhetischen Implikationen v e r s t a n d e n w e r d e n . Gewichtige theologische wie philosophische Problemstellungen, die sich im Laufe der Tradition ergeben haben (z.B. die christologische -»Zwei-Naturen-Lehre, das soteriologische Verhältnis von Natur und Gnade/Übernatur, der -»Pantheismusstreit, die metaphysische Auseinandersetzung zwischen -»Naturalismus und -»Idealismus/Supranaturalismus, die Möglichkeit von -»Wundern in einem lückenlosen natürlichen Kausalzusammenhang, die anthropologische wie ethische Bestimmung des Menschen, das Problem einer -»„natürlichen" Theologie etc.), folgen oft aus dem nur schwer zu entwirrenden Knäuel von unterschiedlichen Naturverständnissen, wobei sich auch die Gefahr von Scheinproblemen aufgrund von Äquivokationen ergeben kann. E t y m o l o g i s c h b e t r a c h t e t (vgl. K ö s t e r ) meint N a t u r , v o n lat. natura, nasci, den H e r v o r g a n g o d e r das W e r d e n v o n e t w a s , die E n t s t e h u n g , die G e b u r t und d a s ursprüngliche W a c h s e n eines Seienden in seine je eigene W i r k l i c h k e i t . E i n e ähnliche B e d e u t u n g h a t d a s d e m Lateinischen zugrundeliegende griechische W o r t AugustinsSermones 197/198 (PL38,1021-1026), weil er im Anschluß an Psalm 105,47 „Sammle uns von den Heiden, damit wir deinen heiligen Namen bekennen" die Distanzierung von den heidnischen Bräuchen zum Thema machte. Die Entgegensetzung wird pointiert formuliert: „Jene geben Geschenke (strenas), ihr sollt Almosen geben, jene werden durch Gesänge des Schwelgens herbeigerufen, ihr sollt euch durch die Reden der Schriften herbeirufen, jene rennen zum Theater, ihr zur Kirche, jene schmausen, ihr aber sollt fasten" (1025).

Dementsprechend verbot die Synode von Tours (567) die Teilnahme an Festen zu Ehren des Gottes Janus, weil dies mit den Glauben an den Dreieinigen Gott unvereinbar sei (CCL 148a, 191). Ähnlich äußerte sich die 4. Synode von Toledo (636). Im 6. Jh. wird mit Gallien als Ausgangsregion ein christlicher Inhalt im Anschluß an Lukas 1,21 gesucht, denn der Neujahrstag war die Weihnachtsoktav. So wird der Neujahrstag zum Fest der Beschneidung Jesu, womit auch Jesu Namengebung neu ins Blickfeld trat. Als drittes Motiv setzte sich in Rom im 8. Jh. das Verständnis des Tages als Marienfest durch, bei dem zuerst dieser Tag als der Geburtstag der Maria verstanden wurde. Im 12. Jh. wurde jedoch das Beschneidungsfest in die römische Liturgie aufgenommen. Seit dem 10. Jh. erfuhr der Neujahrstag noch eine vierte Ausprägung vor allem in Frankreich, indem von der christlichen Kirche volkstümliche Bräuche mit Verkleidungen aufgenommen wurden, so daß ein „Narrenfest" entstand, bei dem auch Messen parodiert wurden. Dagegen wurde natürlich andererseits vielfach polemisiert. Dieser Kritik schloß sich auch die Reformation an, indem sie auch die Sitte des Geschenkausteilens kritisierte. Martin -»Luther unterstützte den Gedanken, dem Neujahrstag einen christlichen Inhalt zu geben dadurch, daß er wieder die Beschneidung Jesu und seinen Namen als Inhalt des Festes zur Geltung brachte: „Auf diesen Tag pflegt man das Neujahr auszuteilen auf der Kanzel, als hätte man sonst nicht genug nützlichs, heilsams Dinges zu predigen, daß man solche unnütze Fabeln anstatt göttlichs Worts furgeben müßte, und aus solchem ernsten Amt ein Spiel und Schimpf machen. Von der Beschneidung fordert das Evangelium zu predigen und von dem Namen Jesu; darauf wollen wir sehen" (WA X,l.l,504f).

Ein fünftes Motiv erscheint bei -»Melanchthon, wie Kawerau gezeigt hat. Melanchthon arbeitet auf eine christliche Besinnung zu Zeit und Ewigkeit, Vergänglichkeit und Neuanfang hin. Ganz neu waren diese Gedanken allerdings nicht, wie die berühmte Kaiendenpredigt des Chrysostomus, gehalten in Antiochia (wohl 387) zeigt (PG 48,953-962). Man kann auch auf die Sonderstellung der erst später wieder bekanntgewordenen altspanischen Liturgie hinweisen (dazu Schwarzenberger 226f). Sie kennt eine missio de initio anni. In ihr steht Christus als der Herr der Schöpfung und der Zeit im Mittelpunkt. Allmählich gewannen diese Gedanken, insbesondere mit der Aufklärung, immer mehr Gewicht.

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Neujahrsfest IV

Die Einführung eigener Silvestergottesdienste a m N a c h m i t t a g oder Abend brachte eine neue Variante ins Spiel. Hier k o n n t e die Thematisierung von Vergänglichkeit u n d N e u a n f a n g , Wunsch, D a n k u n d Bitte ihren Platz finden, so d a ß d e m Neujahrsfest die heilsgeschichtlich christologische Orientierung erhalten blieb. Die Anfänge des Silvestergottesdienstes in Deutschland sind noch nicht hinreichend erforscht. Kalb nennt ohne Beleg die Z a h l 1776 (81). Strauch verweist auf Kaweraus Untersuchung f ü r den Silvestergottesdienst in Goldberg (Schlesien), der ähnlich wie an anderen O r t e n 1822 neuaufgekommen w a r , aber von der Obrigkeit nicht genehmigt w u r d e , so d a ß er erst durch die Verknüpfung mit einer Stifung 1836 rechtliche Anerkennung fand. M a n sieht, d a ß auch hier aus d e m Volk a u f k o m m e n d e Neuerungen bei Festen von oben her recht skeptisch betrachtet w u r d e n . Die Geschichte zeigt, d a ß das Verhältnis von christologischer Deutung und allgemeiner religiöser Besinnung den N e u j a h r s t a g zu einem hervorragenden Beispiel f ü r die aktuelle Diskussion von Glauben und Religion, Christentum und Bürgerfrömmigkeit (civil religion) macht. Die Entwicklung ist ein Lehrstück f ü r die Festgestaltung der Volkskirche. Kawerau bilanzierte seine Darstellung deshalb folgerichtig so: „Die Kirche soll sich freuen, wenn ihr Tage geboten werden, die im Volksleben eine tief einschneidende Bedeutung haben und daher auch eine ganz bestimmte Stimmung hervorrufen, für die es nur darauf ankommt, daß sie religiös vertieft und in das Licht des Wortes gerückt werden. Die Kirche beweist ihre Aufgabe als Volkskirche darin, daß sie solche Tage nicht ignoriert, sondern in ihre Gottesdienste eingliedert" (Kawerau 1901, 21). In der neueren Zeit ist die Entwicklung aufschlußreich, wie sie A. Strauch in seiner Untersuchung der -»Predigt zur Jahreswende in der neueren Predigtgeschichte aufgezeigt hat. Er hat aufgewiesen, d a ß mit der Epoche der sog. „ M o d e r n e n Predigt" - etwa von 1890-1910 - die Besinnung auf lebensgeschichtliche Bedeutung des Jahreswechsels theologisch nachdrücklich a u f g e n o m m e n wurde. Demgegenüber hat die Predigt der dialektischen Theologie versucht, an die Tradition Luthers wieder a n z u k n ü p f e n , aber bis auf die spezielle Situation des Kirchenkampfes zeigt sich doch immer wieder und insbesondere in der Predigt der Nachkriegszeit, d a ß die alte Verknüpfung von Theologie und Lebensnähe zu einer weisheitlichen Festpredigt führt, die geradezu als prototypisch (Strauch 116) f ü r die Aufgabe der Predigt überhaupt bezeichnet werden k a n n . Ähnliche Probleme zeigen sich in der neueren liturgischen Entwicklung der römischen Kirche (-»Liturgie). D e r neue Festkalender (1969) hat den 1. J a n u a r als „ H o c h f e s t der Gottesmutter M a r i a " bestimmt. Diesem Versuch, die alte römische Tradition wieder zu erneuern und so dem N e u j a h r s t a g einen eindeutig marianischen Charakter zu geben, ist pastoral-liturgisch lebhaft widersprochen worden (Schwarzenberger 229). Er fordert eine „Festmesse zum J a h r e s a n f a n g " im Interesse lebensnaher Liturgie. Bemerkenswert sind auch die Versuche, zum Teil auch mit Rückgriff auf Aussagen des Papstes, den 1. J a n u a r zu einem auch kirchlich bejahten Weltfriedenstag zu machen (vgl. T R E 11,136). Die Diskussion um die Gestaltung von Gottesdienst und Predigt zur Jahreswende ist besonders ergiebig in verschiedenen H e f t e n der Z G P geführt w o r d e n . So befürchtete K. Dienst, d a ß N e u j a h r „ z u m Fest der Beliebigkeit" (40) geworden sei, bei dem die Sinnfrage die Gottesfrage abgelöst habe. Es wird richtig sein, das Verhältnis von Verheißung im biblischen Sinne und Sinn im lebensgeschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext zu erörtern, aber „die Schwelle zwischen den J a h r e n " erweist sich doch als ein ganz wesentlicher A n k n ü p f u n g s p u n k t , wie E. D o m a y aufgewiesen hat (9ff). Er hat die Motive „Schwelle u n d T ü r " sowohl mit biblischen wie literarischen Texten vorbildlich bedacht. Besondere Beachtung verdient auch das Liedgut (-»Kirchenlied) zur Jahreswende, das Dienst näher charakterisiert hat ( 4 1 - 4 3 ) . Das erste kirchliche Neujahrslied stammt von Johannes Z w i c k „ N u n wolle G o t t , d a ß unser Sang" (EKG 36). Es entstand nach

Neuluthertum

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1532. G r o ß e frömmigkeitsgeschichtliche Bedeutung haben Paul Gerhardts Lied „ N u n laßt uns gehn und t r e t e n " (EKG 42) und Jochen Kleppers Verse von 1938 „ D e r d u die Zeit in H ä n d e n h a s t " (EKG 45) gewonnen. In das neue EG ist zu Recht auch Dietrich Bonhoeffers Lied „Von guten Mächten treu und still u m g e b e n " a u f g e n o m m e n w o r d e n . Der Überblick zeigt, d a ß Sören Kierkegaards polemische Warnung, man solle den Prediger nicht mit einem Neujahrsgratulanten bzw. einem T r o u b a d o u r verwechseln (Abschließende unwiss. Nachschr. zu den Phil. Brocken T.2, M988 [GTB 613] 125), zwar heute nicht zur Trennung von Lebensgeschichte und Verkündigung führen sollte, aber die Probleme von christlicher Wahrheit und allgemeinem Verständnis, von Seligpreisung Jesu und Glückstreben deutlich zu machen vermag. Die Verhältnisbestimmung der Janusköpfigkeit der Zeit zu Christus als dem H e r r n der Kirche bleibt eine immer wieder „zwischen den Z e i t e n " zu lösende Aufgabe, in der Ende oder Wende memoriert werden. Literatur Karl-Heinrich Bieritz, Das Kirchenjahr, München 1987, 193 f. - Fritz Bünger, Gesch. der Neujahrsfeier in der Kirche, Göttingen 1911. - Karl Dienst, Neujahr - Fest der Beliebigkeit?: ZGP 1.6 (1983) 4 0 - 4 4 . - Erhard Domay, Die Schwelle zw. den Jahren: ZGP 2.6 (1984) 9 - 1 5 . - Erich Hertzsch, Art. Neujahrsfest christl.: RGG 3 4 (1960) 1420 f. - Friedrich Kalb, Grundriß der Liturgik, München '1982. - Gustav Kawerau, Aus der Gesch. der Neujahrsfeier: DEBL 26 = NS 1 (1901) 11-21. - Ders., Zur Gesch. des Silvester-Gottesdienstes in Schlesien: JVSKG 12 (1911) 264-268. - Paul Kleinen, Gesch. der Neujahrsfeier in der christl. Kirche: H W D H 23 (1900) 165-180. - Rudolf Schwarzenberger, Die liturg. Feier des 1. Januar: LJ 20 (1970) 216-230. - Andreas Strauch, Die Predigt zur Jahreswende: Peter Cornehl/Martin Dutzmann/Ders. (Hg.), In der Schar derer, die da feiern, Göttingen 1993, 98-116 (Lit.).

Henning Schröer Neukantianismus - » K a n t / N e u k a n t i a n i s m u s Neuluthertum 1. Begriff 2. Die führenden Vertreter des Neuluthertums 3. Zentren und kirchliche Bedeutung des Neuluthertums 4. Die Theologie des Neuluthertums 5. Einheit und Unterschiede in der theologischen Konzeption des Neuluthertums 6. Politische und soziale Wirkungen des Neuluthertums 7. Das Neuluthertum in Amerika und Australien 8. Nachwirkungen des Neuluthertums 9. Zur Beurteilung des Neuluthertums (Quellen/Literatur S. 339)

1. Begriff Der Begriff Neuluthertum ist seinem Ursprung nach eine polemische Bezeichnung, hat sich aber in der Literatur f ü r den lutherischen Neukonfessionalismus (vgl. - • K o n fessionalismus) durchgesetzt. Die schlesischen Lutheraner (-»Schlesien), die bis nach 1840 zum Teil Amt oder sogar H e i m a t verloren hatten (s.u. 3.1.), nannten sich Lutheratter, nicht Altlutheraner, und verstanden sich als rechtmäßige Erben der lutherischen Reformation. In der theologischen Fachliteratur taucht der Begriff N e u l u t h e r t u m 1856 erstmals bei Karl Schwarz (1812-1885) im Gegensatz zum Altluthertum auf (Schwarz 1856, 353). Als Bezeichnung f ü r die „hierarchisch-katholisierenden L u t h e r a n e r " wählte Schwarz das Wort Hyperluthertum ( a . a . O . 370). Der Leipziger Karl Friedrich August Kahnis (1814-1888; vgl. T R E 19,430,8ff), ein Gegner der kirchenpolitischen Ziele der -•Vermittlungstheologie und besonders der Union ( - » U n i o n e n , Kirchliche), kannte den Begriff Neuluthertum nicht, sprach aber von einem bei E.W. - * Hengstenberg zu beobachtenden Übergang von der „Vermittlung" zum Konfessionalismus und zur „Bekenntnistheologie" (Kahnis, G a n g 208 f). Angesichts der Vielfalt der Begriffe „theologisch-kirchliche R e a c t i o n " (Hundeshagen, Protestantismus 2 5 8 - 2 7 2 ) , „Repristinationstheologie" (Schwarz 1856,353), „Restaurationstheologie" (Schwarz '1864, VIII), „bekenntnismäßige T h e o l o g i e " (Kahnis, G a n g 210) u. a. stellt sich die Frage, w a r u m und in welcher Absicht zu den nicht eindeutigen

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Neuluthertum

Bezeichnungen das Etikett neulutherisch hinzugefügt wurde (zur Begriffsgeschichte vgl. Graf, „Restaurationstheologie" 66-68). Während E. -»Hirsch von der „neulutherischen Lehre von Kirche und Amt" im Rahmen der „neukirchlichen Gedankenbildung" des „Neuluthertums" sprach (Hirsch V,208f), erweiterte Heinrich Hermelink (1877-1958) den Begriff Neuluthertum dahin, daß er gerade auch die Erlanger „theologische Schule" (vgl. TRE 10,162,17-42) dazu rechnete (Hermelink 11,403). Ohne Hinweis auf eine Quelle oder die Gründe, die ihn zu der Unterscheidung zwischen Altlutheranern und „Neuluthertum" veranlaßten, benannte Hermelink folgende über Luther hinausführende Elemente des Neuluthertums: einen „theosophisch verstärkten Sakramentalimus", die neue Bedeutung „der im Hirtenamt oder auch in der göttlichen Verfassung sich darstellenden Kirche" und das „Bekenntnis" (a.a.O. 372). Indem Hermelink zunächst auf das „sächsische Neuluthertum" hinwies (a.a.O. 379), gab er zu erkennen, daß das Neuluthertum noch andere Zentren hatte, so in -»Hannover (a.a.O. 384-392) und in -»Bayern (a.a.O. 392-416).

Damit hat sich bei Hermelink der zunächst sachlich-kritisch qualifizierende Begriff zur Bezeichnung des lutherischen Neukonfessionalismus im geographischen Sinne durchgesetzt. Neuluthertum kann somit nach Gestalten, Zentren oder Typen dargestellt werden. Abschließend ist festzustellen: Nachdem von „Neulutheranern" oder „neulutherischen Separatisten" erstmals bei Schwarz und dann 1884 bei dem „Lutheraner in der Union" Hermann Theodor Wangemann (1818-1894) in polemischer Absicht die Rede war (vgl. Kantzenbach, Union u. Mission 102 f), hat sich der Begriff „Neuluthertum" als relativ wertfreie historische Bedeutung erst mit Hermelink durchgesetzt. 2. Die führenden Vertreter des

Neuluthertums

2.1. Die Mehrheit der zum Neuluthertum zu rechnenden Theologen wurde von Einflüssen der -»Erweckungsbewegung erfaßt. Insofern ist die Entwicklung der einzelnen Vertreter hin zur bewußten Vertretung des konfessionellen Erbes fließend. Das Augustana-Gedenkjahr 1830 kann jedoch als zeitlicher Einschnitt angesehen werden. In diesem Jahr erschienen zahlreiche Veröffentlichungen zum -* Augsburger Bekenntnis von 1530, die die Diskussion über den Bekenntnisstand der einzelnen evangelischen -»Landeskirchen kräftig anregten und zu einer neuen Überprüfung des reformatorischen Bekenntnisses Anlaß gaben (vgl. Mehlhausen, Wirkungsgeschichte 45-53). A.E Chr. -»Vilmar hielt eine Rede über die Confessio Augustana, in der er Schülern am Gymnasium von Hersfeld Aufschluß über die Aktualität der Kirchenfrage geben wollte. W. -»Löhe verpflichtete sich 1831 bei seiner Ordination ausdrücklich auf die Confessio Augustana und die übrigen lutherischen -»Bekenntnisschriften. Vor allem in den Kämpfen um den lutherischen Bekenntnischarakter der Schlesischen Kirche berief man sich auf das lutherische Bekenntnis, weil die preußische Unions-Agende unter Zwang eingeführt werden sollte und nach Auffassung der schlesischen Lutheraner damit der Territorialismus als kirchenrechtlicher Grundsatz der -»Aufklärung zur Vollendung kam.

2.2. Bei alledem ist nicht zu übersehen, daß C. -»Harms mit seinen 95 Thesen, die er aus Anlaß des Reformationsjubiläums im Jahre 1817 veröffentlichte, in die Vorgeschichte des Neuluthertums hineingehört. Harms betonte zunehmend die Bedeutung der Bekenntnisschriften, vor allem des Kleinen Katechismus Luthers (vgl. TRE 17,720,12-22) und der Confessio Augustana. Auf das Spezifische des Neuluthertums wies er bereits voraus, indem er schon in seinen 95 Thesen auf die Abendmahlslehre Luthers besonderen Nachdruck legte (vgl. TRE 1,305,45) und das prophetisch-priesterliche Amt des lutherischen Predigers betonte. Allerdings lehnte Harms das organische Denken, dessen sich das Neuluthertum häufig bediente, um die theologische Weiterentwicklung des alten Bekenntnisses zu begründen, entschieden ab, obgleich ihm tote Repristination zuwider war. Zweifellos hat Harms mit seiner Betonung der lutherischen Abendmahlslehre auch auf den Führer der schlesischen Lutheraner, Johann Gottfried Scheibel (1783-1843), den man den „Harms von Schlesien" nannte, Eindruck gemacht. Scheibel hatte sich

Neuluthertum

329

zunächst exegetisch mit dem Thema Das Abendmahl des Herrn (Breslau 1823) befaßt. Die Einführung der Union und vor allem die Schlesien 1830 aufgezwungene Agende führten Scheibel theologisch tiefer zum kirchlichen Bekenntnis und zur kirchlichen Tradition, wobei ihm naturphilosophische Fragestellungen und religionsgeschichtliche Vergleiche eine Hilfe waren. Der kirchliche Protest der Schlesier führte bei Scheibel, mehr aber noch bei seinen Mitstreitern, dem Juristen Georg Philipp Eduard Huschke (1801-1886) und dem Naturphilosophen Henrik Steffens (1773-1845), zu Neubildungen in der Ekklesiologie, die 1883 ihr Kritiker Wangemann als heterodoxe theosophische Sonderideen entlarven wollte, die zwangsläufig in die neulutherische Separation einmünden mußten (vgl. Kantzenbach, Union u. Mission 116f)- Versuche zu Neuansätzen in der Ekklesiologie liegen bei Scheibel, Huschke und Steffens in der Tat vor. Die Akzente waren dabei verschieden gesetzt, jedoch ist das Organismusdenken die sie gemeinsam bestimmende Denkweise gewesen (zum Organismusdenken vgl. George 215 -223). 2.3. Der Kampf Scheibeis um das Recht seiner Theologie und die Legitimität des kirchlichen Protests der Schlesier fand in ganz Deutschland ein lebhaftes Echo. Die der Erweckungsbewegung verpflichteten Zeitschriften brachten ihre Sympathie für die unterdrückten schlesischen Glaubensbrüder deutlich zum Ausdruck. Auch Löhes kirchliche Entwicklung wurde entscheidend durch die schlesischen Kämpfe, die 1834 einen Höhepunkt erreichten, beeinflußt. Scheibel, der nach seiner Absetzung in Breslau von 1832 bis 1839 ohne öffentliches Amt in Sachsen gelebt hatte, wandte sich 1839 nach Nürnberg. Hier wurde er hoch geachtet, u.a. von Gotthilf Heinrich v. Schubert (1780-1860) und F.W.J. —•Schelling. Bis zu seinem Tod im sächsischen Exil im Jahre 1843 wurde er finanziell und persönlich vor allem durch wohlhabende Freunde der Erweckungsbewegung unterstützt (vgl. Nixdorf, Separation 227-231). Außer in Franken gab es auch an anderen Orten günstige Anknüpfungspunkte für das sich seit 1835 weiter entwickelnde Neuluthertum. Führend wurde als theologische Fakultät -»Erlangen, zunächst repräsentiert durch A. -»Harleß. Aber auch Glauchau und Waldenburg, wohin 1829 Andreas Gottlob Rudelbach (1792-1862) aus Kopenhagen von den Fürsten von Schönburg als Superintendent berufen worden war, waren wie andere kleine Territorien resistent gegenüber dem Unionsgeist. Rudelbach schrieb die grundsätzliche Untersuchung Reformation, Luthertum und Union. Eine historisch-dogmatische Apologie der lutherischen Kirche und ihres Lehrbegriffs (Leipzig 1839), die als „Ehrenrettung" der lutherischen Kirche große Aufmerksamkeit fand. Dieser Untersuchung folgte eine Historisch-kritische Einleitung in die Augsburgische Konfession. Nebst erneuerter Untersuchung der Verbindlichkeit der Symbole und der Verpflichtung auf dieselben (Dresden/Leipzig 1841). Mit beiden Schriften knüpfte Rudelbach an Entwicklungen an, die seit dem Augustana-Gedenkjahr 1830 die Ausbildung der neulutherischen Theologie gefördert hatten (vgl. Grane, Kirche 153 f). 1837 erhielt Löhe seine erste Pfarrstelle in Neuendettelsau, das schnell neben Erlangen zum Zentrum lutherischer Theologie und Kirchlichkeit wurde. Die Schriften Scheibeis über das Abendmahl, besonders seine Kampfschriften gegen die Union (1834), hatten Löhe um 1835 endgültig zum entschiedenen Lutheraner gemacht. Seit 1838 erschien die von Harleß begründete Zeitschrift für Protestantismus und Kirche (ZPK), die zum weithin wirkenden öffentlichen Organ des Neuluthertums wurde. Zum Programm der Zeitschrift gehörte der Satz: „Man rede von Glaube und Gläubigseyn, wie man wolle — protestantisch ist der Glaube nur in der Einheit seines Bekenntnisses mit dem der Reformation" (Mehnert 58; vgl. Fagerberg, Bekenntnis 6 3 - 6 8 ) .

2.4. In Schlesien hatten bis zum Ende des Jahres 1827 von insgesamt 744 Predigern 500 die Unionsagende abgelehnt. Die 1829 völlig umgearbeitete neue Fassung der Agende hatte im Jahre 1830 hingegen kaum noch Gegner. Die gegenüber der Union weiterhin unnachgiebigen Schlesier wurden vom Amt suspendiert, ausgewiesen oder sonst kaltgestellt (vgl. Nixdorf, Separation 231-239). So setzte 1838 eine -»Auswanderung von Lutheranern nach Nordamerika ein (vgl. T R E 21,607,50-611,3).

330

Neuluthertum

Am 10.11.1840 wurde in Dresden der „Verein zur Unterstützung der lutherischen Kirche in N o r d a m e r i k a " gegründet. Als Einzelgänger hatte Friedrich Konrad Dietrich Wyneken (1810-1876) aus Stade 1838 Nordamerika bereist. Sein Hilferuf für die kirchlich verwaisten deutschen Auswanderer wurde von Löhe gehört, der 1840 mit der Ausbildung von „ N o t h e l f e r n " für die lutherische Kirche Nordamerikas begann. 1842 sammelte Ludwig Adolf Petri (1803-1873) in Hannover die bekenntnistreuen Pfarrer in der Pfitigstkonferenz, von der in Hannover die lutherische Diasporaarbeit in Nordamerika ausging (vgl. T R E 14,433,36-44). Zweifellos hat das Rückströmen von Einflüssen aus der kirchlich motivierten Auswanderungsbewegung stabilisierende Bedeutung f ü r das Neuluthertum in Deutschland gehabt. Seit 1842 wurde somit die Klärung des Problems der konfessionellen (lutherischen) Ausrichtung der Äußeren -»Mission immer dringlicher.

3. Zentren und kirchliche Bedeutung des

Neuluthertums

3.1. Die Forderung der schlesischen Lutheraner nach einer selbständigen Existenz der lutherischen Kirche wurde im Februar und März 1834 durch Kabinettsordern des preußischen Königs abgelehnt. Am 4.4.1834 trat dennoch eine erste Synode aus sieben Geistlichen und 39 Gemeindeältesten in Breslau zusammen, die in einer Petition an das Ministerium erneut die Bitte aussprach, die lutherische Kirche in ihrem Gottesdienst, ihrer Verfassung, Verwaltung und ihrem Schulwesen als selbständige Kirche anzuerkennen (vgl. Roensch/Klän 62). Der Einsatz von Militär zur Disziplinierung der lutherischen Gemeinde in dem kleinen schlesischen Ort Hönigern erregte großes Aufsehen. Die einhellige Ablehnung dieser Militäraktion in allen Schichten der Bevölkerung zwang die preußische Regierung, die Auseinandersetzung nicht weiter auf die Spitze zu treiben. Zunächst folgten zwar noch weitere disziplinarische Maßnahmen gegen die Lutheraner, aber König Friedrich Wilhelm IV. ließ bald nach seinem Regierungsantritt den lutherischen Gemeinden die königliche Bereitschaft zum Friedensschluß übermitteln (10.10.1840). Im September und Oktober 1841 verabschiedete eine erste öffentliche Generalsynode der Lutheraner in Breslau die Grundzüge einer Verfassung und wählte ein Oberkirchenkollegium (vgl. Klän, Kirchenbildung 158-161; Nixdorf, Separation 240). Unter den trotz aller Bedrückungs- und Verfolgungsmaßnahmen standhaften Geistlichen trat der Kirchenhistoriker Heinrich Ernst Ferdinand Guericke (1803-1878) in -»Halle hervor. Guericke war 1834 aus dem Staatsdienst entlassen worden, weil er in seiner Wohnung separatistische lutherische Privatgottesdienste abgehalten hatte. Nach seiner Absetzung wurde er von Scheibel ordiniert, und die lutherische Gemeinde von N a u m b u r g berief ihn zu ihrem Pastor. Wegen unerlaubter Ausführung geistlicher Amtshandlungen ist Guericke durch den „Kriminal-Senat" des Naumburger Oberlandesgerichts mehrfach zu recht hohen Geldstrafen verurteilt worden. Erst nachdem er sein „lutherisches P f a r r a m t " niedergelegt hatte, wurde er Ende 1839 wieder als Theologieprofessor eingestellt.

Einige Pfarrer waren mit einem Teil ihrer Gemeinde damals bereits nach Australien oder nach Nordamerika ausgewandert. 1847/48 wuchs die 1841 etwa 20.000 Glieder zählende Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen erheblich an, weil führende Laien und Pastoren der pommerschen Erweckungsbewegung (-•Pommern) hinzukamen. Auch in der Rheinprovinz (-»Rheinland), in -»Nassau und in -»Baden kam es zu kleineren Austrittsbewegungen. Insgesamt kam der sich bildenden lutherischen Freikirche, die ohne staatliche Unterstützung existieren mußte, ein weit geringerer Anteil am Neuluthertum zu, als den großen Zentren in Sachsen, Hannover und in Franken. Doch zeigen die Spaltungen und Auseinandersetzungen im freikirchlichen Luthertum deutlich den Einfluß neulutherischer Thesen. 3.2. In -»Sachsen entwickelte sich das Neuluthertum zeitlich später als in Franken. Sein erster Vertreter an der Theologischen Fakultät in -»Leipzig war der vorher in Breslau wirkende K.F.A. Kahnis (s.o. 1.), dessen vielgelesenes Buch Der innere Gang des Protestantismus die Revolution als notwendige Folge und zugleich als das Ende der Aufklärung bekämpfte. Zugleich suchte Kahnis die Union auf eine ebenfalls zum Scheitern verurteilte Vermittlungstheologie zurückzuführen. 1856 lehnte er einen Ruf nach Erlangen ab und erhielt 1857 auf sein Verlangen in dem aus Franken stammenden Chri-

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stoph Ernst Luthardt (1825-1902; eine Luthardt-Bibliographie: Rieske-Braun 4 8 8 - 4 9 1 ) , einem konservativen Schüler J . Chr. K. -» Hofmanns in Erlangen, einen gleichgesonnenen Kollegen. In -»Hannover stritt mit Ludwig Adolf Petri (1803-1873) eine Reihe von Geistlichen für das Neuluthertum, unter denen der erst 1826 geborene Gerhard Uhlhorn (1826-1901), seit 1878 Abt von Loccum, der bedeutendste war. Die Theologische Fakultät in Göttingen stand fast geschlossen abseits (vgl. Krumwiede; T R E 13,561,26-35).

3.3. Das Wirken der Erlanger Theologischen Fakultät verband sich sehr eng mit dem des Kirchenregiments in Bayern. Der Präsident des Oberkonsistoriums, Karl Johann Friedrich v. Roth (1780-1852), war ein Förderer der Erweckungsbewegung in der bayerischen Kirche, die unter ihm eine völlige Neubesetzung der Fakultät in -»Erlangen erhielt. In einem zunächst noch kleinen Teil der Pfarrerschaft breitete sich das Neuluthertum aus, wobei Löhe den bedeutendsten Einfluß ausübte. Man hatte Löhe für ein Amt in Erlangen gewinnen wollen, doch mußte er bis zu seinem Tod im Jahre 1872 in dem kleinen Dorf Neuendettelsau aushalten. Es kam wiederholt zu Spannungen zwischen ihm und dem Kirchenregiment; seine Gesinnungsgefährten blieben zahlenmäßig in einer unscheinbaren Minorität. Auch mit den ihm persönlich nahestehenden Professoren in Erlangen kam es wegen seiner Theologie zu Auseinandersetzungen, bis 1852 A. —>Harleß an der Spitze des Kirchenregiments die Lage für Löhe allmählich erträglicher machte. Trotz der unter den Erlanger Professoren bestehenden theologischen Differenzen gewann die Erlanger Theologie im Laufe der Zeit nachhaltigen Einfluß auf die Ausbildung der bayerischen Pfarrerschaft. Nur eine Minderheit bekannte sich zu den Besonderheiten der Theologie Löhes. In -»Mecklenburg konnte Th. -»Kliefoth als Präsident des Oberkirchenrates großen persönlichen Einfluß ausüben und Kirchenpolitik im Sinne eines auch politisch restaurativen Neuluthertums ausüben. In -»Rostock lehrten mehrheitlich dem Neuluthertum oder doch der repristinatorischen Richtung zuzuzählende Theologen. Repräsentant der letzteren war Friedrich Adolf Philippi (1809—1882). Enge personelle Beziehungen bestanden zwischen Rostock und —»Dorpat, aber auch zwischen Dorpat und Erlangen. In -»Hessen konnte sich A. -»Vilmar, der seit 1855 der Marburger Theologischen Fakultät aufgedrungen wurde (vgl. T R E 22,72,34-39), nicht durchsetzen, gewann aber als Kirchenmann und später auch als akademischer Lehrer einen beachtlichen Schülerkreis. 4. Die Theologie

des

Neuluthertums

4.1. Zu den ersten wissenschaftlichen Leistungen des Neuluthertums muß neben den gediegenen Arbeiten von Harleß die Einleitung in die Dogmengeschichte (1839) von Kliefoth gerechnet werden (vgl. T R E 9,118,46-119,14; Ohst). Kliefoth verband das konfessionelle Anliegen mit einer von Schelling und Hegel beinflußten Methode. Danach ist der Prozeß der Dogmenbildung die innerlich notwendige Entfaltung der der Kirche übergebenen Wahrheit. In vier Dogmenkreisen habe die griechische Kirche die Theologie und Christologie, die abendländische Kirche die Anthropologie, die Reformation die Soteriologie ausgebildet. Der Neuzeit verbleibe das letzte Stadium dieses Prozesses, womit Erfahrung und Herausarbeitung der Lehre von der Kirche und von den letzten Dingen gemeint sind (vgl. Ohst 6 5 - 6 8 ) . Neben bedeutenden liturgischen Forderungen hat Kliefoth dann auch in mehreren Werken die beiden genannten noch ausstehenden Themenkomplexe bearbeitet. Er erweist sich aber in der Denkstruktur ebenso wie Vilmar, Löhe, aber auch die Erlanger Theologen, unter ihnen besonders Hofmann und der ebenfalls als Dogmengeschichtler bedeutende G. -»Thomasius, als organischer Denker.

Die theologischen Neubildungen, Löhes Entwicklung zum „sakramentalen Luthertum" wie Vilmars Amtslehre (vgl. Keller, Vilmar u. Löhe), können als eine Art neuer Konfessionalismus geltend gemacht werden, obgleich sie als organische Weiterentwicklung gesicherter theologischer Erkenntnisse ausgegeben wurden. Andere begnügten sich

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Neuluthertum

mehr mit Hypothesen oder Neufassungen einzelner Lehren (so J . -»Hofmann bei seiner kritischen Bearbeitung der traditionellen Lehre von der -»Versöhnung). Diese Unterschiede können aber die für die neulutherische Theologie insgesamt zentrale These von der organischen Entfaltung der -»Offenbarung nicht verdecken. 4.2. Das Neuluthertum ist nach mannigfaltigen Typen und Konzeptionen darstellbar, denn es lebte im Unterschied zur reinen Repristinationslehre aus der Überzeugung, daß eine Wahrheitssubstanz in verschiedenen Entwicklungsstadien und in mannigfaltiger Form dargestellt werden könne. Somit stoßen alle Versuche einer grundsätzlichen Typologie des Neuluthertums auf bestimmte Grenzen (vgl. Graf, „Restaurationstheologie" 6 9 - 7 6 ) . K.B. -»Hundeshagen glaubte, dem Luthertum im Unterschied zu den Reformierten, die Willen und Fähigkeit zur Kirchenbildung bewiesen hätten, nur ein durch „die Einmischung der Fürstengewalt in die innersten kirchlichen Angelegenheiten" geprägtes „Kirchenthum" zubilligen zu können (Hundeshagen, Beiträge 447). Durch die „vorzugsweise Beschäftigung der lutherischen Theologie mit der Abendmahlslehre und ihren Hilfssätzen" sei es zu einer „Verlegung des Interesses... in einen falschen Mittelpunkt" gekommen (a.a.O. 447f). Unter den Lutheranern des 19. Jh. unterschied Hundeshagen zwischen „Abendmahlslutheranern" (Harleß, Höfling, Scheibel, Guericke), denen er zugestand, wirkliches Luthertum ohne „Beimischung", etwa der Vorliebe für eine bestimmte Kirchenverfassung, zu vertreten, „Amtslutheranern" (Löhe, Vilmar, Kliefoth), die in der Lehre vom Amt eine bedenkliche Fortbildung reformatorischer Prinzipien anstrebten, und „Autoritätslutheranern" (E.W. -»Hengstenberg, F.J. -»Stahl), die von einem „überwiegend politischen Interesse" geleitet seien (a.a.O. 502-510). Diese von einem Zeitgenossen entworfene Typisierung erfaßt wichtige Tendenzen im lutherischen Neukonfessionalismus. 5. Einheit und Unterschiede

in der theologischen

Konzeption

des

Neuluthertums

5.1. Die neulutherische Bekenntnistheologie, die Erlanger Schule eingeschlossen, vertrat trotz nicht zu unterschätzender Differenzierungen eine einheitliche Konzeption: Das Bekenntnis stehe in einem positiv zu wertenden Verhältnis zur Heiligen Schrift; es entwickele sich in der Geschichte der Kirche organisch, indem es sich dem menschlichen Bewußtsein sukzessiv immer weiter erschließe. Da eine Gemeinschaft Bekennender von vornherein vorausgesetzt wurde, verstand man das Bekenntnis als ein kirchliches, das sich in organischer Entwicklung der Erfahrung der Kirche erschließe. Grundsätzlich sei zwar die Bekenntnisbildung mit den lutherischen Bekenntnisschriften des 16. Jh. beendet, aber es bleibe noch Bewegungsraum für die theologische Entfaltung und Durchdringung der klassischen reformatorischen Texte. „Der Gedanke der organischen Entwicklung bot Raum für sowohl Kontinuität wie auch Erneuerung der christlichen Lehrentwicklung... Die Substanz des Glaubens selber ist die gleiche. Durch die organische Entwicklung entfalten sich nun die in der Glaubenssubstanz liegenden, verschiedenen Momente und werden so dem Bewußtsein begrifflich k l a r " (Fagerberg, Bekenntnis 158).

Dieser von allen neulutherischen Theologen im Unterschied zu dezidierten Repristinationstheologen, wie z.B. F. A. Philippi (vgl. T R E 9,161,5-16), festgehaltene Aspekt konnte allerdings in doppelter Weise aktualisiert werden: 5.1.1. Neulutheraner wie Löhe oder Vilmar benutzten den Gedanken einer organischen Entwicklung und die Gewährung eines Spielraums für theologische Durchdringung des Bekenntnisses zur Entwicklung neuer Thesen zum Amt (Vilmar), zum Abendmahl und zur Eschatologie (Löhe, der zugleich auch eine Weiterbildung der Amtslehre betrieb). Diese Thesen wurden im Sinne eines neuen Konfessionalismus geltend gemacht. Damit kam es zu gleitenden Übergängen von den Landeskirchen zur -»Freikirche, wie Löhes persönliches Schicksal und seine Einwirkung auf das amerikanische Luthertum, aber auch Vilmars kirchliche Rolle in Hessen beweisen.

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5.1.2. Demgegenüber nahmen die Theologen der Erlanger Schule, vor allem J. Chr. K.v. Hofmann, G. Thomasius, aber auch Johann Wilhelm Friedrich Höfling (1802—1853; vgl. Kießig) und Th. —»Harnack die theologische Freiheit für sich in Anspruch, einzelne Lehren neu zu formulieren, wobei sie Differenzen untereinander in Kauf nahmen und diese auch ertrugen, wenn - wie es im Falle des Streites um die Neufassung der Versöhnungslehre bei Hofmann der Fall war - mehrheitlich bezweifelt wurde, ob die theologische Neuinterpretation mit Schrift und Bekenntnis vereinbar sei. 5.2. Löhes und Vilmars Sonderlehren sind zu verstehen auf dem Hintergrund des nicht nur die Erlanger Theologie, sondern auch die damalige katholische -»Tübinger Schule bestimmenden Gedankens, wonach die Entwicklung des Geistes bzw. der kirchlichen Tradition organisch verlaufe, etwa so, wie aus einem Samenkorn ein voll entwickelter Baum hervorgehe. Zugleich empfand man die kritische Anfrage von katholischer Seite, ob und wie sich der Protestantismus als Kirche verstehe, als Herausforderung. Dies wurde durch die Beurteilung der Auswanderungsbewegung nach Amerika und der -»Mission um 1840 unterstrichen, da Löhe sich fragte, wie es zu verhindern sei, die Auswanderer ein Opfer der Sekten werden zu lassen. Löhes 1845 vorgelegte Drei Bücher von der Kirche. Den Freunden der lutherischen Kirche zur Überlegung und Besprechung dargeboten (GW V.l, 83-179) haben F. -»Delitzsch und Kliefoth 1847 bzw. 1854 veranlaßt, ihrerseits Vorschläge zur Weiterentwicklung der Lehre von der Kirche vorzutragen. Löhe ordnete die verschiedenen Kirchen wie konzentrische Kreise um einen Mittelpunkt an, so daß ihm die lutherische Partikularkirche dem Mittelpunkt näher schien als andere christliche Gemeinschaften. Die quantitative Bemessung der „meisten" Wahrheit, die die lutherische Kirche aufweisen könne, veranlaßte ihn zu dem Urteil, daß Besitzerin der „vollen" Wahrheit sei, wer bereits die „meiste" Wahrheit habe. Aus diesem Urteil ergab sich von selbst Löhes Streben nach Ergänzung der „meisten" Wahrheit zur „vollkommenen Wahrheit". So finden seine Überlegungen zur Ekklesiologie, Amtslehre, Sakramentenlehre und Eschatologie eine einfache Erklärung.

Der Rückgriff auf A. -»Oslander, den Löhe zweifellos gekannt und für sein Amtsverständnis wohl aktualisiert hat (vgl. Hirsch V,187-190; Keller, Reformatorische Wurzeln), erklärt nicht die einzige Verschiebung in seiner Theologie. Bedeutsamer ist die Überordnung des Altarsakraments über die Wortverkündigung, wobei es Löhe allerdings weniger um eine Weiterführung der Abendmahlslehre als um eine vertiefte sakramentale Praxis ging, lief doch sein ganzes Sinnen auf ein „sakramentales Luthertum" hinaus. Von hier aus erklären sich die scharfen Absagen an die Union und alle Innere Mission im konfessionsübergreifenden Sinne, wie sie J. H. -»Wichern praktizierte. Die weitere Konsequenz waren die innerkirchlichen Wirren und Scheidungen unter den von Löhe mehr oder weniger beeinflußten lutherischen Synoden in Amerika (Illinois/Ohio 1847; Iowa 1854). Eine weitere Sonderbildung strebte Löhe - ganz folgerichtig für sein Verständnis von organischer Entwicklung - für die -»Eschatologie an, deren Verkümmerung durch individualisierende Verengung er beklagte. Deshalb setzte er sich kritisch mit CA XVII auseinander, wonach es jüdische Meinungen seien, wenn vor der Auferstehung der Toten die Frommen das Weltregiment ergreifen sollen, die Gottlosen aber unterdrückt, wenn nicht vertilgt werden würden (BSLK 72,14-18). Seit 1857 bemühte sich Löhe um die Wahrheit der biblischen Weissagung hinsichtlich der Annahme einer doppelten Auferstehung und beschäftigte sich mit dem Gesamtkomplex des —»Chiliasmus und mit den eschatologischen Hinweisen in der Prophetie des Neuen Testaments. Wie mit seinem Amtsbegriff, der seiner Konzeption vom „sakramentalen Luthertum" überhaupt zugeordnet werden muß, so nahm er mit dieser klar gegen die Confessio Augustana verstoßenden Neufassung der Eschatologie die schärfste Ablehnung nicht zuletzt der Lutheraner in Amerika auf sich.

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5.3. In selbständiger Weise knüpfte A. -»Vilmar an die erstmals 1839 von Kliefoth entwickelte Auffassung von Perioden der Dogmengeschichte an, wobei das Bild von sieben Siegeln aus der neutestamentlichen Apokalypse Vilmar veranlaßte, fünf Siegel im Laufe der Kirchengeschichte bereits als geöffnet anzusehen. Das Zeitalter der Kirche breche mit der Öffnung des vorletzten Siegels an, und zwar nur für diejenigen, die sich die früheren Erfahrungen, die organisch aufeinander bezogen seien, zueigen machten. Noch stehe man nicht im letzten Abschnitt der Kirchengeschichte, in dem die Eschatologie zu durchleben sein werde. Aber angesichts der Wiederkunft Christi gewann für Vilmar, unterstützt durch die Revolutionserfahrungen seit 1789, die Ekklesiologie ihre besondere Dringlichkeit. Seit 1848 standen daher die Ekklesiologie und Amtslehre bei ihm unter einem eschatologisch-apokalyptischen Vorzeichen: die Revolution provoziere geradezu die Notwendigkeit der Kirchenerfahrung. Mit Löhe und Kliefoth ist Vilmar durch die Vorstellung verbunden, daß es in der Geschichte der Kirche organische Entwicklungen gebe. Die Verbindung von Kulturkritik bzw. politischer Diagnose mit der Eschatologie stellt andererseits den eigenen Beitrag Vilmars zur theologischen Konzeption des Neuluthertums dar (vgl. TRE 19,428,52ff). Seine Übersteigerung der Amtslehre ist sein Tribut an die Eschatologie. Wenn Vilmar seine Kirchenerfahrung systematisiert, kommt es zu höchst problematischen Leitsätzen in einer für den pastoralen Gebrauch entwickelten Theologie von Kirche, Amt und Bekenntnis. Den beiden notwendigen „Seligkeitsmitteln", der reinen Lehre und dem Sakrament, fügte Vilmar eine Anstalt hinzu, durch die die Erhaltung der genannten „Seligkeitsmittel" garantiert werden sollte (Theol. der Tatsachen 85). Ganz deutlich fügte Vilmar seine Position als konfessionell verbindlich den bisherigen Bekenntnissen der lutherischen Reformation hinzu, die er den Schriften Luthers betont vorzog. Die Annahme seines neuen Konfessionalismus betrachtete Vilmar als Probe auf die geistliche und kirchliche Reife seiner theologischen Zeitgenossen. So mußte sich seine Theologie notwendigerweise als Provokation darstellen, die in der hessischen Pfarrerschaft zu Polarisierungen führte, bis hin zur Ausrufung einer staatsfreien Kirche (vgl. Sälter). Obgleich Vilmars Nachwirkung stärker in den aus der Pfarrerschaft kommenden und in ihr virulenten Gedanken nachweisbar ist, wirkten sie doch auf Umwegen bis in die akademische Theologie hinein. Vilmar erfreute sich einer freilich sehr verhaltenen Wertschätzung K. -»Barths (Barth 570-578) und bot gewisse Hilfen bei der Verteidigung der Selbständigkeit der Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus. 5.4. Obgleich die Erlanger Schule die dogmengeschichtliche Entwicklung in dem mit der Reformation bereits erreichten Schlußpunkt der lutherischen Bekenntnisentwicklung im -»Konkordienbuch von 1580 gegeben sah (so G. Thomasius), entwickelten sich in ihrem Raum Versuche, produktive theologische Arbeit in der Frage des Amtes, mehr aber noch in der Christologie zu leisten. Mit der Erörterung der Amtsfrage reagierte man in erster Linie auf die 1849 erschienenen Aphorismen über die neutestamentlichen Ämter und ihr Verhältnis zur Gemeinde von Löhe (GW V.1,255—330). Ein Jahr später legte Höfling seine Grundsätze evangelischlutherischer Kirchenverfassung; eine dogmatisch-kirchenrechtliche Abhandlung (Erlangen 1850 31853) vor. Höfling wandte sich gegen die nach seiner Ansicht katholisierende, hierarchische Grundanschauung von Löhe (vgl. TRE 19,427,50ff) und insbesondere gegen F. J. -»Stahls Lehre von der Kirche als einer von Christus und den Aposteln gestifteten Heilsanstalt. Höfling betonte demgegenüber, daß die Kirche primär Sammlung der Gläubigen sei und als solche unsichtbar bleibe. Die sichtbare Kirche als Institution sei nicht Stiftung Gottes, sondern eine unter dem Beistand des Heiligen Geistes von gläubigen Menschen gegründete Gemeinschaft. Mit dieser These wollte sich Höfling vorbehaltlos an die Definition der Kirche nach CA VII und VIII anschließen (vgl. Fagerberg, Bekenntnis 225-230). In der Folgezeit konzentrierte sich die Auseinandersetzung der „Amtslutheraner" mit den „Sakramentslutheranern" (s.o. 4.2.) auf die Fragen nach

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der Lehre von Kirche und Amt, von Amt und Kirchenregiment, von Amt und „Gnadenmitteln" in ihrem gegenseitigen Verhältnis (vgl. T R E 2,586—590). Neben Vertretern der Erlanger Schule wie Harleß, Thomasius, T h . Harnack nahmen auch außerhalb von Franken zahlreiche Autoren die gestellten Fragen auf, in Hannover einer der Führer des dortigen Neuluthertums, August Friedrich O t t o Münchmeyer (1807-1882). Löhe und Vilmar galten in dieser Auseinandersetzung als die Vertreter der strikten neulutherischen Position, während Harleß zu vermitteln versuchte (vgl. Fagerberg, Bekenntnis 7 7 - 8 2 ) .

Die auch von Hirsch in den Vordergrund gerückte Diskussion über die Ämterfrage im Luthertum (vgl. Hirsch V,190-210) darf aber nicht übersehen lassen, daß die Erlanger Theologen, vor allem Thomasius, gemeinsam mit einigen Vermittlungstheologen, auch an einer wissenschaftlich-spekulativen Weiterbildung der Christologie der Konkordienformel interessiert waren, um so der Herausforderung der Thesen von D.F. -»Strauß zum mythischen Charakter der Evangelicnüberlieferung zu begegnen. Thomasius war ein Vertreter der Kenosislehre, wobei er sich der Neubildung dieser Lehre bewußt war, wenn er behauptete, daß sich der Logos bei der Menschwerdung einer Kenose von „relativen Eigenschaften" unterzogen habe (vgl. T R E 17,26,27- 27,19). Die Freiheit dieser theologischen Argumentation wurde im allgemeinen von der Erlanger Schule zugestanden, wie prinzipiell vor allem F.H.R. -»Frank in seiner Darstellung der Theologie der Konkordienformel 1858 verdeutlichte. Es kam aber im Falle der Neufassung der Versöhnungslehre durch H o f m a n n 1856 zu einer ernsthaften Krise dieser dogmengeschichtlichen Hermeneutik. Die Erlanger entschlossen sich, die Unterscheidung der Konkordienformel zwischen unnötigem Streit sowie unnützem Gezänk einerseits und nötigem Streit andererseits zu beherzigen (vgl. BSLK 759). Der wesentliche Unterschied zwischen Löhe und Vilmar als Einzelgängern im Rahmen des Neuluthertums gegenüber Thomasius und Frank als Vertretern der Erlanger Schule besteht darin, daß erstere mit ihren Lehren einen ausgesprochen handfesten neuen Konfessionalismus mit unterschiedlich starken autoritären Strukturen begründeten, während die Erlanger keinen neuen Konfessionalismus, weder ein „sakramentales Luthert u m " noch ein „Amtsluthertum" wollten, sondern aufgrund des kirchlichen Konsens' den behutsamen, wissenschaftlich verantworteten theologischen Fortschritt suchten. 6. Politische und soziale Wirkungen

des

Neuluthertums

Die 1838 als publizistisches Organ der sich gerade erst formierenden Erlanger Schule durch Harleß gegründete Zeitschrift für Protestantismus und Kirche (s.o. 2.3.) behandelte neben theologischen Themen gelegentlich auch ethische Probleme. Harleß war der Verfasser der bedeutendsten Ethik, die überhaupt aus der Erlanger Schule hervorging (vgl. deren Beurteilung durch Luthardt, Geschichte 11,645-649). Die politische und soziale Relevanz der Zeitschrift darf ebenfalls nicht übersehen werden, war doch H o f m a n n trotz politisch und ethisch stark von Harleß abweichender Auffassung ein reger Mitarbeiter. Trotz oder wegen H o f m a n n s aktiven Eintretens für den politischen -»Liberalismus kam es aber weder zum Bruch mit der Fakultät (der Harleß freilich längst nicht mehr angehörte), noch verscherzte sich H o f m a n n das Ansehen eines Kirchenvaters der bayerischen Landeskirche. Das beweist die nachhaltige Erinnerung an H o f m a n n in der Kirchenpresse des bayerischen Neuluthertums. Allerdings war der Biblizist in popularisierter Form gefragt, wenn H o f m a n n derart positiv gewürdigt wurde. Von seinem politischen Engagement war nicht oder äußerst selten die Rede (vgl. insgesamt T R E 15,478,38-52). H o f m a n n , der von Kliefoth 1864 als politischer Theologe schwer verunglimpft wurde (vgl. TRE 19,269,16 - 2 1 . 4 3 - 5 4 ) , war nicht der einzige lutherische Theologe des 19. Jh., der sich nicht in den politischen Konservatismus nahtlos einpassen läßt und der dem Problem des „christlichen Staates" (vgl. F.J. -»Stahl und J . H . -»Wiehern) kritisch gegenüberstand. Wie H o f m a n n , der Stahls Staatsideologie nicht teilte, hat sich auch Löhe

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das Wissen um die Eigengesetzlichkeit der Politik bewahrt. Harleß blieb 1871 innerlich ein „Großdeutscher", während Hofmann überzeugt - Löhe war eher neutral - die „kleindeutsche" Lösung der deutschen Frage in der Reichsgründung von 1871 bejahte. Daß das Neuluthertum in den von Preußen 1866 annektierten Gebieten die antipreußische Gesinnung durch antiunionistische Haltung stabilisieren wollte, ist einleuchtend. 7. Das Neuluthertum in Amerika und Australien Die ersten vertriebenen preußischen Lutheraner Schlesiens wanderten 1838 nach -•Australien unter Führung von August Ludwig Kavel aus. Seit 1840 beobachtete Löhe aufmerksam die kirchliche Situation deutscher Auswanderer und Ansiedler in Nordamerika. 1841 druckte er einen Auszug eines ,,Aufruf[s] zur Unterstützung der deutschprotestantischen Kirche in Nordamerika" ab, 1842 sandte er die ersten zwei „Nothelfer" nach Nordamerika, womit die Verbindung zur kleinen Ohio-Synode hergestellt war. Seit 1843 gab er die „Kirchlichen Mitteilungen aus und über Nordamerika" (Anfangsauflage 8.000 Stück) heraus. Wegen nicht nur bekenntnisbestimmter Differenzen kam es seit 1847 zur Trennung der Sendlinge Löhes von der Ohio-Synode und, wenn auch unter Bedenken Löhes, zum Zusammenschluß der Lutherischen Synode von Missouri-Ohio und anderen Staaten. Löhes Theologie kam zunehmend in Bedrängnis, nachdem sich 1847 die Missouri-Synode uneingeschränkt an alle lutherischen Bekenntnisschriften gebunden hatte. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Synoden in Buffalo, Iowa und Ohio, wobei es um die Amtsauffassung, den Chiliasmus und einige weitere offene Fragen ging. Der kämpferische Führer der Missouri-Synode wurde nach dem Ausscheiden des ehemaligen böhmischen Predigers in Dresden, Martin Stephan (1777—1840; 1839 ausgeschlossen), Carl Ferdinand Wilhelm Walther (1811-1887), zwischen dem und Löhe es trotz eines Versöhnungsversuches in Neuendettelsau im Jahre 1851 endgültig 1853 zum Bruch kam. 1847 war Walther auf der ersten offiziellen Tagung der Missouri-Synode zum Präses gewählt worden. Der Bruch erklärt sich nicht aus dem Gegeneinander von vermeintlich mehr demokratischer Gesinnung bei Walther (er lehnte politische Demokratie vielmehr ab) und konservativer Amtsauffassung bei Löhe, sondern aus dem Aufeinanderprallen des für Löhe bezeichnenden organischen Denkens mit einem Luthertum, das neue Erkenntnisse in der Lehre über die lutherischen Bekenntnisschriften hinaus generell strikt ablehnte. Das „sakramentale Luthertum" Löhes und seine zunehmende Ausformung von Sonderlehren provozierten, unterstützt durch den in Amerika verbreiteten Fundamentalismus, die strenge Ausformung der Lehre von der Inspiration und Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift bei den Missouriern. In Löhes Todesjahr 1872 gelang es den strengen Missouriern, die ultra-konservativc Synodical Conference ins Leben zu rufen. Bei kongregationalistischer Kirchenordnung (-»Kongregationalismus) erreichte man dennoch strenge Einheitlichkeit in der Lehre und im kirchlichen Leben, mußte diese kirchliche Exklusivität aber mit theologischer und kultureller Isolierung bezahlen.

Löhe hat das Diasporawerk in Nordamerika sofort mit Bestrebungen zur Mission unter den Heiden verbunden. Die ersten Kolonisten, die 1845 Frankenmuth in Michigan gründeten, sollten für die -»Indianer ein anziehendes Beispiel sein. Nach mehreren Rückschlägen und neuen Versuchen mußte endgültig 1864 die Indianermission eingestellt werden. Eine späte Frucht der kirchlich-missionarischen Arbeit Löhes war die von Australien nach Neuguinea überspringende Missionsarbeit unter den dortigen Papuas (Neuendettelsauer Missionare in Australien 1878; erster Missionar in Neuguinea 1886; erste Neuendettelsauer Pastoren in -»Brasilien 1897). 8. Nachwirkungen des Neuluthertums im Rahmen des lutherischen Konfessionalismus 8.1. Weil das Luthertum die organische Denkstruktur bevorzugte, konnte es auch eine enge Beziehung zur theosophischen Tradition von J. -»Böhme bis hin zu F.v.

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-•Baader gewinnen. Es findet sich dieser theosophische Einschlag auch in der Theologie des biblizistischen und spekulativen Typus. Bei einigen Neulutheranern zündete besonders der Gedanke, daß das Abendmahl Wirkmittel und Unterpfand einer neuen Leiblichkeit sei. Am wirksamsten hat sich Rudolf Rocholl (1822-1905) mit seinem 1875 publizierten Werk Die Realpräsenz, aber auch in anderen Schriften für diese Idee eingesetzt. In der lutherischen Theologie Süddeutschlands hat es immer Offenheit gegenüber theosophischen Gedankengängen gegeben, wobei der Unterschied zwischen Württemberg und Bayern wohl darin gesehen werden darf, daß das in Franken verbreitete „sakramentale Luthertum" bevorzugt den Gedanken einer „neuen Leiblichkeit" zur Unterstützung des von ihm betonten Sakramentsrealismus aufgriff. Bei Rocholl hatte die Abendmahlsanschauung ihre unmittelbare Auswirkung auf den Kirchenbegriff und die betont kirchlich geprägte Spiritualität. Bei Löhe, Delitzsch, dem aus Franken stammenden Ludwig Friedrich Schoeberlein (1813-1881) und schließlich bei H. —»Bezzel liegt der Sachverhalt ähnlich. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß Harleß über diese mystisch-theosophische Tradition, die in Erlangen Vertretung und Echo fand, kritisch urteilte. Es gibt zweifellos nicht nur einen bestimmten Typus neulutherischer Frömmigkeit. Zumal bei Berücksichtigung des amerikanischen und skandinavischen Luthertums lassen sich mehrere wesentliche Tendenzen neulutherischer Frömmigkeit unterscheiden, wobei die Verpflanzung neulutherischer Gedanken auf anderen Boden eigenständige Entwicklungen mit sich brachte. Generell kann man aber von einer durch das Neuluthertum ausgelösten bewußten Hinwendung zur sakramentalen Dimension der Kirche sprechen. In -»Schweden, -»Norwegen, auch in -»Dänemark, gibt es, als „hochkirchlich" etikettierte, lutherische Kreise, für die die Überzeugung charakteristisch ist, daß christliche Spiritualität in der Wirklichkeit der Gnade Gottes verwurzelt sei, die durch Wort und Sakrament vermittelt werde. Eine ausgesprochene Sakramentsfrömmigkeit soll sich auf die aktive Beteiligung am gottesdienstlichen Leben positiv auswirken. Auch Amerika kennt neben dem pietistisch-aktivistischen Typus diese Erscheinungsform der sakramentalen Spiritualität, die keineswegs der sozialen Unfruchtbarkeit bezichtigt werden kann, wie dies auch Löhe belegt.

Die Tragik des Neuluthertums war seine Partikularität, ja fast Provinzialität, die in Spannung zu seinen tiefsten ökumenischen Intentionen stand. Das neulutherische Kirchenbewußtsein mußte sich in der Regel mit regionaler Verbreitung und Kleinbürgerlichkeit bescheiden. Selbst Kliefoth konnte seine Mecklenburgische Landeskirche nicht dem eingewurzelten -»Rationalismus entreißen, obwohl sein Einfluß auf einen großen Teil der Pfarrerschaft beachtlich war. Als Löhe ein Jahr nach der Gründung des Deutschen Reiches 1872 starb, war die Kluft zwischen dem kirchentreuen lutherischen Volk und den wachsenden Massen der Entkirchlichten, voran der Gebildeten, schon so weit aufgerissen, daß die lutherische Spiritualität nur in kleinen Kreisen weiterleben konnte. Es fehlte ihr sicherlich auch die Gabe zu angemessenem literarischen Ausdruck. Selbst die von Löhe geschriebenen bedeutenden Traktate mußten weitgehend als Produkte einer traditionellen Erbauungsliteratur gelten, von deren Neuauflagen sonst die neulutherische Spiritualität zehrte. Vilmar, der als Theologe auch über ungewöhnliche literaturgeschichtliche Kenntnisse verfügte, leistete vergleichsweise nur einen bescheidenen Beitrag zur literarischen Hinführung der Laien zu neulutherischer Spiritualität. 8.2. Das Neuluthertum ist nicht abstrakt von der konfessionellen Theologie des 19. Jh. überhaupt zu unterscheiden, wenn es um die Frage der Sammlung und Einigung des Luthertums geht. Führend war als Vorkämpfer Harleß, der als Oberhofprediger in Dresden (1850-1852) und anschließend wieder im Dienst seiner bayerischen Heimatkirche als Präsident des Oberkonsistoriums (bis 1879) nicht nur die Sammlung des amerikanischen Luthertums betrieb. Aber erst das Jahr 1866 führte zu einem engeren Zusammenschluß der deutschen Lutheraner, die wegen der politischen Erfolge Preußens die Union fürchteten, so daß in der lutherischen Sammelbewegung auch der Mecklen-

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burger Kliefoth führend tätig wurde. Man sah die Einverleibung Hannovers und Schleswig-Holsteins in den preußischen Herrschaftsbereich als Gefährdung der lutherischen Kirche an und begründete am 30./31.10.1867 die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz, deren erste öffentliche Tagung 1868 in Hannover stattfand (vgl. T R E 19,415,14ff). Diese Konferenz, bei der Harleß präsidierte, wurde von 1.500 Teilnehmern besucht. Luthardt hielt die Eröffnungspredigt, Kliefoth den programmatischen Vortrag „Was fordert Artikel VII der Augsburger Konfession hinsichtlich des Kirchenregiments der lutherischen Kirche?" Obgleich mit diesen beiden Rednern zwei prominente Vertreter des Neuluthertums beteiligt waren, blieben die Ziele der Konferenz umstritten, wobei sich einerseits die Spannungen innerhalb des lutherischen Konfessionalismus auswirkten, andererseits aber auch die Frage unterschiedlich beantwortet wurde, in welchem Maße freikirchliche und außerdeutsche Lutheraner in die Sammlungsbewegung einbezogen und an ihr institutionell beteiligt werden sollten.

Die Auseinandersetzungen um die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz entbehren im Hinblick auf eine genuin lutherische ökumenische Konzeption nicht prinzipieller Bedeutung. Das beweist die trotz großer Hemmungen in Lund 1947 vollzogene Gründung des -»Lutherischen Weltbundes, aber auch das Problem der institutionellen Gestaltwerdung einer Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. T R E 10,669,4-21). 9. Zur Beurteilung des

Neuluthertums

9.1. Die Beurteilung des Neuluthertums wird um so kritischer ausfallen, je mehr man sich auf die spezifischen Positionen einzelner seiner Vertreter bezieht. Scheidet man vom Neuluthertum nicht abstrakt die lutherisch-konfessionelle Theologie des 19. Jh. überhaupt, so sind schärfere Differenzierungen angebracht. In Abgrenzung von einer bloßen Repristinationstheologie, die mit dem Rückzug auf die Schrift in einen Zirkelschluß führen mußte, bei dem der Schriftbeweis, den der Theologe für seine Lehre zu führen suchte, sich als Tautologie darstellte, war das wissenschaftliche Verfahren der Erlanger Schule zweifellos ein Fortschritt. E. -»Hirsch, der die Prinzipienlehre der Erlanger Theologie gesondert von sonstigen neulutherischen Positionen behandelte, bestritt allerdings, daß das Ineinssetzen von persönlicher Erfahrung, Schrift und Bekenntnis, wie es seit Harleß für die führenden Erlanger Theologen charakteristisch war, wirklich mit der Methode —•Schleiermachers verglichen werden dürfe. Der Unterschied liege darin, daß Schleiermacher sich frei und kritisch fortbildend zu den geschichtlich gegebenen Lehraussagen der christlichen Religion zu verhalten vermochte. Hirsch gestand Hofmann eine strengere Durchbildung der Prinzipienlehre als Harleß zu und wußte natürlich, daß die Erlanger Theologen trotz ihrer Pflege des Kirchlichen und Bekenntismäßigen von subjektiver persönlicher Erfahrung her auch in Widersprüche mit der lutherischen Kirchenlehre geraten sind (Hirsch V,429f). Während Hirsch die neuschöpfende Kraft etwa der Erlanger Schule keineswegs unterschätzte, kritisierte Hermann Sasse ( 1 8 9 5 - 1 9 7 6 ) weniger die kirchlichen Ziele des Neuluthertums als die Anfälligkeit gerade der Erlanger für die Erfahrungstheologie, womit diese Theologie - vertreten etwa durch Hofmann - das Schleiermachersche Erbe als „Todeskeim" in sich getragen habe (Sasse, Zur Lage 293).

9.2. Das entscheidende Ereignis des lutherischen Aufbruchs allgemein - bei Löhe und Vilmar, bei Harleß und Kliefoth, Petri und Huschke und einer ganzen Schar anderer bekenntnistreuer Theologen auf den akademischen Kathedern von Erlangen, Dorpat, Leipzig und Rostock - war die kirchliche Erneuerung. Dazu kam die freilich um 1879 scheiternde Hoffnung, eine einige lutherische Bekenntniskirche in Deutschland gegenüber den noch jungen und innerlich ungefestigten Unionskirchen sammeln zu können. Von landeskirchlicher Seite konnte trotz des epigonenhaften Charakters des deutschen Luthertums und seiner Verluste in und nach der Zeit des Nationalsozialismus

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versucht werden, nochmals bei der lutherischen Sammlungsbewegung des 19. Jh. anzuknüpfen und in bleibender Ablehnung der Union für die Existenz einer lutherischen Kirche in Deutschland zu streiten. Die weltweite lutherische Einigung seit 1868 war dabei im Blick, nicht zuletzt in der Periode des Lutherischen Weltkonventes (1923—1947), die sich mit der Zeit des Kirchenkampfes berührt. Dabei stellte sich immer wieder die Frage, ob die mit dem Ersten Weltkrieg einsetzende Renaissance der reformatorischen Theologie sowie das Aufkommen der -»Dialektischen Theologie K. Barths noch das scharfe Festhalten am lutherisch-reformierten Gegensatz rechtfertigte. Barth hatte freilich nicht nur die Dialognotwendigkeit mit der lutherischen Lehre erkannt, sondern zugleich auch auf spezifisch reformierte Traditionen positiv zurückgegriffen. 9.3. Mit der Gründung des -»Lutherischen Weltbundes (1947) wurden die Lutheraner aus der Enge in die Weite geführt und ins Bewußtsein gerufen, daß in der Zeit des 19. Jh., als sich in Deutschland das Landeskirchentum verfestigte oder überhaupt erst begründete, die lutherische Kirche eine weltweite Kirche geworden war. Die Impulse des Neuluthertums hatten dabei mitgewirkt und erfuhren weniger als theologische Sonderposition, sondern als Beitrag zum Gesamtbewußtsein der Lutheraner in aller Welt eine erhebliche Aufwertung. Die lutherischen Väter des 19. Jh. wurden geehrt, aber während sie unter dem Verdikt einer kirchenpolitischen Partei oder theologischen Schule standen, konnte sich das Weltluthertum nun mit einem sicheren kirchlichen Selbstbewußtsein in die -»Ökumene einbringen. Während sich die lutherischen Väter auf ihre Landeskirchen angewiesen sahen und nur in Ausnahmen - wie Löhe — über diesen engen Rahmen hinaus für Diaspora und Mission arbeiten konnten, erschien die Lage nach dem Zweiten Weltkrieg ungemein günstiger. Nur eine kleine Minderheit verwarf eine Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands in Gleichzeitigkeit mit Bejahung der Existenz der Evangelischen Kirche in Deutschland (vgl. T R E 10,669,4ff). Was über Erweckung und kirchlichen Liberalismus hinaus das Neuluthertum im Rahmen der konfessionellen Bewegung auszeichnete, war die besondere kirchliche Einsicht und Praxis seiner Vertreter. Zweifellos hat eine Reihe von Tatsachen, die mit der Wirkung des Neuluthertums verbunden sind, nicht nur die lutherischen Kirchen im engeren Sinne, sondern den deutschen Protestantismus überhaupt verändert und darüber hinaus ökumenische Ausstrahlung gezeitigt. Quellen (Veröffentlichungen des 19. J h . in Auswahl; bei Autoren, für die es in der T R E einen Personal-Artikel gibt, sehe man die entsprechenden Bibliographien ein.) Karl Gottlieb Bretschneider, Kirchl.-politische Zeitfragen behandelt in zerstreuten Aufsätzen, Leipzig 1847. - F r a n z Delitzsch, Vier Bücher von der Kirche. Seitenstück zu Löhe's drei Büchern von der Kirche, Dresden 1847. - F r a n z H e r m a n n Reinhold Frank, Gesch. u. Kritik der neueren Theol., insbes. der syst., seit Schleiermacher. Aus dem N a c h l a ß hg. v. Paul Schaarschmidt, Erlangen/Leipzig 1894. - Heinrich Ernst Ferdinand Guericke, Die rechte Union, Leipzig 1843. - Adolf Gottlieb Christoph v. Harleß, Christi. Ethik, Stuttgart 1842 Gütersloh "1893. - Ders., Kirche u. Amt nach luth. Lehre, Stuttgart 1853. - Ders., Etliche Gewissensfragen hinsichtlich der Lehre von der Kirche, Kirchenamt u. Kirchenregiment, Stuttgart 1862. - Claus H a r m s , Ausgew. Sehr. u. Predigten, hg. v. Peter Meinhold, 2 Bde., Flensburg 1955. - Theodosius H a r n a c k , Die Kirche, ihr Amt, ihr Regiment, Erlangen 1862 = Gütersloh 1947. - Ders., Die freie luth. Volkskirche, Erlangen 1879. - J o h a n n Friedrich Wilhelm Höfling, Über den Geist der prot. Kirche. P r o g r a m m , Erlangen 1835. - anonym [Karl Bernhard Hundeshagen], Der dt. Protestantismus, seine Vergangenheit u. seine heutigen Lebensfragen im Z u s a m m e n h a n g der gesammten Nationalentwicklung beleuchtet von einem dt. Theologen, F r a n k f u r t / M . 1 8 4 7 . - Ders., Beiträge zur Kirchenverfassungsgesch. u. Kirchenpolitik insbesondere des Protestantismus I, Wiesbaden 1 8 6 4 = F r a n k f u r t / M . 1 9 6 3 . - M a r t i n Kahler, Gesch. der prot. Dogmatik im 19. J h . , bearb. u. hg. v. Ernst Kahler, 1962 ( T B 16). - Karl Friedrich August Kahnis, Der innere Gang des dt. Protestantismus, Leipzig, I + II 1 8 5 4 3 1 8 7 4 . - Ders., Die Luth. Dogmatik historisch-genetisch darg., Leipzig, I 1861; II. Der Kirchenglaube hist.-genetisch dargest., Leipzig 1864; III. System der luth. Dogmatik, Leipzig 1868. - T h e o d o r Kliefoth, Einl. in die D G , Parchim/Ludwigslust 1839. - Ders., Acht Bücher von der Kirche, Schwerin/Rostock, I 1854. - Wilhelm Löhe, GW, hg. im Auftrag der Gesellschaft für Innere u. Äußere

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Neuluthertum

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Neuplatonismus

341

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Friedrich Wilhelm Kantzenbach/Joachim Mehlhausen Neuplatonismus 1. Z u m Begriff des Neuplatonismus 2. Z u den Richtungen des Neuplatonismus 3. Der Grundentwurf der Seinsstufen (Plotin) 4. Die Vermittlung des Porphyrius 5. Differenzierung der Hierarchie der Seinsstufen (Iamblichos) 6. Das System der Metaphysik des Einen. Henadenlchre (Proclus) 7. Metaphysik des Ubervernünftigen als Gleichnis (Damaskios) 8. Z u den Nachwirkungen (Quellen/Literatur S. 362)

Als Neuplatonismus bezeichnet man heute allgemein (nicht nur im deutschen, sondern z. B. auch im französischen, englischen und italienischen Sprachbereich) die späteste Phase der antiken Philosophiegeschichte, welche vom 3. bis zum 6. Jh. n. Chr. (bzw. in gewissen Regionen bis zum 7. Jh. n. Chr.) gedauert hat und von einem erneuerten (teilweise gegenüber der ursprünglichen Philosophie ->Platos stark modifizierten) Platonismus dominiert wurde. Der erste in zusammenhängenden Schriften faßbare Denker des Neuplatonismus, -•Plotin, hat 204/5 - 269/70 n. Chr. gelebt, und die von ihm maßgeblich beeinflußte

342

Neuplatonismus

Denkrichtung fand, sofern sie sich in den Formen der antiken Philosophenschule und ihrer Lehr- und Forschungsaktivitäten entfaltete, ihr offizielles Ende in Athen mit der Schließung der Akademie Piatos durch den christlichen Kaiser -»Justinian im Jahre 529 n. Chr., in -»Alexandrien mit der arabischen Eroberung der Stadt im Jahre 642 n. Chr. Die geistige Nachwirkung des Neuplatonismus reicht aber in Wirklichkeit viel weiter, so über die Rezeption durch christliche Kirchenväter (zunächst des griechischen, dann auch des lateinischen Kulturbereichs) weit ins christliche Mittelalter hinein. Auch das arabische und jüdische Philosophieren des Mittelalters ist nicht nur aristotelisch, sondern auch neuplatonisch beeinflußt. Was die Neuzeit betrifft, so hat der Neuplatonismus, trotz der durch Bacon und -»Descartes begründeten Denkweise, die in eine wesenhaft andere Richtung führte, sich verschiedentlich anregend und befruchtend ausgewirkt, vom italienischen -»Humanismus der Mediceer-Akademie in Florenz über die Cambridger Platoniker (-»Cambridge, Platoniker von) bis hin zum deutschen -»Idealismus, um nur die bedeutendsten Beispiele der Nachwirkung zu nennen. Selbst im 20. Jh. lassen sich Denker anführen, die eine wesenhafte Verwandtschaft mit der Denkweise des Neuplatonismus aufweisen (man denke nur an -»Whitehead oder -»Jaspers). Der Begriff des Neuplatonismus ist eine Schöpfung der philosophiegeschichtlichen Forschung seit dem Ende des 18. Jh. Er muß darum zunächst kurz erläutert und gerechtfertigt werden, bevor die philosophisch wichtigsten Vertreter und Richtungen des Neuplatonismus genannt werden und bevor vor allem die Grundzüge und Grundprobleme der neuplatonischen Philosophie vorgestellt werden können. Dies kann aber am besten dadurch geschehen, daß primär das philosophische System des eigentlichen, uns noch faßbaren Begründers des Neuplatonismus, Plotin, dargestellt und interpretiert wird. Er ist es, der alle wesentlichen philosophischen Grundfragestellungen des Neuplatonismus schon exponiert hat, er ist es aber auch, dessen System allen späteren Entwicklungen des Neuplatonismus als Ausgangspunkt dient. Trotz dieser grundlegenden Bedeutung Plotins für die Philosophie des gesamten späteren Neuplatonismus muß natürlich auf einige wenige ausgewählte Vertreter der neuplatonischen Philosophie nach Plotin hier auch schon etwas näher eingegangen werden, wobei vor allem zwei Auswahlkriterien maßgebend sein sollen, nämlich einerseits wichtige spekulativ-metaphysische Weiterentwicklungen gegenüber Plotin, welche sich beim behandelten Denker feststellen lassen, und andererseits Bedeutung und Umfang der vom ausgewählten Denker ausgehenden Nachwirkung nicht nur im philosophischen, sondern auch im theologischen Bereich. 1. Zum Begriff des

Neuplatonismus

Plotin ebenso wie seine geistigen Nachfolger im antiken Neuplatonismus verstehen sich im Wesentlichen als getreue Interpreten Piatos, der am Ausgang der antiken Philosophiegeschichte geradezu religiöse Verehrung genießt (dazu z.B. Plotin V, 1 . 8 , 1 0 - 1 4 ) . Er hat die ewige Wahrheit auf beispielhafte Weise erkannt, und diese Wahrheit gilt es nur immer besser zu verstehen und in all ihren Konsequenzen zu interpretieren. In späteren Jahrhunderten bis an die Schwelle des 19. Jh. ist man diesem Selbstverständnis der Neuplatoniker als Anhänger der Philosophie Piatos weitgehend gefolgt: Die moderne Bezeichnung des Neuplatonismus ist noch lange Zeit unbekannt, für die Vertreter und auch für die Fortführer der heute Neuplatonismus genannten Philosophie wird die Bezeichnung Platoniker gebraucht. So spricht z.B. Augustin von Plotin, Porphyrius und Iamblichos als von Platonikern (statt wie wir von Neuplatonikern), und auch Marsilio Ficino in Florenz sowie Cudworth und More in Cambridge gehen von der wesenhaften Identität der Philosophie Piatos mit derjenigen des Neuplatonismus aus. Erst um die Wende vom 18. zum 19. Jh., d. h. mit dem vollen Einsetzen der eigentlichen historischkritischen Erforschung der Geistesgeschichte, beginnt die Unterscheidung des philosophiegeschichtlichen Phänomens des Neuplatonismus in Gehalt und Form seines Denkens von der Philosophie Piatos von Athen: -»Schleiermachers Plato-Deutung ist ein Beispiel

Neuplatonismus

343

für diese Unterscheidung Piatos in seinem so ganz anderen geschichtlichen Kontext von der Philosophie des Neuplatonismus. —»Hegel andererseits kennt in seiner Philosopiegeschichtsschreibung bereits den Neuplatonismus als die distinkte späteste Bewegung der antiken Philosophiegeschichte. Einige waren ihm schon vorangegangen, viele, so besonders Eduard Zeller, sind ihm gefolgt (vgl. Hager, Geschichte 98ff). In unserem Jh. hat in gewissem Sinne eine Gegenbewegung gegen die scharfe Trennung der Philosophie Piatos als der klassischen attischen Urform griechischen Philosophierens und der Philosophie des Neuplatonismus als einer späten, orientalisch-mystischen Entwicklungsphase der griechischen Philosophie sich mehr und mehr durchgesetzt. M a n erkannte wieder deutlicher, daß in der Philosophie der Neuplatoniker dieselbe Frage nach den letzten Prinzipien und Wesenszusammenhängen alles Wirklichen am Werke ist, wie sie schon das philosophische Fragen Piatos bewegt (vgl. dafür die Arbeiten z.B. von Ph. Merlan, C . J . de Vogel und H . J . Krämer). Gibt es aber dennoch nach wie vor Gründe, den Neuplatonismus als philosophisch bedeutsame eigenständige Richtung zu behandeln, die sich nicht nur als historisches Faktum, sondern auch vom geistigen Gehalt her noch von der Philosophie Piatos unterscheidet? Wir meinen ja, können aber nur ganz umrißhaft andeuten, welches unserer Ansicht nach diese Gründe sind. Plato, an den der Neuplatonismus anknüpft, hatte, ausgehend von dem Problem der Wiederherstellung der im Zerfall begriffenen antiken Polis und ihrer Kultur, aber auch ausgehend von Grundproblemen der Erkenntnislehre, Ethik und Naturphilosophie den umfassenden philosophischen Versuch unternommen, die gesamten soeben erwähnten Probleme von der Metaphysik der Ideen her zu lösen. In einem unsinnlichen, rein nur denkbaren Bereich, eben dem der —»Ideen, welcher sich von der sichtbaren Welt noch wesenhaft unterscheidet, läßt sich das wahre Wesen aller Dinge so, wie sie sein sollen, anschauen, und von da aus können auch alle politisch-praktischen und philosophisch-theoretischen Fragen einer Beantwortung zugeführt werden. Der Neuplatonismus knüpft entschieden bei diesem Ansatz Piatos an, aber unterscheidet sich von Piatos philosophischer Haltung und Lehrmeinung doch in verschiedenen Grundzügen. Einmal ist im Neuplatonismus das politische Interesse (wie in der gesamten hellenistischen Philosophie überhaupt) mit dem Untergang der alten Polis und dem Überhandnehmen imperialer Herrschaftsformen wesentlich in den Hintergrund getreten, während Plato selbst durchaus auch ein Klassiker des politischen Denkens ist. Zweitens verengt sich auch das Spektrum der philosophischen Fragen, von denen der Neuplatonismus ausgeht, um zur Metaphysik der geistigen Welt aufzusteigen. Die drei Grundgebiete antiker Philosophie (Logik, Physik und Ethik) sind nurmehr Ausgangspunkt, um sich emporschwingen zu können zur -»Metaphysik der geistigen Welt, welche mehr und mehr zum ausschließlichen Gegenstand philosophischer Forschung wird. Die Metaphysik der geistigen Welt wird zum Selbstzweck, sie dient nicht mehr einfach nur dazu, die diesseitige Welt und die theoretischen und praktischen Probleme des Menschen in ihr zu erklären und zu lösen. Die geistige Welt selbst erfährt in der philosophischen Analyse über den Bereich der Ideen hinaus eine vielfältig differenzierte Gliederung. Eine ganze Hierarchie geistiger Wesenheiten vom höchsten Prinzip bis hin zur Grenze des sichtbaren Kosmos wird mit immer weiter entwickelter Subtilität unterschieden: Die Entwicklung von Plotin über Iamblichos bis hin zu Proclus und Damaskios ist hierfür charakteristisch. Je differenzierter die Hierarchie der geistigen Wesenheiten wird, die der sichtbaren Welt noch übergeordnet werden, desto schärfer bildet sich die absolute -»Transzendenz des höchsten Prinzips, welche schon Plotin deutlich artikuliert, heraus. Der -»Dualismus zweier entgegengesetzter Prinzipien, eines formhaften und eines stofflichen, welche noch in der alten Akademie und bei gewissen Vertretern des sogenannten mittleren Piatonismus die sichtbare Welt begründen sollen, bildet sich zurück. Das eine höchste Prinzip ist die einzige höchste Ursache, es verursacht auf totale Weise alle späteren Seinsstufen, welche sich ihrerseits wieder untereinander bedingen. Eine durchkon-

344

Neuplatonismus

struierte systematische Konzeption der Wirklichkeit kennzeichnet den Neuplatonismus seit Plotin. Der vom höchsten Ursprung ausgehende Dynamismus der Seinsverursachung hebt die absolute Eigenständigkeit der einzelnen Seinsstufen gänzlich auf. Umstritten ist in der Forschung, o b der Neuplatonismus gegenüber dem ursprünglich objektiven Seinsbild der klassischen attischen Seinsphilosophie einen verstärkten Z u g der Verinnerlichung, wenn nicht g a r des Subjektivismus in die antike Metaphysik einbringt. Neuerdings hat man diese Trennung des objektiven und des subjektiven Z u g e s im Neuplatonismus, welche während einer gewissen Zeit in der Forschung beliebt w a r , mit guten Gründen angefochten (so H . J . Krämer, Ursprung 420ff, A n m . 166ff, welcher sich gegen Brehier, Kristeller, Zeller u . a . wendet). Richtig ist, daß neben dem traditionellen Interesse an der Erklärung des sichtbaren Kosmos auch im Neuplatonismus die Sorge um das Heil der Seele dem K o n t e x t der E p o c h e entsprechend eine unendlich verstärkte Bedeutung gewinnt. Abschließend sei e r w ä h n t , daß für die philosophiegeschichtliche Forschung die Frage sehr bedeutungsvoll ist, wie der Neuplatonismus seit Plotin aus seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen in der antiken Philosophiegeschichte entstehen konnte. Das Wiederaufleben der Philosophie Piatos beginnt nicht erst mit Plotin, sondern schon im ersten vorchristlichen J h . zur Zeit Ciceros. Inwiefern der damals einsetzende sogenannte mittlere Piatonismus, welcher sich neben der PlatoInterpretation auch der systematischen Auseinandersetzung mit anderen Zweigen und Richtungen antiker Philosophie, so des Peripatos ( A r i s t o t e l e s / A r i s t o t e l i s m u s ) , der ->Stoa und Epikurs ( - • Hellenismus) widmete, sich auf das Plato-Bild und das philosophische Denken des Neuplatonismus bestimmend ausgewirkt hat, wird in der Neuplatonismus-Forschung (insbesondere in der PlotinLiteratur) auf breitem R a u m diskutiert (vgl. dazu z . B . den Band „ L e s sources de Plotin").

2. Z« den Richtungen

des

Neuplatonismus

Nurmehr verweisen können wir auf die verschiedenen Richtungen und Schulen des antiken Neuplatonismus, welcher als einzige philosophische Bewegung in der letzten Phase der antiken Philosophiegeschichte ein weit verzweigtes Phänomen darstellt. Zur Unterscheidung der verschiedenen Schulen des Neuplatonismus werden grundsätzlich drei bis vier Einteilungskriterien verwendet. Das wichtigste dieser Kriterien ist das jeweils vorherrschende geistige Interesse, welches die jeweilige Richtung kennzeichnet. Wir haben schon im Zusammenhang mit dem Begriff des Neuplatonismus erkannt, daß er durch ein ausgeprägtes metaphysisch spekulatives Interesse geprägt ist. Daneben ist in ihm aber auch ein starkes religiöses Interesse wirksam, welches tief in die (heidnische) griechische Religiosität hineinreicht und bis hin zur Reflexion über Fragen des religiösen Zeremoniells, der Beeinflussung der Götter durch die Menschen, bis hin zu theurgischen Praktiken reicht. Ein drittes wichtiges Interesse im Neuplatonismus ist die gelehrte Grundrichtung des Philosophierens. Nicht nur Plato ist für das philosophische Denken des Neuplatonismus vorbildlich und maßgebend (wenn ihm auch eine erstrangige Stellung zukommt), sondern alle altehrwürdige Weisheit schlechthin, von den Vorsokratikern über die Orphik bis hin zu den chaldäischen Orakeln. Hieraus ergibt sich das Erfordernis einer intensiv ausgebildeten Interpretationstechnik, die die maßgebenden Texte dem philosophischen Verständnis und der systematischen Reflexion zugänglich macht. Weiter bildet auch die Unterscheidung der verschiedenen wichtigen Stätten, an denen der Neuplatonismus sich ausbildete und entwickelte, ein wichtiges Einteilungskriterium; es ist zu beachten, daß der Neuplatonismus nicht nur in Athen, sondern auch in Alexandria, in Syrien und im lateinischen Westen, in Rom, sich schulbildend ausbreitete. Ein drittes und ein viertes Einteilungskriterium kann man in der Unterscheidung von heidnischem und christlichem Neuplatonismus und in der Unterscheidung von griechischsprachigem und in lateinischer Sprache schriftlich fixiertem neuplatonischem Denken wirksam finden. Christliche Neuplatoniker werden alle jene sich durch Denkformen und philosophische Grundannahmen des Neuplatonismus auszeichnenden Denker genannt, welche zum christlichen Bekenntnis übergetreten oder darin schon geboren sind. Dabei zeigt sich in der Spätantike ein sehr weites Spektrum der christlichen Neuplatoniker von beispielsweise jenen Anhängern der alexandrinischen Schule des Neuplatonismus (z.B. -»Johannes Philoponus), bei de-

Neuplatonismus

345

nen gelehrter Piatonismus und christliches Bekenntnis sich zu einer nicht immer befriedigenden Synthese vereinigen, bis zu jenen Denkern, welche als Verfasser von Werken der christlichen Theologie von neuplatonischem Gedankengut durchdrungen sind (wie z.B. -»Marius Victorinus, -»Ambrosius, -»Augustin u.a.). Interessanterweise haben in der Wirkungsgeschichte des Neuplatonismus gerade auch jene Neuplatoniker sich anregend auf die christliche Theologie ausgewirkt, welche selbst noch ganz dem antiken heidnischen Götterglauben verpflichtet waren und sogar als Gegner des Christentums aufgetreten sind (—•Porphyrius, Iamblichos, —»Proclus). Seit Karl Praechter (KS 165 ff) hat sich folgende Einteilung des Neuplatonismus nach Richtungen und Schulen eingebürgert: Die metaphysisch-spekulative Richtung umfaßt erstens die Schule Plotins mit Amelios und Porphyrius, zweitens die syrische Schule des Iamblichos von Chalkis mit Theodoras von Asine und Dexippos und drittens die athenische Schule des Plutarchos (von Athen), Syrianos, Proclus, Damaskios, um nur die bekanntesten zu nennen. Die religiös-theurgische Richtung (angedeutet schon bei Iamblichos) zeigt sich am deutlichsten in der pergamenischen Schule des Aidesios, der unter anderem der bekannte heidnische Reaktionär, Kaiser Julianos Apostata, angehört. Die vorwiegend gelehrte Richtung des Neuplatonismus wird vertreten durch die alexandrinische Schule der Hypatia, des Synesios, Hierokles, Hermeias, Ammonios Hermeiu, Johannes Philoponus und Olympiodors sowie durch die Neuplatoniker des lateinischen Westens: —> Calcidius, -•Marius Victorinus, —>Macrobius und —»Boethius.

3. Der Grundentwurf

der Seinsstufen

(Plotin)

Das Zentrum der Philosophie Plotins ist, wie er selber immer wieder betont, die Lehre von den drei ursprünglichen geistigen Wesenheiten (Hypostasen) Eines, Geist und Seele. Diese Lehre betrachtet Plotin als die Quintessenz aller Philosophie und Weisheit, auch derjenigen Piatos selbst (Plotin V,1.8,9-10). Diesen drei zentralen Seinsheiten sind auch die wichtigsten Schriften Plotins gewidmet. Es ist also zu berücksichtigen, daß bezeichnenderweise für Plotin alle philosophischen Disziplinen außer der Metaphysik im Vergleich zu dieser eine rangmäßig nachgeordnete Behandlung erfahren, und daß auch im Rahmen der ontologischen Analyse der Gesamtwirklichkeit die Deutung und Strukturerläuterung der geistigen Welt gegenüber der Kennzeichnung der sichtbaren -•Welt (Natur, Körper, Materie) den unbedingten Vorrang hat. 3.1. Die drei ursprünglichen Hypostasen Plato, der große Lehrmeister Plotins, hatte aus bereits angegebenen Motiven heraus den Bereich der wahrhaft seienden Ideen als des wahren Wesens aller Dinge noch von der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungswelt unterschieden. Die Ideen waren ihm das ewig mit sich Identische, Gleichbleibende, Überzeitliche, Überräumliche, Unteilbare, die sinnlich wahrnehmbaren Körperdinge dagegen das stets sich Wandelnde, in Zeit und Raum sich Verändernde und Vergängliche gewesen (z.B. Plato, Phaidon 78bff; Timaios 27d ff). Plotin übernimmt grundsätzlich diese Grundeinteilung der Wirklichkeit in einen rein nur denkbaren und in einen sinnlich wahrnehmbaren Bereich (Plotin V, 6.6,15ff), aber im rein geistigen Bereich sind für ihn nicht mehr die Ideen der alles beherrschende Gegenstand metaphysischer Forschung. Die Frage nach dem letzten Prinzip und Grund der Ideen nimmt für ihn eine die Ideenlehre noch überragende zentrale Bedeutung an, während die metaphysisch fundierte Seelenlehre für Plotin ebenfalls an Relevanz zunimmt, indem sie nun ganz in das System der Disziplinen integriert wird, die sich mit der geistigen Welt befassen. Bereits bei Plato selbst hatte sich der Ausblick über die Ideen hinaus auf einen letzten Grund aller Ideen und ein höchstes Prinzip aller Wirklichkeit eröffnet: Plato bestimmt die eine höchste Idee des Guten ausdrücklich als die über Sein und Wahrheit aller übrigen Ideen ebenso wie über Geist und Erkenntnis noch erhabene Ursache des Seins, Wesens, der Wahrheit, Erkennbarkeit aller übrigen Ideen sowie der mit diesen verbundenen Erkenntnis (Plato, Politeia VI, 508e 1 - 509b 10). Aber einmal abgesehen davon, daß die Frage, ob Plato wirklich ein die Ideen ontologisch und epistemologisch noch überra-

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gendes höchstes Prinzip (oder zwei entgegengesetzte höchste Prinzipien) angenommen habe, in der Forschung höchst umstritten ist (vgl. dafür die unterschiedlichen Positionen von H . Cherniss und G . Vlastos einerseits, von K. Gaiser und H . J . Krämer andererseits), bleibt es doch bezeichnend, daß das vollkommen Gute bei ihm immer noch Idee des Guten genannt wird (während es bei Plotin auch über das ideenhafte Sein noch erhaben ist: VI, 7 . 1 7 , 1 6 - 1 8 ) , und daß die Frage nach der inneren Struktur und dem Wesen der Ideen bei ihm gegenüber der Frage nach deren letztem Grund und Prinzip den Vorrang genießt. Weiter hatte Plato bereits die Wirklichkeit des Seelischen (sowohl auf menschlicher wie auch auf kosmischer Ebene) ausführlich dargestellt. Das Seelische (ebenso die Weltseele wie alle Arten von Einzelseelen) war ihm eine Mittlerinstanz zwischen dem intelligiblen Bereich der wahrhaft seienden Ideen und dem sinnlich wahrnehmbaren Bereich der Körperdinge gewesen (Timaios 35a ff). Plotin setzt auch in der Seelenlehre im Prinzip bei der Nachfolge Piatos ein, aber er weist noch deutlicher als Plato das eigentlich Seelische, den geistigen Grund der -»Seele, ganz dem intelligiblen Bereich zu. Die W i r k lichkeit des Seelischen bildet bei Plotin einen integralen Bestandteil des geistigen Bereichs, der übersinnlichen Welt, was u . a . zur Folge hat, daß Plotin zwischen (eigentliches, geistiges) Seelisches und Körperwelt als hierarchisches Zwischenglied noch die Hypostase der Natur (das Seelische in Verbindung mit der Körperwelt) einschieben muß. Die Seele gehört so mit Ideen und Gutem zusammen zu den drei ursprünglichen geistigen Wesenheiten. Ihr gilt bei Plotin ebenso wie dem höchsten Prinzip und den Ideen die streng philosophische, begrifflich zergliedernde Analyse der Wesenserläuterung, welche allerdings noch auf der ursprünglichen intuitiven Wesensschau aller Zusammenhänge beruht. Plato hatte demgegenüber der mythischen Deutung des Seelischen in seinem Verhältnis zur Körperwelt noch einen wesentlich breiteren R a u m eingeräumt (wie sich in den verschiedenen Mythen über die Prae- und Postexistenz der menschlichen Seelen in Piatos Dialogen, z . B . in Phaidon, Politeia, Phaidros und N o m o i , zeigt). Die drei ursprünglichen Hypostasen sind für Plotin die ursprüngliche, göttliche, geistige Wirklichkeit, aus der sich alle übrigen, ontologisch „tieferen" Stufen der Wirklichkeit ableiten und erklären lassen. Ein Abbild dieser Trias findet sich auch im inneren, geistigen Menschen. Von der christlichen —•Trinität unterscheiden sich aber die drei ursprünglichen Hypostasen Plotins u. a. dadurch, daß sie drei hierarchisch gestufte, zwar wesensähnliche, aber nicht wesensgleiche göttliche, geistige Wesenheiten sind, deren unpersönlicher, besser: überpersönlicher Charakter dadurch nicht beeinträchtigt wird, daß sie von Plotin oft mit personalen Metaphern (Vater-Sohn, Götternamen) umschrieben werden. Die Einzelanalyse jeder dieser drei ursprünglichen Hypostasen soll das nun noch genauer belegen.

3.2. Das Eine-Gute als höchstes Prinzip Das höchste Prinzip von allem, der eine absolut vollkommene letzte Ursprung von allem, wird mit zwei Begriffen bezeichnet, welche Plotin als die beiden wichtigsten ansieht, mit denen man, wenn auch in vorsichtig übertragenem Sinne, das höchste Prinzip kennzeichnen kann. Hinsichtlich dieser beiden Bezeichnungen, so meint Plotin, kommt er auch Piatos Intentionen am nächsten. Das höchste Prinzip ist nach Plotin nun ausdrücklich das vollkommen Eine und Gute (V, 3 . 1 1 , 2 3 - 2 5 ; V, 5.6, 2 6 - 3 7 ; VI, 9 . 6 , 5 5 - 5 7 ; vgl. VI, 7.38,1—4). Schon Plato hatte in der T a t , wie wir meinen, in durchaus ontologischmetaphysischem Sinne, die Idee des Guten noch gegenüber allen übrigen Ideen als transzendent, als ihre über sie noch erhabene Seinsursache angesetzt (Politeia VII, 5 1 7 b 7 - c 6 ) . Aber das vollkommen Gute wird doch von Plato immer noch Idee genannt, während Plotin ausdrücklich festhält, daß es auch über alles ideenhafte Sein noch erhaben ist (Plotin VI, 7 . 1 7 , 1 6 - 1 8 ; 1 7 , 4 0 ; 3 2 , 6 ; 3 4 , 1 - 2 ) . Zudem ist die metaphysisch-ontologische Bedeutung der Idee des Guten bei Plato (auch die Frage, ob sie mit dem göttlichen Geist, einem Demiurgen oder einem Einem-Guten identisch sei) in der Forschung immer noch umstritten.

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Viel wichtiger n o c h als die B e s t i m m u n g des v o l l k o m m e n G u t e n ist bei Plotin die Bezeichnung des h ö c h s t e n Prinzips als das v o l l k o m m e n E i n e und a b s o l u t E i n f a c h e . A u c h hier gibt es Interpreten, die g l a u b e n , d a ß Plotin sich zu R e c h t a u f P l a t o als den A h n h e r r n dieser K o n z e p t i o n des h ö c h s t e n Prinzips berufen k a n n . D a s h ö c h s t e Prinzip w ä r e n a c h dieser Auffassung schon bei P l a t o nicht nur das v o l l k o m m e n G u t e , wie P l a t o in der „ P o l i t e i a " lehrt, sondern auch das v o l l k o m m e n E i n e , wie er es z. B . n a c h n e u p l a t o n i s c h e r Auffassung in der ersten H y p o t h e s e der Ideendialektik des D i a l o g e s P a r m e n i d e s dargelegt hat (Parmenides, 1 3 7 c 4 - 1 4 2 a 8 ; dazu H a g e r , G e i s t 1 0 2 f f . l 3 0 f f ) o d e r wie er es a u c h in seiner esoterischen Prinzipienlehre in der A k a d e m i e verkündet h a b e n soll (Aristoteles, M e t a p h y s i k A , 6 und N , 4 . 1 0 9 1 b 1 3 - 1 5 ; dazu K r ä m e r , U r s p r u n g 3 5 7 f f ) . Andere (auch neuere) Interpreten b e m ü h e n dagegen lieber die g e s a m t e T r a d i t i o n der m e t a p h y s i s c h e n T h e o l o g i e zwischen P l a t o und Plotin (von Aristoteles über —•Philo von A l e x a n d r i e n , den N e u p y t h a g o r e i s m u s und den mittleren P i a t o n i s m u s besonders des A l b i n o s bis hin zu N u m e n i o s von A p a m e a ) , um die geistesgeschichtliche H e r k u n f t des Begriffes v o m höchsten Prinzip als E i n e s - G u t e s zu erklären (so z . B . D o d d s , C Q 1 2 9 f f ; A r m s t r o n g , Architecture 1 ff. 1 4 f f ; M e r l a n , M o n o p s y c h i s m 6 2 f f ) . Plotin selber zeigt an zahlreichen Stellen auf, d a ß die verschiedenen G r a d e von Einheit und G u t h e i t , welche für die verschiedenen Stufen und S c h i c h t e n des Seins und des Seienden konstitutiv sind, alle a u f den einen und h ö c h s t e n G r u n d alles Seins, das v o l l k o m m e n Eine und G u t e als das h ö c h s t e Prinzip, verweisen. U n m i t t e l b a r aus dem n e u p l a t o n i s c h e n System Plotins selber ergeben sich also gute G r ü n d e für die Ansetzung des v o l l k o m m e n Einen und G u t e n als höchstes Prinzip (bes. Plotin V I , 9 . 1 ff; dazu H a g e r , G e i s t 2 4 2 f f ) . Diese grundlegende B e s t i m m u n g des h ö c h s t e n Prinzips als G u t e s und Eines h a t nun auch n a c h h a l t i g e K o n s e q u e n z e n für die Wesenserläuterung des h ö c h s t e n Prinzips. Vor allem aus der absoluten E i n f a c h h e i t des h ö c h s t e n Prinzips ergibt sich die K o n s e q u e n z seiner radikalen T r a n s z e n d e n z gegenüber allem, „ w a s nach ihm k o m m t " , d. h. das seinsmäßig und e r k e n n t n i s m ä ß i g später ist als es. Plotin verwendet u m f a n g r e i c h e E r ö r t e rungen d a r a u f , zu zeigen, d a ß das h ö c h s t e Prinzip k r a f t seiner a b s o l u t e n E i n f a c h h e i t allen späteren Seinsstufen, die durch stets w a c h s e n d e Vielheit g e k e n n z e i c h n e t sind, n o c h überlegen und gerade d a d u r c h fähig ist, ihr h ö c h s t e n s und letztes Prinzip, ihre Seinsursache zu sein. Insbesondere weist a b e r das E i n e - G u t e auch gegenüber der nächsttieferen Seinsstufe, derjenigen des w a h r e n Seins der Ideen, n o c h eine radikale Seinstranszendenz auf: D a s v o l l k o m m e n Eine ist n o c h jenseits der geistig strukturierten Vielheit der Ideen, und demzufolge nicht nur jenseits des w a h r e n Seins und des v o l l k o m m e n e n Wesens (denn das sind die Ideen), sondern auch jenseits der h ö c h s t e n E r k e n n b a r k e i t (denn die Ideen sind das w a h r h a f t E r k e n n b a r e ) und sogar jenseits der h ö c h s t e n Geistigkeit und des D e n k e n s , jenseits nicht nur des m e n s c h l i c h e n Geistes und D e n k e n s , sondern auch jenseits des göttlichen Geistes und des v o l l k o m m e n e n E r k e n n e n s ; denn G e i s t und D e n k e n sind i m m e r mit Vielheit und vielheitlicher geistiger S t r u k t u r verbunden, auch der göttliche G e i s t bezieht sich in seinem D e n k e n n o c h auf eine Vielheit von Ideen, ist d a r u m nicht v o l l k o m m e n einfach und d a r u m d e m v o l l k o m m e n Einen n o c h unterlegen (dazu Hager, Geist 2 4 4 f f . 2 5 5 f f . 2 7 1 f f m i t vielen Belegstellen aus Plotin). Aus dieser konsequenten Betonung der radikalen Seins- und Erkenntnistranszendenz des EinenGuten als des höchsten Prinzips hat sich sehr deutlich schon bei Plotin (mit Vorläufern im mittleren Piatonismus und - je nach Interpretation - schon bei Plato selbst) eine Art und Weise der intellektuellen Erfassung des göttlichen Ursprungs entwickelt, welche man später mit dem Begriff der negativen Theologie zu bezeichnen pflegte. Gibt es der Sache nach (u.E.) einen Ansatz zu dieser Art intellektuellen Zugangs zum höchsten Prinzip schon bei Plato selbst (Parmenides 137c4-142a8; dazu Hager, Geist 130 ff) und finden sich Ansätze zur umschreibenden Formulierung der negativen Theologie schon im mittleren Piatonismus (z.B. bei Albinos, Didaskalikos X 164, 7.28; 165, 4ff; vgl. XXVII 179, 31 ff; XXVIII 181, 36f; dazu Krämer, Ursprung 118ff.l24ff), so hat doch erst Plotin mit strengem Bezug auf die vollkommene Einfachheit des höchsten Prinzips eine negative Theologie konsequent entwickelt. Diese besagt, daß das höchste Prinzip, die absolut vollkommene höchste Gottheit bei Plotin, nur so intellektuell erfaßt werden kann, daß alle positiven

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Wesensmerkmale ihr noch abgesprochen, von ihr noch negiert werden. Kein Wesensmerkmal darf ihr direkt ohne Einschränkung und auf unreflektierte Weise zugesprochen werden, denn wenn das höchste Prinzip mit einer Vielheit von Attributen versehen wäre, die ihm direkt zugeschrieben werden dürften, dann wäre es nicht mehr vollkommen einfach. Nun ist aber die Negation des Seins, der Formhaftigkeit, des Denkens, aber auch aller übrigen Attribute vom Einen selbst auch wieder eine „positive" Behauptung über das Eine (wenn auch mit „negativem" Inhalt), und so darf auch die Negation aller Attribute vom Einen nicht direkt und uneingeschränkt oder unreflektiert vorgenommen werden. Insbesondere die verschiedenen Vollkommenheitsmerkmale des göttlichen Geist-Seins, die vom Einen wegen seiner absoluten Einfachheit noch negiert werden müssen, kommen ihm als der Ursache von Geist, Ideen und Seiendem in einem freilich höchst übertragenen Sinne doch wieder zu. So muß konsequenterweise nicht nur die Position positiver Wesensmerkmale am Einen, sondern auch deren Negation (als direkte positive Aussage) wieder negiert werden (zur negativen Theologie Plotins siehe Hager, Geist 246ff).

Das Eine-Gute ist so weder Geist, Idee oder Seiendes, noch denkt es, noch kommt ihm irgendein Wesensmerkmal direkt zu, und dennoch kann Plotin (und mit ihm auch der spätere Neuplatonismus bei Proclus und Damaskios) dem Einen-Guten alle Vollkommenheiten des göttlichen Geistes und Seins doch wieder in übertragenem Sinne zuschreiben: So ist das Eine-Gute gleichsam höchster Denkgegenstand, gleichsam Geist, gleichsam eine Art Über-Denken und höchste Wachheit, gleichsam höchste Bewußtheit in freiem Sichselberdenken und Sichselberschaffen (V, 4.2,12-26 und einige Stellen aus VI,8; dazu Hager, Geist 294ff). Die entscheidende Grundbestimmung des Einen-Guten als des höchsten Prinzips ist neben der absoluten Einfachheit und Gutheit diejenige des unendlichen Urgrundes alles endlichen und bestimmten Seienden, und in dieser Funktion wird ihm auch, wenngleich in übertragenem Sinne, höchste Kraft und Mächtigkeit zugeschrieben (V, 1.7,12,38; V,5.12,39). Als letzter Urgrund und höchste Kraftquelle bringt das Eine-Gute eine ganze Hierarchie von Seinsstufen und Seienden hervor, vom göttlichen Geist über die Weltseele bis hin zur Natur, der Körperwelt und ihrem untersten Residuum, der Raummaterie. Die wichtigsten aus dem Einen-Guten auf diese Weise entstandenen Seinsstufen gilt es nun noch im Einzelnen zu analysieren. 3.3. Der göttliche Geist und die Ideen Die erste und höchste Manifestation des höchsten Prinzips und zugleich die zweite der drei obersten und ursprünglichen Hypostasen ist nach Plotin das wahrhaft und ursprünglich Seiende, die Ideen, welche er mit dem vollkommen erkennenden göttlichen -•Geist identifiziert. Der vollkommen erkennende göttliche Geist erkennt die Ideen als sich selber; indem er die wahrhaft erkennbaren Ideen erkennt, denkt er auch zugleich sich selber. Vollkommenes Sein und wahres Wesen der Ideen und sich selber (und durch sich selber alles Übrige) volkommen erkennender göttlicher Geist sind nach Plotin dieselbe mit sich identische Hypostase des göttlichen Geist-Seins. Wie bei Aristoteles in seiner Lehre vom sich selber denkenden göttlichen Geist ist auch bei Plotin die Vorstellung leitend, daß das vollkommene Erkennen von dem durch es erkannten Gegenstand, der Wahrheit schlechthin, nicht getrennt sein kann, sondern vielmehr mit ihm identisch sein muß und daß ein Wesen, dessen Denken ganz in sich selbst ruht, indem es ganz auf sich selbst und seinen Denkgegenstand als sich selbst bezogen ist, auch das beste Leben führen muß. Ungleich Aristoteles aber nimmt Plotin an, daß der sich selber denkende göttliche Geist das vollkommene Sein der Ideen als den ganzen intelligiblen Kosmos {VOTJXOS xöofwq) denkend in sich schließt. Damit ist nach Plotin gleich in verschiedener Hinsicht die urbildliche und vorbildliche Wirkung erklärt, welche die zweite Hypostase des göttlichen Geistes auf die sichtbare Welt und den Menschen ausübt (vgl. Plotin V, 1.4; V , 5 . 1 - 2 mit Aristoteles, Metaphysik A, 7 u. 9; dazu Hager, Geist 309ff. 362ff. 357ff). Auch hier wieder ist in der Forschung heftig umstritten, ob schon Plato eine Identität von Geist und Ideen gekannt habe, oder ob die Lehre Plotins von der Identität des vollkommen er-

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kennenden göttlichen Geistes und der wahrhaft seienden und erkennbaren Ideen nicht vielmehr durch eine lange Tradition des auch aristotelisch beeinflußten kaiserzeitlichen Piatonismus vermittelt sei (vgl. dazu z.B. Armstrong, Background 391 ff; Krämer, Ursprung 193ff).

Eine Reihe weiterer Charakteristiken in der Begreifung des göttlichen Geist-Seins durch Plotin kann hier nurmehr angedeutet werden: So versucht Plotin, die Sphäre des göttlichen Geist-Seins mit den fünf ontologischen Grundbegriffen des Seins, der Identität, der Verschiedenheit, der Stabilität (Ruhe: azdaiq) und der Bewegung zu erfassen, welche er Piatos Dialog „Sophistes" (254 b ff) entnimmt und als die Kategorien der geistigen Welt erklärt, während er den Geltungsbereich der aristotelischen Kategorien auf die sichtbare Welt beschränkt. (Plotin VI, 2 handelt von den platonischen Kategorien der geistigen Welt, während der Schriftenkomplex VI, 1 - 3 die Kategorienlehre insgesamt durchnimmt einschließlich der Auseinandersetzung mit den aristotelischen und den stoischen Kategorien.) Die Ideen selbst erhalten im geistigen Kosmos Plotins nun einige Wesensmerkmale, welche ihnen bei Plato noch nicht mit derselben Deutlichkeit zukommen. Während Plato noch an verschiedenen Stellen zu erkennen gibt, daß er Ideen von allem anzunehmen geneigt ist (vgl. Parmenides 130e; Politeia X , 596a; 7. Brief 342 d - e ) , will Plotin nur von den Formen in der sichtbaren Welt, nicht dagegen von Widernatürlichem und Bösem Ideen annehmen und meldet Zweifel an, ob es von allen Artefakten Ideen gebe (V, 9 . 1 0 - 1 4 ) . Wichtiger ist, daß nun Plotin ganz eindeutig den geistigen Kosmos zahlenhaft bestimmt sein läßt und die Ideen als (freilich wesenhafte, von den mathematischen Zahlen noch zu unterscheidende) intelligible Zahlen auffaßt, jedenfalls aber den Hervorgang der vielen Ideen aus dem einen Sein des Geistes im Ganzen als zahlenhaft vermittelt sich vorstellt (VI,6; bes. Kap. 9ff). Plato scheint demgegenüber eher nur anzunehmen, daß der logische Zusammenhang zwischen den Ideen einen zahlenhaft bestimmten Aspekt hat (Parmenides 1 4 2 b - 1 4 4 e ) . Die Ideen sind aber bei Plotin auch dynamisch wirkende Kräfte, sie sind wie der Gesamtgeist, mit dem sie identisch sind, die erste Manifestation der dynamischen Urkraft (und des Überschwangs an Kraft) des Einen-Guten, aus dem sie entstanden sind (IV, 8.3; VI, 2.20). Demgegenüber hatte Plato die Ideen noch nicht als Kräfte bezeichnet, obwohl er ausdrücklich dem wahrhaft Seienden (der Ideen) auch Bewegung, Leben und Geist zubilligt (Sophistes, 2 4 8 e - 2 4 9 a ) . Vollends neue Wege gegenüber seinem Meister Plato geht nun Plotin, wenn er die mit dem göttlichen -»Geist identischen Ideen nicht nur als die Denkgegenstände dieses göttlichen Gesamtgeistes, sondern auch als Einzelgeister begreift, welche den geistigen Gesamtkosmos auf ihre besondere Weise in sich repräsentieren und welche sie selbst aktualiter, der Möglichkeit nach aber der Gesamtgeist sind (V,9.8; VI,2.22; VI,6.15; VI,7.17; 111,8.8,40-48). Plotin erinnert hier entfernt an -»Philo von Alexandrien, welcher ebenfalls die platonischen Ideen als Kräfte begreift und davon ausgeht, daß Gott mittels des -»Logos und seiner Kräfte die Welt erschafft und beherrscht (Philo, Op 4, 17ff; All 3, 61, 175; vgl. Migr I, 6). Mit der Deutung des göttlichen Geist-Seins als intelligibler Kosmos hängt es zusammen, daß Plotin nun im Bereich der Ideen auch eine intelligible Materie ansetzt, in der die intelligible Formenfülle ihr Sein hat und an der als einem Gemeinsamen die Unterschiede der Ideen hervortreten (11,4.1-5). Eine intelligible Materie findet sich bei Plato selbst noch in keiner Weise, allerdings schon in den Berichten des Aristoteles über Piatos Prinzipienlehre (Aristoteles, Metaphysik A, 6), wie überhaupt einige Neuerungen, welche Plotin gegenüber Plato bei der Charakterisierung der geistigen Welt einführt, von den Berichten des Aristoteles über Piatos Ideen- und Prinzipienlehre mit beeinflußt sind. Nicht übergehen kann man in einer Darstellung der zweiten Hypostase Plotins seine Deutung des geistigen Kosmos, welcher im Unterschied zur sichtbaren Welt durch Einheit, Harmonie und vollendete Ordnung gekennzeichnet ist, als ursprüngliche intelligible Schönheit, als das Schöne schlechthin und als das Urbild aller irdischen Schönheit sowie aller abgeleiteten Schönheit (111,8 u. V,8; vgl. 11,9). Wie bei Plato mit seiner Lehre vom

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stufenweisen Aufstieg des Erotikers zur Idee des Schönen (Plato, Symposion 210a-212b) hat auch bei Plotin der Mensch die Berufung, über verschiedene Grade und Stufen der Schönheit sich zur urbildlichen Schönheit des intelligiblen Kosmos zu erheben. Das Göttliche ist so bei Plotin nicht nur Seinsgrund und Erklärungsgrund alles Irdischen, sondern auch Ziel menschlicher Sehnsucht. 3.4. Die Weltseele und die Einzelseelen Bereits in Piatos Philosophie hatte die Seele, das Seelische überhaupt, als vermittelnde Instanz zwischen Ideen und Sinnendingen, sowohl auf kosmologischer Ebene, als Weltseele (Plato, Timaios 35aff), wie auch auf anthropologischer Ebene, als Einzelseelen (vgl. die Seelenlehre der „Politeia" und des „Phaidros" bei Plato), eine bedeutende Rolle gespielt. In Plotins System nun erhalten alle die kühnen und originalen Ansätze Piatos in der Deutung der Seele (welche bei ihm über viele Dialoge verstreut und oft in mythischer Form sich finden) eine systematische Gestalt und vereinheitlichende Darstellung. Die Seele, das Seelische, steht ihrem allgemeinen Wesen entsprechend nach der Auffassung Plotins in der Mitte zwischen dem Geist und den Ideen einerseits und der sinnlich wahrnehmbaren Körperwelt andererseits (V,1.7-8; IV,8.7; IV,1.1; IV,2.1; vgl. V.8.12). So sehr bei Plotin das Seelische (deutlicher noch als bei Plato) streng begrifflich vom eigentlich Geistigen unterschieden wird, so sehr wird doch andererseits betont, daß die Hypostase der Seele noch zur Sphäre des Göttlichen, Unsterblichen, Ewigen gehört, auch wenn das Seelische schon ins Körperliche hineinwirkt (IV,8.7; IV,1; IV,2.1; vgl. V,1.7-8; V,8.12). Die Seele ist Form und Zahl wie die Idee (V,1.5; 111,6.18; IV,4.16) und Bewegung und Leben wie der Geist (IV,7.9ff, bes. IV,7.11; 11,5.3), nur in einer ihm gegenüber abgeschwächten und weniger vollkommenen Art. Während im göttlichen Geist die geistig vielheitliche Struktur der Ideen und Zahlen noch von der Einheit einer vollkommenen Harmonie auf stabile unteilbare Art zusammengehalten wird und die Einheit gegenüber der Vielheit, die Identität gegenüber der Verschiedenheit, die Stabilität (Ruhe) gegenüber der Bewegung den Vorrang hat, so öffnet sich die Seele doch schon in höherem Grade der teilbaren und durch überwiegende Vielheit gekennzeichneten Körperwelt. Die Seele ist in ihrem intelligiblen Grund ewig und überzeitlich, bringt aber gleichzeitig die Zeit hervor (Plotin IV,4.25 f.; vgl. V,8.12). Der Geist ist seinem Wesen nach ungeteilt, der Seele dagegen kommt in ihrer Grundstruktur sowohl Ungeteiltheit wie auch Teilbarkeit zu (111,9.1; IV, 1.1; IV, 2.1 f; I, 1.8). Die Teilbarkeit der Seele allerdings ist nicht mit der eigentlichen Teilbarkeit des Körpers (d. h. dessen Auflösbarkeit in seine Bestandteile) zu verwechseln. Die Seele ist nur dem teilbaren Körperlichen gegenüber offen, sie ist bereit, das im Geist geschaute Wesen aller Dinge im Bereich der Erscheinungswelt zu verwirklichen, sie ist im Körperlichen gegenwärtig und wirksam, ohne sich in ihm zu zerstreuen (IV, 1; IV,2.1; IV,3.9; VI,4.14). Daß die Seele ein Abbild des Geistes ist und zwischen ihm und dem Körper steht, zeigt sich auch in ihrer im Vergleich zum Geist weniger vollkommenen Auffassungs- und Denkweise. Der Bereich des Geistes ist der Bereich der intuitiven, einheitlichen Zusammenschau, der Bereich der Seele dagegen der Bereich der diskursiven Reflexion, die die einzelnen Glieder des denkbaren Zusammenhanges durchläuft (V,1.7, 36ff. bes. 42-43; V,3.1-9). Plotin kennt wie Plato den Unterschied zwischen der Weltseele und den Einzelseelen, die nach Plotin alle aus der Weltseele hervorgegangen sind, während nur die Weltseele unmittelbar aus dem göttlichen Geist entstanden ist. Die Einzelseelen sind im Prinzip gleichen Wesens mit der Weltseele, geben aber als Individuen nur einzelne Aspekte ihrer ursprünglich lebendigen Fülle wieder. Sie sind nicht mehr auf gleiche Weise eins mit der Weltseele, wie die Ideen mit dem göttlichen Geist identisch sind, bilden aber doch letzten Endes mit ihr zusammen ein Ganzes (das Verhältnis der Weltseele zu den Einzelseelen behandelt Plotin vor allem in den Schriften IV, 8 und IV 9; vgl. dazu z. B. III, 9.1).

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3.5. Die sichtbare Welt und die Materie Die Seele, das Seelische in seinem Kern überhaupt, wird von Plotin noch der geistigen Welt zugeordnet. Plotin verfährt bei dieser Zuordnung der Seele zum Geistigen derart konsequent, daß er sich genötigt sieht, für jene seelische Kraft, welche unmittelbar in der Erscheinungswelt gestaltend wirkt, eine eigene Seinsstufe anzusetzen. Es gibt nach Plotin nicht nur eine, sondern vielmehr zwei Weltseelen, eine höhere, geistige, ganz dem wahrhaft Seienden zugewandte, und eine in die Erscheinungswelt gleichsam herabgestiegene, mit dieser verbundene und sie gestaltende. Diese der Körperweit gewissermaßen immanente seelische Gesamtkraft, welche mit dem Körper der Welt verbunden ist wie die Seele des Menschen mit dessen Körper, nennt Plotin die - » N a t u r (Plotin II, 3.9; 17; 18 u. 111,8.1-4, bes. 4; vgl. 111,5.2; 6; 11,5.1). Im Bereich der N a t u r nimmt Plotin noch einzelne, die natürliche Welt unmittelbar gestaltende Wirkkräfte und wirkende Formen an, die sogenannten Keimformen (Xöyoi aneppazixov, V,3.8; V,1.5; VI,2.5; 21; VI,7.5; 111,2.18; 111,3.1). Wie Plotins Lehre von einer unmittelbar in der Körperwelt wirkenden seelischen Gesamtkraft an den Naturbegriff des Aristoteles erinnert, so seine Vorstellung von den einzelnen die Körperweit gestaltenden Wirkformen an stoische einschlägige Lehrmeinungen. Die eigentliche Körperwelt kennzeichnet Plotin in einem schroffen Gegensatz zum wahren Sein der Ideen und zur geistigen Wirklichkeit überhaupt. Während die geistige Welt durch Einheit in der Vielheit, durch Harmonie und unauflösliche Verbundenheit aller Formen und Strukturen gekennzeichnet ist, so weist die Körperwelt vielmehr ein Uberwiegen der Vielfalt gegenüber der Einheit auf und birgt die ständige Gefahr des Auseinanderfallens ihrer Teile in sich. Statt der Harmonie herrscht in ihr Streit und Auseinandersetzung von Gegensätzen vor. Neben der Einwirkung der Vernunft spielt in ihr auch die materielle Notwendigkeit eine die Vernunft behindernde Rolle. Nicht Ewigkeit, sondern Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, nicht wahres Sein, sondern bloßer Schein kennzeichnet die Welt der Körperdinge, in der ein unaufhörlicher Fluß des Werdens, eine Flucht der Erscheinungen herrscht, die sie zum Zerrbild der wahren Wirklichkeit macht (111,2.2; 16; 111,7; VI,5.11). Während durch die Einwirkung der geistigen Welt auf die sichtbare immer noch der Glanz der Schönheit (wenngleich im Sinne eines bloßen Abglanzes) auf diese irdische Welt fällt, so verweist die Disharmonie, die Nichtigkeit und Zerrissenheit dieser Welt noch auf die -»Materie als den untersten Grund der Erscheinungswelt, welche von Plotin gleichzeitig als die Ursache aller Schlechtigkeit und des -»Bösen in der Welt bestimmt wird. Wie schon diese letzte Bestimmung zeigt, fallen im plotinischen Begriff der Materie eine Vielzahl von (meist negativen) Qualifikationen zusammen, welche in der Geschichte des Materiebegriffs seit Plato und Aristoteles bisher immer getrennt waren. Die Materie ist das unterste Substrat der sinnlich wahrnehmbaren Körperwelt, selbst aber in keiner Weise mehr körperlich, sie ist absolute Abwesenheit aller Formhaftigkeit und alles Guten, absolute Privation, reiner Mangel, das Urböse, unterster dunkler Grund der sichtbaren Welt; in ihr findet die Hierarchie des Seienden bei Plotin ihr unterstes, dem Einen-Guten in radikaler Nichtigkeit entgegengesetztes Ende (1,8 über die Materie als Prinzip des Bösen, ferner 11,4.6-16 über die Materie der sichtbaren Welt, vgl. 11,5.5; 111,6.7). 3.6. Plotinische Anthropologie 3.6.1. Zur Stellung des Menschen im Kosmos. Die Stellung des -»Menschen ergibt sich aus dem metaphysischen Konzept der Seinsstufen bei Plotin und aus den neuplatonischen Aneignungen der anthropologischen Grundannahmen bei Plato. Der -•Mensch ist dem Wesen nach eine Einzelseele, die dem rein geistigen Bereich entstammt, entsprechend dem allgemeinen Emanationsprozeß der Wirklichkeit sich einkörperte und in diesem irdischen, mit einem Körper verbundenen Dasein bestrebt ist, den Weg zurück zum Ursprung, zur Schau der Ideen und Einung mit dem Ursprung zu finden.

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Die Anliegen und Probleme der neuplatonischen Anthropologie ergeben sich aus diesem Zusammenhang: a) Zunächst handelt es sich für die neuplatonische Anthropologie Plotins darum, das Leben der menschlichen Einzelseele vor ihrer Einkörperung im jenseitigen Bereich des seligen Lebens mit dem Geist und der Weltseele zu beschreiben und zu schildern (IV,4.1 ff, bes. IV,4.2 und IV,4.14); b) dann ist es die Aufgabe der neuplatonischen Anthropologie, den Abstieg der Seelen in die Leibeswelt zu erklären, wobei teils die allgemeine Notwendigkeit dieses Vorgangs, teils die freiwillige Zuwendung der Seele zum Irdischen, teils die positiven, teils die negativen Aspekte dieses Geschehens hervorgehoben werden (vgl. dafür besonders Plotins Schrift IV, 8). c) Was nun den inkarnierten Zustand der menschlichen Einzelseele betrifft, so hat hier zunächst die plotinische Anthropologie das Bestreben zu zeigen, wie selbst in der Verbindung der Seele mit dem Körper der rein geistige Kern der Seele bewahrt, ja im Innersten unangetastet bleibt, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil nach Plotin der innerste Kern der menschlichen Geist-Seele seinem Wesen nach mit der göttlichen geistigen Wirklichkeit, d.h. bei Plotin mit den drei ursprünglichen göttlichen Hypostasen verwandt ist (V, 1.10ff), d) Ferner entzieht sich die neuplatonische Anthropologie Plotins nun aber auch nicht der Aufgabe einer Darstellung und Analyse des menschlichen Seins in seinem irdischen Zustand; Plotin entwickelt hier ähnlich wie Plato und in Auseinandersetzung mit aristotelischer Psychologie und Noetik seine Lehre von den Schichten oder Teilen der Seele, von ihrem Verhältnis zueinander und zum Körper sowie seine Lehre von der Freiheit bzw. Unfreiheit des Willens; er erläutert auch auf eine originelle und nachwirkungsreiche Weise das Verhältnis des Bewußtseins zum Über- und zum Unterbewußtsein (VI,7.1 ff, bes. VI,7.4-5; vgl. bes. 1,1). e) Schließlich und endlich hat Plotin auch getreu seinem Vorbild Plato verschiedene Argumente für die -»Unsterblichkeit der Seele aufgestellt und die Konzeption von der unsterblichen Geist-Seele des Menschen gegen abweichende Lehrmeinungen anderer philosophischer Schulen verteidigt (bes. IV,7). Damit ist aber der Ausblick auf die -»Seelenwanderung und das Schicksal der Seele im Jenseits nach dem Absterben des Leibes eröffnet, welches sich nach der freien Wahl und Entscheidung, aber auch nach den Fähigkeiten und der Begnadung des Menschen als eine Heimkehr zum Ursprung und zur geistigen Welt oder als ein Umherirren in immer neuen Einkörperungen gestaltet (III,4.2 ff). Wir fassen zusammen: Die Anthropologie Plotins weist gleichsam drei Aspekte auf, welche für die spekulative neuplatonische Anthropologie überhaupt kennzeichnend sind: erstens die Lehre von den metaphysischen Grundlagen des menschlichen Seins, zweitens die Lehre von der irdischen Verfaßtheit des Menschen und drittens die Lehre von der ewigen Bestimmung und dem jenseitigen Schicksal des Menschen. 3.6.2. Der Aufstieg des Menschen zum Urgrund. Seine ewige Bestimmung kann der Mensch nur verwirklichen, wenn er aus seinem Körperdasein in sein inneres geistiges Wesen zurückkehrt und von dort aus den intellektuellen Aufstieg zu seinem Ursprung, dem Einen-Guten, wagt. Plotin hat die metaphysische Wirklichkeit, die drei ursprünglichen Hypostasen, von denen dem Menschen eine unmittelbare innere Gewißheit mitgegeben ist, nicht nur in ihrem Wesen erläutert. Er hat auch darauf hingewiesen, wodurch es gerechtfertigt ist, die drei Hypostasen Eines, Geist und Seele als bestimmende Seinsursachen anzusetzen. So sind nach Plotin die verschiedenen Grade seinskonstituierender Formhaftigkeit und schaffender Betrachtung (Theoria) in den verschiedenen Stufen der Wirklichkeit (Natur-Seele-Geist) auf die vollendete Formhaftigkeit der Ideen und auf die vollendete Betrachtung im göttlichen Geist als auf ihr Urbild und Vorbild zurückzuführen (111,8; V,8). Auch die verschiedenen Grade seinsbegründender Einheit in den verschiedenen Stufen der Wirklichkeit vom Artefakt über das natürliche Körperding bis hin zu Seele und Geist haben ihre Quelle zuletzt im vollkommen Einen als dem höchsten Ursprung: Alles Seiende ist durch seine jeweilige Einheit seiend, Seinsstufen von geringerer Einheit sind auf Seinssphären von höherer Einheit ontologisch zurückzuführen; alle Seienden sind in ihrem Sein letztlich vom vollkommen Einen und Guten in seiner absoluten Einfachheit abhängig und verursacht (VI,9.1ff; dazu Hager, Geist 242ff). Plotin hat aber auch nicht versäumt darzustellen, durch welche Lebensführung und innere geistige Bewegung der Mensch zur Verwirklichung seiner Bestimmung in der Vereinigung mit dem letzten Urgrund, dem Einen, gelangt. Am Anfang des Aufstiegs der Seele steht die Aufgabe der Befreiung von allem Körperlich-Sinnlichen. Die söge-

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nannten bürgerlichen oder gewöhnlichen -»Tugenden verhelfen dem Menschen vorbereitend zu dieser Befreiung, indem sie die Affekte beherrschen und durch maßvolles Verhalten in ihre Grenzen verweisen lehren sowie falsche Meinungen zu vermeiden helfen. Aber zur eigentlichen Reinigung und befreienden Vergeistigung gelangt der Mensch erst auf rein theoretischer Ebene, auf der jeder Bezug zum Handeln und zur Außenwelt schrittweise verlassen wird (Plotin 1,2). So muß der Mensch von der sinnlichen Wahrnehmung als der untersten Stufen der Erkenntnis (1,1.7; V,3.9; VI,7.7) voranschreiten zum begrifflichen Erkennen, dem Unterscheiden und Vergleichen der Ideendialektik (1,3. bes. 4f) und von dort sich erheben zur rein intuitiven, nicht mehr diskursiven geistigen Schau des Übersinnlichen, durch die er den göttlichen Geist in seinem eigentlichen Wesen erfaßt (IV,4.2; V,3.4; VI,7.35). Die schauende Betrachtung wird aber noch übertroffen durch die -»Ekstase, die mystische Vereinigung (-»Mystik) mit dem Einen-Guten als dem absoluten Urgrund. Erst in ihr gelangt der Mensch zur Verwirklichung seiner höchsten Bestimmung, welche ihm freilich nur selten zuteil wird (VI,7.35; VI,9.10; vgl. Porp h y r i e , Vita 23,7ff). 3.7. „Emanation": die Art des Hervorgangs aller Dinge aus dem Höchsten Prinzip Besondere Berühmtheit hat die Philosophie Plotins und des Neuplatonismus durch die Art und Weise erlangt, wie sie den Hervorgang aller Wirklichkeit aus dem höchsten Prinzip gekennzeichnet hat: als Emanation. Plotin spricht des öftern davon, daß infolge der unendlichen überschäumenden Kraft des höchsten Prinzips die späteren Stufen der Wirklichkeit und alle übrigen Seienden gleichsam aus dem Einen erflossen, ausgeströmt (emaniert) seien (V,1.6, 7; V,2.1,9,14; V,3.12,39). Nun besteht kein Zweifel daran, daß Plotin in den Gleichnissen, mit denen er den Hervorgang der Dinge aus dem Ersten umschreibt, nicht einen in der Zeit sich vollziehenden Prozeß, eine Art Evolution, eine Entwicklung des Unfertigen zu seiner Völlendung aufzeigen will. Er will vielmehr nur die totale und radikale Abhängigkeit aller Seienden vom Einen und die radikale Verursachung aller Seinsstufen durch das Eine versinnbildlichen. Eine grundlegende Bestimmung Plotins über den Hervorgang der Dinge aus dem Ersten lautet: Indem die nächsttiefere Hypostase aus der nächsthöheren „entsteht", tritt bei der höheren Hypostase keine Minderung an Sein und Kraft ein, sondern die jeweils höhere Seinsstufe und vollends das Eine ruhen in vollendeter Kraft in sich selber, während die abgeleitete Hypostase oder Seinsstufe über je geringere Kraft und Vollendung des Seins verfügt (VI,9.9,3; 111,4.3,26). Die schönste Metapher besagt, daß das Eine-Gute höchste Lichtquelle ist, der göttliche Geist erster, vom Guten ausstrahlender Glanz und daß von der Seele an abwärts eine ständige Lichtminderung stattfindet bis hinunter zum untersten dunklen Grund, der Materie: Sie ist radikale Finsternis (V,1.6; 1,1.8; VI,7.5). 4. Die Vermittlung des Porphyrius —•Porphyrius, der bedeutendste Schüler Plotins, bekannt auch als Biograph Plotins und Herausgeber seines philosophischen Gesamtwerks, der Enneaden, wurde in der Philosophiegeschichtsschreibung, gerade was seine Metaphysik betrifft, oft nur als der getreue Nachbeter Plotins dargestellt (z.B. Zeller 51923, 693ff, bes. 700ff); neuere Forschungen (Theiler, Beutler, Hadot) haben jedoch gezeigt, daß er nicht nur eine stärkere Konzentration des philosophischen Interesses auf das Heil der Seele, auf die religiös ethische Errettung des Menschen aufweist als sein Lehrer Plotin, dessen ganze Bemühungen um die Darstellung des objektiven methaphysischen Systems der Wirklichkeit kreisen, sondern daß er auch in seiner Ontologie und in deren grundlegenden Formulierungen und Denkformen gegenüber Plotin neue und eigene Wege beschreitet. Diese von Plotin noch abweichende Art und Weise, die Hypostasen der göttlich geistigen Welt zu begreifen, hat dann auch in ganz besonderer Weise die Übernahme neuplatonischer

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Denkformen durch die christliche Theologie gerade auch des lateinischen Westens gefördert (Marius Victorinus, Augustin, Boethius). 4.1. Bindungsglieder im Aufbau der Metaphysik Porphyrius knüpft in seiner -»Metaphysik zunächst einmal tatsächlich an Plotin an, indem er wie dieser drei oberste und ursprüngliche Hypostasen annimmt, welche er mit Plotin als Eines (Gott), Geist und Seele bezeichnet (Porphyrius, Sententiae c. 31). Auch die ganze übrige Seinshierarchie vom Einen-Guten bis hinab zur Materie hat er ähnlich wie Plotin konzipiert, wobei er ausdrücklich einem Prinzipiendualismus widerspricht, wie ihn etwa Attikos angenommen hat: Das Eine-Gute ist allein wahrhaft höchstes Prinzip, die Materie ist ihm gegenüber nicht gleichursprünglich und nicht ungeschaffen, sondern durch eine Reihe von Zwischenstufen noch vom Einen-Guten als dem höchsten Prinzip abgeleitet (Porphyrius bei Proclus, In Timaeum I, 391, 4ff u. I, 456, 31 ff; vgl. 1,439,29ff u. Porphyrios, Sententiae c. 20). Die verschiedenen Quellen, welche auch traditionellerweise zur Rekonstruktion der Metaphysik des Porphyrius herangezogen wurden (so insbesondere seine 'Aipopfiai = Sententiae und die Berichte über Porphyrius im Timaios-Kommentar des Proclus) ergeben bereits das Bild einer Hierarchie von Seienden und von Seinsstufen, die vom höchsten überseienden Quell allen Seins, dem Einen-Guten, bis hinab zum nicht mehr seienden Schatten und Mangel des Seins, der Materie, reichen. Dabei ist es für Porphyrius charakteristisch, daß er die verschiedenen Gesetzmäßigkeiten im Verhältnis der Seinsstufen und Seinsformen zueinander in leichtfaßlichen Formeln zusammenzufassen versucht hat, um dem Menschen die Zuwendung zum Intelligiblen und die Rückkehr zum einen Ursprung zu erleichtern. Sein, Form und Ordnung sind die Klammerbegriffe, die diese Ontologie strukturieren und zusammenhalten (Sententiae c. 11.13.24.26.35; Proclus, In Timaeum 1,366,13ff). Ein neuer, wesentlich vertiefter Einblick in die Metaphysik des Porphyrius ist (mit den Forschungen von Pierre Hadot) dadurch gewonnen worden, daß ein von W. Kroll in einem Turiner Palimpsest aufgefundener neuplatonischer Parmenides-Kommentar als Werk des Porphyrius erwiesen und für seine Metaphysik ausgewertet wurde und daß ferner gewisse Texte des christlichen Rhetors Marius Victorinus auf ihre neuplatonische Quelle Pophyrius zurückgeführt wurden: Der wichtigste metaphysisch-theologische Ertrag dieser Erschließung neuer Quellen für die Metaphysik des Porphyrius scheint mir der zu sein, daß nach dieser Interpretation nun das vollkommen Eine und Gute, das erste Eine der Ideendialektik von Piatos Dialog „Parmenides", nicht mehr nur wie schon bei Plotin als überseiende Seinsursache des seienden Einen, d. h. der zweiten Hypostase des göttlichen Geistes, begriffen wird, sondern vielmehr von Porphyrius geradezu als das absolut einfache Sein des seienden Einen, des göttlichen Geistes, gedeutet wird, welcher seinerseits als das erste Bestimmte (gegenüber der Unbestimmtheit des anfänglichen Seins) und durch die intelligible Dreiheit des Seins, Leben und Denkens Strukturierte dargestellt wird. Diese Bestimmung des Verhältnisses zwischen erster und zweiter Hypostase bei Porphyrius ist gleichzeitig eine deutliche Abweichung von Plotin und ein Verbindungsglied zur christlichen Trinitätslehre, wie sie von -»Marius Victorinus vertreten wird (Hadot, Porphyre et Victorinus, I, II; ders. Porphyre 127—163, bes. 148ff). 4.2. Einheit der Seele und Stufen der Tugend. Zur Anthropologie und Ethik Auch in der Anthropologie, insbesondere der -»Psychologie, knüpft Porphyrius vielfach bei seinem Lehrer Plotin an. Auch seine Anthropologie und Psychologie befaßt sich im wesentlichen mit den drei großen Themenbereichen des Piatonismus auf diesem Gebiet, nämlich mit der Erklärung und Deutung des Abstiegs der Seelen aus der geistigen Welt, mit der Kennzeichnung der Seele im irdischen und körperbehafteten Zustand und schließlich mit dem künftigen jenseitigen Schicksal der Seelen. Wir greifen nur das für Porphyrius besonders Charakteristische heraus.

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Für den Abstieg der Seelen aus der geistigen Welt macht Porphyrius einerseits die H e m m u n g der geistigen Freiheit in den Seelen verantwortlich (so Porphyrius bei Stobaios II, 167,25), andererseits betont er jedoch, d a ß für den Abstieg auch eine gewisse Neigung zum Niederen und Erzeugten, welche im Gegensatz zur Sehnsucht nach dem Höheren und Erzeugenden nur bei Teilsubstanzen wie den menschlichen Einzelseelen vorkommt, als Ursache zu nennen ist (Sententiae c. 30; vgl. c. 13). Überhaupt scheint bei Porphyrius die Bedeutung der seelischen Willensneigung für die Gesamtseele, für Wohl oder Wehe der Seele, stärker akzentuiert zu sein als bei Plotin, wobei er allerdings für den Ursprung des Bösen in der Seele auch wie Plotin die Einwirkung des Körperlichen und der Materie verantwortlich machen kann (Porphyrius, Sententiae c. 30; vgl. Plotin, 1,8). Nurmehr erwähnen können wir hier folgende Eigentümlichkeiten der porphyrianischen Psychologie: Porphyrius lehrt, daß die Seelen, die ursprünglich im Fixsternhimmel wohnen, sich bei ihrem Abstieg durch die Planetensphäre mit einem Luftleib (einem nvev^ia) umkleiden, der bis zur Wohnsitznahme auf der Erde immer dunkler wird (Porphyrius bei Stobaios II, 171, 1 ff), bis das Pneuma schließlich materiell und sichtbar wird (Porphyrius, Sententiae c. 29). Auch für die eingekörperte Seele betont Porphyrius noch ihre letztliche, in ihrem geistigen Kern verankerte Einheit, welche die Annahme von Teilen der Seele, nicht aber diejenige von verschiedenen Seelenkräften wie Denktätigkeit und Wahrnehmungsvermögen ausschließt (Porphyrius, Sententiae c. 16). Wie das psychische Pneuma in der Mitte steht zwischen eigentlicher Geistseele und Körper, so vermittelt die Einbildungskraft, die (pavzaaia, zwischen Denktätigkeit und Wahrnehmungsvermögen (Porphyrius, Sententiae c. 43).

Die Lehre von der Einheit der Seele in ihrem letzten geistigen Grunde, zu dem sie sich jederzeit zurückwenden kann, so wie auch die Lehre von der Wesensverwandtschaft der Einzelseelen mit der Weltseele, aus der sie herstammen (Sententiae c. 37), bilden wie seine Anthropologie und Metaphysik überhaupt das Fundament für Porphyrs -»Ethik, welche sich wesentlich am doppelten Lebensziel des Menschen orientiert, nämlich einerseits der Abwendung von allem Materiehaften und Sterblichen und andererseits der Z u w e n d u n g und dem Aufstieg zum Geistigen (Porphyrius, De abstinentia 1,30, p. 108, 15, ed. Nauck). Der Weg zur Anschauung des Unvergänglichen führt nach Porphyrius über die Wendung vom äußeren zum inneren Menschen (Porphyrius bei Stobaios III, 581, 17 ff) und über die Befreiung von den Fesseln, mit denen die Seele an den Leib gekettet ist (De abstinentia I, 31, p. 109, 3ff). Das bekannteste Dokument von Porphyrs Ethik, welches ebenfalls diese grundlegende Zielsetzung aufweist, ist seine Lehre von den Stufen und Arten der Tugenden, durch die er Ansätze Plotins in Enneaden I, 2 weiterentwickelt hat: Porphyrius unterscheidet vier Tugendklassen, nämlich erstens die politischen oder bürgerlichen Tugenden, welche auf die Mäßigung der Affekte, ihre Unterordnung unter die vernünftige Überlegung und auf einen nicht schädigenden Umgang mit den Mitmenschen zielen, zweitens die kathartischen Tugenden, welche der Ablösung vom Irdischen, der Befreiung von den Affekten und der Angleichung ans Göttliche dienen, drittens die Tugenden der Seele, welche diese auf den Geist und seine Betrachtung ausrichten, und schließlich viertens die Tugenden des Geistes selbst, welche für alle übrigen Klassen der Tugenden paradigmatisch sind (Sententiae c. 32). Die Tugendspekulation ist im späteren Neuplatonismus fortgeführt worden (vgl. Marinos, Vita Prodi, p . 2 , ed. Boissonade). 5. Differenzierung

der Hierarchie

der Seinsstufen

(lamblichos)

Iamblichos von Ghalkis, das H a u p t der syrischen Schule des Neuplatonismus, war zunächst der Schüler des Porphyrius-Schülers Anatolios und dann des Porphyrius (Eunapios, Vitae sophistarum 11 f, ed. Boissonade). Schon dadurch ergeben sich gewichtige Anknüpfungspunkte zwischen beiden Denkern. Iamblichos selbst gestaltete allerdings gerade das metaphysische System, welches er bei Plotin und Porphyrius vorfand, auf recht eigenwillige, noch über Plotin und Porphyrius hinausgehende Weise fort. Bei späteren bedeutenden Systematikern des Neuplatonismus, so bei Proclus und Damaskios

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Neuplatonismus

einerseits und bei Julianos (Apostata) andererseits, genoß er geradezu religiöse Verehrung, welche ihm den Beinamen „der Göttliche" eintrug. Iamblichos ist also als metaphysischreligiöser Systematiker ein wichtiges Bindeglied zwischen den Grundlagen des Neuplatonismus bei Plotin und Porphyrius und den spätesten Weiterentwicklungen der neuplatonischen Metaphysik bei Proclus und Damaskios. Darüber hinaus hat er eine überragende Bedeutung als Repräsentant und Interpret der spätantiken heidnischen Religiosität, welche nun prinzipiell auch orientalische Glaubensformen in ihre Theologie miteinbezog. Aus dem umfangreichen durch antike Nachrichten belegten Schaffen des Iamblichos seien hier die folgenden noch erhaltenen Schriften genannt, welche sämtlich Teile eines größeren Werkes mit dem Titel „Sammlung pythagoreischer Lehrmeinungen" gewesen sind: „Über das Leben des Pythagoras" (De vita pythagorica Über, ed. L. Deubner, Leipzig 1937), „Ermahnung zur Philosophie" (Adhortatio ad philosophiam, ed. H. Pistelli, Leipzig 1888), „Über das allgemeine mathematische Wissen" (De communi mathematica scientia, ed. N. Festa, Leipzig 1891), „Über die Einführung in die Arithmetik des Nikomachos von Gerasa" (In Nicomachi arithmeticae introductionem Über, ed. H. Pistelli, Leipzig 1894), „Über die theologischen Implikationen der Arithmetik" (Theologumena arithmeticae, ed. V. De Falco, Leipzig 1922). Außer Fragmenten von Schriften oder Briefen des Iamblichos „Über die Seele", „Über das Schicksal" und „Über die Dialektik", welche bei Stobaios erhalten sind, sind um ihrer Bedeutung willen noch zu erwähnen „Die Theologie der Chaldäer", von der Damaskios berichtet und aus deren 28. Buch er zitiert (Damaskios, De principiis c. 43) sowie die zehn Bücher des Werkes „Über die Mysterien der Aegypter" (De mysteriis Aegyptiorum, ed. E. des Places, Paris 1966), dessen Echtheit in der älteren Forschung bestritten wurde (z.B. von E. Zeller), welches aber schon seit einiger Zeit (seit der Dissertation von K. Rasche, 1911) mit zureichenden Gründen als Schrift des Iamblichos anerkannt ist. Das Werk verteidigt unter polemischer Bezugnahme auf den Brief des Porphyrius an Anebon die dort angegriffenen Praktiken der Theurgie und der Weissagung. Pythagoreische Weisheit und östliche Religionen (darunter die vor Iamblichos noch nicht mit gleicher Intensität philosophisch ernst genommenen „Chaldäischen Orakelsprüche") sind also neben Plato die Autoritäten, auf welche sich Iamblichos auch bei der Darlegung seiner Metaphysik und Theologie bezieht. Bedeutungsvoll an der Philosophie des Iamblichos sind nun aber vor allem die Weiterentwicklungen, welche er in die metaphysische Prinzipienlehre des Neuplatonismus eingeführt hat. Im Ganzen ergibt sich das Bild, daß Iamblichos eine größere Differenzierung in die neuplatonische Hierarchie der Seinsstufen eingeführt hat, was sich auf fast allen Stufen des ncuplatonischen Systems auswirkt: Zuerst hat er sich offenbar nicht mit dem vollkommen Einen und Guten, welches von Plotin als das absolut höchste Prinzip von allem angesetzt wurde, zufriedengeben wollen. Über dem Einen-Guten Plotins, aus dem auch nach Iamblichos die geistige Wirklichkeit mit ihren triadischen Strukturen hervorgeht, hat Iamblichos noch ein absolut erstes vollkommen Eines angesetzt, welches nicht nur wie das Eine-Gute jenseits aller Gegensätze liegt, sondern auch nicht das vollkommen Gute sein kann, sondern völlig eigenschaftslos und unaussprechlich noch über dem Einen-Guten steht (Damaskios, De principiis c. 43 I, 86, 3, ed. Ruelle; c. 45 I, 89, 6; c. 5 0 I, 101, 13; c. 51 I, 103, 6; vgl. Iamblichos, De mysteriis VIII, 2). Erst das zweite Eine, welches dem Einen-Guten Plotins entspricht, hat nach Iamblichos die geistige Wirklichkeit hervorgebracht. Auch diese wird dann allerdings bei Iamblichos nicht mehr als das eine, mit dem Ideenkosmos identische göttliche Geist-Sein interpretiert wie bei Plotin, sondern vielmehr noch unterteilt in das ursprünglich einfache, ewige und urbildliche eine Sein, welches noch aller Besonderung in Gattungen, Arten und Ideen vorausliegt (Proclus, In T i m a e u m I, 230, 5 ff, ed. Diehl) sowie in die intelligible Welt und in die intellektuelle Welt {xoaßoq vorjzöq, bzw. vozpöq). In der intelligiblen Welt sind die Denkobjekte (die Ideen), in der intellektuellen Welt die denkenden Geister enthalten. Beide Welten sind wieder triadisch unterteilt, die intelligible in die Dreiheit Vater oder Wirklichkeit (önapZig), Kraft und Nus, die intellektuelle in die Dreiheit Nus,-Wirkkraft des göttlichen Lebens und Demiurg. Auch die Siebenzahl spielt neben der Dreizahl bei der Gliederung eine Rolle, und die einzelnen Glieder der Triaden erscheinen selbst wieder tradisch gestuft (P'roclus, In Timaeum 1 , 3 0 8 , 21 ff; vgl I, 307, 1 4 - 3 0 9 , 13; Damaskios, D e principiis c. 54 I, 108, 18f; c. 120 I, 310, 6 f ) .

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Zwischen den überweltlichen, transzendenten Geist, welcher sich in die intelligible und die intellektuelle Welt gliedert, und den Bereich des Seelischen schiebt Iamblichos noch einen weiteren Geist, welcher die Aufgabe hat, zwischen dem rein Geistigen und dem Seelischen zu vermitteln (Proclus, In Timaeum II, 313, 15ff). Das Seelische selbst wird bei Iamblichos wiederum dreifach gegliedert, indem nach Iamblichos die überweltliche Seele zwei weitere Seelen hat aus sich hervorgehen lassen (Proclus, In Timaeum II, 240, 5f). Die überweltliche Seele steht mit nichts Körperlichem in Berührung, nichts Körperliches kann an ihr teilhaben (sie ist als erste Einheit des Seelischen djusSexrog), erst die beiden späteren Seelen sind mit dem Körperlichen in Verbindung, so daß es an ihnen teilhat (ebd.). Damit hat also Iamblichos auch auf der Ebene des Seelischen den zwei Bereichen des Seelischen bei Plotin, der Weltseele und der Natur, noch eine völlig transzendente erste Region des Seelischen übergeordnet. Aber auch im Gesamtbereich der sichtbaren, sinnlich wahrnehmbaren Welt hat Iamblichos wiederum hierarchisch gestufte Ordnungen von Seelen angenommen, so die Seelen der Götter, der -»Engel, der —•Dämonen und der Heroen, wobei er insbesondere die Seelen der Götter nach seinem triadischen Schema weiter unterteilte, so daß schließlich die ganze reiche Welt des antiken Polytheismus, welche Iamblichos teilweise allegorisch interpretiert, darin Platz finden konnte (Iamblichos bei Stobaios I, 372, 18ff; 455,4f u. bei Proclus, In Timaeum III,197,12ff). 6. Das System der Metaphysik

des Einen. Henadenlehre

(Proclus)

Mit dem berühmtesten Denker der athenischen Schule des Neuplatonismus, Proclus Diadochos, (-»Proclus der Philosoph), erreicht der Neuplatonismus einen Höhepunkt auch in der Entwicklung der spekulativen Metaphysik: Das neuplatonische System, mit welchem die Wirklichkeit auf ihre letzten metaphysischen Gründe hin gedeutet wird, erreicht nun gegenüber den Ansätzen bei Iamblichos eine noch einmal weitergehende Differenzierung, wobei im Falle von Proclus die Wirklichkeit in ihrer Deutung durch die Seinsmetaphysik noch straffer und konsequenter systematisch durchkonstruiert erscheint als bei Iamblichos und auch die Methodik des Vorgehens bei der Analyse des Zusammenhangs aller Seinsstufen noch sorgfältiger reflektiert ist. Darum konzentriere ich mich ganz auf die Grundzüge seiner Metaphysik, welche hier (zusammen mit gewissen Ergänzungen bei Damaskios) als die letzte systematisch noch interessante Phase der neuplatonischen Metaphysik begriffen werden soll. An der Spitze des Gesamtaufbaus der Wirklichkeit steht nach Proclus wiederum das vollkommen Eine und Gute, ohne daß hier wie bei Iamblichos das Bedürfnis empfunden würde, dem Einen-Guten ein weiteres absolut letztes Prinzip überzuordnen. Vielmehr muß nach Proclus das Eine-Gute notwendigerweise als höchstes Prinzip von allem angesetzt werden, da ähnlich wie bei Plotin alles Viele und Vielheitliche notwendigerweise auf das vollkommen Eine als auf seine letzte Seinsursache zurückgeführt werden muß und da auch alles irgendwie Gute, alles teilweise und unvollkommen Gute seinsmäßig noch vom vollkommen Guten als dem höchsten Prinzip abhängig ist (Institutio 1 - 6 , bes. 4; 8 - 1 3 , bes. 12 f). Das Eine-Gute als höchstes Prinzip ist auch nach Proclus eindeutig über den Geist und das Sein (selbst den göttlichen Geist und das vollkommene Sein) noch erhaben (In Piatonis theologiam 11,4). Allerdings vermögen auch die Begriffe des Einen und des Guten das höchste Prinzip in seinem innersten Wesen nicht adäquat wiederzugeben, sondern es ist letztlich auch über Einheit, Gutheit und Ursächlichkeit noch erhaben und nur durch eine negative oder analogische Theologie erfaßbar, da es letzten Endes unaussprechlich und unerkennbar ist (In Piatonis theologiam II,4.10f; III,7; In Piatonis Parmenidem VI, 87; vgl. VI, 53). Zwischen das absolut höchste Prinzip und den Bereich des göttlichen Geistes und vollkommenen Seins nun schiebt Proclus nicht wie Iamblichos ein zweites Eines, sondern vielmehr (als vermittelnde Instanz) eine begrenzte Zahl von Einheiten, sogenannte Henaden. Diese Henaden haben nun ausdrücklich die Aufgabe, zwischen dem vollkommen

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Einen und der unbegrenzten Vielheit alles Späteren, Abgeleiteten zu vermitteln. Diese Henaden sind darum (wie das Eine-Gute) absolut einfach, über das Sein, das Leben und das Denken erhaben und allem, was nach ihnen kommt, unerkennbar (Institutio 1 1 3 - 1 1 5 . 1 1 8 - 1 2 1 ; In Piatonis theologiam 1,19.27; 111,1). Andererseits aber sind die Henaden doch nicht das eine absolut Vollkommene schlechthin (wie das Eine-Gute), sondern nur je auf ihre besondere Weise vollkommen (Institutio 133). Während nun ferner das Eine-Gute als das Urwesen in keiner direkten Beziehung zu allem Abgeleiteten von der Sphäre des Seins und des Geistes an steht, so wirkt es sich doch über die Vermittlung der Henaden auf alles übrige aus, denn an den Henaden kann alles übrige Anteil haben, am Einen dagegen nicht, und das Anteilhabende kann die Henaden auch erkennen, das Eine dagegen nicht (Institutio 116.123; In Piatonis theologiam III, 1). Auch eine Art Vorsehung in Bezug auf alles Spätere wird den Henaden zugeschrieben, dem Einen aber abgesprochen (Institutio 120ff). Eben in dieser Funktion, welche Ausdruck ihrer besonderen Vollkommenheit und Güte ist, erweisen sich die Henaden auch als die ursprünglichen Götter (Institutio 114ff). Als dritten Bereich der Wirklichkeit, als dritte Seinsstufe erst setzt Proclus nach dem Einen-Guten als dem absoluten Ursprung und nach den Henaden als den ersten Manifestationen des Einen die Region des göttlichen Geist-Seins an. Diese Region des göttlichen Geist-Seins aber wird von ihm nun noch differenzierter und subtiler gegliedert und unterteilt als bei Iamblichos, wobei offenbar Proclus dessen Ansätze zu einem in sich konsequent strukturierten Ganzen weiterentwickelt hat. Den Bereich des göttlichen Geist-Seins gliedert Proclus in die intelligiblen Wesenheiten, die intelligibel-intellektuellen Wesenheiten und in die intellektuellen Wesenheiten und verbindet so die intelligiblen Götter (votjxoi) und die intellektuellen Götter (voepoi) noch durch ein Zwischenglied, welches Elemente von beiden Gegenpolen in sich enthält (votjioi xai voepoi-, In Piatonis theologiam 111,14; IV,1). Dieser ursprünglichen und umfassenden Trias des Geistigen wird dann die andere berühmte Dreiheit geistiger Kategorien zugeordnet, welche ebenfalls zueinander in einem Verhältnis hierarchischer Uber-, bzw. Unterordnung stehen, nämlich die Dreiheit des Seins (als Hauptwesensmerkmal des Intelligiblen), des Lebens (als Hauptkennzeichen des Intelligibel-Intellektuellen) und des Denkens (als wichtigstes Charakteristikum des Intellektuellen; In Piatonis theologiam IV,1; Institutio 101, 138). Die beiden ersten Glieder in dieser allgemeinsten Dreiteilung des Geistigen sind selbst wieder triadisch unterteilt, wobei die aus dem „Philebos" Piatos bekannte Dreiheit von Grenze, Unbegrenztem und Mischung von beidem eine Rolle spielt, aber auch die aus Iamblichos bekannte Dreiheit Vater-Kraft-Nus und andere Dreiheiten (Proclus, In Piatonis theologiam 111,12.13.14.21), während das letzte Glied der Gesamteinteilung des Geistigen, das Intellektuelle, in eine Siebenheit (Hebdomas) eingeteilt ist, welche selbst wieder in sieben Hebdomaden zerfällt (In Piatonis theologiam V,2). Dem Bereich des göttlichen Geist-Seins ist auch bei Proclus wieder das Seelische untergeordnet, welches in echt platonischer Weise die Mittlerinstanz zwischen der geistigen Welt und dem sinnlich wahrnehmbaren Kosmos ist: Ganz im Sinne der Bestimmungen von Piatos „ T i m a i o s " (35a ff) ist die Seele nach Proclus die Grenze zwischen dem Ungeteilten und dem Geteilten (Institutio 190.197), sie ist in gewisser Weise alles, das Intellektuelle in abbildlicher, das Sinnliche in urbildlicher Weise (Institutio 195), und sie steht in der Mitte zwischen dem wahrhaft Seienden und dem Werdenden (In Timaeum 111,254,14ff). Die Seelen teilt Proclus insgesamt in drei Klassen ein: göttliche Seelen, dämonische Seelen und partielle Seelen (pzpixai i//vxai), welche so genannt werden, weil sie an dem ihnen Übergeordneten nicht in seiner Totalität, sondern nur in geteilter Weise Anteil haben. Zu diesen partiellen Seelen gehören auch die Seelen der Menschen (In Timaeum 11,228,15ff; III,254,7ff). Es ließe sich auch an Beispielen aus der Kosmologie, der Anthropologie und der Ethik des Proclus noch zeigen, wie sehr er auch in diesen Gebieten philosophischer Forschung die mannig-

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fachen Ansätze des Neuplatonismus (und der griechischen Philosophie überhaupt) vor ihm verarbeitet, weiterentwickelt und in einer Weise formuliert hat, welche seine Lösungen für die Nachwirkung in der europäischen Philosophie- und Geistesgeschichte besonders geeignet machte. So hat Proclus die sichtbare Welt im Ganzen als ein von seelischen Kräften durchwirktes Lebewesen aufgefaßt, in dem eine durchgehende Sympathie aller Teile miteinander herrscht (In rem publicam II,258,10ff.), er hat die plotinische Lehre von der Materie als dem Prinzip des Bösen (Plotin, Enneaden 1,8) aufgegeben, und in seiner Lehre vom Übel als einer mit der Unvollkommenheit der tieferen Stufen des Weltgebäudes notwendigerweise verbundenen Schwäche hat er gleichzeitig auch eine Theodizee gefunden, welche im Ganzen das Positive, Schöne und Sinnhafte der Welt betont (In rem publicam, 1,37,27ff; In Piatonis theologiam 1,17). So hat Proclus in der Psychologie durch Annahme eines überintellektuellen Seelenvermögens die Möglichkeit der mystischen Ekstase anthropologisch abgesichert (In Piatonis AIcibiadem: Opera 111,105, ed. Cousin; De Providentia 24: Opera 1,41 f), so hat er aber auch für die Probleme der Beziehungen zwischen Seele und -»Leib des Menschen durch seine Annahme eines ätherischen Leibes oder Lichtleibes, welcher zwischen Seele und materiellem Leib vermittelt, eine Lösung angeboten (Institutio 196.207 ff; In Timaeum, 1,5,15; 11,81,20f; 11,85,3f; 111,298,12ff; 111,355,16). Und so hat er auch in der Ethik die Tugendlehre des Porphyrius und Iamblichos noch weiterentwickelt (Marinos, Vita P r o d i c. 3) und durch seine Lehre von den drei Stufen des Aufstiegs zum Einen-Gutcn, welcher vom Eros über die Wahrheit zum Glauben führt, ein weiteres Mal die neuplatonische Konzeption von der Bestimmung des Menschen festgelegt, welche eben nicht in der Erkenntnis des intellektuell noch Faßbaren, sondern in der mystischen Einung mit dem höchsten Prinzip gipfelt (In Piatonis theologiam 1,24-25; 11,11; IV,10).

Bedeutungsvoller aber ist zum Abschluß noch der Hinweis darauf, daß Proclus nun auch, was die formale Struktur des ontologischen Zusammenhanges der verschiedenen Hypostasen und Seinsstufen untereinander und was die grundsätzliche Reflexion über die Methoden metaphysischer Beweisführung betrifft, das gesamte Wissen der neuplatonischen Metaphysik gesammelt und systematisch verarbeitet hat: Die bekannte Konzeption des Dreischritts von Stillstand {fiovij), Hervorgang (rtpóoSog) und Rückwendung (EJtiorpcxpri) für den Zusammenhang der hierarchisch geordneten Seinsstufen untereinander, welche sich ansatzweise auch schon bei Plotin, Prophyrius und Iamblichos findet, ist hier nur ein Beispiel unter mehreren (Institutio 30ff; In Piatonis theologiam 11,4; III,14; IV,1). In der Tat hat Proclus auch die Reflexionen über die Art und Weise der Gotteserkenntnis, welche in der Geschichte des Piatonismus bis zu den Mittelplatonikern (z.B. Albinos und Apuleius) zurückverfolgt werden können, auf höchst kunstvolle Weise weiterentwickelt (man vergleiche Proclus, In Piatonis theologiam 11,5 für die Unterscheidung der via negationis und der via analogiae); und dies sowie die Einleitung der Hierarchie göttlicher Wesenheiten in der „Platonischen Theologie" durch einen Traktat über die göttlichen Namen (In Piatonis theologiam I, bes. 1,29) hat bis weit in die christliche Theologie (etwa bei —»Dionysius Areopagita) hinein nachgewirkt. 7. Metaphysik

des Übervernünftigen

als Gleichnis

(Damaskios)

Damaskios, auf den wir hier nur noch hinweisen können, repräsentiert nun die letzte Entwicklungsphase der spekulativen Metaphysik des Neuplatonismus: Geboren 458 (nach W. Kroll) oder 462 (nach R. Asmus und L.G. Westerink) und 532 nach der Schließung der Akademie in Athen durch Kaiser -»Justinian (529) unter jenen Piatonikern, welche sich zum Perserkönig ins Exil begaben, ist für die Geschichte der spekulativen Metaphysik vor allem wichtig geworden durch sein Werk „Probleme und Lösungen hinsichtlich der Lehre von den ersten Prinzipien". Das letzte Schuloberhaupt der Akademie hat auch eine von zahlreichen Wundergeschichten durchzogene Biographie seines Vorgängers im Scholarchat Isidoros verfaßt und eine Schrift „Probleme und Lösungen zum platonischen Parmenides" hinterlassen. Ferner ist eine Nachschrift zu seiner Vorlesung über Piatons „Philebos" erhalten. Kennzeichnend für die letzte Phase der neuplatonischen Metaphysik, wie sie Damaskios repräsentiert, scheint mir nun dies zu sein, daß er zwar die ganze Hierarchie der göttlichen Wesenheiten, wie sie sich schon im philosophischen System des Proclus

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Neuplatonismus

findet, übernimmt und höchstens noch da und dort differenzierend weiter ausgestaltet, daß aber die indirekte und übertragene Aussageweise, welche schon von Plotin an bis hin zu Proclus angesichts der absoluten Einfachheit des höchsten Prinzips sich als (logisch) notwendig erwiesen hatte, nunmehr zu einer Relativierung der Aussagen der Metaphysik und Theologie und zu einem Uberhandnehmen des Irrationalismus in der Philosophie führt. Für die Tendenz zur weiteren Differenzierung der Seinsstufen bei Damaskios ist als Beispiel anzuführen, daß er in Abweichung von Proclus (und offenbar im Sinne einer Wiederaufnahme eines Gedankens von Iamblichos) noch vom absolut einfachen höchsten Prinzip, dem Unaussprechlichen, ein zweites Eines unterscheidet, welches die Vielheit, die Totalität aller Seienden, deren Ursache es ist, gewissermaßen ureinfach in sich schließt und von Damaskios „Eines-Alles" (Ev-Jtávxa) genannt wird, während ein drittes Eines dieselbe Kombination von Einheit und Totalität, nur mit stärkerer Ausprägung der Totalität, enthält und deshalb „Alles-Eines" (návra-iv) genannt wird (De principiis, c. 4 2 - 4 4 1 , 8 5 , 8 - 87,22; c. 461,91,20ff; c. 541,109,16ff, ed. Ruelle). Obwohl er so über dem Bereich des Geist-Seins noch drei „Eines" genannte Wesenheiten ansetzte, glaubte Damaskios auch auf die überwesentlichen Henaden des Proclus nicht verzichten zu können, wie aus einer Bemerkung seiner Biographie des Isidoros hervorgeht, wo er den Marinos dafür tadelt, daß dieser die Henaden des Proclus aufgegeben habe (Vita Isidori §275). Was nun die Relativierung aller Aussagen der rationalen Metaphysik betrifft, so geht Damaskios von der Problematik aus, mit der sich schon Proclus auseinandergesetzt hatte, daß nämlich das absolute höchste Prinzip auch als absolut erste Ursache von allem anzusetzen ist, daß aber nicht einmal diese Ursächlichkeit von ihm ausgesagt werden kann, weil sie das absolut Einfache wieder in Beziehung zu anderem setzen würde. Daran schließt Damaskios Reflexionen über die Problematik der Ursächlichkeit (auf allen Seinsstufen) überhaupt an: Die Entstehung des Verursachten aus der Ursache ist eine Trennung von beidem, welche weder vom Verursachten verursacht sein kann, denn sonst würde die Ursache vom Verursachten affiziert, noch von der Ursache, denn sonst würde die über die Trennung noch erhabene Ursache etwas verursachen müssen, was sie nicht ist (De principiis 42 I,84,10ff). Aus solchen und ähnlichen Schwierigkeiten schließt nun Damaskios auf die grundsätzliche Unangemessenheit aller menschlichen Vorstellungen vom Verhältnis zwischen höchster metaphysischer Ursache und dem von ihr Verursachten. In diesem Verhältnis gibt es in Wirklichkeit nichts von dem, was der Mensch als unvollkommenes, partikulares Wesen auf diesen unbegreiflichen Vorgang überträgt, weder Einigung noch Sonderung, weder Identität noch Verschiedenheit, weder Ähnlichkeit noch Unähnlichkeit, weder Eines noch Vieles, weder Erstes noch Zweites, weder Ursache noch Verursachtes. J a , der berühmte von Proclus formulierte Dreischritt im Hervorgang der Hypostasen auseinander, nämlich die Dreiheit des Bleibens (fiovr¡), des Voranschreitens (npóoSoQ) und der Rückwendung (émozpotprj), darf nicht als ein realer wirklich stattfindender Prozeß verstanden werden, sondern gilt nur in übertragenem Sinne und ist nur analogisch zu verstehen (Damaskios, De principiis c.38 1,79,20ff; c . 4 1 1,83,26ff; c . 4 2 1,85,8ff; c. 107 I,278,24f). Hatte schon Plotin die Formulierungen, mit denen er umschreibt, wie das Eine-Gute alles Spätere aus sich entläßt, nur in übertragenem Sinne verstanden wissen wollen, so wird hier bei Damaskios die intellektuelle Untersuchung und Beweisführung der spekulativen Metaphysik überhaupt zwar auf subtile Weise weitergeführt, aber prinzipiell als ein der übervernünftigen Wahrheit nie voll angemessenes Gleichnis gedeutet. 8. Zu den Nachwirkungen

des

Neuplatonismus

Eine erste wichtige Phase in der Geschichte der Nachwirkung des Neuplatonismus beginnt mit der Aneignung neuplatonischen Gedankengutes durch die Kirchenväter des ausgehenden Altertums. Während schon die Alexandriner Katechetenschule, vor allem die beiden überragenden Denker -»Clemens und -»Origenes, Kontakt mit mittelplato-

Neuplatonismus

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nischem Denken hatte, findet man die großen Kappadokier —»Basilius von Caesarea, -»Gregor von Nyssa und -»Gregor von Nazianz bereits in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der Philosophie Plotins. Eine tiefgreifende Wendung nimmt der Einfluß der Philosophie Plotins und seines Schülers Porphyrius mit der Übersetzung der Enneaden Plotins ins Lateinische durch den christlichen Rhetor -»Marius Victorinus, welcher auch andere „Schriften der Platoniker", so etwa des Porphyrius, übersetzt hat (Augustin, Confesssiones VII,9,13; VIII,2,3). Auf diese Weise wurde der Neuplatonismus Plotins und seines Schülers Porphyrius -»Ambrosius und durch seine Vermittlung auch -»Augustin bekannt. Bis weit in seine Gotteslehre hinein ist dieser vom Neuplatonismus mitgeprägt. Von Augustin als einer der zentralen theologischen Autoritäten des Frühund Hochmittelalters geht eine wesentliche Richtung des neuplatonischen Einflusses auf die abendländische Philosophiegeschichte aus. Ähnliche Bedeutung als Vermittler des Neuplatonismus an das Abendland hat -»Boethius vor allem durch seine „Consolatio philosophiae", aber auch durch seine theologischen Traktate, z.B. den „Liber de hebdomadibus" gehabt. Der sogenannte (Pseudo-) -»Dionysius Areopagita, dessen wichtigste Schriften um 500 n. Chr. entstanden sein müssen, hat den späteren Neuplatonismus eines Iamblichos und vor allem Proclus zu einer Synthese mit christlichem theologischem Denken gebracht und so den Neuplatonismus an den byzantinischen Bereich sowie - seit der Übersetzung seiner Werke ins Lateinische durch -»Johannes Scotus Eriugena im 9. Jh. - an das christliche Abendland, nicht zuletzt an -»Thomas von Aquino, weitervermittelt. Dieser ist in seinem theologischem und philosophischen Denken über Augustin, Boethius und Pseudo-Dionysius, indirekt auch über platonisierende Araber wie Avicenna, nicht nur aristotelischem, sondern auch neuplatonischem Denken verpflichtet (dazu Kremer 351 ff). Eine Hochblüte erlebte die Philosophie des Neuplatonismus, insbesondere Plotins, im Renaissance-Humanismus der Mediceer-Akademie in Florenz. Marsilio -»Ficino hat neben Dialogen Piatos auch die Enneaden Plotins ins Lateinische übersetzt (erschienen mit Kommentar 1492). Er hat auch als selbst denkender Philosoph den Neuplatonismus den Bedürfnissen seiner Zeit anzupassen und mit der christlichen Wahrheit zu versöhnen versucht (seine „Theologia platonica" erschien 1482). Der Neuplatonismus wurde z.B. auch bei -»Pico della Mirandola (De dignitate hominis, 1496) zum geistigen Ferment einer bestimmten Richtung des Renaissance-Humanismus, die sich später auch in Frankreich, England, hier bei Colet und -»Erasmus, und Spanien auswirkte. Mit einer gewissen Tiefenwirkung bis hinein ins systematische philosophische Denken wurde der Neuplatonismus von den Cambridger Platonikern (-»Cambridge, Platoniker von) angeeignet, die sich mit den neuen Denkrichtungen des -»Empirismus und des Cartesianismus auseinandersetzten. Insbesondere die Werke von Ralph Cudworth (z.B. The True Intellectual System of the Universe, 1678), der verschiedentlich auf Plotins Enneaden verweist, und Henry More (z. B. Enchiridium Metaphysicum, 1671; Psychathanasia Platonica, 1642) verraten eine intensive Kenntnis der neuplatonischen Philosophie. Unter den großen Metaphysikern der Neuzeit nennt -»Leibniz Plotin ausdrücklich als einen seiner großen philosophischen Anreger, während sein Antipode -»Spinoza über Leo Hebräus von neuplatonischen Einflüssen geprägt ist. Im deutschsprachigen Kulturbereich hat erst die -»Romantik zu einer eigentlichen Belebung des Interesses an Plotin und am Neuplatonismus auf breiterer Basis geführt, wenn man von den zum Teil indirekten Beziehungen -»Goethes und -»Schillers zum Neuplatonismus und von gelegentlichen Erwähnungen Plotins bei -»Hamann und —»Jacobi absieht. Bekannt ist die Plotin-Begeisterung bei —»Novalis und -»Schelling. Am bedeutendsten ist wohl die durch verschiedene historische (Tiedemann, Tennemann) und philologische (Creuzer) Arbeiten vorbereitete Auseinandersetzung Hegels mit Plotin und dem Neuplatonismus. -»Hegel hat nicht nur den Neuplatonismus als eigenständige spätantike Phase des Philosophierens mit bestimmten systematischen Merkmalen in seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" klar anerkannt und deutlich herausgestellt. Vielmehr ist Hegels philosophisches System ganz wesentlich von neuplatonischen

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Neuplatonismus

Denkformen und Denkstrukturen, wie sie am deutlichsten bei Proclus reflektiert sind, inspiriert. (Dazu Schwyzer 5 8 9 f ; Hegel Werke X I X , 4 3 0 f f ; Krämer, Ursprung 419ff.434ff.) Die Philosophie des 19. und 20. Jh. war vor allem in ihren positivistischen, kritizistischen und materialistischen Richtungen für eine bestimmende Einwirkung oder gar ein Wiederaufleben der neuplatonischen Denkweise nicht geeignet. Immerhin hat sich dort, wo die metaphysische Grundrichtung des Philosophierens sich durchsetzen und entwickeln konnte, die anregende und befruchtende Bedeutung des Neuplatonismus auch für unser heutiges Denken erwiesen, beispielsweise bei so verschiedenen Denkern wie Bergson, -»Whitehead, -»Jaspers und in der „Philosophie de l'esprit" bei R. Le Senne (La Dialectique de l'Eternel présent, 1951) und Louis Lavelle (La Découverte de Dieu, 1955). Quellen Albinos, Didaskalikos, ed. C.F. Hermann: Piatonis Dialogi, Leipzig, VI 1880,152-189. - Plotini Op., ed. P. Henry/H.-R. 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Neuprotestantismus

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Neuprotestantismus 1. Kategoriale Problembeschreibung 1.1. Konstitutionsbedingungen 1.2. Kontinuitätsproblem 1.3. Identitätsfrage 2. Begriffsgeschichte und Geschichtsbegriff 2.1. Vorgeschichte 2.2. Troeltschs Begriffskonzeption 2.2.1. Gesellschaftsgeschichtlicher Ubergangscharakter der lutherischen Reformation 2.2.2. Neuzeitliche Kulturbedeutung des Gesamtprotestantismus 2.2.3. Theorie der Neuzeit und ihres protestantischen Erbes 2.2.4. Konsequenzen für die Theologie 2.3. Wirkungsgeschichte: Fortschreibungen, Kritik und Widerspruch 3. Gegenwärtige systematisch-theologische Bedeutung 3.1. Religionstheorie 3.2. Theologische Wissenschaftstheorie 3.3. Kulturpraktische Sozialethik (Literatur S. 380)

1. Kategoriale

Problembeschreibung

Trotz einer weiter zurückreichenden sachlichen Vorgeschichte wurde der Begriff „ N e u p r o t e s t a n t i s m u s " erst 1 9 0 6 von Ernst - » T r o e l t s c h in seinem Vortrag „ D i e Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen W e l t " auf d e m Deutschen Historikertag in Stuttgart konzeptionell entfaltet und w a r seitdem aufs engste mit seinem

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Neuprotestantismus

epistemologisch-programmatischen, an den Evidenz- und Plausibilitätsmerkmalen der modernen Kultur orientierten wissenschaftlichen „Neuaufbau der Theologie" verbunden. Der bis dahin namentlich bei Otto Pfleiderer mehr diffus neuere Tendenzen der Theologiegeschichte etikettierende Begriff wurde schließlich im prägnanten Sinne Troeltschs rezipiert, um damit sowohl historisch-genetisch als auch systematisch-theologisch das Verhältnis des -»Protestantismus zu seinen reformatorischen Ursprüngen und zur modernen Geisteskultur sowie die Bedingungen, Eigenarten und Folgen seiner neuzeittypischen Umformungsprozesse zu bestimmen. Als zentrale Reflexionskategorie einer theologischen Religions-, Geschichts- und Wissenschaftstheorie war das Begriffsverständnis des Neuprotestantismus von vornherein multifunktional und mehrdeutig angelegt, so daß sich darin unterschiedliche Interessen eines religiösen Konstitutions-, historischen Epochen- und systematisch-theologischen Identitätsbewußtseins des modernen Protestantismus ausdrücken konnten. 1.1. Konstitutionsbedingungen Als ursprünglich historische Kategorie verdankt sich der Begriff des Neuprotestantismus zunächst dem gegenwartsdiagnostischen Interesse, „das Besondere der Gegenwart dem allgemeinen des Gesamtverlaufes [der Geschichte] einzuordnen, um Gegenwart und Zukunft besser zu verstehen. So ist das Verständnis der Gegenwart immer das letzte Ziel aller Historie" (Troeltsch, Bedeutung 5 f). Insbesondere die gegenwärtige Diversifikation des Protestantismus aufgrund der prinzipiellen Gottunmittelbarkeit des einzelnen Menschen nötigt zu einer Standortorientierung, die im Unterschied zum Katholizismus nicht schon durch den bloßen Rekurs auf kirchliche Autorität oder Tradition vorgegeben ist, sondern sich jeweils erst in der Rekonstruktion der sozialkulturellen Konstitutionszusammenhänge der protestantischen Lebenswelt einstellt: Im allgemeinen Anliegen, „rein erfahrungsimmanent nur die verschiedenen großen Mächte unseres geschichtlichen Lebens zu Allgemeinbegriffen nach Möglichkeit formulieren und das kausalgenetische tatsächliche Verhältnis dieser aufeinanderfolgenden und sich ineinanderschiebenden Kulturtypen aufhellen" zu wollen (ebd. 7), sucht die Historie den Neuprotestantismus als eine der Kulturform „Moderne" bzw. „-»Neuzeit" kompatible Gestalt des Protestantismus zu erweisen. Neuprotestantismus firmiert hier als Schlüsselbegriff einer Theorie der Erfahrungs- und Konstitutionszusammenhänge protestantisch-religiöser Gegenwartskultur und charakterisiert bestimmte Erscheinungsformen eines als kommunikativ sinnstiftende Mentalitäts- und Handlungsweise, Einstellungs- und Symbolmuster lebensweltlich und lebensgeschichtlich in der neuzeitlichen Gesellschaftskultur verwurzelten modernen Protestantismus. Insofern gehört das Verständnis des Neuprotestantismus primär nicht in die Bereiche einer institutionellen Kirchen-, positioneilen Theologie- oder religiösen Traditionsgeschichte, sondern gewinnt seine Pointe erst aus einem Selbstverständnis, das protestantische Theologie als „Wissenschaft von der Kulturbedeutung der [protestantischen] Religion" begreift (Rade, Bedeutung der theologischen Fakultäten 632), mithin die kulturgeschichtlich, soziologisch, psychologisch, politisch, ideologisch, ästhetisch und sozialethisch komplexen Entstehungs- und Erfahrungszusammenhänge des modernen Protestantismus einzubeziehen sucht. 1.2. Kontinuitätsproblem Im Unterschied zum Altprotestantismus, der kognitiv und normativ Ansprüche auf unmittelbare Kontinuität zur reformatorischen Anfangsgeschichte erhebt, bezeichnet der Neuprotestantismus die Signatur eines modernprotestantischen Selbstverständnisses, das sich der historischen Differenz zu seiner Herkunftsgeschichte bewußt und ungeschichtliche Kontinuitätsansprüche zu korrigieren bestrebt ist. In einer über den rein religiösen Gehalt hinausgehenden kultur- und sozialgeschichtlichen Perspektive erscheint der Neuprotestantismus dann als Teil einer differenzierten Wirkungsgeschichte der -»Reformation und bezeichnet denjenigen auch auf vor-, neben- und nachreformatorische Bewegungen und Phänomene zurückgehenden Protestantismus, der einen - wenn auch unter-

Neuprotestantismus

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schiedlich - qualifizierten Beitrag zur Entstehung und Entwicklung der Neuzeit geleistet h a t . Hier kann der Begiff streng historiographisch auftreten, um „die Gesamtheit der Erscheinungsformen des reformatorischen Christentums" zu bezeichnen, „die von der Aufklärung und den ihr verwandten Strömungen der Neuzeit entscheidend [mit-]geprägt sind und sich etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts entfaltet haben" (Hohlwein 1430). Bei Troeltsch bekommt der Begriff des Neuprotestantismus darüber hinaus einen weiteren, geschichtsphilosophisch epochalisierenden Sinn, indem er der präziseren Einschätzung des „Modernisierungs-" (Th. Nipperdey) bzw. „Rationalisierungspotentials" (R. van Dülmen) der Reformation im Kontext der Neuzeit dient, d. h. der Vorbereitung und Förderung einer protestantischen Mentalität, durch die die Entstehung und Durchsetzung der modernen Welt mehr oder weniger stark begünstigt wurden. Umstritten blieb in diesem Zusammenhang die These Troeltschs, daß nicht eigentlich die Reformation, sondern diese über den Umweg des Neuprotestantismus erst die spezifisch religiösen Entwicklungskräfte zur Heraufführung der Neuzeit freigesetzt habe. Der Neuprotestantismus steht hier als Inbegriff der über das Reformationszeitalter hinauswirkenden Diskontinuitäten eines neueren Protestantismus, dessen historische Selbstvergewisserung Identität und Differenz im Verhältnis zur eigenen Ursprungsgeschichte zu erfassen sucht. 1.3. Identitätsfrage In der Konzeption des Neuprotestantismus verbindet sich schließlich das historische mit dem systematischen Interesse der Theologie an der Geschichtswirksamkeit und Kulturmächtigkeit des Protestantismus unter den Bedingungen einer ihm gegenüber weitgehend verselbständigten modernen Kultur, und es wird systematisch-theologisch die neuzeitspezifische Differenz seines Glaubens, Gewißheits- und Wahrheitsproblems als Differenz zwischen Prinzip und Wirklichkeit, Objektivität und Subjektivität thematisch. Die Unterscheidung zwischen Alt- und Neuprotestantismus leitet „den Protestantismus zur Besinnung auf die spezifischen Fragen und Möglichkeiten an, die sich ihm in seiner neuzeitlichen Geschichte erschlossen haben" und im Verhältnis zur modernen Welt noch erschließen werden (Birkner, Begriff 14). Der Neuprotestantismus reklamiert hier über bloße Repristination hinaus die selbständige Verwirklichung des in der Reformation zur Geltung gebrachten protestantischen Prinzips unter anderen Bedingungen der Wirklichkeit, als sie für die Reformation selbst und ihre unmittelbare Folgezeit bestimmend wurde. Im Zentrum steht dabei die Frage nach den legitimen erkenntnistheoretischen und kulturpraktischen Fortschreibungs-, Ergänzungs- und Transformationsansprüchen des neueren Protestantismus gegenüber seiner reformatorischen Herkunftsgeschichte. In der Thematisierung der Differenz zwischen überkommener kirchlicher Objektivität und aktueller Frömmigkeitssubjektivität kann „Neuprotestantismus" zum programmatisch-positionellen Schlüsselbegriff erhoben werden, der dem veränderten Glaubens-, Wahrheits- und Gewißheitsverständnis der Neuzeit gezielt Rechnung zu tragen sucht. Besonders im Umkreis religiös-liberaler Richtungen wird Neuprotestantismus dann als legitime Möglichkeit eines von „altgläubiger" Denkweise emanzipierten „modernen" Frömmigkeitstyps beansprucht, dem es mit der Forderung nach „Befreiung der Christenheit aus der Knechtung unter das Urchristentum und die Reformationstheologie" um die Kongenialität eines reformatorisch freigesetzten Christentums mit Zentralwerten der modernen Geisteskultur ebenso zu tun ist, wie um die religiöse Befähigung zur „Einkleidung in neue Symbole" und „Weiterbildung in neue Denk-, Empfindungs- und Geschmacksformen" (Baumgarten, Christentum 1688). 2. Begriffsgeschichte

und

Geschichtsbegriff

2.1. Vorgeschichte Troeltschs Konzeption vom Neuprotestantismus steht theologiehistorisch in einer Reihe von Ansätzen, in denen die Geschichtlichkeit der reformatorischen Grundeinsichten und ihrer neuzeitlichen Wirkungsgeschichte thematisch wurden. Im Rahmen dieser

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Neuprotestantismus

p r o t e s t a n t i s c h e n Selbsthistorisierung t a u c h t e n z u n ä c h s t die K o m p l e m e n t ä r b e g r i f f e „ a l t p r o t e s t a n t i s c h " , „ a l t k i r c h l i c h " b z w . „ a l t g l ä u b i g " zur C h a r a k t e r i s i e r u n g o b s o l e t e r T h e o logie- und F r ö m m i g k e i t s g e s t a l t auf, o h n e d a ß ihnen bereits ein die neuere E n t w i c k l u n g e b e n s o spezifisch b e s t i m m e n d e r Begriff zur Seite g e s t a n d e n h ä t t e . Während W . M . L . - » D e Wette den Begriff des Altprotestantismus noch als synonyme Schulbezeichnung für die Altprotestantische Orthodoxie benutzt, verwendet D.F. -»Strauß ihn für die sich gegen Sozianismus und Arminianismus abgrenzenden Richtungen der Theologie. Bei Karl August von Hase erscheint „altkirchlich" zur Charakterisierung eines nachreformatorisch-inkonsequenten Protestantismus: Da die Reformation den Durchbruch der freien, individuellen Subjektivität gegen hierarchisch-institutionelle Kirchenautorität und der gläubigen Innerlichkeit gegen allen äußerlichen Dogmenzwang sowie gegen die Verobjektivierung des Heils durch die Unbedingtsetzung eines Bedingten erzielt hat, stellt sich die „altprotestantische Dogmatik" als eine Form der Routinisierung des reformatorischen Charismas, als Rückfall in vorreformatorische Verhältnisse dar. Eine Renaissance der reformatorisch-freiheitlichen Grundeinsichten ließe sich nur in Form einer entobjektivierten, nachorthodoxen, d.h. sich in der Vielfalt seiner Ausdrucksmöglichkeiten frei entfaltenden und einer einheitlichen Begriffsbestimmung entziehenden Glaubensweise denken. Hier anschließend unterscheidet von Hase eine „altkirchliche" Kirchenlehre, in der Bekenntnisse institutionell verfestigt werden, und eine „neukirchliche", im Sinne einer sich in Freiheit und subjektiver Individuation auf die Bibel berufenden neologischen „Kirchenlehre". Daß bei De Wette, Strauß und von Hase ein dem Altprotestantischen entgegengesetztes Äquivalent fehlt, bringt zum Ausdruck, daß sich die Eigentümlichkeit modernprotestantischer Erscheinungen durch eine einheitliche, konzise Benennung noch nicht erfassen läßt. Gleichwohl finden sich Grundzüge des Troeltsch'schen Verständnisses vom Neuprotestantismus, wenn auch nicht dem Begriff, so doch der Sache nach, bereits in verschiedenen Entwürfen der -»Vermittlungstheologie Schleiermacherscher wie Hegelscher Provenienz. Troeltsch selbst beruft sich auf Schleiermacher, Baur und Rothe. Als der „ g r o ß e M e i s t e r d e r T h e o l o g i e des N e u p r o t e s t a n t i s m u s " erscheint T r o e l t s c h Friedrich S c h l e i e r m a c h e r : „ A u f der G r u n d l a g e einer allgemeinen Geistes- und Kulturphilosophie sollte sich eine e b e n s o allgemeine kritische Religionsphilosophie e r h e b e n , die psychologisch und erkenntnistheoretisch das selbständige Wesen der religiösen Vorg ä n g e und der religiösen E r k e n n t n i s feststellt und d a n n die verschiedenen F o r m a t i o n e n des religiösen B e w u ß t s e i n s als Offenbarungs- und Erlösungsstufen gegeneinander a b g r e n z t " (Troeltsch, P r o t . C h r i s t e n t u m 7 2 5 ) . In der Z u s a m m e n s c h a u r e f o r m a t o r i s c h e r , pietistischer und aufklärerischer Grundeinsichten sieht es Schleiermacher als wesentliches E r f o r d e r n i s des P r o t e s t a n t i s m u s an, d a ß sich dieser in d e r Differenz von v e r g a n g e n e n Quellen und g e g e n w ä r t i g e m F r ö m m i g k e i t s b e w u ß t s e i n , rezipierter Objektivität und p r o duktiver Subjektivität, allgemeinem G l a u b e n s g r u n d und individuellem G l a u b e n s a u s d r u c k stets erneut seiner Geschichtlichkeit, h e r m e n e u t i s c h e n Wahrheitsbedingungen und sozialkulturellen Diskursivität versichert. D a infolgedessen die R e f o r m a t i o n keine „ u n überbietbare, h ö c h s t e Stufe des C h r i s t e n t u m s " darstellt (von L o e w e n i c h 6 9 ) , findet d a s n a c h r e f o r m a t o r i s c h e p r o t e s t a n t i s c h e Prinzip seinen A u s d r u c k einerseits in der konsequenten Verwirklichung des G r u n d s a t z e s d e r ecclesia Semper reformanda, andererseits in Gestalten einer Vermittlungstheologie, die d e m Ziel dient, „einen ewigen V e r t r a g zu stiften zwischen d e m lebendigen Christenglauben und d e r n a c h allen Seiten freigelassenen, u n a b h ä n g i g für sich arbeitenden wissenschaftlichen F o r s c h u n g " ( S c h l e i e r m a c h e r 618). Die Uberführung kirchlicher Sonderwelten in einen allgemeinen christlich-sittlichen Staat sieht Richard -»Rothe als epochentypische Signatur der Neuzeit sowie eines ihrer Grundstruktur tendenziell entsprechenden modernen Protestantismus an, den er selbst wiederum als konsequente Einlösung des ursprünglichen reformatorischen Anliegens interpretiert: „Die geschichtliche Reformationsbewegung... will auf eine völlig neue Gestalt des Christentums hinaus", das nicht mehr durch seine Kirchlichkeit geprägt ist, bleibt aber faktisch hinter der ihm eigenen Intention zurück, so „daß die aus der Reformation unmittelbar hervorgegangene Gestaltung des Christentums und der christlichen Welt noch nicht die wahrhaft protestantische ist, noch nicht diejenige, welche in dem protestantisch-christlichen Prinzip als definitiver Zweck liegt" (Kirchengeschichte 11,418). Die definitive Vollendung wurde nach Rothe erst zur Mitte des 17. J h . , genauer nach der Diskreditierung aller konfessionellen Kirchentümer durch die ruinösen Folgen des -»Dreißigjährigen Krieges, mit

Neuprotestantismus

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dem „geistigen Interesse für die irdische Welt", mit dem „Sinn für die Natur und für die Geschichte" erreicht (Vorträge 64): Wissenschaftliche Kultur und Technik wurden nunmehr zu Mitteln, „diese irdische Welt so vollständig als möglich... für diesen eigentümlichen Zweck in Besitz zu nehmen, beides durch ihre Erkenntnis und durch ihre Zubildung zum Werkzeug für den menschlichen Gebrauch". Sich auf der H ö h e seiner Zeit wähnend kann Rothe für sich reklamieren: „Meine Theologie ist von ganz anderm Datum als die der Reformatoren; dieses Datum ist nicht mein individuelles, sondern das der modernen Zeit überhaupt" (Stille Stunden 12). Damit attestiert Rothe der Moderne zugleich „die urkundliche Legitimation über ihre christliche Abkunft und ihr Kindesrecht im Hause Christi" (Vorträge 99), wertet aber ihre Eigenständigkeit ab, indem er Neuzeit und Neuprotestantismus der Sache nach darauf beschränkt, „das eigentliche Prinzip der Reformation durch Verwirklichung der nichtkirchlichen Form des Christentums zum Ziel zu führen" (von Loewenich 90). Z u einem Kristallisationskern des zeitgemäßen Protestantismus wird Rothe das Programm des 1863 von ihm mitbegründeten Deutschen -»Protestantenvereins, „auf dem Grund des evangelischen Christentums... eine Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwicklung unserer Z e i t " zu fördern.

Ähnlich bestimmt Ferdinand Christian -»Baur, inspiriert durch die dialektische Geschichtsauffassung -»Hegels, den nachreformatorisch fortgeschrittenen Protestantismusteil, dessen Aufgabe es ist, das neuentdeckte Prinzip des „seiner Freiheit und Autonomie sich bewußten Subjektes" „von allen Zufälligkeiten und Willkürlichkeiten der Subjektivität zu befreien" (Lb. 198) und in einem historisch unendlichen Progreß zu immer größerer und allgemeinerer Klarheit zu bringen. Baur sieht diesen „Umschwung des protestantischen Bewußtseins" seit Anfang des 18. Jh. mit der Kulturhegemonie der -»Aufklärung gegeben: „Es befreite sich jetzt nur das protestantische Prinzip von der Gebundenheit, in welcher es sich noch durch unwillkürliche Selbstbeschränkung befand" (ebd. 243) und im dogmatischen Glaubenszwang nur die Autoritätsansprüche des Katholizismus widerspiegele, mithin die Freiheit des selbständigen historisch-kritischen philologischen (Bibel-)Forschens und liberaltheologischen Denkens behindere. Die zunehmende Durchsetzung des protestantischen Prinzips war für Baur jedoch nicht so beschaffen, daß dadurch dem Durchbruch der Reformation etwas prinzipiell Neues hinzugefügt würde, vielmehr handelte es sich nach seiner Einschätzung nur um immer größere und allgemeinere Konsequenz: „Der Glaube ist das eigentliche Prinzip, durch welches das Subjekt von jener äußerlichen Objektivität... sich losgerissen und zum freien selbstbewußten Subjekt erhoben h a t . . . [als] die Autonomie des Geistes... In der Gewißheit des Glaubens hat der Geist seine Freiheit und Selbständigkeit, und er ist sich bewußt, d a ß der Glaube für ihn nichts enthalten kann, womit er sich nicht auch innerlich eins wissen darf, nichts worin er nicht sein eigenes innerstes Wesen wiedererkennt. Was man Freiheit des Glaubens und Gewissens n e n n t . . . , ist nur der populäre Ausdruck für die Autonomie des Geistes, das Prinzip der Subjektivität, das absolute Selbstbewußtsein, zu welchem sich der durch die Reformation aus den Banden des Autoritätsglaubens befreite Geist erhoben h a t " (Vorl. 111,5). Zwischen dem neuzeitlichen Autonomiebewußtsein des geistigen Subjekts und dem reformatorisch inaugurierten Prinzip besteht also eine Kontinuität, die beide gleich weit entfernt vom Geist mittelalterlicher Scholastik zu stehen kommen läßt, eben darum aber eine präzise Unterscheidung zwischen Alt- und Neuprotestantismus weder nötig noch möglich macht, weil Baur hier einen idealistisch geprägten Begriff der Subjektautonomie auf die Reformation zurückprojiziert. Der begrifflichen Konzeption Troeltschs unmittelbar vorarbeitend hat vor allem O t t o Pfleiderer in einem differenzierten Bild von der historischen Erscheinungsvielfalt des Protestantismus ein distinktes Verständnis des „neueren Protestantismus" hervorgehoben, der sich seiner Herkunft aus reformatorischen Ursprüngen qualitativ überlegen weiß, freilich ohne diesen Surplus auch im Zusammenhang eines allgemeineren Neuzeitbegriffs bestimmen zu können. So erfüllt die Unterscheidung bei Pfleiderer lediglich eine Periodisierungsfunktion für die Geschichtsschreibung der innerprotestantischen Entwicklung. Der „neuere Protestantismus" unterscheidet sich von seiner Herkunftsgeschichte lutherischer wie reformierter Prägung durch die zunehmende Dominanz des Prinzips „von der Rechtfertigung allein durch Gottes Gnade und durch den Glauben des Menschen",

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Neuprotestantismus

das in unterschiedlicher Akzentuierung zunächst vom Pietismus („als Reaktion der praktischen evangelischen Frömmigkeit und Sittlichkeit gegen die Erstarrung des kirchlichen Orthodoxismus"), sodann von der Aufklärung („als Reaktion des theoretischen protestantischen Prinzips der autonomen Kritik gegenüber der dogmatischen Tradition") in Kirche und Theologie geltend gemacht wurde (Grundriß 42); aus der Verbindung beider ist schließlich im 18. J h . der „neuere Protestantismus" als typische Signatur einer bestimmten nachpietistischen und nachrationalistischen Theologie hervorgegangen, die namentlich durch -»Kant, -»Herder und Schleiermacher repräsentiert wurde. Das Novum beruht auf dem Differenzbewußtsein, durch das sich diese Repräsentanten von vergangenen Epochen unterschieden wußten und sich selbst als Vollender der Reformation begriffen. Sie konnten sich dabei bereits auf eine Geschichte des Protestantismus berufen, die sich aufgrund der Unterscheidung von protestantischem Prinzip und geschichtlichem Protestantismus gegenüber einer bloßen Kontinuierung der reformatorischen Herkunftsgeschichte überlegen dünkt. Drei Gesichtspunkte Pfleiderers wurden dabei für die konzeptionelle Bestimmung des Neuprotestantismus durch Troeltsch maßgeblich: (1) Neuprotestantismus bezeichnet im Unterschied zum Altprotestantismus eine Kontinuität der protestantischen Geschichte, die über jene Beharrungskraft einer kirchlich-dogmatischen Systemgestalt hinausgeht, die ihr faktisch noch die Reformation verliehen hatte; der „neuere Protestantismus" stellt vielmehr eine Gestalt dar, die sich in den Veränderungen seiner geschichtlichen Bedingungen eines Zusammenhangs mit der Reformation auf der Grundlage des protestantischen Prinzips zu vergewissern sucht. (2) Im „neueren Protestantismus" erfolgt die systematische Wahrnehmung und Einbeziehung auch derjenigen neben- und nachreformatorischen Bewegungen und „kleineren protestantischen Gemeinschaften", „in denen die Kritik des kirchlich-dogmatischen Systems vollzogen worden ist" (Birkner, Neuprotestantismus 6). (3) Es können im Neuprotestantismus die faktisch eingetretenen Veränderungen gegenüber dem reformatorischen Dissens zwischen lutherischer und reformierter Ausprägung etwa in Gestalt der Unionsbildungen des 19. J h . (-»Unionen, Kirchliche) als Ausdruck einer eigenständigen nachreformatorischen Geschichte des Protestantismus anerkannt werden. Im Unterschied zu späteren Begriffskonzeptionen sehen all diese Ansätze, die w o h l G r u n d s t r u k t u r e n des N e u p r o t e s t a n t i s m u s , jedoch o h n e dessen Begriff, beschreiben, im n a c h r e f o r m a t o r i s c h e n P r o t e s t a n t i s m u s nichts anderes als eine konsequente Vollendung der R e f o r m a t i o n und ihres Prinzips; zwischen R e f o r m a t i o n und ihrer neuzeitlichen F o l gegeschichte besteht kein B r u c h , sondern ein Verhältnis der Perfektibilisierung. S y m p t o m a t i s c h e E r s c h e i n u n g e n des neueren P r o t e s t a n t i s m u s stellen die fortschreitende B e seitigung derjenigen B l o c k a d e n und Verzerrungen d a r , die d a s p r o t e s t a n t i s c h e Prinzip d a r a n hindern, zu sich selbst zu k o m m e n und allgemein zu w e r d e n . Diese Kontinuitätssicht w a r fast ausschließlich ideengeschichtlich an geistigen Prinzipien orientiert und leitete jeweils zur U n t e r s c h e i d u n g zwischen d e m Prinzip selbst und seiner geschichtlichen Verwirklichung a n ; dabei w a r maßgeblich, d a ß die als neuzeitspezifisch angesehenen transzendentalidealistischen Prinzipien der A u t o n o m i e und Subjektivität des Geistes a u f den tatsächlichen o d e r vermeintlichen U r s p r u n g der R e f o r m a t i o n zurückprojiziert w u r den.

2.2. Troeltschs

Begriffskonzeption

Die ü b e r r a g e n d e B e d e u t u n g des T r o e l t s c h ' s c h e n A n s a t z e s beruht d a r a u f , d a ß er in seiner konzeptionellen A u s a r b e i t u n g des Neuprotestantismusbegriffs [1906:

Die

Bedeu-

tung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt; 1906/1909: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit; 1907/08: Luther, der Protestantismus und die moderne Welt; 1913: Protestantismus... im Verhältnis zur Kultur) gegenüber dessen Vorgeschichte drei entscheidende N e u a k z e n t u i e r u n g e n v o r n i m m t : (1) Anstelle des bis dahin dominierenden rein ideengeschichtlichen und geisteswissenschaftlichen Ansatzes tritt bei ihm die Prärogative einer kulturgeschichtlich-soziologischen Sichtweise und Methode, mit deren Hilfe die geschichtlichen Voraussetzungen, tatsächliche Kulturbedeutung und gesellschaftsgeschichtlichen Wirkungen der neuprotestantischen Kulturform in distinkter Unterschiedenheit von ihrem altprotestantischen Pendant analysiert werden können. (2) Während ältere Darstellungen prinzipiell am Gedanken der Kontinuität der Neuzeit und des Neuprotestantismus im Verhältnis zur Reformation festhielten, indem sie jene als geschichtlich fortentwickelte Manifestation der reformatorischen Idee interpretierten, unterstreicht Troeltsch mit seiner Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus das Moment der Diskontinuität, indem

Neuprotestantismus

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er das eigenständige, religiös unableitbare Novum der Neuzeit anerkennt, auf dieser Folie epochentypisierend den bloßen Übergangscharakter der Reformation herausarbeitet und zwischen Protestantismus und Neuzeit kein unmittelbares Kausalverhältnis, sondern nur noch indirekte Beeinflussungen, „Kompatibilitäten" und „Wahlverwandtschaften" ausfindig zu machen vermag. Troeltsch sieht den Neuprotestantismus nicht mehr allein ideen- oder geistesgeschichtlich durch fortschreitende Verwirklichung des reformatorischen Prinzips in der Geschichte des Protestantismus charakterisiert, sondern betrachtet ihn als „eine Neuformation des Christentums mit neuen und eigentümlichen Entwickelungen...; er ist offenkundig nicht in seinem eigenen Entwickelungstriebe allein, sondern zugleich in den tatsächlichen Verbindungen und Gegensätzlichkeiten gegenüber dem allgemeinen Kulturleben begründet. Nicht die Dialektik seines Prinzips, sondern deren Zusammenstoß und Verwachsung mit der selbständig neben ihm entwickelten modernen Kultur bedingen seine moderne Entfaltung" (Prot. Christentum 432). (3) Ältere Analysen zeichnen aufgrund ihrer prinzipiellen Kontinuitätsannahme gegenüber seinen reformatorischen Ursprüngen ein in sich konsistentes und homogenes Bild des modernen Protestantismus: Der Protestantismus erscheint im wesentlichen als einheitlich prägende Geistestextur der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte. Demgegenüber vermag Troeltsch aus der Kontrastierung der neuzeitlichen zur mittelalterlichen Kulturform kein einheitliches Bild von der Neuzeit mehr zu gewinnen: Ihre Eigenart gewinnt sie gerade durch den Mangel an Homogenität und Konsistenz, so daß sowohl der moderne Protestantismus selbst, als auch die Neuzeit, als auch das Verhältnis zwischen beiden vorwiegend durch Pluralität und Ambivalenz gekennzeichnet sind. Auf diese Weise gewinnt Troeltsch eine komplexe Vorstellung vom Neuprotestantismus, in dessen vieldimensionaler und multifunktionaler Unterscheidung vom Altprotestantismus sich gleichermaßen legitimatorische, geschichtsperiodologische, neuzeittheoretische wie auch kulturpraktisch orientierende Interessen verbinden. Vier Grundaspekte treten dabei besonders hervor:

2.2.1. Gesellschaftsgeschichtlicher Übergangscharakter der lutherischen Reformation. Im Gegensatz zur üblichen Sicht, die Neuzeit mit Reformation und Renaissance beginnen zu lassen (vgl. Skalweit), rechnet Troeltsch lutherische Reformation und die Orthodoxie als Vorform des späteren Altprotestantismus idealtypisch noch der mittelalterlichen Kulturform zu, die eine „auf dem Supranaturalismus der Erlösung und Kirchenstiftung erbaute, kirchlich geleitete Kultur" als umfassende Einheitskultur repräsentierte: Der Protestantismus ist zunächst nichts anderes als eine Umformung der mittelalterlichen Idee, bietet nur neue Lösungen für alte Probleme. Darauf beruht der gesellschaftsgeschichtliche Übergangscharakter der Reformation mit ihrer Janusköpfigkeit aus residualmittelalterlicher wie embryonal-neuzeitlicher Kulturbestimmtheit. Darum kann auch nicht von einer ursprünglich erzeugenden, allenfalls von einer mäeutischen Rolle der Reformation bei der Geburt der Neuzeit gesprochen werden. Wie die älteste christliche Kirche und der Katholizismus ging auch das protestantische Kirchentum „von der Voraussetzung einer schlechthin einheitlichen religiösen Wahrheit, Bestimmung und Organisation der Menschheit aus" (Troeltsch, Luther 205), die auf der besonderen Fassung des reformatorischen Gnaden- und Glaubensbegriffs, des ethischen Kulturideals, des Staatskirchenverständnisses und der Auffassung einer supranatural abgestützten Kirchenautorität beruhten. Zwar wird von -»Luther das Gnadenverständnis radikal entdinglicht und entsinnlicht, von allem magischen Sakramentszauber ebenso wie von aller menschlichen Werk- und Leistungsgerechtigkeit, Willensanstrengung und Selbstermächtigung entbunden, zwar wird mithin die Heilsgewißheit ganz und gar an den durch Wort und Geist formierten Innerlichkeitsbereich des Glaubens, an die „durch Gott im Sünder alleinwirkende G n a d e " verwiesen, gleichzeitig aber hält Luther am paulinisch-augustinischen Sündenpessimismus fest, der sich in den - in ihrem metaphorischen Charakter (noch) nicht durchschauten — mittelalterlichen Lehrelementen vom stellvertretenden Strafleiden, Satisfaktions- und Versöhnungstod Christi, von der Prädestination sowie in den Loci der Trinitäts-, Urstands-, Gottmenschheits- und Wiederkunftslehre ausdrückt. Auch im Hinblick auf das ethische Kulturideal wird die Weltabstinenz der altkirchlichen Bergpredigt nur transformiert in eine innerweltliche, wenngleich zutiefst religiös motivierte Berufsethik: „Die christliche Tugend der Selbst- und Weltverleugnung und der Bruderliebe sollte geübt werden mitten in der Welt und in den Formen des ständigen Berufs, dem ein jeder nach seiner Herkunft treu bleiben s o l l t e . . . denn ein jeder führte nun das Doppelleben der persönlichen christlichen Tugend der Selbstverleugnung, Leidensfreude und Bruderliebe einerseits, der weltlichen Standes- und Berufspflichten andererseits" (Troeltsch, Luther 210); dies bedeutet nicht nur eine Säkularisierung der Ethik, son-

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dem auch eine Sakralisierung des Säkularen, wodurch ein ständisch-patriarchalischer Gesamtzustand quietistisch konserviert wird. Im Staatskirchenverständnis bleibt die Reformation unbeschadet einiger Nuancierungen nicht minder der Tradition verhaftet: Zwar wird dem Staat naturrechtlich und sittengesetzlich eine gewisse Selbständigkeit zugestanden, zugleich bleibt er aufgrund der -»Zweireichelehre der Kirche funktional zugeordnet, indem ihm die Reinerhaltung der Lehre, die Aufrechterhaltung der Sittlichkeit und damit weiterhin die Stabilisierung einer christlich einheitlich-geschlossenen Zwangskultur obliegt. Schließlich versteht sich die reformatorische Kirche nicht länger als hierarchisch-klerikale und magisch-sakramentale Heilsanstalt, nicht mehr als Vermittlungsinstanz „der dinglich an gewissen Personen und Vornahmen haftenden Heilsgnade", sondern als „Seelengemeinschaft in gemeinsamer Gewißheit und Lebensrichtung"; doch bleibt die Idee der Kirche als Volks- und Einheitskirche bestehen - die Idee einer „in die verlorene Sündenwelt durch Gott hineingebauten Heilsanstalt", deren supranatural legitimierte kultur- und gesellschaftsaparte Existenz in Predigtdienst und Sakramentsübung sichtbar unterschieden bleibt: „Papst, Hierarchie und Sakrament im alten Sinne sind verschwunden, an ihre Stelle tritt die Schrift als norma doctrinae und medium gratiae" (ebd. 208). A u f d e r a n d e r e n Seite k o m m e n bei d e r F r a g e n a c h d e r r e f o r m a t i o n s g e s c h i c h t l i c h e n G e n e s e der neuzeitlichen Gegenwartskultur innovative Impulse gerade auf religiösem G e b i e t in B e t r a c h t . E i n e z e n t r a l e B e d e u t u n g e r h ä l t d a b e i die V e r w a n d l u n g der k a t h o l i s c h e n S a k r a m e n t s k i r c h e in eine G e i s t e s - , G l a u b e n s - u n d G e w i s s e n s r e l i g i o n und d a m i t d i e F r e i s e t z u n g religiöser S u b j e k t i v i t ä t , w o d u r c h die l u t h e r i s c h e R e f o r m a t i o n ü b e r i h r e m i t t e l a l t e r l i c h e H e r k u n f t h i n a u s w ä c h s t : I n s b e s o n d e r e die L e i t w e r t e d e r I n n e r l i c h k e i t und G e i s t i g k e i t des G l a u b e n s , d e r religiösen P e r s ö n l i c h k e i t , A u t o n o m i e u n d F r e i h e i t , d e r S i t t l i c h k e i t und W e i h u n g alles N a t ü r l i c h e n als g o t t g e w o l l t e r S c h ö p f u n g s o w i e des i m m a n e n t e n F o r t s c h r i t t s g l a u b e n s a n die Ü b e r w i n d u n g des B ö s e n rein d u r c h die E r k e n n t nis des g ö t t l i c h e n H e i l i g k e i t s - und G n a d e n w i l l e n s t r a g e n u n v e r k e n n b a r s c h o n „ u n m i t telalterliche" Z ü g e , ohne bereits damit auch den Geist der Neuzeit ursächlich hervorg e b r a c h t zu h a b e n . W o h l a b e r stellen diese G r u n d z ü g e im e i n z e l n e n ein S o z i a l i s a t i o n s g u t d a r , d a s es d e m s p ä t e r e n n e u p r o t e s t a n t i s c h e n M e n s c h e n e r m ö g l i c h t , sich v o r b e h a l t l o s e r a u f die S i g n a t u r der N e u z e i t e i n l a s s e n zu k ö n n e n , als es u n t e r a n d e r e n ( k a t h o l i s c h e n und a l t p r o t e s t a n t i s c h e n ) V o r a u s s e t z u n g e n d e r F a l l w a r . Im Unterschied zu einer an sinnlich-natürlichen Mitteln und Trägern der übernatürlichen, geistlichen Heilsgüter haftenden Sakramentsreligion stellt sich der lutherische Protestantismus als eine hoch intellektualisierte Geistes- und Glaubensreligion dar: „Ein durchsichtiger und einheitlicher Gedanke von Gott und nicht ein dunkles Mysterium sinnlich-übersinnlicher Gnadeneinflößung durch priesterliche Hand, das ist der Kern des religiösen Vorganges" (Troeltsch, Luther 218). Anstelle der gehorsamen Unterwerfung unter kirchliches Lehrdogma und priesterliche Vermittlungsautorität tritt im Protestantismus die individuelle Glaubensgewißheit und persönliche Überzeugung, wodurch der Gesamtcharakter der Religiosität einem enormen Individualisierungsschub ausgesetzt wird: „Jedes Individuum steht nicht bloß unmittelbar in Geist und Gedanken seinem Gott gegenüber, sondern es steht auch auf eigene Weise und in eigenem Sinne Gott gegenüber" (ebd. 220); der einzelne ist emanzipiert „von der Gewalt der Kirche und des Priestertums, wenn auch nicht von der Macht der Überlieferung und dem Einfluß des Gemeinlebens. Aber diesem steht der Glaube frei gegenüber und nimmt aus ihm heraus, was dem Gewissen und der ernsten religiösen Arbeit als bezwingend und befreiend sich darstellt" (ebd.); „nicht Unterwerfung unter ein Kirchengesetz der Lehre ist die religiöse Erkenntnis, sondern freie vertrauensvolle Bejahung der religiösen Idee, die aus Überlieferung und Leben uns entgegentritt und die an ihrer erlösenden Kraft und gewissensstillenden Wirkung erkennbar ist" (ebd. 221). Damit entfällt auch jeder Grund zu normativer Fremdsteuerung und kasuistisch kontrolliertem Gesetzes- und Regelverhalten. An deren Stelle tritt eine Gesinnungsethik (-»Ethik), die als eine aus dem Grund persönlicher Überzeugung und individueller Gewißheit resultierende Gesamtlebenshaltung das orientierende und regulierende Integrationszentrum der freien Persönlichkeit gewährleistet: Nicht einzelne Werke und Leistungen sind dabei von Gewicht, „sondern die Auswirkung einer einheitlichen Gesinnung in einer einheitlichen Lebenshaltung und einem einheitlichen Lebenswerk" (ebd. 222). Schließlich tritt in der Frömmigkeitspraxis an die Stelle der am weltflüchtigen Mönchsideal orientierten Askese und Mystik das Ethos einer innerweltlichen Askese, die sich dem reformatorischen „Pathos der Profanität" (P. Tillich), der „Weltlichkeit des Glaubens" verdankt und in der Arbeit und im Nächstenliebe-Engagement (Karität) der gesellschaftlichen Berufsausübung als paradigmatischem Bewährungsfeld für „das völlige Eingehen auf die natürlichen Lebensverhältnisse und die geschichtlichen Kulturbildungen" ihren Ausdruck findet (ebd. 223).

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Troeltschs Beschreibung der reformatorischen Doppelgesichtigkeit diente dem Nachweis, d a ß sich die spätere Spannung zwischen Alt- und Neuprotestantismus wohl auf einen gemeinsamen Herkunftszusammenhang zurückführen und d a r u m auch die Legitimität beider Folgewirkungen entsprechend begründen läßt. Doch trotz des über die mittelalterliche Kulturverfassung hinausführenden Impetus kann die neuzeitliche Gegenwartskultur nicht direkt aus einer reformationsgeschichtlichen Genese hergeleitet werden. Deren Beitrag zur Entstehung und Entwicklung der Neuzeit beruht vielmehr nur auf indirekten, unbeabsichtigten, anteilig-partikularen, ja zufälligen Nebenwirkungen: „Aus der kirchlichen Kultur des Protestantismus kann kein direkter Weg in die kirchenfreie moderne Kultur führen" (Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus 31). Insgesamt haben Luther und die Reformation das mittelalterliche Lebensideal der einheitlichen Ordnung beibehalten, nur deren Trägerschaft ausgetauscht; Luthers Beitrag zur Vorbereitung der Neuzeit bestand in einer Flexibilisierung des religiösen Weltbildes, die es erlaubte, die neue Religiosität in das heraufziehende Gefüge der bürgerlichen Gesellschaft zu transplantieren: Anstelle der frühmittelalterlichen Symbiose aus Rittertum und Mönchstum tritt „jetzt die Verschmelzung von Bürger und Christ" in den „Mittelpunkt eines geschlossenen Lebenskreises. Ein verinnerlichtes, verpersönlichtes und verbürgerlichtes, in seiner religiösen Tiefe bis zum höchsten Glauben und bis zum Fanatismus neu erregtes Spätmittelalter steht hier vor u n s " (Troeltsch, Luther 215). 2.2.2. Neuzeitliche Kulturbedeutung des Gesamtprotestantismus. Die entscheidende Zäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit wird indessen erst durch die Kulturwirkungen vornehmlich der nebenreformatorischen Strömungen gesetzt, die das religiöse Freiheitsund Individualisierungsprinzip der Reformation auf das außerkirchlich-religiöse, staatlich-gesellschaftliche, wissenschaftliche und individuell-kulturelle Gebiet zu überführen suchten. Trotz der allgemeinen Priestertumsidee und prinzipiellen Gesinnungsinnerlichkeit des Glaubens ist der Gedanke des paritätischen, religionsparteilich neutraltoleranten Staates erst bei freikirchlichen, sektierischen Gruppen des Täufertums, der „Kirchen unter dem Kreuz", der vorwiegend reformiert geprägten Dissenters und anderer staatsfreien, vereinskirchlichen Gruppierungen auf fruchtbaren Boden gefallen und hat der Freiheit religiöser Organisation, dem Prinzip religiöser Koalitionsfreiheit, der Möglichkeit individuell-religiöser Gemeinschaftsbildung auf der Basis persönlicher Uberzeugungs- und Gewissensreligion Vorschub geleistet, während andererseits die Offenbarungslehre der inneren persönlichen Überzeugung und Erleuchtung als genuin protestantische Prinzipien vor allem von Sozinianern, Arminianern, historisch-philologisch-kritischen Richtungen des -»Humanismus sowie vom individualistisch-subjektivistischen -»Spiritualismus mystischer Provenienz vertreten wurden, die dann teils in der rationalen Bibelkritik der christlichen Aufklärung, teils in der christentumspraktischen Kritik des -»Pietismus, teils in den weltanschaulichen Umformungen der diffusen literarischen und persönlichen Anhängerschaften der romantischen und idealistischen Zirkel und Freundschaftskreise, vollends aber in den liberal-religiösen Vereinsbildungen des 19. Jh. ihre Fortsetzung fanden: „Das Freikirchentum, die philologisch-kritische Theologie, die Zurückstellung der objektiven Offenbarung hinter dem praktischen religiös-ethischen Lebensgehalt, die alles Geschichtliche in bloße Anregungsmittel verwandelnde Unmittelbarkeit des religiösen Bewußtseins, ein Kult, Zeremonien und Kirche geringschätzender Subjektivismus sind seitdem in das protestantische Kirchentum wie eine den ganzen alten Bestand auflösende Flut unaufhaltsam hereingebrochen. Von einer die gesamte Gesellschaft umfassenden kirchlich-konfessionellen Einheitskultur ist nicht mehr die Rede, und ihre ehemaligen dogmatischen Grundlagen sind sogar innerhalb der Kirchen und der konservativen Kreise selbst in voller Zersetzung" (Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus 28 f). Eben diese Impulse haben sich im Neuprotestantismus weit intensiver modernisierend durchgesetzt als die Kulturwirkungen der reformatori-

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sehen Hauptströmungen und sind mit ihrer Wirkungsgeschichte doch noch immer nicht gleichzusetzen mit der eigentlichen Entfaltungsgeschichte der modernen Neuzeit. 2.2.3. Theorie der Neuzeit und ihres protestantischen Erbes. Der Geist der Neuzeitkultur ist nach neuprotestantischer Theorie das Resultat eines komplexen Entwicklungsprozesses, an dem namentlich die lutherische Reformationstradition nur indirekt beteiligt war. Die Neuzeit verdankt sich zwar auf dem genuin religiösen Gebiet des Glaubens- und Gnadenbegriffs, der religiösen Individualisierung, der Herausbildung einer persönlichen Gesinnungsethik, der faktischen Konfessionalisierung und damit Pluralisierung der Religion (—»Pluralismus) sowie der Profanisierung der „Welt" und des gläubigen Realismus mehr unbeabsichtigt der Vorbereitung durch die Reformation; direkter, wenn auch nur partiell wurde sie hingegen präformiert durch die vor- und nebenreformatorischen Strömungen und deren religiöse Nachfolgebewegungen, durch die religiöse Koalitionsfreiheit, der Schutz persönlicher Glaubensüberzeugung und Gewissenentscheidung in Staat und Gesellschaft rechtlich in Anspruch genommen, staatsfreie, vereinskirchliche Gemeindebildung unabhängig von staats- oder volkskirchlichen Verhältnissen realisiert und damit eine durchsetzungsfähige religiös homogene und kirchlich hegemonialisierte Einheitskultur zugunsten unterschiedlicher Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse definitiv verabschiedet wurden. Aber ihr eigenartiges Profil gewinnt die Neuzeit erst eigentlich aus der Entfaltung einer Eigendynamik heraus, die sich wegen ihrer Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit anders als im kontrastierenden Gegensatz zur vorausgehenden Epoche des Mittelalters nicht beschreiben läßt. Die Neuzeit macht im wesentlichen das aus, was sich durch die „Abhebung gegen die vorausgehenden Perioden" bestimmen läßt: „Es sind wesentlich negative Bestimmungen, wie denn auch die beginnende moderne Kultur vor allem sich durch den Gegensatz gegen das Bisherige neu empfand und in den positiven Neuschöpfungen aufs mannigfaltigste experimentierte" (Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus 9). Die Emanzipationssignatur der Neuzeit läßt sich denn ihrerseits nicht aus einem einheitlichen Konstruktionsprinzip heraus rekonstruieren, sondern gewinnt ihre Konturen erst aus einer idealtypischen „Zusammenfassung der Gegenwart zu einem ihr Wesen charakterisierenden Begriff und die Beziehung dieses Ganzen auf die Vergangenheit als auf eine Gruppe von geschichtlichen Mächten und Tendenzen, die ebenfalls mit allgemeinen Begriffen bezeichnet und charakterisiert werden müssen" (ebd. 6). Es sind vor allem drei Grundtendenzen der neuzeitlichen Entwicklung, die nicht zuletzt das Erscheinungsbild des Neuprotestantismus entscheidend mitgeprägt haben: (1) Die sozialstrukturelle Entwicklung zur Autonomisierung der gesellschaftsinstitutionellen Lebensbereiche wie Familie und Bildungsbereich, Staat und Rechtsleben, Wirtschafts- und Berufsstruktur fand in den aufgeklärten Naturrechtstheorien (-•Naturrecht) ihre zentrale Legitimationsbasis. Damit entstand für die Kulturethik des Protestantismus jenseits seiner herkömmlichen Ständelehre die qualitativ neuartige „Aufgabe einer völligen Neubildung seiner Ethik" (Troeltsch, Luther 228), deren Geltungsrecht nicht mehr auf eine kirchliche Zwangskultur, d.h. „eine Autoritätskultur im höchsten Grade", zurückzuführen war, sondern der gesellschaftlichen Fragmentierung in eine Vielzahl relativ autonomer Lebensbereiche Rechnung zu tragen hatte. (2) Infolge des Autonomiepostulats trat eine durchgehende Individualisierung und Pluralisierung der religiösen und profanen, insbesondere verwissenschaftlichten -»Weltanschauungen, Mentalitäten und Milieus ein, die sich selbst anstelle der alten Autoritätskultur setzten, ohne selbst wiederum ein einheitliches Gestaltungsprinzip zutagezufördern: Infolgedessen besteht auch die moderne Geisteswelt nicht mehr aus einer „einheitlichen großen Partei", sondern aus scharf gespaltenen „Weltanschauungsgruppen" (Troeltsch, Moderner Geist 331 f f ) , zu deren Integrationsmedium und „eigentlichen Leiterin" die undogmatische, antitraditionale, subjektivistisch-kritische, die Wahrheitssuche höher als den Wahrheitsbesitz wertende Reflexionskultur der modernen Wissenschaften (ebd. 313) und zu deren „Systematisierung der neuen Ideenwelt" die Philosophie (ebd. 321 ff) avancierten. (3) Schließlich bedeutet die Immanentisierung des allgemeinen Lebensgefühls, das Pathos der modernen praktischen Welt- und lebensbejahenden Kulturarbeit eine weitgehende Relativierung aller Kulturwerte. Insbesondere die historisch-wissenschaftliche Einsicht in die Bedingtheit alles

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Rationalen führt zur zersplitternden und atomisierenden Wirkung des -»Relativismus: Nicht Wunderoffenbarung und Jenseitigkeit, sondern Kausalität und Innerweltlichkeit dominieren die Lebensrichtung - und zwar aufgrund eines autonomen, Wahrheit und Moralität selbständig hervorbringenden Prinzips; diese reine Diesseitigkeit und Säkularität ist Ausdruck einer Weltbejahung, die sich ihres selbstvertrauenden und fortschrittsgläubigen Optimismus bewußt ist und den Entwicklungsglauben anstelle des obsoleten Sündenpessimismus, des Glaubens an die Welterlösung und a n das Endgerichts präferiert. Daraus wiederum resultiert ein großer Elan zur selbstmächtigen Kreativität der Daseinsgestaltung: „In der modernen Welt tritt uns überall statt der Auflösung eine drängende Fülle von Neubildungen, statt der in Phantasie und Skepsis sich flüchtenden O h n macht eine ungeheure, stets sich steigernde realistische Beherrschung der Dinge entgegen", die schließlich im Autonomieverständnis der Kunst und in den Triumphzügen der modernen -»Technik kulminieren (Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus 18).

Erst unter diesen Bedingungen einer emanzipierten Neuzeit konnte sich der Neuprotestantismus als tatsächliche Fortentwicklung statt bloßer Fortsetzung der Reformation entfalten, als „die Einigung mit dem Prinzip des Individualismus, der Autonomie, der Eigenüberzeugung einerseits und die Einigung mit dem Prinzip der Immanenz des Göttlichen in der Welt, der Selbstwertigkeit der großen Kulturzwecke, des aufsteigenden Werdens durch die relativen Zwecke hindurch im Kampfe mit Sünde und Trägheit in der Richtung auf das vollendete religiöse Lebensziel andererseits" (Troeltsch, Luther 230). Neuprotestantismus ist die den grundlegenden Strukturmomenten der Neuzeit amalgamierte Form des Protestantismus. So manifestiert sich in Troeltschs Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus das Interesse an einer theologischen Modernisierungstheorie, in der sich die Genese und Geltung der neuzeitlichen Kultur in ihrem positiven wie negativen Verhältnis zur Religionsgeschichte des Protestantismus rekonstruiert finden. Sie dient der Beschreibung der Eigenart neuzeitlicher Geistes- und Gesellschaftskultur in ihrem protestantisch mitgeprägtem Erbe ebenso wie der Charakterisierung ihrer eigendynamischen (Weiter-)Entwicklung, die ihrerseits wieder fermentierend auf das Gesamterscheinungsbild des Protestantismus zurückwirkt: Erst „jetzt vollzieht sich jene Verschmelzung des Protestantismus mit den subjektivistisch-individualistischen, dogmatisch nicht autoritativ gebundenen Trägern einer Gefühls- und Uberzeugungsreligion ohne dogmatischen Zwang, mit freier, vom Staat unabhängiger Kirchenbildung und mit einer von allen rationellen Beweisen unabhängigen inneren Gefühlsgewißheit" (Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus 97). Der Neuprotestantismus stellt sich dabei nicht mehr als einheitliche Größe dar, sondern: In der Entkirchlichung der allgemeinen Kultur eine Christentumsauffassung, einschließlich eines protestantischen Kulturideals, zu formulieren und nach Möglichkeit zu verwirklichen, wird nunmehr zur Sache der religiösen Gruppen, die in ihrer Grundprägung konservativ-lutherische, modern-liberale, demokratisch-sozialreformerische, selbst außerkirchlichbildungsreligiöse, kurzum auch alle „freie, kirchlich nicht gebundene protestantische Denkweise derer, die irgend eine neue Verbindung der modernen Kultur und des Protestantismus erhoffen und an ihrem Teil zu erarbeiten streben", mitumfassen (Troeltsch, Protestantismus 1920). Im Rahmen dieser Sichtweise wird die Besonderheit des religiösen und theologischen Neuprotestantismus geschichtlich zusammenfassend als Resultat besonders drei ineinander gehender Entwicklungsprozesse bestimmbar: Der Neuprotestantismus tritt in Erscheinung in der Aufnahme der innovativen Seiten des reformatorisch-religiösen Durchbruchs, in der Integration der nebenreformatorischen Kulturwirkungen sowie in den Fermentierungen und Amalgamierungen protestantischer Religion auf dem Boden einer eigendynamischen, emanzipativen Struktur der Neuzeit. Die moderne Welt selbst ist hingegen „kein einheitliches Prinzip, sondern eine Fülle zusammentreffender, aber auch sich stoßender Entwicklungen, für die bei der Ausgelebtheit der alten Welt Raum geworden i s t . . . Sie ist nicht ein Gegensatz oder eine Abirrung gegenüber der kirchlichen Kultur, sondern deren Nachfolgerin und E r b i n . . . , die nun all das in tausend Mischungen und Kreuzungen zu einem relativ einheitlichen Ganzen zusammenlebt, dessen innere

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Spannungen und Gegensätze doch überall kenntlich sind und immer von neuem aufspringen . . . So bleibt für den Versuch einer positiven Charakteristik, die zu der negativen als Bruch mit der kirchlichen Autoritätskultur hinzutreten will, nur als Möglichkeit, aus den neuen Verhältnissen und Strebungen die beherrschenden Hauptzüge herauszuheben, die untereinander nur durch den gemeinsamen Ursprung im befreiten Individualismus, durch die dagegen als Ordnungsprinzip aufgebotene Regelung der Dinge aus möglichst allgemeinen Begriffen und durch die allmähliche gegenseitige Ausgleichung und Verschmelzung verbunden sind" (Troeltsch, Moderner Geist 334ff). Eben die Summe solcher Bestrebungen sucht Troeltsch mit seiner Begriffskonzeption des Neuprotestantismus zu beschreiben. 2.2.4. Konsequenzen für die Theologie. Troeltsch schreibt der Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus schließlich eine kulturpraktische gegenwartsorientierende Funktion zu, auf die hin er sowohl die (historisch und sozialwissenschaftlich) epistemologische als auch die sozialethische Ausarbeitung der protestantischen Theologie ausrichtet. Die Unterscheidung dient ihm in diesem Zusammenhang der Bestimmung der neuprotestantischen Impulse zur Bewältigung des ambivalenten Charakters neuzeitlicher Problemlagen - sowohl in ihren kognitiv-weltanschaulichen (vermittlungstheologischen) als auch in ihren kulturpraktisch-sozialethischen Dimensionen. Die persönlich-verinnerlichte protestantisch-religiöse Gesinnungsethik mochte wohl der Genese typischer Grundstrukturen der Neuzeit vorgearbeitet und sich in ihr in einem ebenso verwickelten wie widersprüchlichen Prozeß der Auseinandersetzung amalgamiert haben, zeigte sich aber nur selten den eigendynamischen differenzierten Folgeproblemen moderner Kultur und Gesellschaft gewachsen. Aus dem Versuch der „Bemeisterung wechselnder Weltlagen" (Troeltsch, GS I, 986), in denen die Ambivalenz und Krisenhaftigkeit der Neuzeit zum Ausdruck kommen, sah Troeltsch für den Neuprotestantismus nach der definitiven Verabschiedung einer umfassenden Einheitskultur nur noch allgemein als Möglichkeit, sich „auf das Gegebene einzurichten, das allem Anschein nach seine Kräfte noch lange nicht ausgelebt hat, u n d . . . in ihm das Große mit Hingebung zu fördern und die Gefahren mit immer wacher Selbstkritik zu bekämpfen" (Troeltsch, Moderner Geist 337). Im einzelnen zieht er für die Charakterisierung des Neuprotestantismus aus diesem Umstand folgende Konsequenzen: (1) Die grundsätzliche Anerkennung der Unmöglichkeit, die moderne Welt in irgendeiner Weise noch aus einem einheitlichen Prinzip ableiten zu können, bedeutet für die religiöse Dogmatik und Ethik den Verzicht auf alle Bestrebungen zu gemeinverbindlicher Homogenisierung. Theologie und Religion, die sich auf das Gegebene einlassen, weisen einen „realistischen" Grundzug auf, indem sie der Pluralität unterschiedlich möglicher Optionen anerkennend Rechnung tragen. Für die neuprotestantische Theologie als Theorie der gelebten Religion ist damit zugleich die Verpflichtung zu analytisch-diagnostischer Beschreibung ihrer Gegenstände und Themen gegeben; bloß normativ-programmatische, gar doktrinär-autoritative Reklamationen bleiben hingegen unzureichend. (2) Neuprotestantismus trägt gegenüber dem Altprotestantismus einen ausgesprochen argumentativ-diskursiven Charakter, weil er sich an die Evidenz- und Plausibilitätsbedingungen der Neuzeit gebunden weiß. Insbesondere neuprotestantische Theologie unterliegt keinen anderen Regeln als denen, die für die'Wissenschaft allgemein gelten: Sie vertritt die Sache des Christentums in der Form seiner Interpretation; d . h . sie ist inmitten des neuzeitlichen Weltanschauungsstreits an die Evidenz der historischen, sozialwissenschaftlichen (incl. religionstheoretischen) und philosophischen Denkweisen verwiesen. Dadurch ist der konstruktiv-vermittlungstheologische Charakter der neuprotestantischen Theologie bedingt. (3) Angesichts der globalen Gestaltungsherausforderungen moderner Gesellschaftskultur ist neuprotestantische Theologie bestrebt, die (gesinnungsethisch verinnerlichten) christlichen Grundimpulse je nach Konstellation der Problemlagen in eine die „Konsequenz des Gewollten" (Max Weber) konstitutiv mitberücksichtigende Verantwortungsethik zu überführen, um damit die kulturpraktische und sozialethische Handlungsfähigkeit der Christen zu gewährleisten, ohne sie damit zugleich auch auf gemeinverbindliche Konkretionsforderungen einschwören zu können. Insbesondere das Insistieren auf christlich fundierte Persönlichkeits- und Freiheitswerte verlangt die gesellschafts- und kulturkritische Ausarbeitung einer Ethik, die sich gegen alle depersonifizierenden Tendenzen der kapitalistischen, bürokratischen, militaristischen und nicht zuletzt auch fachwissen-

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schaftlich-disziplinären Strukturen der modernen Gesellschaftskultur verweigert (vgl. Graf, Rettung 103ff): »Es bleibt in kommenden Zeiten des Druckes und des Rückganges der Freiheit (sc. durch wirtschaftliche Entwicklung des Kapitalismus mitsamt seiner Sozialen Frage, Militär- und Verwaltungsstaat, vom Spezialistentum dominierte Wissenschaft) vor allem dasjenige, was dem ganzen Bau von sich aus einen guten Teil seiner Kraft gegeben hat, die religiöse Metaphysik der Freiheit und der persönlichen Glaubensüberzeugung, die die Freiheit aufbaut auf das, was keine allzu menschliche Menschlichkeit verderben kann, auf den Glauben an Gott als die Kraft, von der uns Freiheit und Persönlichkeit zukommt: der Protestantismus... Bewahren wir uns das religiöse-metaphysische Prinzip der Freiheit, sonst möchte es um Freiheit und Persönlichkeit in dem Augenblick geschehen sein, w o wir uns ihrer und des Fortschritts zu ihr am lautesten r ü h m e n " (Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus 102f; vgl. Graf, Rettung 103 ff). 2.3. Wirkungsgeschichte:

Fortschreibungen,

Kritik

und

Widerspruch

Troeltschs Begriffskonzeption v o m N e u p r o t e s t a n t i s m u s ist nicht unumstritten geblieben. D a b e i war nicht s o sehr die historisch-fachinterne A u s e i n a n d e r s e t z u n g u m die A n g e m e s s e n h e i t seiner B e d e u t u n g s e i n s c h ä t z u n g Luthers u n d des m o d e r n e n Protestantismus entscheidend (Periodisierungsproblem, Differenzierung des Lutherbildes, N e u z e i t t h e o rie) als vielmehr die K o n s e q u e n z e n , die Troeltsch daraus für die protestantische R e l i g i o n und T h e o l o g i e zog. D i e breite W i r k u n g s g e s c h i c h t e der Troeltsch'schen Konzeptualisierung läßt sich in drei H a u p t t e n d e n z e n z u s a m m e n f a s s e n : (1) In bezug auf positionelle T h e o l o g i e und religiöse Praxis bildeten sich auf Vereinsbasis p r o g r a m m a t i s c h e G e f o l g s c h a f t e n heraus, die sich selbst dezidiert als „ n e u p r o t e stantische" G e m e i n d e b i l d u n g verstanden, dabei freilich in ihrem f r ö m m i g k e i t s p o l i t i schen E n g a g e m e n t w e i t hinter d e m D i f f e r e n z i e r u n g s v e r m ö g e n der Troeltsch'schen Konzeption zurückblieben. Exemplarisch trat etwa die Buxtehuder „Neuprotestantische Vereinigung" mit einem eigenen Glaubensbekenntnis öffentlich hervor: „1. Wir glauben nicht an den Buchstaben der Bibel und der Bekenntnisschriften, sondern an die Lehre Jesu, wie sie in der Bibel und zwar im Neuen Testament enthalten ist. 2. Wir glauben nicht an die Erlösung von dem Zorne Gottes durch den Tod Jesu, wovon dieser kein Wort gesagt hat, sondern an die erlösende Kraft des von Jesus ausgegangenen und ausgehenden Lebens. 3. Wir glauben nicht an die Unfähigkeit des Menschen zum Guten, sondern an die Fähigkeit, das Gute jedenfalls zu wollen. 4. Wir halten dafür, daß der wahre Glaube weder in der Beobachtung von Zeremonien, noch in dem Fürwahrhalten von Glaubenssätzen, noch auch in frommen Gefühlen und in der Enthaltung von gewissen, an sich unschuldigen Dingen, sondern in der rechten Gesinnung und in der daraus hervorgehenden rechten Lebensführung besteht. 5. Unsere Lösung ist demgemäß: Los von der Orthodoxie und von dem pietistischen Wesen und zurück zu der einfachen Lehre Jesu, aber damit Ernst gemacht!... Wir sehen die wahre christliche Gesinnung in dem sittlichen Pflichtgefühle und in dem Gottvertrauen, in dem Wollen des Guten nach dem Gewissen... Wir glauben an Jesus als den Führer der Menschheit zu dem geistigen Leben mit Gott, das hier beginnt und im Jenseits zum ewigen Leben vollendet werden s o l l . . . Demgemäß ist unser Bekenntnis und unser Sammelruf an alle...: Los von dem öden theoretischen und praktischen Materialismus, der den Menschen zum Tiere erniedrigt, und los von den theologischen Streitigkeiten, und zurück unter das Zeichen des Kreuzes in dem rechten Sinne, zurück zu der christlichen Religion als der Religion der Gotteskindschaft und des Sittengesetzes und damit des geistigen Lebens nach dem Gewissen mit Gott, durch Jesus, - aber damit Ernst gemacht!" (Rost, Neuprotestantismus 743 f). (2) D i e Unterscheidungsleistungen d e s Troeltsch'schen Begriffs v o m N e u p r o t e s t a n tismus f a n d e n hingegen b e s o n d e r s in der historischen T h e o l o g i e a n e r k e n n e n d e A u f n a h me u n d weitere Ausarbeitung, u m die in sich mehrdeutige M a n n i g f a l t i g k e i t d e s m o d e r n protestantischen Spektrums als selbständig p r o d u k t i v e Fortschreibung d e s r e f o r m a t o rischen Erbes unter d e n irreversibel generierenden B e d i n g u n g e n der N e u z e i t kultur-, gesellschafts-, religions- u n d theologiegeschichtlich differenzierter erfassen z u k ö n n e n . Den „eigentlich modernen" Protestantismus im Rekurs auf das unmittelbare „allerpersönlichste Vertrauen zu dem persönlichen G o t t " in Abgrenzung zu jedem „Zwangskirchenrum" sehend, folgerte Karl Seil aus der prinzipiellen Anerkennung der individuellen Mannigfaltigkeit des religiösen Lebens methodologisch im Anschluß an Troeltschs Forderung nach einer protestantischen Religionsgeschichte den Schluß, daß die theologische Forschung um das Programm einer undogmatisch-

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empirischen Frömmigkeitsforschung als „konsequenter Anwendung psychologischer und geschichtlicher Prinzipien auf das ganze Gebiet der unmittelbar religiösen Erscheinungen im Christentum" zu erweitern sei. Den dabei eingetretenen Wandel des Konstitutionsmodus modernprotestantischer Religiosität beschreibt Karl Sapper im Zentralbegriff der Erfahrung als Ausgangsbasis aller Rekonstruktion religiöser Welt- und Lebensanschauung jenseits von Dogmatismus und Autoritätszwang. Neuprotestantismus ist „absolut undogmatisches Christentum" (149); zwar hält er am lutherischen Glaubensbegriff fest, gibt aber in Abgrenzung zum Altprotestantismus jede biblizistische Bindung preis: „Wo der Standpunkt des äußerlichen Autoritätsglaubens, kurz gesagt, die Unterwerfung unter den Buchstaben der Bibel als das wesentliche Moment im Altprotestantismus angesehen wird, da muß der Neuprotestantismus als ein Bruch mit jenem empfunden werden" (161 f). Der Konstitutionsmodus der religiösen Erfahrung erweist sich offen gegenüber Zeitströmungen und Einsichtsgründen, mit deren Hilfe orthodoxe Prägungen des Luthertums mit Luther selbst zu korrigieren sind: Der Neuprotestantismus ist also „nicht die Aufhebung, sondern die konsequente Durchbildung und Vollendung des in der Reformation des 16. J h . nur unvollkommen durchgeführten Grundprinzips der christlichen Religion" (162). Auch Horst Stephan sieht das zentrale Merkmal des Neuprotestantismus im unvermittelten, „bewußten und vollen Persönlichwerden des Christentums", in seiner individuell selbständigen Subjekthaftigkeit, die in dem Augenblick zutage trat, als dem einzelnen die gesamte „Fülle christlicher Motive und Gedanken als ein geschlossenes Ganzes" anzunehmen, nicht mehr zugemutet wurde. Dieser Verlust der Gleichartigkeit frommen Erlebens trat im letzten Viertel des 17. Jh. mit dem Pietismus, im 18. J h . mit der christlichen Aufklärung ein. Gemeinsames Kennzeichen der „ersten Kindheitserscheinungen des Neuprotestantismus" war die praktische wie theoretische Wahrnehmung des relativ kirchenunabhängigen Glaubensgewinns und Glaubensausdrucks, allerdings auf verschiedene Weise: Während der Pietismus eine freie, fließende, individuell-subjekthafte, persönliche Vergesellschaftung des religiösen Lebens vertritt, folgt die christliche Aufklärung den individualitätsermöglichenden Vergesellschaftungsprinzipien des geistig-sittlichen Lebens. Einem zentripetalpietistischen Frömmigkeitstyp, der „die Subjektivierung und Verpersönlichung einer bestimmten Gruppe von altprotestantischen Motiven", nämlich der Bibeltradition und Weltdistanz, vertritt, steht im Neuprotestantismus ein zentrifugal-aufgeklärter Frömmigkeitstyp zur Seite, der sich gerade den altprotestantischen Motiven der weltlichen und kulturellen Glaubensbewährung anschließt. Beide Richtungen sind Ausdruck der typisch neuprotestantischen Tendenz zur fortschreitenden Individualisierung des Christentums als Dezentralisation und Entschematisierung seines Glaubens, und beide sind in ihrer jeweiligen Ergänzungs- und Korrekturbedürftigkeit als neuprotestantische Erscheinungen verbunden: „Sich selbst überlassen, würde die eine aus den Höhen des volkskirchlichen, durch die Mittel der Persönlichkeit hindurch alle Seiten des geschichtlichen Daseins erfassenden Lebens in die Niederungen des Sektentums, die andere zur Aufsaugung des Christentums durch ethischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Idealismus führen" (44). Die gleichberechtigten, wenn auch spannungsvollen Anliegen zentripetaler und zentrifugaler Frömmigkeit in produktive Bahnen eines gemeinsamen Glaubenslebens zu lenken, wird so zur Aufgabe einer neuprotestantisch orientierten Theologie: „So ist die Theologie abermals eine Hüterin der Einheit des Protestantismus; aber nicht wie früher durch die Festsetzung der Lehren, sondern durch den Aufweis der besonderen Funktion, aber auch der geschichtlichen Bedingtheit, der Relativität und Ergänzungsbedürftigkeit, die den verschiedenen Verwirklichungen des Christentums inne wohnen" (49). Schließlich thematisiert Heinrich Hoffmann die verschiedenen inhaltlichen Veränderungen der Konstitutionsmodi protestantischer Frömmigkeit im Medium ihres neuzeitgeschichtlichen Bewußtseins: Neuprotestantismus ist für ihn eine spezifische modernprotestantische Gegenwartsorientierung in differenzierter Auseinandersetzung mit der eigenen geschichtlichen Genese; diese ist aber nicht einfach naturwüchsig gegeben, sondern das Resultat bestimmter Rekonstruktionsleistungen, die sich aufgrund ihres Gegenwartsinteresses nicht ausschließlich am Hauptstrom der protestantischen Entwicklung orientieren, sondern diesen selbst erst als Folge einer solchen bestimmten Strukturbildung durchschaubar werden lassen, die nie alternativlos oder gradlinig war, nicht einmal zur Reformationszeit selbst, wie die gegenwärtig zunehmende Anerkennung nebenreformatorischer Strömungen verdeutlicht. Die geschichtliche Strukturbildung ist mit ihrer Berufung auf die Anfänge der Reformation noch nicht als verbindliche Gestalt des Protestantismus hinreichend legitimiert. Neuprotestantismus erscheint denn auch als Form der Vergegenwärtigung von Alternativen innerhalb der neueren Geschichte des Protestantismus und die auf diesem Hintergrund erfolgende Strukturwahl als spezifisch begründete, an den Plausibilitätsbedingungen der jeweiligen Gegenwartsinteressen orientierte Option. Mit der Einbeziehung von Täufertum und Spiritualismus, Aufklärungschristentum und Pietismus, idealistischem Christentum und den freien weltanschaulichen Strömungen des 19. und 20. J h . (vgl. Fittbogen) sucht der Neuprotestantismus auf dem Boden der selbständigen religiösen Wahrheitserkenntnis der protestantischen Selbstbereicherung durch die

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Anverwandlung und Aktualisierung seiner geschichtlichen, nachreformatorischen Ausdrucksmomente zu dienen. (3) O t t o Kunze hat 1926 d a s zeitgenössische „ E n d e des N e u p r o t e s t a n t i s m u s " als distinkt analytischen Begriff festgestellt (66ff). Tatsächlich w u r d e s e i t d e m die Begriffsv e r w e n d u n g diffuser: als p o l e m i s c h e R i c h t u n g s b e z e i c h n u n g , teils identifiziert mit „liberaler" o d e r Vermittlungstheologie, teils als S y n o n y m für Kultur-, Sozial- o d e r Politischen Protestantismus gebraucht, sind die kritischen P o s i t i o n e n w e i t g e h e n d a m neuzeitlichen Religionsbegriff orientiert (vgl. Birkner, B e o b a c h t u n g e n 9 f f ) ; d . h . , sie inkriminieren den t h e o l o g i s c h e n Rekurs auf einen solchen aktualisierten Begriff protestantischer Religiosität, d e m „hinsichtlich der christlichen Lehrtradition die A u f g a b e der Interpretation in der Weise gestellt wird, d a ß es u m die A u s l e g u n g u n d Vergegenwärt i g u n g in e i n e m Bezugsrahmen geht, der nicht selbst Lehre" o d e r Kirchenorganisation ist, s o n d e r n sich auf die faktisch b e s t i m m e n d e n D i m e n s i o n e n der gelebten R e l i g i o n bezieht (ebd. 13). D i e Kritikpositionen ü b e r n e h m e n Troeltschs U n t e r s c h e i d u n g v o n Altu n d N e u p r o t e s t a n t i s m u s , versehen sie aber mit u m g e k e h r t e n Vorzeichen: N e u p r o t e s t a n t i s m u s erscheint n u n als neuzeitlicher „Sündenfall", als M o m e n t der t h e o l o g i s c h e n Verfallsgeschichte. A u s einer historisch-analytischen Kategorie mit systematisch-theol o g i s c h e n K o n s e q u e n z e n w u r d e im Konflikt der t h e o l o g i s c h e n R i c h t u n g s s c h u l e n eine polemische Diffamierungsvokabel. Einwände gegen Troeltschs Auffassung vom Neuprotestantismus erhoben zunächst Vertreter der sog. Luther-Renaissance (K. Holl) und -»Dialektischen Theologie. Mit dem Rekurs auf die normative Bedeutung der reformatorischen Ursprungsgeschichte, in der Luther selbst quer zur Epochenfolge der gesamten Protestantismusgeschichte stehe, sollte die Frage nach der Kulturbedeutung der Reformation kassiert werden. Die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus wird in eine positionell-theologische Antithetik umgeformt, aus der historischen Differenz wird ein Gegensatz des theologisch Unvereinbaren: „Der unüberbrückliche Gegensatz zwischen dem, was man Neuprotestantismus nennt, samt dem modernen Geist auf der einen Seite und den Reformatoren und ihrem Protestantismus auf der anderen Seite" (Gogarten, Glaube 25; vgl. Birkner, Neuprotestantismus 12). In der historischen Differenz legt sich zugleich die systematisch-theologische Unterscheidung zwischen dem theonomen Freiheitsbegriff der Reformation und dem neuzeitlichen Autonomieverständnis aus (W. Pannenberg). Da zugleich der Protestantismus der Reformatoren als der „eigentliche" Protestantismus gilt, dem unbestritten Authentizität eignet, meint die Abwertung des Neuprotestantismus zugleich die programmatische „Rückwende zur integralen Gestalt des Anfangs". Nicht mehr die historische Differenz zwischen Reformation und Orthodoxie ist von Interesse, sondern die systematische Orientierung an der reformatorischen Theologie als der normativen Theologie eines Ursprungs, der seinen Folgen prinzipiell überlegen und darum auch f ü r die Gegenwart und Z u k u n f t richtungweisend und verpflichtend bleibt (K. -»Barth, F. - • G o g a r t e n , R. -»Bohren). Die strukturelle Differenz zwischen Neu- und Altprotestantismus wird also beibehalten, nunmehr aber programmatisch mit einem negativen Vorzeichen versehen: Mit ihm ist der Anspruch prinzipieller Abkehr vom Neuprotestantismus als nachreformatorischer Abfallsgeschichte verbunden, ohne d a ß die Voraussetzungen der Unterscheidung vom Altprotestantismus n a m h a f t gemacht würden. So kann schließlich die vorbehaltlose Gleichsetzung des Neuprotestantismus mit dem Typ einer liberalen Vermittlungstheologie erfolgen, der als Versuch der „Versöhnung zwischen modernem Denken und Christentum" gilt, dem der Altprotestantismus der Reformation als „das reformatorische Verständnis der biblischen Botschaft" gegenübersteht. Neuprotestantismus wird hier auf seine reine theologische Richtungsbezeichnung reduziert und darin als symptomatisch für die Abfalltendenz der Neuzeit überhaupt herausgestellt (E. Hübner). In ähnlicher Weise wird von konservativ-lutherischer Seite (H. Lembert, R . H . Grützmacher) die in Troeltschs Neuprotestantismusbegriff vorausgesetzte Legitimität der Neuzeit unter Verweis auf ihren synkretistischen, nicht aber eigentlich eigenständigen Charakter dezidiert bestritten, der jedoch durchaus in der reformatorischen Erneuerung des Gedankens einer übergeschichtlichen Offenbarung in geschichtlicher Form zum Ausdruck gekommen sei. Damit wird aber die Historisierung der wahrheitstheoretischen Fragestellung, die sich in der Geschichte des Protestantismus als zentrales Kennzeichen des Neuprotestantismus herausgearbeitet hat (K. Leese), zugunsten theologischer Selbstimmunisierungstendenzen preisgegeben.

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Neuprotestantismus

3. Gegenwärtige systematisch-theologische

Bedeutung

Das Verständnis des Neuprotestantismus dient über programmatische Beschreibungen von Frömmigkeitspositionen hinaus in einem distinkten Sinne auch als eine Art Transzendentalisierungskategorie des modernen Protestantismus: Mit ihm soll das eigenartige Konstitutionsprinzip des neuzeitlichen Protestantismus durch die Klärung seines wissenstheoretischen Konstruktionsprinzips erhellt werden. Mit der Logik seines Zustandekommens, seiner Struktur- und Relationsbildungen wird zugleich seine gesellschaftsgeschichtliche und gesellschaftspraktische Entfaltung unter den jeweiligen Plausibilitätsbedingungen thematisch - als Frage nach den identitätsverbürgenden Konstituenten des Protestantismus inmitten der Mannigfaltigkeit seines neuzeitlichen Erscheinungsbildes. Stichproben des heutigen Sprachgebrauches belegen denn auch, daß mit „Neuprotestantismus" im affirmativen wie pejorativen Sinne alle theologischen Bemühungen bezeichnet werden, die in ihren Vermittlungs- bzw. Kontextualisierungsprogrammen ausdrücklich auf gesellschaftskulturellen Differenzierungsgewinn zielen und entsprechend auf Ergänzungs-, Komplettierungs- oder Transformationsansprüchen gegenüber der reformatorischen Ursprungsgeschichte, der Authentizität des Anfangs bestehen. Als solcher umfaßt der Neuprotestantismus auch solche neuzeitlichen Ausprägungen des Protestantismus, die zwar seine bestimmenden Strukturmerkmale aufweisen, nicht aber unbedingt auch dessen positionelle Anliegen teilen. Neuprotestanische Grundzüge können in diesem Sinne auch neuprotestantismus-kritischen Positionen eignen. Als systematisch-theologischem Begriff ist dem Neuprotestantismus eine Doppeldeutigkeit zueigen, die aus seiner positionell-polemischen wie aus seiner analytisch-kategorialen Beschaffenheit herrührt; er fungiert ebenso als theologisch-positionelles wie epistemologisches Programm. 3.1. Religionstheorie Als Religions- und Kirchentheorie beschreibt er die neuzeitspezifische Tendenz zur Entkirchlichung und Entdogmatisierung protestantischer Religion, thematisiert somit die Konstitutionsprobleme der Religion ebenso wie spezifische Probleme ihrer Institutionalisierung im Kontext der neuzeitlichen Weltanschauungsproblematik und kulturellen Geistesverfassung: In der Tendenz vom Kult zur Kommunikation spricht sich der prinzipielle Abschied vom supranaturalistischen Kirchenverständnis aus, und es werden die charakteristischen Prozesse der Entsakramentalisierung, Entklerikalisierung und Enttraditionalisierung von Religion analysiert, der Verlust an sozial allgemein gestützter, „matisch"-transzendenter, geschichtlich autoritativ geltender Tradition. In der Tendenzanzeige „Von Tradition und Dogma zur Argumentation" werden Kontinuität, Konsistenz und Konsens protestantischer Religiosität auf eigentümliche Weise problematisiert: Kontinuität, die sich nicht selbstverständlich einstellt, sondern die Übereinstimmung mit den historisch-kritisch erhobenen Beständen der Ursprungsquellen durch Einsicht in die Konstitutionsbedingungen des Glaubens selbst gewinnt, wobei die Glaubensgrundhaltung oft den Vorrang gegenüber einzelnen Glaubensinhalten erhält; Konsistenz meint dann das (hermeneutisch) begründete Einverständnis mit den Quellen; Konsens ist die Weise der wechselseitigen Vergewisserung über die Gemeinsamkeit des Glaubensgrundes bei Anerkennung der Differenzen im Glaubensausdruck. Im Prozeß der De-Institutionalisierung protestantischer Religion wird schließlich der Umschlag von religiöser Systemkonformität zur Subjektorientierung zum Thema, bei dem die organisierte Religion der Kirche konsequent im Sinne von CA VII unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit ihrer funktionalen Auftragserfüllung betrachtet wird, und es auf dieser Grundlage nur noch zu verbindlichen Aussagen über ein „kirchenorganisatorisches Minimum" kommt (Trillhaas 13). Ausdruck dieser Einsicht ist Troeltschs These von der christlichen Gleichursprünglichkeit der religiösen Organisationstypen -»Kirche, -»Sekte und -»Mystik als möglicher Sozialtypen geschichtlichen Christentums. Damit gerät auch ein Protestantismus „außerhalb der Kirchen" in einen für die systematisch-theologische

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Reflexion bedeutsamen Rang. Die Kehrseite ist der beschriebene Prozeß der Individualisierung und Subjektivation von Religion, der zugleich als Inbegriff einer libertas christiana gilt, in der sich christliche Verantwortung erfüllt: „Der protestantische Mensch ist der aus der Vormundschaft der Kirche entlassene Mensch" (Trillhaas 19), was jedoch keine prinzipielle Negation von Kirchlichkeit, wohl aber eine Flexibilisierung von Zugehörigkeits- und Partizipationsmöglichkeiten bedeutet (vgl. P.L. Berger). Darin ist die Neubestimmung des Religionssubjektes einbeschlossen: seine Konstitution durch Erfahrung, sein Ethos der Wahrhaftigkeit und seine Entfaltung durch selbstverantwortete Relationierung, jeweils auf der Grundlage des neuzeitlichen Autonomieanspruches. 3.2. Theologische Wissenschaftstheorie Als theologische Geschichts- und Wissenschaftstheorie erhebt der Neuprotestantismus die Historisierung und Verwissenschaftlichung des religiösen Bewußtseins zum Thema und sucht darin die Möglichkeitsbedingungen neuzeitlicher Theologie zu klären; im Zentrum stehen hier die Konsequenzen aus der Unhintergehbarkeit der Erkenntnis als wissenschaftlicher und die Nötigung zu neuschöpferischen Leistungen, deren die religiöse Gestaltwerdung des modernen Protestantismus unter veränderten Kulturbedingungen bedarf: Anstelle der Suche nach imitativer Ursprungstreue und der Absolutsetzung einer religions- bzw. kirchengeschichtlichen Ursprungssituation tritt die Einsicht in die Veränderlichkeit, Unabgeschlossenheit und Pluralisierung geschichtlicher Glaubensmanifestationen. Der Glaubensausdruck kann unter legitimer Berufung auf seinen Glaubensgrund ohne Legitimitätsverlust historisch und sozialkulturell variieren. Glaubensmanifestation erscheint hier als kreative Reaktion auf unterschiedliche Lebenskonstellationen: Konstruktion statt Traditionstreue, Kreativität statt Kopie; Pluralität statt Glaubensmonismus. Z u einem mitbestimmenden Maßstab der kreativen Verwirklichung des Glaubens wird seine „Kompatibilität" oder „Wahlverwandtschaft" mit dem wissenschaftlichen Weltbild, das in Abkehr vom supranaturalistischen Weltbild als Inbegriff der Wahrhaftigkeitshaltung und des Wahrheitsbewußtseins gilt, dem jedoch - dem neuzeitlichen Wissenschafts- und Wahrheitsbegriff entsprechend - prinzipiell nur noch Annäherungswert zukommt. Dem entspricht ein historisches Selbstbewußtsein des Glaubens, das sich nicht objektiv absolut setzt, sondern seine Gewißheit aus der Einsicht in die Relativität und Reflexivität des erreichten Glaubensstandes ableitet, d. h. hinsichtlich der differenzierten religiösen Bestände sich der Selbstbegrenzung und seiner diskursiven Begründungspflicht bewußt bleibt. 3.3. Kulturpraktische Sozialethik In kulturpraktisch-sozialethischer Hinsicht steht die Überzeugung von der Entsakralisierung und Profanisierung der Welt und damit sowohl die Begründungs- als auch die Vermittlungsproblematik der Ethik im Zentrum der neuprotestantischen gesellschaftstheoretischen und ethischen Denkweise: Der Neuprotestantismus sucht der „Profanisierung" und Säkularisierung von Beruf, Ehe, Staat, Wissenschaft, Recht und Kultur aufgrund der prinzipiellen Anerkennung von irreversiblen Folgen eines neuzeitlichen gesellschaftsgeschichtlichen Differenzierungsprozesses zu relativ autonomen Lebenssegmenten der Gesellschaftskultur Rechnung zu tragen. Anstelle von ideologischen Gesamtanschauungen treten Ansätze zu lebensbereichsspezifischen Ethiken (Güterethik), eine Grundeinsicht, die vor allem in funktionalen Differenzierungstheorien der gegenwärtigen -»Religionssoziologie des Protestantismus ihr strukturanalytisches Pendant findet (vgl. H. Lübbe). Der Neuprotestantismus weist darüber hinaus eine Strukturverwandtschaft zum Typ der -»•Vermittlungstheologie auf, indem er die Nötigung der Glaubensentäußerung an Ausdrucksmittel der Kultur voraussetzt, die ihrerseits wiederum als Resultat verschiedener Vermittlungs- und Kompromiß-Leistungen anzusehen sind und nicht etwa als Folge des Versuchs, „Welt" in verbindlicher Weise zu resakralisieren. Dies hat zur Konsequenz, d a ß Vermittlungsresultate, einschließlich des jeweiligen Erscheinungsbildes

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der organisierten Religion, immer nur als vorläufige und vorlaufende Übergangsphänomene bewertet werden können. Die relative Besonderung der Religion wird d a m i t in ihrem historischen Indigenisationscharakter ebenso deutlich wie in ihrer kritisch-utopischen Funktion - Kirche e t w a als Institution der Freiheit unter Bedingungen der Unfreiheit oder als ideale Kommunikationsgemeinschaft unter kommunikationsverhindernden und -hemmenden Voraussetzungen etc. D e m Neuprotestantismus ist d a m i t ein kulturkritisches M o m e n t eingestiftet, das mit einem pauschalen Vorwurf der „ K u l t u r a n g e p a ß t h e i t " nicht o h n e weiteres zu verrechnen ist. Auf diesem Hintergund fragt der Neuprotestantismus schließlich nach dem protestantischen Beitrag zur Humanisierung der Welt aus religiöser Glaubensmotivation heraus, strebt aber nicht die Remissionierung der Gesellschaftskultur im Sinne ihrer Integration in eine aparte Identitätsgestalt bestimmter Religiosität an. A u f diese Weise sucht er Weltsolidarität mit dem Geltendmachen des eschatologischen Vorbehalts dialektisch zu verbinden. Diese Figur einer „ E t h i sierung des C h r i s t e n t u m s " hatte bereits R o t h e in Auseinandersetzung mit der Neuzeit exemplarisch vorgebildet und wird gegenwärtig immer wieder unter dem p r o g r a m m a tischen Stichwort des Neuprotestantismus neuakzentuiert: Im Anschluß an Paul Tillichs F o r m e l v o m „Protestantismus als kritischem und gestaltendem Prinzip" bestimmt e t w a W . D . M a r s c h die protestantische Auffassung von den ethischen Impulsen christlichen Glaubens als religiös-neuprotestantisches Bewußtsein von der „ G e g e n w a r t des neuen Seins . . . unter den Bedingungen der E n t f r e m d u n g " (271). Literatur Karl Barth, KD 1/2, 304ff. - Ders., Die prot. Theol. im 19. Jh., Zürich 1946. - Hasko v. Bassi, Otto Baumgarten. 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Volker Drehsen Neuscholastik -»Scholastik Neuseeland I. Religionsgeschichte II. Christliche Kirchen

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I. Religionsgeschichte (Literatur S. 388)

1642 entdeckte Abel Tasman, ein Holländer, im Südpazifik ein neues „Zeeland". 1769 erkundete Captain James Cook die beiden großen Inseln, die 1840 als „New Zealand" britisch wurden. Dort siedelten Polynesier, deren Vorfahren wahrscheinlich zwischen 1200 und 1400 eingewandert waren. Seit sie Weiße gesehen hatten, nannten sich die Polynesier Mäori, d.h. „gewöhnliche" oder „normale" Menschen. 1840 landeten die ersten Siedlerschiffe aus Großbritannien. Es kamen immer mehr. 1858 waren von 100 Einwohnern nur noch 48 Maori, 1874 nur noch 13, 1896, auf dem Tiefpunkt, waren es nur noch 5. Doch allmählich stieg ihre Zahl wieder an: 1981 zählte man bereits 12 Maori unter 100 Neuseeländern. Die neuen haben die alten Einwanderer verdrängt. Die Mehrheit der Weißen hält allein ihre Werte für maßgebend. Dem mußten die Maori sich fügen, oft widerwillig,

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was dazu führte, daß sie weniger gefördert, weniger gebildet, weniger wohlhabend wurden als ihre weißen Landsleute. Spannungen zwischen Mehrheit und Minderheit lassen sich auch im religiösen Leben nicht vermeiden. Neuseeland sei, so heißt es, eine christliche Nation. Die Kirchen der Weißen unterscheiden sich nur unwesentlich von ihren Mutterkirchen in Europa. Die polynesische Minderheit aber hat sich dem religiösen Vorbild der Europäer nur bedingt angepaßt. Politisch fordern Maori die Gleichberechtigung ihrer Kultur in der Gesellschaft. Sie fordern zugleich die Würdigung ihrer Religiosität innerhalb der christlichen Religion. Wie haben sie das religiöse Ziel erreicht, bzw. wie gedenken sie es zu erreichen? Keine Antwort erhalten wir von Maori, die sich auf eine der beiden Seiten schlagen. Manche reden wie weiße Christen, wenn sie Maori-Religiosität als „Unglauben", „Heidentum", „Teufelswerk" zurückweisen. Andere lehnen, zusammen mit vielen Weißen, jedwede Religiosität ab als „Illusion" oder „Opium". Vermutlich gibt es auch Maori, die dem Glauben ihrer Väter treu sein wollen und sich deshalb dem Christentum verweigern. Indessen, die Mehrzahl der Maori erlebt ihr Christ- und Maorisein als schmerzlichen Zwiespalt. Ein Teil der Mehrzahl hat den Schmerz nicht ausgehalten: Sie haben das fremde Christentum maorisiert und einheimische Kirchen gegründet. Der andere Teil der Maori hat sich trotz allem Kirchen aus Übersee angeschlossen. Dort suchen sie sich einen Rahmen zu schaffen, in dem die weiße Mehrheit ihnen erlaubt, zugleich Christ und Maori zu sein. Was viele wollen, hat einer so ausgedrückt: „Ich muß mit Weißen zusammen zur Schule gehen, ins Kino, in die Kneipe, zur Arbeit, muß sogar sehen, wie meine Söhne weiße Frauen heiraten. Aber mit ihnen zusammen Gottesdienst halten, das muß und das werde ich auch nicht" (Schwimmer 51). In Neuseeland begann die Geschichte des Christentums am Weihnachtstag 1814, als Maori an der Bay of Islands Samuel Marsden, er war aus Sydney herübergekommen, wo er die anglikanische Gemeinde betreute, predigen sahen. Den Maori hat er bedeutet: Falls sie Missionare gut aufnehmen, würden sie bekommen, was es in Neuseeland noch nicht gab, Äxte aus Stahl usw.; andernfalls würde der Gouverneur aus Sydney viele Soldaten schicken, um sie alle zu töten (J.R. Eider [ed.], The Letters and Journals of Samuel Marsden 1765-1838, Dunedin 1932, 98). Die Missionare wurden gut aufgenommen und die Maori haben Eisenwaren, Gewehre u.a. eintauschen können. Anglikanischen Missionaren sind 1822 methodistische und 1838 katholische gefolgt. 1840 schloß der erste britische Gouverneur von Neuseeland mit den Führern vieler (doch nicht aller) Maori-Stämme in Waitangi einen Vertrag, in dem die Maori der britischen Krone die Regierungsgewalt übertrugen. Dieser Vertrag war das Werk britischer Missionare (die katholischen waren Franzosen und Gegner des Vertrages). Nie wieder haben Maori weißen Christen so vorbehaltlos vertraut wie zu jener Zeit. Sie wurden enttäuscht. Bis zum heutigen Tag fordern sie die Einhaltung von Versprechungen aus dem Vertrag von Waitangi. 1837 hatten Anglikaner das Neue Testament in die Maori-Sprache übersetzt und es drucken lassen. Um an eines zu gelangen, haben Maori weder lange Wege noch stattliche Preise gescheut. Bis 1845 hatten sie an die 100.000 Übersetzungen eingetauscht. Auf dieselbe Zahl schätzte man damals die gesamte Maori-Bevölkerung. Die Weißen beeindruckte, mit welchem Eifer die Maori lesen lernten. In manchen Dörfern haben sie sich damals kaum noch redend unterhalten, sondern indem sie auf Schiefertafeln schrieben. Worum ging es ihnen? Dinge aus Europa hatten ihre Religion ins Wanken gebracht, noch bevor viele Europäer unter ihnen lebten. Mit Schiffen waren fremde Pflanzen und Tiere ins Land gekommen. Für den Handel mit Weißen bauten Maori Kartoffeln und Weizen an, zogen sie Schweine und Rinder groß. Bisher war ihr ganzes Leben von Religion durchwirkt gewesen. Ohne religiöses Handeln, ohne machtvolle „Gesänge" (Karakia) ging nichts. Verstört entdeckten sie, daß ihre „Gesänge" versagten, sobald sie es mit Europäischem zu tun bekamen. Folglich suchten sie in der Bibel die machtvollen Sätze der Weißen.

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Vergeblich, weshalb manchen der Verdacht kam, die Missionare würden das Eigentliche der neuen Religion vor Maori geheim halten. Bisher hatten sie ihre Kultplätze {Abu) wie ein Stück Jenseits sorgsam von Diesseitigem abgegrenzt, da bereits Achtlosigkeit Tapu des Heiligtums auslöschen konnte. Weiße Siedler kümmerten sich darum nicht. Durch sie und die neuen Haustiere wurden die Kultplätze im Lande in kurzer Zeit unbrauchbar. Missionare erkannten, wie fremd den Maori die allgemeine Sündhaftigkeit des Menschen, die „gerechte Qual der Schuld" war. „Es gibt kein Verlangen nach Christus, bis nicht die Fesseln der Sünde und Satans den Geist peinigen. Ich glaube, zur Zeit gibt es nicht einen Eingeborenen auf der ganzen Insel, der die Last der Bosheit spürt." So schrieb ein Missionar 1829 an seine Oberen in England (Binney 153). Ein erster Maori hatte sich 1825 auf dem Sterbebett taufen lassen, ein zweiter 1828. Doch dann, als sie sahen, wie die alte Religion immer mehr verlor und die neue unwiderstehlich schien, lenkten sie ein. Seit 1850 ist so gut wie jeder Maori getauft. Mit ganzem Herzen waren sie Christen, freilich auf ihre Art. Missionare hatten sie z.B. gelehrt, den Feiertag zu heiligen. Sie taten es ohne Abstriche. Ein Missionar berichtete, wie an einem Weihnachtstag 4.000 bis vor kurzem heidnische Barbaren zum Gottesdienst versammelt waren, während 700 weiße Einwohner der Stadt Wanganui den Feiertag beim Pferderennen zubrachten. 1845 hatte es eine erste militärische Aktion gegen die Briten gegeben. Sie endete mit einem Überraschungssieg britischer Soldaten, die angriffen, als die Maori Sonntagsgottesdienst feierten. Solche Erfahrungen lehrten sie bald erkennen, wie die „Weißen eine heilige Regel nach der anderen brachen... und dennoch erfolgreich waren, und der Zorn ihres Gottes zur Vergeltung nicht ausreichte. Sie sündigten zum eigenen Vorteil und gewöhnlich zum Nachteil des Eingeborenen" (Anderson 89). Die Europäer hatten ihre Heimat für ein besseres Leben verlassen, in Neuseeland wollten sie ihr Glück machen. Die meisten wollten Land besitzen. Einfach nehmen konnten sie es nicht, Land gehörte immer irgendeiner Maori-Sippe. Um genau zu sein: die Maori gehörten ihrem Land, nicht umgekehrt. Ahnenland gab ihren Sippen -*Mana, es besaß religiösen Wert. Dennoch fanden weiße Siedler Mittel und Wege, Maori-Land zu erwerben. Als die Maori schließlich keines mehr abgeben wollten, kam es 1860 und 1863 zum Krieg. Die Maori wurden besiegt. Danach hat man sie als Rebellen verurteilt und zur Strafe ihr Land beschlagnahmt. 1928 widerlegte eine unabhängige Kommission die Anklage: Die Maori hatten damals nicht rebelliert. Angegriffen, haben sie lediglich ihr Leben verteidigt. Daraufhin wurden sie mit Geld entschädigt für Land, das sie um keinen Preis verkauft hätten. Bereits 1855 hatte der erste anglikanische Bischof die Kolonisten in einem Hirtenbrief beschwörend auf das Gebot „Du sollst nicht begehren" und auf das Beispiel Ahab hingewiesen. Denselben Bischof haben Maori später, im Krieg, einen „Mietling" genannt, weil er seine Schafe allein ließ, als sie in Gefahr kamen. Er war zugleich der Militärbischof, und die Maori hörten, wie er britische Soldaten, die gegen sie zu Felde zogen, gesegnet und ihren Sieg erbetet hat. Seither vertrauten immer weniger ihren Missionaren, die beteuerten, Gott liebe die Maori, sie wären seine Kinder. Die Missionare lehrten auch, daß ohne Zutun Gottes noch nicht einmal ein Sperling auf die Erde falle. Die Maori folgerten, Gott müsse gewollt haben, daß sie Ahnenland und Mana verloren, daß Tausende an eingeschleppten Seuchen starben. Ihre angestammte Auffassung von Liebe (Mäori Aroha) machte sie blind für die Erklärung der Missionare, Gott züchtige jene, die er liebhat. Als mit ihrem Mana ihr Lebenswille dahinschwand, bekundeten auch fromme Weiße, im Aussterben einer ganzen Rasse den Willen Gottes zu erkennen. Regierung und Kolonisten blieb nurmehr, das Sterbekissen der Maori zu glätten. Doch ganz verschwunden sind sie nicht. Als ihre Not am größten war, hat Gott sich ihnen unmittelbar, d.h. unter Umgehung europäischer Theologen, zugewendet und

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Maori-Propheten berufen. Diese Rolle nahmen sie aus dem Alten Testament auf, weil es auch hier wieder um Unrecht ging, um Unterdrückung der Schwachen und, vor allem anderen, um „das Land". Die Propheten der Maori redeten von ihrem Volle als von den „neuen Juden": „Wir sind Israel." Um nicht gegeneinander ausgespielt zu werden, ahmten Maori die Briten nach und wählten einen Maori-König (Ktngt), der seither im Namen vieler (doch nicht aller) Stämme spricht. Ihr erster König verbot, noch mehr Land zu verkaufen. Den zweiten haben britische Truppen 1863 angegriffen und in blutigen Kämpfen vertrieben. Ihn hatte der Prophet Te Ua gesalbt. Uber seine Berufung 1862 notierte Te Ua: „Damals kam Gottes Botschaft der Liebe zu seinem vergessenen und verlassenen Volk" (P. Clark, ,Hauhau', Auckland 1975, 116). Nach der Niederlage des Königs kämpften Guerilleros im Namen von Te Ua weiter. 1866 gefangen, haben die Briten den Propheten, der jetzt sein Mana verloren hatte, im Lande herumgezeigt. Bald danach starb er. Ein Prophet folgte dem anderen. Den christlichen Maori dienten im Konflikt mit den christlichen Briten ihre Propheten als Nabelschnur zum neuen Gott. In einem Kriegsgefangenenlager erlebte Te Kooti 1867 seine Berufung: „Sprich meine Worte! Überbringe sie meinem Volk! Sprich meine Worte und nur meine Worte!" (Monthly Review, Wellington, 1 [1889] 176). Der Prophet mußte General werden. 1868 leitete er einen Massenausbruch, danach kämpfte er jahrelang an der Spitze religiöser Partisanen und wurde nie besiegt. Das Land der Maori blieb dennoch verloren. Andere Propheten gingen deshalb andere Wege. Die militärisch Unterlegenen führte Te Whiti in Parihaka an: „Der Herr wird die Pläne der großen und tückischen Männer zuschanden machen. Das Böse wird keinen Bestand haben." (Bernard Gadd, The Teachings of Te Whiti o Rongomai, 1831-1907: JPS 75 [1966] 449). Er und seine Gefolgschaft widersetzten sich gewaltlos doch hartnäckig, worauf die Staatsmacht 1881 mit militärischen Mitteln reagierte. Weil nichts die Weißen bewog, Maori-Land wieder herauszugeben, verkündete Kenana Rua eine allerletzte Hoffnung: Für einen enormen Gewinn würden die Siedler das Land zurückverkaufen. Den mittellosen Maori wird Gott mit einem Wunder helfen: Der König von England bringt das nötige Geld nach Neuseeland. Daraufhin verschleuderten sie hoffnungsvoll ihre letzte Habe an weiße Nachbarn und warteten am 26.6.1906 im Hafen von Gisborne auf den Heilbringer aus England. Als er nicht kam, führte der Prophet einen Rest in ein „Neues Jerusalem" im Urewera-Gebirge. Die Zeit der Propheten ging zuende, als sich eine erste große Maori-Kirche etablierte. Sie entstand in den Kriegslagern Te Kootis und wird Rittgatü genannt („erhobene Hand", ein Gebetsgestus nach Ps 141,2). 1981 zählte sie 5.768 Mitglieder. Gottesdienst feiern sie auf Maori-Art: einmal im Monat, in einem Versammlungshaus, zur Nachtzeit, mit auswendig gesprochenen Texten und einem Liebesmahl zum Abschluß. Ihr Abendmahl ist entmaterialisiert. Bevor die Maori Christen wurden, haben sie Menschen verzehrt, selten aus Hunger, öfter aus Feindeshaß. Heute sträuben sich vielen Geist und Magen bei den Einsetzungsworten. Ihre Propheten ließen die Maori hoffen, daß Gott sie nicht verstoßen hatte: Als Volk starben sie nicht aus. Um 1900 kam ihnen Hilfe aus entgegengesetzter Richtung. Die sog. Young Maori Party, wenige Juristen, Ärzte, Pfarrer, alle aus dem anglikanischen Te Aute College, vermittelten ihrem Volk Segnungen der Weißen. Seither starben weniger Maori als geboren wurden. Doch weil alte Methoden neue behindern, setzte die Young Maori Party z.B. 1907 ein Gesetz durch, das traditionellen Priesterheilern (Tohunga) zu wirken verbot. Gegen sie predigte auch der Wunderheiler Wiremu Tahu Potiki Ratana. Am 8.11.1918 hatte er den heiligen Geist sagen hören: „Ich bin nach Neuseeland zurückgekehrt, um dich, das Volk der Maori, zu erwählen" (J.M. Anderson, Ratana, Wellington 2 1972, 25). Zum Sprachrohr (Màngai) für das ganze Land war er berufen mit dem Auftrag, alle Maori zu einen (was weder Königen noch Propheten gelungen war). Die Kunde von Ratanas Heilungswundern drang bis nach Europa. Mit kranken Weißen hat er

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korrespondiert, mit kranken Maori hat er gesprochen und sie vor der alten Religion gewarnt. Über die alten Götter (Atua) machte er Witze, gegen die Priesterheiler kämpfte er an. Der anglikanische Bischof sprach begeistert von Ratana. Später freilich brachen die Anglikaner mit Ratana der biblischen Engel wegen, die europäischen Theologen wenig, Maori aber viel bedeuten. Pfingsten 1925 stiftete Ratana eine separate Kirche, die nach ihm benannt wird. 1981 gab man ihre Mitgliederzahl mit 31.533 an. Zentrum ist das Dorf Ratana, wo man nur ein Gebäude findet (dort sind von Geheilten abgelegte medizinische Prothesen ausgestellt), das auf traditionelle Maori-Art geschmückt ist. Im Gegensatz zur Kirche Ringatü gibt die Ratana-Kirche europäischem Christentum viel mehr Raum, indem sie viel mehr Maori-Traditionen verwirft. Dennoch vermittelte Ratana den Gläubigen religiösen Sinn, den sie als Maori in Kirchen der Weißen nicht gefunden haben. Die Young Maori Party trug mit Gesundheitsprogrammen und Sozialarbeit viel zur physischen Belebung ihres Volkes bei. Aber je mehr sich die Maori den Weißen anglichen, desto weniger blieben sie Maori. Deshalb hatte einer ihrer Führer ihnen 1920 zugerufen, sie sollten festhalten an ihrem Mäoritanga. Das Wort heißt „ M a o r i t u m " ; es gab den Anstoß für ein Programm kultureller Identitätssuche. Seit den 20er Jahren haben sie immer mehr Maoritum festigen können. 1926 wurde in Rotorua eine Regierungsschule gegründet, in der man die alte Maori-Kunst am Leben erhält. 1925 wurde die MaoriSprache akademisches Fach, 1945 Wahlfach an Oberschulen, 1947 wurde sie offiziell anerkannt, d. h. förderungswürdig. Seither sendet der Rundfunk, inzwischen auch das Fernsehen, ein Maori-Programm. Die Kirchen der Anglikaner, Katholiken, Methodisten, Presbyterianer gaben dem heftigen Verlangen nach Maori-Priestern und Maori-Gottesdiensten nach. Presbyterianer und Anglikaner waren mit separaten Maori-Synoden einverstanden, einen anglikanischen Maori-Bischof für ganz Neuseeland gibt es seit 1928. Manchmal könnte Maoritum dem Christentum weiterhelfen. Etwa bei der Frage: Was kommt zuerst, Verbindendes oder Trennendes? „ Ö k u m e n e " übersetzen Maori mit Whaka-wbätiaunga, „zur Familie werden" (mit Christus als Stammvater). Liebe (Mäori Aroha) vereint die Großfamilie (Whänau), zerstrittene Familien müßten ohne Aroha leben, was Maori sich kaum vorstellen können. Konfessionsgrenzen gelten als typisch europäisch. Maori-Theologen aus allen möglichen Kirchen halten wie selbstverständlich gemeinsam Maori-Gottesdienste bei Trauerfeiern (Tangihatiga), Stammestreffen {Hui) und wo immer sonst Maori zusammenkommen. Manchmal stehen Maoritum und Christentum scheinbar ohne Beziehung nebeneinander. Am 23.5.1966 nahm Neuseeland Abschied vom Maori-König Koroki. Den Trauergottesdienst hielten drei protestantische und ein katholischer Theologe. Gleichwohl hat man, weil ein Wolkenbruch nicht enden wollte, einen Stammesältesten gebeten, ein Karakia an den Herrn über Wolken und Winde (Täwhirimatea) zu rezitieren. In der Würdigung des Verblichenen (Maori richten Grabreden an die Toten, die, wie sie annehmen, zuhören) wurde dargelegt, wie die Seele des Königs, auf dem Weg zum höchsten Himmel (Toi-o-nga-rangi) in den heilenden Wassern des (Gottes) Täne rein werde. „Zieh fort, Erhabener, zur Wohnstatt im grenzenlosen Himmelsraum (Te Rauroha i te Rangt). Dort weile beim höchsten Wesen lo und seinen Mitgöttern Rehua und Puhaorangi, dort, wo die höchsten Häuptlinge (Ariki) Ruhe finden" (An Eulogy by Te Paki o Matariki on the Passing of King Koroki: Te Ao H o u 56 [1966] 6). Manchesmal entsteht Neues aus dem Gegensatz von Maoritum und Christentum. M a n u k a Henare, ein Katholik, und Reverend Ruawai Rakena, ein Methodist, stellten 1981 bei einer theologischen Konsultation in Manila ihren Entwurf für eine „MaoriHeilsgeschichte" vor. Sie unterscheiden drei Perioden. Die erste umfaßt 2000 Jahre vorchristliche Maori-Religion. Damals suchten sie Heil in einem alles umfassenden, d. h. gesicherten, guten, erfüllten Leben in dieser Welt. Mit anderen Worten: Der Heilssuche diente alles, die gesamte Kultur. Die zweite Periode begann um 1840 und endet um 1960. Missionare und andere Weiße sahen in den Maori moralisch entartete Wilde, die

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es durch das Christentum zu retten galt mit Hilfe der europäischen Zivilisation in kolonialistischer Gestalt. Heil gab es für die Maori nurmehr im Jenseits. „Neues theologisches Denken", es nimmt Gerechtigkeit und Befreiung wichtig, hat die dritte Periode eingeleitet. Nach wie vor gilt das Land als die „Mutter" der Maori, noch immer verknüpfen sie mit ihm ihr Heil. Ebenso wichtig nehmen sie Mäoritanga. Ohne eigene Kultur würden sie sich nicht als ein Volk Gottes begreifen können, mit leeren Händen wären sie untauglich, als Maori ihren Teil zur Entwicklung der Menschheit beizutragen (J. Paterson [ed.], He Toenga Whatiwhatinga, Ngaruawahia 1983, Note 5). Weiße schätzten bislang die Kultur der Maori wegen ihrer künstlerischen Ausdrucksmittel: Sie liefert Ornamente und Symbole zum Schmuck von Außen- und Innenwänden. Was damit ausgedrückt wird, gilt indessen nach wie vor als „primitiv". Wenn Maori ihren Teil zum Wohle der Menschheit beitragen möchten, dann meinen sie nicht Materielles, sondern Geistiges. Daß sie Geistiges besitzen, welches die Welt bereichern könnte, wollen Europäer erst bewiesen haben. Einen Anfang damit machte Reverend Maori Marsden, ein Anglikaner, indem er Maori-Traditionen europäisch verständlich auslegte (God, Man and Universe: A Maori View: King 143-163). Unter anderem die Kosmologie: Finsternis (Pö) und Licht (Ao) sind, so wird überliefert, aus dem Nichts {Kore) entstanden. Einige Texte sagen „Korekore". Verdoppelungen intensivieren die Bedeutung mancher Maori-Wörter. Korekore bedeutet „Nicht-Nichts", also potentielles Sein, der Zustand zwischen Nichtsein und Sein. Daraus entwickelte sich Werden {Te Pö), und durch Werden entstand manifestes Sein {Te Ao). Diese drei Bereiche machen den Kosmos von Anfang bis heute aus. „Welt" verstehen Maori mithin als einen unablässigen Prozeß. Dieser Prozeß läßt kein Ding und kein Wesen aus. Die Maori, wissend, daß sie nicht abgehoben existieren, sondern in Relation zu allem anderen, verstehen es, sich selbst zu relativieren. Europäer könnten von ihnen lernen. Literatur A. G. Anderson, Christianity and the Maori, MA Thesis Auckland 1933. - Judith Binney, Christianity and the Maoris to 1840: New Zealand Journal of History 3 (1969). - Dies./G. Chaplin/C. Wallace, Mihaia, Wellington 1979. - Bronwyn Elsmore, Like them that dream, Otumoetai 1985. - Hans-Jürgen Greschat, M a n a u. Tapu, Berlin 1980 (Lit. bis 1975). - F. Allan Hanson/L. Hanson, Counterpoint in Maori Culture, London 1983. - James Irwin, An Intr. to Maori Religion, Bedford Park 1984. - Robyn Kahukiwa/P. Grace, Wahine Toa, Auckland 1984. - M . King (Hg.), T h e Ao Hurihuri, Auckland 1981. - Sidney M o k o Mead, T h e Maori, New York 1984/85. - Stefan Schlang, Rei. Aspekte von Mäoritanga, Bonn 1989 (Lit. bis 1986). - E. Schwimmer (Hg.), T h e Maori People in the Nineteen-Sexties, Auckland 1968. - Peter Webster, Rua and the Maori Millennium, Wellington 1979. - Hong-key Yoon, M a o r i Mind, Maori Land, Bern 1986.

Hans-Jürgen Greschat II. Christliche Kirchen (Literatur S. 392)

Nach der ersten Pazifikreise Kapitän Cooks im Jahr 1769 nahm der europäische Einfluß in Neuseeland stetig zu. Die Anglican Church Missionary Society nahm 1814 die organisierte Missionsarbeit auf, bald folgten ihr die Wesleyan Missionary Society und eine römisch-katholische Mission unter Bischof Pompallier. Die hochintelligenten und anpassungsfähigen Maori empfanden die moralischen und religiösen Vorstellungen der Missionare zunächst als ausgesprochen fremd. Stammeskriege und unzureichende finanzielle Versorgung machten die Missionare von der Unterstützung durch die ortsansässigen Maori abhängig. Doch herausragende Leiter wie Samuel Marsden und Henry Williams gewannen Respekt, und um 1827 waren Teile der Bibel in Maori erhältlich. Bis in die 30er Jahre hatte eine erhebliche Zahl der Maori das Christentum angenommen, teilweise aus kommerziellen Gründen und wegen der Ausbildungsmöglichkeiten, aber auch in Anerkennung der friedenstiftenden Rolle der Missionare. Um 1850 war die

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Mehrzahl der etwa 56.000 Maori Christen. Von Anfang an allerdings modifizierten die Maori die christliche Lehre durch ihre eigenen Perspektiven. Durch den Zuwachs „wilder" europäischer Siedlungen und durch französische und katholische Initiativen alarmiert, drangen die protestantischen Missionare auf britische Annexion. 1840 rieten sie den nominell unabhängigen Maorihäuptlingen, den Vertrag von Waitangi mit der britischen Krone zu unterzeichnen. Seine englische und seine Maorifassung sind verschieden, und seine Interpretation ist kontrovers geblieben. Im Gegenzug für britischen Schutz und den garantierten Besitz ihrer Länder und Reichtümer versicherten die Maori Königin Victoria ihre Treue. Viele, aber nicht alle Maorihäuptlinge unterzeichneten, wobei sie den Vertrag als einen religiösen Bund verstanden. Als Siedler ins Land strömten und Land für sich forderten, waren die Missionare bei ihnen unbeliebt, weil sie als zu maorifreundlich galten. Als 1863 „Landkriege" ausbrachen, die zu einer massiven Konfiszierung von Maoriland führten, gab es auch bei den Maori eine weitverbreitete Ablehnung der Missionare, nicht aber der Bibel. Maoriheiler und chiliastische Propheten bezogen sich auf alttestamentliche Themen wie Bund, Exodus, Land, und fanden militante (Hau Hau) oder pazifistische Wege, die europäische Kultur und Ethik abzulehnen. Die Kirchen konzentrierten ihre Aufmerksamkeit nun auf die englischen, schottischen und irischen Siedler. Kolonien mit einer starken christlichen Grundlage wurden vor allem in Caterbury (anglikanisch) und Otago (presbyterianisch) ins Leben gerufen. Neben die überzeugt evangelikalen Presbyterianer und Methodisten traten die Anglikaner unter der hochkirchlichen Leitung durch Bischof Selwyn, während der Katholizismus sich auf französische und irische religiöse Orden stützte. Laieninitiative verband sich mit wagemutigem klerikalen Einsatz, um in dem dünnbesiedelten, bewaldeten Land eine Infrastruktur aus Pastoren, Kirchen, Schulen und Konventen entstehen zu lassen. Die einfachen Holzkirchen wurden zu einem Merkmal kultureller Identität. Die Siedlergemeinschaften, die 1852 eine gewisse Selbstverwaltung erreicht hatten, lehnten die Idee einer Staatskirche ab: Pluralismus setzte sich durch. Ohne nennenswerte Stiftungen oder staatliche Hilfen waren die Kirchen von der freiwilligen Unterstützung durch ihre Mitglieder abhängig. Das Unvermögen der Kirchen, sich auf eine gemeinsame Schulpolitik zu einigen, führte 1877 zu der Entwicklungeines „säkularen" Primarschulsystems, in dem praktisch kein Religionsunterricht erteilt wurde. Von den Katholiken wurde leidenschaftlich für kirchliche Schulen geworben, für die Protestanten wurden Sonntagsschulen und Bibelklassen wesentlich. Kulturelle und ethnische Unterschiede verschärften die Animositäten zwischen Katholiken und Protestanten, besonders wenn letztere mit Sabbatariern und Abstinenzlern in Verbindung gebracht wurden. Der moralische Ton von Evangelikaien und Jansenisten hatte einen bleibenden Einfluß auf Neuseelands Protestanten bzw. Katholiken. Er förderte außerdem eine antiklerikale Stimmung unter der vorwiegend aus der britischen Arbeiterklasse stammenden Bevölkerung, auch wenn explizite „Freidenker" tatsächlich selten waren. Im rauhen Leben der jungen Kolonie hatte die Abstinenzbewegung jedoch eine besondere Attraktivität für Frauen, und aus ihr entwickelte sich die Suffragettenbewegung, die hier 1893 weltweit zum erstenmal den Sieg davontrug. Im 20. Jh. wurden Frauen auch in leitenden kirchlichen Ämtern akzeptiert, noch lange bevor dies in den meisten europäischen Ländern möglich war. Ihre Missions-, Erziehungs-, Kranken- und Diakoniearbeit führte schließlich dazu, daß sie seit den 50er Jahren in vielen Kirchen auch als Kirchenälteste und Pfarrerinnen akzeptiert werden. Die erste anglikanische Bischöfin der Welt wurde 1990 in Dunedin eingeführt. Römisch-katholische Schwestern spielten im kirchlichen Leben in Neuseeland eine ungewöhnlich prominente und kreative Rolle. Nach dem Niedergang und der Demoralisierung der Maori trat mit dem Ende des 19. Jh. eine Wende ein. Ihre Zahl erreichte nach dem Tiefpunkt bei 42.000 im Jahr 1896 etwa das Zehnfache bis 1990 (1986: 294.200). Die europäischen Kirchen, die einen ein-

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heimischen Klerus kaum förderten, dafür aber die Integration der Maori in die europäisierte Gesellschaft betrieben, wurden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. durch prophetische Gestalten wie Rua Kenana bei den Tuhoe und durch die Ringatu-Bewegung herausgefordert. Die Ratana-Kirche, 1920 gegründet, gewann große Unterstützung unter den Maori durch ihr politisches Engagement. Schrittweise wurden alle Maorimissionen durch halbautonome Kirchen ersetzt. 1946 erschien eine neue Maoribibel und 1989 ein neues Anglikan Prayer Book, für Maori und pakeha (Weiße). Alle wichtigen neuseeländischen Kirchen sind 1990, 150 Jahre nach dem Vertrag von Waitangi, Vertreter des „biculturalism", der Anerkennung der Maorisprache und -kultur als derjenigen des „Volkes des Landes". Ein neues, einheimisches Christentum für Aotearoa (Maori-Name für Neuseeland, wörtlich: „Land der langen weißen Wolke") trat an die Stelle der alten Traditionen der Missionare und Siedler. Die Geschichte der Maori als eines polynesischen Volkes ist von der allgemeinen ozeanischen Geschichte nicht zu trennen, des Teiles der Welt, der als letzter besiedelt wurde. Mit seinen tausenden von Inseln hat er einen unglaublichen Reichtum an Mikrokulturen und Sprachen hervorgebracht; die sechs Millionen Melanesier sprechen allein über 1100 Sprachen. Der missionarische Einfluß machte sich von Tahiti im Osten aus seit dem frühen 19. Jh. geltend, teils vermittelt durch abenteuerlustige, manchmal auch geniale protestantische und katholische Kleriker, Lehrer und Handwerker aus Europa, teils durch Hunderte von Katecheten und Predigern der Pazifischen Inseln, deren Kenntnis von Sprache und Kultur ihren europäischen Kirchenoberen den Weg bereitete und oft auch den Erfolg sicherte. Tahitianer, Tonganer, Samoaner, Niueaner und andere waren ebenso heldenhaft und hartnäckig ausdauernd wie der protestantische Märtyrer John Williams auf Vanuatu (Neuhebriden) 1839 oder der Katholik Pierre Chanel auf Futuna 1841. Auch Australien und Neuseeland wurden zu wichtigen Ausgangspunkten für missionarische Unternehmungen. Der Widerstreit der Konfessionen, auch der gelegentlichen französischen, britischen und deutschen Kanonenbootdiplomatie, hinderte nicht, daß das Christentum den Pazifikbewohnern alternative Glaubensansätze anbot, die sie dazu befähigten, sich den katastrophalen politischen und kulturellen Wandlungen anzupassen. In Polynesien schwand der anfängliche Widerstand gegen das Christentum schneller als in Melanesien, teilweise weil die hierarchische Struktur der polynesischen Gesellschaft bewirkte, daß bei einem Wechsel des Häuptlings zum Christentum die anderen dazu neigten, es ihm nachzutun. Die äußerliche Befolgung von Festtagen konnte allerdings einer wirklichen Kenntnis des neuen Glaubens oder der Annahme seiner Sexualethik zeitlich weit vorangehen. Methodistische Erweckungen in den 30er und 40er Jahren des 18. Jh. verliehen dem Glauben dagegen eine neue, persönliche Dimension und boten eine emotionale Alternative zu den nun verbotenen Tänzen und Zeremonien, ebenso wie beispielsweise der barocke Reichtum des Katholizismus der Maristen mit ihren farbenfrohen Zeremonien und Gewändern. Nicht alle Missionare waren in kultureller Hinsicht unsensibel, seit den 60er Jahren des 18. Jh. verteidigten einige, wie z.B. James Chalmers, die Autonomie ihrer Neubekehrten, lange Zeit vor ihren britischen Kirchenleitungen. Die Katholiken waren besonders zurückhaltend mit der Ordination eines einheimischen Klerus, sie wurde erst nach dem 2. Vatikanischen Konzil in den 70er Jahren Normalität, wie auch die Liturgie in den Muttersprachen. Nicht selten waren Aspekte der viktorianischen evangelikalen Frömmigkeit wie totale Abstinenz oder Gebete im Familienkreis so begeistert angenommen worden, daß sie zu einem neuen Identitätsmerkmal örtlicher Kultur wurden. Wie die Maori gaben auch die Melanesier, Polynesier und Mikronesier dem christlichen Leben und Gottesdienst ihre eigene Prägung. Protestantische Kirchen standen im Kampf für einen unabhängigen und atomwaffenfreien Pazifik an vorderster Front. Die Pacific Conference of Churches, gegründet 1976, umfaßt Protestanten und Katholiken, und ein Netzwerk aus theologischen Colleges, mit dem 1966 gegründeten Pacific Theological

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College in Suva als Zentrum, hat mit der Entwicklung einer eindrucksvoll multikulturellen ozeanischen Theologie begonnen. Als in Neuseeland das Christentum der Siedlerzeit d a s der Pionierzeit ablöste, erwarben sich die Kirchen um die institutionellen, die pastoralen und die die Ausbildung betreffenden Belange erhebliche Verdienste. Bis zum Ende des 19. J h . waren Steinkirchen erbaut, um die großen Gottesdienstgemeinden fassen zu können - von denen allerdings nur wenige von architektonischer Bedeutung sind. In ländlichen Gegenden und Ortschaften trug das öffentliche Leben immer noch ein deutlich christliches Gepräge. Provinzielles und konfessionalistisches Denken erschwerten jedoch eine effektive Arbeit der Kirchen auf nationaler Ebene. Es g a b nichts, w a s der Breitenwirkung der amerikanischen Erweckungsbewegungen bei den Kirchenfernen vergleichbar gewesen wäre. Indem sowohl liberale wie pietistische Tendenzen die traditionelle Lehre modifizierten, wurde die protestantische Religiosität zunehmend eine Privatangelegenheit für d a s Individuum. Soziale Reformen in den 90er Jahren des 19. J h . verdankten den Kirchen wenig Anstöße. Als die Kolonialzeit einem wachsenden Nationalismus wich, nicht zuletzt im Verlauf der beiden Weltkriege, entwickelte sich eine eigenständige neuseeländische Literatur, Kunst und Musik. Seit 1931 ist Neuseeland politisch unabhängig. Trotz einer Vielzahl kirchlicher Organisationen nahm sich die fortgesetzte Übernahme europäischer Frömmigkeitsmuster, Doktrin und Verfassung zunehmend anachronistisch aus. Böser antikatholischer Polemik von Seiten der Protestant Political Association stand häufig katholische Unversöhnlichkeit gegenüber. M i t der Depression der 30er Jahre fing eine neue Epoche an. Obwohl einzelne Mitglieder der Labour-Partei, die eine neue, aufgeklärte Ära der Sozialpolitik einläuteten, dem christlichen Erbe viel verdankten, hatten viele ihrer Anhänger nur wenig Sympathien für die Kirchen - w a s allerdings weniger für die katholische Kirche gilt. Eine 1941 gestartete Campaign for Social Order war ein verspätetes Eingeständnis der Tatsache, daß die Kirche an Einfluß verloren hatte, erreichte jedoch wenig. N a c h 1945 wurden in den Vorstädten zahllose neue Kirchen errichtet. Laieninitiativen traten hervor, und Kirchenführer gewannen beachtlichen politischen und sozialen Einfluß. N e u e Formen pastoraler und klinischer Betreuung entstanden, die Jugendarbeit blühte. Landflucht, zunehmende Mobilität und neue Kommunikationsmöglichkeiten führten in den 60er Jahren jedoch zu einer Erosion der sozialen Grundstruktur der Kirchen. Entschiedene Versuche, eine unierte Kirche heraufzuführen, gipfelten 1971 in dem Vorhaben einer Union von Anglikanern, Church of Christ, Kongregationalisten, Methodisten und Presbyterianern, es wurde jedoch durch Konfessionalismus und Provinzialität zum Scheitern gebracht. D a s National Council of Churches, gegründet 1941, aus dem 1988 die Christian Conference of Churches unter Einschluß der römisch-katholischen Kirche wurde, richtete seine Aufmerksamkeit auf die pazifischen und asiatischen Dimensionen des kirchlichen Lebens und initiierte eine gemeinsame Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge. Kooperierende und unierte Gemeinden wurden üblich, mit gegenseitiger Anerkennung des Pfarramtes und der gemeinsamen Finanzierung geistlicher Rüstzeiten und theologischer Ausbildung. Theologisch blieben die Kirchen allerdings schwach. D o c h Pfingstkirchen und ihre mittelständischen charismatischen Gegenstücke innerhalb der Großkirchen erfuhren beachtlichen Z u w a c h s . Ein Billy-Graham-Feldzug 1959 war ein weiterer amerikanischer Import, der kurzfristig Erneuerung und Wachstum versprach. Kirchliche Sozialdienste gewannen deutliche Unterstützung mit innovativen Programmen für die Seelsorge und eine Verbesserung des Gemeinwohls, die weit über traditionelle Waisenhäuser und Altenheime hinausgingen. Die Mitgliederzahlen aller Kirchen fielen jedoch dramatisch, lediglich die römisch-katholische bildet eine gewisse Ausnahme, kirchliche Jugendbewegungen wurden dezimiert, und auch die Neuzugänge bei den religiösen Orden nahmen ab. M i t einer gegen kirchlichen Einfluß weitgehend abgeschotteten Schul- und Medienlandschaft wurde Neuseeland eines der a m weitesten säkularisierten Länder der „westlichen" Welt.

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Trotz einer konservativen Reaktion gegen „biculturalism", feministische Theologie und „Liberalismus" zeigten die Kirchen auch in den 80er Jahren beachtliche Initiative. Sie spielten eine prominente Rolle 1981, als die „All Blacks", die Rugby-Nationalmannschaft, gegen Südafrika antreten sollte, in der Opposition der Friedensbewegung gegen Atomwaffen und im Kampf gegen den Rassismus. Eine herausragende Persönlichkeit wie Erzbischof Paul Reeves fand weite Anerkennung als Generalgouverneur. Kirchliche Schulen, die inzwischen in das staatliche System integriert sind, jedoch ihren eigenen Charakter bewahrt haben, bluten auf. Die Gemeinden der Einwanderer von den pazifischen Inseln erstarkten, während die traditionellen Stärken der neuseeländischen Frömmigkeit, ihr Laiencharakter und ihre Freiheit von Konventionen, sich zunehmend mit einer Kreativität in der Kirchenmusik und einer Sensibilität für Maori-, pazifische und einheimische Anliegen vereinten. Die Volkszählung des Jahres 1986 ergab folgende Mitgliedszahlen der einzelnen Kirchen (The Int. Year Book and Statesmen's Who's Who, East Grinstead 1993/94): Anglikaner 791.847; Presbyterianer 587.517; Katholiken 496.158, Methodisten 153.143; Baptisten 67.935; Christen (ohne nähere Angaben) 42.351; Ratana 39.729; Mormonen 37.146; Brüdergemeine 19.710; Heilsarmee 16.821; Zeugen Jehovas 16.377; Pfingstler (ohne nähere Angaben) 15.717; Assemblies of God 14.352; Adventisten 12.015; sonstige Religionsgemeinschaften 115.182; Religionslose 533.766 (Auskunft verweigert 244.731; nicht spezifiziert 58.686; Gesamtzahl 3.263.283). Literatur Colin Brown, Forty Years O n . A History of the National Council of Churches in New Zealand, Christchurch 1981. - Ron Crocombe, The South Pacific, Suva 1973-1975. - Allan K. Davidson, Transplanted Christianity. Documents illustrating Aspects of New Zealand Church History, Auckland 1987. - Ders., Christianity in Aotearoa, Wellington 1991. - Dictionary of New Zealand Biography, hg. v. William Oliver/Claudia Orange, Wellington 1990. - Bronwyn Elsmore, M a n a from Heaven. A Century of Maori Prophets in New Zealand, Tauranga 1989. - John Garrett, To Live Among the Stars. Christian Origins in Oceania, Genf/Suva 1982. - Ders., Footsteps on the Water. Christianity in Oceania, Suva 1991. - Neil Gunson, Messengers of Grace. Evangelical Missionaries in the South Seas, O x f o r d 1978. - Kerry Howe, Where the Waves Fall. A New South Sea Islands History, Sydney 1984. - Hugh Jackson, Churches and People in Australia and New Zealand, Wellington 1987. — P.J. Lineham/A.R. Grigg, Religious History of New Zealand. A Bibliography, Palmerston N o r t h 1984. - William Morrell, T h e Anglican Church in New Zealand, Dunedin 1973. - Claudia Orange, T h e Treaty of Waitangi, Wellington 1987. - Oxford History of New Zealand, hg.v. William Oliver, Auckland 1981.-Presbyterians in Aotearoa 1840-1990, hg.v. Dennis McEldowney, Wellington 1990. - Religion in New Zealand, hg. v. Chris Nichol, Wellington 1983. - Ernest Simmons, A Brief History of the Catholic Church in New Zealand, Auckland 1978.

Peter Matheson Neutestamentliche Zeitgeschichte -»Zeitgeschichte, Neutestamentliche Neuthomismus -»'Thomas von Aquino/Thomismus/Neuthomismus Neuzeit I. Historisch II. Philosophisch

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I. Historisch 1. Z u m Begriff 1.1. Wortbedeutung 1.2. Entstehungsgeschichte des Begriffs 1.3. Differenzierungen 2. Periodisierung der Neuzeit 2.1. Frühe Neuzeit 2.2. Neuzeit/Neuere Geschichte 2.3. Neueste Geschichte/Zeitgeschichte 3. Interpretationen 3.1. Neuzeit in der Kirchengeschichtsschreibung 3.2. Die Neuzeit-Theorie von E. Troeltsch 3.3. Von der Dialektischen Theologie bis zu H . Blumenberg (Literatur S. 400)

Neuzeit I 1. Zum

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Begriff

1.1. "Wortbedeutung. Die triadische Gliederung des allgemeinen Geschichtsverlaufs in die drei Epochen Altertum, -»Mittelalter und Neuzeit wird begriffsgeschichtlich auf den seit 1694 an der Universität -»Halle lehrenden Christoph Keller (Cellarius; 1638-1707) zurückgeführt, der zwischen 1685 und 1696 ein dreibändiges Lehrbuch der Weltgeschichte unter dem Titel Historia universalis breviter ac perspicue exposita, in Antiquam et Medii Aevi ac Novam divisa (Altenburg n 1753) veröffentlicht hatte (zur Entstehungsgeschichte des Werks vgl. T R E 23,113,15-25; zu den bis in die Antike zurückreichenden Entwürfen triadischer Periodisierungen der Weltgeschichte vgl. Heussi 2 - 3 4 ; Günther 782-789). Das Schema Altertum - Mittelalter — Neuzeit bezeichnet zunächst bloße Zeitstrecken in ihrer Relation zur Gegenwart; inhaltliche Aussagen über die Wesensmerkmale der drei Epochen werden durch die historischen Begriffe selbst noch nicht gemacht. Das Wort Neuzeit ist für sich genommen sprachlich unbestimmt und „qualifiziert nur die Zeit, und zwar als neu, ohne über den geschichtlichen Gehalt dieser Zeit, gar als einer Periode, Auskunft zu geben" (Koselleck, Neuzeit 304). Im Unterschied zu Altertum und Mittelalter liegt dem Begriff Neuzeit (engl.: modern times; frz.: temps modernes) allerdings die besondere Vorstellung zugrunde, daß diese Periode noch nicht abgelaufen ist. Der chronologische Begriff Neuzeit bezeichnet demnach einen Zeitabschnitt, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt und kennzeichnet ihn in seinem Nie-zu-Ende-Sein. „Das k o m m t schon wortgeschichtlich darin zum Ausdruck, daß es weder im Deutschen noch in anderen Sprachen — in Analogie zu ,Mittelalter' - zur Bildung des Begriffs ,Neuzeitalter' gekommen ist. Weil das Wort ,Zeitalter' auf eine bereits abgeschlossene Periode hindeutet, paßte es nicht zu der Vorstellung von einer ständig fortschreitenden, bis in die Gegenwart sich verlängernden ,Neuen Z e i t ' " (Skalweit 1). 1.2. Entstehungsgeschichte des Begriffs. Die Entstehungsgeschichte und inhaltliche Prägung des Begriffs Neuzeit ist in komplexer Weise mit der Ausbildung und Weiterentwicklung der Epochenbezeichnung Mittelalter verbunden. Erst von diesem Begriff her erhielt das Wort Neuzeit im Kontrast zur vorausgegangenen Zeit inhaltliche Sinnzuweisungen, die vor allem im frühen 20. Jh. zu umfassenden Neuzeittheorien ausgeweitet worden sind (s.u. 3.). Wird eine Epoche als medium aevum oder media aetas bezeichnet, dann liegt es nahe, daß die darauffolgende, vorwärtsgewandte Zeit mit der Kategorie des Neuen in Verbindung gebracht wird. „Der Ausdruck einer neuen Zeit - oder einer neuen Geschichte - trägt an einer Folgelast, die sich aus der Stiftung des Mittelalter-Begriffs ergab. M i t den ,mittleren Zeiten' — noch für Herder geläufig - wurde sprachnotwendig eine andere, eine jüngere bzw. ältere, eine spätere oder eben eine neue Zeit freigelegt, die aber keineswegs sofort auf einen eigenen oder gar gemeinsamen Begriff gebracht worden ist" (Koselleck, Neuzeit 305). In der Historiographie des -»Humanismus wurden als Anschlußbegriffe zu den mittleren Zeiten die Bezeichnungen -»Renaissance und -»Reformation geprägt. Beide Worte waren in ihrem Ursprung sachbezogene Begriffe mit programmatischer inhaltlicher Bedeutung (vgl. Pannenberg, Reformation 2 1 - 2 4 ; eine Analyse dieser „Leitbegriffe" und ihrer Verwendung in der neueren Lit. bei Skalweit 9 - 4 6 . 7 6 - 1 2 2 ) . Erst als Renaissance und Reformation ihrerseits zu Periodenbezeichnungen geworden waren, entstand die Notwendigkeit, die gesamte auf das Mittelalter folgende Zeit mit einem eigenen Ausdruck zu kennzeichnen. In der Geschichtsschreibung ist seit dem späten 17. Jh. immer häufiger von neuer Zeit (historia recentior [neuere/jüngere Geschichte]; tempus novum [neue Zeit]; historia nova [neue Geschichte]) gesprochen worden (Belege bei Koselleck, Neuzeit 310-321). M i t dieser Wortwahl brachten die Zeitgenossen den qualitativen Anspruch zum Ausdruck, in einer Zeit zu leben, in der sie neue Erfahrungen machten, wie es sie so zuvor noch nie gegeben habe. Die neue Zeit wurde als eine Zeit der In-

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Neuzeit I

novationen erfahren, die das Alte ablösten und es als Vorstufe der nun beginnenden E p o c h e der Vernunft deuteten (vgl. H a z a r d , H e r r s c h a f t 6 0 - 8 2 ) . D a s vor allem durch die - » A u f k l ä r u n g gestärkte Bewußtsein, in einer solchen neuen Zeit, im Aufgang der Rationalität, zu leben, führte zu einer immer deutlicheren - polemischen - Abgrenzung der eigenen G e g e n w a r t von der zurückliegenden E p o c h e des nun als „finster" geltenden Mittelalters (vgl. T R E 2 3 , 1 1 3 , 3 6 - 1 1 4 , 4 ) . A u f diese Weise entwickelte sich die Wortverbindung neue Zeit allmählich zu einem periodologischen Oppositionsbegriff zur historiographischen Epochenbezeichnung Mittelalter. Die Bestimmung des Datums der Epochenschwelle blieb von dieser Begriffsentwicklung weitgehend unberührt. Der Anfang der Neuzeit wurde und wird - wie bereits bei Cellarius - um 1500 festgesetzt. „Für die Zäsur, mit der der Beginn der Neuzeit angesetzt wird, wiegt entscheidend, daß in eine verhältnismäßig kurze Phase der Weltgeschichte, ungefähr von 1492 bis 1530, innerhalb eines Menschenalters also, eine Häufung sowohl von politischen als auch wirtschaftlichen, geistesgeschichtlichen und kirchengeschichtlichen Ereignissen von weittragender Bedeutung fällt, in denen sich die Wendung zu neuen Entwicklungen kundtut. Dies ist das, was wir eine Epoche' in der Geschichte nennen. Dies bedeutet Abschluß und Beginn von Neuem, eines neuen Zeitalters" (Schulz 2 0 f ) . Die Entdeckung Amerikas im Jahre 1492 war eine schon bei den Historiographen des 18. Jh. besonders oft genannte Zäsur (vgl. die Problemanalyse bei Skalweit 4 7 - 7 5 ) . Zahlreiche weitere Einzeldaten sind seither genannt worden (vgl. Schulze 1 8 - 2 1 ) . So das Jahr 1453 mit der Eroberung Konstantinopels durch die Türken; 1494 der Beginn des französischen Eingreifens in Italien als Anfang des habsburgisch-französischen Dauerkonflikts und schließlich 1517 als der Beginn der deutschen Reformation, die über -»Zwingli und -»Calvin sowie die -»Katholische Reform zum gesamteuropäischen Epocheneinschnitt wurde (vgl. Müller 21 f). Neben diesen politischen bzw. kirchengeschichtlichen Daten ist von Naturwissenschaftlern geltend gemacht worden, die Neuzeit „beginne erst mit jener wissenschaftlichen Revolution, die Galilei eingeleitet habe, also mit einem zur festumrissenen Methode erhobenen Verfahren der apriorischen Hypothesensetzung zur Erprobung eines mechanistischen Weltbildes. Dieses mechanistische Weltbild zerstöre die aristotelisiercnde Auffassung der Welt als Kosmos und Ordnungszusammenhang, eine Auffassung, die nicht nur das Mittelalter, sondern auch noch die Renaissance mitsamt ihrem antikisierenden Naturbegriff beherrscht habe" (Otto 11; vgl. T R E 12,16,27-32). Aus sozialgeschichtlicher Sicht wird die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (um 1450; vgl. T R E 7,284,4 ff) als ein bedeutsames Zäsurdatum hervorgehoben, denn „zusammen mit einer ersten, über Klöster und Kanzleien hinausgehenden Alphabetisierungswelle im Dienste aufsteigender urbaner und administrativer Strukturen bezeichnet dies den Beginn eines neuzeitlichen Verschriftlichungsschubes von zivilisationsgeschichtlicher Relevanz" (Burkhardt 364). Schließlich gehört die Entstehung des „modernen Staates" zu den Phänomenen, an denen Wesensmerkmale der Neuzeit sichtbar werden (-»Staat III.; vgl. Skalweit 1 2 3 - 1 5 4 ) . Unabhängig von den verschiedenen Einzelbelegen halten es die meisten neueren Historiker für sinnvoll und angemessen, die Epochengrenze zwischen Mittelalter und N e u zeit um die Wende v o m 15. zum 16. J h . anzusetzen. „ E s gibt keine Zeugen von E p o chenumbrüchen. Die Epochenwende ist ein unmerklicher Limes, an kein prägnantes D a t u m oder Ereignis evident gebunden. Aber in einer differentiellen Betrachtung m a r kiert sich eine Schwelle, die als entweder noch nicht erreichte oder schon überschrittene ermittelt werden k a n n " (Blumenberg, Legitimität 5 4 5 ) . Ihre im Spätmittelalter und in der Renaissance wurzelnden Entstehungsbedingungen schließen die Eigenständigkeit der Neuzeit nicht aus. „ D i e Selbständigkeit ihres Grundes könnte nur in Verkennung ihres eigentätig konstituierten Selbst- und Weltverständnisses auf jene Bedingungen reduziert w e r d e n " (Wagner 6 9 9 ) . Das zusammengesetzte bündige W o r t Neuzeit, für das die 1.3. Differenzierungen. übrigen modernen Sprachen Westeuropas kein genaues Äquivalent (zusammengesetztes W o r t im Singular) kennen, wurde erst in der deutschen Sprache des V o r m ä r z geprägt (nicht vor 1 8 3 8 ; vgl. D W b 7 , 6 8 9 ; Günther 7 9 2 f ) ; lexikalisch hat es sich erst im letzten Viertel des 19. J h . eingebürgert (Belege bei Koselleck, Neuzeit 3 0 3 A.3). Dabei m u ß beachtet werden, d a ß der Begriff Neuzeit anfänglich nicht immer als historische Periodenbezeichnung benutzt worden ist, sondern auch „ M o d e r n i t ä t " und „ A k t u a l i t ä t "

Neuzeit I

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zum Ausdruck bringen sollte. „.Neuzeit' ist möglicherweise eine Analogiebildung zum etwas älteren Begriff .Neuwelt', der, von Goethe gebraucht . . . . räumlich und zeitlich nicht nur das neuentdeckte Amerika, sondern die jetzt lebenden Menschen als ein Ganzes bezeichnet" (Günther 793). Als historiographischer Begriff hat sich Neuzeit nachweislich erst durchgesetzt, „nachdem rund vier Jahrhunderte vergangen waren, die er als Einheit umfassen sollte" (Koselleck, Neuzeit 302). Etwa gleichzeitig mit dem Aufkommen der Periodenbezeichnung Neuzeit erhielten die bereits bekannten Wortverbindungen Neueste Zeit und Zeitgeschichte eine neue semantische Bedeutung (Belege bei Koselleck, Neuzeit 328—335). Vor allem die Erfahrungen der -•Französischen Revolution, der Revolutionen des 19. Jh. (-»Revolution; Industrielle Revolution; -»Industrialisierung) und der -»Restauration machten es notwendig, die eigene Gegenwart erneut von jenem Zeitraum abzugrenzen, den man als „neue Z e i t " bezeichnet hatte. Die um 1800 einsetzenden gesellschaftlichen Umbrüche, die das Leben der Menschen und ihre Alltagserfahrungen zutiefst veränderten, eröffneten „eine Entwicklungsphase, in der die ,alte Welt' unterging und die .Moderne' entstand — ein unabgeschlossener Prozeß, in dem der Erste Weltkrieg einen tiefen Einschnitt markiert" (Langewiesche, Neuzeit 386). Wollte man den eben gewonnenen Begriff Neuzeit als Epochenbezeichnung überhaupt erhalten, so wurden eine neue differenzierende Begriffsbestimmung und eine zeitliche Gliederung des Gesamtzeitraumes unumgänglich. Das bis heute vorliegende Ergebnis war eine — wiederum dreiteilige — Periodisierung der Neuzeit. 2. Periodisierung

der

Neuzeit

In der Geschichtswissenschaft der Gegenwart wird die Neuzeit in drei Abschnitte bzw. Phasen und damit zugleich in drei historische Fachdisziplinen aufgeteilt: 1. Frühe Neuzeit, 2. Neuzeit/Neuere Geschichte, 3. Neueste Geschichte/Zeitgeschichte. 2.1. Frühe Neuzeit. Mit dem Terminus Frühe Neuzeit (international: Early Modern Europe; frz.: histoire moderne) werden die drei ersten Jahrhunderte der Gesamtepoche bezeichnet, also das 16. bis 18. Jh. Diese Epochenbezeichnung, die zugleich der Name der Fachdisziplin ist, hat sich erst in der Geschichtswissenschaft der 1960er und 70er Jahre voll durchgesetzt (vgl. Mieck). Aus der Perspektive der modernen Industriegesellschaft und ihrer politisch-gesellschaftlichen Denk- und Organisationsformen wird eine Umbruchphase um 1800 sichtbar, die es notwendig macht, den vorausgehenden Zeitraum von der nun beginnenden „ M o d e r n e " abzusetzen, die als die „sich selbst erfassende Neuzeit" definiert werden kann (Wagner 700). „Die Frühe Neuzeit rückt so in die periodologische Position einer Zwischenzeit, wie sie einst das Mittelalter einnahm . . . Die Frühe Neuzeit ist der Teil der Neuzeit, der seine Neuzeitlichkeit noch nicht wahrhaben wollte. Die Normen und Legitimationen gingen noch von einer im Prinzip und von Rechts wegen unveränderlichen Welt aus und beanspruchten immerwährende Geltung. Eine Innovationsakzeptanz bestand noch kaum; der Nachweis einer Neuerung war schon ein Argument gegen die Sache" (Burkhardt 365). M a n hat die Frühe Neuzeit als „Vorlaufphase der Moderne von prototypischer Bedeutung" bezeichnet (Schulze 21) und der gesamten Epoche zwischen dem Hochmittelalter und dem Ende des 18. Jh. den N a m e n „Alteuropa" gegeben (Gerhard, Alte u. Neue Welt 44f). Durch die ausdrückliche Konzentration auf die europäische Geschichte in dem Zeitraum vom 12. bis zum Ende des 18. Jh. und durch die Preisgabe des Epochenbegriffs Mittelalter - die mit anderer Begründung schon von Heussi gefordert worden war (Heussi 5 5 - 6 0 ) - sollte zum Ausdruck gebracht werden, d a ß eine über Europa hinausblickende Geschichtsschreibung tatsächlich erst mit dem Ausgang des 18. Jh. einen völlig neuen Abschnitt der Geschichte erkennen kann (Hassinger X I I I - X V I ; zur Diskussion der Thesen von Gerhard und Hassinger vgl. Mieck 360ff; Skalweit 5 f.l 13-115). Trotz dieser gewichtigen Argumente hat die historische Forschung mit breitem Kon-

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sens daran festgehalten, die Frühe Neuzeit als eigene Epoche anzusehen (vgl. Schulze 21 f). Z u r Frühen Neuzeit gehören die -»Reformation mit ihrem Ausgang in der Konfessionsbildung, durch die die Einheit des -»Corpus Christianum gesprengt wurde (-»Konfession/Konfessionalität; -»Katholische Reform), der -»Dreißigjährige Krieg mit der ihm folgenden politischen Neuordnung Europas (-»Kirche und Staat III.; -»Westfälischer Friede), die Eroberung und Aufteilung der überseeischen Kontinente durch den -»Kolonialismus, die Verstaatlichung der Ständeordnung im Absolutismus (vgl. T R E 18,383-385; 21,646,13-647,17), der Beginn der -»Aufklärung („Jüngere Neuzeit" etwa ab 1680, vgl. Hazard, Krise; -»Säkularisierung; -»Toleranz; vgl. T R E 18,410,1-10) und die Anfänge der modernen -»Naturwissenschaft (-»Kopernikus) sowie die Entstehung des -»Bürgertums (-»Gesellschaft und Christentum).

2.2. Neuzeit/Neuere Geschichte. Als Neuere Geschichte gilt der Zeitraum von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg, wobei dem Jahrhundert zwischen 1750 und 1850 besonders prägende Bedeutung zukommt („Sattelzeit"; vgl. Koselleck: GGB l , X V f ) . Diese Zeitspanne ist durch die Parallelität von bürgerlich-politischen Revolutionen einerseits und der Industriellen Revolution (-»Industrialisierung) andererseits gekennzeichnet. Obwohl diese Bewegungen nicht zeitgleich verliefen, so waren sie doch beide durch die neue Erfahrung eines stürmischen Fortschreitens und einer Beschleunigung der Entwicklung geprägt, die der nun wiederum „neuen" Zeit den Charakter einer Übergangszeit gaben, die auf ökonomischen, sozialen und politischen Wandel ausgerichtet war. „Damit änderte sich zwangsläufig auch die Einstellung zur Zukunft, die jedenfalls anders aussehen würde, als alle bisherige Geschichte lehrte, gleich ob sie progressiv erhofft oder konservativ befürchtet wurde" (Koselleck, Neuzeit 330). Durch diese dynamische Entwicklung erhielt die Neuere Geschichte die Qualität einer an der Zukunft orientierten Epoche. Als Hauptkennzeichen der Neueren Geschichte ist die Modernisierung in allen Lebensbereichen anzusehen. Dieser Modernisierungsschub kommt zum Ausdruck in der -»Säkularisierung von Staat und -»Recht/Rechtswesen (vgl. TRE 13,35,12-52), der -»Emanzipation des Individuums (-»Autonomie), im Fortschritt auf dem Gebiet der -•Technik und -»Naturwissenschaft sowie im Aufkommen und in der Entfaltung einer neuzeitlichen -»Demokratie (vgl. TRE 8,436,25 -439,42). Dem entspricht die Herausbildung von Nationalstaaten (-»Staat) und eine Europäisierung der Welt (-»Europa; -»Imperialismus). Zum gesellschaftlichen Wandel der Zeit gehört die „Reform durch Revolution" (Langewiesche, Neuzeit 395-398) sowie die mit den Stichworten -»Frühsozialisten und -»Sozialismus angezeigten Lösungsversuche für die sich neu stellende Soziale Frage. Die Ausdifferenzierung von selbständigen, nach je eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionierenden gesellschaftlichen Teilbereichen führt zu einem für die gesamte Neuere Geschichte charakteristischen -»Pluralismus in -»Kultur und -»Gesellschaft. „Für Kirche und Theologie bedeutet dieser Prozeß eine weitreichende Infragestellung ihrer gesamtkulturellen Geltungsansprüche, wie sie insbesondere in modernem -»Atheismus und -»Religionskritik zutage tritt" (Tanner 881). „Dieser umfassende Modernisierungsvorgang bestimmte die Richtung, in der sich die Gesellschaft im 19. Jahrhundert wandelte, selbst dort, wo man sich dagegen sperrte. Vor allem aber bildete er die Grundlage, auf der sich die zentralen Entwicklungsprozesse des 19. Jahrhunderts vollzogen: Nationsbildung, ,Verstaatung' und Demokratisierung. In diesen drei Begriffen läßt sich der krisenreiche Weg in die .Modernität' bündeln, der das 19. Jahrhundert zu einer Epoche von eigenständigem Gepräge formte" (Langewiesche, Neuzeit 388; vgl. Krumwiede 1 - 4 ) . 2.3. Neueste Geschichte/Zeitgeschichte. Den jüngsten Abschnitt der Neuzeit bildet die Neueste Geschichte bzw. Zeitgeschichte (engl.: contemporary history; frz.: histoire contemporaine-, zur Begriffsgeschichte des in Deutschland im 17. Jh. aufgekommenen Worts Zeitgeschichte vgl. Koselleck, Anmerkungen 20-27). Ihr Beginn wird in den einzelnen Ländern je nach nationalen Zäsuren unterschiedlich angesetzt: In England nach

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der Parlamentsreform von 1832; in Frankreich mit der Revolution von 1789 oder mit dem Abschluß der -»Napoleonischen Epoche (1814/15). „In marxistisch-leninistischer Perspektive leitete die Oktoberrevolution 1917 die .Neueste Zeit' des .Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und Kommunismus' ein" (Hudemann 407). In Deutschland war es bislang üblich, die Zeitgeschichte mit dem Ende des Ersten Weltkriegs beginnen zu lassen. Da sich jedoch die von Hans Rothfels (1891-1976) vorgeschlagene Definition weithin durchgesetzt hat, derzufolge Zeitgeschichte „die Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung" ist (Rothfels 2), verschiebt sich zwangsläufig die Grenze zwischen der Neueren Geschichte und der Zeitgeschichte ständig. Man muß sie derzeit (1994) für die deutsche Geschichte wohl auf das Jahr 1933 (oder sogar 1945) festsetzen (vgl. -»Zeitgeschichte, Kirchliche). Für die Zeitgeschichte und ihre Erforschung gilt generell, daß sie regionale und nationale Entwicklungen nur im Kontext internationaler Beziehungen und unter Berücksichtigung globaler Zusammenhänge sehen darf (vgl. Schulz 62—65). Aus dieser Perspektive ergibt sich eine komplexe Themenfülle für die Zeitgeschichte, die sich nur unter Vorbehalt auf einige zentrale Bereiche konzentrieren läßt. Hier wären zu nennen: Die Prägung der Epoche seit 1914 durch die beiden Weltkriege (-»Krieg) und ihre Folgen. Das Aufkommen und Vergehen totalitärer -»Ideologien und der durch sie errichteten staatlichen Systeme bzw. Diktaturen (vgl. z.B. -»Faschismus; -»Nationalsozialismus; -»Nationalsozialismus und Kirchen). Die Entwicklung internationaler Zusammenarbeit zwischen den Staaten, den Kirchen (-»Ökumene), den Religionsgemeinschaften, den gesellschaftlichen Großverbänden (-»Gewerkschaften; -»Parteien) und der -»Wirtschaft, die der Bewältigung von Krisen dienen wollen, die sich aus der sozialen und politischen Modernisierung ergeben (-»Verantwortung). Hierzu gehören die weltweite Parteinahme für die -»Menschenrechte, für die Erhaltung von -»Frieden und Bewahrung der Schöpfung (-»Ökologie), für die Beseitigung wirtschaftlicher Benachteiligung von Völkern und ganzen Regionen der Erde, von -»Rassismus und anderen Unterdrückungsmechanismen (-»Kirche und Welt).

Weitere der Zeitgeschichtsforschung aufgetragene Arbeitsgebiete sind die „Geschichte der Verfassung, der normativen und institutionellen Staatsorganisation, erweitert zum politischen System durch Einbeziehung von Parteien, Interessengruppen, Massenorganisationen, von Glaubensrichtungen und Kirchen, deren Bedeutung nie unterschätzt werden sollte und spezieller Ergründung bedarf; Geschichte der Ideologien und Mentalitäten, der wissenschaftlichen Ansätze, Begriffe, Denkformen und Ideen, die ebenfalls die Geschichte der Konfessionen und Kirchen einschließt oder eng berührt, aber auch das an politischen — wie wirtschaftlichen - Entscheidungen beteiligte Personal einschließt, Politiker, Bürokratie, Unternehmer, Technokraten, Verbandsführer und -funktionäre; Geschichte der militärischen Macht, ihrer Organisation und Einsatzpläne, ihrer Waffen, Techniken und .technologisch' bedingten Veränderungen" (Schulz 123 f). Unbeschadet dieser außerordentlich weiträumigen und anspruchsvollen Aufgabenstellungen für die Zeitgeschichte bleibt es diesem Zweig der Neuzeitforschung aufgetragen, auch die Ereignisgeschichte kleiner und kleinster überschaubarer Geschehensabläufe aus der jüngsten Vergangenheit exemplarisch festzuhalten und zu analysieren. Doch „der theoretisch anspruchsvollere Begriff der Zeitgeschichte", wie er schon um 1800 gebildet worden ist, „sollte uns daran erinnern, daß er mehr einzulösen beansprucht als nur die aktuelle Ereignissequenz, auf Personen und Handlungen bezogen, wissenschaftlich aufzubereiten. Es gibt Dimensionen, diachroner und synchroner Art, die zeitlich verschieden tief gestaffelt sind, und über die uns auch weit zurückliegende Historiker noch für heute belehren können, weil die Geschichte sich strukturell wiederholt, was bei der Betonung der .Einmaligkeit' gerne vergessen wird" (Koselleck, Anmerkungen 29). So ist die Zeitgeschichte auf der einen Seite „Historiographie des 20. Jahrhunderts" (Schulz 55), auf der anderen Seite aber, „auf ihren Begriff gebracht, ist [sie] mehr als die Geschichte unserer Zeit. Erst wenn wir wissen, was sich jederzeit, wenn auch nicht immer auf einmal, wiederholen kann, können wir ausmessen, was an unserer Zeit wirk-

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lieh neu ist. Vielleicht weniger als wir uns vorzustellen vermögen. Auf dies Wenige kommt es dann an" (Koselleck, Anmerkungen 30). 3. Interpretationen 3.1. Neuzeit in der Kirchengeschichtsschreibung. Karl August von Hase (1800-1890) und auf katholischer Seite J.A. -»Möhler waren die ersten Kirchenhistoriker, die im 19. Jh. in ihre Lehrbücher das Dreiperiodenschema mit einem Abschnitt über die „Neue Kirchengeschichte" einführten, das bald allgemein üblich wurde. Karl Heussi (1877-1961) hat allerdings seit der 5. Aufl. in seinem Kompendium der Kirchengeschichte die Dreiteilung wieder aufgegeben und die gesamte Kirchengeschichte in neun Perioden aufgeteilt (vgl. Heussi, Kompendium 5 [§2f]; TRE 23,114,5-40). Die in anderen Kirchengeschichten unter „Neuzeit" abgehandelten Zeiträume erscheinen bei Heussi unter den Perioden-Überschriften (6) „Reformation und Gegenreformation"; (7) „Das Zeitalter der Aufklärung"; (8) „Von der romantischen Reaktion bis zum ersten Weltkriege"; (9) „Die Kirche in der jüngsten Vergangenheit" (ebd. VIII—X). Hase gab der „Neuen Kirchengeschichte bis auf die Gegenwart" die Gesamtüberschrift „Kampf des Protestantismus und Katholicismus" und gliederte sie in zwei „Perioden": (1.) „bis zum westphälischen Frieden, 1648: theilweiser Sieg des Protestantismus und neue Feststellung des Katholicismus"; (2.) „Kampf des kirchlichen Herkommens und der religiösen Selbständigkeit" (Hase 5). In der „Sachordnung" gliederte Hase den Stoff „nach den Functionen, in denen eine lebensvolle religiöse Gemeinschaft sich darstellt: 1) die räumliche Verbreitung des Christentums, 2) die Gesellschafts-Verfassung der Kirche, 3) die Entwicklung des christlichen Geistes zur Lehre und Wissenschaft, 4) das christliche Leben und der Cultus" (ebd. 5f). Aufgrund sorgfältiger methodologischer Vorüberlegungen zur „allgemeinen Kennzeichnung der Neuzeit" hat J. —»Lortz in seiner Geschichte der Kirche die gesamte Neuzeit unter die Überschrift gestellt: „Die Kirche im Kampf mit der autonomen Kultur". Sein Einteilungsschema ist zweigliederig: „I. Die offenbarungsg/äxfc/ge Epoche . . . II. Die offenbarungs/ciW/i'cfce Epoche" (Lortz 234). Z u r ersten Epoche zählt Lortz drei „Zeitalter" (1. Renaissance und Humanismus; 2. Protestantische Reformation und katholische Reform; 3. Das Jahrhundert der gallikanischen Kirche); zur zweiten Epoche gehören zwei „Zeitalter" (1. Die Aufklärung; 2. das 19. Jh.; die zentralisierte Kirche im Kampf mit der glaubenslosen modernen Kultur [ebd.]).

In neuesten kirchengeschichtlichen Lehrbüchern wird die Neuzeit als Epoche vom 17. bis zum 20. Jh. dargestellt. Hans-Walter Krumwiede stellt seiner Geschichte des Christentums III Vorüberlegungen zur Neuzeit „als kirchengeschichtliche Epoche" voran, in denen er als besondere Kennzeichen der Neuzeit „Freiheit als Autonomie, Emanzipation und Toleranz, Kreativität, Pluralismus und Säkularisation, Fortschritt und Weltherrschaft verbunden mit Weltverantwortung" nennt, die „in theologische Begründungszusammenhänge einzubringen" seien (Krumwiede 2). 3.2. Die Neuzeit-Theorie von E. Troeltsch. Die bis Ende des 19. Jh. selbstverständlich vorherrschende Auffassung, daß die Neuzeit mit Luther und der Reformation beginne, ist zunächst von W. -»Dilthey (GS 11,56 f u.ö.) und A.v. ->Harnack (DG 111,809) vorsichtig modifiziert worden (vgl. Ebeling, Luther 193). Doch erst E. -»Troeltsch hat die Frage nach dem Beginn und der Deutung der Neuzeit so grundsätzlich zur Diskussion gestellt, daß sie weit über bloße Datierungs- und Zuordnungsprobleme hinausreichte. Die geistesgeschichtliche Beschäftigung mit Luther und dem Beginn der Neuzeit weitete sich zur kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise aus und betraf nun das Verhältnis von Christentum und neuzeitlicher Kultur, die Zuordnung der Reformation zur Neuzeit und zur Moderne insgesamt und damit ganz zentral die Frage, ob die profane, säkularisierte Welt des 19. und 20. Jh. überhaupt in einem christlichen Erbe verwurzelt sei. Troeltsch bewegte bei seinen Arbeiten die durch den Historismus aufgeworfene Problematik (vgl. TRE 12,652,45-654,41), wie angesichts des Wissens um die Relativität aller historischen Wirklichkeit kulturellen Werten überhaupt noch normative Verbindlichkeit zugestanden werden könne (vgl. TRE 20,196,34-197,19). Zur Beantwortung dieser „Hauptfrage aller Geschichtsphilosophie" (Troeltsch GS IV,9) war eine Auseinandersetzung mit der Neuzeitproblematik unerläßlich.

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M . -* Weber hatte in seinem zwischen 1904 und 1906 entstandenen Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die These aufgestellt, d a ß die Entwicklung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems in Europa und damit die „Heraufkunft des modernen Menschentums" entscheidend vom Protestantismus calvinistischer Prägung gefördert worden sei, dessen „asketische" Lebenshaltung als der Ursprung der gesamten neuzeitlichen Wirtschaftsordnung angesehen werden müsse und höchste kulturprägende Wirkung habe (vgl. T R E 13,9,54-10,37; 17,607,28 -610,2; 18,410,19ff). In kritischer Auseinandersetzung mit dieser These seines Freundes erarbeitete Troeltsch seinerseits die Unterscheidung zwischen Alt- und Neuprotestantismus. Zwischen der Neuzeit und der Reformation gebe es einen Bruch. Die Reformation und mit ihr Luther und der gesamte Altprotestantismus gehörten noch in den Zusammenhang des Mittelalters hinein (vgl. T R E 21,578,3-36). „Der Altprotestantismus fällt trotz seines allgemeinen Priestertums und seiner Gesinnungsinnerlichkeit unter den Begriff der streng kirchlich supranaturalen Kultur, die auf einer unmittelbaren, vom Weltlichen zu unterscheidenden Autorität beruht." Erst mit dem „Befreiungskampf des endenden 17. und 18. Jahrhunderts" sei „das Mittelalter grundsätzlich beendet" worden (Troeltsch, Bedeutung 26f.31.45). Die Verlegung der Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit auf das späte 17. Jh. begründete bei Troeltsch eine Theorie der Neuzeit, in der statt einer kirchlich hegemonialisierten Einheitskultur, die den Gedanken der Kontinuität zwischen der Reformation und der Neuzeit bejaht, das „Integrationskonzept in Richtung auf eine prinzipielle Anerkennung von Pluralismus" (Kultursynthese) vorherrschend ist (Graf/Tanner: T R E 20,197,15f; vgl. den ausführlichen Abschnitt über „Troeltschs Begriffskonzeption" bei Drehsen, Art. Neuprotestantismus: TRE 24,368-375). Die Betonung der Diskontinuität zwischen Reformation und Neuzeit ermöglichte es Troeltsch, die grundlegende Bedeutung nichtchristlicher Traditionen für die Entstehung der modernen Welt sichtbar zu machen und zugleich nachzuweisen, daß gerade die institutionell ungebundenen religiösen Kräfte („Sekten") als „Träger des Fortschritts in Kirche, Theologie und allgemeiner Geistesbildung" anzusehen seien (so Stephan in Weiterführung der Protestantismus-Studien von Troeltsch). Die Neuzeit-Deutung von Troeltsch ermöglichte eine neue Sicht der Geschichte des Protestantismus: „Ist das Luthertum im Kern eine noch an vormodernen Sozialideen orientierte Gestalt des Christentums, dann taugt es . . . nicht dazu, die vielfältigen Krisen . . . der deutschen Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts mit den Mitteln religiöser Erneuerung zu ,meistern'. Desto größeres Gewicht gewinnt infolgedessen die Frage, inwieweit sich die religiösen Kräfte außerhalb der Kirche als Subjekte einer religiös inspirierten wertethischen Einflußnahme auf die Gesellschaft in Anspruch nehmen lassen" (Graf, Troeltsch 148). 3.3. Von der Dialektischen Theologie bis zu H. Blumenberg. In der -»Dialektischen Theologie ist der Bruch zwischen der Neuzeit und der Reformation ebenfalls nachdrücklich hervorgehoben worden, allerdings mit einem gegenüber Troeltsch umgekehrten Wertakzent. „So bildete sich die Neigung heraus, die Reformation und besonders die Theologie Luthers als gleichsam querstehend zum Gegensatz von Mittelalter und Neuzeit darzustellen" (Pannenberg, Reformation 27). Die Neuzeit erschien den von den erschütternden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs geprägten „Theologen der Krise" insgesamt als Abfall von der reformatorischen Wiederentdeckung des Evangeliums. Nicht in der Anknüpfung an die Kultur der Moderne könne von Gott und dem Menschen gesprochen werden, sondern nur im expressiven Widerspruch gegen alle in der Neuzeit aufgekommenen anthropozentrischen (-»•Mensch) Redeweisen der Vermittlung von Gott und Welt. Die Theologie müsse über die Fehlentwicklungen der Neuzeit hinweg wieder bei dem Altprotestantismus anknüpfen. K. -»Barth sah allerdings einige der von ihm scharf kritisierten Grundpositionen der neuzeitlichen Theologie bereits bei Luther selbst im Ansatz als vorgegeben an (Anthropologisierung des Glaubens; Subjektivismus: T R E 21,578,47 ff; vgl. zu Barths Lutherkritik: Ebeling, Grund 30f).

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F. - » G o g a r t e n hat in seiner 1953 erschienenen Arbeit unter dem Titel Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit die -»Säkularisierung als das theologische H a u p t p r o b l e m der Neuzeit bezeichnet. Gogarten unterschied Säkularisierung als legitime Folge christlichen Glaubens von einem „Säkularismus" als ideologischer Verabsolutierung, der auch die Heilsfrage durch d a s Verhältnis des neuzeitlichen Menschen zur Welt lösen wolle. Die rechte Unterscheidung beider Gestalten der Säkularisierung sei das „theologische P r o b l e m " der Neuzeit u n d die wichtigste Aufgabe f ü r die zeitgenössische Theologie. „Die Verwandlung christlicher Erkenntnisse und Erfahrungen aus geoffenbarten und geglaubten in solche der allgemein-menschlichen Vernunft" sei als „ein geschichtliches Geschehen von weltumfassender Reichweite" positiv zu werten (Gogarten 9). Die in der Neuzeit „in Angriff g e n o m m e n e Gestaltung der Welt aus deren eigenen säkularen K r ä f t e n " müsse wieder in „ihrer Begründung im christlichen G l a u b e n " w a h r g e n o m m e n werden (ebd. 10 f). N a c h d e m R . - » G u a r d i n i 1950 Das Ende der Neuzeit als „Versuch zur Orientierung" proklamiert hatte, ist die theologische Diskussion über die verschiedenen Neuzeit-Deutungen durch H a n s Blumenberg erneut in G a n g gebracht w o r d e n , der in seinem Werk Die Legitimität der Neuzeit (1966 l 1988) die herausfordernde - an Troeltschs Fragestellung erinnernde - These aufstellte, die profane, säkulare Welt des 19. und 20. Jh. stamme überhaupt nicht von einem christlichen Erbe ab. Es sei falsch, mit der geläufigen Säkularisierungsthese zu behaupten, die Neuzeit werde durch umgewandelte christliche Motive geprägt. Hier handele es sich um ein „Enteignungsmodell", das von den T h e o logen erfunden worden sei. Im N a m e n der Selbstbehauptung der -»Vernunft forderte Blumenberg die Preisgabe jeglicher Säkularisierungsvorstellungen. Die Neuzeit sei als „Gegenposition" h u m a n e r Selbstbehauptung gegen einen unerträglich gewordenen theologischen Absolutheitsanspruch entstanden (ebd. 143). Gegen diese These verteidigte Wolfhart Pannenberg Die christliche Legitimität der Neuzeit mit dem Verweis, d a ß Säkularisierung „Ausdruck der Mündigkeit des christlichen Laien" sei. Sie erweise sich „als ein charakteristischer Z u g der Neuzeit in ihrem Kampf gegen das Autoritätsprinzip im religiösen wie im politischen Leben" (Pannenberg, Legitimität 127; vgl. zum gesamten Sachzusammenhang M . Honecker: T R E 18,409,31-411,38). Die theologische Diskussion über die Beurteilung der Neuzeit wird im Umfeld der Debatte über die - • Postmoderne fortgesetzt (vgl. auch Editorial: Z N T h G 1 [1994] 4 - 6 ) . Literatur Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1966 21988. - Karl Dietrich Bracher, Schlüsselwörter in der Gesch., Düsseldorf 1978. - Eberhard Büssem/Michael Neher (Hg.), Arbeitsbuch Gesch. Neuzeit 1 (16. bis 18.Jh.). Repetitorium, München u.a. "1979 (UTB 569). - Konrad Burdach, Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abh. über die Grundlage moderner Bildung u. Sprachkunst [J1926], ND Darmstadt 1963. - Johannes Burkhardt, Frühe Neuzeit: R.v. Dülmen (Hg.), Gesch. (s.u.) 364- 385. - Euan Cameron, The Late Renaissance and the Unfolding Reformation in Europe: James Kirk (Hg.), Humanism and Reform: The Church in Europe, England, and Scotland, 1400-1643. Essays in Honour of James K. Cameron, Oxford/Cambridge 1991, 15-36. - Werner Conze, Die dt. Gesch.wiss. seit 1945. Bedingungen u. Ergebnisse: HZ 225 (1977) 1-28. - Wilhelm Dilthey, GS II. Weltanschauung u. Analyse des Menschen seit Renaissance u. Reformation, Stuttgart/Göttingen 1960. - Richard van Dülmen (Hg.), Das Fischer Lexikon Gesch., Frankfurt/M. 1994. - Gerhard Ebeling, Luther u. der Anbruch der Neuzeit: ZThK 69 (1972) 185-213. - Ders., Der kontroverse Grund der Freiheit. Zum Gegensatz von Luther-Enthusiasmus u. Luther-Fremdheit in der Neuzeit: Bernd Moeller (Hg.), Luther in der Neuzeit, 1983 (SVRG192) 9-33. - Dietrich Gerhard, Periodization in European History: AHR 61 (1956) 900-913. — Ders., Alte u. Neue Welt in vergleichender Gesch.schreibung, Göttingen 1962. - Emil Göller, Die Periodisierung der KG u. die epochale Stellung des MA zw. dem christl. Altertum u. der Neuzeit, Freiburg i.B. 1919 = Darmstadt 1969. - Friedrich Gogarten, Verhängnis u. Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theol. Problem, Stuttgart '1958. - Friedrich Wilhelm Graf, Max Weber u. die prot. Theol. seiner Zeit: ZRGG 39 (1987) 122-147. - Ders., Ernst Troeltsch. Kulturgesch. des Christentums: Dt. Gesch.Wissenschaft um 1900, hg. v. Notker Hammerstein, Stuttgart 1988,131 -152. - Ders., Friedrich Gogartens Deutung der Moderne. Ein theologiegesch. Rück-

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blick: Z K G 100 (1989) 169-230. - Ders., Prot. Theol. in der Gesellschaft des Kaiserreichs: ders., Profile des neuzeitl. Protestantismus, Gütersloh, II. 1992, 12-117 (Lit.). - Martin Greschat, Art. Neuzeitl. KG, 1. Europa: EKL* 3 (1992) 704-720. - Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Basel 1950 Würzburg '1965. - Horst Günther, Art. Neuzeit, M A , Altertum: HWP 6 (1984) 782-798. - Adolf Harnack, Lb. der D G , 3 Bde., Tübingen '1909/10. - Karl August Hase, KG. Lehrbuch zunächst für akademische Vorlesungen [1834], Leipzig , 0 1877. - Erich Hassinger, Das Werden des Neuzeitlichen Europa. 1300-1600, Braunschweig 2 1966. - Paul Hazard, Die Krise des europ. Geistes 1680-1715, Hamburg 1939. - Ders., Die Herrschaft der Vernunft. Das europ. Denken im 18. Jh., Hamburg 1949. - Karl Heussi, Altertum, M A u. Neuzeit in der KG. Ein Beitr. zum Problem der hist. Periodisierung, Tübingen 1921 = Darmstadt 1969. - Ders., Kompendium der KG, Tübingen "1971. - Rainer Hudemann, Neueste Gesch.: R. v. Dülmen (Hg.), Gesch. (s.o.) 406-428. - Georg G. Iggers, Dt. Gesch.Wissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Gesch.auffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971. — Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (1931), Berlin 5 1953. - Adalbert Klempt, Die Säkularisierung der universalhist. Auffassung. Zum Wandel des Gesch.denkens im 16. u. 17. Jh., Göttingen/Berlin/Frankfurt/M. 1960. - Reinhart Koselleck (Hg.), Stud. zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977. - Ders., „Neuzeit". Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik gesch. Zeiten, Frankfurt/M. l 1984,300-348. - Ders., Begriffsgesch. Anm. zur .Zeitgesch.': Victor Conzemius/Martin Greschat/Hermann Kocher (Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchl. Zeitgesch., Göttingen 1988, 17-31. - Hans-Walter Krumwiede, Gesch. des Christentums III. Neuzeit: 17. bis 20. Jh., Stuttgart u.a. 2 1987. - Dieter Langewiesche, Europa zw. Restauration u. Revolution 1815-1849, München J 1989. - Ders., Neuzeit, Neuere Gesch.: R. v. Dülmen (Hg.), Gesch. (s.o.) 386-406. - Karl Löwith, Gesch. u. hist. Bewußtsein: ders., Vorträge u. Abh. Zur Kritik der christl. Uberlieferung, Stuttgart u.a. 1966,119-138. - Joseph Lortz, Gesch. der Kirche in ideengesch. Betrachtung. Eine gesch. Sinndeutung der christl. Vergangenheit, Münster 1932 11 " " 1 9 4 8 . - Ilja Mieck, Periodisierung u. Terminologie der Frühen Neuzeit. Zur Diskussion der letzten beiden Jahrzehnte: GWU 19 (1968) 357-373. - Jürgen Mittelstrass, Neuzeit u. Aufklärung. Stud. zur Entstehung der neuzeitl. Wiss. u. Phil., Berlin/New York 1970. - Gerhard Müller, Die Reformation als Epoche europ. Gesch.: ders., Causa Reformationis. Beitr. zur Reformationsgesch. u. zur Theol. Luthers, hg. v. Gottfried Maron/Gottfried Seebaß, Gütersloh 1989, 9 - 2 4 . - Ernst Nolte, Zeitgesch.forschung u. Zeitgesch.: V Z G 18 (1970) 1 - 1 1 . - Stephan Otto (Hg.), Renaissance u. frühe Neuzeit, Stuttgart 1984 (Gesch. der Phil, in Text u. Darst., hg. v. Rüdiger Bubner, 3). - Wolfhart Pannenberg, Die christl. Legitimität der Neuzeit. Gedanken zu einem Buch von Hans Blumenberg: ders., Gottesgedanke u. menschliche Freiheit, Göttingen 2 1978, 114-128. - Ders., Reformation u. Neuzeit: H. Renz/F.W. Graf (Hg.), Troeltsch-Studien III (s.u.), 2 1 - 3 4 . - PuN. - Trutz Rendtorff, Perspektiven einer Religionsgesch. der Neuzeit: H. Renz/F.W. Graf (Hg.), Troeltsch-Studien III (s.u.) 8 9 - 9 9 . - Ders., Neuzeit als ein Kapitel der Christentumsgesch. Uber das Erbe des hist. Bewußtseins: ders., Theol. in der Moderne. Uber Religion im Prozeß der Aufklärung, Gütersloh 1991, 201-223. - Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Troeltsch-Studien III. Protestantismus u. Neuzeit, Gütersloh 1984. - Hans Rothfels, Zeitgesch. als Aufgabe: V Z G 1 (1953) 1 - 8 . - Bodo Scheurig, Einf. in die Zeitgesch., Berlin 1970. - Gerhard Schulz, Einf. in die Zeitgesch., Darmstadt 1992. - Winfried Schulze, Einf. in die Neuere Gesch., Stuttgart '1991 (UTB 1422). - Karl Schwarz, Zur Gesch. der neuesten Theol. [1856], Leipzig *1869. - Stephan Skalweit, Der Beginn der Neuzeit. Epochengrenze u. Epochenbegriff, 1982 (EdF 178). - Horst Stephan, Der Pietismus als Träger des Fortschritts in Kirche, Theol. und allg. Geistesbildung, Tübingen 1908. - Klaus Tanner, Art. Neuzeit. B. Fundamentaltheol.: WdC 880 f. - Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906), Tübingen 1911. - Ders., GS I. Die Soziallehren der christl. Kirchen u. Gruppen, Tübingen 1922 = Aalen 1965. - Ders., Luther, der Protestantismus u. die moderne Welt: ders., GS IV. Aufs, zur Geistesgesch. u. Religionssoziologie, Tübingen 1925,202-254. - Ders., Das Verhältnis des Protestantismus zur Kultur. Uberblick: GS IV (s.o.) 191-202. - Falk Wagner, Art. Neuzeit: E K L J 3 (1992) 699-704. - M a x Weber, Die prot. Ethik, hg. v. Johannes Winckelmann, 2 Bde., Hamburg 2 1972.

Joachim Mehlhausen

II. Philosophisch 1. Präludien 2. Vom Mittelalter zur Neuzeit (Auflösung des „Ordo-Begriffs") 3. Aufbruch der Neuzeit 4. Die „Kopernikanische Wende" und ihre Folgen 5. Postludien (Quellen/Literatur/S. 410)

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1. Präludien „Es hatte damals gerade eine neue Zeit begonnen (denn das tut sie in jedem Augenblick), und eine neue Zeit braucht einen neuen Stil" (R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Ausg. Frise, Hamburg 1952, 19). Es ist nicht uninteressant festzustellen, daß der in der Nachfolge -»Nietzsches zeitdiagnostisch aufschlußreiche große Roman Musils die (jeweilige) neue Zeit in jedem Augenblick beginnen läßt. Sollte am „Ende" gar die „alternde Neuzeit" geschichtliche Epochenbegriffe und damit sich selbst als verpflichtende Tradition in Frage stellen? In der Unterschiedenheit von Mittelalter und Altertum galt der Begriff der Moderne für die ganze folgende Zeit, eben die „Neu"zeit, als ein in ihr sich entwickelnder und verfestigender Periodisierungsbegriff. In unseren Tagen gebraucht man das Wort „Moderne" in nicht unwesentlich eingeschränkterer Bedeutung, nämlich zur Charakteristik der Kulturentwicklung etwa von der Mitte des vergangenen Jahrhunderts an. Außerdem hat man dieser Moderne noch eine sie ablösende Postmoderne angereiht: Wird in dieser eine neue Gesamtansicht der Welt und des menschlichen Daseins geboren, oder müssen wir es darauf anlegen, uns im -»„Nihilismus" heimisch einzurichten, oder sind wir gar, wenn das Rettende nicht Ereignis wird, rettungslos verloren? Es ist kein Zufall, daß Musil die Auflösung des traditionellen Epochenbegriffs als eine Sf/7frage einführt. Er entwickelt nämlich seine Betrachtung an der Kunst (Architektur). Tatsächlich läßt sich insbesondere an der Malerei die rasante Entwicklung vom „Impressionismus" bis zum „Pluralismus" sichtbar machen (z.B. im dem Sammelwerk: Moderne Kunst. Vom Impressionismus zur Postmoderne, 1990; engl.: London 19741 1989). - Dazu ist nur noch zu bemerken, daß in jedem unreflektierten und systematisch nicht bewältigten Pluralismus eine bemerkenswerte Nähe zum Chaotischen besteht. Was aber ergibt sich bei allen derartigen Bedachtnahmen für das fundamentalphilosophische Problem der -»Wahrheit? - Am Beginn der Neuzeit steht die aus dem Mittelalter übernommene Lehre von der zweifachen Wahrheit (duplex veritas)-, im weiteren Verlauf und parallel zu den Differenzierungen der Wissenschaften kommt es zur Ausbildung von Wahrheitstheorien in großer Zahl, wobei wir schließlich auch in dieser Thematik bei dem Pluralismus der Postmoderne gelandet sind. Nun macht zwar eine Vielfalt methodisch gesicherter Wissenschaften von der Sache her eine Vielheit voraussetzungsmäßig verschiedener Ansätze notwendig, eine bloß zweifache Wahrheit als simplifizierende Gegenüberstellung zuletzt unvereinbarer Positionen bzw. ein toleranter Pluralismus einer Unzahl möglicher und aufeinander unbeziehbarer Wahrheiten aber heben den Begriff der Wahrheit als solcher auf. In unseren Tagen nun scheinen sich „am Ende" gar fundamentalistische Ausprägungen einer modernisierten zweifachen Wahrheit mit pluralistischer Chaotik beliebig vieler Wahrheiten in einer nur schwer zu durchschauenden Vereinigung zu treffen. — Wiederum nicht zufällig konfrontiert Musil (a.a.O. 248) zwei einander gegenüberstehende „Geisteshaltungen", von denen die eine gewissermaßen bis zum „Eschaton" (—»Eschatologie) hin den Gesamtraum des menschlichen Daseins im Blick hat, die andere sich exklusiv an die Resultate „moderner" Wissenschaft bindet. Musil fragt: „...was fängt man am jüngsten Tag, wenn die menschlichen Werke gewogen werden, mit drei Abhandlungen über die Ameisensäure an, und wenn es ihrer 30 wären?! Andererseits, was weiß man vom jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden wird!" Man bedenke dagegen, daß ein so differenzierter Denker wie -»Leibniz den Begriff einer philosophia perennis (an Remond, 26.8.1714) aufrecht erhält. Nach seiner Auffassung geht es unter diesem Titel um unsere gesamte europäische Tradition von den Griechen und dem Eintritt des Christentums in die Weltgeschichte an bis zur jeweiligen Gegenwart. Leibniz kann so sprechen, weil er davon überzeugt ist, daß in der Einheit systematischer Forschung alle Philosophen gemeinsam derselben Wahrheit gedient haben und nur dem Irrtum verfallen sind, wo sie diese Wahrheit verfehlt und ihre eigenen besonderen Ziele verfolgt haben. - Ganz im Sinne dieser Auffassung bringt —»Schelling mit großer Eindringlichkeit und in abgründiger Tiefe dieses, das perenne Thema unseres Denkens zur Sprache. In seiner „Einleitung in die Philosophie der Offenbarung, 1. Vorlesung" (Ausg. Schröter, ErgBd. VI, 3.7) kommt er zunächst zu dem Ergebnis, daß „alle Wissenschaften . . . auf Voraussetzungen beruhen, die in ihnen selbst nicht gerechtfertigt werden", und landet dann bei der Philosophie und mit ihr bei der schwermütigen Frage nach Wesen und Sinn menschlicher Existenz zwischen Geburt und -»Tod. Gerade der -»Mensch selbst aber wird für ihn so das „Unbegreiflichste...Gerade Er, der Mensch treibt mich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?" Die auf Schellings Denkweg zur Sprache gebrachte Voraussetzungsproblematik alles Wissens unter Berücksichtigung des Unterschiedes von Philosophie und Einzelwissenschaft ist im Geiste -»Kants formuliert. Kant stellt dieser Problematik zunächst also die Frage nach der Möglichkeit von Erfahrung als Grundlage neuzeitlicher Naturwissenschaft. Von ihr aus entwickelt er in kritischer Besonnenheit und ursprünglicher Grundsätzlichkeit seine universale philosophische Systematik.

Neuzeit II

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Diese hat über die mathematische Physik, den Buchdruck, die Paracelsische Medizin und die Artillerie (vgl. La Popelinère, L'Histoire des Histoires, Paris 1599) hinaus in Aneignung und Entfaltung ebenso wie in Distanzierung und Ablehnung die weitere Entwicklung maßgebend bestimmt. Zuletzt mündet Kants Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung in diejenige nach der Möglichkeit von Wahrheit überhaupt. Alle diese Themen bzw. Problembestände verweisen in vielfacher Beziehung auf die Sprachlichkeit des Menschen und das Problem der Sprache überhaupt (-»Sprachphilosophie). 2. Vom Mittelalter

zur Neuzeit (Auflösung

des „Ordo-Begriffs"

)

2.1. Wir können davon ausgehen, daß in jeder sprachlichen Begegnung eine einzigartige, mit keiner anderen Relation in der Welt vergleichbare Bezugnahme vorliegt: Sprachgemeinschaft beruht auf einem die Teilnehmer des Gesprächs vereinigenden Sinnapriori, das freilich im Verhältnis des Menschen zu Gott ein besonderes Problem in Sicht bringen mußte. Die deutliche Erkenntnis dieser Sachlage findet zu Beginn des 13. Jh. im 4. Laterankonzil (1215) in eindringlicher und dogmatisch grundlegender Formulierung ihren Niederschlag. Der zentrale Ansatz der Konzilsentscheidung läßt sich in aller Kürze herausstellen: „ . . . von Schöpfer und Geschöpf kann keine so große Ähnlichkeit (Gen 1,26) ausgesagt werden, daß sie nicht eine größere Unähnlichkeit zwischen beiden einschlösse ( . . . inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda)." Gottes nicht einholbare -»Transzendenz bleibt in dieser Formulierung bewahrt, eine Tatsache, die bei jeder Kritik des in der sogenannten analogia entis zum Zuge kommenden Seinsbegriffs beachtet werden sollte. 2.2. Nun befürchtete man im hochmittelalterlichen Paris - wie die weitere, noch nicht absehbare Entwicklung zeigt, nicht zu Unrecht, wenn auch unter Verkennung des eigentlichen Gegners - eine Gefährdung des christlichen Glaubens durch die im Aristotelismus funiderte Theologie, ebenso seitens offensichtlich häretischer Positionen (-•Averroes/Averroismus), wie auch im Bezug auf Persönlichkeiten, an deren christlicher Gesinnung im Grunde kaum ein Zweifel bestehen konnte (wie z.B. im Falle des -»Thomas v. Aquino). Diese Situation spiegelt sich sehr deutlich in dem Syllabus des Bischofs Stephan Tempier (1277) wider, der gegen die Vertreter der in ihm verurteilten Lehrsätze ganz allgemein den folgenden Vorwurf erhebt: „Damit sie nicht auszusagen scheinen, was sie auslegen, schmücken, färben sie ihre Antworten. Sie wollen die Klippe der heterodoxen Aussage [!] meiden und scheitern an der Klippe der heterodoxen Auslegung [!]. ,Sie sagen, dies sei philosophisch gesehen wahr, nicht aber im katholischen Glauben, als ob es zwei gegensätzliche Wahrheiten g ä b e " ' (Chart. Univ. Paris, ed. H. Denifle/A. Chatelain, I 1989, 543; vgl. R. Hissete, Enquête sur 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277, 1977 [PhMed 22]). Bischof Tempier kommt so auf die schon erwähnte Lehre von der zweifachen Wahrheit {duplex veritas) zu sprechen. Tatsächlich wird mit dieser Lehre die Trennung von vernünftigem und offenbarendem „Wort" eingeleitet. Immer mehr bedurfte es künftighin eines universalen systematischen Denkens bzw. eines philosophischen Genius wie Leibniz, um zu verhindern, daß im Erkennen die in ihm doch stets vorausgesetzt bleibende Einheit der Wahrheit nicht völlig verloren ging. Es ist nicht zufällig, daß Leibniz die Lehre von der zweifachen Wahrheit energisch abgelehnt hat (Theodizee, Einl. Abh. § 1), unter Berufung auf das 5. Laterankonzil (1512—1517), in dem auch seitens der Kirche diese Lehre ausdrücklich verworfen worden ist. 2.3. Grundsätzlichere Schwierigkeiten als die Lehre von der zweifachen Wahrheit gingen von dem spätmittelalterlichen —*Nominalismus aus. Bei diesem historisch und systematisch vielschichtigen Ereignis ist vor allem entscheidend, daß Wilhelm von -•Ockham das Allgemeine grundsätzlich nur von dem diese Begriffe bildenden Geist dîs Menschen her versteht. Mit dieser Lösung trifft er mit dem Substanzbegriff (der „irsten -»Substanz", ouaia) des Aristoteles auch dessen Wesensbegriff (die „zweite Substanz", EIÔOÇ) als „ontologisch relevantes Allgemeines" und distanziert damit grundsätzlich und folgenreich die ganze bisherige Tradition. Die entscheidende Frage dabei

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Neuzeit II

ist nicht diejenige, ob der Mensch imstande sei, beliebig und von verschiedenen Interessen - sogar solchen methodischer Wissenschaftlichkeit - her bestimmte Allgemeinbegriffe zu bilden, sondern diejenige, ob alle diese Allgemeinbegriffe gleichsinnig nur abstrakte Gebilde darstellen und ob nicht im Unterschied zu ihnen auch andere von der „Natur" her vorgegebene Allgemeinheiten bei der fundamentalphilosophischen Voraussetzungsproblematik zu berücksichtigen sind. Bei dieser Sachlage genügt nicht der Hinweis, daß der Mensch sich stets im Raum des „Allgemeinen" bewegt, wenn er überhaupt spricht. Aus der als berechtigt angesehenen nominalistischen Vereinfachung des Universalienproblems (-» Universalienstreit) folgt mit einer gewissen Notwendigkeit die Forderung nach dem sogenannten Prinzip der Denkökonomie. Nun liegt aber in diesem Prinzip immer auch die Möglichkeit eines simplifizierenden Reduktionismus auf Richtungen hin, denen häufig, ja durchgehend, die fundamentalphilosophische Prüfung ihrer Voraussetzungen abgeht (-»Empirismus, Positivismus, Logischer Neopositivismus, Analytische -»Philosophie verschiedener Versionen). Schließlich erfolgt mit der Distanzierung der ontologischen Tradition (-»Ontologie) des Aristotelismus auch die Aufgabe des mittelalterlichen Ordo-Begriffs, der mit seiner sogenannten Transzendentalienlehre (ens et unum et aliquid et verum et bonum et pulchrum convertuntur) die Systematik des mittelalterlichen Denkens grundlegend vom Gottesbegriff und Gottes einzigartiger Vollkommenheit her bestimmt hat. Damit gerät im Verhältnis von Glauben und Wissen die Theologie in eine Situation, die in ihrer ganzen Härte und Konsequenz erst vom Ansatz Bacons her deutlich wird. In der Ablehnung jeder Art der jetzt unmöglich gewordenen „analogen Rede" soll Gott in seiner Transzendenz endgültig und radikal von aller „Krätze der Endlichkeit" (Hegel) befreit werden. In der auf diese Weise resultierenden Lehre von der omnipotentia dei absoluta wird der damit im Nominalismus untergehende Gott zuletzt zu einem Gott der Willkür und des Zufalls: Gott als „Erstursache" läßt den „Zweitursachen" alles geschöpflich Seienden in der Natur keinen Raum eigenständiger Wirksamkeit. - Was dies für die Zweitursache Mensch einerseits in der Frage nach dem Verhältnis von -•„Vorsehung" und freiheitlicher Selbstbestimmung (Luther, Calvin), andererseits im Zusichkommen autonomer („mündiger") -»Humanität in der -»Aufklärung (Lessing, Kant) mit sich brachte, sei hier nur anmerkungsweise erwähnt. 3. Aufbruch der

Neuzeit

3.1. Am Beginn der Neuzeit läßt sich als allgemeiner Zug ihrer nun das philosophische Denken bestimmenden Hauptpositionen die Ablehnung des Philosophen der bisherigen europäischen Tradition, nämlich des Aristoteles, angeben. Das gilt von dem Begründer der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft -»Galilei ebenso wie von Bacon und Descartes. Bezüglich Galileis genügt es, auf einen Brief an -»Kepler hinzuweisen (Cassirer 291). In ihm macht er sich über die Aristoteliker seiner Zeit lustig, die Natur wie ein Buch anzusehen und durch Vergleichung der (aristotelischen) Texte zu erforschen suchen. Sie sollen sich von ihrer Position her geweigert haben, den Himmel durch ein Fernglas zu betrachten. — Wenn sich in unseren Tagen die Neubegründung der Textinterpretation als -»Hermeneutik (H. G. Gadamer) gegen die imperial gewordene Methode Galileis durchzusetzen hatte, dann verstehen wir, welche schwerwiegenden Fragen mit Galileis Brief hintergründig angeschnitten worden sind. 3.2. Auch -»Descartes hat ausdrücklich gegen den Aristotelismus der Tradition („Metaphysik" der substanzialen „Formen") Stellung genommen. Dieser Aristotelismus war mit dem von Descartes begründeten neuzeitlichen Transzendentalismus (Ich-Philosophie) schlechthin unverträglich. Mit dem „ich bin" als erste und sicherste Gewißheit aber kann ohne nähere Bestimmung das fundamentalphilosophische Problem des (gesicherten) Anfangens nicht als gelöst betrachtet werden. So muß Descartes denn am Beginn seiner zweiten Meditation in große Verlegenheiten geraten, wenn er die Frage

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stellt: „Wer bin ich denn, der ich jetzt [!] notwendig bin?" Ohne auf die Einzelheiten des Argumentationsganges näher einzugehen, läßt sich kurz sagen, daß die im Unterschied zur res extensa (der räumlich ausgedehnten Materie) fixierte res cogitans (des „Ich denke") dem radikalen Zweifel nicht Stand zu halten vermag. Damit verfehlt Descartes aber seinen fundamental-philosophischen Ansatz sofort und überhaupt, ganz abgesehen davon, daß es bei dem so resultierenden Substanzdualismus wissenschaftstheoretisch bis zur Gegenwart ein Problem (Scheinproblem!) geblieben ist, wie das zu denken sei, was Organismus (in seiner ihm eigentümlichen „Einheit") heißt. Wie soll dann überhaupt von einem ,,natürlichen Individuum" (-»Individualismus) im Sinne der „ersten Substanz" (ovaia aia9rjrij als npdnr] ovaia) der ontologischen Tradition gesprochen werden, einschließlich der geistig-leiblichen Einheit des Menschen als einem solchen natürlichen Individuum? Fundamentalphilosophisch ist die Antwort auf diese Schwierigkeiten Leibnizens - die traditionelle Ontologie der „Formmetaphysik" erneuernde — Monadologie, mit der er sich zugleich auch von dem -»„Pantheismus" -»Spinozas distanziert. 3.3. Bezüglich des Ich-Begriffs und des Begriffs des Menschen ist für Kant freilich die angelsächsisch-empiristische Tradition zunächst geschichtlich bedeutsamer geworden, und zwar besonders durch David -»Hume, der ihn bekanntlich aus seinem „dogmatischen Schlummer" erweckt hat. Diese Entwicklung beginnt mit Francis Bacon (1561-1626). Mit ihm tritt das Prinzip empirischer Forschung auch in der Philosophie mit fundamental-ausschließlichem Anspruch in die Geschichte und führt zur Trennung von festländischer Metaphysik in der Nachfolge des Descartes und angelsächsischem Empirismus bis zu dessen Selbstauflösung durch David Hume (vgl. Kuno Fischer, Gesch. der neueren Phil., Heidelberg, X 3 1904,107ff.). Bacon - wie auch Descartes den Anbruch eines neues Zeitalters mit der Entdeckung eines „Novum Organum" (1620) verkündend - läßt auf seine Weise in der „Überzeugung von der Unsicherheit aller bisherigen Erkenntnis... durch den Zweifel alle bisher gültige Erkenntnis zunächst aufgehoben sein, um freies Gebiet für eine neue zu schaffen... Er erklärt gleich in der Vorrede zu seinem Organon: ,Das einzige Heil [!], das uns übrigbleibt, bestehe darin, daß die gesamte Arbeit des Verstandes ganz von neuem wieder aufgenommen und der Verstand selbst vom ersten Anfang an niemals sich selbst überlassen, sondern beständig geleitet werde'" (ebd.). Der auf diese Weise von allen Vorurteilen („Idolen"), besonders auch der bisherigen Tradition zu reinigende Verstand hat seine Leitung und sein Maß an der „Erfahrung". Bacon betrachtet „den menschlichen Verstand wie ein Erzieher, das Kind soll allmählich sich entwickeln, wachsen, zunehmen". In der „kindlichen Gemütsverfassung, die den Eindrücken der Welt unbefangen offensteht, soll sich die Wissenschaft erneuern, indem sie sich wahrhaft verjüngt. Den Idolen gegenüber läßt Bacon die Wissenschaft mit dem durchgängigen Zweifel, der Natur gegenüber mit der reinen Empfänglichkeit [auf der Basis sinnlicher Affektion] beginnen" (ebd). Es ist nun höchst aufschlußreich, daß auch die so sich verjüngende Wissenschaft gewissermaßen „eschatologische" - gläubigem Missionsgeist nahestehende - Züge aufweist, die in eigentümlicher Weise die Einbindung des Menschen in die „Natur" mit deren „Beherrschung" verbindet. Zu diesen Ausführungen Kuno Fischers sei noch bemerkt, daß Bacons Programm bezüglich der Frage von (philosophischer) -» Vernunft und (gläubiger) -»Offenbarung eine Situation geschaffen hat, in der man von Offenbarung und an ihr orientierter Theologie nicht mehr in der gewohnten Weise sprechen konnte. Mit Bacons Neubestimmung der Philosophie wird die traditionell formulierte Spannung von credo ut intelligam und intelligo ut credam gegenstandslos, da das Band zwischen credere und intelligere nun endgültig zerschnitten worden ist. Bei Hume bleibt in dieser Entwicklung eine nur noch als ironisch interpretierbare Berufung auf die „Notwendigkeit der Offenbarung". 3.4. Im Rahmen der Fundmentalphilosophie der Neuzeit ist aber nun doch noch besonders auf Humes Stellungnahme zum Ich-Begriff einzugehen. Im Sinne des vom

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Erfahrungsbegriff Bacons ausgehenden sensualistischen Reduktionismus seiner Vorgänger möchte Hume die „innere" (seelische oder geistige) Substanz wie irgendein anderes gegebenes Ding vorfinden, d.h. aber durch „Impressionen" fundiert sehen. Indem er aber auch das Ich als Impression finden möchte, hebt er den Sinn von Impression auf. Denn mit dem Fallen des Ich sind die Impressionen ohne jede Bezugsmöglichkeit und somit keine „Impressionen" (Sinneseindrücke) mehr, sondern einfache, letzte (qualitative) Seinselemente, die als solche alles, was sie nicht unmittelbar selbst sind, durch „Zusammensetzung" (Assoziation) aufbauen sollen. Es ist nun schlechthin unmöglich, aus dem assoziativen Ablauf von Perzeptionen irgendeine übergreifende Einheit derselben gewinnen zu wollen. Kant fragt sehr schön, wie „diese Assoziation selbst möglich" sein soll, wenn ich das nicht perzipierbare Ich „in ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst [auflöse], als ich Vorstellungen habe" (Kritik der reinen Vernunft A 113, B 134). — In besondere Verlegenheit über den Ich-Begriff hinaus mußte Hume bezüglich der Identität der Persönlichkeit (Traktat über die menschliche Natur, Hamburg 1973, 1.4, 359 ff.) geraten. Er war sich selbst gegenüber frei genug, die Unhaltbarkeit seiner Lösung einzugestehen: „Wenn ich mir...den Inhalt des Abschnitts über die Identität der Persönlichkeit genauer überlege, so verirre ich mich in ein Labyrinth [!] von Gedanken; ich muß eingestehen, daß ich weder weiß, wie ich die dort ausgesprochenen Ansichten berichtigen noch wie ich sie als in sich haltbar erweisen soll." So nimmt er, nachdem er sich mit seinen Argumenten noch einmal im Kreise gedreht hat, sein „Privileg als Skeptiker" in Anspruch und gesteht zu, daß die Lösung dieser Schwierigkeiten für seinen „Verstand eine zu harte Aufgabe ist". Er fordert andere auf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. - Erwähnt sei hier nur noch, daß die Verlegenheit Humes bei E. Mach (1838-1916), dem Begründer der „wissenschaftlichen Weltauffassung" in der österreichischen Philosophie, fundamentalphilosophisch in schlechthinnige Hilflosigkeit mündet. 4. Die „Kopernikanische

Wendung"

und ihre

Folgen

4.1. Kant ist der Aufforderung Humes nachgekommen und hat sich über alle angeführten Aporien und ihre Unauflöslichkeit sehr wohl „den Kopf zerbrochen". Er kommt über den erhellenden -•Skeptizismus und die Resignation Humes hinaus zum Bewußtsein eines Problems, das ihn nach der Möglichkeit von Erfahrung als der Grundlage allen Erfahrungswissens fragen läßt. Eine derartige Untersuchung nun, die nicht selbst Erfahrungswissen ist, sondern nach seiner Voraussetzung wwsewstheoretisch (nicht wissenschaftstheoretisch im Sinne der naturwissenschaftlich orientierten „philosophy of science", sondern systematisch allgemein etwa im Sinne der „Wissenschaftslehre" —>Fichtes) fragt, nennt er eine transzendentale Untersuchung. In ihr geht für ihn „die transzendentale [mit dieser Voraussetzungsproblematik beschäftigte] Wahrheit...aller empirischen vorher und macht sie [erst] möglich" (Kritik der reinen Vernunft A 146, B 185). Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß der -»Zeit nach „keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorhergeht, und mit dieser fängt alle a n . . . Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung [innerzeitlich] anhebt, so entspringt sie [fundamentalphilosophisch] darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung" (ebd. B 1). Von diesen Einsichten her ist festzuhalten: Eine transzendentale Untersuchung im Sinne des recht verstandenen und zunächst verfolgten Anliegens Kants ist a priori („unabhängig" von der Erfahrung) nur in der Hinsicht, daß sie — in unmittelbare Erfahrung voraussetzender und doch zugleich Erfahrungssinn bedenkender und begreifender Vermittlung — unabhängig von der jeweiligen bestimmten Erfahrung und der auf sie begründeten Erkenntnis sich vollzieht, was gar nichts anderes heißt, als daß eben in transzendentaler Reflexion nicht bestimmte Erfahrungsgebiete erkannt werden (das ist Aufgabe der einzelnen Erfahrungswissenschaften), sondern der Sinn (die „Möglichkeit") dessen, was Erfahrung heißt, herauszustellen ist, ungeachtet der jeweiligen und stets bestimmten wirklichen Erfahrung. Mit dem Apriori wird also in transzendentaler Untersuchung

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zunächst nicht mehr erstrebt als die Bewußtmachung der transzendentalen Problemebene als solcher, d.h. die Abgrenzung der fundamentalphilosophischen Voraussetzungsproblematik der Philosophie von der den Sinn ihres Vorgehens nicht selbst reflektierenden bestimmten Einzelwissenschaft auf der Basis des neuzeitlichen Forschungsprogramms. Dabei darf nicht übersehen werden, daß dieses neuzeitliche Forschungsprogramm einen Inbegriff von einzelnen Erfahrungswissenschaften darstellt, die jeweils ganz verschiedene Voraussetzungsprobleme mit sich bringen. Betrachten wir als Beispiel die Wissenschaften, die sich mit der Abfolge der Ereignisse in der Zeit beschäftigen, dann sind zu nennen die Geschichte des Kosmos, die Geschichte der Erde, die Geschichte des Lebens auf der Erde, die Weltgeschichte und schließlich die Heilsgeschichte. Daß sich bezüglich dieser fünf -»„Geschichten" verschiedene Voraussetzungsprobleme stellen, liegt auf der Hand, auch wenn man das von jeweils auftretenden imperialen einzelwissenschaftlichcn Ansätzen her entweder naiv nicht bemerkt oder in sogenannten Übertheorien zu verschleiern sucht. Dabei ist es doch klar, daß man bezüglich der Weltgeschichte in der Voraussetzungsproblematik in neuer Fragedimension die freiheitliche Selbstbestimmung des Menschen bedenken muß. Erst recht ist mit der Heilsgeschichte neuerdings eine besondere Situation gegeben: In ihr geht es ja nicht nur um den Menschen, sondern um sein Gottesverhältnis, also um Gott. - Zum Abschluß aller dieser Hinweise sei gesagt, daß im Rahmen des Inbegriffs empirisch-einzelwissenschaftlicher Forschung jede besondere Einzelwissenschaft einfach von ihrer Methode her zu bestimmten Abstraktionen gezwungen ist. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange diese methodischen Abstraktionen nicht ontologisch mit dem Anspruch, das eigentliche Sein zu erfassen, interpretiert werden. 4.2. Kants Unterscheidung von transzendentaler und empirischer Wahrheit führt bei konsequentem Denken über die Frage nach der Möglichkeit von Erfahrung hinaus zu der Frage nach der Möglichkeit von Wahrheit überhaupt, auch wenn er sich dieser Frage nicht mit gleicher Ausführlichkeit und Gründlichkeit gewidmet hat. Nicht ganz unberechtigt ist der Vorwurf, daß er sich um die eigene Sache, nämlich um die Philosophie selbst, in dieser Hinsicht zu wenig gekümmert hat. Jedenfalls aber trifft Kant die Feststellung, daß eine formale Wahrheitstheorie unzureichend, eine materiale unmöglich sei (Kritik der reinen Vernunft A 57ff, B 82ff). Von hier aus läßt sich in allgemeiner Formulierung weiterfragen, nämlich: Wie ist materiale (inhaltliche) Wahrheit als Zusammenhang von Aussagen (als Prädikation) möglich? Im Verfolgen dieser Frage stoßen wir auf zwei von alters her vertretene „Theorien": die Korrespondenztheorie und die Kohärenztheorie, die beide auf der „Sprachlichkeit des Menschen" beruhen. Denn es läßt sich zeigen, daß alle sonstigen in der Überlieferung und besonders auch in der neueren Zeit aufgetretenen Wahrheitstheorien in ihren Ansprüchen und bei ihrer Durchführung immer schon Korrespondenz- und Kohärenzaspekt - in vorgegebener (ursprünglicher) Vereinigung - voraussetzen. Diese anderen Wahrheitstheorien führen vom consensus gentium über alle „pragmatischen" (-»Pragmatismus) -» Wahrheitsauffassungen, über -»Nietzsches Distanzierung des traditionellen Wahrheitsbegriffs, nicht ohne Zusammenhang mit dem „Fiktionalismus", bis zu den Wahrheitsauffassungen des -»Marxismus, der -»„kritischen Theorie" der „Frankfurter Schule" (Th. Adorno, J. Habermas), der „phänomenologischen" (-»Phänomenologie) und der im Anschluß an sie und E. -»Husserl ausgebildeten existenzphilosophischen Begründung (M. -»Heidegger, K. -»Jaspers), der „semiotisch transformierten Transzendentalphilosophie der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft" (K.O. Apel), der „semantischen Definition der Wahrheit" (A. Tarski), aller an Verifikation bzw. Falsifikation im Sinne der „Objektivitätsthese" des neuzeitlichen Empirismus orientierten Positionen verschiedenster Ausprägung, schließlich des „Konventionalismus" (R. Carnap) und des „Konstruktivismus" (H. Dingler, V. Kraft, P. Lorenzen, Analytische Philosophie).

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Doch stellt uns Kants transzendentaler Grundansatz - und das durchaus im Kontext der eben besprochenen Argumentationsgänge - vor weitere Probleme im Zusammenhang mit dem Ich-Begriff: Er betont nämlich, daß ich „mir meiner selbst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, bewußt bin, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin" (Kritik der reinen Vernunft B 157). Wie immer man diese Stelle interpretieren mag, sicher ist jedenfalls, daß das transzendentale Ich als solches einen Existenzanspruch stellt, der weder „empirisch" als „Erscheinung", noch „metaphysisch" als „Ding an sich" angesetzt werden darf, da es ja als „Vermittlung" alles und jedes Erscheinens nicht selbst in fixierter sinnlich-übersinnlicher Differenz gedacht werden kann. Wie aber steht es dann um die auch von Kant wie schon von Hume postulierte Identität der Persönlichkeit, d.h. um den Begriff des Menschen als daseiende Transzendentalitäti Von dieser Wendung her führt - wenn man sie ernst nimmt-der Weg ebenso zur Existenzphilosophie wie zur Gesamtsystematik des „Deutschen -»Idealismus". 4.3. Schon bei Kant selbst ergeben sich - wie gesagt - über die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung hinaus in der Ausarbeitung seines Systems weitere Probleme, die man analog der ursprünglichen Synthesis unter den Begriff der Ursprünglichkeit im Gesamtraum der transzendentalen Systematik bringen kann. In der Frage nach der Möglichkeit des Handelns mußte das „daß ich bin" des transzendentalen Ich über die theoretische Vernunft hinaus zu Differenzierungen im Raum der praktischen Vernunft führen, nämlich bezüglich der Ursprünglichkeit der -»Freiheit (als Freiheitlichkeit des Menschen, „Kausalität aus Freiheit") und in diesem Bereich weiterhin in der Frage der Ursprünglichkeit der Moralität zum „intelligiblen Charakter" als -»Gewissen („kategorischer Imperativ"). Von seiner „Kritik der Urteilskraft" her aber stellte sich Kant einerseits die Frage nach der Begründung der -*Ästhetik und außerdem diejenige nach dem, was „Naturzweck" heißt, d.h. die Frage nach dem Wesen organischen Daseins im Sinne innerer Zweckmäßigkeit der Natur. Bezüglich des Naturzwecks (Kritik der Urteilskraft $61) gerät Kant in eigentümlich zwiespältige Betrachtungen. Der Naturzweck ist für ihn zwar einerseits „ein Prinzip mehr die Erscheinungen derselben [der Natur] unter Regeln zu bringen, wo die Gesetze der Kausalität nach dem bloßen Mechanismus derselben nicht zulangen", andererseits aber bleibt dieses Prinzip eine bloße Möglichkeit der Reflexion, ein „regulatives Prinzip für die bloße Beurteilung der Erscheinungen, denen die Natur nach ihren besonderen Gesetzen als unterworfen gedacht werden" kann. Damit werden der Natur keine „absichtlich-wirkenden Ursachen unterlegt", weil eben ein „teleologischer Grund" (-»Teleologie) nur so „als ob [!] er in der Natur (nicht in uns) befindlich wäre" gedacht wird. Insofern wird der Naturzweck in der Systematik Kants gewissermaßen ortlos, er hat keinen Platz, weder in der „Natur" noch in dem ihr die Gesetze vorschreibenden transzendentalen Verstand. Mit diesem Ansatz aber ist im Grunde schon alles entschieden, sofern dann nämlich die Gegenüberstellung von bewußtem Zweckhandeln und Naturmechanismus als vollständige Disjunktion fixiert erscheint. Gerade das aber ist (seit Descartes) das Problem. Schelling freilich erkennt die ontologische Lücke im Ganzen der Argumentation Kants. Gegen das „Als-ob" der reflektierenden Urteilskraft fragt er mit Recht folgendes: „ . . . Wenn es in eurer Willkür steht, die Idee von Zweckmäßigkeit auf Dinge außer euch überzutragen oder nicht, wie kommt es, daß ihr diese Idee nur auf gewisse Dinge, nicht auf alle übertragt, daß ihr euch ferner bei dieser Vorstellung zweckmäßiger Produkte gar nicht frei, sondern schlechthin gezwungen fühlt? Für beides könnt ihr keinen Grund angeben, als den, daß jene zweckmäßige Form ursprünglich und ohne Zutun eurer Willkür gewissen Dingen außer euch schlechthin zukomme" (Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft, 1797; Ausg. Schröter I, 693f). Nun ist freilich diese zweckmäßige Form in der Natur nichts anderes als jene „substanziale Form" des Aristotelismus, zu deren Rehabilitation sich Leibniz im Ausbau seiner „Monadologie"

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genötigt sieht. Nach Aristoteles ist das Wesensallgemeine als die „unterste A n " (äxofiov elSog, infima species) für die Bestimmung dessen vorausgesetzt, was bei ihm das eigentlich Seiende ausmacht, nämlich das erscheinende Individuelle als „erste Substanz" (oöaia alaBrjxfi als npüni) oöaia). Vom Individuellen unterscheidet Aristoteles ebenso das Einzelne in seiner sinnlichen Realität, auf das man nur hinzuzeigen bzw. dem man allenfalls noch einen zwar benennenden, nicht aber bestimmenden (Eigen)namen äußerlich anzuhängen, das man aber auf solche Weise nicht auszusagen vermag. Auch ist das in Frage stehende konkrete Individuelle nicht vom (abstrakten) Allgemeinen her zu bestimmen, sofern man dieses entweder als eigene Substanz in das Reich jenseitiger Entitäten versetzt (schlechte -»Metaphysik, „Gespenstermetaphysik") oder nominalistisch entwirklicht (methodische Abstraktion einzelwissenschaftlicher Empirie). Von den großen Philosophen der Neuzeit hat nur der späte Leibniz den ganzen hier vorliegenden, systematischen Problemzusammenhang erkannt: Besonders deutlich kommen seine Einsichten in der Lehre über den Unterschied von Nominaldefinition und Realdefinition zum Ausdruck (Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand, III. Buch, Kap. V-VIII). 5.

Postludien

5.1. Ich habe die in den Präludien in ihrer zentralen Bedeutung in Sicht gebrachte Frage nach dem Begriff des Menschen in der Besonderheit seiner geistigen Existenz von Kants Unterscheidung des empirischen und des transzendentalen Ich und der aus dieser Unterscheidung folgenden Systematik der Transzendentalphilosophie in der Wendung (Kurzformel) daseiende Transzendentalität zusammengefaßt. - Hegel spricht in gleichem Sinn davon, daß es in der neuzeitlichen Entwicklung darum gehe einzusehen, daß die Substanz zugleich als Subjekt zu denken ist. - Kann ich aber von Kant her, der das zweifache Ich in der Differenz von transzendentalem und empirischem Ich festhält, überhaupt (gewissermaßen in umgekehrter Fragerichtung) vom Subjekt zu jener „Substanz" zurückgelangen, um die es in der ontologischen Tradition - im Grunde seit Piaton - geht? Zwar ist als wesentliche Einsicht festzuhalten, daß Kants Unterscheidung einerseits das Vorgehen aller Empirie im Sinne des neuzeitlichen Forschungsprogramms („empirischer Realismus") sichert und andererseits an der transzendentalen Voraussetzungsproblematik zugleich die grundsätzliche Grenze dieser Art von Wissen („transzendentaler Idealismus") aufzeigt. Droht dann aber bei dieser Auffassung der Sache nicht fast mit Notwendigkeit entweder die Verselbständigung der empirischen Sphäre oder - im Gegenzug - diejenige der Transzendentalität in einer wie immer gefaßten transzendentalen Logik, die dem „daß ich bin" der ursprünglichen Synthesis nicht gerecht zu werden vermag? L. -» Feuerbach gelangt von hier aus typisch neuzeitlich zu folgender, zuletzt auf Descartes zurückgehender, aufschlußreichen Formulierung, wenn er sagt: „Allerdings ist das Bewußtsein das erste, aber es ist nur das erste für mich, nicht das erste an sich. Im Sinne meines Bewußtseins bin ich, weil ich bewußt bin, aber im Sinne meines Leibes bin ich bewußt, weil ich bin" (SW, hg. v. Bolin u. Jodl, Stuttgart 1903 ff, IV 201). 5.2. -»Heideggers ursprünglicher Ansatz in „Sein und Z e i t " (1927) ist bemüht, die transzendentalphilosophische Aporie durch die Überwindung der in ihr unvermeidlich sich ergebenden Temporalitätsproblematik zu bewältigen. Er gelangt von hier aus nach der „Kehre" zu dem Versuch eines neuen Denkens, das auch sprachlich - in der Konfrontation von Logos und Mythos - zu einer Ursprünglichkeit gelangt, ohne die Heideggers Denken nicht zu jener Weltgeltung gelangt wäre, die es tatsächlich erreicht hat. Die Distanzierung der Tradition des Logos, die er in gebildetem Bewußtsein überblickt, steht im Zeichen seiner Lehre vom Ende der Metaphysik, das er mit Nietzsche erreicht werden läßt, so daß ein „künftiges", „anderes" Denken post-metaphysisch heißen kann. 5.3. Trotz verwandter Motive kommt der alte —»Schelling zwar zu einem ähnlichen und doch zugleich ganz anderen Resultat. Die Wege scheiden sich an Kant und der darch ihn in die Geschichte getretenen „Revolution des Denkens". Schelling schreibt (Münchner Vorl. zur Gesch. der neueren Phil. 1827: SW, hg. v. K.F. A. Schelling, X 73): „Das Urteil der Geschichte wird sein, nie sei ein größerer äußerer und innerer Kampf um die höchsten Besitztümer des menschlichen Geistes gekämpft worden, in keiner Zeit hibe der wissenschaftliche Geist in seinem Bestreben tiefere und an Resultaten reichere Erfahrungen gemacht als seit Kant." In der Anmerkung zu diesen Sätzen heißt es, daß es sich dabei um die Entfaltung eines Systems in aufeinanderfolgenden Ausprägungen hindle.

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In dieser Reihenfolge hat -»Fichte gewissermaßen das Totalexperiment eines konsequenten Transzendentalismus auf der Grundlage des Primats der praktischen Vernunft gelehrt und gelebt, wobei er freilich mehr und mehr seinen ursprünglichen Ansatz modifiziert und revidiert hat. In dem von Fichte ausgehenden Gipfelgespräch der Vertreter des „Deutschen Idealismus" kommen ihm gegenüber Schelling und Hegel mit ihrer Kritik zum Zuge, Schelling zunächst durch seine „Naturphilosophie", in der er - wie wir schon gesehen haben - von Kants Begriff des „Naturzwecks" her verfängliche Fragen stellt, die in gewisser Weise auf die Monadenlehre Leibnizens und über diesen auf den Aristotelismus zurückführen. Die Spätphilosophie Schellings ist in weiten Partien eine Interpretation des Aristoteles. -»Hegel hat den wahrhaft gigantischen Versuch unternommen, alle in der Tradition und zuletzt über Kant zum Bewußtsein gekommenen Aporien in seiner dialektischen „Logik" aufzulösen. Er hat in später Zeit die umfänglichste und differenzierteste Kategorienlehre (in ähnlicher Weise wie es zu ihrer Zeit Aristoteles und Thomas geboten haben) in die Geschichte gestellt und ist in dieser Leistung bis heute nicht übertroffen worden: Nur Unkenntnis oder Borniertheit kann sich ungestraft dem Lebenswerke Hegels verschließen. Das gilt ebenso für Philosophen wie für Theologen, und zwar auch dann, wenn sie die Hegeische Systematik nicht anzunehmen vermögen. In dieser Überzeugung haben mich auch die häufig kaum qualifizierten Angriffe auf Hegel (von A. Schopenhauer bis K. Popper) nicht zu erschüttern vermocht. Der späte Schelling hat in seiner sogenannten positiven Philosophie im Gegenzug und zugleich in genauer Kenntnis aller bisherigen Tradition einschließlich der Leistung Hegels einen völligen Neuansatz des Denkens erstrebt und beansprucht. Er meint nicht zu Unrecht, daß er bei diesem Unterfangen Kant treu geblieben ist, indem er in der Weise eines transzendentalen Ansatzes die Frage nach der Möglichkeit des religiösen Bewußtseins der Menschheit stellt und dieses in seinen weltgeschichtlichen Gestalten (als mythologischer -»-Polytheismus, jüdischer und islamischer -»Monotheismus und trinitarisches Christentum) zu erfassen sucht. Er ist davon überzeugt, daß zum Wesen des Menschen notwendig sein Bezug zu Gott gehört. Er formuliert diese Einsicht, indem er von einem ursprünglich gottsetzenden Bewußtsein spricht. Diese Wendung kann freilich auch religionskritisch interpretiert werden. Auch bei Schelling muß man seine systematischen Voraussetzungen, die zum Teil aus einer früheren Lebensepoche stammen, nicht teilen, wenn man einsieht und zugibt, daß er tatsächlich einen nicht ausschaltbaren Motivationshorizont des Denkens zur Sprache gebracht hat. In seinem Ansatz geht es im wesentlichen um das, was für ihn wirkliche, die Menschheit bewegende Geschichte ist, und zwar über alle methodischen Abstraktionen einzelwissenschaftlichen Denkens, besonders auch der wissenschaftlichen Historie ebenso hinaus wie über den Systemanspruch Hegels. - Vorzüglich beschäftigt Schelling die christliche Heilsgeschichte und ihre dogmatischen Implikationen. Diese an sich ebenso interessante wie bezugsreiche Thematik läßt sich im Sinne der transzendentalphilosophischen Voraussetzungsproblematik in der Frage zusammenfassen: „Wie ist in der Einheit von immanenter und ökonomischer Trinität Heilsgeschichte möglich f" Ich kann und möchte die Hoffnung nicht aufgeben, daß sich auch im Hinblick auf unser gegenwärtiges Denken über den Pluralismus der Postmoderne, über die Verkündigung des Endes der Metaphysik und des Todes Gottes zurück eine verbindliche Aneignung der Neuzeit im Gesamtraum der philosophia perennis der europäischen Tradition in ihrer unvergleichlichen Größe erreichen lassen und erhalten wird. Quellen -»Descartes, -»Feuerbach, -»Fichte, -»Galilei, -»Hegel, -»Heidegger, -»Hobbes, -»Hume, -»Kant, -»Kepler, -»Marx/Marxismus, -»Nietzsche, -»Nihilismus, -»Nominalismus, -»Ockham/ Ockhamismus, -»Schelling.

Literatur Heinrich Barth, Phil, der Erscheinung. II. Neuzeit, Basel 1959. — Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Phil. u. Wiss. der neueren Zeit, Berlin, I 1906. - Johann Eduard Erdmann,

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Erich Heintel N e w Age 1. Begriff 2. Erscheinungsbild gung (Quellen/Literatur S. 415)

3. Grundzüge der Weltanschauung

4. Kritische Würdi-

Zeit vergeht und kehrt nie so wieder, wie sie war. Gegenwart sieht deshalb stets anders als Vergangenheit aus, und Zukunft kann nur neu sein. Menschen aller Zeiten haben sich mit dieser Gewißheit einer in vieler Hinsicht offenen, unverfügbaren Zukunft zufrieden gegeben, ihre Sehnsucht zielte auf grundlegend andere, bessere Verhältnisse. Gewöhnlich umfängt diese Sehnsucht die sich in der Zeit wandelnden Menschen unthematisch, begleitet sie als lichter Horizont durch die Jahrhunderte und artikuliert sich, vornehmlich in Kulturen, die von linearem Geschichtsdenken geprägt sind, in Krisenzeiten als Erwartung einer neuen Zeit. Die vorerst letzte, in der gesamten westlichen Welt faßbare Bewegung, die sich diese uralte Hoffnung zu eigen macht, propagiert unter dem Namen „ N e w Age" den Anbruch einer solchen besseren Zeit. 1. Begriff

In unspezifischer Bedeutung, zur Bezeichnung von Epochen, die sich unter ganz verschiedenen Rücksichten vom Gewohnten, Überkommenen abheben, reicht der Ausdruck im Englischen wie in den deutschen Ubersetzungen „Neue Zeit", „Neues Zeitalter" weit zurück. Die N e w Age-Bewegung versteht darunter jedoch einen epochalen Wandel von Individuum und Gesellschaft in globalem Maßstab, eine am Horizont heraufziehende Weltzivilisation von bisher nie erreichter Harmonie. In diesem Sinne entstammt der Terminus der Gedankenwelt der -•Theosophie (Adyar). Nachdem bereits Helena Petrowna Blavatsky (1831—1891) und Annie Besant (1847—1933) für eine Welteinheitsreligion hinter und über den positiven geworben hatten, sah die amerikanische Theosophin Alice Bailey (gest. 1949) zwischen den Weltkriegen ein Christusbewußtsein heraufziehen, die ein neues Verhalten begründende Überzeugung, daß die Menschheit ihrem innersten Wesen nach zusammengehöre, eine Einheit bilde (Die Wiederkunft Christi, 1948; vgl. dies., Jüngerschaft im Neuen Zeitalter, 2 Bde., 1944/1955; Erziehung im Neuen Zeitalter, 1954).

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Auslöser dieser grundlegenden Wende und Hauptunterscheidungsmerkmal der New Age- von anderen Erneuerungsbewegungen (-»Chiliasmus; —»Messias/Messianische Bewegungen; -»Utopie/Utopisten) bildet ein ganzheitliches Bewußtsein, das für einige „New Ager" aus veränderten kosmischen Einflüssen, vor allem dem Vorrücken des Frühlingspunktes in das Zeichen des Wassermannes (-»Astrologie), für andere aus einer systemischen Weltsicht resultiert. Da jedoch der Anbruch des Wassermannzeitalters wegen der scheinbaren Verschiebung des Himmelspoles astronomisch keine Entsprechung hat, Krisensymptome (Umweltzerstörung, atomare Bedrohung u. dgl.) und Hauptübel der alten Zeit (Zergliederung und Quantifizierung, Verkopfung und Entemotionalisierung) fortbestehen, sind sich selbst führende Köpfe und Vordenker der New Age-Ideologie nicht einig, ob die „neue Zeit" bereits begonnen hat. Wegbereiter und Initiatoren wie Fritjof Capra oder Ken Wilber haben ihr in Interviews sogar schon den Rücken gekehrt, zumindest ihr Ende verkündet. 2. Erscheinungsbild 2.1. Geschichte. Das New Age-Gedankengut wurzelt in der geistig-religiösen Neuorientierung, die in den frühen 50er Jahren an der nordamerikanischen Westküste einsetzte. Ungeachtet markanter Unterschiede im einzelnen sprengten schon Beatniks und Hippies den Rahmen herkömmlicher Denk- und Lebensweisen, indem sie christliche und östliche Ideen, indianische und archaische Traditionen miteinander vermischten und zunehmend mit Astrologie, westlicher -»Magie und anderen, dem wissenschaftlichen -»Weltbild fremden Elementen verbanden. Rasche Fortentwicklung und Verbreitung des vom Esalen-Institut ausgegangenen Human Potential Movement (-»Tiefenpsychologie) verengten den Blick auf Veränderung des Individuums als via regia zur Umgestaltung der als heillos verkommen angesehenen amerikanischen Gesellschaft. Mit dem wachsenden Umweltbewußtsein waren die wichtigsten Komplexe gegeben, die seit Ende der 60er Jahre zunächst in der englischsprachigen Welt unter der Bezeichnung „New Age" zusammengefaßt wurden. Besonders David Spanglers Buch Revelation mit dem Untertitel The Birth of a New Age (1971) erhob das Schlagwort weltweit zu einer Art Markenzeichen. Klares Profil hat es aber weder der Programmatik noch der sie tragenden Bewegung zu verleihen vermocht. 2.2. Programmatisch nahm die „Bewegung" auf dem Weg von Kalifornien durch die gesamte westliche Welt bizarre, in den buntesten Farben schillernde, nur durch den Gegensatz zur Moderne (-»Aufklärung V.) zusammengehaltene, ansonsten jedoch schwer vereinbare Züge an. Im weitesten Sinne ökologisch orientierte Aktivitäten reichen vom Schutz gefährdeter Arten über biologischen Landbau bis zu freiwilligem Konsumverzicht und einem „einfachen Leben", propagieren weiche Technologien, Kreislaufwirtschaft, Dezentralisierung, regionale Autonomie und überschaubare Strukturen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, setzen sich für Abrüstung, Gleichstellung der Frau und zahllose andere Anliegen ein, die menschliches Leben in größeren Einklang mit der Erde zu bringen versprechen. Reform- und Biokost, Naturheilkunde und längst überwunden geglaubte Volksmedizin aus der ganzen Welt, von der Gegenwart bis in die dunkelste Vergangenheit, sollen Gesundheit und Wohlergehen bleibend verbessern. Die Angebote zur Förderung von psychischer Gesundheit und persönlichem Wohlbefinden können selbst Spezialisten weder überblicken noch kompetent beurteilen. Nur wenige wie Hypnosetherapie, neurolinguistisches Programmieren oder manche Kleingruppenverfahren liegen auf der Linie fachpsychologischer Voraussetzungen. Die besonders von A. Maslow und C. Rogers inaugurierte „humanistische Psychologie" brachte zahllose Verfahren zur Aktivierung brachliegender Seiten der Persönlichkeit (-»Person) hervor. Körperbezogene Techniken und die Beschäftigung mit außeralltäglichen, transpersonalen Bewußtseinszuständen, darunter solchen, die lange als abnormal und krankhaft gegolten hatten, sollten dem New Age-Bewußtsein vollends zum Durchbruch verhelfen. Letztlich genießt alles, was Christentum und wissenschaftliches Weltbild seit dem vorigen

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J h . abgelehnt hatten, als Zeugnis von Wahrheiten, die auf dem Weg in die Moderne sehr zum Nachteil vergessen wurden, in der New Age-Theorie und -Praxis höchstes Ansehen (vgl. bes. Reinhard Hummel: Hemmiger 2 1 - 5 0 ) . 2.3. Schwer sind auch die soziologischen Strukturen der Bewegung zu fassen, da es weder anerkannte Führer noch verbindliche Lehrschriften gibt. Bestseller wie Fergusons Verschwörung oder Capras Wendezeit gelten in breiten Kreisen geradezu als Kultbücher, Jean Gebsers Ursprung oder -»Teilhard de Chardin finden als Vorläufer oder gültiger Ausdruck der New Age-Weltanschauung Anerkennung, können aber gleichfalls abgelehnt oder ignoriert werden. Die Beschäftigung mit der genannten und einer wahren Flut weniger ambitionierter Literatur, unregelmäßige Kontakte mit angesehenen Leitfiguren oder N e w Age-Zentren und die Teilnahme an Seminaren, Workshops und Konferenzen lassen nur Gruppierungen entstehen, die mit der Klientel von Ärzten oder Anwälten zu vergleichen sind, höchstens in Ausnahmefällen den Organisationsgrad eingetragener Vereine erreichen. Die Ränder der Bewegung zerfließen vollends, weil Wortführer unermüdlich wiederholen, „in Firmen, Universitäten und Krankenhäusern, in Lehrerkollegien, Fabriken und Arztpraxen, in Bundes- und Staatsämtern, in Stadträten und an Regierungssitzen, bei gesetzgebenden Organen [und] gemeinnützigen Organisationen" gebe es unzählige einzelne, die noch gar nicht wüßten, d a ß sie einer innig verbundenen Verschwörergemeinschaft angehören (Ferguson, Verschwörung 26). In der Praxis kann deshalb nicht nur alles für die Bewegung in Anspruch genommen werden, sondern jeder sich geradezu aufgefordert fühlen, auf den hohe Profite einfahrenden Zug zu springen, um sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. Politische Instrumente werden zur Beschleunigung des Umbruches nicht abgelehnt, bewegen sich aber wie die Hoffnung auf Wahlerfolge für ökologische Parteien und Programme in höchst konventionellen Bahnen und werden kaum propagiert, weil „ein führerloses, aber dennoch kraftvolles Netzwerk arbeitet, um in dieser Welt eine radikale Veränderung herbeizuführen" (ebd. 25). 3. Grundzüge

der

Weltanschauung

Nicht jeder New Ager engagiert sich in sämtlichen Tätigkeitsfeldern. Wie Schorsch anmerkt, „betonen nicht alle Denker auch alle Aspekte... gleichermaßen", die er anhand von 12 Grundbegriffen der Bewegung herausarbeitet (New Age-Bewegung 18). Das gilt erst recht von zahlreichen, teilweise renommierten avantgardistischen Spezialisten, die lediglich von ihren jeweiligen Fachgebieten (Atomphysik oder Mikrobiologie, Hirnphysiologie oder Chemie, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie oder Philosophie) aus nach Auswegen aus der globalen Zivilisationskrise suchen oder von Vordenkern der Bewegung dafür nur in Anspruch genommen werden. Wenn deshalb auch die Sichtweisen und Termini der Standardwerke (vgl. Gruber-Fassberg) nicht von allen Mitgliedern und Sympathisanten geteilt werden, viele sich sogar unter weitestgehendem Verzicht auf theoretischen Überbau als New Ager verstehen, läßt sich die Tiefenstruktur der New Age-Weltanschauung doch unter vier Aspekten zusammenfassen. 3.1. Die Krise des „alten" Zeitalters. Die Entscheidung, unter der Chiffre des New Age zu publizieren oder zu arbeiten, geschieht in der Überzeugung, d a ß es nicht mehr so weitergehen kann wie bisher. Vielfach drängen konkrete Erfahrungen etwa im medizinischen Bereich (Apparatemedizin, Kostenexplosion), mit der Wirtschaft (Wachstum, Spätfolgen) oder den Kirchen (Verbannung der Transzendenz aus der raum-zeitlichen, erfahrbaren Welt zur Vermeidung von Konflikten mit der Wissenschaft) zur Suche nach radikal neuen Lösungsmustern. Capra hat das kausalmechanische Denken der exakten Naturwissenschaften als Quelle des Übels aus- und dessen Ausweitung auf sämtliche Wirklichkeitsbereiche für die bis zum äußersten getriebene Fragmentierung von Natur und Kultur sowie für die Strategie, Probleme durch Schaffung neuer, nicht selten größerer zu lösen, verantwortlich gemacht (Wendezeit).

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3.2. Das neue Weltbild. Um diesen verhängnisvollen Konsequenzen dauerhaft zu entgehen, sei eine ganzheitliche Weltsicht vonnöten, die alles, besonders auch Geist und Individuum, als mit allem verwoben begreift. Gesucht wird sie einmal in Kulturen vor den Zeiten und außerhalb der Räume von europäischer Aufklärung und industrieller Revolution (-»Industrialisierung). Dabei sind nicht selten Zeugen, die wie etwa die Kelten quellenmäßig eher dürftig dokumentiert sind, oder indianische und fernöstliche, die nicht zu den Voraussetzungen der „alten Zeit" gehören, besonders hoch angesehen. Mit noch größerer Intensität werden die modernen Naturwissenschaften nach Zeugnissen einer letzten Einheit der Welt durchforscht. Von Albert Einsteins (1879-1955) Relativitätstheorie über die Quantenmechanik bis hin zu Werner Heisenbergs (1901 — 1976) Unschärferelation wird alles zusammengetragen, was es nahelegt, den Kosmos (-»Welt) als dynamisches System, als sich selbst regulierendes Ganzes aufzufassen, dessen Strukturen nur noch als Feldeigenschaften zu beschreiben sind. Dabei verstehen manche Autoren lediglich ihren spezifischen Untersuchungsgegenstand als offenes System, andere behaupten, ihr Forschungsgegenstand werde erst ganz verständlich, wenn man ihn als Teil eines einzigen, den Kosmos umfassenden Gesamtsystems deute. Selbst wenn dies zutreffen sollte, erweisen gerade Experten ihrer Fächer der New Age-Philosophie keinen guten Dienst, wenn sie unterstellen, dabei handle es sich um mehr und anderes als eine Hypothese. Da auch die gegenwärtige Physik des subatomaren Raumes nur Datenreihen erklärt, gestatten ihre Erklärungsmodelle genau so wenig Rückschlüsse auf die Natur der Dinge wie das kausalmechanische. Das wird auch bei dem offenen Streit um den holographischen Charakter des Universums, einer Abart des -»Makrokosmos-Mikrokosmos-Gedankens, gerne übersehen. Selbst wenn David Böhm recht behalten sollte und das Universum als System gefaßt werden kann, dessen Subsysteme oder konstituierende Größen einen Reflex der grundlegenden Ordnung des Gesamtsystems enthalten, bliebe auch dies nur Modell, aus dem für das praktische Verhalten kaum mehr abzuleiten wäre als aus dem überholten kausalmechanischen (vgl. auch zum folgenden Hemminger, bes. 115-164). 3.3. Das neue Bewußtsein. Uberwinden könne die systemische Weltsicht die gegenwärtigen Krisen nur, wenn möglichst viele Individuen ein entsprechendes Bewußtsein kultivieren, d.h. die wechselseitigen Abhängigkeiten aller Phänomene nicht nur denken, sondern erfahren, des eigenen Verwobenseins in die „Selbstorganisationsdynamik des Kosmos" (Capra) inne werden. Möglich ist dies nur, wenn die mythisch-religiösen Weltbilder und die Modelle der modernen Naturwissenschaften als Wirklichkeitsaussagen, also dogmatisch verstanden werden. Die New Age-Literatur verkündet pausenlos, dieses neue Bewußtsein ziehe bereits am Horizont herauf, dennoch bleibe dem einzelnen aufgetragen, es auszubilden. Oberstes Ziel des breit gefächerten Psychomarktes im Zeichen des Wassermannes ist es, diese Bewußtseinsbildung zu bewerkstelligen. Vielfach begnügt man sich, die aus kulturellen Gründen zurückgedrängte Funktion der ganzheitlich operierenden, rechten Gehirnhälfte zu aktivieren, die der logisch sezierenden linken einzuschränken. Allgemein jedoch wird ein höher entwickeltes, allumfassendes Bewußtsein angestrebt, das die durch Sinne und Denken vorgezeichneten Grenzen abschüttelt. Gestufte Wege zu diesem Ziel, wie mystische Traditionen (-»Mystik) in Ost und West sie kennen, wurden bisher höchstens ansatzweise entwickelt. In der Praxis werden zahllose Verfahren und Techniken neben- und nacheinander eingesetzt. Dadurch entsteht der Eindruck, alle seien fähig, gleichsam aus dem Stand die höchsten Bewußtseinsebenen zu eröffnen. Ausgesprochen laienhaft und unseriös wirkt es, wenn dabei alltägliche psychische Veränderungen wie konzentrierter arbeiten oder Frustrationen gelassener ertragen können als Gipfelerlebnisse oder Durchbrüche zum wahren Selbst hochstilisiert werden. Daneben erfreuen sich aber in Theorie und Praxis auch zukunftweisende neue Ansätze, z.B. von Grof, starker Resonanz.

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3.4. Soziale Transformation. Das neue Bewußtsein, die T r a n s f o r m a t i o n des Individ u u m s , setzt sich in neuer Qualität der sozialen Beziehungen fort und k o m m t in der gesellschaftlichen Transformation zum Abschluß, an deren Ende die U m w a n d l u n g der ganzen Menschheit steht. Über die regional zeitverschoben gedachten Zwischenschritte herrscht keine Ubereinstimmung. Autoren, die wie C a p r a stärker von den Krisen her denken u n d nicht ausschließen, d a ß diese Krisen den U m w a n d l u n g s p r o z e ß vereiteln k ö n n t e n , sehen sie anders als etwa Ferguson, f ü r die der Prozeß nicht scheitern kann (Verschwörung 239 f). Da die Transformation auf ungezählte a n o n y m e Akte zurückgeht, w i r d sie nach allgemeiner Erwartung viel umfassender u n d tiefgreifender ausfallen als punktuelle Reformen oder revolutionäre Umschichtungen von Machteliten. In einer Übergangsphase mag es sinnvoll sein, mit Institutionen hierarchischen Zuschnitts zusammenzuarbeiten, doch auf längere Sicht wird jeder zum Z e n t r u m sich herausbildender informeller, aber dennoch stabiler Verbindungen. Die durch vielfältig verknüpfte „ N e t z e " gewährleistete Übereinstimmung der Handlungsziele aller setzt auch ohne Führer viel größere transformative Energien frei, als es der S u m m e der Einzelanstrengungen entspricht. Es gehört zu den konsensfähigsten Grundüberzeugungen der N e w Age-Literatur, d a ß die gesamte Bewegung ein einziges, auf T r a n s f o r m a t i o n der Gegenwart gerichtetes Netzwerk darstellt. 4. Kritische

Würdigung

Die ganzheitliche, Glauben und Wissen umfassende N e w Age-Weltanschauung, die angesehene avantgardistische N a t u r - und Geisteswissenschaftler in vielen Details bestätigen, hat die Suche nach der verlorenen Einheit von N a t u r und menschlicher Lebenswelt stark beflügelt. Außerdem hat die vielfach unbekümmerte Infragestellung selbstverständlich akzeptierter, aber keineswegs problemloser Strukturen wie der militärischen Abschreckung, der repräsentativen - » D e m o k r a t i e oder der Wachstumsideologie Spontaneität, Kreativität und solidarische Lebensformen ermutigt, Angst und Resignation bannen helfen. Schließlich räumen Christentum und Kirchen, die als integrale Bestandteile der zu transformierenden „alten Z e i t " allgemein auf besonders starkes M i ß t r a u e n stoßen, die ihnen angelastete Mitschuld a m Versiegen der spirituellen Dimension inzwischen bereitwilliger ein, denken vor dem Hintergrund anderer Religionen verstärkt über die symbolische N a t u r ihrer zentralen Glaubensaussagen nach und entdecken zunehmend eigene meditative, mystische und spirituelle Traditionen neu (vgl. Sudbrack, bes. Mystik). Kritiker weisen aber zu Recht darauf hin, d a ß mythische Elemente und die Tendenz zur Umdeutung wissenschaftlicher Modelle in Seinsaussagen die N e w Age-Weltanschauung selbst zu einem Mythos, einer religiösen Heilslehre machen. D a r a u s folgt der mythischem Denken eigene Mangel klarer Grenzen zwischen Realität und Projektion sowie eine Festlegung auf Strukturen, die rationale Kritik empfindlich einschränken oder ganz paralysieren und nicht allein in weiten Bereichen der N e w Age-Psycho-Szene zu einem Kult der Weisen und „ G u r u s " führt, der bis zur Selbstaufgabe gehen k a n n . Diese antiemanzipatorische Seite des „Ganzheitlichen" und die von Pestalozzi herausgestellte Vernachlässigung der M a c h t f r a g e im N e w Age-Denken lassen es zweifelhaft erscheinen, o b das Konzept tatsächlich in der Lage ist, die bisherige Ausbeutung von N a t u r und Mensch in Technik und Wirtschaft umzukehren oder wenigstens zu stoppen. Bislang wurden krisenhafte Erscheinungen vielfach nur w o r t g e w a n d t ins Gegenteil umdefiniert. Theologisch bleibt die Frage, o b sich das biblische Gegenüber von -»Schöpfer und Geschöpf, - » M e n s c h und - » N a t u r im R a h m e n eines Weltbildes, das nur ewige, kosmische, allerdings von probabilistischen Gesetzen regierte Prozesse kennt, angemessen aussagen bzw. beides dialektisch miteinander vereinen läßt, wie es Jürgen M o l t m a n n (Gott in der Schöpfung, M ü n c h e n 1985) ansatzweise versucht hat. Quellen Morris Bermann, Wiederverzauberung der Welt. Am Ende des Newtonschen Zeitalters, Reinbek b. H a m b u r g 1985. - David Böhm, Die implizite Ordnung. Grundlagen eines dynamischen Holismus,

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Karl Hoheisel Newman, John Henry 1. Leben und Werk

(1801-1890) 2. Würdigung

(Bibliographien/Quellen/Literatur S. 420)

1. Leben und 'Werk John Henry Newman wurde am 21.2.1801 als erstes von sechs Kindern des Bankiers John Newman und seiner aus einer hugenottischen Familie stammenden Frau Jemima

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Fourdrinier in London geboren. Von Jugend auf war er der Musik zugetan und ein tüchtiger Geigenspieler. Nach einem Zusammenbruch der väterlichen Bank erlebte er als Fünfzehnjähriger unter dem Einfluß seines Schullehrers Rev. Walter Mayers eine Bekehrung zum evangelikalen Calvinismus. Sie verankerte in seinem Geist die Grundlehren des Christentums, und eine klare dogmatische Ausrichtung blieb stets ein wesentliches Anliegen seines religiösen Lebens. 1816 schrieb er sich im Trinity College in —•Oxford ein und erwarb 1820 den Grad eines Bachelor of Arts. Sein bescheidenes Abschneiden bei der Prüfung glich er dadurch aus, daß es ihm gelang, 1822 Fellow im Oriel College zu werden. Hier kam er unter den Einfluß der frühliberalen „Noetischen Schule" von Richard Whately, Edward Copleston und Edward Hawkins. 1824 wurde er zum Diakon und 1825 zum Priester der -»Kirche von England ordiniert. Z u dieser Zeit verwischte sich seine evangelikal-calvinistische Prägung, und seine Übernahme der Lehre von der Taufe als -»Wiedergeburt ließ eine Entwicklung hin zu einer hochkirchlichen Orientierung erkennen. Der liberale Einfluß der Noetiker brach ab, nachdem er 1827, als er dem Oxforder Prüfungskollegium angehörte, eine Erkrankung erlebte, 1828 seine Lieblingsschwester Mary starb und als er sich 1829 der Wahl von Robert Peel zum Vertreter der Universität Oxford im Parlament widersetzte, weil dieser nach seiner Auffassung mit der Absicht einer Unterstützung der Katholikenemanzipation die Kirche von England verraten habe. Newmans Verhalten in dieser Angelegenheit zeigte sein wachsendes Selbstvertrauen und Unabhängigkeitsgefühl. 1828 löste er Hawkins, der Provost von Oriel wurde, als Vikar an der Universitätskirche St. Mary the Virgin ab. Auf der Kanzel dieser Kirche erwarb er sich im Folgejahrzehnt mit der Schönheit, Schlichtheit und geistlichen Strenge seiner Predigten wachsendes Ansehen als Prediger und veröffentlichte schließlich 1834-1842 sechs Bände Parochial Sermons. Seine Beschäftigung mit den Kirchenvätern seit 1828 fand ihren Niederschlag in seinem ersten Buch, The Arians of the Fourth Century (1833), in dem er die Ursprünge des modernen -»Liberalismus in der arianischen Irrlehre der altkirchlichen Zeit ausmalte (-»Arianismus). Zwischenzeitlich war er während einer mit seinem engen Freund Richard Hurrell Froude 1832—1833 unternommenen Mittelmeerreise beinahe in Sizilien gestorben. Diese Erfahrung gab ihm die Überzeugung, daß Gott in England eine Aufgabe für ihn habe. Auf der Heimreise schrieb er das am weitesten bekannt gewordene seiner geistlichen Lieder, Lead, Kindly Light. In England hatten die 1830 zur Regierung gekommenen Whigs einen kirchlichen Reformkurs eingeschlagen und 1833 zehn Bistümer der Kirche von Irland aufgehoben. Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Oxford hörte Newman den sog. Assize Sermon „Über den nationalen Abfall", den sein Freund, der Oxforder Poetikprofessor John Keble (1792-1866) am 14. Juli 1833 in der Universität hielt, und verstand ihn als göttlichen Aufruf zur Verteidigung der Kirche in der Stunde der Gefahr. Daraus erwuchsen die Tracts for the Times, die zunächst 1833 in Gestalt kleiner Traktate erschienen und sich danach zu umfangreicheren Abhandlungen ausweiteten (vgl. TRE 15,416,25 -55). In Tracts 38 und 41 (1834) und in den Lectures on the Prophetical Office of the Church (1837) verwendet Newman den Begriff der Via Media, um die Kirche von England als Mittelweg zwischen Rom und dem volkstümlichen Protestantismus zu beschreiben (vgl. TRE 9,646,5-12). 1838 bezieht er den Grundsatz der anglikanischen Via Media in markanter Weise auch auf den articulus vel stantis vel cadentis ecclesiae der Reformation, auf die Lehre von der -»Rechtfertigung allein aus dem Glauben. Verbreitung fanden seine Vorstellungen auch durch die seit 1836 erscheinende Library of the Fathers und durch den von ihm herausgegebenen British Critic.

Newmans Neubestimmung der hochkirchlichen anglikanischen Tradition vollzog eine scharfe Unterscheidung zwischen dem, was katholisch nach altkirchlichem oder modernem „anglokatholischen" Verständnis war und dem, was im neuzeitlichen Sinne als „römisch-katholisch", „papistisch" oder „tridentinisch" galt. Für einige seiner Anhänger war diese Unterscheidung weniger deutlich, deshalb brachte er zu ihrer Verdeutlichung 1841 Tract 90 heraus, der darlegte, daß zwar nicht alle, aber doch einige Lehr-

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aussagen des Konzils von Trient (—•Tridentinum) mit seiner Deutung der antirömischen, von allen anglikanischen Geistlichen zu unterschreibenden 39 Artikel (vgl. T R E 13,424,31-51; 18,347,24ff) vereinbar seien. In der daraus sich ergebenden Auseinandersetzung beendete er die Tracts for the Times, und nach der Ernennung eines anglikanischpreußischen Bischofs in Jerusalem (1841) (vgl. T R E 6,694,21-30) sah er sich als Glied der Kirche von England auf dem Sterbebett. Immer mehr zog er sich aus Oxford zurück und widmete sich den armen Mitgliedern seiner Gemeinde in dem abseits gelegenen kleinen Dorf Littlemore. Dort sammelte er auch eine kleine Schar von Anhängern, die sich zu einem halbmonastischen Studienund Gebetskreis zusammenfanden. Er brachte die Übersetzungen der Select Treatises (1842-1844) und der Historical Tracts (1843) von —»Athanasius für die Library of the Fathers sowie eine Übersetzung der Kirchengeschichte von Claude Fleury mit einem Essay über kirchliche Wunder heraus (1842-1844, letzterer auch gesondert 1843). 1843 plante er eine Reihe von Lebensbeschreibungen englischer Heiliger, von denen er einige auch selbst schrieb (1844-1845). Im gleichen Jahr legte er sein Pfarramt nieder und hielt bei dieser Gelegenheit seine berühmte Abschiedspredigt über „Das Auseinandergehen von Freunden". Am 9. Oktober 1845 wurde er in die Römisch-katholische Kirche aufgenommen. Z u r Selbstrechtfertigung veröffentlichte er seinen Essay ort the Development of Christian Doctrine (1845). Darin vertrat er die Auffassung, das Christentum habe von Anbeginn an Wandlungen in seinen Lehraussagen erfahren; es stehe dabei aber in einer durch ein organisches Wachstum bestimmten durchgängigen Identität mit sich selbst von den Anfängen bis zum zeitgenössischen römischen Katholizismus. (Zur öffentlichen Wirkung von Newmans Konversion vgl. T R E 19,569,33-45.) 1846 ging Newman zur Vervollständigung seiner Priesterausbildung nach Rom. 1847 empfing er die Priesterweihe, und 1848 gründete er ein seit 1849 seinen Ort in Birmingham findendes Oratorium nach dem Muster des römischen Oratoriums von Filippo -»Neri. Er war jetzt eine führende Persönlichkeit der katholischen Erneuerung, die 1850 durch Wiederherstellung einer römisch-katholischen Hierarchie päpstlich anerkannt wurde. 1850 veröffentlichte er seine Lectures on Certain Difficulties feit by Anglicans in submitting to the Catholic Church und 1851 die Lectures on the Present Position ofCatholics in England. Die letzteren gaben Anlaß zu einem Gerichtsverfahren gegen ihn wegen Verleumdung des ehemaligen Dominikaners Giacinto Achilli, in dem er allerdings nur zu einer Geld-, nicht aber zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. 1852 hielt er vor der im Oscott College zusammengetretenen ersten Provinzialsynode der neuen katholischen Hierarchie seine berühmteste Predigt „Der zweite Frühling". Zwischen 1854 und 1858 versuchte er als Rektor die Gründung einer katholischen Universität in -»Dublin. Das Unternehmen war nur teilweise erfolgreich, veranlaßte ihn aber zu seinen Beachtung findenden Vorlesungen über die universitäre Bildung, die in abschließender Gestalt als The Idea of a University erschienen (1873). Sie sind eine klassische Verteidigung des Ideals einer allgemeinen Bildung als eigenwertiger Zielvorstellung, unterscheidet aber dieses Ideal einer dem Gentleman gemäßen Bildung deutlich von dem christlicher Heiligkeit. Ein weiterer Ertrag seines Rektorats war The Office and Work of Universities (1856, ursprünglich Beiträge zu The Catholic University Gazette von 1854). Im übrigen erschien Newman in zunehmendem M a ß die in ihn gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen. 1853 ging er nach Rom, um zu versuchen, seinen Konflikt mit einem betont ultramontanen früheren Schüler, Frater Frederick Faber, beizulegen, der in London ein Oratorium gegründet hatte. Kardinal Wisemans Plan der Herausgabe einer neuen Bibelübersetzung durch Newman scheiterte an Wisemans Unvermögen und einer konkurrierenden amerikanischen Ubersetzung. 1859 versuchte Newman das liberal katholische Organ The Rambler (vgl. T R E 21,70,35-53) durch kurzzeitige Übernahme der Herausgeberschaft vor einer offiziellen Verurteilung zu bewahren; doch sein Artikel, in dem er für eine Konsultierung der gläubigen Laien in Lehrfragen eintrat, wurde in Rom als häretisch denunziert. 1859 gründete er die Oratoriumsschule. Zwischen den

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unversöhnlichen Fronten der liberalen (—»Liberaler Katholizismus) und der ultramontanen Katholiken (—• Ultramontanismus) sah er sich jedoch vielfach angefeindet und veröffentlichte seit 1859 nur noch wenig, bis ihn ein persönlicher Angriff von Charles Kingsley in Macmillan's Magazine 1864 dazu bewog, sein bekanntestes Werk, die Apologia pro Vita Sua zu schreiben. Die unter großem Zeitdruck in wöchentlichen Fortsetzungen verfaßte Apologia gibt einen bewegten und mitreißenden, aber auch sehr persönlichen Bericht über die O x f o r d - B e w e g u n g ( - » A n glokatholizismus), der in der Folgezeit deren geschichtliche Darstellung weitgehend bestimmt hat. Dieser Bericht gewann N e w m a n auch die Achtung von Protestanten der gebildeten englischen Mittelschicht zurück (vgl. zur Apologia T R E 3 , 4 1 9 , 1 5 - 3 1 ) . 1 8 6 5 veröffentlichte er sein Gedicht The Dream of Gerontius, das den Weg der Seele durch den Tod zum Gericht beschreibt und zwei seiner bekanntesten geistlichen Lieder, Firmly 1 believe and truly und Praise to the Holiest in the beight, enthält. Der Dream of Gerontius ist später von E d w a r d Elgar vertont worden. Ein ehemaliger anglikanischer Schüler N e w m a n s , W. J . Copeland, brachte seit 1868 seine anglikanischen Predigten neu heraus. Unter Protestanten wie liberalen Katholiken gewann die Person N e w m a n s so erneut Profil, wenn auch seine ultramontanen Gegner wie sein Mitkonvertit H . E . —•Manning und William George Ward ( 1 8 1 2 - 1 8 8 2 ) seinen Plan einer Oratoriumsgründung in O x f o r d zu Fall brachten. In R o m wurde N e w m a n s Ansehen 1867 durch den Besuch zweier seiner Oratoriums-Mitglieder wieder hergestellt.

Im Blick auf die Dogmatisierung der Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes war Newman indessen tatsächlich — auch wenn er eine solche Kennzeichnung von sich wies - ein „Inopportunist". Er teilte zwar durchaus diese Lehre, trat aber in Gegensatz zu der Gruppierung, die sie auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (->Vatikanum I) verbindlich machen wollte, und geriet in eine mißliche Lage, als ein persönlicher Brief, in dem er seine Vorbehalte verdeutlicht hatte, in der Presse erschien. Im Gegensatz zu William Ewart Gladstone (1809-1898) trat er in seinem Letter to the Duke of Norfolk (1875) auf der Linie eines eigenen minimalistischen Verständnisses für die Unfehlbarkeit ein. Der Brief wurde in Rom als verurteilungsbedürftig angesehen, aber von Erzbischof Manning und Newmans eigenem Bischof Ullathorne verteidigt. 1877 brachte Newman in seiner zweibändigen Sammlung The Via Media eine Anzahl seiner anglikanischen Veröffentlichungen neu heraus und versah sie mit einem Vorwort, in dem er das priesterliche, prophetische und königliche Amt in der Kirche, die gottesdienstliche Rolle von Priestertum und Gemeinde, die denkerische Verantwortung und den Lehrauftrag des Theologen und die vom Papst und der Kurie ausgeübte institutionelle Autorität beschreibt. Diese von Baron Friedrich von —»Hügel im zweiten Kapitel seiner Schrift Mystical Element of Religion (1908) entfalteten Unterscheidungen enthalten ebenso Newmans abgeschlossene Ekklesiologie wie seine Religionstheorie. In seinem hohen Alter setzte er noch viel Kraft in die Überarbeitung und Neuausgabe seiner frühen Schriften. Newman starb am 11. August 1890. 2.

Würdigung

Mit Newmans Erhebung zum Kardinal durch —»Leo XIII. im Jahre 1879 wurde von kirchlicher Seite seine Bedeutung anerkannt. Beträchtlichen Einfluß hat Newman aber auch als Philosoph gewonnen, zunächst mit seinen 1843 veröffentlichten Sermons, chiefly ort the Theory of Religious Belief, preached before the University of Oxford (gemeinhin als University Sermons bezeichnet). Mit einer durch das Werk hindurch zunehmenden Bestimmtheit suchte er darin die Beziehungen zwischen Glauben und Denken zu umreißen. Der scholastische Rationalismus der römischen Schultheologie fand bei Newman keinen Anklang. Den Glauben sah er nicht in der Vernunft, sondern im inneren Zeugnis des Gewissens und der äußeren Gabe der Offenbarung gründen. Den Höhepunkt seines Bemühens um eine Näherbestimmung der Rolle der Vernunft im Bereich des Glaubens brachte dann An Essay in Aid of a Grammar of Assent (1870). Darin bezeichnete er den Folgerungssinn (lllative Sense) als das der Person eigene Vermögen des urteilenden Geistes, in Dingen zu einem sicheren Urteil zu finden, die auf konkreten und je beson-

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deren Erfahrungsmonienten beruhen und in erster Linie nicht abstrakt oder begrifflich, sondern in ihrem wirklichen Gegebensein erkannt werden und nach den Gesetzen der formalen Logik nur zu einem Wahrscheinlichkeitsurteil führen. Damit hat er die Rolle der Vernunft in der Religion wie im Leben gleichermaßen hoch angesetzt und begrenzt (vgl. T R E 13,344,1 ff). Seine Betonung des Einbezogenseins der Person in scheinbar objektive Bereiche der Urteilsbildung und der Rationalität von Gebieten, die sich gegen den Zugriff der syllogistischen Logik sperren, hat im 20. Jh. reichen philosophischen Ertrag gebracht. Newmans außergewöhnliche geistige Vielseitigkeit fand auch künstlerischen Ausdruck. Er hat zwei Romane geschrieben, einen satirischen (Loss and Cain, 1848) und einen historischen (Callista. A Sketch of the Third Century, 1856). Seine besten dichterischen Leistungen neben The Dream of Gerontius sind die 1836 in der Traktarianischen Sammlung Lyra Apostolica (1836) vereinten, zunächst seit 1833 im British Magazine erschienenen Arbeiten und seine Übertragungen aus dem lateinischen Brevier. Außerdem hat er die lateinischen Hymni Ecclesiae herausgegeben (2 Bde., 1838). Die meisten seiner Dichtungen sind in Verses on Various Occasions (1868) gesammelt. Von seinen Gelegenheitsschriften seien die Lectures on the History of the Turks (1854) erwähnt, die er selbst geringschätzte, die aber den Beifall von Ignaz von —»Döllinger fanden. Newman hat einen außerordentlichen persönlichen Einfluß ausgeübt, der durch die Schönheit seiner Prosa auch noch weiter fortwirkt; denn er zählte zu den herausgehobenen Meistern der englischen Prosa des 19. Jh. Sein Versuch einer Neubestimmung der anglikanischen Via Media, seine Überzeugung von der Geschichtlichkeit des Dogmas, sein Personalismus, sein Eintreten für die Aufgabe des Theologen und die Stellung des gläubigen Laien in der Kirche, seine Ablehnung von Rationalismus, Liberalismus und extremem römischen Zentralismus haben andauernde Bedeutung für das christliche und katholische Denken gewonnen, und weithin gilt sein theologisches Erbe als ausschlaggebender Gestaltungsfaktor für das Zweite Vatikanische Konzil (-»Vatikanum II). 1990 hat das Gedächtnis der 100. Wiederkehr seines Todestages eine Fülle von öffentlichen Vorträgen, Tagungen und Gedenkveranstaltungen hervorgebracht, bei denen Römische Katholiken, Anglikaner und andere Christen sich zu gemeinsamer Erörterung und Würdigung seines Lebens und Werkes zusammenfanden. Ein Heiligsprechungsverfahren ist eingeleitet, und Papst Johannes Paul II. hat ihn für ehrwürdig erklärt. Bibliographien Vincent Ferrer Blehl, John Henry Newman. A Bibliographical Catalogue of His Writings, Charlottesville/Virginia 1978. - Cause of Canonization of the Servant of God John Henry Cardinal Newman (1801-1890), Founder of the English Oratories Positio Super Virtutibus, 2 Bde., Rom 1990. - Zur Sekundärlit.: Newman Stud., Nürnberg, I 1948. - David J. DeLaura, Victorian Prose. A Guide to Research, New York 1973. - Recent publications on Newman, ed. Int. Centre of Newman Friends, Rome/ Oxford 1974. - Nicholas Lash, Newman on Development. The Search for an Explanation in History, London 1975. - John R. Griffin, Newman. A Bibliography of Secondary Studies, Front Royal/Virginia 1980. - Lawrence N. Crumb, The Oxford Movement and its Leaders. A Bibliography of Secondary and Lesser Primary Sources, Metuchen/New Jersey/ London 1988. - Günter Biemer, John Henry Newman (1801-1890) nach einhundert Jahren. Ein Lit.bericht: ThRv 89 (1993) 177-188. Quellen Anne Mozley (Hg.), Letters and Correspondence of John Henry Newman during his Life in the English Church, London 1891. - Meditations and Devotions of the late Cardinal Newman, London 1893. - William P. Neville (Hg.), Addresses to Cardinal Newman with his Replies etc. 1879-1881, London 1905. - Correspondence of John Henry Newman with John Keble and Others, 1839-1845, ed. Birmingham Oratory, London 1917. - Erich Przywara SJ (Hg.), A Newman Synthesis, London 1930. - Henry Tristram (Hg.), John Henry Newman. Autobiographical Writings, London 1957. - The Letters and Diaries of John Henry Newman, ed. C. Stephen Dessain u. a., London, X I - X X I I 1961-1972; Oxford, X X I I I - X X X I 1973-1977; I - V I 1978-1984 ( V I I - X noch nicht ersch.). — Armel J. Coupet OP, A Newman Companion to the Gospels, London 1966. - Apologia Pro Vita Sua, ed. Martin J. Svaglic, Oxford 1967. - Louis Allen, John Henry Newman and the Abbé Jager. A Controversy on Scripture and Tradition (1834-1836), London 1975. - Hugo

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Newton, Isaac (1643-1727) 1. Leben

2. Schriften

3. Gedankenwelt

(Quellen/Literatur S. 427)

1. Leben 1.1. Isaac Newton wurde auf dem Landsitz Woolsthorpe in der Nähe von Colsterworth in der Grafschaft Lincoln/England geboren. Seine Geburtsstätte war ein zweistöckiges Haus aus dem 17. J h . und ist seit 1943 im Besitz des Vereins für Denkmalspflege und daher für jedermann zugänglich. Er wurde am ersten Weihnachtstag, dem 25. Dezember 1642 geboren, und seine Taufe in der Anglikanischen Kirche erfolgte eine Woche später. Wäre der gregorianische Kalender zu der Zeit in England gültig gewesen, wäre sein Geburtstag auf den 4. Januar 1643 gefallen. Die Newtons waren fleißige und erfolgreiche Bauern, aber weder gesellschaftlich noch intellektuell eine herausragende Familie. Seit 1560 waren sie in Besitz des hundert Morgen großen Landsitzes, und seit 1623 besaßen sie die Rechte als Gutsherren. In den Kirchenbüchern in Colsterworth finden wir die Begräbnisdaten seines Großvaters am 20. September 1641 und seines Vaters, auch Isaac genannt, am 6. Oktober 1642, nur fünf Monate nach seiner Heirat mit Hannah Ayscough aus Market Overton in der Grafschaft Rutland. Am 27. Januar 1646 heiratete Newtons Mutter in

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zweiter Ehe den verwitweten Barnabas Smith (1582-1653). Er war Mitglied des Lincoln College Oxford und Pfarrer der Gemeinde North Witham, einem Dorf etwa anderthalb Kilometer vom Gutshof entfernt. Newton blieb in Woolsthorpe zurück und wurde der Fürsorge seiner mütterlichen Großmutter, Margery Ayscough, übergeben. Nach dem Tode seines Stiefvaters im August 1653 kehrte seine Mutter auf das Gut zurück. Aus dem Nachlaß seines Stiefvaters übernahm Newton zweihundert bis dreihundert theologische Bücher sowie ein großes theologisches Notizbuch, welches er mit nach Cambridge nahm und in das er viele erste Notizen seiner mathematischen und mechanischen Überlegungen und Forschungen aufschrieb. Ab 1655 besuchte er das Gymnasium in Grantham, wo er möglicherweise Henry More (1614-1687), einen Bürger der Stadt und Ex-Schüler des Gymnasiums, kennenlernte. More hatte sich als Piatonist und Korrespondent Descartes' einen Namen gemacht. Am 5. Juni 1661 wurde der junge Newton auf Betreiben seines Rektors, Henry Stokes (1619-1672), Mitglied des PembrokeCollege -»Cambridge, und durch Fürsprache seines Onkels mütterlicherseits, William Ayscough, Mitglied des Trinity College Cambridge und Pfarrer in Burton Coggles in der Nähe von Colsterworth, als Stipendiat in das Trinity College Cambridge aufgenommen. Nach neuesten Biographien haben die frühe Unabhängigkeit von elterlichem Einfluß und angebliche Spannungen mit geistlichen Verwandten und Bekannten in der Entwicklung seiner grundlegenden Psychologie und späteren theologischen Ansichten eine gewisse Rolle gespielt. In einer privaten Beichte neun Jahre nach dem Tode seines Stiefvaters hat er in der Tat eine Liste von Sünden aufgestellt, die u.a. die Drohung enthielt, „meinen Vater und Mutter Smith und das Haus über ihnen zu verbrennen" (Fitzwilliam Notebook: Westfall 13). 1.2. Newton wurde 1664 zum Vollstipendiaten in Trinity befördert und machte dort 1665 seinen B.A. Am 1. Oktober 1667 wurde er „fellow" des College. Aus diesem Grund mußte er den Eid ablegen, „daß er bereit sei, die wahre Religion des Jesus Christus mit ganzer Seele zu umfassen und entweder die Theologie zum Objekt seines Studiums zu machen und sich zur vorgeschriebenen Zeit ordinieren zu lassen oder aber das College zu verlassen". Am 7. Juli 1668 wurde er Magister, und am 29. Oktober 1669 wählte man ihm zum „Lucasian Professor" für Mathematik, ein Lehrstuhl, den er bis 1701 innehielt. Diese Jahre in Cambridge waren für ihn gesellschaftlich schwierig und intellektuell turbulent. Er hatte kaum Kontakt zu seinen Kollegen. Seine Professur enthielt die Verpflichtung, Vorlesungen über „bestimmte Gebiete der Geometrie, Astronomie, Geographie, Optik, Statik und einige andere Gebiete der Mathematik" zu halten. Aber Newton zeigte wenig Interesse am Lehren, und wir kennen nur drei Studenten, die seine Vorlesungen besucht haben. Am 11. Januar 1672 wurde er zum Mitglied der „Royal Society" gewählt, und einige seiner Artikel erschienen in deren Transactions. Darüber hinaus veröffentlichte er nur eine Ausgabe der Geographia Generalis (Cambridge 1672) von Bernhard Varenius (1622-1650) und die Princtpia Mathematica (London 1687). Das eigentliche Ausmaß seiner Forschungen über die Grundlagen und Anwendung von Mathematik, Statik, Dynamik, Licht und Farbe, Physik und Chemie ist erst vor kurzem durch die ersten, einigermaßen vollständigen Ausgaben seiner Korrespondenz und bisher unveröffentlichter wissenschaftlicher Manuskripte bekannt geworden. Er selbst wollte seinen Ruf durch die Veröffentlichung dieses Materials nicht aufs Spiel setzen, und es gibt bisher noch keinen eindeutigen Konsens über dessen genaue Bedeutung. Dasselbe gilt auch für die privaten theologischen Ansichten, die er in dieser Zeit in Cambridge entwickelte. Wohl aber war er bereit, öffentlich gegen die Papisten aufzutreten. Als Jakob II. 1687 verlangte, daß die Universität dem Benediktinermönch Alban Francis den Magistertitel verleihe, ohne daß dieser den geforderten Treueid zur Anglikanischen Kirche ablegte, griff Newton dieses Vorgehen in einem öffentlichen Gericht an. 1689 stellte er sich erfolgreich zur Wahl, die Universität bei der von Wilhelm III. einberufenen Sitzung des Parlaments zu vertreten, in der das Problem der Nachfolge, ausgelöst durch die Absetzung Jakobs II., geklärt werden sollte. Etwa um 1670 entwickelte Newton aber sehr schwerwiegende Skrupel in bezug auf die Trinitätslehre (-»Trinität). Obwohl deutlich aus seinen Notizbuchaufzeichnungen zu erkennen ist, daß sich um 1672 seine privaten Ansichten ganz mit denen des —»Arianismus deckten, sorgte er dafür, daß dies nicht öffentlich bekannt wurde. Wäre dies geschehen, hätte ihn das seinen Lehrstuhl gekostet. Ein weiteres Problem waren folgende Bedingungen seiner Anstellung: Entweder mußte er bis zum Juli 1675 seine Ordination vollzogen haben oder aber seinen Posten aufgeben. Er befand sich also in einer sehr schwierigen Lage, da er nicht länger den ersten der neununddreißig Artikel der Anglikanischen Kirche, nämlich daß es in der Einheit der Gottheit „drei Personen von einer Substanz, Macht und Ewigkeit gibt", mit seinem Gewissen in Einklang bringen konnte. Newtons Glück war es, daß dieses Problem durch königlichen Dispens aufgelöst wurde. Am 27. April 1675 wurde beschlossen, den Inhaber des Lucasianischen Lehrstuhls von der Notwendigkeit der Ordination zu entbinden. Newtons zentrale Überzeugung, daß Gott eine vollkommene Einheit sei, „ein Wesen, einfach, unteilbar, lebend und Leben gebend, immer und überall aus Notwendigkeit existierend, im höchsten Maße alles verstehend, aus Freiheit das Gute wollend", spielte sicher eine große Rolle in der Ent-

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Wicklung seiner mathematischen und wissenschaftlichen Forschung während seiner Zeit in Cambridge. Da es aber bisher keine zufriedenstellende Ausgabe seiner theologischen Manuskripte gibt, ist es sehr schwer, die genaue Art der Wechselwirkung zwischen diesen beiden Aspekten seiner intellektuellen Tätigkeit festzustellen. 1.3. Im Jahre 1696 siedelte Newton nach London über, wo ihm durch seinen Schüler und Freund Charles Montagu (1661-1715), Graf von Halifax und Finanzminister, die Stelle als Münzwardein angeboten wurde. Er betrachtete diese aber nicht als einen Ruheposten, und als der Direktor der Münzanstalt 1699 starb, ernannte man ihn zum Nachfolger. Es war ein lukrativer Posten, und er behielt ihn bis zu seinem Tode. 1701 wurde Newton vom Senat in Cambridge zum Mitglied des Parlaments in Westminster gewählt, und er hat während dessen kurzer Dauer Halifax und die Whig Party treu unterstützt. 1705 stellte er sich erneut zur Wahl, wahrscheinlich auf Anraten Halifax', wurde aber nicht gewählt. Kurz vor der Wahl wurde er im Trinity College zum Ritter geschlagen und war damit der erste Naturwissenschaftler, dem diese Ehre zuteil wurde. Im November 1703 wählte man ihn zum Präsidenten der Royal Society, einen Posten, den er so ernst nahm wie seine Arbeit an der Münze und den er ebenfalls bis zu seinem Tode innehatte. Sein internationaler Ruf als Mathematiker, Physiker und Astronom beruhte auf der Veröffentlichung seiner Principia Mathematica. Sein über längere Zeit dauernder Disput mit ->Leibniz in bezug auf die Erfindung der Infinitesimalrechnung und die Veröffentlichung seiner Werke Optice (1706), Arithmetica Universalis (1707), Commercium epistolicum (1713) und Tabula refractionum (1721) erwarben ihm hohes Ansehen. In dieser Zeit kam er in Berührung mit dem -»Latitudinarismus, einer Bewegung innerhalb der Anglikanischen Kirche, deren Mitglieder die episkopale Kirchenordnung und Gottesdienstformen annahmen, sie aber letztendlich zur Erlösung des Menschen für überflüssig hielten. In gewissem Sinne war diese Verbundenheit eine natürliche Konsequenz aus dem Einfluß, den die Cambridger Platoniker früher auf ihn ausgeübt hatten, so Henry More mit seiner zwingenden Behauptung, daß derjenige, der seinen Schöpfer wahrhaftig kennen will, zunächst die ursprüngliche Ordnung der Materie und die Gesetze, die über ihre Zusammensetzung und Bewegung herrschen, studieren muß. In den Jahren 1692-1712 legten mehrere seiner berühmtesten Anhänger - Richard Bentley (1662-1742), Samuel Clarke (1675-1729), William Whiston (1667-1752) und William Derham (1657-1735) - dieses zentrale Thema ihren Boyle-Vorlesungen zugrunde. Diese öffentlichen Vorlesungen über -»Physikotheologie waren eine der Hauptkanäle, durch welche die Newtonsche Wissenschaft dem allgemeinen Publikum zugänglich gemacht wurde. Während seiner Londoner Jahre scheint Newton sich mit dieser Bewegung identifiziert und in ihrem Sinne gehandelt zu haben. Die weiteren Implikationen seiner Naturphilosophie wurden offensichtlich zur Förderung der öffentlichen Moral benutzt. Er gehörte dem Kreis der Latitudinaristen um William Wake (1657-1737) an, einem anglikanischen Geistlichen mit nonkonformistischen Sympathien. Newton unterstützte auch Erzbischof Thomas Tenison (1636-1715) in seinem Versuch, die moderaten Nonkonformisten mit der Anglikanischen Kirche zu vereinigen. Er erkannte, daß zu dem Erfolg dieses Versuches geeignete Gotteshäuser zur Verfügung gestellt werden müßten. Als der Erzbischof im Jahre 1700 den .Golden Square Tabernacle' einweihte, ernannte man Newton zu einem der neun Vorstandsmitglieder. Diesem Gremium gehörte er zweiundzwanzig Jahre an. Als das Parlament 1711 ein Gesetz für die Finanzierung von fünfzig neuen Kirchen in den Vororten Londons verabschiedete, stellte Newton sich als Mitglied der Kommission bereit, die dieses Vorhaben durchführen sollte. Er gehörte bis 1720 diesem Ausschuß an. In den Jahren 1715-1721 spielte er auch eine aktive Rolle in dem Gremium, welches die Vollendung der St. Paul's Cathedral überwachen sollte. Allerdings protestierte er gegen das Aufhängen von Bildern in der Kathedrale und trat aus dem Grunde zurück. Dieses Engagement in bezug auf die gesellschaftliche Bedeutung der Religion brachte ihn dazu, von denjenigen Abstand zu nehmen, die seine innersten privaten Überzeugungen teilten. Er hatte gute Gründe, mit dem im Exil lebenden Führern der französischen Kamisaden zu sympathisieren. Als jedoch 1707 sein Freund Nicolas Fatio (1664-1753) öffentlich wegen Unterstützung der Kamisaden angegriffen wurde, machte er keinen Versuch, zu seinen Gunsten zu intervenieren. Im Jahre 1710 verlor William Whiston, einer seiner eifrigsten Anhänger, seinen Lucasianischen Lehrstuhl, nachdem er sich öffentlich zum Arianismus bekannte. Als dieser daraufhin zum Mitglied der Royal Society nominiert wurde, blockierte Newton seine Wahl. Newton widmete sich privat in seinem Alter hauptsächlich der Theologie. Um 1705, nach einer Pause von fast zwanzig Jahren, kehrte er zu vielen seiner ursprünglichen theologischen Fragestellungen zurück, und seine grundlegenden Glaubenssätze änderten sich bis zu seinem Tode kaum. Es war sein äußerlicher Ton, nicht so sehr das Wesen seines Denkens, welches sich änderte. Anstatt wie früher die religiöse Kultur, die er um sich herum erfuhr, herauszufordern und zu verurteilen, neigte er nun vielmehr dazu, sie aufzuhellen und zu durchdringen. Er formulierte einen ausgeglichenen und konstruktiven religiösen Standpunkt: „Wir müssen darum einen Gott anerkennen - wir müssen ihn lieben, fürchten, ehren, ihm vertrauen, ihn anbeten, ihm danksagen, ihn loben, seinen

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Namen heiligen, seinen Geboten gehorchen und Zeit bereit halten, ihm zu dienen - dies ist und wird ewig die Religion aller gottesfürchtenden Menschen von Anfang bis zum Ende der Welt bleiben" (Short Scheme). 2.

Schriften

2.1. Newtons Zeitgenossen waren sich wohl darüber klar, daß er seine naturwissenschaftliche Arbeit innerhalb eines breiteren philosophisch-theologischen Zusammenhanges sah. In dem ausführlichen General Scholium, das er der zweiten Ausgabe der Principia Mathematica (1713) hinzufügte, stellt er fest, „daß dieses allerschönste System von Sonne, Planeten und Kometen nur aus dem Rat und der Herrschaft eines intelligenten und mächtigen Wesens hervorgegangen sein könnte". Wir dürfen diese Gottheit nicht so auffassen, als ob sie einen ihrer wesentlichsten Züge aus der Inkarnation erhält, sondern einfach als „alle Dinge regierend" und „nicht als Weltseele, sondern als Herr über alles" (111,42). Eine weitere Erklärung dieser zentralen Auffassung erscheint in der letzten Frage (Nr. 31), die Newton der zweiten englischen Ausgabe seiner Opticks (1717) zufügt. Er stellt sich vor, daß Gott die Schöpfung beginnt, indem er „Materie als solide, massige, harte, undurchdringbare, bewegliche Teile gestaltet". Da aber die Dinge nur durch „die Absicht eines intelligenten Urhebers" geschaffen und geordnet sein konnten, ist es „unphilosophisch, nach irgendeinem anderen Ursprung der Welt zu suchen oder sich einzubilden, daß sie aus einem Chaos, bloß durch Naturgesetze entstehen konnte". Das Begreifen der natürlichen Ordnung durch die richtige Anwendung der Methoden von Analyse und Synthese hat daher auch direkte ethische Folgerungen: „Wenn die Naturphilosophie durch die Fortsetzung dieser Methode in all ihren Teilen endlich zur Vollendung gebracht sein wird, so vergrößert sich auch der Umfang der Moralphilosophie." Dies wiederum wird es uns ermöglichen, die ursprüngliche politische Ordnung des goldenen Zeitalters des Noah wieder einzusetzen. Die Frage nach den Folgerungen dieser Art von Denken in bezug auf die Grundlagen der newtonischen Naturphilosophie wurde im November 1715 von Leibniz gestellt. Sie wurde Gegenstand seiner Korrespondenz mit Newtons Freund, Anhänger und gleichgesinntem Unitarier Samuel Clarke (1675—1729). Die zehn Briefe behandeln den Raum als ein Organ Gottes, Gottes Regieren des Weltmechanismus, die Art der allgemeinen Anziehungskraft, die Existenz eines Vakuums und die Absolutheit von Raum und Zeit. Diese Briefe haben über die Jahrhunderte hinweg großes Interesse geweckt, da sie eine offene Debatte über die Grundlagen der Newtonischen Naturwissenschaften auslösten, und sind seit ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1717 viele Male ediert und übersetzt worden. 2.2. Die äußerst zusammengedrängten Bemerkungen in Principia und Opticks und das Zeugnis aus zweiter Hand durch die Korrespondenz zwischen Leibniz und Clarke verschafften den Gelehrten des 18.Jh. einen verständlichen, aber äußerst begrenzten Einblick in Newtons Theologie. Obwohl die von ihm hinterlassenen Manuskripte fast anderthalb Millionen Wörter über Theologie und Chronologie enthalten, blieben sie zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht, offensichtlich wegen seiner heftigen Abneigung gegen Kontroversen. In den dreißig Jahren nach seinem Tod erschienen verschiedene Fragmente, die sich mit biblischer Exegese, Chronologie und Prophezeiung beschäftigten. Da aber der genaue geistige Zusammenhang weitgehend unbekannt blieb, war es unmöglich, diese auf sinnvolle Weise mit dem mathematischen und wissenschaftlichen Newtonianismus zu verbinden. Eine fast vollständige Ausgabe des gedruckten Materials wurde von Giovanni Salvemini di Castiglione (1704-1792) gesammelt und 1744 in lateinischer Sprache herausgegeben. Samuel Horsley (1753-1806) veröffentlichte sie 1785 in den Originalsprachen. 2.3. Nach dem Tode Newtons erbte der angeheiratete Neffe John Conduitt (1688-1737) seine Manuskripte, und über Conduitts Tochter kamen sie in den Besitz des zweiten Grafen von Portsmouth. Seit der Mitte des 18. Jh. wurde der größte Teil davon auf dem Familiensitz in Hampshire aufbewahrt, ungelesen, unerforscht, ungestört und fast vergessen. Erst der fünfte Graf beschloß 1872, daß das Material katalogisiert werden und die Manuskripte, die sich mit Mathematik und Naturwissenschaft beschäftigen, der Universitätsbibliothek in Cambridge vermacht werden sollten. Der Rest, von dem sich etwa ein Drittel mit Theologie und Chronologie befaßt, wurde 1936 durch Sothebys versteigert. Mehr als die Hälfte dieser theologischen Manuskripte wurde 1936 von einem reichen palästinensischen Juden, A.S. Yahuda (gest. 1951), Professor für Arabisch, aufgekauft; aber seine Versuche, sie den Bibliotheken der Universitäten Harvard, Yale oder Princeton zu vermachen, schlugen fehl. Im Jahre 1969 wurden sie schließlich in der Jüdischen Nationalen und Universitätsbibliothek Jerusalem deponiert. J . M . Keynes (1883-1946) kaufte weitere zwölf Posten von theologischen und chronologischen Manuskripten und hinterließ sie und andere Sachen aus seinem Besitz dem King's College, Cambridge. Weitere theologische Manuskripte liegen in den

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Bodleian Library - » O x f o r d (New College Mss. 361. 1 - 4 ) , der Martin Bodmer-Bibliothek in Genf, in der Bibliothek der Universität Kentucky, im Babson College, Massachusetts und im AdventistenSeminar in Barien Springs, Michigan. Peter Spargo arbeitet zur Zeit an einer kommentierten Ausgabe des Auktionskatalogs von 1936, in der er den Versuch macht, den Verbleib der damals aufgekauften Manuskripte zu lokalisieren. Im Jahr 1950 erschien eine wenig zufriedenstellende Ausgabe der theologischen Manuskripte aus dem Besitz Keynes', und bis jetzt sind nur zwei Fragmente aus den Yahuda-Manuskripten veröffentlicht. Obwohl wir wissen, daß Newton diese Werke hauptsächlich in den Jahren 1 6 7 2 - 1 6 8 5 und 1 7 0 5 - 1 7 2 7 geschrieben hat, ist es bisher nicht möglich gewesen, viele dieser Manuskripte genauer zu datieren. Wir brauchen deshalb dringend eine sorgfältige und umfassende Ausgabe dieses Materials.

3.

Gedankenwelt

3.1. Newton glaubte, daß viele seiner besten mathematischen und wissenschaftlichen Arbeiten eine Neuentdeckung der Wahrheiten darstellten, die schon im Altertum bekannt waren. Die Menschheit war im Laufe der Weltgeschichte intellektuell, moralisch und gesellschaftlich von ihrem göttlichen Anfang degeneriert. Es war darum sowohl für den Mathematiker und Wissenschaftler als auch für den Ethiker und Theologen die höchste Pflicht, den Versuch zu unternehmen, die ursprünglich von Gott gegebene Ordnung wiederherzustellen. Durch eine korrekte Auslegung der -»Bibel konnte die volle Verflechtung dieser allumfassenden Degeneration und Restauration am besten verstanden werden. Darum mußten Regeln zur Interpretation der Worte und Sprache der Heiligen Schrift ausgearbeitet werden. Newton selbst besaß nicht weniger als dreißig verschiedene Ausgaben der Bibel, u.a. Ausgaben des Neuen und Alten Testaments in hebräischer, griechischer, lateinischer, französischer und englischer Sprache und das Neue Testament in griechischer, syrischer und lateinischer Sprache. Seine exegetische Arbeit ist eine beachtliche Leistung. Die von ihm (1690) vorgeschlagenen verbesserten Lesungen von I Joh 5 , 7 - 8 und I Tim 3,16, mit denen er zeigen wollte, daß es keinen biblischen Beweis für die Dreieinigkeit gibt, sind inzwischen allgemein anerkannt. Er versuchte, die wahre Bedeutung von Prophetie festzustellen (ca. 1672), indem er in immenser Kleinarbeit etwa zwanzig verschiedene Fassungen der Apokalypse verglich. Tempel und Kirchen stehen im Mittelpunkt des allgemeinen religiösen Lebens, und es ist darum von höchster Bedeutung, daß die Maße, nach welchen sie gebaut sind, und ihre exakte Einrichtung aufs genaueste begriffen werden. Aus diesem Grunde schrieb Newton seine gelehrte Abhandlung über die heilige jüdische Elle und arbeitete darum auch Ez 4 0 - 4 6 nach Einzelheiten über Salomos Tempel durch (ca. 1680). Wir sollten unser astronomisches Wissen anwenden, um den genauen Zeitablauf dieser von Gott vorhergesehenen Degeneration und Restauration zu messen. Newton erfand eine Methode, um die kleine Ungenauigkeit im Gregorianischen Kalender zu berichtigen (1699); alte und moderne Methoden der Jahresberechnung wurden verglichen (1713), und die Methode, das Datum für Ostern festzulegen, wurde untersucht, um zu beweisen, daß die Passion Christi im Jahre 34 und nicht im Jahre 33 stattgefunden hat (ca. 1725). Solche Berechnungen verschafften ihm die Basis für seine ausführlichen Arbeiten, in denen er beweisen wollte, daß das Königreich Israels älter als das von Ägypten ist (ca. 1690), und für den Versuch, die allgemeine Chronologie der Weltgeschichte darzustellen (1716; 1725). Jeder Versuch, die höchste Einheit und Herrschaft Gottes einzuschränken, war für Newton ein deutliches Zeichen von theologischer Entartung. Der Heilige Geist geht vom Vater durch den Sohn aus. Die von —»Athanasius erfolgreich inszenierte Verurteilung der Lehre des Arius auf dem Konzil zu -»Nicäa (325) war die Ursache für vieles, was in den darauffolgenden Zeiten in der Kirchengeschichte korrupt und anstößig war. Newton wurde (ca. 1670) besessen von der Notwendigkeit der Wiederherstellung dessen, was er als die ursprüngliche, reine Lehre in diesem Punkt ansah. Er führte die Argumente

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für den -»Arianismus auf (1673), versuchte mit allen Mitteln, die Moral und Taten des Athanasius anzuschwärzen, und beschäftigte sich eingehend mit der genauen Bedeutung des Wortes homoousios (c. 1715). Er war davon überzeugt, daß die wahre Religion erst aufblühen und der Weltfrieden gesichert werden können, nachdem die Trinitätslehre aufs gründlichste widerlegt und ausgerottet worden sei (ca. 1720). 3.2. Forschungen nach den historischen Ursprüngen der religiösen Bräuche können uns helfen, die biblische Prophezeiung zu verstehen. Der älteste von ihnen war der Kult der Vesta, „eine Religion, in welcher ständig ein Opferfeuer in der Mitte der heiligen Stätte brannte" (Westfall, Rest 354). Dieser wurde durch die heidnische Theologie, die Verehrung des Inbegriffs der Natur, der vier Elemente und sieben Planeten, verdorben (ca. 1683). Um das Wirken der Vorsehung besser zu begreifen, mußte die Metaphorik der alten biblischen und indischen Propheten richtig interpretiert (ca. 1680) und ihre Sprache genau verstanden werden (1685; 1705/10). Die daraus erworbene Kenntnis wendet Newton dann zur Interpretation der Schriften von Daniel und Johannes an. Hieraus folgert er, daß das Millennium wahrscheinlich 1260 Jahre nach dem endgültigen Triumph der Dreieinigkeitslehre von 607 zu erwarten ist. Die richtige Deutung der Propheten kann uns ferner eine gewisse Einsicht in das Wesen des Jüngsten Gerichts und der Welt danach geben. Der Hauptgrund zu diesen Studien der Prophezeiungen liegt aber nicht in der Befriedigung der Neugierde in bezug auf die Zukunft, sondern vielmehr in der Entdeckung, wie Gottes Vorsehung sich offenbart hat in der Erfüllung dessen, was vorhergesagt war (ca. 1725). 3.3. Der Begriff von Gottes allmächtiger Herrschaft sowohl über die natürliche als auch die menschliche Geschichte ist darum der wesentlichste vereinigende Faktor in den beiden Hauptanliegen von Newtons Gedankenwelt. Die Menschheit unterliegt einem Irrtum, wenn sie die zentrale Wahrheit aus den Augen verliert. Es ist darum die höchste Pflicht von Wissenschaftlern wie Historikern, ihre Mitmenschen zu dieser intellektuellen Quelle aller wahrhaften Religion zurückzuführen. Die Welt der Natur wie auch die Welt der menschlichen Begebenheiten haben ihren Ursprung in dem absoluten Willen und der Macht Gottes, der keine Einschränkung seiner Herrschaft duldet. So wie Roger Cotes (1682-1716) in seinem Vorwort zur zweiten Ausgabe der Principia (1713) schreibt: „Ohne allen Zweifel konnte diese Welt, so wie wir sie erfahren, mit all ihrer Vielfalt an Formen und Bewegungen, nur und aus nichts anderem entstehen als aus dem absoluten und freien Willen Gottes, der über alles herrscht und regiert. Aus dieser Quelle sind alle Gesetze, die wir Naturgesetze nennen, geflossen; zwar finden wir hier viele Spuren einer sehr weisen Planung, aber nicht den geringsten Schatten einer Notwendigkeit. Diese Gesetze müssen wir darum nicht in vagen Mutmaßungen suchen, sondern wir müssen sie durch Beobachtungen und Experimente begreifen lernen." Quellen/Literatur Zu 1.1.: Conway Letters, ed. M . H . Nicolson, New Haven/Oxford 1930. - Charles H. Cooper, Facts Respecting Henry Stokes, Newton's Schoolmaster: Communications made to the Cambridge Antiquarian Soc. 2,12 (1862) 1 6 1 - 1 6 3 . - F i t z w i l l i a m Notebook (1662, Fitzwilliam Museum, Cambridge). - Charles W. Foster, Sir Isaac Newton's Family: Reports and Papers of the Architectural Soc. of the County of Lincoln 39 (1928) 1 - 6 2 . - John Harrison, T h e Library of Isaac Newton, Cambridge 1978. - Frank E. Manuel, A Portrait of Isaac Newton, London 1980. - William Stukeley, Memoirs of Sir Isaac Newton's Life, London 1936. - Edmund Turnor, Collections for the History of the Town and Soke of Grantham, London 1806. - Waste Book (Ms. 4004, Portsmouth CoIIection, Univ. Library, Cambridge). - Valerie Wenham, T h e National Trust Handbook, London 1990. - Richard S. Westfall, Short-writing and the State of Newton's Conscience, 1662: Notes and Records of the Royal Soc. of London 18 (1963) 13. Zu 1.2.: Charles H. Cooper, Annais of Cambridge, 5 Bde., Cambridge 1 8 4 2 - 1 9 0 8 . - T h e Correspondence of Isaac Newton, ed. Herbert W. Turnbull u.a., 7 Bde., Cambridge 1 9 5 9 - 1 9 7 7 . - David Gregory (Hg.), Ms. 245 fol. 14a (ca. 1690, Library o f t h e Royal S o c . ) . - J a m e s E. McGuire, Force, Active Principles, and Newton's Invisible Realm: Ambix 15 (1968) 190. - T h e Mathematical

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Nicäa I

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Michael John Petry Nicäa, Ökumenische

Synoden

I. ökumenische Synode von 325 II. ökumenische Synode von 787

S.441

I. ökumenische Synode von 325 1. Vorgeschichte 2. Die Synode 3. Die fides nicaena 4. Die Osterfrage 5. Die Melitianerfrage 6. Die Kanones 7. Die Vicennalien und der Abschluß der Synode 8. Die Entwicklung nach Nizäa - Die Frage einer Nachsynode 9. Die Rezeption (Quellen/Literatur S. 438)

1.

Vorgeschichte

1.1. 323 hatte -»Konstantin den endgültigen Kampf um die Alleinherrschaft über das Imperium Romanum eröffnet. Im Juli 324 erlitt Licinius eine Niederlage bei Adrianopel; am 19. September errang Konstantin den entscheidenden Sieg bei Chrysopolis (Barnes, New Empire 75). Den Krieg, bei dem es ausschließlich um die Alleinherrschaft ging, hatte Konstantin als Glaubenskrieg, als Krieg um die Befreiung des Christentums von der Unterdrückung durch Licinius geführt (Gelasius, h.e. 2,1). In der konstantinischen Propaganda (Münzen; vgl. Eusebius, v.C. 3,1 etc.) ließ der neue Alleinherrscher sich als Befreier feiern. Besonders -»Eusebius von Caesarea hat dieses Thema in seiner späteren Panegyrik aufgenommen. Alle Verfügungen des Licinius, besonders auch die die Christen schikanierenden, wurden aufgehoben. Konstantin bezeichnet sich als von Gott berufener Herrscher, als Diener Gottes, dem von Gott die Sorge für die Ausbreitung des (christlichen) Glaubens anvertraut ist (Eusebius, v. C. 2,29ff). Schon am 8. November erfolgte die Gründung -»Konstantinopels als der neuen und betont christlichen Hauptstadt des Reiches. Von dort brach er zu einer Reise in die neugewonnen Gebiete auf. Im Februar 325 ist er wieder in der Residenz Nikomedia nachweisbar. Spätestens unmittelbar nach seinem Sieg über Licinius muß Konstantin auch über die kirchliche Lage im Osten informiert worden sein, d.h. über die Folgen der ursprünglich auf -»Alexandrien beschränkten theologischen Auseinandersetzung zwischen dem alexandrinischen Bischof Alexander und seinem Presbyter Arius über das Verhältnis von Gott und seinem Sohn (-»Arianismus, -»Trinität), die inzwischen den ganzen Osten erfaßt und zu unversöhnlich sich einander gegenüberstehenden kirchlichen Parteiungen geführt hatte. Von seinem Selbstverständnis als pontifex maximus für die religiösen Angelegenheiten zuständig, mußte Konstantin hier eingreifen, wie schon zehn Jahre früher im donatistischen Streit (-»Afrika). Allerdings scheint jetzt die Initiative von ihm selbst aus-

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gegangen zu sein. Noch im Herbst 324 reiste im Auftrag des Kaisers sein inzwischen etwa 70jähriger theologischer Berater, Ossius von Cordoba, mit einem persönlichen Brief des Kaisers an Bischof Alexander und Arius nach Alexandrien ab (vgl. T R E 3,703,20-39). 1.2. Auf der Rückreise kam Ossius (nicht vor Anfang 325) nach -»Antiochien, wo am 20. Dezember 324 Bischof Philogenios verstorben war. Unter seinem Vorsitz wurde eine -»Synode abgehalten, die vermutlich -»Eustathius zum Bischof von Antiochien ernannte. Diese Synode verdammte Arius (-»Arianismus 5.1.) und formulierte ein Glaubensbekenntnis. Ossius hatte sich spätestens in Antiochien gegen die Intentionen des von ihm nach Alexandrien gebrachten Briefes Konstantins von der Häresie des Arius überzeugen lassen, was angesichts der im Westen verbreiteten Einheitsvorstellung hinsichtlich der Trinität gut vorstellbar ist. In diesen Zusammenhang der Diskussion um die Hypostasenfrage könnten zwei bei Eusebius, c.Marc. 1,4,39.53 f (Opitz III U. 19) überlieferte Fragmente gehören, die von einer Auseinandersetzung zwischen Narzissus von Neronias und Ossius über die Zahl der göttlichen Hypostasen berichten und zeigen, daß für Ossius das Reden von zwei (so Eusebius) oder drei göttlichen Hypostasen zumindest fremd war. Der von 56 Teilnehmern unterzeichnete Synodalbrief berichtet, daß Eusebius von Caesarea, Narzissus von Neronias und Theodot von Laodicea wegen ihrer Unterstützung des Arius abgesetzt und exkommuniziert wurden, ihnen aber ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet wurde, auf einer bevorstehenden „großen und hierarchischen" Synode in Ankyra in Galatien ihre Rechtgläubigkeit unter Beweis stellen zu können. Dieser Synodalbeschluß, der im eklatanten Widerspruch zur gesamten Synodaltradition steht, nach der die Beschlüsse jeder Synode unmittelbar geistgewirkt und daher im Prinzip für die ganze Kirche verbindlich und nicht einfach aufhebbar waren, zeigt, wie die antiochenische Synode in den Rahmen der kaiserlichen Befriedungspolitik gehört, als deren Exponent Ossius den Osten bereiste.

2. Die Synode 2.1. Aus dem antiochenischen Synodalschreiben ist zu erschließen, daß zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes bereits eine große Synode in das für den Osten außerordentlich verkehrsgünstig gelegene Ankyra in Galatien einberufen war. Bei nzyäkrj Kai kpaziKrj aövoöoQ (Opitz III U. 40,17) ist wohl an eine Gesamtsynode der östlichen Reichshälfte, aber durchaus mit westlichen Vertretern zu denken. Da eine Anwesenheit des Kaisers in Antiochien Anfang 325 nicht nachweisbar ist, muß man davon ausgehen, daß Ossius schon bei seiner Abreise aus Nikomedien nach Alexandrien von dieser geplanten Synode gewußt hat, daß diese Synode also schon Ende 324 kurz nach dem Sieg über Licinius geplant gewesen sein muß. D.h. aber, daß die geplante große Synode unabhängig von der den Osten bewegenden Kontroverse um die Theologie des Arius gleichsam als Abschluß und Höhepunkt des Sieges über Licinius als eine die wiedergewonnene Einheit des Reiches nun auch kirchlich besiegelnde Einheitssynode geplant war. (Bei dieser Sicht gewinnt der die dogmatische Frage völlig ignorierende Bericht des Teilnehmers Eusebius in der vita Constantini, der die Synode als Dank des Kaisers für seinen Sieg interpretiert, unabhängig von der literarischen Gattung des Enkomions, das eine Erörterung dogmatische Kontroversen sowieso nicht zuließ, auch inhaltlich eine gewisse Plausibilität: „Einen solchen Kranz, umwunden mit dem Bande des Friedens weihte seit Menschengedenken einzig Kaiser Konstantin Christo seinem Retter als gotteswürdiges Dankgeschenk für den Sieg über seine Gegner und Feinde, ein Abbild der Apostelschar in unserer Zeit": v. C. 3,7.) Offensichtlich wollte Konstantin gerade eine dogmatische Debatte um in seinen Augen unwichtige exegetische Spitzfindigkeiten auf der von ihm geplanten Synode vermeiden, weil das die Konzeption der Einheitssynode

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in Frage gestellt hätte. Die Mission des Ossius nach Alexandrien sollte diese Dinge im Vorfeld der Synode klären, die der Bestätigung der einen Kirche im nun wieder einen Reich dienen sollte. Gegen die (weithin von -»Athanasius abhängige) historiographische Tradition, die in der arianischen Kontroverse und der Osterfrage die Ursache f ü r die Einberufung der Synode sieht, und der die Forschung weithin gefolgt ist, darf die arianische Kontroverse so weder als Ursache noch als Anlaß der geplanten großen Synode angesehen werden, sondern vielmehr als ein diese Synode gefährdender Faktor. Ossius h a t t e inzwischen in Alexandrien und Antiochien die falsche Beurteilung der kirchlichen Lage durch den Kaiser erkannt. Die Beschlüsse von Antiochien, die jeder synodalen Tradition widersprachen, nötigten nun aber zu einer grundsätzlichen Behandlung der arianischen Frage auf der geplanten großen Synode. D a ß Ossius sich inzwischen in der theologischen Beurteilung des Arius dem Antiorigenisten Eustathius und nicht der von einer Dreihypostasentheologie her argumentierenden Ariuskritik des Alexander angeschlossen hatte, sollte dann fatale Folgen haben. A n h a n d des tatsächlichen Ablaufs und der Ergebnisse der Synode m u ß t e später der Fall des Arius als ihre eigentliche Ursache angesehen werden. Z u Beginn des Jahres 325 änderte Konstantin seine Planung und befahl die Bischöfe nach Nicäa in Bithynien (heute Iznik) nahe seiner Residenz N i k o medien, w o die Synode in einem (bis heute archäologisch nicht nachgewiesenen) kaiserlichen Palast zusammentreten sollte (vgl. Opitz III U. 20). Der Kaiser befahl den Bischöfen, unverzüglich nach Nicäa aufzubrechen, er stellte ihnen den cursus publions f ü r die Reise unentgeltlich zur Verfügung (Eusebius, v . C . 3,6,1; T h e o d o r e t , h . e . 1,7,2), ü b e r n a h m die Kosten f ü r Unterbringung und Verpflegung (Eusebius, v. C. 3,9) und bestimmte die Tagesordnung. D a auch der in Alexandrien und Antiochien verurteilte Arius k o m m e n mußte, w a r klar, d a ß die theologische Frage eine wichtige Rolle spielen würde. In der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit scheinen die wichtigsten Beteiligten ihre Vorbereitungen getroffen zu haben; so sollen Arius sowie Eusebius von Nikomedien und Paulinus von Tyrus auf dem Wege nach Nicäa eifrig f ü r ihre Sache geworben haben; die antinizänische Tradition, die Philostorgius vorlag, berichtet, d a ß Ossius und Alexander gemeinsam in Nikomedien das nizänische Bekenntnis vorbereitet hätten. Deutlich ist, wie hier den theologischen Gegnern jeweils Verschwörungen untergeschoben werden: Die pronizänische Tradition sieht in der G r u p p e u m Eusebius, die antinizänische in der um Ossius u n d Alexander eine Verschwörung am Werk. 2.2. Da keine Akten der Synode überliefert sind, es auch vermutlich nie welche gegeben hat, ist es unmöglich, die genaue Z a h l der in Nicäa versammelten Bischöfe festzustellen oder alle zu identifizieren, da die Angaben selbst einiger Teilnehmer erheblich schwanken. Vermutlich ist davon auszugehen, d a ß die Teilnehmerzahl w ä h r e n d der länger als einen M o n a t dauernden Verhandlungen auch nicht konstant war. Nach der Aufzählung der Provinzen, aus denen die Bischöfe zusammengekommen waren (v.C. 3.7), aus der hervorgeht, daß auch einige nicht zum Reich gehörende Bischöfe teilnahmen, sagt Eusebius, daß es mehr als 250 waren (v.C. 3,8); Eustathius von Antiochien (vgl. Theodoret, h.e. 1.8) nennt 270 Teilnehmer, Konstantin in seinen unmittelbar nach der Synode verfaßten Briefen mehr als 300 (Opitz III U. 25,5); Athanasius, hist. Ar. 66: mehr als 300; Hilarius v. Poitiers, coll. antiar. B. 2,9,7 (CSEL 65, 149): 300 oder mehr; Marius Victorinus, adv. Ar. 2,9: 315. Seit den 60er Jahren des 4. Jh. wird die Zahl von 318 Teilnehmern in Aufnahme der Gen 14,14 genannten 318 Knechte Abrahams kanonisch (Aubineau; Chadwick, Pères). Das früheste Zeugnis Hilarius, syn. 86 (359/60); dann Liberius bei Sokrates, h.e. 4,12; Athanasius, ad Afr. 2; vgl. auch die zusätzliche allegorische Interpretation der Zahl 318 auf das Kreuz und den Namen Jesu bei Ambrosius, de fide 1, prol. 5: 318 = griechisch TIH. Die Zahl der 318 Teilnehmer gehört somit in den in der 2. Hälfte der 50er Jahre beginnenden Rezeptionsprozeß; in diesem Zusammenhang wird auch bei Hilarius (coll.antiar. B2,10) erstmalig der Text des Nicaenum seit der Synode von Nicäa zitiert. Die im Zusammenhang der Kanonüberlieferung überlieferten Unterschriftenlisten unter die nizänischen Kanones (CPG 8516) dagegen nennen nur etwas mehr als 200 Namen, nach Provinzen geordnet (vgl. Honigmann; Schäferdiek; Bienert, à/iooôoioç-, Ulrich).

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Im Juni 325 (Barnes, New Empire 76 gegen den traditionellen 20.5. als Beginn der Synode) wurde die Synode feierlich vom Kaiser im kaiserlichen Palast von Nicäa eröffnet. Eusebius hat v.C. 3,10-12 einen Bericht davon überliefert, von dem die Kirchenhistoriker des 5. Jh. abhängig sind, der trotz seines enkomiastischen Charakters die absolut dominierende Rolle des Kaisers deutlich macht. Die Ankunft des Kaisers in der Palastaula, wo die Bischöfe bereits versammelt sind, wird im Stil eines adventus Augusti beschrieben. Er eröffnet die Versammlung und wird von einem der führenden Bischöfe begrüßt. V. C. 3,11 berichtet, daß der Bischof, „der auf der rechten Seite obenan s a ß " , den Kaiser offiziell begrüßte. Eusebius nennt hier keinen Namen. In den Kephalaia heißt es, daß Eusebius sprach, die historiographische Überlieferung hat dies als Hinweis auf Eusebius von Caesarea verstanden, nur Theodoret (h. e. 1,7,11) korrigiert Eusebius, dem er sonst folgt, aus seiner antiochenischen Tradition, die Eustathius als Vorsitzenden ansah, der auch den Kaiser begrüßt hatte (die Eustathianer sahen bekanntlich nur sich als die wahren Erben Nicäas). Da Eusebius von Caesarea als von der antiochenischen Synode verurteilt ausscheidet, die antiochenische Eustathiustradition ebenfalls nich in Betracht kommt, kann hier nur Eusebius von Nikomedien gemeint sein, dem als Metropolit der Provinz Bithynien diese Begrüßung auch zustand.

Eusebius berichtet weiter, daß daraufhin der Kaiser das Wort ergriff. Die v. C. 3,12 wiedergegebene Rede ist natürlich keine Rede des Kaisers, faßt aber wesentliche Punkte der Intention des Kaisers zusammen. Der Anlaß der Synode ist der Sieg über Licinius. Die Spaltungen, die nun behandelt werden müssen, gefährden im Grunde seinen Sieg. Auch hier herrscht die Vorstellung, daß die dogmatische Kontroverse eigentlich unerheblich sei. Wie U. 17 ist auch diese in dieser Form von Eusebius komponierte Rede ganz von der Einheitsthematik bestimmt (die bei Gelasius, h.e. 2,7,1-41 überlieferte Rede gehört zumindest nicht in diesen Zusammenhang; vgl. Ehrhardt). Daß Konstantin die Eröffnungsrede lateinisch hielt (Eusebius, v.C. 3,13,1), an den folgenden Diskussionen aber auf griechisch teilnahm, unterstreicht den Charakter der Synode als Staatsakt. So muß Konstantin in seiner Rolle als KOIVÖQ ¿niaKonoq auch den formalen Vorsitz der Synode gehabt haben. Er erteilt den Bischöfen das Wort; aus allen Briefen des Kaisers nach der Synode geht hervor, daß er die Entscheidungen fällte. Eusebius nennt ihn selbst als Vorsitzenden (tipoKaSe^öfievog: PG 24,702). Offenbar hat er vor allem bei den dogmatischen Debatten die Leitung der Synode an seinen theologischen Berater Ossius delegiert, der sie aber in Vertretung des Kaisers wahrnahm. Die Unterschrift des Ossius erscheint bei allen Listen an erster Stelle, gefolgt von den Namen der römischen Presbyter. Als Leiter der Synode sieht auch Athanasius Ossius, vgl. apol. sec. 76. Keinesfalls hat Ossius die Synode im Auftrag des römischen Bischofs Silvester geleitet (so in Aufnahme von Gelasius, h.e. 2,12,1 z.B. Ortiz de Urbina).

2.3. Über den Ablauf der Synode im einzelnen, sowie über die Reihenfolge der behandelten Gegenstände gibt es keine Nachrichten, mit den Namen einiger Teilnehmer haben sich früh Legenden verbunden. Eusebius berichtet sehr vage von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Bischöfen und wie Konstantin sie zu einer Einheit brachte (v.C. 3,13). Der Erfolg der Synode wird allein auf den Kaiser zurückgeführt, von Eusebius als „zweiter Sieg" über den Feind der Kirche angesehen. Wohl in Aufnahme und Ausschmückung von v . C . 3,13 berichten Rufin, h.e. 10,2 und von ihm abhängig Sokrates, Sozomenos, Theodoret und Gelasius, wie die Bischöfe schon vor Beginn der Synode bzw. vor der eigentlichen dogmatischen Auseinandersetzung zahlreiche Klageschriften beim Kaiser eingereicht hatten und Konstantin alle Klageschriften ungelesen verbrennen ließ; legendarisch angereichert auch die Berichte über die berühmten Confessoren Paphnutios und Spiridon (Rufin, h.e. 10,4f; davon abhängig Sokrates, Sozomenos, Theodoret, Gelasius). Nach Rufin, h.e. 10,5 haben diese Legenden über die berühmten Confessoren die Funktion, die besondere Dignität der Synode zu unterstreichen. Ebenfalls von Rufin (Gelasius von Caesarea?) abhängig berichten die Kirchenhistoriker von lang andauernden Debatten zwischen philosophisch Geschulten (z.T. Heiden), die mit philosophischen Argumenten für die Arianer Partei ergriffen (philosophisch Gebildete = Arianer geradezu als Topos) und überliefern, wie ein Confessor mit schlichten Glaubensaussagen

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einen solchen Dialektiker zum wahren Glauben bekehrt (Rufin, h . e . 10,3; Sokrates, Sozomenos, Gelasius). Unecht ist die bei Gelasius, h . e . 2 , 1 4 - 2 4 protokollierte lange Debatte der wichtigsten Synodalteilnehmer mit solchen Philosophen. D a ß eine ausführliche theologische Debatte stattfand, ist unbezweifelbar, vgl. Athanasius, A f r . 3 . Im Zusammenhang der theologischen Debatten taucht Athanasius bei den Kirchenhistorikern des 5. J h . als Berater seines Bischofs Alexander auf, dessen R o l l e in der kirchengeschichtlichen Überlieferung sicher übetrieben ist.

3. Die fides

nicaena

3.1. Als wichtigste Quelle für die Entstehung der nicaenischen theologischen Deklaration (Nicaenum) hat der noch während oder unmittelbar im Anschluß an die Synode verfaßte Brief des Eusebius von Caesarea an seine Heimatkirche (Opitz III U. 22 = CPG 3502) zu gelten, in dem er sein Verhalten auf der Synode und vor allem seine Unterschrift unter das Nicaenum erklären und umlaufende Gerüchte widerlegen will (U. 22,1). 3.2. Aus dem antiochenischen Synodalbrief U. 18 muß gefolgert werden, daß Eusebius dieses Bekenntnis als in Antiochien Verurteilter zum Beweis seiner Rechtgläubigkeit vorlegen mußte, was er hier verschweigt. Weiter berichtet er, daß besonders der Kaiser dieses Bekenntnis als orthodox ansah und alle aufforderte, dem zuzustimmen (U. 22,7). Allerdings, so Eusebius, verlangte der Kaiser in das Bekenntnis den Begriff Nicäa (abgekürzt: N) ausreiche, dieses amtlich verlesen und von den Konzilsvätern bekräftigt (79,3-32). Daraufhin ordneten die den Vorsitz führenden Beamten die Verlesung der Formel der 150 Väter an, und der Konstantinopeler Archidiakon Aerius „las aus einem Buch" den ebenfalls protokollierten Text des NC, welchen die Konzilsväter ebenso wie N als Ausdruck des von allen akzeptierten rechten Glaubens bekräftigten (79,36-80,18). Der Text trug die Überschrift „Das heilige Glaubensbekenntnis, das die heiligen 150 Väter festsetzten (bzw. erklänen), welches übereinstimmt mit der heiligen großen Synode in Nicäa" (80,1 f). Man kann aus diesem Befund folgern, daß NC zusammen mit N mindestens vom Kaiserhof als Bekenntnis des Konzils von 381 amtlich rezipiert war, daß sein Text in den Akten der Konstantinopeler Kirche schon länger vorhanden war, daß ihm keinerlei Einwände seitens der in der Bekennntnisfrage generell so kritischen Konzilsväter begegneten und daß man ihn wie N als Norm für die Erörterung der christologischen Streitfragen ansah. Der dort protokollierte Text (ACO 11,1,2; 8 0 , 3 - 1 6 ) kann als die authentische Fassung des NC angesehen werden (vgl. auch die Edition bei Dossetti 2 4 4 - 251, die sämtliche weiteren Uberlieferungen berücksichtigt). Nicaenum und Nicaeno-Constantinopolitanum "EkOeoiq ovvööov ysvofiEvrjq ev Niicaiq. TIiazEüOficv eig Eva Oeöv naxepa navTcov

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xe Kai

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im synoptischen

Vergleich:

'H dyia niaxiq fjv e£e0evto oi äyioi pv naxipsq IhatEvopEV Eiq iva Oeöv naxepa navxoKpäxopa, noitjxfjv oopavoö Kai yrjq, öpaxcöv xe nävxcov Kai dopaxcav.

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Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis

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Kai naOövxa Kai xaevxa Kai avaaxdvxa xfj xpixy fjßipfKaxä xdq ypaäi; Kai avsXOovxa siq xovq ovpavoix~ Kai Kade^opevov ev ÖE^IQ. xOD naxpöq Kai ndXiv ¿pxö/iEvov pzxä Sö^tjq Kpivai Ccovraq Kai vEKpovq, o5 xtjq ßaaiXeiaq OVK Eoxai xiXoq.

Kai eig xö nvEvpa xo äyiov Xo KVplOV Kai (coonoidv, xö EK xov naxpdq ¿KTZopevö/iEvov, xo avv naxpi Kai vidi ovpnpoaKvvovpzvov Kai ovvSoZaCöfiEvov, xö XaXfjaav öiä xdhv npotprjxcüv. Eiq p'tav äyiav KaOoXiKrjv Kai dnooxoXiKtjv ¿KKXrjaiav, öpoXoyovfiEV iv ßänxiopa Eiq ätpEtriv npoaSoKtöpEv avdaxaoiv Kai £corjv xov psXXovxoq 'Aprjv.

Nicaenum

(N)

dpapxicöv, vEKpcöv aicövoq.

Nicaeno-Constantinopolitanum

(NC)

Wir glauben

Wir glauben

an einen Gott, Vater, Allherrscher, alles Sichtbaren und Unsichtbaren Schöpfer.

an einen Gott, Vater, Allherrscher, Schöpfer von Himmel und Erde, alles Sichtbaren und Unsichtbaren.

Und an einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, geboren aus dem Vater als Eingeborener, das heißt aus dem Wesen des Vaters, Gott aus G o t t , Licht aus Licht, wahren Gott aus wahrem Gott, gezeugt, nicht geschaffen, wesenseins mit dem Vater, durch den alles geworden ist sowohl das im Himmel als auch das auf der Erde, der wegen uns Menschen und wegen unserer Erlösung hinabgekommen ist und inkarniert worden ist,

Und an einen Herrn Jesus Christus den Sohn Gottes, den Eingeborenen, der aus dem Vater geboren ist vor allen Zeiten, Licht aus Licht wahren G o t t aus wahrem Gott, gezeugt, nicht geschaffen, wesenseins mit dem Vater, durch den alles geworden ist,

der wegen uns Menschen und wegen unserer Erlösung hinabgekommen ist aus den Himmeln und inkarniert worden ist aus Heiligem Geist und Maria, der Jungfrau,

Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis Mensch geworden ist, gelitten hat und auferstanden ist am dritten Tag, aufgestiegen ist in die Himmel, der kommt, zu richten Lebende und Tote.

Und an den Heiligen Geist. Diejenigen aber, die sagen: „Es war einmal, als er nicht war" und „Bevor er geboren wurde, war er nicht" und daß er aus dem Nichtseienden entstanden ist oder aus einer anderen Existenz oder Wesenheit, die behaupten, wandelbar und veränderlich sei der Sohn Gottes, diese verurteilt die katholische und apostolische Kirche.

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und Mensch geworden ist und gekreuzigt worden ist für uns unter Pontius Pilatus und gelitten hat und begraben worden ist und auferstanden ist am dritten Tag nach der Schrift und aufgestiegen ist in die Himmel und zur Rechten des Vaters sitzt, der wiederkommt in Herrlichkeit, zu richten Lebende und Tote; für dessen Herrschaft wird es kein Ende geben. Und an den Heiligen Geist, den Herrn und Lebensspender, der aus dem Vater hervorgeht, der mit dem Vater und Sohn zusammen angebetet und gepriesen wird, der durch die Propheten gesprochen hat. An eine heilige katholische und apostolische Kirche. Wir bekennen eine Taufe zur Sündenvergebung. Wir erwarten Totenauferstehung und Leben der künftigen Welt. Amen.

Die Entstehung des NC liegt im historischen Dunkel; in der Forschung sind dazu verschiedene Thesen vertreten worden. a) F. J. A. Hort und A. Harnack haben detailliert nachgewiesen, d a ß N C nicht eine überarbeitete Fassung des Textes von N sei. Nach H o r t können nur 33 der in N C vorhandenen 178 (sie!) Wörter aus N stammen, nach Harnack enthält N C - außer dem völlig neuen 3. Artikel - 4 Auslassungen, 10 Zusätze und 5 stilistische Veränderungen, die es als eigenen Text ausweisen. Unter Hinweis auf die Tatsache, d a ß der Text von N C schon vor 381 begegne, nämlich in Epiphanius' Ancoratus (118,9-12; GCS 25,146,22-147,16), und d a ß Berührungen mit dem aus den Katechesen -•Cyrills von Jerusalem rekonstruierten Credo vorliegen, haben H o r t und Harnack gemeint, N C sei ursprünglich das Jerusalemer Taufbekenntnis, welches Cyrill zum Nachweis seiner Orthodoxie 381 vorgelegt hätte, so d a ß es in die Konzilsakten aufgenommen worden wäre. Diese Meinung ist ein unhistorisches Konstrukt (vgl. Ritter 169ff und Kelly 311 f), und der Hinweis auf Epiphanius trägt nichts aus, weil dort ursprünglich der Text von N stand und N C später interpoliert wurde (s. Weischer).

b) E. Schwartz vertrat demgegenüber die Auffassung, NC sei 381 vom Konzil unter Rückgriff auf ältere Bekenntnisaussagen formuliert, förmlich beschlossen und neben N gestellt worden, um sowohl dessen kanonische Geltung zu behaupten als auch es durch Aussagen gegen Apollinaristen und Pneumatomachen zu ergänzen, die nicht in den sakrosankten Text eingetragen werden durften. Lebon hat diese These insofern modifiziert, als er meinte, daß NC nichts anderes als eine der im kirchlichen Gebrauch befindlichen variierenden Formen von N gewesen sei, welche bloß im 3. Artikel Ergänzungen erhalten habe.

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c) A. M . Ritter hat mit einer mittleren Lösung dem auffälligen Schweigen der Quellen bis 451 Rechnung zu tragen versucht (vgl. auch T R E 19,520 f): NC sei nur insofern ein Text des Konzils von 381, als es in den dortigen Präliminarverhandlungen mit den Pneumatomachen als Diskussionsgrundlage im Sinne eines Unionsbekenntnisses (einer vor allem durch Zusätze zum 3. Artikel modifizierten Fassung einer der Formen des „nizänischen Bekenntnisses") präsentiert und hernach in die Akten aufgenommen worden sei, ohne daß das Konzil es solenn als offizielles Bekenntnis dekretierte, weil es Derartiges allein für N gelten ließ. Offen bleibt dabei, welche Dignität das Konzil dem Text beimaß. Diese These hat in jüngster Zeit viel Zustimmung gefunden (vgl. z. B. Kelly 323); direkten Anhalt an den Quellen hat sie jedoch nicht. Ein Grundproblem liegt darin, daß die auf das Konstantinopeler Konzil bezogenen Quellen explizit nichts aussagen, was auf NC hindeuten könnte (vgl. Sokrates, Hist. eccl. V,8,1-20; Sozomenos, Hist. eccl. VII.9.1: Beide erwähnen das nizänische Bekenntnis). Die These Ritters und Kellys, N C wäre als Grundlage bzw. Unionssymbol in die Verhandlungen mit den Pneumatomachen eingebracht worden, kann sich auf jene Quellen nicht stützen. Die entsprechenden Gespräche fanden vor der eigentlichen Konzilsarbeit statt, dienten dem Ziel, die 36 makedonianischen Bischöfe zur Mitarbeit zu gewinnen, und drehten sich — nach den Angaben bei Sokrates V,8,7—10 und Sozomenos V I I , 7 , 4 - allein um die Zustimmung zum Nizänum (unter Hinweis auf die 366 gegenüber Rom erklärte Zustimmung), insbesondere um das bomousios, nicht aber um die besonders strittige pneumatologische Frage. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, daß hinsichtlich der geforderten Zustimmung zum Glauben von Nicäa als Text das N C vorgelegt wurde. 2. Das Verhältnis zum

Nizänum

Bei der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte muß zunächst das Verhältnis zwischen NC und N beachtet werden. Unzweifelhaft hat das Konzil in Kanon 1, in dem Bericht an Kaiser -»Theodosius (bei Mansi 111,557) und wohl auch in dem - aus Theodoret, Hist. eccl. V,9 rekonstruierbaren - Lehrdekret des „Glaubensbekenntnis von Nizäa" bekräftigt; es hat dieses aber mit den Erläuterungen des Lehrdekrets zum 2. Artikel zugleich interpretiert und insofern ergänzt, ferner auch dadurch fortgeschrieben, daß die Anathematismen durch Nennung der verschiedenen Häretiker des 4. Jh. die Formulierung von 325 auf den neuesten Stand brachten. Wollte es gegen die Pneumatomachen N bekräftigen, dann war freilich eine Ergänzung erforderlich, wie -»Athanasius seit 362 meinte und wie sie z.B. -»Basilius immer wieder forderte; gerade dessen Verfahren gegenüber -»Eustathius von Sebaste, an N entsprechende Anathematismen und Klarstellungen anzuhängen (vgl. Basilius, Ep. 125; auch Ep. 140), begegnet hier aber nicht. NC ist nicht einfach ein im 3. Artikel erweitertes N. Es ist aber auch nicht ein völlig anderes Bekenntnis. Vielmehr gibt der Vergleich des Wortbestandes, der seit Hort und Harnack stets gegen eine Nähe zwischen NC und N ins Feld geführt wurde, hier interessante Aufschlüsse. (Für die folgende Wortstatistik werden die Texte der Edition von Dossetti zugrundegelegt.) N C umfaßt 174 Wörter (mit dem abschließenden Amen 175), N dagegen nur 141, von denen das unvergleichbare Anathema (— 42) abgezogen werden muß, so daß 99 Wörter bleiben. Der dritte Artikel muß beim Vergleich zunächst ausscheiden (49 Wörter in N C gegenüber 5 in N). Der erste Artikel ist - bis auf die Ergänzung von „Himmel und Erde" in N C - identisch. Somit hat sich ein Vergleich ganz auf den zweiten Artikel (N = 82, N C = 110) zu konzentrieren. Stets ist aufgefallen, daß N C einige Interpretamente zur Inkarnation und Erhöhung hat, die N nicht bietet. Diese finden sich im zweiten Teil des Artikels. Nimmt man zunächst den ersten Teil, d.h. die Aussagen vor den Interpretamenten (bis KazsXSövza), dann stehen den 51 Wörtern in N C 64 in N gegenüber. Diese Divergenz erklärt sich daraus, daß einerseits in N C drei inhaltliche Aussagen von N nicht begegnen, die insgesamt 19 Wörter ausmachen (a) zouzecrziv 6 c zrjQ ovaiw; roß nazpög, d.h. der berühmte deflatorische Einschub von 325; b) HCDV £K 9EOÜ; diese Klausel fehlt z.B. auch in dem von Basilius, Ep. 140,2 zitierten N-Text; c) zd ze ev zip ovpavip Kai zd ev zjj ytf-, die Schöp-

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fungsmittlerschaft ist in N C sehr knapp ausgesagt). Andererseits hat N C 6 überschießende Wörter (jeweils ein zöv vor und nach fiovoyEvij, dann die inhaltlich gewichtige, weil in Nizänerkreisen umstrittene Zeitaussage lipo ndvzcüv tcöv aicbvcov). Zieht man die jeweiligen Uberschüsse ab, bleiben in N C und N 45 identische Wörter. Im zweiten Teil des zweiten Artikels hat N C 59 Wörter, N nur 18, die sich aber sämtlich auch in N C finden, dreimal ergänzt durch ein Kai. Versteht man die in N C überschüssigen 38 Wörter als Einschübe, dann kann man feststellen, daß die Struktur der Aussagen von N auch im zweiten Teil des 2. Artikels von NC ansonsten unverändert begegnet. Bedenkt man die Variationsbreite der Aussagenstruktur in den übrigen Bekenntnistexten des 4. J h . , so erscheint eine solche Feststellung als nicht unnütz. Nimmt man dagegen an, daß NC als Vorlage nicht N , sondern ein anderes Bekenntnis gehabt habe, dann muß die Strukturparallelität als auffällig registriert werden. Die Ergänzungen seien hier genannt, weil zu jeder Aussage von N in N C ein Zusatz hinzutritt: a) zu KaxeXdövxa „aus den Himmeln"; b) zu aapK0)9evza „aus Heiligem Geist und Maria, der Jungfrau"; c) zu ¿vavSpamTjoavta „und gekreuzigt für uns unter Pontius Pilatus"; d) zu naüövxa „und begraben"; e) zu dvaardvza rp rpiio ftpipq. „gemäß der Schrift"; f) zu dveX96vza CIQ zoix; oöpavoüQ „und sitzt zur Rechten des Vaters"; g) zu Ipxöftevov (NC präzisiert im Blick auf a) xähv) „in Herrlichkeit"; h) zu tcpTvai fcDvraf Kai VEKpoix; „dessen Herrschaft ohne Ende sein wird". Diese Ergänzungen lassen nur in den Fällen b) und c) sowie in f ) - h ) einen besonderen theologischen Grund erkennen, nämlich — wie vielfach in der Forschung konstatiert - eine Wendung gegen Apollinaristen (-»Apollinaris von Laodicea) und Markellianer (-»Marcell von Ankyra). Bei b) handelt es sich um eine Aussage, die auch sonst gelegentlich in Bekenntnistexten begegnet (vgl. zu b) Hahn S 126.164.166.167; zu f) und g) Hahn S154. 1 6 3 - 1 6 6 ; zu h) $156 = 160. 129). Die Ergänzungen a), d) und e) haben kein sachliches Gewicht. D e r ganze Befund m a c h t es wenig wahrscheinlich, d a ß die Verfasser des N C eigens gegen Apollinaristen und Markellianer spezifische Präzisierungen formuliert haben. Vielm e h r kann man annehmen, d a ß es aus der Gemeindepraxis - vor allem im Z u s a m menhang der Taufbelehrung - erwachsene Interpretamente sind und d a ß diese sich an die T e x t f o r m N angefügt haben. Sollte jedoch die erstere A n n a h m e einer bewußten literarischen Ergänzung vorzuziehen sein, dann haben die Interpolatoren offenkundig anders als in N i z ä a 3 2 5 keine dogmatischen Lehrformulierungen, sondern der Bekenntnispraxis entsprechende, liturgisch klingende W o r t e gewählt. W i e auch immer, die w o r t statistische Analyse des 2. Artikels beweist: N C ist ein mit Ergänzungen versehenes - oder ausdrücklich überarbeitetes - N und heißt deshalb mit R e c h t „ N i c a e n o - C o n stantinopolitanum". R . Staats hat in einer wortstatistischen Untersuchung weitgehende Berührungen nicht nur mit dem - nicht erhaltenen - Jerusalemer Bekenntnis (HS) sondern auch mit dem römischen Bekenntnis (R) festgestellt; er hat die Vermutung geäußert, daß die unter Meletius' Leitung 379 in -»Antiochien abgehaltene Synode den Text unter Verarbeitung von HS und R beschlossen (vielleicht sogar formuliert) hätte (Staats, Tradition 216). Die bloße Gemeinsamkeit von Wörtern ist allerdings ohne Berücksichtigung des Inhalts und der Aussagestruktur noch kein durchschlagendes Argument. Gewichtig ist dagegen der Hinweis auf die Ergänzung c) „gekreuzigt für uns unter Pontius Pilatus", die sonst nur in R bezeugt ist, was erheblich modifiziert auch für die Klausel b) „aus Heiligem Geist und Maria, der Jungfrau" gilt, die im wesentlichen so z.B. auch bei Epiphanius und in der Formel von Nike-Konstantinopel 360 begegnet (Geburt aus Maria z. B. auch in der 2. und 4. antiochenischen sowie in der 1. und 4. sirmischen Formel). Pontius Pilatus begegnet im übrigen im Symbol der Apostolischen -»Konstitutionen (VII,41,6; Hahn § 129), welches vielleicht in Antiochien im 4. Jh. entstanden ist. Das paßt zu den - ebenfalls unsicher einzuordnenden — Angaben über das antiochenische Symbol bei Johannes -»Cassianus und in den Akten des Konzils von -»Ephesus (Hahn $ 130; Caspari 1,73 ff) sowie über das nestorianische Taufbekenntnis (Hahn $ 132; Caspari I,116ff). Ein schwaches Indiz ist somit vom zweiten Artikel her für eine Entstehung von N C in Antiochien gegeben. 3. Zur Entstehung

des dritten

Artikels

D e r hauptsächliche Unterschied von N C gegenüber N liegt im dritten Artikel. Dieser enthält Aussagen 1. über den Heiligen - » G e i s t mit vier Gliedern ( a - d ) , 2. über die - » K i r c h e , 3. über die - » T a u f e , 4. über -»Auferstehung und ewiges - » L e b e n . N i m m t m a n an, der T e x t w ä r e aus aktuellem Interesse von den Konzilsvätern (oder von irgendwelchen Verfassern vor 3 8 1 ) gegen die P n e u m a t o m a c h e n formuliert w o r d e n und

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wäre demgemäß eine pneumatologische Ergänzung von N, dann bleibt der merkwürdige Sachverhalt unerklärt, daß der Wortbestand im dritten Artikel zu 2/5 sich auf andere Themen bezieht. Folglich dürfte die Möglichkeit, daß man ein älteres Symbol um einen ausführlicheren dritten Artikel ergänzte, ausscheiden, weil sonst unverständlich bliebe, warum man über die aktuelle Geistthematik hinaus noch andere Themen einbrachte. Vielmehr enthielt der Text (oder seine Vorlage) von vornherein einen ausgeführten dritten Artikel, was der Tatsache entspricht, daß in den synodalen Bekenntnisformulierungen des 4. Jh. vielfältige Versuche zur Anreicherung des dritten Artikels begegnen. Damit ist allerdings nicht gesagt, daß in NC keinerlei aktualisierende Interpretamente angebracht worden sind. Im Unterschied zum zweiten Artikel lassen sich hier kaum Parallelen aus anderen Symboltexten beibringen. Zur Aussage 1 a) über den Geist als xà Kvpiov Kai Çwonotôv ist als entfernte Analogie das Prädikat ÖKXiaxov bei Epiphanius und Ps.-Athanasius (Hahn $ 1 2 6 - 1 2 7 ) zu vergleichen; zur Aussage 1 b) über den Ausgang aus dem Vater findet sich bei Epiphanius sowie im nestorianischen Bekenntnis (Hahn S 126.132) eine wörtliche Entsprechung und in Const. Apost. (Hahn §129) insofern eine Parallele, als dort die Sendung vom Vater angesprochen wird (wohl nach Joh 15,26). Die Aussage 1 c) über die Anbetung ist völlig singular, wohingegen sich zu 1 d), dem Hinweis auf das Reden des Geistes in den Propheten, eine fast wörtliche Entsprechung in HS (¿V xoïç npoBonifatius, spielte sich in derselben kirchlich-politischen Konstellation ab, nur in einer anderen geographischen Umgebung. Sein Wirken in den Niederlanden ist von begrenztem Umfang geblieben, sein Utrechter Episkopat war von sehr kurzer Dauer, und nur sein Tod in Friesland (754) hat seinen Namen mit den Niederlanden verbunden. Der unter den Friesen wirkende Liudger (gest. 809) wird als der letzte der Missionare angesehen. Deren Methode bestand den Vitae zufolge in Predigt, der Stiftung von Kirchengebäuden und der Bekämpfung des Heidentums durch die Vernichtung von Götzenbildern und Heiligtümern. Über den Inhalt der Predigten ist nichts Konkretes bekannt, ebensowenig über die Glaubensvorstellungen der Neubekehrten. Deutlich ist nur, daß das Christentum Teil der neuen Ordnung war, in der die Unterworfenen jetzt zu leben hatten, und daß Z w a n g folglich als normal erfahren wurde. Daß die Missionare in Gruppen operierten und dabei einen gewissen Aufwand nicht scheuten, paßt in dieses Bild.

Ab ca. 800 begann die Periode der Konsolidierung. Unter —»Karl dem Großen kam eine zielstrebige kirchliche Gesetzgebung zustande. Das bereits bestehende -»Eigenkirchenwesen wurde besser geregelt, und die Befugnisse der Bischöfe innerhalb dieses Systems wurden verstärkt. Die Normanneneinfälle (ab ca. 830 bis zum Ende des Jh.) und die mit ihnen einhergehenden Zerstörungen hemmten den Fortgang des kirchlichen Lebens nur in geringem Ausmaß. Seit dem Episkopat von Balderik (918-976) wurde der Utrechter Bischof ganz in die Reichskirche eingegliedert. Als Sohn eines Grafen aus der Betuwe wirkte Balderik, namentlich aufgrund des Immunitätsrechtes der Utrechter Kirche, als Gleicher inmitten eines Dutzends benachbarter Grafen, er erhielt wichtige Privilegien für die Kirche und bekleidete eine Position in der kaiserlichen Politik. Um die Mitte des 11. Jh. war diese Entwicklung abgeschlossen. Sowohl im Westen wie im Osten der Niederlande waren

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inzwischen größere politische Einheiten entstanden. Ihnen gegenüber vergrößerten die Kaiser die weltliche Macht des Utrechter Bischofs, und beim Tod Bischof Bernolds (1054) war das Sticht (Stift), das weltliche Territorium des Bischofs, ausgebildet. Im großen und ganzen blieb dessen Ausdehnung während des Mittelalters gleich. Die Macht des Bischofs äußerte sich auch im Kirchenbau Utrechts. Am Ende des 11. Jh. war der D o m , umgeben von vier Kollegialkirchen und einem Kloster, die zusammen ein Kreuz bildeten, fertiggestellt. Zur selben Zeit verfügten die meisten Orte über ein Kirchengebäude von einfacher Konstruktion und bescheidenen Ausmaßen. Vom Adel gestiftete Klöster gab es nur wenige. Wichtig sollte Egmond werden, um ca. 950 die erste Männerabtei. Während des -»Investiturstreites unterstützten die Utrechter Bischöfe bis 1116 den Kaiser. Der Einfluß —>Clunys war im Norden gering, auch weil es hier nur wenige Klöster gab. In diese Periode fiel das Auftreten von Tanchelm (Tanchelijn, gest. 1115), einer der vielen, die zu dieser Zeit Protest gegen die Kirche erhoben. Er verwarf die bestehende Kirche, ebenso Hierarchie und Sakramente, und forderte eine heilige Kirche von Geistträgern, so wie er einer sei. Er muß einen bemerkenswerten Einfluß gehabt haben, vor allem durch seine Predigt und sein überzeugendes persönliches Auftreten. Der Einseitigkeit der Quellen wegen kann man jedoch wenig mit Sicherheit sagen. Seine Bekanntheit verdankt er der protestantischen Geschichtsschreibung, die ihn zu den Vorläufern der Reformation rechnete. Das Wormser Konkordat (1122) bedeutete auch für die Bischöfe von Utrecht, d a ß sie fortan aus vornehmen niederländischen Familien stammten und daß der Einfluß der Utrechter Geistlichkeit bei der Wahl deutlich zunahm. Das Wahlkollegium bestand im Unterschied zu anderen Reichsbistümern nicht nur aus den Kanonikern des Domkapitels, sondern unter anderem auch aus denen der vier anderen Kapitel. Dennoch blieb der Einfluß des Kaisers im 12. Jh. groß; gegen Ende des Jh. schwand er endgültig, und der Erzbischof von Köln erhielt das Recht, die Wahl zu bestätigen. Seit dem 13. Jh. wurde es vom Papst ausgeübt. Die wichtigste Entwicklung des 12. Jh. war die Z u n a h m e der Klöster. Zu Beginn des Jh. gab es nur einige Niederlassungen von -»Benediktinern und Regularkanonikern, um 1215 waren es schon ca. sechzig Klöster mit etwa 2.000 Religiösen. Das Anwachsen war der Zunahme von Benediktinerklöstern und der Errichtung neuer Orden zu verdanken. Zu diesen gehörten die Norbertiner oder -»Prämonstratenser, die sich der Seelsorge widmeten, mit Stiftungen im 12. und in der ersten Hälfte des 13. Jh., und die -•Zisterzienser mit Stiftungen von 1163 bis 1260. Daß die Klöster für die Urbarmachung und Bearbeitung des Landes von Bedeutung waren, kann angenommen werden, wiewohl das Faktenmaterial sehr rar ist. 2.2. Von der gefestigten Kirche zur Konzentration auf den Menschen (ca. 1250ca. 1500). Das Bistum Utrecht stand im 13. Jh. vor allem unter dem Einfluß der umliegenden Gebiete, Holland im Westen und Geldern im Osten. Dieser äußerte sich besonders bei den Bischofserhebungen. Im 14. Jh. wurde er nach und nach zugunsten des Papstes zurückgedrängt. Unter dem Avignonesischen System (-»Papsttum) führte dies zu einem direkten Eingreifen der Kurie in zahlreiche Angelegenheiten. Der wichtigste Bischof war Jan van Arkel (1342-1364), der durch fortdauernden bewaffneten Konflikt mit Holland und Geldern das Bistum als Territorium rettete, durch regelmäßig abgehaltene Diözesansynoden kirchliche Fragen regelte und eine Zentralisation der geistlichen Macht durchführte. Seit Philipp dem Guten (1419-1467) kamen nach den südlichen auch die nördlichen Niederlande immer mehr in den Machtbereich der burgundischen, später der habsburgischen Herrscher. Im Bistum Utrecht war dies ab 1457 der Fall, als David von Burgund, unehelicher Sohn Philipps des Guten, Bischof wurde (1457-1496). Er verfügte über gute Führungseigenschaften, beschäftigte sich aber nur ausnahmsweise mit kirchlichen Angelegenheiten. Diese Entwicklung fand ihren Abschluß 1528, als der Bischof seine weltliche Macht auf Karl V. übertrug.

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Die kirchliche Organisation wurde in dieser Periode vollendet. Wichtig wurden auf diözesaner Ebene der Weihbischof (vom Beginn des 14. Jh. an), der Offizial und der zeitweilig anwesende Generalvilcar. Die parochiale Einteilung war um ca. 1400 abgeschlossen. Gleichzeitig wurde das Eigenkirchenwesen durch das Patronatsrecht, oft in Händen von Klöstern und Fürsten, ersetzt. Von der Mitte des 13. Jh. an durchdrangen die -»Franziskaner und -»Dominikaner die nördlichen Niederlande. Diese neuen Orden etablierten sich in den Städten, die zur gleichen Zeit wichtig wurden. Ihrer Arbeit wegen paßten sie im Unterschied zu den alten Orden in die städtische Gesellschaft. Schon früher findet man -»Beginen, bald auch Beginenhäuser und -höfe. Auch sie bildeten eine typisch städtische Erscheinung von großer Bedeutung bis ins 16. Jh. Die Bettelorden, die es im ersten Jh. ihres Bestehens auf neunzehn Niederlassungen brachten, verloren danach schnell ihre Spannkraft; nach 1340 kamen keine Klostergründungen mehr vor. Im allgemeinen war das 14. Jh. von Ermüdung gekennzeichnet, vor allem wegen der Duldung von persönlichem Besitz der Mönche und häufigem Aufenthalt außerhalb des Klosters. Geert Grote widersetzte sich dem als erster, und schon unter seinem Einfluß gab es eine Observantenbewegung, die schnell von der Windesheimer Kongregation stimuliert wurde. Beinahe alle Orden kannten im 15. Jh. ein Streben nach strenger Observanz, das meistens zu einer Spaltung in eine Gruppe von Observanten und eine von Nicht-Observanten führte. Die Frömmigkeit zeigte bis ins 15. Jh. keinen eigenen Charakter. Vom 12. Jh. an findet man den monastischen Typ, gekennzeichnet durch Buße und Gehorsam, und den der Wundergläubigkeit, gekennzeichnet durch die Überzeugung vom direkten Eingreifen Gottes und des Teufels in die irdische Wirklichkeit. Die häufig begegnenden Einsiedler waren eine gleichartige Erscheinung, ihre Orakel galten als Gottesworte. Die bekannteste Wundererzählung war das sog. Mirakel van Amsterdam (1345), bei dem die von einem Kranken erbrochene Hostie auch im Feuer unversehrt blieb: ein eucharistisches Wunder, das einen Kultplatz konstituierte. Mystische Autoren fehlten völlig; Hadewijch und -•Jan van Ruusbroek waren Südniederländer. Erst unter dem Einfluß der -+Devotio moderna begann die Spiritualität einen eigenen Charakter anzunehmen. Sie entstand am Ende des 14. Jh. in der IJsselniederung dank des Wirkens des aus Deventer stammenden Diakons Geert -»Grote. Dieser hatte sich nach einem Bekehrungserlebnis zu Beginn der siebziger Jahre einem asketischen Leben zugewandt. Er schrieb als erster Nordniederländer asketische Bücher mit eigener Prägung und predigte vor allem gegen die Simonie, den Niedergang des Zölibats, das Privateigentum der Mönche und den Reichtum der Kirche. Sein Elternhaus stellte er dem Zusammenleben armer Frauen zur Verfügung. Der Kreis seiner Anhänger erwuchs zu dem der „Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben". Sie lebten in Kommunitäten mit einer Regel gemeinschaftlichen Lebens, in denen sie ihren Unterhalt mit Abschreiben von Büchern, Näharbeiten und durch die Versorgung von Schülern bestritten. Danach entstanden Klöster, zuerst in Windesheim (1387), die der Regel der regulierten -»Augustiner-Chorherren folgten. Auf dem Höhepunkt im Jahre 1500 gab es rund hundert Klöster, vor allem in den Niederlanden und dem Rheinland; ferner hatten sich 300 Klöster unter die Aufsicht der Windesheimer Kongregation gestellt. Bekannte Persönlichkeiten waren Florens Radewijns (gest. 1400), Gerard -»Zerbolt van Zutphen, Hendrik Mande (gest. 1431) und -»Thomas von Kempen, der Verfasser der Imitatio Christi. Kennzeichnend für die Spiritualität der Devotio moderna war die innere Umgestaltung und Neuwerdung des Menschen, die radikale Konzentration auf die persönliche Innerlichkeit. Darin wandte man sich Christus als dem Vorbild von Demut, Sanftmut und Selbstverleugnung zu. Ein spiritualisierender Zug äußerte sich in einer desinteressierten Haltung gegenüber -»Wallfahrten, -»Reliquien, -»Heiligenverehrung und Hierarchie. Die Frömmigkeit war antispekulativ, niemals nach außen gekehrt, stark auf die Praxis des täglichen Lebens gerichtet. Die Meditation wurde systematisch eingeübt, unter anderem mit Hilfe von Rapiarien. Sie war ausgerichtet auf das Brechen des eigenen Willens, was zu einer engen, zuweilen sogar schwermütigen Frömmigkeit führen konnte.

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In einer späteren Phase war die harte, gesetzliche Form charakteristisch, die ihren Ausdruck im Rosetum von Jan Mombaer (1494) fand. Der Einfluß der Devotio moderna auf das Schulwesen beschränkte sich auf die Versorgung von Schülern. Verbindungen zum Humanismus waren gering, ein Einfluß auf die Reformation ist nicht nachzuweisen. Allerdings war die Bewegung charakteristisch für die spiritualisierende Frömmigkeit ohne großes Interesse an der überschwenglichen Form des bunten kirchlichen Lebens, die es in den Niederlanden im 15. Jh. gab, und sie hat diese Züge verstärkt. Diese Form von Frömmigkeit konnte einen Nährboden der Reformation bilden. Das Unterrichtswesen war gut; am Ende des Mittelalters hatten alle Städte und größeren Dörfer Schulen. Bei der Universitätsausbildung war man lange auf das Ausland angewiesen, vor allem auf -»Paris. Die Gründungen von -»Köln (1389) und -»Löwen (1425) rückten die Universitätsausbildung näher. An beiden Institutionen waren auch viele nordniederländische Professoren tätig, deren bekannteste Hendrik van Gorkum (1386—1431) und -»Dionysius der Karthäuser waren, beide in Köln. Ein Theologe eigener Prägung war Wessel -»Gansfort. Er wuchs im Einflußbereich der Devotio moderna auf, studierte und lehrte u.a. in Köln, wo er in den Streit zwischen via antiqua und via moderna verwickelt war, und lebte seit 1475 wieder in den Niederlanden, meist in Groningen im Kloster Aduard. Wahrscheinlich in dieser Zeit hat er asketische Werke im Geist der Devoten verfaßt. Daneben schrieb er eine Anzahl theologischer Traktate über Kirche, Buße und Fegefeuer. Darin lehrte er, daß die Kirche eine geistliche Gemeinschaft sei, gekennzeichnet durch die Liebe; auch in den Sakramenten sei die innere Einstellung des Empfängers bestimmend. Die objektiven Faktoren wie Amt, Autorität und Eigenwirksamkeit der Sakramente weichen bei ihm spiritualisierenden Tendenzen. Deshalb wurden seine Werke in der frühen Reformationszeit herausgegeben und Wessel selbst als Vorläufer der Reformation betrachtet. Der üblichen Einordnung Wessels unter die Humanisten oder biblischen Humanisten fehlt die Grundlage. Letztere waren durch Rudolph Agrícola (1444-1485) gut vertreten, vor allem in Unterricht und städtischer Verwaltung. Agrícola, 1479/80-1484 Stadtsekretär von Groningen, Verfasser von De inventione dialéctica, kann als Vorbild für den Humanisten im Stadtregiment gelten, Alexander Hegius (gest. 1498), Rektor der Schule in Deventer, für den Humanisten im Schulwesen. Man findet unter ihnen keine großen und originellen Geister, doch viele gute Philologen und Pädagogen, interessiert an der Integration der klassischen Bildung in die christliche Kultur. -»Erasmus leistete persönlich keinen Beitrag zur niederländischen Geistesgeschichte. 3. Von der Reformation

zur Gleichberechtigung

der

Konfessionen

3.1. Das Aufkommen der Reformation (1500-1566). Um 1500 gab es im Norden etwa unter einer Million Einwohnern 5.000 Weltgeistliche, von denen 25 % in der Seelsorge tätig waren, und ca. 450 Klöster. Ungefähr 20% der Geistlichen hatten eine Universitätsausbildung erhalten; der verheiratete Priester war gesellschaftlich akzeptiert. Luthers Auftreten rief in den Niederlanden, die zu den habsburgischen Erblanden gehörten, schnell Reaktionen hervor. Bereits 1520 organisierte -»Aleandro Verbrennungen von Luthers Büchern in südniederländischen Städten, und damals schon führte dies zum latenten Widerstand breiter Schichten. Das Charakteristikum der niederländischen Reformation ist, daß sie ein halbes Jh. lang ein Untergrunddasein führte. Die Verfolgung durch einander ablösende Verfügungen (Plakate) und eine Inquisition nach spanischem Vorbild konnte nicht verhindern, daß sowohl in den Städten als auch auf dem Land, im Süden stärker als im Norden, die Bewegung immer wieder emporkam. Sie bestand aus kleinen, von Geistlichen, Schulmeistern oder Handwerkern geleiteten Kreisen, in denen mit Bibellektüre und -auslegung die neue Lehre verbreitet wurde. Es gab keine Verbindung untereinander und ebensowenig eine Führungspersönlichkeit. Mitverursacht durch Luthers Warnungen kam es zur Gemeindebildung bis in die 50er Jahre nur bei den Täufern. Den Verfolgungen bereiteten regionale und lokale Autoritäten nicht selten Schwierigkeiten. Zur Löwener Fakultät zählten verschiedene Opponenten gegen Luthers Gedanken; bedeutend war Albert Pigge (gest. 1542). Infolge dieser Situation war die Reformation in hohem Maße auf den Buchdruck angewiesen, wobei Antwerpen das Zentrum bildete. Wichtig waren die -»Bibelüber-

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Setzungen, die oft auf Luther zurückgingen, für das Neue Testament allerdings auch auf Erasmus. 1526 erschien die erste Vollbibel, die Liesveldt-Bibel, 1528 die VorstermanBibel, ab 1 5 4 7 - 4 8 .katholische' Bibeln, auf der Vulgata basierend, ab 1 5 6 1 - 6 2 in Emden auch reformierte Bibelübersetzungen. Weit verbreitet waren Lutherausgaben und "Übersetzungen (1546 schon mehr als 80); insgesamt überwogen deutsche Reformatoren, Zwingli fehlte völlig. Einflußreich waren ab 1540 die Psalmdichtungen mit der Bearbeitung von Petrus Datheen (1566) als Endpunkt, die 200 Jahre lang in der Liturgie eine Monopolstellung innehaben sollte. Die volkstümlichen Aufführungen der rederijkers (Rhetoriker) geben das religiöse Erleben der gebildeten Laien wieder, oft mit Betonung der Bedeutung des Glaubens (Landjuweel, Gent 1539); ihre religiöse Interpretation ist kaum angegangen worden. 1559 erschien das reformierte Märtyrerbuch, 1562 das täuferische, das Offer des Heeren (Opfer des Herren). Charakteristisch für den neuen Glauben ist, daß man die deutsche Theologie durch die Aufnahme erasmianischer Elemente auf eigene Weise verarbeitete. In dieser Kombination ist die Eigenart der frühen niederländischen Reformation zu suchen, eine Kombination, die sie täuferischem und reformiertem Einfluß zugänglich machte. Ein erstes echt reformatorisches Zentrum war das Augustinerkloster in Antwerpen, mit dem volkstümlichen Prediger Jacobus Praepositus (Propst, f 1562), einem Schüler Luthers, als Prior. Aus diesem Kloster kamen die ersten Märtyrer der neuen Bewegung, Hendrik Voes und Jan van Essen (1523). Träger der Reformationsbewegung in den 20er Jahren waren einzelne Geistliche und eine etwas größere Zahl biblischer Humanisten, u. a. der Stadtsekretär von Antwerpen, Cornelis Grapheus, der 1521 De libertate christiana von Johannes Pupper van Goch herausgab, Cornelis Hoen und Willem Gnapheus. Die bekanntesten Schriften aus ihrem Kreis sind der 1525 in Worms erschienene Avondmaalsbrief (Abendmahlsbrief) von Hoen und die 1523 anonym erschienene Summa der godliker scrifturen (Summe der göttlichen Schriften), deren Autor von Erasmus und in geringerem Maße von Luther beeinflußt war. Die Repression durch die Zentralregierung in Brüssel war erfolgreich: 1525 waren die Führer geflohen, verurteilt oder eingeschüchtert. Die Bezeichnung „Sakramentierer" für die Ketzer der 20er Jahre ist wenig glücklich. 1530 kommt unter Einfluß von Melchior -»Hoffmans Predigt die täuferische Richtung auf, vor allem in den nördlichen Niederlanden. Die Münstersche Bewegung hatte ab 1534 Einfluß auf den Norden, und führende Gestalten wie Jan Mathijsz und Jan Beukelsz waren Nordniederländer. Die These von einer von den Münsteraner Täufern unabhängigen größeren friedlichen Täuferbewegung hat sich als unhaltbar herausgestellt. Der Zug von 3.000 Menschen aus Holland nach Münster, die im März 1534 in Overijssel abgefangen wurden, das Nacktlaufen in Amsterdam und der mißglückte Anschlag auf die Stadt im Mai 1535 weckten große Empörung. Die strenge Verfolgung ab 1535 hatte Erfolg. Erst in den 50er Jahren kamen wieder täuferische Kreise auf. Selbst die wichtigsten Führer der folgenden Periode, -»Menno Simons, Verfasser des Fundamentboek, Dirk Philipsz und David -»Joris, Verfasser des Wonderboeck, lebten vornehmlich außerhalb der Niederlande. Die Täufer hatten von Beginn an Einfluß auf die unteren Bevölkerungsschichten und waren die ersten, die zur Bildung eigener Gemeinden übergingen; die hierzu gehörende ,Bekenntnistaufe' spiegelte das Zerbrechen der Einheit der Gesellschaft wider. Die 40er Jahre zeigen, daß die frühere Sicht der niederländischen Reformationsgeschichte als eine in verschiedenen Phasen verlaufende Bewegung unrichtig ist. Für die 40er Jahre verwandte man den Begriff „national reformiert" oder „genuin niederländisch". In Wirklichkeit gab es eine noch wenig prononcierte, vage reformatorische Einstellung, gepaart mit scharfer Kritik an Klerus und kirchlicher Praxis und positiven Erwartungen an den Kaiser. Ein Beispiel ist das breit angelegte Der leken wechwyser (Der Laien Wegweiser) von Johannes Anastasius Veluanus (1554). Bisweilen wurde in aus dem Deutschen übersetzten Schriften der lutherische Charakter abgeschwächt. Im

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allgemeinen gilt, daß es für die breite Mittelgruppe - manchmal wird der Name ,Protestantisierende' gebraucht — im Norden schon einigen Spielraum gab. Die Verfolgung im Süden war heftig und erfolgreich. In den 50er Jahren wurden die Täufer erneut aktiv. Daneben bauten in dieser Zeit die Reformierten im Süden eine kleine, aber vollwertige Gegenkirche im Untergrund auf, mit Konsistorien und seit Beginn der 60er Jahre mit einem Ansatz von synodaler Struktur nach französischem Modell, die sog. „Kirchen unter dem Kreuz". Der Anfang der sog. Flüchtlingsgemeinden in England und in verschiedenen deutschen Städten, ebenfalls mit reformierter Struktur, lag schon einige Jahre früher. Die wichtigsten waren London, Emden und die der Pfalz. Sie waren von großer Bedeutung für den Aufbau des kirchlichen Lebens, auch in den Niederlanden; die Kirche von Emden war die entsendende Kirche für die in den Niederlanden umherreisenden Pfarrer. Die wichtigste Persönlichkeit war der polnische Edelmann Johann -»Laski. Der calvinistische Einfluß in den niederländischen Kirchen war groß, aber kein ausschließlicher; der von Zürich und später der der Pfalz ist nicht zu unterschätzen. Das Niederländische Glaubensbekenntnis, 1561 (Nederlandse Geloofsbelijdenis) von Guido de -»Bres und die Übersetzungen des Heidelberger Katechismus (1563; bis 1585 mehr als 60 Ausgaben) symbolisieren beide Einflüsse. 3.2. Die Entstehung konfessioneller Prägungen (1566-1619). Zwischen 1566 und 1585 vollzog sich die Teilung der Niederlande in die Südlichen Niederlande und die Republik der sieben vereinigten Niederlande. Im Gefolge dieser Entwicklung ist der Süden katholisch geworden, der Norden konfessionell pluriform mit der Reformierten Kirche als öffentlicher, privilegierter Kirche. In den 60er Jahren wuchs die Opposition gegen Philipp II., den Nachfolger Karls V. als Landesherr (1555); seine Regierung wurde als spanisch, zentralistisch und in religiöser Hinsicht als grausam erfahren; hinzu kam eine ökonomische Krise. In der Mitte des Widerstandes stand Wilhelm von Oranien (1533-1584), Statthalter von Holland, durch seine Familie und seinen Status vollständig vertraut mit der Situation in Deutschland und Frankreich. 1565 verbündete sich der niedere Adel und knüpfte Kontakte zu den reformierten Kirchen. Im Sommer 1566 erfolgte der Ausbruch: „Heckenpredigten", ein Bildersturm, von Süd nach Nord, aber keineswegs in jeder Stadt; 1567 stellte die Regierung die Ordnung wieder her und begann mit der Bestrafung der Aufrührer. Der Aufstand, bei dem politische, ökonomische und religiöse Faktoren nicht zu trennen waren, begann 1568 und verbuchte ab 1572 Erfolge, zuerst in Holland und Zeeland. Trotz strenger Strafexpeditionen des Herzogs von Alba, Landvogt 1567-1573, schien es 1578, als ob im Norden und im Süden der Aufstand gelingen sollte. Das geschickte, zugleich militärische und politische Auftreten Parmas als Landvogt seit 1578 verhinderte dies. Der Fall Antwerpens 1585 besiegelte die Spaltung. Der Süden entschied sich, zum Teil gezwungen, für Philipp II. Der Norden ging nach vergeblichen Versuchen, eine(n) neue(n) Souverän(in) zu finden, selbständig weiter. Die Republik war ein Staatenbund unter der Leitung der Staten-Generaal (Generalstaaten) mit Oranien als Statthalter. Oranien hatte so lange wie möglich versucht, den Widerstand aller religiösen Gruppierungen zu koordinieren, doch vergebens. Der Aufstand gegen den Landesherrn (1581 sagte man sich von Philipp II. los) wurde immer mehr vornehmlich von den Reformierten und den Zwischengruppen getragen: dadurch bekam er alle Züge eines Bürger- und Religionskrieges. Schon 1573 galt Oranien als 'reformiert', es zeigte jedenfalls seine Verbundenheit mit der Reformierten Kirche. Die Unie van Utrecht (Utrechter Union, 1579), die die Basis für die Republik bildete, legte ausdrücklich die Freiheit des Gewissens fest, tendierte jedoch zur Privilegierung der Reformierten Kirche. Die Rolle der Reformierten Kirche in diesen Jahren war groß. 1566, als für einige Monate eine halboffizielle Duldung des Protestantismus bestand, hatten die Reformierten vielerorts mit Gottesdiensten begonnen. Selbstverständlich führte dies danach

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zum Anwachsen der Flüchtlingszahl. Die Flüchtlingsgemeinden verabschiedeten 1571 auf der Synode von Emden eine Kirchenordnung, die Vorbild werden sollte für die Kirchen, die ab 1572 in den Niederlanden entstanden. Die Pfarrer und Konsistorien unterhielten regelmäßigen brieflichen Kontakt. Dieser kirchliche Verbund bildete die einzige Organisationsform, auf die sich Oranien beim Aufbau des Aufstandes stützen konnte. Marnix van St. Aldegonde, vor allem bekannt als Verfasser des sehr polemischen Bienkorf der Heilige Roomsche Kercke (Bienenkorb der Heiligen Römischen Kirche, 1569), war sein Verbindungsmann. Ab 1572 fand eine „revolutionäre Reformation" (Enno van Gelder) statt. Wenn eine Stadt die Seite des Aufstandes wählte, beanspruchten die Reformierten ein Kirchengebäude und bildeten ein Konsistorium. Diese Kirchen verstärkten schnell ihren Zusammenhalt untereinander. Schon 1572 fand eine erste regionale Versammlung statt, 1574 die erste Provinzialsynode (von Holland und Zeeland); Generalsynoden wurden 1578, 1581 und 1586 abgehalten. Sie stellten eine für das ganze Land bestimmte Kirchenordnung auf, die nirgends von den Provinzialstaaten anerkannt wurde. Für den Aufbau des kirchlichen Lebens waren die Konsistorien und auf dem Land die Klassen von primärem Belang. Um 1585 war auch die kirchliche Situation konsolidiert. Der Süden wurde rekatholisiert, mit der Möglichkeit der Emigration für Protestanten. Im Norden hatte die anfängliche Verbitterung über die Opfer - auf katholischer Seite vor allem in den ersten unruhigen Jahren nach 1572, am bekanntesten die neunzehn „Märtyrer von Gorkum" - einer gegenseitigen Anerkennung Platz gemacht. Die Reformierte Kirche wurde von der Obrigkeit bevorzugt, sie war bald die einzig anerkannte. Merkwürdigerweise hat sie, obwohl sie sich als die Fortsetzung der bestehenden Kirche ansah, auch am Anfang niemals beansprucht, virtuell das ganze Volk zu umfassen. Man meldete sich als Mitglied an, denn die Teilnahme am Abendmahl war Mitgliedern vorbehalten. Um sie bildete sich ein Kreis von .Liebhabern', die regelmäßig Gottesdienste besuchten, sich aber nicht binden wollten. Andererseits wurden die Kinder aller Eltern, die dies begehrten, getauft. Die Reformierte Kirche hatte also Züge einer Freikirche, ohne eine zu sein. Anfangs umfaßte sie nicht mehr als 1 0 - 1 5 % der Bevölkerung; im Lauf von zwei Jahrhunderten sollte dies auf 50 % ansteigen. Sie empfing wichtige Verstärkung von südniederländischen Immigranten, östlich der IJssel begann erst jetzt der Ausbau der Organisation. Gleich bedeutsam war der interne Aufbau, der alle Kennzeichen einer »zweiten Reformation' trug: Verstärkung der kirchlichen Organe, Zusammenwirken mit der Obrigkeit, Disziplinierung durch Schulerziehung und Kirchenzucht. Die Lutheraner verfügten, nach einer Episode in Antwerpen 1566-67, nur in Amsterdam über eine große Gemeinde und über kleinere in einigen Dutzenden von Orten; sie bestanden anfänglich aus südniederländischen, später vor allem aus deutschen Immigranten. Täufergemeinden waren zahlenmäßig bedeutend, besonders in Amsterdam, Haarlem, Nord-Holland und Friesland. Gottesdienste waren nur in nicht als solche erkennbaren Kirchen zugelassen. Die Uneinigkeiten unter ihnen über die Kirchenzucht führte wiederholt zu Kirchenspaltungen. Für Katholiken galten strengere Einschränkungen: Sie hatten von Zeit zu Zeit ,Rekognitionsgelder' zu bezahlen. Durch den Bürgerkrieg und den Übertritt von Geistlichen zur Reformierten Kirche war die Katholische Kirche in einigen Gebieten weitgehend aufgelöst, die These von einer auferlegten Protestantisierung (Rogier) hält nicht stand. Die Katholiken fügten sich in ihre zweitrangige Position als Kirche, die keine Bischöfe mehr besaß, nicht an die Öffentlichkeit trat, nur Hausgemeinden kannte und unter der Verwaltung eines in Köln, später in Brüssel residierenden Nuntius stand. Der wichtigste Führer war seit 1583 Sasbout Vosmeer (1548-1614), der die Kirche und vor allem die Seelsorge neu aufbaute. Eine große Gruppe der Bevölkerung gehörte zu gar keiner Kirche. Sofern sie religiöse Bedürfnisse hatte, befriedigte sie diese außerhalb der Institutionen in spiritualistischen Kreisen. Intellektuelle unter ihnen fanden ihr Zuhause im Huis der lief de (Haus der Liebe, Leiden, vor 1585 Antwerpen), andere fühlten sich von Sebastian —»Franck angezogen oder von dem Perfektionisten Dirk Volkertsz Coornhert

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(1522-1590). Die Reformierte Kirche betrachtete diese Haltung des schweigenden Protestes gegen jede Form von Institutionalisierung als große Gefahr. Seit den 80er Jahren gab es Schwierigkeiten zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb der Reformierten Kirche, die zum großen Teil zusammenfielen mit Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Obrigkeit. Das Wesen der Konflikte ist umstritten; die älteste These ist die von calvinistischen Predigern gegen erasmianische Regenten (Hugo de Groot). Dem doppelten Aspekt der Konflikte wird man am ehesten gerecht, wenn man zunächst an einen Prozeß der Uniformisierung innerhalb der Kirche im calvinistischen Sinn denkt, in dem allgemeine auf -»Zürich und -»Heidelberg zurückgehende reformierte Theologien und Theologen nach und nach ausgeschieden werden. Dieser Prozeß ging einher mit einem Konflikt mit dem Staat, weil nicht-calvinistische Pfarrer von dem Ideal einer alle kirchlichen Funktionen ausübenden christlichen Obrigkeit nach Züricher und englischem Vorbild ausgingen, die Calvinisten dagegen von einer (nichtlutherischen) -»Zweireichelehre, nach der die Kirche als zum Reich der Gnade gehörend ihre eigene Organisation haben sollte. Der junge und schwache Staat bevorzugte das erste Modell, konnte aber, nachdem es unvermeidlich schien, mit dem zweiten leben, solange eindeutig war, daß die Kirche innerhalb des zugestandenen Spielraumes operierte. Von dieser Sicht her ist es verständlich, daß die Staaten niemals eine für die ganze Republik gültige Kirchenordnung gutgeheißen haben und daß zu Beginn der Periode Caspar Coolhaes (1536-1615), Vertreter der allgemeinen reformierten Denkweise, von der Kirche abgesetzt, von der Obrigkeit aber so lange wie möglich gestützt wurde, und daß am Ende der Periode die Remonstranten (-»TRE 4,65-66) anfänglich von der Obrigkeit begünstigt, am Ende aber doch zugunsten der numerisch und organisatorisch stärkeren Contra-Remonstranten preisgegeben wurden. Der letzte Konflikt begann als ein theologischer Streit zwischen den Leidener Professoren Jacobus -»Arminius und Franciscus Gomarus (1563-1641). In dem folgenden Kirchenstreit war Johannes Wtenbogaert (1557-1644) die beherrschende Persönlichkeit auf remonstrantischer Seite. Die Streitpunkte findet man in gedrängter Form in der Remonstranz (1610, aus den Schriften des Arminius genommen) und der Contra-Remonstranz (1611); beide Stücke, denen die Parteien ihren Namen entlehnen sollten, sind bei den Staaten von Holland eingereichte Bittschriften. Nach diesen Dokumenten lehrten die Remonstranten, daß die Erwählung auf Grund des vorausgesehenen Glaubens geschehe und daß Christus für alle Menschen gestorben sei; die Contra-Remonstranten lehrten, daß Gott den Glauben auf Grund der Erwählung gebe und daß Christus nur für die Auserwählten gestorben sei. Beiden Parteien gemeinsam war die Frage nach dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln, die letztlich als gegenseitige Konkurrenten aufgefaßt wurden. Der kirchliche Machtkampf wurde in dem Augenblick abgeschlossen, als sich Moritz von Oranien, der Nachfolger Wilhelms, auf die Seite der Contra-Remonstranten schlug. Die -»Dordrechter Synode (1618-1619), die letzte Generalsynode, die die Staaten zugestehen sollten, war eine Manifestation der erzwungenen Einheit der niederländischen Kirche, durch die vielen ausländischen Abgeordneten zugleich eine Manifestation des internationalen reformierten Protestantismus. Die Dordrechter Kanones lehren ausdrücklich eine doppelte -»Prädestination und die Perseveranz der Heiligen. Schon bald galten sie mit dem Glaubensbekenntnis und dem Katechismus zusammen als die drie formulieren van enigheid (Drei Formulare der Einheit). Die 200 Pfarrer, die sie nicht unterzeichnen wollten, wurden abgesetzt und die 80, die sich damit nicht abfanden, wurden verbannt. Eine Anzahl von ihnen gründete 1619 in Antwerpen die Remonstrantse Broederschap (Remonstrantische Bruderschaft). In der Republik bildeten sich trotz Verfolgungen remonstrantische Gemeinden. 3.3. Das Jahrhundert der Dominanz der Reformierten Kirche (1619-ca. 1700). Das 17. Jh. war das goldene Zeitalter (gouden eeutv), Höhepunkt der niederländischen Kultur, speziell in Literatur und Malerei. Diese Kultur war eher bürgerlich als calvinistisch,

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getragen von einer sehr breiten Schicht des gesetzten Bürgertums, ohne Hof und Kirche als Auftraggeber. Katholiken lieferten hierzu keinen eigenen Beitrag. Der größte niederländische Dichter Joost van den Vondel (1587-1679) wurde zwar 1641 vom Täufer zum Katholiken, doch gehörte er zur Amsterdamer Bürgerelite, die nicht repräsentativ war. Auch wenn Katholiken in überwiegend katholischen Gegenden und Orten selbst in der Obrigkeit vertreten sein konnten, im allgemeinen gilt, daß sie am Rande der Gesellschaft lebten. Das kirchliche Leben war Beschränkungen unterworfen. Auch nachdem die erste Phase, die der Verfolgungen, vorbei war, war die Duldung nur praktischer Natur, sie hatte keine rechtliche Grundlage und war nicht unangefochten; obendrein kostete sie Geld. Der Gottesdienst wurde in Häusern gehalten (schutlkerken, ,Versteck-Kirchen') und hatte beinahe reformiert anmutenden schlichten Charakter; in der ersten Hälfte des Jh. fand er wegen des Fehlens ansässiger Priester oft ohne Meßfeier statt, aber mit Predigten und Gebeten qualifizierter Laien. Die kloppen, unverheiratete Frauen, leisteten Hilfe als Tertiarierinnen. In der zweiten Hälfte des Jh. war das parochiale Leben normalisiert. Schwierigkeiten zwischen dem Säkularklerus, der die Republik nicht als Missionsgebiet betrachtete, und dem Regularklerus, oft -»Jesuiten, die strikt an diesem Status festhielten, dauerten das ganze Jh. hindurch. Sie fielen zusammen mit dem Gegensatz zwischen der strengeren Beichtpraxis in jansenistischem Geist (-»Jansen/Jansenismus) und der laxeren der Ordensgeistlichen. Am Ende des Jh. führten die Gegensätze zu großen Schwierigkeiten mit Rom. Zuerst konzentrierten sich diese auf den 1683 erschienenen Amor poettitens des apostolischen Vikars Johannes van Neercassel (1663-1686), ein Buch, das als jansenistisch abgestempelt wurde, danach auf die Person seines Nachfolgers Petrus Codde (1688-1704), der des Jansenismus beschuldigt wurde. Die Täufer zeigten viele parallele Erscheinungen. Auch sie lebten in Absonderung - im Unterschied zu den Katholiken einer selbstgewählten - am Rande der Gesellschaft. Die Streitigkeiten, durch die sie zersplittert wurden, wurden verursacht durch eine laxere Haltung gegen eine strengere Handhabung der —• Kirchenzucht. Allmählich ging dieser Gegensatz über in den zwischen einer sich an das Bekenntnis bindenden und die Absonderung praktizierenden Gruppe gegenüber einer mehr offenen, die nach Tugend und Toleranz strebte, wobei eine starke Mystik ein Gegengewicht gegen einen bedrohlichen Moralismus bot. Galenus Abrahamsz (1622-1706) in Amsterdam war der bekannte Leiter der letzten Gruppe, zu der auch der berühmte Kupferstecher und Dichter Jan Luyken (1649-1712) gehörte. Die Lutheraner bekamen das ganze Jh. hindurch starken Zuwachs durch Immigranten aus Deutschland. Dennoch kam es zur Integration und Niederlandisierung. Zentrum war das starke Amsterdam, das anderen Gemeinden ohne Skrupel seinen Stempel aufdrückte. Die jüdische Bevölkerungsgruppe entstand ab ca. 1600 aus zwei verschiedenen Immigrantenströmen, einem älteren aus -»Portugal, einem jüngeren aus Deutschland und Polen. Das Zentrum war Amsterdam mit verschiedenen Synagogen, dem in christlichen Kreisen berühmten Rabbiner Manasse-ben-Israel und eigenen jüdischen Druckereien. -•Spinoza war auch in der mehr liberalen portugiesischen Synagoge nicht zu halten und wurde offiziell gebannt. Die größte Veränderung gab es bei den Remonstranten. Die Verfolgungen dauerten bis 1625, und ab 1630 gab es eine faktische Duldung. Die Bruderschaft nahm zahlenmäßig ab. Ihre Kraft lag in der Bildung einer Gemeinde, die einen reformierten Charakter mit der Achtung der individuellen Freiheit des Menschen vor Gott paarte. Von besonderer Bedeutung war seit 1634 das remonstrantische Seminar in Amsterdam, das für kundige Theologen als Prädikanten sorgte und verschiedene bedeutende Professoren hatte, begonnen mit Simon Episcopius (1583-1643), dem wichtigsten Wortführer auf der Dordrechter Synode.

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Im Laufe des Jh. wuchs vor allem die -•Reformierte Kirche. Sie stand im Zentrum der Gesellschaft, formte durch die Predigt die öffentliche Meinung und hatte mit den Gottesdiensten, der Katechese und auf dem Land mit den von ihr ausgehenden Schulen einen guten Teil der Volksbildung in der Hand. Vor allem die -»Katechismuspredigt am Sonntagmittag trug nicht allein zur Kenntnis der Lehre bei, sondern auch zur intellektuellen Ausbildung einfacher Menschen. Die Zahl der herausgegebenen Katechismuserklärungen - die erste war schon von 1588 — war Legion, und sie wurden nicht allein von Pfarrern gelesen. Wichtig für die Volksbildung war die Statenvertaling (Staaten-Übersetzung) der Bibel (TRE 6,281-282), gemäß Beschluß der Dordrechter Synode in Angriff genommen und ausgeführt von einer Anzahl hierzu von den Generalstaaten freigestellten Theologen, ein kulturelles Dokument ersten Ranges. Außerhalb der Niederlande wirkte die Kirche in den von der Ost- und West-Indischen Kompanie beherrschten Gebieten, dem heutigen Sri Lanka, Indonesien, Südafrika und Gebieten an der Ostküste Nordamerikas sowie der Westküste Afrikas. Durch die geistliche Versorgung der auf den Schiffen und in den Niederlassungen arbeitenden Europäer kam auch etwas Missionsarbeit in Gang. Der Zuwachs in den Niederlanden war auch dem französischen Immigrantenstrom zu verdanken, der vor allem nach 1680 (-»Edikt von Nantes) stärker wurde. Die Immigranten wurden aufgefangen in den Waalse Kerken (Wallonischen Kirchen), die als Teil der Reformierten Kirche im 16. Jh. von französischsprechenden südniederländischen Immigranten gebildet worden waren; diese empfingen nun bedeutende Verstärkung. Die Pfarrer gehörten zur mittleren Klasse der Gesellschaft, mit mäßigem, in den Städten ordentlichem Gehalt. Sie waren gut ausgebildet, überwiegend an einer der niederländischen Universitäten. Die Republik hatte im 16. Jh. zwei Universitäten bekommen, in -»Leiden und in —»Franeker. Im 17. Jh. traten dann -»Groningen und -»Utrecht sowie eine Anzahl illustrer Schulen hinzu. An diesen Einrichtungen wirkten oft auch Nicht-Niederländer, unter ihnen berühmte Theologen wie Andreas Rivet (1572-1651) in Leiden und Samuel Maresius (1599-1673) in Groningen. Der internationale Zusammenhang des Calvinismus, gefördert durch Korrespondenz, Büchertausch und Studium an verwandten Universitäten im Ausland, war stark. Die Republik nahm darin einen guten Platz ein. Überdies hatten Franeker und Utrecht zwei Jh. lang viele ungarische Studenten. In theologischer Hinsicht war die Einigkeit größer als sie je wieder sein sollte. Die vier Leidener Theologieprofessoren gaben 1625 selbst in der Synopsis ptirioris theologiae gemeinschaftlich ein dogmatisches Handbuch heraus. Dessen ungeachtet führten die Theologen untereinander oft bittere Kämpfe. Neben der systematischen Theologie war vor allem die Bibelauslegung von Bedeutung. Die Nadere Reformatie (.nähere' Reformation) - der Ausdruck bedeutet: präzisere, mehr in Einzelheiten gehende Reformation - war die wichtigste Erneuerungsbewegung im 17. Jh. Ihre Vertreter strebten nach einer Umbildung des Lebens in biblischem Sinne, wobei ursprünglich sowohl an das persönliche Leben wie an das des Volkes gedacht war. Der Einfluß der englischen Puritaner (-»Puritanismus) war nicht ausschließlich, aber doch überwiegend, und ist über persönliche Kontakte, Reisen und sehr viele Übersetzungen populärer puritanischer Traktätchen deutlich nachzuweisen. Der erste Vertreter war der Middelburger Pfarrer Willem Teellinck (1579-1629). Schon bei ihm wird eine gewisse Verlagerung des Schwerpunktes im Vergleich zur Theologie der Reformationszeit sichtbar. Obwohl er gut calvinistisch die Heilsgewißheit in Gottes Zusagen verankerte, spielten die Kennzeichen der Bekehrung und folglich auch die Selbstprüfung eine wichtige Rolle. Es war für die Bewegung von großer Bedeutung, daß der berühmte Utrechter Professor Gijsbert -»Voetius, reformierter Scholastiker und Mystiker in einer Person, sowohl an der Universität wie auch in der Kirche die Bewegung kräftig unterstützte. Dadurch wurde die Verengung abgebremst. Auch bei ihm begegnet ein subjektives Element, und bei Johannes Teellinck (1614-1674) war dies noch stärker: Der Mensch erfährt in seinem Leben, ob Gottes Zusagen sich bei ihm erfüllen. Dadurch

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wurde die Tür zu einer schwermütigen, auf sich selbst zurückgeworfenen Form der Frömmigkeit geöffnet. Damit hängt zusammen, daß in der zweiten Hälfte des Jh. das theokratische Ideal sich zur Betonung persönlicher Frömmigkeit gesetzlicher Art verengte. Beide Elemente brachen dann bei Jean de -»Labadie völlig auseinander. Er gab die Kirche auf und bildete eine eigene Gemeinde von Auserwählten. Kennzeichnend für die Formgebung der nadere reformatie waren die Konventikel, die Betonung des täglichen Hausgottesdienstes, die vielen, zuweilen illustrierten Traktätchen, die Selbstprüfung, die Meidung des Abendmahls und die ,Präzisheit'. Dieses letzte Element trat stark bei Voetius hervor, der sie schon 1628 feurig verteidigte. Sie war ein den Engländern entlehntes Ideal, das Leben nach der Forderung Gottes auszurichten, in der Praxis in genaue, das ganze Leben betreffende Vorschriften ausgearbeitet, vom gegenseitigen Umgang in der Familie bis zu Kleidung und H a a r tracht. Berüchtigt wurde der ,Sabbatstreit', der über mehr als ein Jh. geführt wurde. In ihm verteidigten die Anhänger der nadere reformatie, d a ß der Sabbat zu den moralischen Geboten gehörte und darum als Sonntag nicht abgeschafft sei. Dies führte zu einem System von Geboten, das von den Gegnern zugunsten der Interpretation des Sabbats als Seelenruhe verworfen wurde, die sich in Glaube und Liebe äußere.

Die Einigkeit der Theologen wurde in der zweiten Hälfte des Jh. gründlich gestört. Nach Meinung der Koryphäen der alten Schule, voran Voetius und Maresius, wurden ihrem Lehrsystem durch die Theologie von Johannes —»Coccejus und die Philosophie von -»Descartes die Fundamente weggeschlagen. Coccejus, Professor in Franeker und Leiden, baute seine Theologie auf der Lehre von einander ablösenden Bünden auf. Er war in erster Linie Exeget und wollte die Philologie und nicht die Philosophie als Grundlage der Theologie akzeptieren. Voetius und Maresius waren der Meinung, daß bei Coccejus die Einheit der Schrift und damit die Möglichkeit einer systematischen Theologie wegfalle. Mit ihren Schülern bekämpften sie Coccejus seit den 60er Jahren vehement, und dies um so mehr, als die neuen Studien auf exegetischem Gebiet, die im liberalen Holland publiziert werden konnten (Spinoza; Isaac de la Peyrere; Simon Richard), aufzeigten, daß Bibelforschung gefährlich für das Lehrsystem sein konnte. Die Heftigkeit hatte ihren Grund vor allem in der Überzeugung, daß Coccejus Cartesianer war. Descartes, der 1629-1649 in Holland wohnte und dessen Hauptwerke hier zuerst gedruckt wurden, galt in den Kreisen der Orthodoxie als großer Feind, weil seine Methode des systematischen Zweifels keinen Platz lasse für eine .gesunde' Philosophie, die das Fundament der Theologie bilde, und weil er den Wert der in der Bibel gefundenen naturphilosophischen Gegebenheiten ablehne. Nach Voetius waren genau umgekehrt die Prinzipien aller Wissenschaften in der Schrift zu finden. Er wandte sich bereits Ende der 30er Jahre mit allen Mitteln gegen die Cartesianer an der Utrechter Universität, doch es dauerte bis in die 60er Jahre, bis er sich zusammen mit Maresius öffentlich gegen cartesianische Theologen wandte. Die 70er und 80er Jahre waren vor allem in Friesland und Zeeland sehr unruhig, weil Voetius' Schüler sich zugleich gegen Cartesianer und Coccejaner wandten. Es wurde sogar um eine Nationalsynode gebeten. Schon die Bitte suggerierte eine Gefahr wie seinerzeit die Arminianischc. Generalstaaten und Statthalter verhinderten dies.

Die Bombe platzte nach dem Erscheinen der ersten Hälfte von De betoverde weereld (Die Bezauberte Welt 1691-93) des Amsterdamer Pfarrers Balthasar Bekker. Das Buch richtete sich gegen den Glauben an vom Teufel und bösen Geistern verursachtes Unheil, an Hexerei und Zauberei. Damit war es in der Republik weder neu noch aufsehenerregend. Die Trennung zwischen einer materiellen und einer geistigen Welt, die Bekker anbrachte, wies aber auf cartesianischen Einfluß. Obwohl Bekker kein Cartesianer war, hatte er schon früher die Vernunft in den anderen Wissenschaften anerkannt und nur für die Theologie die Schrift als einzige Quelle vindiziert. Es erschienen einige hundert Streitschriften gegen ihn, bereits 1692 wurde er als Pfarrer abgesetzt, und die Classis Walcheren in Zeeland verwarf u. a. Bekkers Ideen in den sogenannten vtjf walcherse artikelen (fünf Artikel von Walcheren), die allen neu zu ernennenden Pfarrern in Zeeland als verbindlich auferlegt wurden. 1693 wurde auch der französische Refugie Pierre -»Bayle als Philosophieprofessor an der 'illustren Schule' in Rotterdam wegen Cartesianischer Ansichten entlassen. In seinem Dictionnaire historique et critique, erschienen seit 1695,

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brachte Bayle den gebildeten Laien auf vielerlei Gebieten auf die Höhe des Standes der Wissenschaft. In diesem Werk wurden zum ersten Mal auch Kirche und Glaubensäußerungen Objekt wissenschaftlicher Behandlung. 1694 fertigten die Staaten von Holland ein Reglement zur Förderung der Ruhe der Kirchen aus, das weitere Diskussionen unterband. Am Ende des Jh. war die Ruhe in Kirche und Gesellschaft wiederhergestellt. Der Preis war hoch: Die Gesellschaft war noch durch und durch christlich, aber Kirche und Theologie waren nicht mehr grundlegend für Wissenschaft und Gesellschaft. 3.4. Das Jahrhundert der Individualisierung (ca. 1700-1796). Wenige Nichtkatholiken hatten Wissen von dem Konflikt, von dem der katholische Volksteil, immerhin 30 % der Gesamtbevölkerung, heimgesucht wurde. Die Suspension ( 1702) und Absetzung (1704) von Codde erfuhr ein Teil der Katholiken als Verkennen ihrer Treue zur altehrwürdigen Kirche unter schwierigen Umständen. Ihre führenden Gestalten, von denen der Delfter Pastor Joan Christiaan van Erkel der bedeutendste war, versuchten nach dem Beispiel der französischen Kirche (-»Gallikanismus) eine eigene, national ausgerichtete romtreue Kirche zu verwirklichen. Die Kurie reagierte unversöhnlich und verlangte absolute Unterwerfung dieses Missionsgebietes unter Rom. Die Folge war das „Utrechter Schisma" von 1723. Seitdem gab es zwei Kirchengemeinschaften: eine kleinere Nationalkirche, die jansenistisch angehauchte Cleresie mit eigenem Bischof - später sogar dreien - , von der Obrigkeit begünstigt, und eine größere, die Hollandse Zending (holländische Mission), die im Status einer Missionskirche und unter der Verwaltung Roms durch den päpstlichen Nuntius in Brüssel verblieb. Die Obrigkeit stellte sich auf diese Entwicklung ein, und die Folge war, daß die Position der Katholiken schlechter wurde. Sie waren genauso wie vorher der Willkür unterer Behörden ausgeliefert und stärker von der Außenwelt abgeschlossen. Das kirchliche Leben spielte sich in beiden Kirchen weiterhin in den Gemeinden mit der Meßfeier und einer verbreiteten, aber wenig eigenständigen Erbauungsliteratur als Mittelpunkten ab. Das wichtigste wissenschaftliche Werk aus katholischen Kreisen, die Batavia sacra (1714) von Hugo van Heussen, ist typisch für die im Kreis der Cleresie herrschenden Überzeugungen. Aus dieser niederländischen Kirchengeschichte konnten die Protestanten lernen, wer die wahren Erben der mittelalterlichen Kirche seien, und die Katholiken, daß diese Kirche im 16. Jh. quicklebendig geblieben war und dies immer noch sei. In Wirklichkeit war die Cleresie zu klein, um lebensfähig zu sein. Nach 1870 wurde sie durch die damals entstehende Altkatholische Kirche (-»Altkatholizismus) aus ihrer Isolation geholt.

Immer noch lebten die Katholiken abseits des Hauptstromes der Kultur. Die Politiker machten sich die Schwierigkeiten mit Rom zunutze, doch in geistlicher Hinsicht wurde die Kluft zwischen beiden Welten sogar noch größer. Das zeigt sich zum Beispiel im Versiegen der Polemik. Die Abhandlung des Leidener Professors Johan van den Honert über die Transsubstantiation (1738) bildet eine Ausnahme, während im 16. Jh. jeder reformierte Theologe von Bedeutung tiefschürfend gegen den Katholizismus polemisiert hatte. Dies weist darauf hin, daß die Grenzen festlagen, ohne daß man sich über die Kirchenmauern hinweg miteinander verbunden fühlte. Letzteres war jedoch im Protestantismus der Fall. Gebildete lasen die von Pierre Bayle gegründeten Nouvelles de la République des lettres und die vom remonstrantischen Professor Jean le Clerc (1657-1736) herausgegebenen Zeitschriften. Es gab allerlei Zusammenkünfte, bei denen die Gebildeten Vorträgen über alle möglichen Themen beiwohnten. Ab 1740 kamen in Nachahmung Englands auch in der Republik die Blätter auf, die für ein halbes Jh. auf niedrigem Niveau in der Form regelmäßig erscheinender Periodika Menschen zu Moral und Religion erzogen. Einfache Leute und Gebildete nahmen gleichermaßen an Konventikeln mit Teilnehmern aus verschiedenen Kirchen teil. Die Folge dieser Entwicklung war, daß im Lauf des Jh. die nicht-reformierten Kirchen im Vergleich zur Reformierten Kirche immer weniger ein eigenes Gesicht zeigten. Was an eigenem Charakter blieb, war vorzugsweise die Hilfe für Glaubensgenossen,

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sowohl im eigenen Kreis durch Waisenhäuser, Altenheime usw., wie auch im Ausland. So halfen die Lutheraner den aus Salzburg kommenden Glaubensgenossen und die Täufer ihren Schweizer Brüdern. Die Menschen des 18. Jh. waren religiös und wollten die schnell populär werdenden Naturwissenschaften nicht den Deisten überlassen. Kennzeichnend für diesen Zug war das 1715 erschienene und oft neuaufgelegte Werk des Arztes und Mathematikers Bernard Nieuwentijdt (1654-1718), dessen Tendenz schon aus dem Titel hervorgeht: Het regt gebruik der wereltbeschouwingen, ter overtuiginge van ongodisten ett ortgelovigen (Rechter Gebrauch der Weltbetrachtungen, zur Überzeugung der Gottlosen und Ungläubigen). Daß in dieser Verteidigung die innere Unsicherheit nicht fehlte, zeigen die ausführlichen und abstrusen Betrachtungen über die Möglichkeit einer Auferstehung. Simpler und schon durch die frühe Romantik beeinflußt ist der Katechismus der natuur (1777) des Zutphener Pfarrers J.F. Martinet (1729-1795), mit reizenden Kostproben einer -»Physikotheologie.

Bei den Theologen fehlte größtenteils dieses Empfinden für den Zeitgeist. Der bekannteste in der ersten Hälfte des Jh. war Taco H. van den Honert, Professor in Leiden 1714-1740. Aus seinen vielen Schriften geht zwar die Verlagerung der Aufmerksamkeit hin zum vernünftig-sittlichen Menschen hervor, aber kein Interesse an neuen Fragen. Der Tiefpunkt wurde durch Bernhardinus de Moor erreicht, Professor in Leiden 1745-1779. Er schrieb eine Dogmatik von 6.000 Seiten ohne einen einzigen originellen Gedanken. Dem kann das große Interesse an den biblischen Fächern gegenübergestellt werden. Die Exegese hatte immer geblüht, und in der Orientalistik waren Leiden und Franeker im 17. Jh. von einiger Bedeutung. Die erste Hälfte des 18. Jh. hatte große Alttestamentler hervorgebracht: Campegius Vitringa (1659—1722), Albert Schultens (1685-1750) und Herman Venema (1697-1787), alle in Franeker. Am remonstrantischen Seminar wirkte, übrigens nicht unangefochten, der Basler Refugie Johann Jakob Wettstein, dessen Ausgabe des Neuen Testaments 1751-52 unter anderem wegen der systematischen Ordnung der Handschriften bahnbrechend war. Die Mehrheit der Bevölkerung wurde von anderer Lektüre angezogen. Die vielen Übersetzungen englischer Puritaner, die in sehr schlichten Ausgaben seit 1660 den Markt überschwemmten, wurden das ganze 18. Jh. hindurch immer wieder gedruckt und ergänzt. Auf gleiche bescheidene Weise wurden ihre niederländischen Geistesverwandten herausgegeben. In der Predigt wurden die verschiedenen Gruppen innerhalb der Gemeinde getrennt angesprochen. Diese Einteilung, je nachdem wie weit oder weniger weit die Menschen auf dem Heilsweg vorangekommen waren, wurde gefördert durch die samensprakett, Gespräche, in die die Groninger pietistischen Pfarrer Johannes Verschuir (1680-1737) und Wilhelmus Schortinghuis (1700-1750) ihre bekanntesten Publikationen einkleideten. Vor allem Het innige Christendom (Das inwendige Christentum, 1740) des Letzteren verlieh auf klassische Weise einer Form des Pietismus Ausdruck, die das Empfinden, die Seelenerfahrung, betonte und sich scharf gegen das .Bücherwissen', das allein verstandesmäßige Wissen wandte, das einige Theologen aus Angst vor einer allzu anthropozentrischen Theologie und vor Schwärmerei als zur Erkenntnis der Wahrheit genügend erachteten. In der Tat wird die Ohnmacht des Menschen, zu Gott zu kommen, hier so zugespitzt, daß sie in ihr Gegenteil umschlägt. Großen Eindruck machten die sogenannten Nijkerkse beroeringen (Nijkerker Aufruhr) 1749-50, die auch auf andere Orte übersprangen. In diesem Dorf in der Veluwe kam es während der Predigt von Gerhard Kuypers (1722—1798) zu Ausbrüchen von Sünden- und Bekehrungserfahrungen, gepaart mit ekstatischen Erscheinungen. Kuypers, der auf vorsichtige Weise Anleitungen gab, stand unter dem Einfluß der schottischen Erweckungsbewegung von 1742 (-»Schottland), in der schon ähnliche Erscheinungen vorgekommen waren. Etwa um die Mitte des Jh. traten die Verteidiger einer sich an den Bekenntnisschriften orientierenden Theologie und Frömmigkeit wieder stärker hervor. Dies zeigte sich besonders in dem Konflikt um den Zwollener Pfarrer Antonius van der Os (1722-1807),

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der 1 7 5 5 abgesetzt wurde. Der Konflikt als solcher hatte k a u m Bedeutung, wurde aber einer der Anlässe zur Verteidigung der O r t h o d o x i e durch die Pfarrer Alexander C o m r i e ( 1 7 0 6 - 1 7 7 4 ) und N i c o l a u s Holtius ( 1 6 9 3 - 1 7 7 3 ) , die sich in einer a n o n y m e n Schrift (Examen van het Ontwerp van Tolerantie) gegen eine Lehre, die sie als arminianisch betrachteten, und jede F o r m von Toleranz wandten. In der Tat kann man sagen, daß bei Van Os und anderen, die zu dieser Zeit in Schwierigkeiten kamen, diese beiden Elemente eine gewisse Rolle spielten. Einerseits richtete sich die Aufmerksamkeit mehr auf das individuelle Handeln des Gläubigen, sein tugendsames Leben, als auf Gottes Handeln in Christus; andererseits rief man auf zu unbedingter Achtung vor der Entscheidung jedes Menschen auf religiösem Gebiet. Man kann auch sagen: diese Aspekte der -»Aufklärung standen in den Niederlanden im Mittelpunkt des Interesses. In zugespitzter Form kamen beide Fragen im sogenannten Sokratische oorlog (Sokratischen Krieg) auf die Tagesordnung, in dem Petrus Hofstede (1716-1803), Pfarrer zu Rotterdam und Vorkämpfer der Orthodoxie, sich gegen den Belisaire von Jean-Francois Marmontel (1723-1799) und gegen dessen Verteidiger, seinen remonstrantischen Kollegen Cornelis Nozeman (1720-1786) wandte. Der Streit sank auf ein bedenkliches Niveau, ging jedoch um eine wesentliche Frage: Ist das sittliche Handeln des Menschen, auch des Nicht-Christen, unabhängig von seiner religiösen Uberzeugung oder nicht? Die Konflikte, die alle von der Obrigkeit soweit es ging heruntergespielt wurden, sollten die Aufmerksamkeit nicht von der großen Entwicklungslinie ablenken. Diese wurde von Teylers Genootschap in Worte gefaßt, als sie 1788 eine Preisarbeit ausschrieb über die These, daß jeder Christ berechtigt und verpflichtet sei, in Fragen der Religion für sich selbst zu urteilen. Dabei wurde die Freiheit zu selbständigem Denken der .Zügellosigkeit' gegenübergestellt und beide als kennzeichnend für die eigene Zeit vermerkt. Diese Angst vor Extremen ist typisch für die Zeit. Man sieht das an den wichtigsten Gesellschaften, die durch die Ausschreibung von Preisarbeiten auf theologischem Gebiet die Entwicklung zu beeinflussen versuchten, die täuferische Teylers godgelcerd genootschap (Teylers theologische Gesellschaft) von 1778 und die konservativere Haags genootschap (Haager Gesellschaft) von 1785. Man sieht das auch in der Psalmenbearbeitung von 1773, im Auftrag der Generalstaaten zusammengestellt aus verschiedenen zeitgenössischen Dichtungen als Ersatz der gänzlich veralteten Bearbeitung von Datheen und eine große Verbesserung; sie enthält eine Mischung aus alttestamentarisch gefärbtem Gottcsverlangen und der Tugendbetrachtung des 18. Jh. Dieselben Ideale findet man in den neuaufkommenden Kinderbibeln mit ihrer deutlich pädagogischen Tendenz. Dieser ganze Prozeß der Individualisierung, getragen von den Idealen der Freiheit und Sittlichkeit, fand seinen natürlichen Abschluß in der Gleichberechtigung der Kirchen im J a h r e 1796. D e r direkte Anstoß k a m von außen: der Untergang der Republik 1 7 9 5 und die Errichtung der Bataafse Republiek; die Sache selbst lag in der Linie der Entwicklung. O b w o h l die Reformierte - in dieser Z e i t oft Hervormd genannte - Kirche bereits schnell eine Anzahl finanzieller Privilegien zurückbekam, w a r es mit ihrer beherrschenden Position vorbei. 4. Von den protestantischen

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zu einer säkularisierten

Gesellschaft

4.1. Das protestantische Vaterland (1796-ca. 1880). Die sogenannte ,batavische' und f r a n z ö s i s c h e ' Zeit, die schließlich zur Eingliederung in das französische Kaiserreich führte (1810), hatte kirchenhistorisch kein eigenes Profil. M i t Willem I., d e m Sohn des letzten Statthalters, begann 1 8 1 4 das Königreich der Niederlande. In die autokratische Regierung des Königs paßte auch eine neue, zentralistische und hierarchische Einrichtung von an den Staat gebundenen Kirchen. F ü r die Hervormde Kerk — seither der offizielle N a m e - geschah dies im algemeen reglement von 1816, d a s dem Staat großen Einfluß einräumte und die presbyterial-synodale O r d n u n g durch eine vertikale Verwaltungsorganisation mit einer kleinen Synode als H a u p t v e r w a l t u n g ersetzte. E s gelang nicht, mit R o m zu einer vergleichbaren Regelung zu k o m m e n . Von der Bevölkerung von 2,2 Millionen waren 55 % reformiert und 38 % katholisch. Die übrigen protestantischen Kirchen, Lutheraner, Täufer und Remonstranten, kamen auf rund 4 % . Sie hatten keinen eigenen Anteil am Volksleben. Trotz des hohen Prozentsatzes an Katholiken - während der Jahre der Vereinigung mit Belgien, 1 8 1 5 - 1 8 3 0 , sogar mehr als 7 5 % - galt von ihnen das

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gleiche. Das ,Vaterland', das nun geschaffen wurde, trug eine deutlich hervormde Prägung. Im Reglement war dann auch die Verantwortung der Kirche für die ganze Gesellschaft ausdrücklich festgelegt.

Den Geist dieser Zeit lernt man am besten aus den drei wichtigsten Neuerungen kennen. Neben den Psalmendichtungen wurde 1807 eine Liedersammlung für den Gottesdienst eingeführt, die von einem tugendsamen und bürgerlichen Christentum zeugt; die 1801 in den wallonischen Kirchen eingeführte Sammlung schloß sich viel enger an biblische Grundgedanken an. In Nachfolge der englischen Gesellschaften wurde 1797 die Niederländische Missionsgesellschaft, Nederlands Zendeling Genootschap, gegründet und 1814 die Niederländische Bibelgesellschaft, Nederlands Bijbel Genootschap, beide allgemein-protestantisch und auf weniger Bemittelte ausgerichtet. Schließlich das Reglement von 1816, das einerseits eine typische Regentenkirche schuf, andererseits eine Kirche, die im Volksleben verwurzelt war. Die Theologie - man nennt sie altliberal oder biblisch-supranaturalistisch - blieb hinter der Kirche zurück. Sie faßte die Offenbarung supranaturalistisch und intellektualistisch auf, gründete die Autorität der Schrift auf die Vertrauenswürdigkeit der Verfasser der biblischen Bücher und sah Jesus als den weisen Lehrer. Was bei Theologen wie Hermannus Muntinghe (1752-1824) und Joannes Clarisse (1770-1846) fehlte, war der Blick auf die Außenwelt (-»Fichte und -»-Hegel böten nur einen unsinnigen M y stizismus') und auf die religiösen Bedürfnisse des Menschen. Die Reaktion gegen Kirche und Theologie findet man im Réveil, bei den Groninger Theologen und in der Afscheiding (Abtrennung). Das Réveil, entstanden aus der in der Romantik gründenden internationalen Erweckungsbewegung (-»Erweckung) der Zeit, bestand bis 1840 vornehmlich aus einer unorganisierten Gruppe von Gleichgesinnten des gehobenen Bürgertums großer Städte, die in der offiziellen Kirche wenig Erbauung fanden und dieses Defizit in Zusammenkünften mit Bibellektüre, Meditation und Gebet ausglichen. Das Zentrum der Bewegung war Isaak da Costa (1798-1860), der mit seinen reaktionären Bezwaren tegen den geest der eeutv (Beschwerden gegen den Geist des Zeitalters, 1823) alle Gebildeten schockiert hatte und durch seine Bibellesungen und Gedichte viele erbaute. Die Groninger Richting, entstanden in den 30er Jahren um die Professoren der Theologischen Fakultät in Groningen und eine Anzahl geistesverwandter Pfarrer aus dem Norden, war eine Erneuerungsbewegung, die die Aufmerksamkeit vom Lehrer Jesus auf den Jesus lenkte, in dem sich Gottes Liebe zu den Menschen offenbart. Die Lehre war keine feste Größe, sondern die Fixierung des Glaubens einer besonderen Zeit oder Gruppe. Dahinter lag nicht so sehr die Gedankenwelt Schleiermachers als die Sicht, daß Jesu Leben sich im Leben der Menschheit bleibend fortsetze. Von diesem Erziehungsgedanken aus kamen sie dann auch zu praktischer Tätigkeit, speziell in Schule und Diakonie. Um 1840 war ihr theologisches Gebäude komplett. Unter der Leitung von Petrus Hofstede de Groot (1802-1886) wurde die Richtung eine einflußreiche kirchliche Gruppierung, nach 1860 eine Mittelpartei, die sich selbst überlebt hatte. Die Afscheiding von 1834 hatte mit Réveil und den Groningern gemeinsam, daß sie sich im Widerstand gegen den herrschenden Geist in der Kirche entwickelte. Ein großer Unterschied war, daß sich hier beinahe die vollzählige Gemeinde von Ulrum in Groningen auf Anstiftung ihres Pfarrers Hendrik de Cock (1801—1842) von der Kirche abspaltete. Rasch hatten sich unter der Leitung einer Handvoll Pfarrer, im Durchschnitt 28 Jahre alt, miteinander bekannt und schnell miteinander verwandt, einige tausend meist einfacher Menschen abgespalten und eigene Gemeinden gebildet, die schon 1836 in einer eigenen Synode zusammenkamen. Die kirchlichen Institutionen reagierten überlegen abweisend, wobei sie konsequent verkannten, daß es um substantielle Fragen ging, die Behörden töricht, indem sie einige Jahre lang versuchten, mit Druck und Gewalt die Bewegung zu zerstören. Großes Wachstum verzeichnete die Afscheiding zunächst nicht. Sie behauptete, auf Calvin zurückzugehen. In Wirklichkeit war die Theologie

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sehr schwach und ging eher auf die Nadere Reformatie zurück. Die Bedeutung der Afschetdtng war zuallererst negativ: Sie zeigte, daß gewisse Gruppen sich nicht in das kirchlich-gesellschaftliche Establishment fügen wollten. Die Katholiken verblieben, trotz der Gleichstellung von 1796, in einer zweitrangigen Position. Intern gab es einige Aktivität, vor allem auf dem Gebiet des Kirchenbaus und in der Ausbildung von Geistlichen durch die Gründung von drei Seminaren 1798 und 1799. Katholiken wurden aber als minderwertig angesehen und fühlten sich auch so. Daran konnte auch ein einsamer Kämpfer für wahre Freiheit wie Joachim G. le Sage ten Broek (1775-1847) nichts ändern. Eine erste Bedingung hierfür war die Wiederherstellung der Hierarchie. Die Behörden forderten aber Einfluß auf die Kirche, und nach dem belgischen Aufstand von 1830 fürchteten die Katholiken, jenen Meuterern gleichgesetzt zu werden. Auch Rom hatte keine Eile. Etwa um 1840 erwachten die Niederlande aus ihrer Lethargie. Deutlich aufzuzeigen ist dies bei den Katholiken. Der neue Elan führte schließlich zur Wiederherstellung der Hierarchie mit dem Erzbistum Utrecht und vier Bistümern (1853). In den 60er Jahren wurde durch Willem J.F. Nuyens (1823-1894) ein katholisches Bild des 16. Jh. entworfen — erste Voraussetzung für die interne Emanzipation —, und auf dem Gebiet der Kunst gab es wichtige Impulse. In wissenschaftlicher Hinsicht war der Rückstand jedoch groß, und die Hintanstellung bei wichtigen Ernennungen blieb bis zum Ende des Jh. bestehen. Auch anderswo veränderte sich um 1840 vieles. Das galt nicht für die gewichtige Position der Hervormde Kerk. Noch um 1880 umfaßte sie 55 % der Bevölkerung. Der Staat zog sich in den 50er Jahren von ihr zurück, doch sie blieb Volkskirche in optima forma. Damit meinte man, daß sie die von Gott für dieses Volk vorherbestimmte und sich in der Geschichte verwirklichende Form des Reiches Gottes sei. Die auf die Wiederherstellung der katholischen Hierarchie folgende virulent antipapistische aprilbeweging wurde von solchen Gefühlen genährt. Sie war ebenfalls Volkskirche im empirischen Sinn, mit dem Pfarrer als Mittelpunkt der unstrukturierten und unübersichtlichen Gemeinde. Die Kirche der Afscheiding, die Christelijke Gereformeerde Kerk, wuchs auf Kosten der Hervormde Kerk auf 3,5% im Jahr 1880. Sie war eine echte Freikirche, die vor allem Orthodoxe aus unterem und mittlerem Milieu anzog, gekennzeichnet durch viele Streitereien und große Opferbereitschaft, mit einer noch rudimentären theologischen Ausbildung in Kampen. Die .Abgetrennten' lebten in eigenen Kreisen und nahmen nur in geringem Maße am öffentlichen Leben teil.

Die Theologie wurde in dieser Periode sehr pluriform. Von 1850 an gewann die sogenannte .Moderne Theologie' oder Vrijzinnigheid an Einfluß. Ihr Mittelpunkt war die Theologische Fakultät der Universität Leiden, ihre Koryphäen der Dogmatiker Johannes H. Schölten (1811-1885) und der Alttestamentler Abraham Kuenen (1828-1891). Die ,Moderne Theologie' ging von der Autonomie des menschlichen Geistes aus, ließ die äußere Autorität von Kirche und Heiliger Schrift fallen und suchte nach vernünftiger Begründung des Glaubens in einer Welt, die durch das Klima naturwissenschaftlichen Denkens gekennzeichnet war. In einer zweiten Periode stand die moderne Bibelwissenschaft im Zentrum. Um 1865 schwächte sich der Elan durch interne Uneinigkeit, Zweifel an den kirchlichen Einrichtungen und Abweisung in vielen Gemeinden ab. Die,ethischen' Theologen Daniel Chantepie de la Saussaye (1818-1874) und Johannes H. Gunning Jr. (1829-1905), besonders orientiert an Alexandre R. ->Vinet, suchten wie die modernen Theologen den Anschluß an die moderne Kultur. Im Mittelpunkt stand bei ihnen aber der Mensch, der bewußt oder unbewußt Gott und die Eigenart des Glaubens als existentieller Gotteserfahrung sucht. Sie konnten daher die moderne Bibelwissenschaft ohne weiteres akzeptieren. Die Utrechter apologetische Schule verteidigte seit 1860 auf recht rationalistische Weise traditionell reformierte Auffassungen. Theologisch war sie unbedeutend, hatte aber großen Einfluß auf die Kirche.

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Diese Diversität in der Theologie war ein Spiegelbild der Unruhe in der Hervormde Kerk. Die Afscheidittg hatte nur einen kleinen Riß zuwege gebracht, doch die Groninger Theologie verursachte eine offizielle Anklage bei der Synode im Jahre 1842, die Adresse der sieben Haager Herren (adres van de zeven haagse heren), die aus Réveilkreisen kamen. In den Jahren danach vergrößerte sich die Kluft. Die Kirche trennte sich immer deutlicher in einen ,modernen', freisinnigen Teil und einen orthodoxen Teil, der seine führenden Mitglieder bei den späteren Groningern, den ,Ethischen' und den Utrechter Theologen fand. Innerhalb dieser reich schattierten Orthodoxie hatte man eigene Zeitschriften, Jugendarbeit, Sonntagsschulen etc. Da die Freisinnigen ebenfalls eigene kirchliche Organe aufbauten, wurde die Kirche faktisch größtenteils gespalten. Weniger sichtbar, doch mit größeren Folgen für die Zukunft war, daß die Selbstverständlichkeit der zentralen Position der Kirche in der Gesellschaft Schaden nahm. Das brennendste gesellschaftliche Problem war die Verarmung und damit verbunden Erscheinungen wie Prostitution, Frauen- und Kinderarbeit sowie Alkoholismus. Die völlig unangemessenen Reaktionen der Diakonie, die die Bekämpfung größtenteils in den Händen hatte, machten die Kirche unglaubwürdig. Die seit Beginn der 50er Jahre aufkommende Dageraadsbeweging (Morgenrot-Bewegung) entstand zwar aus dem popularisierten -»Materialismus und in einer späteren Periode auch -»Darwinismus, wurde durch dieses Scheitern aber genährt. In der Tat zeigten Predigt, Theologie und kirchliche Praxis, daß die Kirche dem .Geistlichen' absoluten Vorrang vor dem Materiellen gab; in dieser Hinsicht gab es keinerlei Unterschied zwischen modern und orthodox. Nur im Réveil gab es Menschen, die den Gegensatz nicht akzeptierten, so den Inaugurator der Sozialarbeit Otto G. Heldring ( 1 8 0 4 - 1 8 7 6 ) und Hendrik Pierson ( 1 8 3 4 - 1 9 2 3 ) , vor allem bekannt durch seinen Kampf gegen reglementierte Prostitution. Als am Ende dieser Periode der -»Sozialismus aufkam, war er dann auch von Beginn an antikirchlich.

In den 70er Jahren wurde das kirchliche Bild verworrener: Durch das Auftreten von Abraham Kuyper (1837-1920) vollzog sich eine Spaltung innerhalb des orthodoxen Volksteils. Sie war vorbereitet durch das Auftreten des im Réveil wurzelnden Politikers Guillaume Groen van Prinsterer (1801-1876), insbesondere durch dessen Votum von 1857 für eine protestantisch-christliche Schule neben der religiös neutralen staatlichen Schule. Kuyper, seit 1870 Pfarrer in Amsterdam, baute dies aus: ein eigenes Wochenblatt, eine eigene Tageszeitung, politische Partei und Universität (die Freie Universität, 1880; s. T R E 2,498-500; 8,640,33ff). Am Ende der Periode war die Orthodoxie auseinandergefallen in einen allgemein-orthodoxen und einen gereformeerden Teil. Beide standen sich durch das absichtlich polarisierende Auftreten Kuypers als unangezweifelter Führer der gereformeerden Partei scharf gegenüber. 4.2. Die Kirchen im Zeitraum der ,verzuiling' (ca. 1880-ca. 1955). Die Spaltung innerhalb der Orthodoxie wirkte sich selbstverständlich auch in der Hervormde Kerk aus. Kuyper wollte keine Trennung, sondern war auf doleantie aus. Der Terminus war der Periode von 1610-1618 entlehnt, als in Holland nichtremonstrantische Konsistorien eigene Gottesdienste anberaumten und untereinander Verbindung aufnahmen. So sollten jetzt gereformeerde Konsistorien unter der Leitung Amsterdams handeln, wo Kuyper großen Einfluß hatte. Durch das rasche Eingreifen der Amsterdamer Klasse mißglückte dieser Plan. Als 1886 die Doleantie ein Faktum war, war sie praktisch eine zweite Afscheiding. 1892 vereinigten sich die afgescheidenen und die dolerenden in den Gereformeerde Kerken van Nederland. Ein kleiner Teil der afgescheidenen blieb zurück als Christelijke Gereformeerde Kerk (später: Kerken). Weit mehr als die Afscheiding hat die Doleantie den protestantischen Volksteil erschüttert: Orthodoxe in der Hervormde Kerk fühlten sich verraten in ihrem Kampf für die Beibehaltung des reformierten Charakters dieser Kirche, und viele von ihnen waren Gegner der Bildung von allen möglichen protestantisch-christlichen Organisationen auf gesellschaftlichem Gebiet. Das wichtigste Charakteristikum dieser Periode ist damit genannt: die verzuiling (Versäulung), also eine gesellschaftliche Struktur, bei der sich sowohl ein Teil der Protestanten als auch die Katholiken aufgrund der eigenen Lebensanschauung auf jedem

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Gebiet in getrennten Organisationen verschanzten mit dem Ziel, Einfluß zu bekommen und zu behalten. Dieser Prozeß begann in der Schule und breitete sich aus auf Politik, Massenmedien, Universität, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen, Sport usw. Daneben gab es sogenannte ,neutrale' Organisationen, die in gewisser Weise eine dritte Säule bildeten. Die verzuiling hat einen wichtigen Beitrag für die Emanzipation des orthodox-protestantischen und des katholischen Volksteils geliefert. Sie hat auch bewirkt, daß die Volksteile voneinander getrennt wurden und nur in der Leitung zusammenarbeiteten. Für die Kirchen waren die Folgen erheblich und sehr verschieden. Die Katholische Kirche wurde das ideologische Zentrum der katholischen Säule. Konkret bedeutete das, daß der Episkopat eine viel größere M a c h t in gesellschaftlichen Fragen bekam, als es sonst für eine Minderheitskirche möglich gewesen wäre. Durch die Geistlichen als Vorsitzende oder Berater katholischer Einrichtungen wurde diese M a c h t direkt ausgeübt. Die Gereformeerde Kerken wurden das Zentrum der protestantisch-christlichen Säule. Ihre Synode bekam niemals einen so direkten Einfluß wie der Episkopat, da die Organisation schwach war—es gab keine ständige Leitung— und weil der allgemein akzeptierte Unterschied, den Kuyper zwischen der Kirche als Institution und der Kirche als Organismus ( = das christliche Organisationswesen) machte, eine direkte Einmischung ausschloß. Praktisch führte eine Anzahl Professoren und Politiker die Leitung, und die Freie Universität fungierte als ideologisches Zentrum und als Lieferant von Funktionären. Die leitenden Gremien der Hervormde Kerk standen außerhalb des Säulensystems. Diese Kirche konnte nur durch persönliche Kontakte - ein Teil der orthodoxen Gruppe in der Hervormde Kerk wirkte mit in protestantisch-christlichen Organisationen - Einfluß ausüben, was in der ,versäulten' Gesellschaft ein Nachteil war. Die Gereformeerde Kerken umfaßten 1899 8 % der Bevölkerung. Diese Kirche war eine -»Freikirche im strikten Wortsinn, lokal gut organisiert, mit starker, organisierter sozialer Kontrolle, einem hohen Grad aktiver Teilnahme und aktiven Jugendorganisationen, völliger finanzieller Unabhängigkeit und straffer Bindung der Amtsträger an die drie formulieren van enigheid. Die beiden Teile der Afscheiding und der Doleantie kamen mühsam zusammen; 1905 wurden schwere Konflikte beigelegt. In theologischer Hinsicht war die Kirche konservativ, sie wies alle moderne Bibelwissenschaft ab. Der bedeutendste Theologe neben Kuyper war Herman Bavinck ( 1 8 5 4 - 1 9 2 1 ) , der die alte reformierte Dogmatik aus der Blütezeit erneuern wollte. Ab ca. 1920 waren die emanzipatorischen Ziele erreicht, die Erstarrung nahm zu. Die wichtige Missionsaktivität in Indonesien wirkte als Ventil. Ein Konflikt um die Exegese der Schöpfungsberichte endete 1926 mit dem Ausschluß eines Teils der Intelligenz ( J . G . Geelkerken). Das Selbstvertrauen blieb unberührt. 1 9 4 4 - 4 5 trennten sich in der sogenannten Vrijmaking ca. 10 % der Gläubigen unter der Leitung von Klaas Schilder ab, nach einem Konflikt, der nur Insidern verständliche Unterschiede in der Bundes- und Tauflehre betraf. Die Hervormde Kerk, im Jahre 1889 49% der Bevölkerung umfassend, war eine oligarchisch regierte Kirche mit verkrusteter Leitung, durch fortdauernde Pattsituation zwischen den Parteien in der Synode zur Trägheit verurteilt. Seit der Doleantie wurde von Zeit zu Zeit versucht, die Kirche zu reorganisieren, in den 90er Jahren durch Kuypers anfänglichen Mitstreiter Philippus J. Hoedemaker (1839-1910) und durch J . H . Gunning Jr., ab 1906 durch den Gereformeerde Bond, der eine Verstärkung des reformierten Charakters der Kirche anstrebte, und ab 1920 durch eine breite Bewegung, die sich die Wiederherstellung der Kirche als bekennende und presbyterial-synodal eingerichtete Glaubensgemeinschaft zum Ziel setzte. 1939 verwarf die Synode endgültig alle diesbezüglichen Vorschläge. Die wirkliche Arbeit fand in getrennten Organisationen statt. Wichtig war für die studierende Jugend die NCSV (nederlandse christelijke studentenvereniging), die vielfach die Aufgabe der Kirche übernahm. In theologischer Hinsicht waren die .ethischen' Theologen bestimmend, die einen Ausweg aus dem aussichtslosen Kampf zwischen -»Modernismus und Orthodoxie boten. Neue Wege bahnten die remonstrantischen Leidener Professoren Karel H. Roessingh (1886-1925) und Gerrit J. Heering (1879-1955), die das tragische Lebensgefühl der Zeit und die pazifistischen Tendenzen theologisch verarbeiteten. In den 30er Jahren wurde der Einfluß von Karl -»Barth spürbar.

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Die Katholische Kirche, die 1889 3 6 % der Bevölkerung umfaßte, war anfänglich noch ganz auf Verteidigung eingestellt. Nach ca. 1900 wurde sie aggressiver. Dabei stand die Politik unter Leitung des Gründers der katholischen Partei, des Priesters Hermanus J . A.M. Schaepman (1844—1903) zu Beginn stark im Vordergrund, nach Kerum novarum auch die soziale Aktion. 1923 wurde in Nijmegen die katholische Universität gegründet. Doch wurde erst 1918, und das nach ernsten Beratungen, zum ersten Mal ein Katholik Ministerpräsident. Die erste Hälfte dieser Periode bedeutete einen kräftigen Ausbau des kirchlichen Lebens. Charakteristisch waren die neugotischen Kirchengebäude von Pierre Cuypers - mehr als 300 - und anderen. An den Seminaren herrschte der Neuthomismus (-•Thomas von Aquino), im Glaubens- und Moralunterricht wurden in den Gemeinden die römischen Richtlinien eingeschärft. Die niederländische Kirchenprovinz war in jeder Hinsicht ultramontan (-»Ultramontanismus). Im katholischen Süden des Landes beherrschte die Kirche das Privatleben, Familie und Gesellschaft. Andernorts trat der Katholizismus noch immer wenig an die Öffentlichkeit. Eine Ausnahme bildete das Kunstleben, zu dem Katholiken einen bedeutenden und zuweilen ostentativ-katholischen Beitrag lieferten, z.B. der Maler und Graphiker Jan Toorop. Daß in einer geschlossenen Gesellschaft der Integralismus Chancen hatte, versteht sich von selbst. Berüchtigt wurde das Auftreten des Priesters M.A. Thompson als Chefredakteur des katholischen Tageblattes De maasbode (Der Maasbote) 1898-1912 und, nach seiner Entlassung, in seiner eigenen Zeitschrift Rome 1912-1915. Die Periode nach 1920 war auch innerhalb des Katholizismus durch Erstarrung gekennzeichnet. Man vergesse dabei nicht, daß um 1945 die katholischen Niederlande insgesamt 3,5 Millionen Mitglieder, 8.000 Priester und 40.000 Klosterinsassen zählten, 7.000 Missionare und 50 Missionsbischöfe. Die Jahre der deutschen Besatzung (1940-1945) sind als Unterbrechung, nicht als Zäsur zu bezeichnen. Schon vor dem Krieg hatten die Bischöfe und die Gereformeerde Kerken den -»Nationalsozialismus verurteilt und Sympathisanten mit kirchlichen Maßregeln bedroht. Diese Haltung nahmen sie auch während der Besatzung ein. Von hervormder Seite kam nun ebenfalls heftiger Widerstand. Die Haltung der protestantischchristlichen und katholischen Organisationen variierte von Unterwürfigkeit zu verstecktem Widerstand. Daß 100.000 der 140.000 jüdischen Bürger umgebracht werden konnten, ist Naivität - für viele, auch für die Juden selbst, waren die Absichten der Nazis unvorstellbar- und Feigheit zuzurechnen. Die Kirchen selbst, die einzigen Organisationen, die ohne Kapitulation ihre Arbeit fortsetzen konnten, haben in Predigten und einige Male in gemeinsamen Kanzelbotschaften eine deutliche Sprache gesprochen. Die gesellschaftliche Struktur der Niederlande wurde 1945 nicht erneuert. Der Versuch, das Säulensystem der Vorkriegszeit abzuschaffen, der doorbraak (Durchbruch), mißglückte. Die Katholische Kirche und die Gereformeerde Kerkert bezogen die alten Positionen, die Vorkriegsorganisationen wurden wiederaufgebaut. Kennzeichnend war die triumphalistische Feier von .hundert Jahren Krummstab' im Jahre 1953. Allerdings war etwas von der Selbstverständlichkeit verschwunden, besonders unter den Jüngeren. Die ökumenische Bewegung (-»Ökumene) zog die Aufmerksamkeit an, auch weil die erste Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam abgehalten wurde (1948) und der erste Generalsekretär der Niederländer Willem A. -»Visser't Hooft war. Auch die katholische und die protestantische Mission paßten sich mühelos der Nachkriegssituation an, und das während des Kolonialkrieges der Niederlande in Indonesien.

Die Hervormde Kerk erneuerte sich stärker als man das für möglich gehalten hatte. Das Ideal der Reorganisation wurde im Krieg ausgearbeitet und konkretisiert. Am 31. Oktober 1945 kam die erste neue Synode zusammen; 1949 wurde der Versuch eines neuen, zeitgemäßen Bekenntnisses unternommen; 1951 wurde eine neue presbyteriale Kirchenordnung eingeführt. Auch auf lokalem Niveau wurde deutlich, daß es in der Hervormde Kerk viele Möglichkeiten der Erneuerung gab. Dabei standen zwei Ideale im Vordergrund: eine Christus-bekennende -• Volkskirche und die Rechristianisierung der Gesellschaft. Der erste Terminus will ausdrücken, daß ein besonderes Band zwischen der Hervormde Kerk und dem niederländischen Volk bestand, sie ist die Kirche der

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N a t i o n und hat einen gänzlich eigenen Auftrag, die Rechristianisierung der N a t i o n vermittels des Apostolats. Aufgrund ihrer Verantwortung f ü r die ganze Gesellschaft weigerte sich die Hervormde Kerk, ein grundsätzliches Votum zugunsten von christlichen O r ganisationen abzugeben. Das vertiefte die Kluft zu den Gereformeerde Kerken. Diese sahen hierin eine Form von kirchlichem Imperialismus. 4.3. Die Kirchen in einer säkularisierten Gesellschaft (ab ca. 1955). Um 1960 führten sowohl die Hervormde Kerk als auch die Gereformeerde Kerken mit gutem Resultat eine Aktion zum Kirchenbau in den Neubaugebieten durch, vor allem mit Blick auf die k o m m e n d e Generation. Viele dieser Kirchengebäude sind inzwischen aufgegeben w o r den, die Z a h l der Kirchenmitglieder ist dramatisch gefallen. 1960 u m f a ß t e die Katholische Kirche 40 % der Bevölkerung, 1990 27 % ; die Hervormde Kerk 28 % (1947 noch 31 % ) , 1990 1 2 % ; die Gereformeerden Kerken 7 % , 1990 6 % . Die Veränderungen setzten zwischen 1955 und 1960 ein. 1954 verboten die Bischöfe im mandement bei Strafe des Sakramentsentzuges die Mitgliedschaft in sozialistischen Organisationen und rieten von der Zugehörigkeit zur sozialistischen politischen Partei, der Parti} van de Arbeid, ab. Dies w a r ein Versuch, die ersten Risse im alten System sofort zu heilen. Die M a ß n a h m e wirkte gegenteilig. Das System ist mit Ausnahme von einigen Resten auf dem Gebiet der Politik und der Schule verschwunden. Ein Hirtenbrief der niederländischen Bischöfe von 1960 zur Vorbereitung des —» Vatikanum II w u r d e weltberühmt, u . a . d a d u r c h , d a ß auf Veranlassung des Heiligen Offiziums eine italienische Übersetzung aus d e m Handel gezogen wurde. Innerhalb einiger Jahre w a r die folgsamste Kirchenprovinz die lästigste geworden. In dieser Periode begann die Selbstsicherheit der Gereformeerde Kerken einer Verunsicherung Platz zu machen. In der Hervormde Kerk herrschte noch Selbstbewußtsein vor, aber die erste heftige Kritik a m Konzept der Volkskirche datierte doch aus d e m J a h r 1960. 1961 verabschiedete eine G r u p p e von Pfarrern - de achttien (Die Achtzehn) - den ersten Appell zur Vereinigung von Hervormde Kerk und Gereformeerde Kerken. Die Kirchen hatten einen großen Anteil an der gesellschaftlichen Krise der ,roaring sixties*. In diesem Dezennium ging das Säulensystem unter, und das hatte große Folgen für die Position der Kirchen. Autorität, auch kirchliche Autorität, wurde nicht mehr als selbstverständlich akzeptiert, sondern mußte sich bewähren. Moralische Vorschriften, auch auf sexuellem Gebiet, wurden von göttlichen Geboten zu menschlichen Einrichtungen, gelegentlich verstanden als Teil eines Unterdrückungssystems. Die Jüngeren forderten von der Kirche, daß sie sich der Außenwelt zuwenden sollte, und wandten sich selbst schnell von der Kirche ab. Die Gereformeerde Kerken bekamen einen offeneren Charakter und akzeptierten die neuere Schriftbetrachtung und Theologie. Die Hervormde Kerk wußte die Kritik im kirchlichen Rahmen zu kanalisieren und dadurch zu neutralisieren - Algemene Vergadering (allgemeine Versammlung) 1970. Zum ersten Mal stand eine selbstbewußte katholische Kirche mit Gespür für Publizität im Zentrum des Interesses. Kardinal Bernard J. Alfrink (1900-1987), der Erzbischof von Utrecht, wurde eine nationale Gestalt, W. M. Bekkers (1908-1966), Bischof von 's-Hertogenbosch, plädierte 1963 für die Geburtenregelung, der nieuwe catechismus von 1966 wurde durch den Versuch, den Glauben mit Bescheidenheit anstelle von Sicherheit in Worte zu fassen, ein Welterfolg. Die Amtskrise, zugleich eine Zölibatskrise - zwischen 1965 und 1971 g a b es 1.000 Priesterweihen und 1.180 Austritte - f ü h r t e zu großen Spannungen mit R o m . Das Pastoraal Concilie (1966-1970), auf dem Bischöfe und Laien gleichberechtigt berieten, brachte R o m zum Eingreifen durch Bischofsernennungen gegen die Wünsche der Bistümer: 1971 in Rotterdam (A. J. Simonis), 1972 in R o e r m o n d ( J . M . Gijsen). In denselben Jahren hatten es die protestantischen Kirchen mit ziemlich breiten Bewegungen von aktiven Mitgliedern zu tun, die mit dem Lauf der Dinge unzufrieden waren. In den Gereformeerde Kerken machten die Verontrusten (Entrüsteten) Einwände gegen konkrete Aussagen einiger Theologen zur Offenbarungs-, Schrift- und Versöhnungslehre. In der Hervormde Kerk richtete sich 1971 Het Getuigenis (Das Zeugnis) allgemein gegen

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ein theologisches Klima, in dem der Unterschied zwischen Kirche und Welt verwischt und das Heil nur noch gesellschaftlich und politisch verstanden werde. Inzwischen wuchs die Zusammenarbeit zwischen den Kirchen. 1968 kam eine neue Bearbeitung der Psalmen, 1973 ein neues Gesangbuch mit den Psalmen und 491 Liedern heraus; es wurde in den meisten protestantischen Kirchen eingeführt. 1968 und 1972 veranstalteten sie - kennzeichnend für das verlagerte Interesse - gemeinsame Aktionen für die Arbeit in den Entwicklungsländern. Wenig Resonanz fand in den 70er Jahren die Aktion Samen op weg (Gemeinsam auf dem Weg), die beabsichtigte, die Hervormde Kerk und die Gereformeerde Kerken — später auch die Lutherische Kirche - zu einer neuen Kirche umzugestalten. Kennzeichnend für diese Zeit waren eher die .Basisgruppen' und,Basisgemeinden', die gesellschaftskritische Christen im Widerstand gegen das kirchlich-bürgerliche Establishment zusammenbringen wollten. Die 80er Jahre waren günstiger für Samen op weg, und 1993 wurden sowohl der N a m e der neu zu bildenden Kirche ( V e r e n i g d e Protestantse Kerk) wie auch der Entwurf einer Kirchenordnung festgelegt. In den 80er Jahren hat das evangelikale Element in den größeren protestantischen Kirchen stark zugenommen, der Gereformeerde Bond macht eine aggressive kirchliche Politik, die kleineren Kirchen reformierter Prägung sind gewachsen, und in der Katholischen Kirche ist der zunehmende Einfluß von konservativen Gruppen sowohl bei allen Bischofsernennungen als auch in den Kreisen um das Blatt Confrontatie deutlich spürbar. Nur in der letztgenannten Kirche ist mit der 8 mei beweging seit dem Papstbesuch 1985 eine Gruppe mit einem Erneuerungsprogramm gegen diese Tendenz aufgetreten, und die zwei Bischofsernennungen von 1993 zeigten, daß R o m die Spannung nicht weiter steigern wollte. Die 80er Jahre haben die -»Säkularisierung klar hervortreten lassen. Von den 15 Millionen Niederländern bezeichnen sich heute (1990) 51 % als unkirchlich, und die Kirchen haben eine marginale Stellung im öffentlichen Leben. Nur ausnahmsweise kann eine (halb)kirchliche Organisation Einfluß ausüben; dies war der Fall bei den Anti-Atomwaffenaktionen in den 80er Jahren. M a n bedenke dabei, daß die Kirchen weithin die größten Freiwilligenorganisationen sind, mit zusammen 2,5 Millionen Kirchgängern jeden Sonntag, 680 Millionen Gulden (600 Millionen D M ) freiwillig geleisteten Einkünften im Jahr, 6.500 professionellen Kräften im Pastorenamt und 3.500 weiteren unterstützenden Arbeitskräften. Welchen Einfluß der Islam - heute die Religion von 3 % der niederländischen Bevölkerung — im öffentlichen Leben bekommen wird, ist noch nicht zu übersehen.

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Niemöller, Martin (1892-1984) 1. Leben und Werk

(s.a. -»Nationalsozialismus und Kirchen)

2. Würdigung

(Werke/Literatur S. 506)

1. Leben und Werk 1.1. Martin Niemöller wurde am 14. Januar 1892 in Lippstadt als Sohn eines lutherischen Pfarrers geboren. Nach dem Abitur in Elberfeld entschied er sich für den Beruf des Marineoffiziers. Er nahm aktiv am Ersten Weltkrieg teil, zuletzt als U-Boot-Kommandant. Das Kriegsende und die Revolution von 1918 empfand er als Zusammenbruch der traditionellen politischen Ordnung und der bis dahin geltenden sittlichen Normen.

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D a er glaubte, der Republik nicht mehr als Offizier dienen zu k ö n n e n , entschloß Niemöller sich zum Theologiestudium. Dahinter stand nicht so sehr das Streben nach wissenschaftlich-theologischer Erkenntnis als vielmehr das eher volksmissionarische Ziel, das Christentum als konservative O r d n u n g s m a c h t zur Geltung zu bringen und damit der orientierungslos gewordenen Gesellschaft wieder Sinn zu vermitteln. Niemöller studierte von 1919 bis 1923 in -»Münster. Bleibende Eindrücke erhielt er durch die „Ordnungstheologie" Georg Wehrungs (1880-1959), in der er die nationalprotestantische Frömmigkeit seines Elternhauses bestätigt fand und seine Mitarbeit in rechtskonservativen Organisationen legitimiert sah. Schon vor seiner Ordination 1924 wurde Niemöller als Vereinsgeistlicher in den Dienst der westfälischen Inneren Mission berufen. Hier konnte er seine organisatorische Begabung entfalten. Er entwickelte weitgefächerte Konzeptionen zur Evangelisation und Rechristianisierung der Öffentlichkeit. Um auch politisch die Interessen der evangelischen Kirche in der säkularen Gesellschaft zu wahren, vertrat er ab Ende 1929 die Evangelische Vereinigung als Stadtverordneter und Fraktionsführer im Stadtparlament von Münster. Niemöller war durch seine Predigt- und Vortragstätigkeit in der kirchlichen Öffentlichkeit bereits ein bekannter Mann, als er 1931 eine Pfarrstelle in dem Berliner Villenvorort Dahlem übernahm. Hier wurde er bald in die von der nationalsozialistischen Revolution ausgelösten kirchlichen Kämpfe verwickelt (-»Nationalsozialismus und Kirchen). Da viele Elemente der nationalsozialistischen Ideologie Niemöllers politischen Leitvorstellungen entsprachen und er sich vom -»Nationalsozialismus die Wiederherstellung der kulturellen Identität der deutschen Gesellschaft auf christlicher Grundlage versprach („Volksgemeinschaft"), hatte er schon seit 1924 nationalsozialistisch gewählt; 1933 begrüßte er die Errichtung des autoritären Führerstaates unter Hitler. Dennoch lehnte er von Anfang an die nationalsozialistische Kirchenpartei der -»Deutschen Christen ab; denn in ihrem Programm und Verhalten sah er Christentum und Politik in unzulässiger Weise vermischt und das Evangelium einer politischen Zwecksetzung untergeordnet. 1.2. Bereits im M a i 1933 versuchte Niemöller als Mitbegründer der Jungreformatorischen Bewegung und A d j u t a n t des designierten Reichsbischofs E v. -»Bodelschwingh d. J. d e m Aufstieg der Deutschen Christen entgegenzuwirken. N a c h d e m Sieg der Deutschen Christen bei den oktroyierten Kirchenwahlen im Juli 1933 w u r d e Niemöller einer der Initiatoren der innerkirchlichen Opposition gegen die von ihnen ausgeübten M a ß nahmen zur organisatorischen und ideologischen Anpassung der Kirche an den Nationalsozialismus. O b w o h l selbst nicht frei von antisemitischen u n d antijudaistischen Vorurteilen, sah Niemöller mit der Übernahme des staatlichen „ A r i e r p a r a g r a p h e n " durch deutschchristliche Kirchenleitungen den status confessionis gegeben. Seinem Aufruf zur G r ü n d u n g eines Pfarrernotbundes im September 1933 folgte rasch über ein Drittel der evangelischen Pfarrer, die sich verpflichteten, sich f ü r ihre Verkündigung nur an die Heilige Schrift und die Bekenntnisse der Reformation zu binden. Niemöller stellte nichtsdestoweniger seine politische Loyalität immer wieder unter Beweis, stand jedoch bei den staatlichen Stellen im Verdacht der Reaktion und Staatsfeindlichkeit. Im J a n u a r 1934 k a m es bei einem E m p f a n g von Kirchenführern in der Berliner Reichskanzlei zu einer direkten Konfrontation zwischen Hitler und Niemöller, als dieser vergeblich deutlich zu machen versuchte, d a ß der Kampf der kirchlichen Opposition um die Freiheit und Reinheit der Verkündigung auch aus politischer Verantwortung, aus „Sorge u m das Dritte R e i c h " geschehe. Der von Niemöller geführte P f a r r e r n o t b u n d w a r eine der wichtigsten Keimzellen der Bekennenden Kirche (BK), zu der sich die kirchliche Opposition im F r ü h j a h r 1934 formierte. M i t der ihm eigenen Leidenschaftlichkeit k ä m p f t e Niemöller in der Bekennenden Kirche um einen konsequenten Kurs der Scheidung von den Deutschen Christen, der Sammlung um die Barmer Theologische Erklärung, die f ü r ihn die Summe seiner Theologie bedeutete (Greschat 193), und u m die Durchsetzung des von der Dahlemer Bekenntnissynode im O k t o b e r 1934 proklamierten kirchlichen Notrechts, nach d e m die rechtmäßige Kirchenleitung allein bei den von der Bekennenden Kirche herausgestellten

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notrechtlichen Organen (Bruderräte) liegen sollte. Niemöllers Auffassung war jedoch in der Bekennenden Kirche in ihrer Gesamtheit nicht konsensfähig; ihre Mehrheit war zu Zugeständnissen bereit und sah in den vom staatlichen Kirchenminister eingesetzten Kirchenausschüssen, in denen alle kirchlichen Gruppierungen mit Ausnahme der radikalen Deutschen Christen und der Bruderräte vertreten waren, eine mögliche Kompromißlösung zur Überwindung des kirchlichen Leitungsschismas. Niemöller und seine Weggenossen, besonders im altpreußischen Bruderrat, gerieten in der Bekennenden Kirche immer stärker in die Isolierung. Es lag in der Konsequenz der von Niemöller vertretenen Position, daß er, obwohl weiterhin mit vielen Inhalten und Zielen des Nationalsozialismus übereinstimmend, objektiv mehr und mehr in die politische Illegalität geriet. Schon sein Widerstand gegen die Deutschen Christen 1933/34 war ein Politikum gewesen, weil Niemöller damit indirekt auch die nationalsozialistische Kirchenpolitik ablehnte, die die Deutschen Christen favorisierte. Mit seinem Kampf gegen die Kirchenausschüsse seit 1935 widersetzte sich Niemöller nun direkt den Maßnahmen staatlicher Kirchenpolitik. Je länger je weniger ging es ihm dabei ausschließlich um die Unabhängigkeit der Kirche von staatlicher Bevormundung; auch seine Predigten und Vorträge zielten nicht mehr allein auf die Evangelisation der Gesellschaft. Aus christlicher Verantwortung heraus wagte er jetzt darüber hinaus, die politischen Methoden des Regimes und das von ihm vertretene „Neuheidentum" anzugreifen und offensichtliche Unrechtsmaßnahmen beim Namen zu nennen. So wurde Niemöller im In- und Ausland allmählich zur Symbolfigur des kirchlichen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus und zog damit den besonderen Zorn Hitlers auf sich. Am 1. Juli 1937 ließ dieser Niemöller verhaften (vgl. TRE 8,49,45). Der Vorwurf der Anklage lautete, Niemöller habe in seinem Wirken „in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise" M a ß n a h m e n der Regierung kritisiert, „gehässige und hetzerische Äußerungen" über einige Reichsminister getan und damit gegen den „Kanzclparagraphen" und das „Heimtückegesetz" verstoßen. Das Gericht verurteilte Niemöller am 2. März 1938 lediglich zu einer Geldstrafe und zu Festungshaft, die durch die Untersuchungshaft als verbüßt galt. Verärgert über das milde Urteil ließ Hitler Niemöller als seinen persönlichen Gefangenen in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbringen und machte diese Entscheidung auch trotz anhaltender weltweiter Proteste nicht wieder rückgängig.

In Sachsenhausen blieb Niemöller drei Jahre in Einzelhaft. Sein Gesuch, bei Beginn des Zweiten Weltkrieges freiwillig Kriegsdienst zu leisten, wurde nicht angenommen. Enttäuscht über die mangelnde innere Geschlossenheit der evangelischen Kirche, erwog Niemöller, zum Katholizismus überzutreten. Offensichtlich um diese Tendenzen zu fördern, wurde er 1941 in das Konzentrationslager Dachau verlegt, wo er seine Zelle fortan mit drei katholischen Priestern teilte. Er gab den Gedanken einer Konversion jedoch bald wieder auf. Bei Kriegsende 1945 wurde er in Begleitung eines Liquidationskommandos nach Südtirol verbracht, wo er zunächst von deutschen und schließlich von amerikanischen Soldaten befreit wurde. 1.3. Nach Deutschland zurückgekehrt, versuchte Niemöller sofort, seine im Kirchenkampf gewonnenen Erkenntnisse bei der Neuordnung des evangelischen Kirchenwesens zur Geltung zu bringen. Er konnte sich mit seiner Konzeption des Neuaufbaus der Kirche von bekennenden Kerngemeinden aus und auf der Grundlage der Barmer Theologischen Erklärung gegen das konfessionelle und landeskirchliche Beharrungsvermögen jedoch nicht durchsetzen. Dennoch übernahm er verschiedene kirchenleitende Ämter: 1945 wurde er stellvertretender Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Leiter des Kirchlichen Außenamtes (vgl. TRE 10,672,54ff); 1947 wurde er zum Kirchenpräsidenten der neukonstituierten Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau berufen (-»Hessen-Nassau). Während seiner Haftzeit hatte sich für Niemöller das Zentrum der christlichen Botschaft neu erschlossen. Da Christus f ü r alle Menschen gestorben war, konnte sich die Verkündigung der Kirche

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nicht mehr allein als „Dienst der Kirche am Volk" verstehen, sondern mußte die Grenzen der Völker, Rassen und Ideologien überwinden. Nachdem sich für die deutsche Kirche durch die Stuttgarter Erklärung des Rates der EKD im Oktober 1945 der Weg in die -»Ökumene wieder geöffnet hatte, wurde Niemöller zu einem entschiedenen Förderer des ökumenischen Gedankens. Zahllose Reisen führten ihn in den nächsten Jahrzehnten in fast alle Erdteile. Er nahm an den Weltkirchenkonferenzen von Amsterdam (1948) bis Nairobi (1975) teil. In Anerkennung seiner Verdienste um die weltweite Einheit der Kirchen wurde er 1961 zu einem der sechs Präsidenten des ökumenischen Rates der Kirchen gewählt. N a c h 1945 kreisten Niemöllers Predigten, Vorträge und Interviews u m den G e d a n k e n der Mitschuld der Kirche an politischen Fehlentwicklungen und u m die Notwendigkeit eines kirchlichen und gesellschaftlichen N e u a u f b r u c h s im Zeichen der Buße, der Versöhnungsbereitschaft und des Dienstes a m Menschen. Sie implizierten häufig direkte politische Stellungnahmen, und da Niemöller überspitzte Formulierungen, verletzende Äußerungen und persönliche Konfrontationen nicht scheute, u m die Gewissen wachzurütteln, geriet er mitten hinein in den politischen Meinungsstreit. Hauptangriffspunkte seiner Polemik waren die G r ü n d u n g der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949, die f ü r Niemöller aus einem Pakt zwischen römischem Katholizismus und amerikanischem Kapitalismus auf Kosten der Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone resultierte, die Wiederbewaffnung Westdeutschlands, die R ü s t u n g der G r o ß m ä c h t e und die Anpassung der Kirche an die Ideologie des Kalten Krieges zwischen d e m angeblich christlichen Abendland und dem Kommunismus. 1954 w u r d e Niemöller zum radikalen Pazifisten, als er in einem Gespräch mit Atomphysikern erkannte, d a ß es mittels der ABC-Waffen möglich sei, das Leben selbst auszulöschen. Von da a n w a r e n A t o m r ü s t u n g und Kriegsdienst für ihn nicht allein politische Absurditäten, sondern auch christlich nicht zu verantwortende Verstöße gegen die Schöpfung u n d das Friedensgebot Gottes. Niemöller schreckte auch vor unkonventionellen Schritten nicht zurück, u m Zeichen der Versöhnungsbereitschaft zu setzen und dem Frieden zu dienen. Auf einem der H ö hepunkte des Kalten Krieges reiste er auf Einladung des Patriarchen der Russischen O r t h o d o x e n Kirche 1952 nach M o s k a u , besuchte 1967 N o r d - V i e t n a m und arbeitete bis in sein hohes Alter in kirchlichen und politischen Friedensorganisationen mit, auch wenn diese sich als kommunistisch gesteuert herausstellten. Da Niemöller sich in den Augen seiner Gegner politisch zu sehr exponierte, w u r d e ihm 1956 die Leitung des Kirchlichen Außenamtes entzogen. 1958 w u r d e er nur mit knapper Mehrheit als hessen-nassauischer Kirchenpräsident wiedergewählt. 1964 trat er in den R u h e s t a n d . Er starb a m 6. M ä r z 1984 in Wiesbaden und w u r d e in seiner westfälischen H e i m a t begraben. 2.

Würdigung

Der große Respekt, den Niemöller weltweit genoß, drückt sich in zahlreichen Auszeichnungen aus. Er erhielt u. a. die Wichernplakette der Inneren Mission, den LeninFriedenspreis der UdSSR, das G r o ß k r e u z des Bundesverdienstordens, die Albert-Schweitzer-Friedensmedaille, die DDR-Friedensmedaille in Gold und w a r E h r e n d o k t o r des theologischen Seminars Eden/USA, der theologischen Akademie Budapest, der theologischen Fakultäten Göttingen und H a l i f a x / C a n a d a sowie der Universitäten von Bratislawa, N e u Delhi und Chicago. Niemöller gehört zu den markantesten deutschen Kirchenmännern des 20. J h . Seine unverwechselbare Eigenart spiegelt sich in den Wandlungen v o m Nationalprotestanten zum ö k u m e n i k e r , vom Militaristen z u m Pazifisten. Niemöllers politische Ethik ist gleichermaßen lutherischem Erbe und reformiertem Einfluß verpflichtet. Z w a r b e m ü h t e er sich, an der relativen Autonomie des Politischen festzuhalten, aber politische Entscheidungen wurden f ü r ihn doch zu Glaubensentscheidungen, wenn sie mit d e m G e h o r s a m gegen Gott im Geiste der Bergpredigt nicht vereinbar schienen. Auch wenn Niemöller den Begriff des status confessionis aus der Zeit des Kirchenkampfes f ü r die politischen Auseinandersetzungen nach 1945 nicht wieder a u f n a h m , neigte er doch dazu, den Bereich

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des Politischen der grundsätzlichen Kritik durch die Theologie zu unterwerfen, verzichtete allerdings darauf, diese Kritik selbst wieder kritisch zu reflektieren. Werke

(Auswahl)

Vom U-Boot zur Kanzel, Berlin 1934. - . . . daß wir an Ihm bleiben! Sechzehn Dahlemer Predigten, Berlin 1935. - „ . . . zu verkünden ein gnädiges Jahr des Herrn!" Sechs Dachauer Predigten, München 1946. - Herr, wohin sollen wir gehen? Ausgew. Predigten, München 1956. - Reden 1 9 4 5 - 1 9 6 1 , 3 Bde., Darmstadt/Frankfurt/M. 1 9 5 7 - 1 9 6 1 . - Haupttypen heutiger dt. Kirchenverfassungen. Ev. Kirche in Hessen und Nassau: ZevKR 7 (1959/60) 3 3 7 - 3 4 7 . - Eine Welt oder keine Welt. Reden 1961 - 1 9 6 3 , Frankfurt/M. 1964. - Briefe aus der Gefangenschaft. Moabit, hg. v. Wilhelm Niemöller, Frankfurt/M. 1975. - Reden, Predigten, Denkanstöße 1 9 6 4 - 1 9 7 6 , Köln 1977. - Briefe aus der Gefangenschaft. Konzentrationslager Sachsenhausen (Oranienburg), hg. v. Wilhelm Niemöller, Bielefeld 1979. - Reden - Predigten - Aufsätze 1 9 3 7 - 1 9 8 0 , hg. v. Walter Feurich, Berlin (Ost) 1981. - Ein Lesebuch, hg. v. Hans Joachim Oeffler u. a., Köln 1987. Literatur Joachim Beckmann/Herbert Mochalski (Hg.), Bekennende Kirche. Martin Niemöller zum 60. Geburtstag, München 1952. - James Bentley, Martin Niemöller. Eine Biographie, München 1985. - Franz Beyer, Menschen warten. Aus dem polit. Wirken Martin Niemöllers seit 1945, Siegen 1952. - John S. Conway, The Political Theology of Martin Niemöller: German Studies Review 9 (1986) 5 2 9 - 5 4 6 . - FS der Martin-Niemöller-Schule aus Anlaß der Namensgebung am 14. Januar 1987, Wiesbaden 1987 (mit Bibliogr. von Heinz Ennemann 3 7 - 5 3 ) . - Günter Gaus, Martin Niemöller: Zur Person. Porträts in Frage u. Antwort, München 1965, 1 0 3 - 1 2 0 . - Martin Greschat, Martin Niemöller: GK 10.2 (1986) 1 8 7 - 2 0 4 . - Ders., Martin Niemöller. Repräsentant des dt. Protestantismus im 20. Jh.: PTh 81 (1992) 3 2 4 - 3 3 8 . - Karl Herbert (Hg.), Christi. Freiheit im Dienst am Menschen. Deutungen der kirchl. Aufgabe heute. Zum 80. Geburtstag von Martin Niemöller, Frankfurt/M. 1972. - Hannes Karnick/Wolfgang Richter, Niemöller. Was würde Jesus dazu sagen? Eine Reise durch ein prot. Leben. Dokumentarfilm. Ein Film-Lesebuch, Frankfurt/M. 1986. - Dies. (Hg. i. A. der Ev. Kirche in Hessen u. Nassau), Protestant. Das Jh. des Pastors Martin Niemöller (Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung in Wiesbaden), Darmstadt 1992. - Heinz Kloppenburg u. a. (Hg.), Martin Niemöller. FS zum 90. Geburtstag von D. Martin Niemöller, München 1982. - Herbert Mochalski (Hg.), Der Mann in der Brandung. Ein Bildbuch um Martin Niemöller, Frankfurt/M. 1962. - Carsten Nicolaisen, Niemöller, Martin: BBKL VI (1993) 7 3 5 - 7 4 8 (mit Bibliogr.). - Jan Niemöller, Erkundung gegen den Strom. 1952: Martin Niemöller reist nach Moskau. Eine Dokumentation, Stuttgart 1988. - Martin Niemöller. Glauben u. glaubwürdig handeln. Studientag u. Festakt aus Anlaß des 100. Geburtstages, hg. von der Ev. Darlehns-Genossenschaft u. dem Diakonischen Werk der Ev. Kirche von Westfalen, Münster 1992. - Karl-Alfred Odin, Martin Niemöller: Protestanten. Von Martin Luther bis Dietrich Bonhoeffer. Portraits, hg. v. Klaus Scholder/Dieter Kleinmann, Frankfurt/M. '1992, 3 6 7 - 3 8 1 . - Dietmar Schmidt, Martin Niemöller. Eine Biographie, Hamburg 1959 Stuttgart 2 1983. - Jürgen Schmidt, Martin Niemöller im Kirchenkampf, Hamburg 1971. - Leonore Siegele-Wenschkewitz, Auseinandersetzungen mit einem Stereotyp. Die Judenfrage im Leben Martin Niemöllers: Ursula Büttner (Hg.), Die Deutschen u. die Judenverfolgung im Dritten Reich, Hamburg 1992, 2 9 3 - 3 1 9 .

Carsten Nicolaisen

Nietzsche, Friedrieb

(1844-1900)

1. Leben und Schriften 2. Werk 2.1. Hintergrund 2.2. Charakter des Werks und der Nachlaß 2.3. Kunst, ästhetische Metaphysik 2.4. Zeit, Geschichtlichkeit, Historie 2.5. Die Destruktionen 2.5.1. ,Logik' 2.5.2. Metaphysik 2.5.3. Absolute Moral 2.5.4. Religion, Christentum 2.6. Nihilismus 2.7. Die .konstruktiven' Grundgedanken 2.8. Fragezeichen und Wende 3. Wirkungsgeschichte (Quellen/Literatur S. 522)

1. Leben und Schriften Nietzsches Leben, aufs Ganze gesehen und vordergründig betrachtet, ist arm an H ö hepunkten und Erfolgen, selbst an verläßlichem mäßigen Glück; je länger um so mehr wird es zu einer Geschichte von Beraubungen. Aber die Tiefendimension dieses Lebens ist das Denken. Auch in ihr gibt es viele schmerzhafte Verluste, jedoch überwiegt in Nietzsches Sicht der Gewinn hier bei weitem. Er kristallisiert sich in dem umfassendsten

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J a zur irdischen Welt als der einzigen, die den Menschen .etwas angeht'. Diesem J a zu geschichtlichem Durchbruch zu verhelfen, ergreift Nietzsche als seine eigenste Aufgabe. Sie bestimmt dann allein noch sein Leben, ja hält ihn im Dasein, obwohl eine nennenswerte Wirkung seines Werks sich für ihn nicht abzeichnet. Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen als Sohn eines Pfarrers und einer Pfarrerstochter geboren. 1846 wurde die Schwester, Elisabeth, geboren, 1848 ein Bruder. Der Vater starb 1849, der Bruder 1850. Der gemeinsame Hausstand mit drei weiteren durch Pfarrhaustradition geprägten Frauen wurde nun nach Naumburg verlegt. Hier wuchs Nietzsche behütet und brav heran. Eine Freistelle ermöglichte dem Schüler 1858 den Übergang zur königlichen Landesschule Pforta. Ziel dieser herausragenden Internatsschule, in der strenges Reglement herrschte, war es, vorwiegend durch humanistische Bildung auf den Gelehrtenberuf vorzubereiten. Hier begannen Nietzsches philologische Studien. Mit zwei Freunden in Naumburg schloß er sich 1860 zu einem Verein zusammen, dessen Mitglieder monatlich eine Abhandlung oder eine künstlerische Produktion vorzulegen hatten. Als Siebzehnjähriger brachte er dort die philosophischen Arbeiten Fatum und Geschichte und Willensfreiheit und Fatum ein, in denen viele seiner späteren Grundgedanken schon anklingen, auch eine Auseinandersetzung mit dem Christentum sich anbahnt. - Zum Wintersemester 1864/65 begann Nietzsche in Bonn das Studium der Philologie und, der Mutter zuliebe und wenig ernsthaft, der Theologie. Ab dem Wintersemester 1865/66 studierte er Philologie in Leipzig, vornehmlich bei Ritsehl, den er verehrte, wenn er auch seine Philosophieferne bedauerte. Die Freundschaft zu dem Ritschl-Schüler Erwin Rohde intensivierte sich beglückend. - 1867/68 war Nietzsche als Freiwilliger ein Jahr im Militärdienst, mehrere Monate davon an den Folgen eines Reitunfalls erkrankt. - Das folgenreichste Ereignis der Leipziger Jahre dürfte die Entdeckung —•Schopenhauers im Spätherbst 1865 gewesen sein. Nietzsche erwarb dessen ihm gänzlich fremdes Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung in einem Antiquariat und geriet sofort in seinen Bann. Er dehnte seine Studien auf mehrere Schriften dieses Denkers aus und .bekehrte' Freunde zu ihm. Die Weiche für seine philosophische Lebensbahn war gestellt, wenngleich er schon bald Schopenhauers Pessimismus hinter sich lassen sollte. Anfang 1869 wurde Nietzsche zum außerordentlichen Professor der klassischen Philologie an der Universität -»Basel berufen. Die sensationell frühe Berufung verdankte er seinen ersten philologischen Veröffentlichungen und der nachdrücklichen Empfehlung Ritschis. Im April 1870 wurde er Ordinarius. Vier Monate später bat er mit Erfolg um Dispens, um als Freiwilliger im Sanitäterdienst am Deutsch-Französischen Krieg teilnehmen zu können. Schon zu Beginn der Pflegetätigkeit erkrankte er schwcr. Im Oktober hatte Basel ihn wieder. - Nietzsche war ein gewissenhafter akademischer Lehrer, aber die klassische Philologie konnte nicht seine eigentliche Sache bleiben, und die Aufgaben seines Amtes (darunter Griechischunterricht am Gymnasium) zogen zuviel seiner durch Krankheit zunehmend beeinträchtigten Kräfte auf sich; auch blieb ein ermutigender Lehrerfolg aus. 1871 bewarb er sich vergeblich um eine philosophische Professur in Basel. Anderes aus der Baseler Zeit gehört auf die Habenseitc seines Lebens: 1870 begann die verläßlichste Freundschaft Nietzsches - mit dem Theologen Franz -»Overbeck. Die Schätzung durch den Baseler Gelehrten Jakob Burckhardt bedeutete Nietzsche viel. Die wesentlichste persönliche Begegnung seines Lebens dürfte Richard Wagner gewesen sein. Nietzsche stellte sie gleichrangig neben die Bedeutung, die seine Entdeckung von Schopenhauers Werk für ihn gehabt hatte, und den Bruch dieser Freundschaft hat er nie wirklich verwunden. Er hatte den einunddreißig Jahre älteren Wagner noch in Leipzig kennengelernt (1868). Nietzsches Übersiedlung nach Basel machte häufigere Besuche bei Wagner in Tribschen bei Luzern möglich. Er brachte für diese Beziehung wichtige Voraussetzungen mit: Wie Wagner selbst, glaubte er sich (noch) Schopenhauer nahe. Seit frühester Jugend hatte er komponiert. Wagners Musik beeindruckte ihn sehr (Tristan; Meistersinger). Schließlich: Er war bereit, ausdrücklich seine Verehrung zu bezeugen (in die er Wagners damalige Gefährtin und spätere Frau Cosima innigst einschloß). Tribschen war für Nietzsche ein geistiges Wahlelternhaus, in das er aber eintrat als jemand, der auch zu geben hatte. Dort, wo er liebte und verehrte, eine durch wohlwollende Kritik glaubhaft gemachte Anerkennung zu linden, war für ihn dankbar empfangene Ermutigung. Wagner schreibt ihm 1870: „Sie könnten mir nun viel, ja ein ganzes Halbtheil meiner Bestimmung abnehmen. Und dabei gingen Sie vielleicht ganz Ihrer Bestimmung nach" (KGB II 2, 145). Nietzsche wird sich, um seiner anders empfundenen Bestimmung willen, solcher Vereinnahmung entziehen und dafür kein Verständnis bei diesen Freunden finden. 1870 freilich spielte er mit dem Gedanken, zu gegebener Zeit die Professur für einige Jahre niederzulegen, um Wagner nach Bayreuth zu folgen. Über Stufen von Vorarbeiten wuchs seine Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (erschienen 1872, Wagner gewidmet), die Wagner manche Anregungen verdankt. Deutlich spürte die philologische Zunft aus ihr heraus, was Nietzsche Rohde 1871 brieflich anvertraut hatte: „Von der Philologie lebe ich in einer übermüthigen Entfremdung, die sich schlimmer gar nicht

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denken läßt. [...] So lebe ich mich allmählich in mein Philosophenthum hinein und glaube bereits an mich" (KGB II 1, 190). Der später berühmte Philologe Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff verriß die Schrift. Rohde und Wagner nahmen öffentlich gegen sein Pamphlet Stellung. - In den nächsten Jahren erschienen vier Unzeitgemäße Betrachtungen: 1. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller (1873, theologisch unergiebig); 2. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874, vgl. u.); 3. Schopenhauer als Erzieher (1874); 4. Richard Wagner in Bayreuth (1876). Die 3. und 4. Betrachtung sind Abgesänge im letzten Moment. Denn 1877 begann Nietzsche mit den Aufzeichnungen für Menschliches, Allzumenschliches (erschienen 1878/79). Mit diesem Werk ließ er wissen: Er hatte sich entschieden auf sich selbst gestellt. Sofort erregte er Mißfallen bei den meisten seiner Freunde und Bekannten, besonders auch in Bayreuth. Nach Nietzsches Zeugnis (Brief an Mathilde Maier vom 15.7.1878) griffen das Konzipieren des Werkes und die innere Abkehr von Wagner ineinander. Seine Weigerung, an den Bayreuther Blättern mitzuarbeiten, tat auf Wagners Seite'ein übriges, um der Freundschaft ein Ende zu setzen. Menschliches, Allzumenschliches wurde von Nietzsche, wie die meisten weiteren Werke, erheblichen physischen Beeinträchtigungen abgerungen. In Basel wie auch späterhin litt er trotz vorsichtigster Lebensweise immer wieder an schmerzhaften Anfällen, die ihn mit Krampferscheinungen und Erbrechen tagelang niederwarfen, an Schlaflosigkeit, Kopfschmerz und einer äußerste Schonung verlangenden Augenschwäche, die ihn zeitweise abhängig machte von Personen, die bereit waren, für ihn zu schreiben oder ihm vorzulesen. Den Anstrengungen seiner Lehrtätigkeit fühlte er sich 1879 nicht mehr gewachsen. Seinem Entlassungsgesuch wurde stattgegeben; ihm wurde ein Ruhegehalt gewählt. Er löste seinen Haushalt auf und lebte von nun an ein Wanderleben zwischen den sommers oder winters am zuträglichsten erscheinenden Orten im Hochgebirge (vornehmlich Sils Maria) und südlich der Alpen (u. a. Genua, Nizza, Turin) - in bescheidenen Fremdenzimmern, allein, von einer Bücherkiste begleitet. Es blieben ihm zehn Jahre für sein Werk. Als erste Früchte des neuen Lebens erschienen Morgenröthe (1881) und Die fröhliche Wissenschaft, 1 . - 4 . Buch (1882). 1882 blitzte die Hoffnung auf, der jetzt gewählten Existenzweise könne die Einsamkeit, vor allem auch die geistige, genommen werden. Die Hoffnung hieß Lou von Salome (spätere Andreas-Salomé und Freundin Rilkes und Freuds). Die Begegnung mit dieser damals einundzwanzigjährigen Frau berührte Nietzsche sehr, währte aber nur kurz. Sie bescherte ihm dank Lou und der Mitwirkung anderer Akteure - seines in Lou verliebten Freundes Paul Rèe, der eifersüchtigen Schwester, der in ihrer Bürgerlichkeit überforderten Mutter - viel Verletzendes vom Niveau der Hintertreppe. Im Winter 1882/83 vollzog er die Trennung von Lou und Rèe, auch einen Bruch mit Schwester und Mutter, dem im folgenden Frühjahr allerdings die Versöhnung folgte. Dem Leid dieses Winters gewann er den 1. Teil von Also sprach Zarathustra ab (1. und 2. Teil erschienen 1883, 3. Teil 1884). Nietzsche war mit den letzten Schriften ins Zentrum seiner Philosophie gelangt. Freunde folgten ihm dahin kaum noch; auch öffentlicher Erfolg blieb aus. Vom 4. Teil des Zarathustra ließ Nietzsche einen Privatdruck in wenigen Exemplaren herstellen (1885). Spätere Werke erschienen wieder in einem Verlag, jedoch auf Nietzsches Kosten, so Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Beachtung fanden seine Schriften allerdings schon jetzt auf einer Seite, die Nietzsche zutiefst zuwider war, bei den Antisemiten. In einem Briefentwurf schreibt er 1887: „Jetzt ist so viel erreicht, daß ich mich mit Händen und Füßen gegen die Verwechslung mit der antisemitischen) Canaille wehren muß [...]. Nachdem ich gar den Namen Zarathustra) in der antisemitischen) Correspondenz gelesen habe, ist meine Geduld am Ende [...]. Diese verfluchten Antisemiten-Fratzen sollen nicht an mein Ideal greifen!!" (KGB III 5, 218f). Ab 1888 erst durfte Nietzsche kleine Anfänge einer sachgerechten Wirkung seines reifen Werkes erfahren. Brieflicher Kontakt ergab sich mit Georg Brandes, der Vorträge über ihn an der Kopenhagener Universität hielt, und zu Strindberg, der ihn damals bewunderte (vgl. 3). Nach dem Erscheinen von Zur Genealogie der Moral schien es Nietzsche, als habe er jetzt erst seine Hauptaufgabe anzupacken. Zu dem angeblichen Hauptwerk „Der Wille zur Macht" (vgl. 2.2.) kam es aber nicht. Wohl machte er eine Fülle von Aufzeichnungen, erwog Pläne und Titel eines neuen Werkes. Was dabei an Druckfertigem entstand, waren: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt (erschienen 1889); ferner Der Antichrist, von Nietzsche zunächst noch als das erste eines auf vier Bücher veranschlagten Werkes „Umwerthung aller Werthe", dann als dieses Werk selbst aufgefaßt, das er erst Ende 1889 erscheinen lassen wollte. - 1888 erschien Der Fall Wagner. Die Schrift Nietzsche contra Wagner, fast ganz aus Passagen früherer Werke bestehend, war schon gesetzt, als Nietzsche sich am 2.1.1889 gegen ihr Erscheinen entschied. Zum Druck gegeben war auch Ecce homo, eine Selbstdarstellung, der man nicht in allen Einzelheiten trauen sollte und die, zumal im grenzenlosen Selbstlob, Vorzeichen der geistigen Zerrüttung enthält. Dieser konnte Nietzsche zuletzt noch die für den Druck bestimmte endgültige Zusammenstellung von neun teils sehr wichtigen Gedichten zur Sammlung der Dionysos-Dithyramben abtrotzen (vgl. 2.8.). In den ersten Tagen des Jahres 1889 brach sein Geist zusammen (die überwiegend angenom-

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mene Diagnose: progressive Paralyse). Sobald sein Zustand private Unterbringung zuließ, begann die Mutter ihr großes Liebeswerk der Pflege. Kurz vor ihrem Tod (1897) holte die Schwester den Kranken nach Weimar. Sie hatte 1894 in Naumburg das Nietzsche-Archiv gegründet und dieses 1896 nach Weimar verlegt. Nietzsche starb am 25. August 1900.

2. Werk 2.1.

Hintergrund

Am Tor von der Philologie zur Philosophie stand für Nietzsche das Werk Schopenhauers, das er als Student entdeckte (vgl. 1.) und dem er auch in der Abkehr noch verpflichtet blieb. Nietzsche war als Philosoph Autodidakt. Das gilt weitgehend selbst für die antike Philosophie, denn sein akademischer Lehrer Ritsehl gab der Philologie keine philosophische Dimension. Seine eigenen philologischen Arbeiten über Demokrit und insbesondere über Diogenes Laertius* Leben und Meinungen berühmter Philosophen (vgl. KGW II 1) erbrachten auch philosophische Kenntnisse. In seine Lehrtätigkeit bezog Nietzsche vorplatonische Philosophen und -»Plato (frühe und mittlere Dialoge, am häufigsten Phaidon) ein, -»Aristoteles nur mit seiner Rhetorik. (Zeugnis jener Beschäftigung mit den Vorsokratikern ist die nachgelassene unvollendete Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 1873.) Von erheblicher Bedeutung war für Nietzsche die Lektüre einiger französischer Moralisten, sowohl was die aphoristische Form und den Ton ihrer Äußerungen als auch was ihren psychologischen und skeptischen Zugriff auf moralische Phänomene anbetrifft. Nietzsche dürfte die philosophische Tradition überwiegend aus zweiter Hand studiert haben (was jedoch sein scharfsichtiges Erfassen von Grundpositionen nicht behindert hat). Diogenes Laertius wurde schon erwähnt. Wichtig war die Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange (1866), deren Entdeckung im August 1866 Nietzsche ähnlich enthusiastisch stimmte wie die von Schopenhauers Hauptwerk ein Jahr zuvor. Hier fand er neben einer eindrucksvollen erkenntniskritischen Position des Autors Orientierungen u.a. über Demokrit, -»Kant, die -»Naturwissenschaften des 19. Jh. einschließlich des -»Darwinismus. Er arbeitete noch in den 80er Jahren mit späteren, auf der erweiterten 2. Auflage (1873/75) basierenden Ausgaben dieses Werks. Durch Lange ließ er sich zu Studien naturwissenschaftlicher Schriften seiner Zeit anregen (die ihn zu Roger Boscovichs Philosophiae naturalis Theoria von 1769 zurückführten); sie wurden wichtig für seine Ontologie, und 1881 nahm er sie im Zusammenhang mit seinem Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen verstärkt wieder auf. - Seine Kant-Kenntnis, durch Schopenhauer und Lange auf die Bahn gebracht, erweiterte er 1867/68 mit Hilfe von Kuno Fischers Immanuel Kant. Entwicklungsgeschichte und System der kritischen Philosophie (1860) und durch das Textstudium der Kritik der Urteilskraft. Kuno Fischers Descartes' Schule, Geulincx, Malebranche, Baruch Spinoza ("1865) verdankte er dann 1881 die Vorstellung, daß er in -»Spinoza einen Vorläufer habe. Auf die Hauptwerke des Aristoteles, auf mittelalterliche Philosophen, auf Fichte und Schelling hat er sich nicht, auf -»Leibniz (mit dem ihn paradoxerweise viel verbindet) und -»Hegel nur wenig eingelassen. Einige zeitgenössische Philosophen beschäftigten ihn intensiv. African Spirs Werk Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie (1873) lieh Nietzsche von 1873 bis 1875 mehrfach aus und zitierte es schon 1873; die 2. Auflage von 1877 erwarb er, und noch 1885 exzerpierte er aus der Schrift. Ahnlich bedeutsam war ihm ab 1883 Gustav Teichmüllers Werk Die wirkliche und die scheinbare Welt. Neue Grundlegung der Metaphysik (1882). Spir und Teichmüller (deren Namen Nietzsche öfters zusammen notierte) hatten sich eine je eigene nachkantische Grundposition erarbeitet. Für Nietzsche gab es hier Anlaß zur Auseinandersetzung, Anregung und auch Bestätigung. Frühe Kritik an Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten (1869) fand in der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung ironischen Niederschlag (KGW III 1, 309ff); Fokus ist hier Hartmanns von Hegel und Schopenhauer inspiriertes und entferntes Konzept des Weltprozesses. Später ließ Nietzsche sich auf Hartmanns Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins (1879) ein. - Einen Gegner machte Nietzsche auch in Eugen Dühring aus, von dem er im wesentlichen seine Vorstellung von Sozialismus bezog. Ab 1875 studierte er eingehend Dührings Der Werth des Lebens (1865) und, wohl weniger intensiv, den Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung (1875). Zu dem Werk des Amerikaners Ralph Waldo -»Emerson hatte Nietzsche seit seiner Schulzeit eine bewundernde, aber - u.a. unter dem Hinblick auf Wissenschaftlichkeit - auch kritische Beziehung. Er besaß und studierte in deutscher Ubersetzung Die Führung des Lebens, Über Goethe und Shakespeare, Essays (Exzerpte daraus im Nachlaß von 1882: KGW V 2, 564 ff) und die von ihm weniger geschätzten Neuen Essays. 1884 ließ er sich privat einen Essay aus Historie notes of life and letters in Massachusetts übersetzen. Emerson dürfte ihm Vorbild für die 3. und 4. Unzeitgemäße Betrachtung als Essays über bedeutende Persönlichkeiten gewesen sein.

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Außer David Friedrich -»Strauß (Der alte und der neue Glaube und Das Leben Jesu) und Franz -»Overbecks Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie (1873) las Nietzsche zum Thema Christentum u.a. von Hermann Lüdemann Die Anthropologie des Apostels Paulus und ihre Stellung innerhalb seiner Heilslehre (1872). Auch zahlreiche Werke über andere Weltreligionen fanden sein Interesse, darunter das Buch seines Freundes Paul Deussen Das System des Vedanta (1883), ferner Julius -»Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels (*1883) und Hermann Oldenberg, Buddha (1881). Nietzsches umfangreiche und vielfältige Lektüre, aus der er stets Anregungen zu schöpfen wußte und die in Werk und Nachlaß ihren Niederschlag gefunden hat, wird durch das „Gesamtregister" der KSA (XV, 275ff) dokumentiert. Seine Sensibilität für große Literatur verwunden kaum. Besonders schätzte er Goethe und Heine, und die bedeutenden französischen Schriftsteller seines Jahrhunderts waren ihm wohlbekannt. 2.2. Charakter

des Werks

und der

Nachlaß

Nietzsche hat nur in den Frühschriften die Form der durchgängigen Abhandlung und des Essays gewählt. Das weitere veröffentlichte Werk präsentiert sich überwiegend in Aphorismen (und Aphorismen-Folgen). Nietzsche war in dieser Kurzform Meister. Er artikulierte sich in ihr feinsinnig, geistreich, kämpferisch, dazu treffend und brilliant formulierend. Von manchen wird er zu den großen Stilisten deutscher Sprache gezählt (z.B. von Benn und Thomas Mann). Wo er destruktiv oder kritisch am Werk ist, ist sein Vorgehen oft genealogisch und psychologisch. Als scharfsichtiger Diagnostiker hat er viele fasziniert. Die überzogene Tonlage seiner letzten Schriften sollte man fairerweise als Vorbotin seiner Krankheit einstufen. - Eine Sonderstellung nimmt der Zarathustra als philosophische Dichtung ein. Hier stiftet eine gedichtete Gestalt Einheit in der Mannigfaltigkeit der Themen. Bilder und Gleichnisse werden eingesetzt. Die Sprache erhebt sich gelegentlich zum (dithyrambischen) Hymnus (vgl. 2.7.). Daneben sind die Charakteristika der aphoristischen Schriften präsent. - Nietzsche hat eine große Anzahl Gedichte verfaßt (vgl. das Verzeichnis KSA XV, 263ff); einige davon hat er seinen Schriften eingefügt oder als kleine Sammlungen beigegeben; die Idyllen aus Messina veröffentlichte er in einer Monatsschrift; mit den Dionysos-Dithyramben hat er schließlich gleichsam sein letztes Wort gesprochen (vgl. 2.8.). Nietzsches Nachlaß wird in der KGW zum ersten Mal vollständig, in chronologischer Anordnung und textkritisch genau dargeboten. Er enthält Aufzeichnungen verschiedenster Form, von den Vorstufen veröffentlichter Arbeiten bis zu stichwortartigen Notizen und Lektüre-Exzerpten. Großes Gewicht kommt dem Nachlaß ab 1885 zu. Einerseits ist das aus einer Auswahl aus ihm kompilierte angebliche Hauptwerk Nietzsches „Der Wille zur Macht" (vgl. Quellen) aus der Wirkungsgeschichte Nietzsches nicht wegzudenken. Andererseits enthält er tatsächlich unverzichtbare Zeugnisse für Grundgedanken der Spätphilosophie (deren Interpretation durch die KGW auf eine neue Basis gestellt worden ist). Darüber wird leicht vergessen, daß Nietzsche den Entschluß faßte, diese Zeugnisse nicht zu veröffentlichen (vgl. 1.), wofür vermutlich Sachprobleme ausschlaggebend waren. 2.3. Kunst,

ästhetische

Metaphysik

Nietzsches erstes philosophisches Werk, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, steht in engstem Zusammenhang mit den Dominanten seines damaligen Lebens. Es verschmilzt Einsichten des klassischen Philologen in die griechische Antike mit von Schopenhauer erwecktem Philosophentum und Eindrücken von Werk und Künstlerpersönlichkeit Wagners. Nietzsche hat sich später (1886) mit einer Neuausgabe der Schrift zu ihr bekannt, ihr aber den teils herben „Versuch einer Selbstkritik" vorangestellt. - Nietzsche hat maßgeblich mitgewirkt an der Korrektur des von Winckelmann geprägten Griechenbildes. E r geht aus von den griechischen Kunstgottheiten Apollon und Dionysos. E r faßt sie, insbesondere Apollons Bedeutungsvielfalt reduzierend, als Antithese und zugleich als Brudergottheiten auf. Für ihn ist Apollon vor allem bestimmt durch „weisheitsvolle R u h e " und „maassvolle Begrenzung", als „ G o t t aller bildnerischen K r ä f t e " ( K G W III 1, 23 f), aber auch als Vergöttlichung desjenigen Prinzips, das bei Schopenhauer für die Welt der Erscheinungen konstitutiv ist, des prineipium individuationis ( R a u m und Zeit). Dionysos dagegen steht zunächst für R a u s c h , Entgrenzung, Einswerden der Individuen miteinander und mit der N a t u r - in aus Wonne und Schmerz gemischter Erregung. Nietzsche setzt im Menschen zwei diesen Gottheiten

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entsprechende Kunsttriebe an. - Den Gegensatz des Apollinischen und Dionysischen hatten andere vor Nietzsche schon anvisiert (u.a. F. Schlegel, Schelling, Wagner). Nietzsche macht ihn zum Urgrund aller Kunst und ihrer geschichtlichen Entwicklung. Apollinisch ist die bildende Kunst und das Epos, dionysisch die Musik; dionysisch-apollinisch sind Lyrik und Tragödie (bzw. Musikdrama). Die Schrift enthält eine eigenständige, ästhetische Erlösungsmetaphysik, die Nietzsches Ferne zum Christentum bereits bezeugt. Von Schopenhauer übernimmt er die Zweiheit von Ding an sich und Erscheinung. Das Ding an sich faßt er als Ur-Eines. Es ist ewiger innerer Urwiderspruch von Zeugen und Vernichten, ohne Zeit und Werden. Vom Urschmerz am Urwiderspruch erlöst es sich als „Urkünstler der Welt" (KGW III 1, 44) - durch Zeugen und Anschauen der Welt der Erscheinungen, seines vom prittcipium individuationis bestimmten Abbildes. Die dabei sich einstellende Urlust bezahlt das Ur-Eine indessen damit, d a ß es in den Erscheinungen von deren Leiden an der Individuation, insbesondere an der Vergänglichkeit, betroffen wird. Von diesem neuen Leiden erlöst es sich durch die Kunst — im Medium des Menschen, der darin seine metaphysische Aufgabe und seine Würde hat und dem durch die Künste „das Leben möglich und lebenswerth gemacht w i r d " (KGW III 1, 23 f). Das Ur-Eine darf als Dionysos angesprochen werden, der zur Produktion des Scheins (der Erscheinungswelt) Apollons Hilfe in Anspruch nimmt, in den Erscheinungen aber, da diese auch real sind, das Leiden seiner Zerstückelung erfährt (Dionysos Zagreus). Nietzsche ist in der Folgezeit zum Antimetaphysiker geworden im Gegendenken gerade auch gegen sein eigenes metaphysisches Konzept. Nietzsche hat später die Kunst aus dem Willen zur Macht (vgl. 2.7.) zu denken unternommen. Er greift den Gegensatz apollinisch-dionysisch auf (vgl. KGW VI 3,111 ff). Rausch (verschiedenster Art) als „Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle" ist Voraussetzung künstlerischer Produktivität; aus ihm „giebt man an die Dinge ab, man zwingt sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, - man heisst diesen Vorgang Idealisiren" (ebd. 110). Das Produkt ist Schönheit als Bändigung von Gegensätzen - im Anblick von Leichtigkeit und Gewaltlosigkeit (vgl. KGW VIII 1, 266). Als Wirkung des Kunstwerks setzt Nietzsche denselben Zustand an, aus dem es entsprungen ist, den Rausch; demgemäß ist Kunst „wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung des Daseins" (KGW VIII 3, 33) (-»Kunst und Religion IX.). Sie fungiert als „das grosse Stimulans zum Leben" (KGW VI 3, 121; vgl. VIII 3, 203.319); „wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn" (ebd. 296).

2.4. Zeit, Geschichtlichkeit,

Historie

Die Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben kritisiert scharf die das Zeitalter beherrschende .Bildung', für die Nietzsche die moderne historische Wissenschaft verantwortlich macht. Diese hat sich nicht nur der Geschichte im engeren Sinn, sondern aller Äußerungen des menschlichen Geistes bemächtigt. Dem Objektivitätsideal huldigend und vom Leben abgespalten, schadet sie nach Nietzsche zuhöchst. Ihrer Kritik läßt Nietzsche eine Nutzen und Nachteil abwägende Erörterung dreier ursprünglicher Arten der Historie (der monumentalischen, antiquarischen und kritischen) vorangehen. Das Ganze ist fundiert in einer Analyse menschlicher Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Ihr vor allem verdankt die Schrift ihren bleibenden Rang. Manches in ihr weist voraus auf das künftige Werk: Schon ist die Wertfrage beherrschend, fungiert das Leben als Maßstab schlechthin, wird Wahrheit ihm untergeordnet und entsteht das Problem schöpferischen Deutens. Horizont und Perspektive haben Gewicht. Und: Das „Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen" (Kernpunkt der Kritik an Hegel und Eduard von Hartmann), „sondern nur in ihren höchsten Exemplaren" (KGW III 1, 313). Geschichte verliert als Thema künftig an Interesse. Um so mehr betätigt Nietzsche sich als .kritischer Historiker', destruierend um neuer Zielsetzung willen.

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2.5. Die Destruktionen Schon mit Menschliches, Allzumenschliches und noch ehe die .konstruktiven' Hauptgedanken sich einstellen, beginnt die Destruktionsarbeit an den Fundamenten europäischer Tradition. Sie reißt bis ins Spätwerk hinein nicht ab, radikalisiert sich eher noch. Destruktion von,Logik', Metaphysik, absoluter Moral und (zumal christlicher) Religion ist die für Nietzsche unverzichtbare Kehrseite seiner im Zeichen radikaler Umwertung stehenden Seinsauslegung und Sinnentwürfe. 2.5.2. ,Logik'. Der Mensch vermag ohne,Logik' nicht zu leben. Er macht die Realität seinem Denken verfügbar durch Schemata, die er selbst schafft. Ja, ,logisierend' verfälscht er sogar die Wirklichkeit, beständigt er, was schlechthin nur Werden ist. -»Wahrheit ist seinem .Erkennen' versagt. Es gibt hier nur nach dem Grad der Lebensdienlichkeit gestuften Schein, an dem die Menschheit durch Erdichten und Ausdichten ständig weiterschafft und der zu bejahen ist. 2.5.2. Metaphysik. Die —»Metaphysik hat nach Nietzsche eine ihrer Wurzeln im ,Logisieren'. Sie bezieht aus ihm nicht nur den Grundbestand ihrer Begriffe (z. B. Substanz, Subjekt, Zweck, Gesetz, Einheit), sondern teilt mit ihm auch den Irrtum, daß ihnen Seiendes entspricht. Der Unangemessenheit solcher Begriffe an das Werdende allerdings innewerdend, wird Metaphysik paradoxerweise durch die Moralkategorie der Wahrhaftigkeit dazu geführt, eine transzendente Welt des Bleibenden zu erdichten. Sie gründet diese (und alles Werdende) in einem ewigen göttlichen Urheber und verleiht ihr das Wertprädikat,wahre Welt', wodurch sie die einzige Welt, die es gibt, zur «scheinbaren Welt' herabsetzt. Sie trägt nach Nietzsche Mitverantwortung für ein schon zwei Jahrtausende währendes Nein zur ,Erde*. Dieses zieht seine Kraft auch aus der zweiten Wurzel der Metaphysik, als die Nietzsche das -»Leiden an der Wirklichkeit (an Schein, Bedingtheit, Kampf, Vergänglichkeit) und ein zugehöriges Ressentiment ausmacht. Die Schwachen und Müden, die sich in der Wirklichkeit kein Ziel zu setzen vermögen und daher mit deren Sinnlosigkeit konfrontiert sind, sind im Schaffen einer Hinterwelt auf verquere Weise produktiv. Schließlich wurzelt die Metaphysik noch in dem Bedürfnis der absoluten Moral, den für sie unverzichtbaren Vorstellungen der menschlichen Freiheit und eines an sich Guten in einer Welt des Unbedingten Halt zu geben. - Nietzsches Destruktion der Metaphysik hat (wie die der ,Logik' und Erkenntniswahrheit) zum Fundament die Überzeugung, daß es nur Werden gibt. Sie durchleuchtet überdies psychologisch die Urheber metaphysischen Weltabschätzens. Flankiert wird sie von unmittelbar auf die absolute Moral gerichteten Destruktionsversuchen. 2.5.3. Absolute Moral. Absolute Moral (-»Sitte, -»Ethik) nimmt an sich Gutes an, das nicht abhängt von menschlicher Setzung, das zeitlos alle Menschen bindet und ihnen als Gliedern einer Welt des Unbedingten Würde verleiht. Von Nietzsche wird sie aufgefaßt als eine späte, durch äußerste Sublimierung (Vergeistigung und Verallgemeinerung) gekennzeichnete Epoche der Geschichte der Moralen. Seine Destruktion soll Moral als prinzipiell relativ und bedingt erweisen. Moralen sind gänzlich im Werden anzusiedeln. Ihre Vergleichung ergibt, daß bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten Gegensätzliches als gut gesetzt worden ist. Solche Relativität unterminiert nach Nietzsche aber nicht die Verbindlichkeit und den Wert einer Moral, nur eben sind diese ebenfalls beschränkt und bedingt. Nietzsche mißt eine Zeitlang der Vielfalt der Moralen eine hohe Bedeutung bei für die Fortentwicklung der Menschheit (im Sinne einer allseitigen Veredelung der Triebe). Allerdings stellt er solch positivem Wert der Moralen Negatives zur Seite, nämlich Leben hemmende, zur Décadence beitragende Wirkungen. Hier hat er vor allem die absolute Moral und speziell deren christliche Ausprägung vor Augen. - Aus ihrer Geschichte her ist absolute Moral bedingt durch egoistische Motive (Nutzen, Furcht, Lust). Und insofern sie den Egoismus als Prinzip verwirft, wurzelt sie in solchem, das ihr selbst als böse gilt. Geworden zu sein, ja aus ,Bösem' geworden zu sein, entkleidet das Gute seines vermeintlichen Ansich. Nietzsche stößt hier noch nach, indem er im strengen Sinn unegoistisches Handeln für unmöglich erklärt und lediglich

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Grade von Egoismus zuläßt, einen strikten Wertgegensatz also ausschließt und damit der Moral eines Ansich Realitätsferne attestiert. - Destruktiv geht Nietzsche auch mit dem -»Gewissen um, das untrüglich über an sich Gutes und Böses Kunde zu geben scheint. Es unterliegt geschichtlichem Wandel, ja ist überhaupt als Instanz etwas Gewordenes. Seit langem wirkmächtig, beruht es doch auf der Fiktion eines freien Willens. Durch dessen Leugnung, die Nietzsche anthropologisch und ontologisch fundiert, wird moralische Verantwortlichkeit zum Irrtum. 2.5.4. Religion, Christentum. In engstem Begründungszusammenhang mit den vorigen Destruktionen ist Nietzsches These vom Tod -*Gottes zu sehen. Sie versammelt wie in einem Brennpunkt das von ihm diagnostizierte Heraufkommen des Nihilismus (s.u.). Sie artikuliert den Schwund der Wirkmächtigkeit der (nach Nietzsche fiktiven) abendländisch-philosophischen und christlichen Gottesvorstellung. Den Tod Gottes versteht er als epochalen geschichtlichen Vorgang, der nicht geplant und nicht von einzelnen herbeigeführt wurde und kaum erst begriffen wird. Am wenigsten ist dem Ereignis atheistische Indifferenz gemäß. Es gilt nach Nietzsche, daß sich die Zeitgenossen aktiv zum Gottesmord bekennen, indem sie ihn wie eine schicksalhafte tragische Schuld in Trauer um den Verlust und mit der Verpflichtung zur Sühne auf sich nehmen. Die Sühne kann einzig im Schaffen des Ubermenschen als Vollendung der irdischen Welt bestehen (s.u.). - Insofern der ,Tod' Gottes, wie der europäische Nihilismus, Nietzsche als ein noch unabgeschlossenes Geschehen erscheint, das als Durchgang zu neuer Sinngebung unvermeidlich ist, kommt es ihm darauf an, sich in den Prozeß einzuschalten durch Destruktion gerade auch des Christentums. Sie durchdringt sich teilweise mit seiner — der Metaphysik- und Moralkritik methodisch und argumentativ verwandten — allgemeineren Religionskritik. Zusammenhängende Textpartien, die die Thematik aber nicht erschöpfen, sind neben dem Antichrist: Menschliches, Allzumenschliches 1,3. Hauptstück; Morgenröthe 5 7 - 9 6 ; Jenseits von Gut und Böse, 3. Hauptstück; Zur Genealogie der Moral, 3. Abhandlung. Nietzsches genetische und psychologische Religionskritik macht zweierlei Furcht als Ursprung primitiver Religionen aus: 1. Unkenntnis der Naturvorgänge läßt dem primitiven Menschen Schädliches begegnen als plötzlich und unberechenbar Hereinbrechendes, das zu fürchten ist. Darauf antwortet er mit religiösen Strategien: Er personifiziert die Quelle des Übels als höhere Macht. Er versucht, durch magische Handlungen Einfluß auf sie zu gewinnen. Oder er legt ihr vernünftige Absichten bei, unterwirft sich also dem Übel durch dessen Umdeutung in ein Gut. Kausales Denken und Naturbeherrschung beseitigen diese Furcht und führen zur Überwindung primitiver Religionen. (Jedoch haben Hochreligionen nach Nietzsche Züge derselben bewahrt.) 2. In Urzeiten fühlen die Menschen sich in der Schuld der Ahnen, denen sie fortdauerndes Wirkvermögen zuschreiben. Sie übernehmen die Dankesschuld als Verpflichtung zu Opfern, Festen, Gehorsam. Aus Skrupeln, ob sie hierin genug tun, erwächst Furcht vor den Ahnen. Einem aufsteigenden Geschlecht erscheinen die Ahnen immer mächtiger, sie werden zu Göttern. Das mit Furcht verbundene Bewußtsein, dem .Anfang' etwas schuldig zu sein, wächst proportional mit der Mächtigkeit der Gottesvorstellung. (Es erreicht dann im Christentum ein Maximum.) Hier wie so oft sieht Nietzsche die alten Griechen positiver: In freudig gestimmter Dankbarkeit überhöhen vornehme Menschen ihre eigene Vollkommenheit und Kraft zu einer (nicht nach Gut und Böse abzuschätzenden) Götterwelt und steigern ihre Lebensfreude durch kultische Feste. Die Frage nach dem Ursprung von Religionen führt auch auf die Religionsstifter. Offenbarungsreligion setzt in ihrem Stifter die Umdeutung seines eigenen neuen Gedankens zum göttlich geoffenbarten voraus. Er vollzieht die Umdeutung, zu der ihn sein schon vorhandener Glaube an Offenbarungen prädisponiert, im Bewußtsein der Gewalt und Seligkeit seines Gedankens - dieser muß einen höheren, ihn zugleich heiligenden und gewiß machenden Urheber haben. - Z u m Religionsstifter gehört jedenfalls, Durchschnittsmenschen (z.B. kleine Leute in der römischen Provinz) dadurch zu vereinigen,

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daß er ihre Lebensart sinngebend ausdeutet, derart, daß sie darin ihren gemeinsamen, sie vor anderen auszeichnenden Wert bewußt ergreifen und etwa auch dafür kämpfen. - ,Motivforschung' an religiösen Menschen läßt Nietzsche herausheben: Religiosität als Gegenmittel gegen Eintönigkeit des Lebens, aus Furcht vor unerträglicher Wahrheit, aus Rache am Leben, aus einem Instinkt der Schwäche und der Unterwerfung, aus Unlust der Leidenden. Hier liegt das Betätigungsfeld der Priester. Sie entwickeln Praktiken zur Bekämpfung des Unlustgefühls, aber sie heilen nicht. Sie machen aus den .Kranken' Sünder, für deren Erlösung sie sich zuständig erklären. Erlöstwerden beseligt. So zeigt sich Lust als weiteres Motiv für Religiosität, wie übrigens auch als .Beweis' des Geglaubten (anstelle eines vermeintlichen .Beweises der Kraft'). Überhaupt beweist nach Nietzsche die Einstellung, ein Leben ohne Gott sei nicht auszuhalten, nichts bezüglich Gott. — Nietzsche hat in Menschliches, Allzumenschliches religiöses Gefühl und Religion vergangener Zeiten positiv gewertet; später setzt er für alle Religionen einen negativen Akzent, insofern in ihren Anfängen Grausamkeit konstitutiv sei (Blutvergießen, Erstlingsopfer, Kastrationen, Martern). In Nietzsches spezieller Religionskritik ist der -*Islam nur beiläufig thematisch als eine männlich-starke Religion, die die hohe maurische Kultur erzeugte, fatalerweise aber vom Christentum das jenseitige Gericht übernahm. Stärker ist Nietzsches Interesse am -*Buddhismus als einer seiner Meinung nach dem Christentum verwandten und doch auch davon verschiedenen Weltreligion: Beide setzen eine Willenserkrankung voraus, sind Dekadenzreligionen und nihilistisch (nein-sagend). Der Buddhismus erscheint aber vergleichsweise positiv, weil er den Begriff Gott nicht mehr braucht, weil er Selbsterlösung lehrt, Erlösung vom Leiden nicht nur verspricht, sondern auch gewährt, mit ihr in ein Jenseits von Gut und Böse vordringt, weder Ressentiment noch Sünde kennt und von seinem Ursprung in den herrschenden Ständen geprägt bleibt. (In Nietzsches spätem Jesusbild rücken Jesus und der so verstandene Buddhismus zusammen.) Nietzsches Kritik am -» Judentum gehört eng zu der am Christentum, da er dieses als aus jenem .folgerichtig' entstanden auffaßt. Positiv sieht er die frühe Geschichte Israels: In -»Jahwe drückten sich das Machtbewußtsein, freudige Selbstbejahung und Hoffnung dieses Volkes aus. Als die Lage Israels desolat geworden war, erschien Jahwe als machtlos. Statt ihn preiszugeben, vollzog Israel weltgeschichtlich folgenschwere Umdeutungen. Sein Gott wurde zum moralischen Gott, der nach einem ,Heilsmechanismus' Glück als Lohn für Frömmigkeit, Unglück als Strafe für Sünde zuteilt. Demütige Unterwerfung ist Gott gegenüber angezeigt. Nietzsche sieht hier einen Willen zur Selbstverachtung bzw. Menschenverachtung am Werk. - Er diagnostiziert, das antike Judentum habe als Preis für seine Selbsterhaltung (Volksidentität) die Fälschung der Natürlichkeit gezahlt und sich gegen seine Gegner behauptet mit einer Ressentiment-Moral, mit der Umwertung arm/niedrig/ohnmächtig (leidend) = gut; reich/vornehm/mächtig = schlecht. Das frühe Christentum vollendet Judäas Sieg über Rom. Die hoffnungsvolle Gegenbewegung der -»Renaissance sieht Nietzsche durch -»Luthers Wirken und seine Folgen zunichte gemacht, weshalb seine Einstellung zu ihm, vom hohen Lob seiner Bibelübersetzung abgesehen, überwiegend negativ ist. Am Anfang des -»Christentums stehen -»Jesus und -»Paulus. Nietzsche hat in der Spätzeit sein Jesusbild in einer Weise geändert, daß Paulus ihm zum .Hauptschuldigen' wurde für die Richtung, in der das Christentum sich realisiert hat. Zuvor befindet er sich Jesus gegenüber in der schwierigen Situation, ihn als Persönlichkeit zu achten und ihn doch für das ungeliebte Christentum verantwortlich machen zu müssen. Er schreibt ihm ein Maximum an menschlicher Größe, edler Gesinnung, Herzenswärme zu und sieht in ihm einen derjenigen Heiligen, deren Wesen dank einer Wahnvorstellung (hier der Gottessohnschaft) lichtvoll und anziehend ist. In seiner Besonderheit als Erlöser war Jesus einzig im Bereich der jüdischen Religion eines zornigen, nur selten gnädigen Gottes möglich. Er überbrückte versöhnend die Kluft zwischen Mensch und Gott, wozu

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er sich eben selbst als göttlich begreifen mußte. (Am Kreuz durchschaute er dann seinen Wahn.) Den geistig Armen zugewandt, behinderte er langfristig die Ausbildung des Intellekts. Wiewohl aus der Knechtschaft gegenüber dem Gesetz befreiend, führte er in die Gefangenschaft falscher Werte. Selbst ganz Liebe zu den Armen, Kranken, Sündern, verführte er um so mehr zur jüdischen Ressentiment-Moral. Denen, die ihn nicht liebten, stellte er Höllenstrafen in Aussicht. Nietzsche vollzieht mit seinem späten Jesusbild die Trennung zwischen Jesus und dem auf ihn folgenden, seine Intentionen falsch interpretierenden Christentum (was jedenfalls eine Waffe mehr im Kampf gegen dieses bedeutet). Jetzt mißverstanden schon die ersten Christen den Typus Jesus und trugen fremde Züge in ihn hinein (Morallehrer, Zürnender, Aufrührer gegen die bestehende Ordnung, Messias, zukünftiger Richter), wie sie denn seinen Tod als Opfertod (Gott opfert seinen Sohn zur Vergebung der Sünden) auslegten und durch den Gedanken der -» Auferstehung, die Paulus sogar als Lohn gelehrt habe, alles Gewicht auf eine Seligkeit nach dem Tod legten. Jesus hingegen vertrat eine Seligkeit hier und jetzt, indem er eine distanzlose Einheit von Gott und Mensch vorlebte und Sünde und Strafe keinen Raum gab. Die Art seines Sterbens ist der äußerste Beweis für das ihn auszeichnende Fehlen jeglichen Ressentiments. Nietzsches psychologisierende .Freilegung' des Typus Jesus (deren methodische Absicherung er nicht mitliefert) läßt nun einen décadent sichtbar werden von extremer Reizbarkeit und Leidensfähigkeit, in dem das Unvermögen zum Kämpfen, zu Abneigung und Distanz, zum Verneinen und Widersprechen Instinkt geworden ist und dessen Seligkeit in Frieden, Sanftmut und ausnahmsloser Liebe liegt. Das Vermeidenwollen von Unlust bestimmt ihn zum Rückzug in realitätsferne Innerlichkeit, zu deren bloßem Gleichnis sich das Äußere verflüchtigt. Und doch liegt hier gerade eine .Praktik' im Umgang mit den Mitmenschen vor. Sie zu leben, das ist erlöst und selig sein. Vergeblich besiegelte Jesus seine Praktik mit seinem Sterben, denn seine Kreuzigung ließ bei seinen Anhängern das Ressentiment Wiederaufleben. Nietzsches Sicht auf Paulus ist von Verachtung bestimmt. Auch an ihn (und sein Damaskus-Erlebnis) tritt er psychologisierend heran. Früh schon wird Paulus als Verfolger Gottes apostrophiert, weil er (wie dann -»Calvin) gelehrt habe, d a ß zu Gottes Herrlichkeit auch die vielen Menschen vorherbestimmte Verdammnis gehöre. Nietzsche kritisiert an ihm u . a . die Abwertung der Sinnlichkeit, die Kanonisierung von KleineLeute-Tugenden, die Geringschätzung von (weltlicher) Weisheit, die Vermittlung des Bewußtseins des Auserwähltseins an die Christen, den Piatonismus (zwei Welten). 1886 bringt Nietzsche seine Kritik am Christentum so auf den Punkt: Er sieht in ihm „das Lebensfeindliche, den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst", und er fährt fort: „Der Hass auf die ,Welt', der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen in's Nichts, an's Ende, in's Ausruhen [...] — dies Alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte Wille des Christenthums, nur moralische Werthe gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste aller möglichen Formen eines .Willens zum Untergang', zum Mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmuthigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben [ . . . ] " (KGW III 1,12f). Nietzsche hatte früher allerdings auch positive Werte im Christentum entdeckt. Es war ihm geistreich und hatte im katholischen Klerus bewundernswert durchgeistigte, von den Gefühlen der Macht und Ergebung beglückte, vornehme Persönlichkeiten hervorgebracht. Christlichem Wandel wurde Wahrhaftigkeit (ohne Wahrheit) bescheinigt. Die Wichtigkeit von Tod und Weltuntergang erschien doppelgesichtig, Vertiefung und Veredelung der Menschen bewirkend, aber eben doch schöpferische Weltgestaltung verhindernd. Freilich, immer schon war ihm die Demut als Servilität verdächtig, und Feindesliebe, da beseligend, galt als aus Selbstliebe entsprungen. Je mehr er dann im Christentum den .Todfeind' des Übermenschen (s. u.) erblickt, um so heftiger attackiert er die christlichen Tugenden. Nächstenliebe etwa erscheint als motiviert durch die Freude, die physiologisch schwache Menschen in der Überlegenheit ihres Helfenkönnens emp-

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finden. Er verurteilt an den Christen Grausamkeit gegen sich (das Opfern von Freiheit, Selbstverstümmelung, Seelenmartern) und gegen Andersdenkende (Verfolgungen), auch Dünkel. Zentral ist der Gedankenkomplex Sünde/-»Erlösung. Sünde, von den Juden .erfunden' und der christlichen Moral zugrundeliegend, gilt als Vergehen gegen Gottes Ehre, die der Mensch durch Reue wiederherzustellen hat, wodurch er eine Bedingung für Gottes Gnade erfüllt. Für Nietzsche liegt hier ein Vergehen am Menschen vor, da das Sündengefühl ,krank' macht und da Reue entwürdigt. Allerdings kann das Sündenbewußtsein von einem beglückenden Erlösungsgefühl abgelöst werden, so daß das Christentum sich doppelgesichtig zeigt als verdüsternd, ja zermalmend, und doch wiederum tröstlich und wohltuend. Es macht (durch die Perspektive auf das ewige Heil oder Unheil) das Leben höchst gefährlich und gibt doch denen, die sich erlöst fühlen, Sicherheit und Erholung. Nach Nietzsche beruht die Vorstellung der Sünde auf irrtümlichen Annahmen, u. a. Gott, Seele (als vernunftgeleitete Einheit), Willensfreiheit, Möglichkeit unegoistischen Handelns. Ein Erlösungsbedürfnis gründet auch in der Unzufriedenheit über eigene Handlungen, die in der Gesellschaft mit negativem Wert belegt sind, und darin, daß man sich mit einem höheren Wesen vergleicht oder unter übertriebene Forderungen (Bergpredigt) stellt. Besonders scharf hat Nietzsche die Erlösungsproblematik in der Parabel Die Gefangenen (KGW IV 3, 228 f) aufgeworfen, die zumal auf den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu als Bedingung der durch Jesus vermittelten Rettung zielt. Diese Bedingung erscheint ihm anderwärts als Forderung eines intellektuellen Opfers (dessen Durchschauung vom Christentum dadurch vorgebeugt wird, daß es schon den Zweifel zur Sünde erklärt). Der Auffassung ferner, daß ein Gott sich opferte zur Erlösung der sündigen Menschheit, sieht er ein Maximum an Menschenverachtung zugrunde liegen. Zum -*Theodizeeproblem vertritt er die These: Angesichts eines Gottes, der als Geist Bewußtsein von der Welt hat und ihr bzw. in ihr Zwecke setzt, rückt die unsägliche Menge des Leidens in eine moralische Perspektive, in der Welt und Dasein verurteilt werden müßten. Einen für die Welt verantwortlichen Gott negieren, bedeutet, Welt und Leiden erlösend freigeben für die Bejahung durch den Menschen. - Nietzsche attackiert die Einheit von Allmacht, Allwissenheit und Güte in Gott, dies auch mit Bezug darauf, wie Gott sich den Menschen offenbart, so nämlich, daß Zweifel möglich bleiben, die doch verhängnisvolle Folgen haben sollen. - Nietzsche sieht die vom Christentum selbst großgezogene, nunmehr als wissenschaftliches Gewissen wirksame Wahrhaftigkeit den christlichen Gottesbegriff (wie auch Metaphysik und absolute Moral) destruieren, womit die Verbindung zum Tod Gottes hergestellt ist. Weder die Natur, noch die Geschichte, noch auch die Begebenheiten des Einzellebens können nach Nietzsche weiterhin auf einen gütigen, vernünftigen Weltlenker hin ausgelegt werden. Wer noch länger dem ,humanitären Gott' anhängt, verfällt (aus Furcht vor der Wahrheit) auf den skeptischen Ausweg: Menschliche Erkenntnis reicht nicht hin, aus dem (zugestandenen) nicht-humanitären Anblick der uns bekannten Welt den humanitären Gott zu erweisen. 2.6. Nihilismus Nietzsches Destruktionen haben nach seinem eigenen Verständnis ihren geschichtlichen Ort und damit die Chance ihrer Wirkung im europäischen -»Nihilismus. Dessen Epoche, für die er zwei Jahrhunderte veranschlagt, sieht er nun mit Notwendigkeit heraufkommen, weil „unsere bisherigen Werthe selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn" (KGW VIII 2,432). Darin liegt zum einen, daß die Wertsetzungen der europäischen Tradition immer schon verdeckt nihilistisch, eben die einzige Wirklichkeit abwertend, waren, und zum andern, daß sie selbst - und besonders die Wahrhaftigkeit den offenen Nihilismus erzeugen. Daß der Nihilismus angebrochen ist, bekundet sich nach Nietzsche in Naturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Volkswirtschaft, Politik und Kunst. Er definiert ihn als „die radikale Ablehnung von Werth, Sinn, Wünschbar-

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keit" (KGW VIII 1, 123); „es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das .Warum?'" (KGW VIII 2, 14; dazu VIII 2, 288 ff und die Zuspitzung auf das Christentum VIII 1, 215). Nietzsche begreift den europäischen Nihilismus als Krise, die die Möglichkeiten völliger Decadence und schöpferischer Wertsetzung in sich birgt. 2.7. Die ,konstruktiven'

Grundgedanken

„Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge - das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein [...]. - Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser" (KGW VI 3, 256 f). Diese Äußerung aus Ecce homo kann auf die Destruktionen wie auf die .konstruktiven' Grundgedanken gleichermaßen bezogen werden. Der Mensch zeigte sich bereits im Zeichen des Verlustes von Gott, übersinnlicher Welt, an sich Gutem, Willensfreiheit - dazu als wesentlich egoistisch und im Erkenntnisstreben die Wirklichkeit verfälschend. Die anthropologische Aufgabe erblickt Nietzsche darin, den Menschen ,in die N a t u r zurückzuübersetzen' (vgl. KGW VI 2, 175). Menschliches Wollen erscheint als Kampf rivalisierender Triebe, dessen Ausgang einzig vom Kräfteverhältnis der Triebe bestimmt wird. N u r weil diese Vorgänge uns weitgehend unklar sind und die uns bewußt werdenden Zustände uns als die einzig vorhandenen gelten, konnte die traditionelle Ich-Vorstellung entstehen. Die Komplexität des Wollens widerstreitet der Auffassung, es gebe ein als selbstbewußte Einheit fungierendes Ich, das Handlungen verursacht. Wenn überhaupt ,Ich' gesagt werden soll, dann muß damit das umfassende Triebleben gemeint sein, aus dem die gewußten Bewußtseinszustände herausragen. Es ist bei Nietzsche Leib, aufgefaßt als schaffend und als selbstbezügliches M a ß der Dinge. Vernunft im traditionellen Sinn gilt lediglich als sein nützliches Werkzeug. Diese Umwertung von Leib und Vernunft bringt menschlichen ,Instinkt' und Leidenschaft zu hohem Rang. Solche Gedanken sind bei Nietzsche fundiert auch in seiner Seinsthese. Sie lautet: „Diese Welt ist der Wille zur Macht — und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht - und nichts außerdem!" (KGW VII 3, 339) ,Diese Welt' - das meint schlechthin alles, was je ist, war und sein wird (darunter Natur mit allen ihren Bereichen, Gesellschaft, Mensch, Kunst, wie auch das ,Logisieren* und das Schaffen metaphysischer, moralischer, religiöser Fiktionen). Alles ist gleich in dem, was es im Innersten ist. Den Willen zur Macht denken, heißt aber andererseits gerade, Vielheit als Prinzip ansetzen (s.u.). Wille zur Macht ist der Wille zum Herrsein, zum Befehlen und Sichselbstbefehlen, zur Summierung von Kraft, zur Machtsteigerung durch Ubermächtigung. Er vollzieht sich als Kampf von Wille und Gegenwille. (Er zeigt sich besonders sinnenfällig am Lebendigen; Leben im weiten Sinn ist im Zarathustra Synonym für ihn.) Das Gewollte ist wesentlich das Machtgefühl, das dem Prozeß der Machtsteigerung inhäriert. Folglich ist Fortsetzung des Prozesses, unaufhörliches Werden gewollt. Durch den Prozeß soll nichts außerhalb seiner erreicht werden. Deshalb spricht Nietzsche auch von Kampfspiel. Dieses ist für den befehlenden Willen um so kraftsteigernder und lustvoller, je stärker der Gegenwille ist. Nietzsche sieht das Kampfspiel sehr radikal. Im Blick auf die Natur zwar, aber zufolge seines Grundkonzepts mit Geltung für alles andere, akzentuiert er die „tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen", die „Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem .Willen zur M a c h t ' " (KGW VI 2, 31). (Immoralismus ist hier vorprogrammiert.) - Den Prozeß versteht Nietzsche als Interpretieren bzw. Uminterpretieren von ,Sinn' und .Zweck'. Es ist perspektivisch: Jedes Kraftzentrum deutet nach Maßgabe seiner Kraft alles übrige. Nietzsche löst Einheit auf im Großen (All) wie im Kleinen (Atome als dauerhafte Einheiten); er kommt zu „Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren" (KGW VIII 2, 278 f).

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Nietzsche denkt die ewige Wiederkunft des Gleichen. Alles, was ist, ist schon unzählige Male als genau Gleiches dagewesen und wird unzählige Male als genau Gleiches wieder eintreten. (Das impliziert für den Menschen „Unsterblichkeit" in diesem Sinn.) Das Vergangene ist das immer wieder Zukünftige, das Zukünftige ist das unendlich oft schon Vergangene. Nichts Gegenwärtiges ist neu und einmalig. Und: Alles, was einmal gleichzeitig war, kehrt zusammen wieder. Jede Folge ist immer wieder dieselbe. Alles ist durchgängig verknüpft und determiniert. Nietzsche hat sich ab 1881 um Begründung des Gedankens bemüht. Im Zarathustra hat er ihn erstmals mit dem Willen zur Macht verbunden und ihn sodann eng damit verkoppelt. Es ergab sich ihm: Weil der Wille zur Macht als Prinzip alles Werdenden nicht geworden sein kann, kann die Zeit nicht angefangen haben. Unter der Voraussetzung einer endlichen Menge von Kraftzentren und Kraftfeststellungen (Konstellationen der ,Dinge') müßte in der unendlichen Vergangenheit ein Ubergang des Werdens ins ,Sein' (Gleichgewichtszustand der Kräfte) oder ins Nichts bereits eingetreten sein. Das ist nicht geschehen. So hört denn der Wille zur Macht bzw. die Welt des Werdenden nie auf. Aufgrund jener Voraussetzung besagt das, daß alles ewig als Gleiches wiederkehrt. Diese „wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen" (KGW VIII 1, 217) vollzieht eine Seinsprägung des Werdens: „Daß Alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins" (KGW VIII 1, 320). Nietzsche sichert damit seine Seinsthese als absolute und mit ihr das ontologische Fundament seiner Destruktionen ab. Relativität, Perspektivität, Werden sind total gesetzt. Als Sühne für den Gottesmord ist der Übermensch zu schaffen (vgl. 2.5.4.). Der Übermensch, im Zarathustra als der Sinn der Erde konzipiert, spricht in Treue zur Erde ein unbedingtes Ja zu ihr, indem er allem zuvor die ewige Wiederkunft des Gleichen, des Glücks und des Leidens, des Hohen und des Erbärmlichsten bejaht. Solche Bejahung ist lustvoll-leidvoll gestimmt, ist ,dionysisch'. Ihr angemessener Ausdruck im Zarathustra ist der ,Dithyrambus'. Nietzsche hat dieses Werk, das seine Grundgedanken (auch die destruktiven) versammelt, als ein neues Evangelium aufgefaßt. Zarathustra selbst ist als Gegenfigur zu Jesus gemeint, wie denn die Bibel in zahlreichen Anspielungen sowie Imitationen der Luther-Übersetzung präsent gehalten wird. Zarathustra ist Fürsprecher des schöpferischen Lebens (Wille zur Macht) und auch des Leidens, weil Schaffen Zerstören einschließt. Er ist Lehrer der ewigen Wiederkunft des Gleichen und des Übermenschen, ist Beispiel und Vorspiel der durch Selbstüberwindung des Menschen zu schaffenden Über-Art. In ihr, wird sie wirklich (was sich sicherem Vorauswissen allerdings entzieht und im Sinne eines sehnsuchtsvollen Entwurfs antizipiert wird), vollendet sich die Erde, vergöttlicht sich das Werden; ihr kraftvoll schöpferisches Wertsetzen und Umwerten der Werte überwindet den Nihilismus und verwandelt die Welt. Freilich muß auch sie vergehen, wird aber wiederkehren, wie sie denn in jedem vergangenen großen Weltenjahr schon dagewesen ist. — Selbstbejahung und Seinsbejahung, auf die als Prinzip neuer Wertsetzung alles ankommt, werden im Zeichen der ewigen Wiederkunft des Gleichen zum amor fati (Liebe zum Fatum); er ist die „Formel" für die dionysische Stellung zum Dasein (KGW VIII 3, 288). Nietzsche verwandelt die Wesens- und Wertgegensätze wahr und falsch, gut und böse zu graduellen Unterschieden, bezogen auf Lebens- bzw. Machtsteigerung. Seine Antimetaphysik läßt ferner Gegensätze, die für die metaphysische Zwei-Welten-Lehre konstitutiv waren, in eins zusammenfallen, z.B. Einheit/Vielheit (Wille zur Macht), Ewigkeit/Zeit (Ewige Wiederkunft), Freiheit/Notwendigkeit (Schaffen trotz Determination; amor fati), Ding an sich/Erscheinung (die Realität besteht aus Wesen, deren Seinsvollzug es ist, Phänomenalität, Schein, zu produzieren). Dementsprechend nimmt Nietzsche ,Gott' in die Welt hinein, als „Maximal-Zustand" (KGW VIII 2, 450), als „Culminations-Moment: das Dasein eine ewige Vergottung und Entgottung" (ebd. 7).

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Angesichts der Destruktion des traditionellen Wahrheitsbegriffs stellt sich die Frage nach Nietzsches Selbstverständnis als Denker. Er hat sich nicht gescheut, Philosophie dichterisch zu artikulieren (vgl. 2.2.). Sein Zarathustra ,dichtet' den Übermenschen, indem er ihn entwirft. In den genetischen und psychologischen Analysen legt Nietzsche Gewordenes auf seine Ursprünge hin aus. Uber solche Weisen auslegenden Verstehens hinaus muß, wenn denn alles Wille zur Macht und also interpretierend ist, Philosophie (wie Denken überhaupt) Interpretation sein. Nietzsche spricht in Hinsicht auf Gedanken, denen verwandelnde Kraft einwohnt, auch von „Ausdeutung der That" (KGW VIII 2, 23). Sie hat Wagnischarakter. Die genuine Aufgabe des Philosophen ist es, Werte schaffend der Z u k u n f t zu befehlen (vgl. KGW VI 2, 148 f) und dabei durchaus zu experimentieren (vgl. ebd., 146). Die gelegentlich vertretene These, Nietzsche erhebe für seine Philosophie keinen Wahrheitsanspruch, dürfte haltlos sein. Sie wird widerlegt auch von seinen Versuchen, die ewige Wiederkunft des Gleichen zu beweisen. Nietzsches Grundgedanken stecken voller Probleme, auch Aporien. Seine Beweise der ewigen Wiederkunft des Gleichen werden nur von sehr wenigen Forschern als zwingend angesehen. - Der Wille zur Macht, konsequent und uneingeschränkt gedacht, erlaubt tatsächlich keine Position,diesseits' von Gut und Böse. „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung" (KGW VI 2, 217). Und doch hat der Immoralist Nietzsche Verantwortlichkeit und manche ,alte' Tugend (vor allem auch die Redlichkeit) hochgehalten. - Schwierigkeit bereitet auch die Frage, woran (blickt man über die Grundvoraussetzung der unbedingten Selbst- und Seinsbejahung hinaus) das ,höher' im höheren Typus (Übermensch) bzw. die Steigerung schöpferischen Lebens und die kraftvolleren Werte sich bemessen. Sie läßt sich von Nietzsches Leitbildern auf dem Weg zum höheren Typus (Napoleon, Cesare Borgia, Goethe) nicht befriedigend beantworten. Steigerung des Machtgefühls (s.o.) ist ein zweideutiges Kriterium. Und schließlich würde Nietzsche wohl einräumen, daß auch ,decadents' erheblicher ,Übermächtigungen' fähig gewesen sind, etwa Plato, „das größte Malheur Europas" (KGB III 5, 9). - Das von Nietzsche postulierte Zusammenfallen von Freiheit und Notwendigkeit beseitigt kaum das Problem, d a ß der Impetus des Schöpferischen, der vor allem im Zarathustra beherrschend ist und für manche große Anziehungskraft hat, konterkariert wird durch die Unausweichlichkeit eines alles bis ins Kleinste bestimmenden Determinismus. — Vor allem aber: Nietzsches Seinsthese als absolute ist aporetisch. Total gesetzt kann sie nicht wahr sein. Denn: Alles soll Wille zur Macht sein, das Sein, das Denken und auch ihr ,Verhältnis'. Die These, d a ß das Sein Wille zur Macht in der Gestalt der ewigen Wiederkunft des Gleichen ist, muß demnach Ergebnis eines Kampfes von Wille und Gegenwille sein. Entweder also übermächtigt das Denken (Wille) mit dem Gedanken, daß das Sein Wille zur Macht ist, interpretierend das Sein; das Sein will sich so nicht denken lassen (Gegenwille), wird aber vom Denken überwältigt, und das so, daß ein wahrer Gedanke gefaßt ist. Das dürfte eine sinnlose und das Sein unzulässig anthropomorphisierende Konstruktion sein. Oder das Sein (Wille) übermächtigt mit dem Gedanken, daß es Wille zur Macht ist, ein Denken, das das Sein so nicht begreifen, sondern vielmehr mit einer anderen Seinsthese überwältigen will. Das ist im Hinblick auf Nietzsches Philosophie und philosophische Existenz ein Widersinn. Uneingeschränkt kann Nietzsches Seinsthese keine Verbindlichkeit beanspruchen. Das ist einschneidend (auch für seine Destruktionen) und eröffnet ein weites Feld der Auseinandersetzung. Nietzsches Werk, reich an Einzeleinsichten und in vielem von ungebrochener kritischer Potenz, ist als ganzes ein Durchgang und Übergang. Nietzsche waren mindestens einige der genannten Schwierigkeiten bewußt. Vielleicht hat er sich deshalb gegen jenes geplante ,Hauptwerk' seiner Spätphilosophie (vgl. 1. und 2.2.) entschlossen. Jedenfalls hat er selbst Fragezeichen hinter sein Werk gesetzt und eine Wende angedeutet.

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2.8. Fragezeichen und Wende Nietzsche hat 1888/89, kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch, neun Gedichte unter dem Titel Dionysos-Dithyramben (KGW VI 3, 373 ff) für den Druck zusammengestellt. Drei davon hatten schon einmal im 4. Teil des Zarathustra für Fraglichkeit gesorgt, andere sind 1888 entstanden. Die Sammlung ist wie ein Schlußwort Nietzsches aufzufassen. Das schöne Gedicht „Die Sonne sinkt" singt von lebensabendlicher Heiterkeit als .süßestem Vorgenuß' des Todes. Erscheint hier das Lebenswerk vollendet, so wird es durch weitere Gedichte doch als Frage und Aufgabe an andere weitergereicht. Wahrheit bzw. das Verhältnis von Denken und Sein ist einer der Schwerpunkte („Nur Narr! N u r Dichter!"; „Zwischen Raubvögeln"; „Klage der Ariadne"). Ein „Freier" der Wahrheit scheint, statt Gegenliebe zu erfahren, von aller Wahrheit verbannt zu sein. Zarathustra wird zu einem Fragezeichen zwischen dem Nichts der von ihm destruierten übersinnlichen Welt und einem zweiten Nichts, zu dem alles konstruktiv Entworfene zerronnen zu sein scheint. Ariadne, an seine Stelle getreten, findet sich mit der Forderung eines unbekannten göttlichen Gegenspielers konfrontiert, ihren Denkstolz in Hingabe zu verwandeln, d . h . von der Ubermächtigung des Seins durch die absolute Seinsthese abzulassen. Da sie nicht dazu bereit ist, entweicht der Gott - das Sein verläßt das Denken. In äußerster Seinsverlassenheit bringt sie nun doch die Bereitschaft zur Hingabe auf, nimmt den Willen zur Macht des Denkens zurück. Anders als in der Zarathustra-Fassung des Gedichtes kehrt daraufhin der Gott zurück, erscheint, wenn auch verhüllt, als Dionysos und doch noch namenlos und unverstanden. Der Wille zur Macht ist nicht mehr die ganze Wahrheit über das Sein und das Denken und ihr Verhältnis. Ariadnes Wandlung vom Stolz zur Hingabe bedeutet, auf den Zarathustra zurückbezogen, auch noch das Ablassen von der aus höchster Selbstliebe geborenen Vorstellung, daß das Sein (das Werden) des Übermenschen bedarf, um sich zu vollenden. Jetzt gibt der Übermensch das Werden auf eine von ihm unabhängige Göttlichkeit hin frei, und diese .erscheint' ihm. — „Unter Töchtern der Wüste" setzt, verkleidet durch eine Nachbarschaft zum Satyrspiel und verrätselt, das ernsteste Fragezeichen hinter den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen: das des extremsten Nihilismus. Wo sich das dionysische Ja zur Welt zu vollenden schien, zeigt sich nun, und zwar sub specie aeternitatis, eine Wüste: ein Nichts an Leben und Schaffen. Wenn ewig alles bis ins Kleinste hinein ganz gleich wiederkehrt, ist jetzt und künftig alles Neue ausgeschlossen, wie es immer schon ausgeschlossen war. Dennoch zum Schaffen aufzufordern, muß demnach wie eine Neuauflage europäischen ,Moralgebrülls' erscheinen. Dieses Bedenken hat Nietzsche gegenüber der Zarathustra-Fassung durch einen radikalen neuen Schluß verschärft. In „Ruhm und Ewigkeit" hat er aber ein Gegengewicht geschaffen: Mit den aus dem Zarathustra bekannten Worten „denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!" wird die Ewigkeit dionysisch bejaht. Sie bleibt engstens an Notwendigkeit gebunden. Nietzsche wiederholt aber gerade nicht seine Bilder für die ewige Wiederkunft des Gleichen (Ring und Rad). Vielmehr: „Höchstes Gestirn des Seins" ist ein Schild. Vielleicht darf man darin den Hinweis sehen, daß zur Freigabe des Seins durch ,Ariadne' auch ein Umdenken des Gedankens gehört, der die .höchste Seinsprägung des Werdens' vollzog, dergestalt, daß eine Notwendigkeit des Werdens zu denken wäre, die nicht die Wiederkehr des bis ins Kleinste schlechthin Gleichen beinhaltet, sondern Spielraum für Verwandlung und Schaffen ließe, während sie doch zugleich wie ein Schild die Ewigkeit des Werdens zu schützen vermöchte.

3.

Wirkungsgeschichte

Die Wirkungsgeschichte Nietzsches trast zu dem schwachen Echo, das er zu Werk auf so vielen Feldern geistigen auch dürfte ein Philosoph in gleichem

seit der Jahrhundertwende steht in größtem KonLebzeiten hatte. Selten dürfte ein philosophisches Lebens rezipiert worden sein. Selten allerdings M a ß in den Niederungen des Intellekts und der

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Gesinnung .beansprucht' und mißbraucht worden sein. - Auf Umfang und Vielfalt der Nietzsche-Rezeption kann hier nur ein unzureichendes Schlaglicht geworfen werden (vgl. ergänzend Fleischer, Spektrum). Schon die in Werken greifbare frühe Rezeption (bis 1905) zeigt etwas von dem Spektrum, in das Nietzsches Wirkung sich entfalten sollte. Verdienstvolle Vermittlung seiner Philosophie haben Rudolf Steiner (1895), Riehl (1897) und Vaihinger (1902 und später) geleistet. Sozialisten melden sich bereits zu Wort (Duboc, Mehring). Delius läßt sich vom Zarathustra zu Eine[r] Messe des Lebens inspirieren, Strauss zur Tondichtung Also sprach Zarathustra; Mahler vertont im 4. Satz seiner 3. Sinfonie „Das andere Tanzlied" (Ziffer 3) aus dem Zarathustra. George dichtet sein .Donnerer-Gedicht' über Nietzsche. Shaw begibt sich mit Mensch und Übermensch in Nietzsches Nähe, Strindberg mit seiner Erzählung Tschandala, Hamsun mit einer Dramen-Trilogie, Gide mit zwei Romanen. Gide macht überdies Nietzsche im 12. seiner fiktiven Briefe an Angele zum Thema. Essays über Nietzsche erscheinen, außer von Brandes (vgl. 1.) auch von dem Schweden Ola Hansson und, 1908 dann, von dem russischen Symbolisten Andrej Belyj. Man sieht: Nietzsche hat auf der Bühne geistigen Geschehens Fuß gefaßt. Seine Wirkung auf die Zeit ist von manchen sehr hoch eingeschätzt worden. Belyi sah Nietzsche als Zäsur in der Geschichte. Benn beurteilte Nietzsches Bedeutung für die Epoche überschwenglich und ließ Psychoanalyse und Existentialismus von ihm her anheben. Max -»Weber fand die Gegenwart von Nietzsche geprägt und verurteilte Gelehrte, die die Vorarbeit von Nietzsche (und Marx) nicht zugeben, als unredlich. -»Jaspers erblickte in Nietzsche ein philosophisches Ereignis von besonders einschneidender Wirkung. Die große Bedeutung Nietzsches speziell für die Psychologie hoben Adler und Klages hervor. Verschiedenartig ist die Wirkung, die Nietzsche auf die persönliche Entwicklung von Philosophen, Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern ausgeübt hat und zu der sich einige ausdrücklich bekannten. Von bestimmendem Einfluß war Nietzsche für -»Heidegger, Foucault, den jungen -•Bloch, auch für C.G. -»Jung, für Musil, Benn, O'Neill und möglicherweise den frühen Gorki, sowie (trotz der religiösen Dimension seiner Musik) für Mahler. —•Tillich hat Nietzsches Wirkung auf ihn als befreiend eingestuft; .befreiend' auch waren Nietzsches Metaphysik- und Moralkritik für -»Sartres Existentialismus. Wichtige Impulse empfingen der Theologe und Geschichtsphilosoph -»Troeltsch sowie -»Bonhoeffer. Andere Rezipienten verdankten Nietzsche Bestätigung auf schon beschrittenem eigenen Weg (Yeats, Joyce, Gide, Strindberg und Paula Modersohn-Becker). Auch zwei Protagonisten philosophischer Nietzsche-Darstellung, Steiner und Vaihinger, waren überzeugt, durch eigenes Denken auf Nietzsche vorbereitet gewesen zu sein. - Lang anhaltende, intensive Auseinandersetzung mit Nietzsche konnte dazu führen, daß mit der eigenen Entwicklung das Nietzsche-Bild sich wandelte (so bei Thomas und Heinrich Mann). - Nietzsches Wirkung in die Breite betrifft nachweislich folgende Felder: Philosophie; Theologie; Psychologie (Freud, Adler, C.G. Jung); Soziologie (Max Weber); Ideologien von links bis rechts; die deutsch-sprachige, angelsächsische, französische, italienische, griechische, russische und skandinavische Literatur; Musik; bildende Kunst. Nietzsche wurde in über 25 Sprachen zur Kenntnis genommen. Auch andere Quantitäten sind imponierend: Hillebrands Dokumentation zur deutschen Literatur bietet 209 Quellen. (Nur wenige deutschsprachige Schriftsteller gingen an Nietzsche achtlos vorbei.) Thatcher listet 219 Komponisten auf, die Nietzsche-Texte vertont haben oder von ihnen zu Kompositionen bestimmt wurden. Krause verzeichnet 179 Nietzsche betreffende Werke und Projekte der bildenden Kunst. Zahlen sagen freilich nichts über die Qualität der Rezeption. Ein trauriges Kapitel unangemessener Rezeption haben Ideologen verschiedener Lager geschrieben. Durch die in seinen Grundgedanken verwurzelte Ablehnung des Sozialismus hat Nietzsche sich auf dieser Seite kaum Freunde gemacht. So erschien er hier denn auch in schiefer Perspektive als Philosoph des Kapitalismus (Mehring) bzw. der imperialistischen Bourgeoisie (Lukäcs). Ersatzreligionen unterschiedlicher Schattierungen glaubte man an ihm festmachen zu können. Besonderes Unrecht geschah ihm von faschistischer Seite (-»Faschismus), wenn er zum germanischen und rassistischen Denker gemacht wurde (z.B. durch Alfred Baeumler), obwohl er sich vehement gegen Antisemitismus, -»Nationalismus und Deutschtum ausgesprochen hatte (vgl. etwa KGW V 2, 312; VI 2, 425 f; VIII 3, 157 - Notiz 14 [182]; VIII 3, 250 - Notiz 15 [80]), und wenn man sich aus seinen Texten mit bedenkenloser Willkür bediente. Allerdings wurden in der nationalsozialistischen Nietzsche-Rezeption, die während des „Dritten Reiches" wieder nachließ, teilweise die Differenzen zu Nietzsche gesehen. Auch muß vermerkt werden, daß es Äußerungen Nietzsches gibt, die unverfälscht benutzt werden konnten. Philosophische Nietzsche-Rezeption, früh in Gang gesetzt (s.o.), erhielt entscheidende Impulse ab 1935 durch Löwith, -»Jaspers und -»Heidegger. Einen Einschnitt, insbesondere für die Nietzsche-Forschung, bedeutet das Erscheinen der Kritischen Gesamtausgabe der Werke ab 1967 und der Briefe ab 1975. Hier werden erstmals Texte verläßlich und umfassend bereitgestellt, auch der

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Nachlaß (vgl. 2.2.). Nietzsches Werk wurde und wird von der internationalen Forschung im Reichtum seiner Problemstellungen intensiv und auf hohem Niveau diskutiert. Seine unmittelbare Wirkung auf Philosophen und philosophische Strömungen, die in der Geschichte der Philosophie des 20. Jh. eine bleibende Stelle haben, ist allerdings geringer, als man den vielfältigen sachlichen Berührungen nach annehmen könnte. Eindeutig gegeben ist sie in der -».Existenzphilosophie' (auch Sartre, -»Camus, -»Marcel). In Jaspers' Deutung nimmt Nietzsches Denken selbst existenzphilosophische Züge an. Heideggers entscheidende Auseinandersetzung mit Nietzsche beginnt nach Sein und Zeit. Nietzsche begegnet bei ihm in seinsgeschichtlicher Perspektive. In der Frankfurter Schule ist Nietzsche überwiegend kritisch aufgenommen worden. Horkheimer und Adorno haben ihm (zeitweise) einen Umschlag von Aufklärung angelastet und ihn in die Nähe zum Faschismus gebracht. Marcuse indessen würdigt Nietzsches Einführung eines Realitätsprinzips, das eine .erotische' Einstellung zum Sein ermöglicht, und entdeckt bei ihm wichtige Erkenntnisse der gesellschaftlichen Entwicklung. Einige neuere französische Rezipienten (Deleuze, Derrida und seine Schüler) verabsolutieren einzelne Aspekte seines Werkes und lösen seine Gedanken in Spiel auf. Foucault aber schätzt in ihm den Genealogen. Deutschsprachige theologische Nietzsche-Rezeption ist von Köster aufgearbeitet und so charakterisiert worden: „Nietzsche ist in der Theologie des 20. Jahrhunderts immer auf irgendeine Weise präsent, oft sehr vage und mißverständlich, selten in einläßlicher Kenntnisnahme" (Köster 617). Trotz natürlicher Gegnerschaft der Theologen zu Nietzsche verzeichnet Köster auch positive Aufgeschlossenheit und sachgerechte Auseinandersetzung (z.B. bei Welte, Biser, -»Barth, Tillich, Bonhoeffer). Tillich kritisiert den Mangel absoluter Normen, Barth das Fehlen der Mitmenschlichkeit im höheren Typus, Bonhoeffer dessen Schrankenlosigkeit, während er an die Treue zur Erde anzuknüpfen vermag. - Als ernst zu nehmende Herausforderung gilt Nietzsche bei Figi. Eingehendere Zusammenschau aller Rezeptionsfelder würde feststellen, daß Nietzsches Denken in allen seinen Dimensionen, den destruktiv-kritischen und im weiteren Sinn analytischen wie auch den .konstruktiven', zur Wirkung gekommen ist. Auch sein Stil hat gewirkt (z.B. auf Ortega). Unter Nichtphilosophen fanden vor allem der Zarathustra (abgelehnt allerdings von Thomas Mann und Gide) und Die Geburt der Tragödie Beachtung, auch die Unzeitgemäßen Betrachtungen (zumal die zweite), Ecce homo, Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral. Nietzsches Persönlichkeit und Leben haben manchen berührt, auch zur Gestaltung angeregt (Thomas Mann, Doktor Faustus). Quellen Werke. 19 Bde. u. 1 RegBd., Leipzig 1894ff, Großoktav-Ausgabe ( = GOA). - Der Wille zur Macht. GOA, XV 1901 (483 Aufzeichnungen). - Der Wille zur Macht. GOA, XV u. XVI 1911 (1067 Aufzeichnungen, zuerst veröff. 1906 = Bde. IX u. X der „Taschenausgabe". Einzelausg. "1980. Vgl. zu 2.2.). - Ges. Briefe, 5 Bde., Leipzig/Berlin 1900ff bzw. Leipzig 1907ff. - GW, 23 Bde., München 1920-1929 (Musarion). - Werke u. Briefe. Hist.-krit. GA, 5 Werkbde. (1854-1869), München 1933ff; 4 Briefbde. (1850-1877), München 1938ff. - Werke in 3 Bänden, hg. v. Karl Schlechta, 3 Bde. u. 1 Index-Bd., München bzw. Darmstadt 1954ff '1982 (enthält in Bd. 3 unter dem Titel „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre" eine Neuanordnung der Kompilation „Der Wille zur Macht"). - Werke. Krit. GA, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967ff (= KGW). - Briefwechsel. Krit. GA, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1975ff ( = KGB). - Der musikalische Nachlaß, hg. v. Curt Paul Janz, Basel/Kassel 1976. - SW. Krit. Studienausg., hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, 15 Bde., München/Berlin/New York 1980 2 1988 ( = KSA). - Sämtl. Briefe. Krit. Studienausg., hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, 8 Bde., München/Berlin/New York 1986. Verz. der Erstdrucke in KSA, Bd. XIV, 22ff. Literatur Bibliographien: Gernot U. Gabel, Friedrich Nietzsche. Ein Verz. westeurop. u. nordamerik. Hochschulschr. 1900-1980, 3., verm. Aufl. Köln 1985. - Herbert W. Reichert/Karl Schlechta, Int. Nietzsche Bibliography Rev. and Expanded, Chapel Hill 1968. - Herbert W. Reichert, Int. Nietzsche Bibliography 1968 through 1971: NS 2 (1973) 320-373. - Ders., Int. Nietzsche Bibliography 1972-1973: NS 4 (1975) 3 5 1 - 3 7 3 . Sammelwerke: Michael Landmann, Geist u. Leben, Bonn 1951. - 90 Jahre phil. NietzscheRezeption, hg. v. Alfredo Guzzoni, Königstein/Ts. 1979 Frankfurt/M. 1986. - The New Nietzsche, hg. v. David B. Allison, New York 1977 Cambridge/Mass./London J 1985. - Nietzsche, hg. v. Jörg Salaquarda, 1980 (WdF 521) (Lit.). - Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Leben u. Denken, Frankfurt/ M. 1968. Gesamtdarst. u. Einf.: Charles Andler, Nietzsche. Sa vie et sa pensée, 6 Bde., Paris 1920—1931 '1958 (3 Bde.). - Arthur C. Danto, Nietzsche as Philosopher, New York 1965 2 1980. - Gilles

Nietzsche

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Nihilismus 1. Die Hauptthemen der philosophisch-theologischen Nihilismus-Diskussion 1.1. Die Selbstbezüglichkeit philosophischer Systeme: der Nihilismus-Verdacht gegen den Idealismus 1.2. Motive der Lebensverneinung: Pessimismus und Selbstzersetzung der Ideale 1.3. Die Seinsverlassenheit: die seinsgeschichtliche Deutung des Nihilismus 2. Nihilismus als literarisches Thema 3. Nihilismus als ästhetische und literaturwissenschaftliche Kategorie 4. Nihilismus als Indikator in der politisch-gesellschaftlichen Diagnostik (Quellen/Literatur S.533) 1. Die Hauptthemen

der philosophisch-theologischen

Nihilismus-Diskussion

Die ganze Vielfalt der philosophischen Stellungnahmen zum Nihilismus-Problem läßt sich nach den hauptsächlichen Initiatoren der Nihilismus-Diskussion gruppieren: ->Jacobi, -»Nietzsche und -•Heidegger. Für den Begriff selber gibt es allerdings bereits eine Vorgeschichte. Als frühestes Vorkommen dieser Begriffsbildung gibt Müller-Lauter (Nihilismus 1984, 846) den Titel De nonismo et nihilismo in theologia (1733) von L. Goetzius an. Über den Einfluß dieser ersten Verwendung - als terminus novus bezeichnet — ist allerdings nichts bekannt. Dagegen ist der Hinweis von Cramer (Jakob B. Bossuet, Einleitung in die Geschichte der Welt und Religion, fortgesetzt von J.A. Cramer, 7. Teil, Bd. 8, Leipzig 1786) auf die mittelalterliche „Ketzerei des

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Nihilianismus" (eine Häresie in der Christologie) Jacobi vermutlich und Fr. Schlegel nachweislich bekannt gewesen. Jener verweist auf das Werk in der 7. der 1789 erschienenen Beilagen zu den Briefen über die Lehre des Spinoza (Werke IV/2, 142), und dieser erwähnt die Beschuldigung ausdrücklich (KA 19, 311). - 1792 spricht Obereit vom „Nihilismus a se" als einer Methode der negativen Philosophie, als „Weg zum Nichts aller Dinge an sich, ihrem Nichts nehmlich außer dem ewigen Wesen von selbst, das allein von selbst nothwendig wirklich" (Obereits Widerruf für Kant, a.a.O. 141; zur Auseinandersetzung dieses Theosophen mit dem Kritizismus vgl. H. Timm, Gott und die Freiheit, Frankfurt/M. 1974, 339-359; Gawoll, a.a.O. 34-43). - 1796 kennzeichnet Daniel Jenisch den Gedanken „der absoluten Irrealität menschlicher Erkenntnis in Rücksicht der Dinge an sich und der transzendental-idealistischen Schöpfung aller Naturgesetze" als „den offenbarsten Atheismus und Nihilismus (das letztere ist das eigentlichste Wort für die Sache)" (a. a. O. 200ff). - 1 7 9 7 notiert sich Fr. Schlegel auf einer Reise den unerläuterten Satz: „Aller Witz tendencirt auf Nihilism (Voltaire, Swift)" (KA 18, 27). - 1798 verwendet Jacobi in seiner Claudius-Rezension zum ersten Mal den Begriff, und zwar parallel zu religiösem Chimärismus, Phantasterei und Selbstgötterei (Werke III, 291). - Das sind alle bisher bekannten Verwendungen des Begriffs vor dem Beginn der Nihilismus-Diskussion von 1799. Die zwei Jahre später gegebene französische Charakterisierung des Nihilisten muß als unabhängig angesehen werden: „Nihiliste ou Rienniste. Qui ne croit à rien, qui ne s'intéresse à rien. Beau résultat de la mauvaise philosophie, qui se pavane dans le gros Dictionnaire encyclopédique!" (Mercier, a.a.O. 143). - Als bedeutsam für die Aufklärung der Vorgeschichte der Nihilismus-Diskussion wird allgemein die Tatsache angesehen, daß .Annihilation' zu jener Zeit fast ein Modewort war. In der Scholastik war Annihilation' der Gegenbegriff zu creatio. Gott hat prinzipiell die Möglichkeit, die Welt wieder ins Nichts zurückzustoßen. Da er aber sein Schöpfungswort nicht wieder zurücknimmt, bleibt dieser Gedanke rein hypothetisch. In der Neuzeit wird dieser Begriff - allerdings auf die Ontologie reduziert - von Christian - W o l f f überliefert (vgl. H.K. Kohlenberger, Art. Annihilation: HWP 1 (1971) 333f; Riedel, a.a.O. 374-379.) 1.1. Die Selbstbezüglichkeit philosophischer Systeme: der Nihilismus-Verdacht gegen den Idealismus. Der Philosophie des Wissens, wie sie am reinsten -»Fichte verwirklicht habe, stellt Jacobi seine Philosophie des Nicht-Wissens gegenüber. Jene entwickelt sich nach Jacobi wesensmäßig zu einem selbstbezüglichen System, da es eine Sache vollständig begreifen wolle, Begreifen aber immer in einem Konstruieren bestehe, d.h. darin, eine Sache in Gedanken vor uns entstehen zu lassen. „Wenn daher ein Wesen ein von uns vollständig begriffener Gegenstand werden soll, so müssen wir es objektiv — als für sich bestehend - in Gedanken aufheben, vernichten, um es durchaus subjektiv, unser eigenes Geschöpf - ein bloßes Schema - werden zu lassen" (Jacobi an Fichte, 1799, Werke III, 21). Die eigentliche Philosophie ist Idealismus, gemäß seinem Ziel muß er eine Sache zu Nichts machen. Ganz anders wäre eine Philosophie, die in der Vernunft „nicht das Vermögen einer Wissenschaft des Wahren; sondern nur das Gefühl und Bewußtsein seiner Unwissenheit desselben: Ahndung des Wahren" ( a . a . O . 32) sieht. In diesem Falle wäre die Vernunft eine Weisung auf das Wahre, kein Besitz desselben. So wird aus dem Wahren vielleicht eine Chimäre, aber in gewisser Weise ist das immer noch mehr als das Nichts. Diese Konstellation faßt Jacobi folgendermaßen zusammen: „Wahrlich, mein lieber Fichte, es soll mich nicht verdrießen, wenn Sie, oder wer es sey, Chimärismus nennen wollen, was ich dem Idealismus, den ich Nihilismus schelte, entgegensetze" ( a . a . O . 44). Mit diesem Abschluß hat Jacobi die Nihilismus-Diskussion eröffnet. Der Sache nach hat sich Fichte seit seiner Schrift Die Bestimmung des Menschen (1800) mit dem Nihilismus-Verdacht auseinandergesetzt; in der Wissenschaftslehre von 1812 geschieht dies expressis verbis. Er gibt zu, daß die Reflexion als Mittel der Konstruktion alle Realität zerstört. Aber er folgert daraus nicht, daß darum die Reflexion aufgegeben werden müsse. „Was wäre denn das wahre Mittel, diesem Sturze der Realität, diesem Nihilismus zu entgehen? Das Wissen erkennt sich als bloßes Schema: darum muß es doch wohl irgendwo auf reiner Realität fußen: eben als absolutes Schema, absolute Erscheinung sich erkennen. Man muß darum grade reflektiren bis zu Ende. Die Reflexion als vernichtend die Realität, trägt in sich selbst ihr Heilmittel" ( N W II, 325). In Glauben und Wissen (1802) spricht -»Hegel davon, daß „allerdings die Aufgabe des Nihilismus in dem reinen Denken" (SW I, 409) liege, das Fichtesche System aber

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nicht fähig sei, zu ihm zu gelangen. Hegel fordert daher als das Erste der Philosophie, „das absolute Nichts zu erkennen" (ebd.). M a n kann diese Äußerungen Hegels so interpretieren, daß im „Nihilismus der Transcendental-Philosophie" (SW I, 411) noch nicht der eigentliche Nihilismus zu sehen sei (vgl. W. Janke. Sein und Reflexion — Grundlagen der kritischen Vernunft, 1970, 35; Pöggeler, Hegel: Arendt, 312 ff.; anders MüllerLauter, Nihilismus 1975, 15 ff; nochmals Pöggeler, „Nihilist", 207 f)- Durch Friedrich Koppen (1803) und Kajetan v. Weiller (1804) ist der Nihilismus-Verdacht auch gegen Schellings Philosophie erhoben worden. „Wäre absoluter Nihilismus nicht eine passendere Benennung für das neue System, als absoluter Idealismus?" (Weiller 195). - Den Begriff des absoluten Nihilismus verwendet schließlich auch ->Schelling (Rückert und Weiß, oder die Philosophie zu der es keines Denkens und Wissens bedarf, a . a . O . 83). Nicht erkennbar abhängig von der Nihilismus-Diskussion hat Friedrich Schlegel einen Begriff von Nihilismus entwickelt, der seine ganz eigenen Filiationen hat. In seiner Kölner Vorlesung von 1804/1805 (veröffentlicht 1836) ist der Nihilismus zusammen mit dem Mystizismus ein Charakter des -*Pantheismus. Diese Denkart sei eigentlich mehr Religion als Philosophie und habe sich mehr im Orient, vor allem bei den indischen Büßern, geäußert. „Diese versenkten und verloren sich ganz in den negativen Begriff der Gottheit, bestrebten sich zu diesem Behuf auf eine absolute Abstraktion von allem Positiven,... auf eine gänzliche Annihilation ihrer selbst in sinnlicher und geistiger Rücksicht" (KA XII, 132). Ähnlich hätten auch die Mystiker in den ersten Jahrhunderten „die Gottheit sehr konsequent als das unendliche Nichts erklärt, und ihre Denkart Nihilismus genannt" (KA XII, 133). Entsprechend notiert sich Schlegel auch einmal unter dem Stichwort „Pantheismus": „Oriental. Nihilismus myst." (KA XVIII, 573). — In der Einleitung zu Das Wesen des Christentums (1841) argumentiert Ludwig Feuerbach, daß die Negation der menschlichen Tätigkeit nur dann eine wahre wäre, wenn der Mensch auch in Gott die moralische Tätigkeit negierte „und sagte, wie der orientalische Nihilist oder Pantheist: Das göttliche Wesen ist ein absolut willen- und tatenloses, indifferentes, nichts von Diskrimen des Bösen und Guten wissendes Wesen" (Ges. W. V, 70). - Von Schlegel oder Feuerbach her ist wohl auch der religionswissenschaftliche Begriff des „buddhistischen Nihilismus" bei M a x Müller (1869) motiviert. Diesen Autor hat Nietzsche wiederum bereits z. Zt. der Arbeit an der Geburt der Tragödie ausführlich gelesen. 1.2. Motive der Lebensverneinung: Pessimismus und Selbstzersetzung der Ideale. Der Zeitpunkt, von dem an das Problem des Nihilismus bei Nietzsche dominant wird, läßt sich auf den Sommer 1886 datieren. Unter diesem Datum findet sich im Nachlaß eine Disposition zu dem geplanten Werk „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. In vier Büchern" (KGW VIII 1 : 2 [100]). Für das erste Buch notiert er nothwendigen sich: „die Gefahr der Gefahren (Darstellung des Nihilismus) (als der Consequenz der bisherigen 'Werthschätzungen)" (ebd.). Nihilismus bedeutet für Nietzsche also immer eine drohende Gefahr. Daher haben seine Äußerungen darüber meistens diagnostische und strategische Bedeutung, wobei die Perspektive oft wechselt. Hierher gehören die Bestimmungen: unvollständiger Nihilismus, aktiver und passiver Nihilismus, vollkommener Nihilismus. Die Gefahr selber wird stets einheitlich gesehen; es ist die höchste Gefahr, die dem Leben drohen kann, nämlich seine Verneinung. Sie droht zum einen durch den romantischen Pessimismus. Von Schopenhauer sagt Nietzsche, daß er die Mitleids-, Selbstverleugnungs- und Selbstopferungs-Instinkte so lange überhöht hätte, „bis sie ihm schließlich als die .Wierthe an sich' übrig blieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, Nein sagte. ... Gerade hier", fährt Nietzsche fort, „sah ich die grosse Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung — wohin doch? in's Nichts? - ...ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral . . . als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordenen europäischen Cultur, als ihren Umweg zu einem Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum - Nihilismus?" (Zur Genealogie der Moral, Vorrede 5, KGW VI 2, 264). - Z u m andern

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e r w ä c h s t die höchste Gefahr für das Leben aus der H e r r s c h a f t der Ideale und Werte. Kurz vor der Disposition v o m S o m m e r 1 8 8 6 notiert sich Nietzsche: „Alle Ideale sind gefährlich, weil sie das Thatsächliche erniedrigen und b r a n d m a r k e n , alle sind Gifte, aber als zeitweilige Heilmittel unentbehrlich" ( K G W VIII 1 : 2 [98]). Die Lebensfeindlichkeit der Ideale und Werte erweist sich immer erst später und gewissermaßen nach zu langem Gebrauch. Allen Idealen w o h n t daher eine „Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich" ( K G W VIII 1: 2 [127, N r . 5]) inne. Die für das Abendland bedeutsamste Konsequenz eines Ideals ist das, was Nietzsche schon früher den T o d Gottes genannt hat. „ D e r Untergang des Christenthums - an seiner M o r a l (die unablösbar ist - ) welche sich gegen den christlichen G o t t wendet (der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christenthum hoch entwickelt, b e k o m m t Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung)" (ebd. N r . 2 ) . A m E n d e bringt die Orientierung an Idealen den „Nihilismus, d. h. die radikale Ablehnung von Werth, Sinn, W ü n s c h b a r k e i t " (ebd. N r . 1) hervor. Die Gefahr der Gefahren ist dann die vollkommene Sinnlosigkeit. D a s Leben kann nicht mehr bejaht werden. - N i c h t der -»Pessimismus, der letztlich in ungeschichtlichen Instinkten gründet, sondern die Selbstzersetzung der Ideale - w o f ü r auch die vielzitierte F o r m e l steht: „daß die obersten Werthe sich entwerthen" ( K G W VIII 2 : 9 [35]) - m a c h t aus dem Nihilismus ein geschichtliches P h ä n o m e n : „ D e n n w a r u m ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsere bisherigen Werthe selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilismus die zu E n d e gedachte Logik unserer großen Werthe und Ideale ist, - weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, u m dahinter zu k o m m e n , was eigentlich der Werth dieser ,Werthe' w a r . . . W i r haben, irgendwann, neue Werthe n ö t h i g . . . " ( K G W VIII 2 : 11 [411, N r . 4 ] N o v . 1 8 8 7 - M ä r z 1888). F ü r Nietzsche kann die Überwindung des Nihilismus daher nur in einer U m w e r t u n g aller Werte bestehen. Angeregt von Nietzsche hat -»Jaspers in seiner Psychologie der Weltanschauungen den Nihilismus als einen psychologischen Zustand zu bestimmen versucht. Ausgangspunkt hierfür ist ihm die in uns bemerkbare Kraft, den Situationen, die an den Grenzen unseres Daseins erfahren werden, auszuweichen. Das feste Gehäuse selbstverständlicher Lebensformen, Weltbilder und Glaubensvorstellungen verdeckt daher zumeist die bewußte Erfahrung der Grenzsituationen von Kampf, Tod, Zufall und Schuld. Kommt es allerdings zu dieser Erfahrung und wird zudem das Gehäuse in die Bewegung endloser Reflexion gezogen, dann vollzieht sich an ihm ein unaufhaltsamer Auflösungsprozeß (vgl. Psychologie 281). Gegen diesen nihilistischen Prozeß kann sich der Mensch wehren, oder er kann sich gerade mit ihm identifizieren ( a . a . O . 290ff). Im ersten Falle gibt es vier Formen: 1. Der Mensch erfährt sich als nichtig im Hinblick auf ein Jenseits, dem er allen Wert beilegt. 2. Er findet seinen Sinn gerade in Akten der Selbstvernichtung. 3. Der faktische, aber nicht wahrgenommene Nihilismus wendet sich gewaltsam Positivitäten zu. 4. Das einzig Feste wird in der eitlen Existenz gefunden. Der zweite Fall läßt drei Formen zu: den Sophisten, den Skeptiker und den Nihilisten der Tat, der in der Zerstörung alles Geltenden einen letzten Halt findet. Diese Typologie ergänzt Jaspers noch durch den absoluten Nihilismus in Psychosen ( a . a . O . 300ff). Insgesamt wird der Nihilismus von Jaspers als eine unvermeidliche Stufe für den Prozeß des Bewußtwerdens des Lebens angesehen. „Jede Gestalt des Lebens zieht irgendeinmal den Nihilismus auf sich, nicht aber das Leben selbst" ( a . a . O . 303). - In Der philosophische Glaube stellt Jaspers den Nihilismus neben Dämonologie und Menschenvergötterung als Unphilosophie, d.h. als Form des philosophischen Unglaubens dar ( a . a . O . 106ff). Die Thematisierung des Nihilismus in dem Essayband Der Mensch in der Revolte hat bei Albert -»Camus die Funktion, eine Schwäche der „absurden Argumentation" zu kompensieren. Diese verwarf den Selbstmord, da dieser einer Schließung „jener hoffnungslosen Kluft zwischen der Frage des Menschen und dem Schweigen der Welt" (9) gleichkäme. Indem nun diese Argumentation den Selbstmord als Flucht oder Selbstbefreiung ansieht, ist klar, daß sie „das Leben als das einzig notwendige Gut anerkennt, weil gerade es diese Kluft erzeugt" (9). Daraus ergibt sich die Aufgabe, auch die Illegitimität des Mordes nachzuweisen, vor allem des Mordes aus Überlegung, des ideologischen Mordes. Faßt man Leben als die „Unmöglichkeit der absoluten Verneinung" (11) auf, dann darf auch nicht die Vernichtung der anderen, ihre Opferung in der Geschichte und im Terror der Systeme, geduldet werden. Das allgemeine Kennzeichen des Nihilismus ist die „Indifferenz dem Leben gegenüber" (10). In der Moderne erscheint er sowohl als kollektiver Selbstmord, der wie in Hitlers Apokalypse mit der Vernichtung seiner selbst eine ganze Welt mit sich

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Nihilismus

ins Verderben zu ziehen trachtet, wie auch als metaphysischer Mord. Im zweiten Falle entspringt er dem modernen Protest gegen das menschliche Geschick und seinen Schöpfer. „Der Haß gegen den Schöpfer kann in den Haß gegen die Schöpfung umschlagen oder in die ausschließliche und aufreizende Liebe zum Bestehenden. In beiden Fällen jedoch mündet sie in den Mord ein und verliert das Recht, sich Revolte zu nennen. Man kann auf zwei Arten Nihilist sein, beide Male durch eine Unmäßigkeit nach dem Absoluten" (84). Auch die Nihilismus-Diskussion der sog. Postmodernisten ist noch von der durch Nietzsche geprägten Problemstellung bestimmt. Wie Jean Baudrillard in Transparenz darstellt, hat es zwei große Erscheinungsformen des Nihilismus gegeben. Die Revolution der Moderne (19. Jh.) hat zur radikalen Zerstörung der Erscheinungswelt zugunsten des Sinnes (der Geschichte, der Kritik u.a.) geführt, die Revolution der Postmoderne (20. Jh.) hat dann gerade diesen Sinn und damit alle Geschichten und Finalitäten zerstört. Heute habe sich der Nihilismus völlig durchgesetzt, aber nicht mehr durch Destruktion, sondern durch seine Einrichtung in der Indifferenz und Uberzeugungslosigkeit. Selbst aus dem Mythos, der der Nihilismus einmal war, sei „das transparente - in falscher Weise transparente - Funktionieren aller Dinge" (30), die „Apokalypse der Indifferenz" (31) geworden.

1.3. Die Seinsverlassenheit: die seinsgeschichtliche Deutung des Nihilismus. Der eigentliche Problemkern, den Heidegger bei seiner Thematisierung des Nihilismus vor Augen hat, kann in der Suche nach der Einsicht vermutet werden, inwiefern das „in sich geschichtliche Fragen der Seinsfrage eine innere Zusammengehörigkeit sogar zur Weltgeschichte der Erde hat. Wir sagten: auf der Erde, um sie herum, geschieht eine Weltverdüsterung. Die wesentlichen Geschehnisse derselben sind: die Flucht der Götter, die Zerstörung der Erde, die Vermassung des Menschen, der Vorrang des Mittelmäßigen" (Einführung in die Metaphysik, a.a.O. 34). Die 1936 bis 1938 entstandenen Beiträge zur Philosophie führen diese Suche fort. Zwei grundlegende Charakterisierungen des gegenwärtigen Zeitalters lassen sich ausmachen. Die erste lautet: „Das Zeitalter der völligen Fraglosigkeit und des Widerwillens gegen jede Zielgründung" (GA LXV, 108). Mit Nietzsche teilt Heidegger die Überzeugung, daß der moderne Mensch unfähig ist zur Geschichtsgründung, d.h. zur Setzung von Zielen, die das menschliche Dasein von Grund auf zu verwandeln vermögen. Aber insofern Nietzsche diese den Nihilismus überwindende Zielsetzung als „Umwertung" versteht, bleibt er abhängig vom Wertbegriff, d.h. von einer Deutung der Seiendheit. Diese nennt aber immer nur das Generelle eines jeglichen Seienden, niemals das Sein selbst (vgl. a.a.O. 75). Jede geschichtliche Deutung der Seiendheit hat im Ansatz bereits die Frage nach dem Sein selbst vergessen. Daher ist auch der von Nietzsche erstmals erkannte Nihilismus „nur der Vordergrund des weit tieferen Geschehens der Seinsvergessenheit" (115). Alle Fraglosigkeit im gegenwärtigen Zeitalter gründet letztlich im Vergessen der Seinsfrage. Aber auch dieser Grund muß noch tiefer gelegt werden. Die zweite Charakterisierung der Gegenwart spricht vom „Beginn des Zeitalters der gänzlichen Fraglosigkeit aller Dinge und aller Machenschaften" (123). Diese Charakterisierung, die nicht unbeeinflußt ist von Jüngers Buch Der Arbeiter und dem vorhergehenden Aufsatz Die totale Mobilmachung, versucht direkt die geschichtliche Erfahrung dessen auszusprechen, was gegenwärtig ist. Es ist die Erfahrung der völligen Machbarkeit alles Seienden; es ist die Erfahrung, die Heidegger später unter dem Titel „Technik" ausspricht. Alles wird gemacht und läßt sich machen, sofern man nur den Willen aufbringt. Bei solcher Auslegung wird das Seiende nur noch als das Gegenständlich-Wirkliche erfaßt und behandelt. Es ist dann im Grunde genommen noch nicht einmal mehr Seiendes im eigentlichen Sinne. Dieser „Fort-schritt ins Unseiende" (119) gründet darin, „daß das Seyn das Seiende verläßt, dieses ihm selbst sich überläßt" (111). Letztlich ist der Nihilismus also eine Wesensfolge der Seinsverlassenheit. Diese ist - ursprünglicher noch als die Seinsvergessenheit - das eigentliche Geschehen, das die gesamte Geschichte des Abendlandes bestimmt (vgl. 115,119 f u. 140 f). — Die Abhandlung Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus (1944/46) pointiert den Gedanken, daß der Nihilismus als die Entstellung des Seienden, d.h. als die Entstehung des Unseienden in der ursprünglicheren Geschichte des Seins selbst gründet,

Nihilismus

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dergestalt, daß auch dem Namen .Nihilismus' Rechnung getragen werden kann. „ W o es nur mit dem Seienden nichts sei, da mag man Nihilismus vorfinden, aber man trifft noch nicht auf sein Wesen, das erst dort erscheint, wo das Nihil das Sein selbst angeht. - Das Wesen des Nihilismus ist die Geschichte, in der es mit dem Sein selbst nichts ist" (Nietzsche II, 338). Emmanuele Severino folgt der Interpretation Heideggers, wonach die abendländische Philosophie durch die Vergessenheit des Sinnes von Sein bestimmt ist, gibt ihr aber durch die Restauration der parmenideischen Philosophie eine andere Richtung. Nach Severino ist das Abendland der Wille, „daß die Dinge Zeit (und daher Geschichte, Werden) sind", d. h. der Wille, „daß die Dinge nicht sind, bzw. das Nicht-Nichts nichts ist. Dieser Wille ist Nihilismus" (Vom Wesen des Nihilismus, a. a. 0 . 1 2 ) . Es ist gerade das tempus, das das Seiende vom Sein trennt (vgl. a. a. 0 . 4 0 ) und dadurch die unbeschränkte Herstellung und Zerstörung der Dinge ermöglicht. Die europäische Kultur der Technik gründet im Nihilismus. Nietzsches Wort vom Tod Gottes als dem größten neueren Ereignis sowie Heideggers Destruktion der Bestimmung Gottes als des Grundes alles Seienden hat Wilhelm Weischedel zu der Frage veranlaßt, was denn heute noch der „Gott der Philosophen" sein kann. „Sicherlich kein Seiendes, und wäre es das höchste Seiende; denn das einzig verbleibende ,ist* ist die in die Fraglichkeit aufgehobene Wirklichkeit.... ,Gott' ist das, von dem her die radikale Fraglichkeit über alle Wirklichkeit und zuletzt über das Fragen selber hereinbricht, das alle vermeintlich sichere Wirklichkeit ins Schweben bringt" (Philosophische Theologie im Schatten des Nihilismus, a.a.O. 148). 2. Nihilismus

als literarisches

Thema

In Karl Immermanns Roman Die Epigonen (1836) findet sich die wahrscheinlich erste literarische Verwendung dieses philosophischen Begriffs. So heißt es von der Hauptfigur, einem jungen Mann, der seine Vorbereitungen auf ein Staatsamt abgebrochen hat: „Hermann hatte sich, wie wir wissen, selbst für einen frühreifen Propheten des Nihilismus gehalten" (Werke II, 115). Die Zuschreibung ist freilich nicht so eindeutig, wie es hier scheint. Möglicherweise läßt sie sich durch eine spätere, rückblickende Charakterisierung dieser Figur verifizieren: „Er hatte die Freiheit von bürgerlichen Verhältnissen gesucht, und nicht bedacht, daß eine solche eigentlich ganz in das Leere führte" (Werke II, 466, vgl. 560). Entscheidend für die Rezeption dieses Romans, der als der erste gesellschaftskritische Zeitroman der deutschen Literatur gilt, war aber die Prägung des Titelbegriffs. Die Epigonen sind die Menschen einer in ihrem Ende noch nicht absehbaren Ubergangsperiode. Die Menschen dieser Zeit - die Handlung spielt noch vor der französischen Julirevolution - sind nicht in der Lage, die großen geistigen Schätze ihrer Väter zu einer Neugestaltung zu verwerten. - Erhellend für die Geistesgeschichte des Nihilismus-Begriffs ist Immermanns Bericht über die erste Reaktion auf den Roman: „Während das Werk in seinem Schlüsse gerade lehrt, daß die schrecklichsten Zerstörungen die in der Zeit schlummernden Heilungskräfte nicht vernichten können, sahen viele nur die abgelebten Figuren, durch welche sich das Thema seiner Natur nach auch freilich hindurcharbeiten muß, und verwarfen die Arbeit als eine nihilistische" (Werke IV, 490 f). In seiner Novelle Die Nihilisten (1853) stellt Karl Gutzkow einen bestimmten Typus der jungen Generation des Vormärz dar. Repräsentanten dieses Typus sind Konstantin Ulrichs, Doktor der Rechte und brillianter Salonintellektueller, und Jean Reps, ein halbverdorbener Predigtamtskandidat. Ein theoretischer Skeptizismus und eine „vogelperspektivische Weltanschauung" bewirken bei ihnen die Unfähigkeit zum praktischen Engagement. Eine der Identifikationsfiguren der Novelle, der Advokat Eberhard Ott, der sich in allem Wandel treu zu bleiben versucht, spricht ihnen daher jegliches Verständnis für geschichtliches Handeln ab: „Dies Geirrthaben der Zeit hat eine ebenso wahre Berechtigung, wie einst die Unentschlossenheit Hamlets - nur die Nihilisten kommen darauf hinaus, alles Hoffen und Träumen und jedes Wollen überhaupt für überflüssig zu erklären" (336). Der 1862 erschienene Roman Väter und Söhne von Turgenjew hat am meisten zur Verbreitung der Figur des Nihilisten beigetragen. Sein Titel repräsentiert den politischen Konflikt zwischen der radikalen Jugend und den zögerlichen Liberalen unter den Konservativen. Seine Handlung spielt 1859, zwei Jahre vor der Aufhebung der Leibeigenschaft. Bei einem Besuch des väterlichen Guts führt der Student Arkadij Kirsanow seinen Freund Basarow, einen werdenden Arzt, ein und bezeichnet ihn dabei mit einem gewissen Stolz als „Nihilisten". Den ersten Versuch seines verblüfften Vaters Nikolaj K., den Nihilisten als „einen Menschen,... der nichts anerkennt," (25) zu definieren, verschärft sein Onkel Pawel K., der die intellektuelle Szene besser kennt, duch die Bestimmung „ . . . der nichts achtet". Arkadij selber erklärt: „Ein Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität verbeugt, der kein einziges Prinzip auf Treu und Glauben gelten läßt, gleichgültig, welchen Ansehens sich dieses Prinzip auch erfreuen möge" (25). Nach diesem Vorspiel kommt es zur Auseinandersetzung zwischen den eigentlichen Kontrahenten. Für Basarow, der alle menschlichen Be-

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Nihilismus

Ziehungen unter anatomischen und physiologischen Gesichtspunkten sehen möchte und für den jede andere Betrachtungsweise „Romantik, Unsinn, Fäulnis, Künstlertum" (35) bedeutet, ist Pawel Kirsanow ein alter, tatenloser Romantiker. Dieser Streit bildet den Höhepunkt des 1. Teils des Romans (Kap. 1-14). Im 2. Teil (Kap. 15-28) erfährt die Gestalt des Basarow eine Individualisierung: „Er wurde Mensch, statt eine Verkörperung der Theorie des Nihilismus zu sein...", pointierte Pisarew in seiner bekannten Studie über den Romanhelden (zit. bei Schmidt 83). Der Roman Die Dämonen (1871/72) ist von -»Dostojewski] ursprünglich als politisches Pamphlet gegen die Anhänger der modernen (westlichen) Ideen geplant worden. Diesem aktuellen Plan hat er dann in einem zweiten Anlauf den älteren Plan, das „Leben eines großen Sünders" darzustellen, unterlegt. Der Roman geht daher nicht auf in einer Ideologiekritik des Nihilismus. - Die Figuren, durch den dieser dargestellt wird, sind von verschiedenem Grad an Radikalität. Eine ausdrücklich als Nihilistin bezeichnete Studentin vertritt lediglich positivistische und emanzipatorische Ideen (vgl. 444ff). Viel weiter geht dagegen Kirillow, der in der Vernichtung Gottes den Wendepunkt der Weltgeschichte sieht, in dem die physische Umwandlung des Menschen eingeleitet wird. „Wer sich zu töten wagt, ist ein Gott. Jetzt kann es jeder machen, daß Gott nicht mehr ist und überhaupt nichts ist" (135). In eine andere Richtung geht der radikale Sozialismus von Schigaljow. „Jeder gehört allen und alle jedem" (476). Für den Zyniker Pjotr Werchowenskij ist selbst das noch zuviel Philantropie und zukünftiges Ideal; für ihn zählt allein das unmittelbar erreichbare Erlebnis einer neuen Kraft. Der die alten Kräfte zerstörende Sozialismus, jegliche Subversion, die sinnlose Sabotage, ja sogar die sittliche Zersetzung des Volkes dienen ihm gleichermaßen als Mittel, das Erscheinen eines Usurpators vorzubereiten. In dem schönen, aber völlig verderbten Stawrogin - dem Helden des „Sünder"-Romans - glaubt er ihn gefunden zu haben. Der Fürst aber verweigert sich. Hier liegt eines der Rätsel des Romans. Der radikalste Nihilist durchbricht seinen Nihilismus, denn er verehrt wirklich Stawrogin und benutzt ihn nicht etwa nur. Doch dieser, den seine eigenen destruktiven Tendenzen zutiefst betroffen machen, lehnt das Angebot ihrer Rechtfertigung durch eine nihilistische Doktrin strikt ab. Für Dostojewskij selbst blieb hier eine Frage offen. Bei den Vorarbeiten notierte er sich über Stawrogin: „Manche halten ihn für einen Nihilisten (z.B. die Mutter), ja er gilt sogar allgemein für einen Nihilisten. Nur Gr. [d.i. in der endgültigen Fassung der feinsinnige Liberale Stcpan Werchowenskij; d. Vf.] sieht, daß das nicht ein Nihilist ist (aber was denn sonst?)" (SW 6, 1069). 3. Nihilismus

als ästhetische

und literaturwissenschaftliche

Kategorie

Es w a r zuerst Jean Paul, der dem Begriff des Nihilismus eine ästhetische Bedeutung verliehen hat. In seiner 1804 zuerst erschienenen Vorschule der Ästhetik sieht er im „poetischen Nihilismus" (Werke V, 30) und im poetischen Materialismus die beiden Extreme, die die aristotelische Definition der Poesie - schöne (geistige) N a c h a h m u n g der N a t u r - ausschließt. Jener verachtet das Studium der N a t u r , dieser kopiert sie bloß. Die Verachtung der N a c h a h m u n g bei den poetischen Nihilisten folgt für Jean Paul „aus der gesetzlosen Willkür des jetzigen Zeitgeistes - der lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet, um sich nur freien Spiel-Raum im Nichts auszuleeren" (31). In der 2. Aufl. von 1813 nennt er Novalis sowie die „Kunst-Romanschreiber" - gemeint ist wohl Tieck - „ N a c h b a r n der Nihilisten" (33), da sie „lieber einen Dichter als ein G e d i c h t " (34) liefern. Wahrscheinlich in der direkten Nachfolge dieser Charakterisierung sind die Autoren der älteren R o m a n t i k sowie ihre Romangestalten immer wieder mit dem Nihilismus in Verbindung gebracht w o r d e n , z. B. bei Karl Rosenkranz, Brentanos Godwi und Arnims Dolores (Aesthetik des Häßlichen, Königsberg 1853, 135) oder bei Rudolf H a y m die Hauptgestalten von Tiecks William Lovell (Die romantische Schule, Berlin 1870, 44.47). Im 20. Jh. hat sich schließlich das literarhistorische Paradigma vom Nihilismus der —• Romantik herausgebildet (vor allem W. Kohlschmidt u. D. Arendt). Als entscheidend für diese Charakterisierung werden die bedeutsamen Schilderungen von Erfahrungen der Nichtigkeit oder des abgründigen Nichts, die häufigere Verwendung der Formel „Alles oder N i c h t s " sowie der beliebte Begriff der Annihilation hervorgehoben. Als exemplarisch werden insbesondere Die Nachtwachen des Bonaventura angesehen. Die Einschränkung auf die R o m a n t i k vermeidet der Begriff des „literarischen Nihilismus" bei Wilhelm Emrich. Für ihn sind die Nachtwachen nicht End-, sondern Ausgangspunkt nihilistischer Literatur, wie sie d a n n bei Büchner, Grabbe, im Naturalismus, im Expressionismus und in der Gegenwart schließlich bei Ionesco und Samuel Beckett

Nihilismus

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erscheint. Als nihilistische Topoi nennt Emrich: das Weltspiel als sinnlos sich drehendes Karussell, der Mensch als Automat, Marionette oder Maske, der Mensch als ewig Lebendig-Toter, das endlose Gehen als fortwährendes Auf-der-Stelle-Treten, die permanente Anwesenheit der Katastrophe, die Aufhebung des Komischen und Tragischen durchs Groteske (vgl. Emrich 1979, 136Í.194). Für Franz -»Kafka macht Emrich eine Sonderposition geltend. Denn indem dieser sich beim Nihilismus die Möglichkeit eines Rückgriffs auf vornihilistische Traditionen wie auch die Möglichkeit eines geschichtsphilosophischen Vorgriffs auf seine dialektische Überwindung versage, gehe er zweifellos bis zur Identifikation mit dem Nihilismus. Andererseits suche er auch immer wieder das „unbekannte Gesetz" in uns, das den Nihilismus nicht zur endgültigen Wirklichkeit der menschlichen Existenz werden lasse (vgl. a . a . O . 142f). Die bedeutsamste Iiterarästhetische Auseinandersetzung mit dem Nihilismus findet sich in den Essays und Reden von Gottfried Benn. Einer seiner Ausgangspunkte für diese Auseinandersetzung ist der konstruktive Geist, der als ein dem Leben übergeordnetes Prinzip bestimmt wird. Als formendes Prinzip transzendiert er alle Lebenszwecke, er ist nicht „in die Gesundheit des Biologischen" eingelassen. Diese „bionegativen Werte" setzen ihn wiederum in ein natürliches Verhältnis zum Nihilismus. Mit diesem teilt er, d a ß es ihm nicht um die Bewältigung des Lebens geht. „Aus dieser transzendenten Einstellung ergibt sich dann vielleicht eine Überwindung, nämlich eine artistische Ausnutzung des Nihilismus, sie könnte ihn lehren, ihn dialektisch, das heißt provokant zu sehen" (Nach dem Nihilismus, 1932, G W I, 159). 4. Nihilismus

als Indikator

in der politisch-gesellschaftlichen

Diagnostik

In seiner 1826 bei der Eröffnung der Ludwig-Maximilians-Universität in München gehaltenen Rede Ueber die Freiheit der Intelligenz hat Franz von -»Baader im Hinblick auf „das grosse Problem unserer Zeit, - das Problem der Reunión, Restauration und Weihe der Wissenschaft durch Religion, so wie der Bekräftigung der Religionsdoktrin durch die Wissenschaft" (SW I, 149) der Universität die Aufgabe zugemutet, „sowohl dem Nihilismus, als dem Obscurantismus unserer Zeit, d . h . sowohl dem für die Religion destructiven Missbrauch der Intelligenz, als der gleich schlechten, theils aus Wissensscheue, teils aus Verachtung des Wissens hervorgehenden Inhibition ihres Gebrauchs mit Erfolg entgegen zu wirken" (ebd.). Der Mißbrauch der Intelligenz besteht nach Baader in ihrer revolutionierenden Ausübung, d . h . wenn sie „anstatt von ihrem Begründenden auszugehen, gegen dasselbe, als ob es ein Hemmendes wäre, sich wendet und erhebt" (Ueber Katholicismus und Protestantismus, 1824, SW 1,76). Solcher Zweifel und Protest am Begriff der Autorität zerstört nicht nur die kirchliche, sondern auch die bürgerliche Societät. Diese Tendenz, die Baader vor allem mit dem neueren Protestantismus identifiziert, aber auch im katholischen Klerus zu spüren glaubt (vgl. SW I, 74f), charakterisiert er in einem Brief an Windischmann (6. April 1824) wiederum als „Nihilism unserer Zeit, welcher gegen jeden Kirchlichen Lehrbegriff als solchen protestirt und sowohl die Kirche als den Staat nicht als etwas erklärt . . . sondern vorerst noch Nichts d.i. Ein problematisches, unfertiges und erst zu machendes (konstituierendes)" (Lettres inédites 1,374). Bei dem spanischen Diplomaten und Staatsphilosophen Donoso Cortés fällt - ein Vierteljahrhundert später und angesichts der aufkommenden sozialistischen Theorien - die Wendung zum Konservatismus radikaler aus als bei Baader. Gemäß seinem 1851 erschienenen Hauptwerk Katholizismus, Liberalismus und Sozialismus nach ihren Grundprinzipien - Ein Essay (die deutsche Übersetzung trägt den Titel Der Staat Gottes. Eine katholische Geschichtsphilosophie) schließt der Sozialismus - Cortés denkt vor allem an Proudhon - aus der menschlichen N a t u r die Möglichkeit aus, aus der Unschuld in die Sünde zu fallen. Ohne diese Möglichkeit könne aber die Willensfreiheit nicht verstanden werden. Deren Negation habe wiederum eine Reihe weiterer Negationen zur Folge: nicht nur die aller gesellschaftlichen, politischen und familialen Verantwortlichkeit, sondern auch die der Solidarität und Einheit der Mensch-

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Nihilismus

heit, Gesellschaft und Familie. So führe die Negation der Sünde letztlich zum „allseitigen Nihilismus" (326). „Alle sozialistischen oder, genauer gesagt, alle rationalistischen Doktrinen endigen unweigerlich im Nihilismus. Ausser Gott ist das Nichts. Richtig betrachtet ist darum nichts natürlicher und logischer als dass, wer sich von Gott trennt, im Nichts endet" (329). Vor allem dem „russischen Nihilismus" ist frühzeitig eine politisch-destruktive Tendenz zugeschrieben worden. Die Verwendung des Nihilismus-Begriffs ist hier zum Teil ein Mißverständnis, zum Teil ein gesuchter Anlaß zur Polemik. Schon 1864 hat Alexander Herzen den Kritikern der Nihilisten vorgeworfen, sich allzusehr auf die Form der Negation fixiert zu haben, ohne zu berücksichtigen, daß die Negation ihre Radikalität aus der Rückständigkeit der negierten Verhältnisse gewinnt. „Sie haben ihre Aufmerksamkeit immer nur auf die Form gerichtet und sich nie die Frage vorgelegt, woher denn dieses zersetzende Prinzip darin stammt, das soviel Zerstörung verursachte und soviel Hoffnung hervorrief. Die Geschichte des Nihilisten war ihnen unbekannt" (zit. nach Schmidt 18). In dem Aufsatz Über Basarow (1869) hat er einige Beispiele für den Typus des Nihilisten gegeben: den antiidealistischen Bielinski, der schon 1836 den Begriff des Nihilismus als Synonym für ,Idealismus' verwendet habe, sowie den Anarchisten Bakunin und sodann Petraschewski, das Haupt der sozialistischen Verschwörung von 1849. Möglicherweise geht auf diese eigentlich ironische Zuschreibung die hartnäckig festgehaltene Identifizierung des Nihilismus mit dem Anarchismus zurück. Bakunin hat sich aber nie als Nihilist verstanden. Das gilt im Grunde genommen auch für die sog. russischen Nihilisten Tschernyschewskij, Dobroljubow und Pisarew. Sie waren Anti-Romantiker und AntiMetaphysiker, Kritiker der familiären und staatlichen Despotie, Befürworter der Emanzipationsbewegung und frühsozialistische Utopisten. Insgesamt waren sie Anhänger eines szientistisch geprägten Fortschrittsgedankens. Folgerichtig hat Pisarew 1864 bereits den Begriff des Nihilisten durch den des Realisten ersetzt (vgl. Goerdt, Russ. Phil. 393-422; Goerdt, Nihilismus 85f; Schmidt, 14-36). Im 20. Jh. wird der Nihilismus-Begriff noch einmal relevant in der Auseinandersetzung mit dem -»Nationalsozialismus. Hermann Rauschning war 1933 nach dem nationalsozialistischen Sieg in Danzig Senatspräsident der Freien Stadt, trat aber 1934 wegen der Parteiforderung, Danzig gleichzuschalten, zurück und ging 1936 ins Schweizer Exil, wo er zwei Jahre später die breit angelegte Irrtumsschrift Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im dritten Reich veröffentlichte. Den Nationalsozialismus bezeichnet er als eine doktrinlose Revolution. Diese moderne Form der Revolution geschehe nicht mehr im Namen einer Doktrin oder rationalen Lehre. Allen politischen Motiven käme vielmehr nur noch die Bedeutung vorübergehender Mittel zu, also nur „funktionelle Bedeutung im Weitertreiben der Ordnungszersetzung" (85). Das Fehlen letzter Ziele und bindender Motive sowie ein zerstörender umwälzender Bewegungscharakter seien daher die spezifischen Kennzeichen dieser Revolution. „Es ist das besonders Gefährliche der doktrinlosen Revolution, daß sie der zur politischen Aktion gewordene Ausdruck eines totalen Nihilismus ist" (84). Für Georg Lukäcs ist der Nihilismus neben -»Agnostizismus, -»Relativismus, Hang zur Mythenbildung u.a. eine Erscheinung des modernen Irrationalismus, d.h. der Grundform, in der sich das gesellschaftliche Sein der imperialistischen Periode in der bürgerlichen Intelligenz widerspiegelt. Grundlegend für diese Periode ist die zunehmende Erfahrung der Unsicherheit dieses Seins. Der „lebensphilosophische Nihilismus" bei Simmel zeigt die Auflösung der bürgerlichen Welt der ,Sekurität' noch als ambivalente Erfahrung: das Individuum erlebt sein vollständiges Befreitsein von alten Bindungen und zugleich seine trostlose Verlassenheit; es erhebt den Anspruch, Normen des Handelns aus sich selbst zu begründen, und praktiziert zugleich einen wachsenden Nihilismus gegenüber jeder Norm (vgl. Die Zerstörung der Vernunft, II, 128). Im „verzweifelten Nihilismus" Heideggers werde diese Erfahrung zur unerbittlichen Entlarvung der inneren Nichtigkeit des Individuums gesteigert (vgl. 178). Der Faschismus schließlich strebe um

Nihilismus

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der Organisation des imperialistischen Aggressionskrieges willen einem „militanten Nihilismus, einer bewußten Erschütterung aller Gesichertheit in der Existenz des Einzelmenschen zu. . . . der Faschismus will den Typus eines durch nichts gehemmten, vor nichts zurückschreckenden brutalen Landsknechts hochzüchten" (202). Einen bedeutenden Einfluß auf die Ausbildung der Nihilismus-Diskussion im 20. Jh., insbesondere was die Einbeziehung des Phänomens der Technik angeht, ist dem großen Essay Der Arbeiter (1932) von Ernst Jünger zuzurechnen. „Die Technik ist die Art und Weise, in der die Gestalt des Arbeiters die Welt mobilisiert" (150). Die Gestalt des Arbeiters „fördert ebensosehr die totale Mobilmachung, wie sie alles zerstört, was sich dieser Mobilmachung widersetzt" (ebd.). - Der Nihilismus-Begriff selbst wird im Arbeiter freilich nur gelegentlich verwendet. Erst in dem Festschriftbeitrag Über die Linie zum 60. Geburtstag von Heidegger bringt Jünger seine diagnostischen Studien unter diesen Titel. An Nietzsche und Dostojewskij kritisiert er, daß ihre Prognosen viel zu günstig gewesen seien, daß sie den Nihilismus nicht als letzte, tödliche Phase angesehen hätten. Einem Optimismus verfällt man nach Jünger immer dann, wenn man den Nihilismus mit dem Chaotischen, dem Kranken oder dem Bösen verwechselt, denn in diesen Fällen gibt es wesensmäßig immer Gegenmittel. Im Hinblick auf die erste Verwechslung weist Jünger auf den Prozeß hin, „in dem der Staat zum nihilistischen Objekt wird" (a. a. 0 . 2 5 4 ) : „Inzwischen hat sich erwiesen, daß der Nihilismus mit ausgedehnten Ordnungssystemen wohl harmonieren k a n n . . . D i e Ordnung ist für ihn ein günstiges Substrat; er bildet es zu seinen Zielen u m . " Gegen die zweite Verwechslung führt Jünger die gewaltigen Arbeits- und Willensleistungen an, die sich der aktive Nihilist zumutet. Dazu gehöre auch der spezielle Arbeitscharakter, den man als Sport bezeichne. Gegen die dritte Verwechslung argumentiert er schließlich, daß das Verbrechen für den Nihilisten keine Rolle mehr spiele: „Es tritt aus dem moralischen Zusammenhange über in den automatischen. Wo der Nihilismus zum normalen Zustande wird, bleibt dem einzelnen nur noch die Wahl zwischen Arten des Unrechts" (262). Quellen (wie

zitiert)

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Claudius Strube Nikephoros Blemmydes -»Nicephorus Blemmydes Niketas von Remesiana -»Nicetas von Remesiana Niketas Stethatos -»Nicetas Stethatos Nikolaus I., der Große, Papst (858-13. Nov 867) 1. Leben

2. Amtstätigkeit

3. Nachwirkung und Bedeutung

(Quellen/Literatur S. 539)

1. Leben Nikolaus wurde als Sohn des Regionars Theodor geboren, entstammte also wohl keiner der stadtrömischen Adelsfamilien. Körperliche Schönheit, ausgezeichnete Bildung und hervorragende Eloquenz sollen seine Karriere erleichtert haben. Sergius II. (844-47) holte ihn ins „Patriarchium" und weihte ihn zum Subdiakon; unter Leo IV. (847-55) stieg er zum Diakon auf, und Benedikt III. (855-58) machte ihn schließlich zu einem seiner engsten Vertrauten. Als Benedikt starb, lagerte Kaiser Ludwig II. (König von Italien 844-875, Kaiser seit 850) gerade bei Rom, und „mehr durch seine Gegenwart und Gunst als durch die Wahl des Klerus" (Annales Bertiniani) wurde Nikolaus zum Nachfolger Petri gewählt und in Ludwigs Anwesenheit auch geweiht (24.4.858). Der neue Papst galt als Anhänger der „Frankenpartei" in Rom; ihre Wortführer - allen voran Bischof Radoald von Porto, seit dem Spätjahr 861 wohl auch Anastasius (Bibliothecarius) - traten alsbald als seine Berater hervor. Gleichwohl leistete ihm Ludwig II. wenige Tage nach der Weihe den Stratordienst. 2.

Amtstätigkeit

Aus Nikolaus' ersten beiden Amtsjahren ist nahezu nichts bekannt. Doch Nikolaus, der sich unter Sergius II. und Leo IV. bereits mit ersten Ansätzen zu einem neuen Selbstbewußtsein apostolischer Autorität konfrontiert sah, ahnte, worauf die Entwicklung zusteuern mußte: auf eine Klärung des Verhältnisses von päpstlicher Autorität und kaiserlicher Gewalt. Er besann sich auf die Traditionen seiner römischen Kirche, die ihm nicht zuletzt der Reichtum ihres Archivs bewahrte. Kein anderer Papst in karolingischer Zeit sammelte so ausführlich und verschaffte so nachhaltig den Prärogativen der römischen Kirche und des apostolischen Stuhles Gehör wie er; keiner verstand es gleich ihm, an den apostolischen Stuhl herangetragene Einzelfälle gegen alle partikularkirchliche Selbständigkeit oder die Interessen weltlicher Herren ins Grundsätzliche zu wenden. Die irdischen Rechte der römischen Kirche wurden ebenso gewahrt wie ihre geistlichen; der Papst schöpfte aus den venerandae leges des Justinianischen „ C o d e x " und der „Institutionen" wie aus dem langobardischen und fränkischen Kapitularien-Recht. Der päpstliche Wirkensbereich erstreckte sich über die ganze Erde - ein Schreiben an die Christen per Asiam et Libiam constituti ist erhalten (ep. 98) - , faktisch freilich nur auf Italien, die verschiedenen Frankenreiche, die Bretagne, England, auch auf die Dänen, dann auf das entstehende „Großmährische Reich", auf die Bulgarenmission und nach

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Konstantinopel; Italien und das Westfrankenreich traten dabei stärker hervor, als das Reich Ludwigs des Deutschen. Beziehungen nach Nordwestafrika, ins mozarabische Spanien und nach Irland scheinen zu fehlen. Immer wieder wurde Nikolaus von Geistlichen und Laien zumal aus dem Frankenreich, aber auch aus Mähren um Hilfe angerufen. Doch wandte auch er sich an die fränkischen Theologen, um sich ihrer Unterstützung gegen die Byzantiner zu vergewissern. Er empfing die „Slawenapostel" - » C y rillus und Methodius in R o m und weihte den letzten zum Erzbischof. Er faßte im Rückgriff auf die Collectio Thessalorticensis wohl den kühnen Plan einer Wiederherstellung der Kirchenprovinz Illyrien ins Auge. Die Gleichzeitigkeit, mit der dieser Papst die schwierigsten und brisantesten Angelegenheiten meisterte, ließ erstaunen und weckte neben Hoffnungen vielfältige Sorgen in den Reihen der weltlichen Herren und des fränkischen Episkopats. Als endlich nach zwei Jahren Schweigens die politischen Informationen des Liber Pontificalis mit der Nachricht über Kaiser Michaels III. Gesandtschaft nach Rom im Jahre 860 einsetzten, zeigten sie den Nachfolger St. Peters bereits auf der Höhe der neu konzipierten Aufgaben seines Amtes. Kurz darauf ( 2 4 . 2 . 8 6 1 ) berief Nikolaus seine erste Synode, hißte die Fahne des Widerstandes gegen imperiale Präpotenz, indem er die aus den beiden vorangegangenen Pontifikaten „ererbte" Auseinandersetzung mit Erzbischof Johannes von Ravenna auf ihren Höhepunkt führte, und ließ die Kette politisch wie kirchlich eindrucksvollster Maßnahmen bis zu seinem Tode nicht mehr abreißen. Mochten die Umstände seiner Wahl zunächst einen dem Kaiser willfährigen Pontifikat haben erwarten lassen, so gelangte Nikolaus in der Ruhe seiner beiden ersten Amtsjahre offenbar zu jenen Überzeugungen, die ihn schließlich als einen der hervorragendsten Vertreter, als einen der £chöpfer des päpstlichen Universalepiskopats auswiesen. 2.1. Byzanz. Der Basileus und sein Mitkaiser Bardas hatten 858 den Patriarchen Ignatius, einen hochadeligen Repräsentanten des zelotischen Mönchtums, der bereits mit Leo IV. und Benedikt III. zerfallen war, gezwungen, aus dem Amt zu weichen, und den gelehrten —»Photius, bis dahin noch Laie, an seine Stelle gesetzt; sie erhofften nun 860 die Zustimmung des Bischofs von Rom zu dem kirchenrechtlich anstößigen, aber nicht vorbildlosen und Nikolaus zunächst vielleicht genehmen Vorgehen. Der Papst verlangte freilich eine genauere Untersuchung durch den apostolischen Stuhl. Es ging auch um die Prärogativen seines eigenen Amtes. Nikolaus erinnerte sich aller alten Gravamina gegen Ostrom; er forderte den Vikariat von Thessalonich, die sizilischen und kalabresischen Patrimonien und weitere Rechte für die römische Kirche zurück - Verluste, die sie im 8. Jh. hatte hinnehmen müssen. Unklar ist, was im einzelnen geschah, fest steht, daß die Synode, die unter Vorsitz der päpstlichen Gesandten am Bosporus tagte (April 861), Ignatius verurteilte und Photius anerkannte, während Nikolaus bald darauf das jeweilige Gegenteil verlangte, schließlich Photius für abgesetzt erklärte und aus der Kirchengemeinschaft verstieß (863). Konkurrierende Interessen in der Bulgarenmission (-»Bulgarien) verschärften die Divergenzen zwischen Rom und Konstantinopel noch weiter. Denn der Bulgarenkhan Boris-Michael, der sich zunächst an Ludwig den Deutschen gewandt hatte, zeigte Bekehrungsabsichten und suchte in der Hoffnung auf eine autokephale Kirche unabhängig von Byzanz den Anschluß an den römischen Patriarchen. Aber er forderte, was Nikolaus nicht gewähren konnte (erst ein Patriarchat, dann die Erhöhung eines Bischofs zum Erzbischof), und ließ sich nach Nikolaus' Tod schließlich doch durch die griechische Mission gewinnen. Photius seinerseits aktualisierte zuvor gegen den Papst den filioque-Streit (-»Trinität) und schleuderte alsbald wegen Häresie das Anathem gegen den Papst (867). Da starb Nikolaus (13.11.867): auf dem Höhepunkt einer Auseinandersetzung, die zum ersten Mal in der Geschichte der griechischen und lateinischen Kirche in wechselseitiger Deposition und Bannung ihrer höchsten Priester gipfelte. Den bald folgenden Sturz seines Widersachers und die (vorübergehende) Rehabilitation des Ignatius erlebte Nikolaus schon nicht mehr. 2.2. Ravenna. Der Konflikt mit Johannes von Ravenna blickte auf ältere Wurzeln zurück. Der Bischof der einstigen Kaiser- und Residenzstadt des Exarchen strebte nach Autokephalie und, gestützt auf seinen Bruder Gregor, den Herzog der Emilia, nach weltlicher Unabhängigkeit vom römischen Patriarchen. Nikolaus mußte die kirchliche Suprematie des apostolischen Stuhles und die weltlichen, auf die Schenkungen der älteren Karolinger zurückführenden Rechte der römischen Kirche verteidigen. Dreimal lud er den Johannes erfolglos vor eine römische Synode und ließ ihn dann durch das erste von ihm einberufene Konzil wegen Kontumaz und Häresie suspendieren und

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exkommunizieren (Feb. 861). Anschließend eilte er, um die Dinge zu ordnen, selbst nach Ravenna. Vergebens nahm sich Kaiser Ludwig II. des Verurteilten an, Nikolaus blieb hart und der Ravennate mußte sich unterwerfen (Nov. 861). Der Triumph über den Erzbischof war freilich nicht der einzige Affront gegen den Kaiser; der wichtigste Kanon der Februar-Synode betraf die Papstwahl und erinnerte an die dabei zulässigen Wähler, ohne die bislang verlangte kaiserliche Wahlbestätigung oder die Gegenwart kaiserlicher Gesandter noch zu erwähnen. Er ließ ahnen, was sich gleichzeitig anbahnte. 2.3. Lothars II. Eheprozeß. König Lothar II. (855-869), der Bruder des Kaisers und Herrscher des nach ihm benannten „regnum Hlotharii" (Lothringen), hatte von seiner rechtmäßigen Königin Thietberga keine Erben, wohl aber von seiner „Friedelfrau" Waldrada. Was lag näher, als die eine Ehe zu trennen, um der anderen den Weg in die Legitimität zu öffnen. Ludwig II., auch er des längeren schon verheiratet und ohne Söhne, dürfte zugestimmt haben, ebenso einige - nicht alle — lothringische Bischöfe unter Führung der beiden Metropoliten Gunthar von Köln und Thietgaud von Trier (860; 862). Lothar aber bedurfte der Hilfe des Papstes, denn die verstoßene Königin war sich der Unterstützung des westfränkischen Königs Karls II. des Kahlen (840-877) und -»Hinkmars von Reims gewiß. Gemeinsam mit Ludwig dem Deutschen (840-876) bat er den Papst zu einer Synode nach Lothringen propter generalem solicitudinem (MGH. Ep. V,213) (861). Die daraufhin tatsächlich geschickten Legaten bestätigten die Scheidung. Inzwischen hatte freilich Karl II. in Rom interveniert und Nikolaus sah sich genötigt, über die Interessen aller Karolinger und über die Zukunft des Frankenreiches zu entscheiden. Er kassierte das Urteil seiner Gesandten, unter denen wieder Bischof Radoald hervorragte, machte ihnen den Prozeß und setzte sie ab; Radoalds früheres Vorgehen in Konstantinopel wurde ihm nun zum Vorwurf gemacht und zum Verhängnis (863). Die beiden nach Rom geeilten lothringischen Erzbischöfe verfielen dem Kirchenbann, wurden ihrer Ämter enthoben und, als sie sich nicht fügten, für immer aus der Kirche gestoßen: „Verflucht sei, wer Lehren, Befehle, Verbote, Anordnungen oder Dekrete des Bischofs auf dem apostolischen Stuhl zum Schutze des katholischen Glaubens und der Kirchendisziplin, zur Zurechtweisung der Gläubigen, zur Besserung der Verbrecher oder Verhütung unmittelbar drohenden und künftigen Unheils mißachtet" (ep. 18; 863). Ludwig II. war „außer sich vor Wut" und eilte mit seinen Truppen vor Rom: „Die königliche Ehre erhob sich gegen die apostolische Würde" (Libellus de imperatoria potestate in urbe Roma). Die Gegner des Papstes sammelten sich um ihn: Radoald, Johannes, Gunthar und Thietgaud. Der Kaiser suchte vergeblich, den Papst zur Zurücknahme seines Urteils zu zwingen. Nikolaus rief das Volk auf und ließ Mönche und Nonnen in Bittprozessionen um die Mauern ziehen und in allen Kirchen der Stadt Messen „gegen übel handelnde Fürsten" zelebrieren; der Kaiser bat den Papst um Versöhnung und erreichte nicht mehr, als daß demselben für die Zukunft in Gestalt eines Apokrisiars ein „Aufpasser" zur Seite gestellt wurde. Die Aufgabe übernahm Bischof Arsenius von Orte (gest. 868), der Onkel oder Vater des damals bedeutendsten Mannes im „Patriarchium", Anastasius Bibliothecarius. Ein Wechsel in der päpstlichen Politik war schwerlich zu erwarten, auch wenn Ludwig es erhoffte und kaiserlich gesonnene Quellen es postulierten. Die apostolische auetoritas hatte über die kaiserliche potestas obsiegt (864). Vergebens auch flüchteten Gunthar und Thietgaud sich erst in überstürzte Gewalt-, dann in großangelegte Propagandaaktionen: „Dieser Papst - so warnten sie - zählt sich als Apostel unter die Apostel und macht sich zum Kaiser der ganzen Welt" (Annales Bertiniani ad a. 864). König Lothar ließ beide fallen und suchte sein Heil in gehorsamer Nachgiebigkeit gegenüber dem apostolischen Vater. Auch er scheiterte. Papst Nikolaus forderte die uneingeschränkte Rehabilitierung Thietbergas und die Verstoßung der Kebse - für die Verkirchlichung des Eherechts eine in ihrer Wirkung kaum zu unterschätzende Maßnahme. Das Mittelreich sollte keinen legitimen Erben erhalten. 2.4. Rothad von Soissons. Auch Bischöfe suchten ihre Zuflucht in Rom. Rothad von Soissons war von einer westfränkischen Reichssynode unter Führung Hinkmars von Reims abgesetzt worden (862). Derartiges geschah öfter und galt für Recht. Jetzt aber wurde an den Papst appelliert, und Nikolaus griff ein. Er forderte Rothads Restituierung oder die Wiederaufnahme seines Verfahrens in Rom, denn „nach den Dekreten heiliger Päpste und nach den Statuten heiliger canones ist sein Fall unserem Urteil vorbehalten"; „bis auf den Tod" war Nikolaus willens, die Privilegien des apostolischen Stuhles zu verteidigen, die er durch die westfränkische Synode und Hinkmar angegriffen sah (ep. 60; 863). Er setzte sich durch. Der betagte Bischof reiste nach Rom; in seinem Gepäck aber führte er eine Waffe mit sich, die angetan war, die Stellung des kanonischen Richters noch weiter zu stärken: die Dekretalen Pseudoisidors (s. TRE 19, 10,13ff). Nikolaus rehabilitierte ihn (864) in der Tat; von einem Legaten geleitet, kehrte Rothad in sein Bistum zurück. Der Papst bedurfte dazu freilich der neuen „Bastardliteratur" (Fuhrmann) nicht, er behandelte sie, deren Spuren er eben gerade nicht im Archiv der römischen Kirche finden konnte, eher mit spitzen Fingern, zitierte nicht aus ihr, verwarf sie aber auch nicht; aufkommende Zweifel an der Geltung der bislang unbekannten Papstbriefe erstickte er gleichwohl im Keim: „Die Dekretalen der römischen Bischöfe

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sind aufzunehmen, auch wenn sie nicht im codex canonum eingeordnet sind". Der Satz sollte zu einer der fundamentalen Maximen des jüngeren Kirchenrechts werden (ep. 71 = Decr. Gratiani D.19 c.l). 2.5. Widerstand und Erfolg. Die Warnungen der verurteilten lothringischen Metropoliten verhallten nicht ungehört; einige suchten der Gefahr, die ihrer bisherigen kirchlichen Unabhängigkeit drohte, zu begegnen. Karl II. neigte nur soweit dazu, den Papst zu unterstützen, als dieser seine Gegner schwächte; gemeinsam mit Ludwig dem Deutschen und gewiß beraten von Hinkmar von Reims untersagte er etwa - wie Ludwig - seinen Bischöfen, Nikolaus' Einladung zu einem Reichskonzil in Rom, das die lotharingische Frage endgültig klären sollte, Folge zu leisten (865); die geplante Kirchenversammlung fand denn auch nicht statt. „Hart" traf es den Papst, und „für überaus tadelnswert" hielt er es (ep. 38). Die fränkische Weigerung traf den Kern seines Pontifikats. Nikolaus selbst hatte wiederholt Einladungen zu Reichssynoden nördlich der Alpen, welche strafend und korrigierend in die allgemeinen Wirrnisse und in Lothars II. Eheprozeß eingreifen sollten, ausgeschlagen; zu brisant war die Frage, wer zu einer allgemeinen Synode einberief, die Frankenkönige oder der Nachfolger Petri, und wo dieser sich an der Spitze der lateinischen Kirche zeigte, in einer fränkischen Bischofsstadt oder in Rom. „Eine Synode wird nicht vom Papst, sondern vom Kaiser einberufen", forderte noch der prokaiserliche Libetlus de imperatoria potestate irt urbe Roma und läßt ahnen, was Nikolaus I. in Frage stellte. Seine Briefe wurden seit dem RothadVerfahren strenger im Ton und holten rechtlich weiter aus als je zuvor. Vor allem im westfränkischen Reich nahm die Sorge über diesen Papst zu, der so fordernd die päpstliche Doktrin artikulierte und durchsetzte. Vorwürfe wurden laut - Karl etwa beklagte sich wiederholt über gröbliche Briefe des apostolischen Vaters; aber auch Hoffnung keimte auf. Damals gründete Graf Gerard von Vienne zwei Klöster (Vézelay und Pothières), die er allein der römischen Kirche und dem Schutze des apostolischen Stuhles unterstellte (863/867); damals zuerst wurde jener Anspruch formuliert, der dann den vom Adel gegründeten Klöstern und Kirchen, zuletzt sogar den Laienfürsten selbst zugute kam, und der sie alle gegen jedermann, auch gegen die höchsten irdischen Gewalten, durch Androhung von Kirchenstrafen schützte (RPR(J) 2831). 2.6. Hinkmar von Reims. Auch -»Hinkmar von Reims mußte sich vorsehen. Nikolaus unterschätzte schwerlich die starke Stellung dieses Metropoliten und seine integrative Rolle für die Kirche des Westfrankenreiches; doch Hinkmars selbstherrliches Gebaren mußte er als unzulässige „Verletzung des Privilegs des apostolischen Stuhles" (ep. 80) bewerten. So nutzte er die sich bietende Gelegenheit, um dem Reimser Grenzen zu weisen. Als König Karl II. dem Wulfhad, einem früher von ->Ebo von Reims geweihten, deshalb laisierten (853) und dem Hinkmar unliebsamen Manne, das Erzbistum Bourges übertragen wollte, suchte er gegen den Erzbischof die Unterstützung des Papstes. Nikolaus ergriff nicht allein für den König Partei, sondern schickte sich an, die schon 13 Jahre zurückliegende, aber ohne des damaligen Papstes Leo IV. Zustimmung und trotz Appellation an den apostolischen Stuhl verhängte Deposition der von Hinkmars Vorgänger Geweihten abermals zu untersuchen. Das bedeutete nichts.weniger, als daß der Papst Hinkmars Amtsführung vor seinem Gericht zu überprüfen gedachte. Nikolaus befahl die Restitution aller im Jahre 853 wegen Weihe durch Ebo abgesetzten Kleriker in ihre früheren Würden, ordnete ein erneutes Verfahren an und behielt sich die abschließende Urteilsbestätigung durch den apostolischen Stuhl vor (866). Hinkmar rechtfertigte sich, neigte zum Nachgeben, doch wurde die letzte Entscheidung verschoben, als sich neues Unheil im griechischen Osten zusammenbraute und Kaiser Ludwig zu drohen schien, in die auf Deposition des Papstes gerichtete Politik der Byzantiner einzulenken. Nikolaus starb, bevor er die Auseinandersetzung um die Stellung des Metropoliten - und vielleicht sogar überhaupt der Partikularkirchen - wieder aufgreifen konnte. 3. Nachwirken

und

Bedeutung

Nikolaus* Briefe wurden regelmäßig bis ins hohe Mittelalter von Chronisten, Publizisten und Kanonisten zitiert. Er ist zugleich der nach - » G r e g o r dem Großen am häufigsten im „ D e k r e t " -»Gratians vertretene Papst. Seine Briefe wurden kontinuierlich seit dem 9. J h . für kirchenrechtliche Zwecke ausgebeutet; nicht wenige Texte sind bislang sogar nur aus kanonistischer Uberlieferung bekannt. Gerade für wesentliche Ziele der Kirchenreformer des 11. und 12. J h . - für die Freiheit der Kirche und den päpstlichen Primat - boten einige Dekretalen des Papstes (zumal ep. 88) höchst einschlägige Sätze. Die Collectio trium partium und -»Ivo von Chartres vereinten schließlich die vorgefundenen kanonistischen Überlieferungsstränge, erweiterten aber auch noch einmal ganz beträchtlich deren Bestand; auf Ivo etwa geht die kanonistische Rezeption des berühmten

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Antwortschreibens an die Bulgaren (ep. 99) zurück, die zuvor kein Kanonist benutzt hatte. Nach dem Chartreser Bischof wurde den kanonistischen Sammlungen kaum noch bislang unbeachtetes Material aus Nikolaus' Briefen hinzugefügt; auch Gratian begnügte sich mit dem, was er vorfand. Nikolaus wird zu den großen Wegbereitern päpstlicher Universalgewalt gezählt; sein Pontifikat wirkt wie ein Vorspiel der Kirchenreform des 11. J h . (-»Papsttum). Er brachte „wie kaum ein anderem Papst des ersten Jahrtausends Verständnis für die juristischen Wesensmerkmale eines für die Gesamtkirche verantwortlichen Papsttums" auf (Fuhrmann, Einfluß 265 f) und führte als eines der „unvergänglichen Kirchenhäupter" die Zügel der Regierung „wie Apollo seinen Sonnenwagen" (Ferdinand Philippi, Gesch. des Papsttums, Dresden, VIII 1831, 76). Schon die Zeitgenossen hegten eine ähnlich hohe Meinung: „Den Königen und Tyrannen gebot er und beherrschte sie durch seine Autorität, als ob er der Herr der Welt gewesen wäre" (Regino von Prüm, Chronik zu 868). Nikolaus faßte die verstreuten Elemente des päpstlichen Primats wie nie zuvor zusammen und zog neue Folgerungen. Er bedurfte dazu keiner fremden (etwa pseudoisidorischen) Nachhilfe, wenn die Fälschung ihm auch offenbarte, in welch hohem Maße wenigstens einige Theologen und Kanonisten des Frankenreiches seine Anschauungen teilten. Alle Primatsrechte flössen für ihn aus dem umfassenden göttlichen Auftrag an St. Peter zur „Erlösung des Menschengeschlechts", der dem Papst zur „Verwaltung" überlassen sei (ep. 71). Die römische Kirche berge spiritualiter alle Nationen in sich, sei „Lehrerin, Mutter und Haupt aller Kirchen", setze Recht (ep. 29) und richte über alle Geistlichkeit; allein ihr Konsens oder Nichtkonsens entscheide, wer verurteilt sei, wer nicht (ep. 71). Sie sei der Ursprung der Bischofsgewalt; Nikolaus schwächte gerade die Stellung der Metropoliten und stärkte in den an ihn herangetragenen Bischofsprozessen den Suffraganen den Rücken; hierin traf er sich mit Ps.-Isidor. Dem Papst als Erben St. Peters obliege die sollicitudo omnium ecdesiarum (z.B. ep. 105); er approbiere dogmatisch umstrittene Schriften (ep. 130); wer ihn um Hilfe angehe, schulde ihm zugleich Gehorsam. Mehr noch als einem natürlichen gebühre ihm, dem „geistlichen Vater" aller Christen, die Obödienz auch seines hervorragendsten „Sohnes", des Kaisers, selbst wenn er ihn mit Schlägen züchtigt (flagellis ... erudire, ep.88). Sentenzen des apostolischen Stuhles dürfen keiner retractatio oder Veränderung unterzogen werden (ep. 52). „Du führst - so erinnerte ihn Anastasius Bibliothecarius - auf Erden die Vertretung Gottes". Quellen Die Briefe: M G H . E p 6. - Die Vita: LP 2, 1 5 1 - 7 2 . - Weiter: Wilhelm Wattenbach/Wilhelm Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im M A . Vorzeit u. Karolinger, Hefte 4 - 5 , bearb. v. Heinz Löwe, Weimar 1 9 6 3 - 7 3 .

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Nikolaus II.

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Johannes Fried Nikolaus II., Papst (Jan. 1059-19. oder 20. Juli 1061) (Quellen/Literatur S. 542)

Von dem kurzen Pontifikat Nikolaus II. gingen wesentliche Impulse auf die Kirchenreform aus, die zu bleibenden oder langanhaltenden Ergebnissen führten (Papstwahlordnung, Kardinalskolleg, Normannenstaat, römischer Primat). Gleichwohl werden Person und Lebensweg dieses Papstes kaum in ihren Konturen sichtbar: Aus Lothringen oder der Bourgogne stammend, begegnet er erstmals im Januar 1045 als Bischof Gerhard von Florenz; seine Charakterisierung als gebildet und von rascher Auffassungsgabe, keusch und von frommer Wohltätigkeit durch -»Petrus Damiani (Brief Nr. 58) zeichnet das Bild eines der Kirchenreform zugeneigten Mannes, der sich offensichtlich der Wertschätzung Herzog Gottfrieds von Lothringen-Toscana, des mächtigsten Herrn Mittelitaliens, erfreute. Aus seiner bischöflichen Amtszeit schält sich sein Interesse für die Einführung bzw. Stabilisierung der vita communis in den Kirchen seiner Diözese heraus, ein Thema, das auch seine erste (römische) Fastensynode 1059 beschäftigte. Die überragende Bedeutung Nikolaus' II. für die Geschichte der Kirche und des Papsttums liegt in den Modalitäten seiner eigenen Erhebung zum Papst und in dem auf der zitierten Ostersynode von 1059 erlassenen Papstwahldekret, das bereits im wesentlichen die Grundsätze der Papstwahl bis heute festlegt. Nach dem Ableben Papst Stephans IX. in Florenz am 29. März 1058 war es in Rom bereits am 5. April zu einer tumultuarischen und finanziell gelenkten Wahl und Erhebung des Kardinalbischofs Johannes von Velletri als Benedikt X. durch Angehörige des Stadtadels und Mitglieder des Vatikanklerus gekommen, denen die Anhänger der Kirchenreform, insbesondere die Kardinalbischöfe Petrus Damiani, -»Humbert von Silva-Candida und Bonifaz von Albano, letztere später als die „scharfen Augen des Papstes" charakterisiert, unter Führung des Subdiakons Hildebrand (-»Gregor VII.), des politischen Kopfes der Reformpartei, in Florenz den dortigen Bischof als rechtmäßigen Pontifex maximus entgegenstellten. Diese Wahl, im April/Mai 1058, sicherlich in enger Tuchfühlung mit Herzog Gottfried erfolgt, zog die notwendige Konsequenz im Sinne der libertas ecclesiae. Der Papstelekt, wie bereits andere Vorgänger auf dem Stuhle Petri, behielt sein Bistum weiterhin in der Hand, dessen Kirchen er seine Geneigtheit bekundete.

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Unter dem militärischen Schutz Herzog Gottfrieds zog der neue Papst zu Beginn des Jahres 1059 in Rom ein, wurde am 24. Januar in St. Peter inthronisiert und nahm den Namen Nikolaus II. an. Die Motive dieser Namenswahl sind unbekannt, vielleicht hängen sie mit einem Patrozinium seiner Herkunftsdiözese zusammen. Mit dem Papsttum Benedikts X. war es damit zu Ende, auch wenn er sich noch einige Monate im römischen Umland halten konnte. Die erste Fastensynode des Papstes, bekannt als „Synode der 113 Bischöfe", die zu allermeist aus Italien kamen, verabschiedete mit dem Papstwahldekret, das wenig später verfälscht wurde, einen rational konzipierten ordo electionis, der, gedanklich und sprachlich insbesondere Petrus Damiani verpflichtet, die Wahl an ein „hierarchisches Prinzip" (Kempf) bindet, indem es die sieben Kardinalbischöfe als Quasimetropoliten der römischen Kirche zu Hauptwählern beruft und deren Votum für ausschlaggebend erklärt, während die übrigen Wahlfaktoren und -modalitäten (Klerus, Volk, Ort) den Erfordernissen, wie jüngst geschehen, angepaßt werden können. Der Erwählte muß zudem nicht aus der römischen Kirche stammen, und der Elekt besitzt vor der Inthronisation das volle ius administrationis-, so hatte Gerhard bereits 1058 Hildebrand, dessen Unterschrift das Papstwahldekret nicht trägt, zum Archidiakon befördert. Was die Rolle des deutschen Königs und künftigen Kaisers bei der Papstwahl bzw. -erhebung anging, so garantierte diesem das Dekret im Anschluß an den eigentlichen ordo electionis ein Mitwirkungsrecht an der Erhebung des Papstes als ein bereits bewilligtes Privileg, das aber jeweils wieder vom Nachfolger erlangt werden mußte - eine deutliche Kompromißformel zwischen „freier" Papstwahl aus dem Selbstverständnis der Reformer und Achtung vor der (salischen) Rechtspraxis seit 1045. Im Jahr 1059 galt es nicht, die Mitwirkung des Königs bzw. Kaisers an der Papstwahl zu verhindern, sondern diese dem Zugriff lokaler Gewalten zu entwinden. Zugleich formierte sich mit Übertragung der entscheidenden Stimme bei der Papstwahl auf die Kardinalbischöfe das Kardinalskollegium zur beherrschenden hierarchischen Instanz unter dem römischen Pontifex. Dem moderaten Vorgehen auf Reformkurs, dessen Konfliktpotential damals noch nicht erkennbar war, entsprachen die weiteren Beschlüsse der Fastensynode, von denen das Pastoralschreiben Vigilantia universalis kündet, und deren Erneuerungen auf der Ostersynode 1060/1061, die sich vor allem gegen -»Simonie und Priesterehe richteten; dem Verhältnis von Kirchen und Laien galt das besondere Augenmerk: So verbot ein Beschluß Klerikern und Priestern aus der Hand von Laien Kirchen zu empfangen - sicherlich kein „1. Investiturverbot", das sich im Kern gegen den deutschen König richtete, aber doch als Proklamierung eines Grundsatzes aus dem gedanklichen Arsenal eines Humbert von Silva-Candida zu verstehen. Universal handelte die Synode auch, indem sie -»Berengar von Tours eine Abendmahlsformel (confessio Berengarii) vorlegte und französische Bischöfe mit Strafsentenzen überzog. Eine besondere allgemeinhistorische Dimension gewinnt der Pontifikat Nikolaus' II. durch das Bündnis des Papsttums mit den normannischen Eroberern Unteritaliens, den bisherigen „Reichsfeinden" Richard von Aversa und Capua, vor allem aber mit Robert Guiscard, Herzog über Apulien und Calabrien. Gewann das Papsttum mit Rückgriff auf die Konstantinische Schenkung unter Abkehr von der Politik -»Leos IX. militärischpolitische Verbündete, Stützen zur Behauptung der regalia S. Petri und freie Hand bei der Durchsetzung der Kirchenreform in bislang byzantinischen Gebieten, so konnten die normannischen Fürsten, indem sie die Länder als Fahnlehen gegen einen Lehensund Treueid aus der Hand des Papstes empfingen, ihre aus Eroberung resultierende Herrschaft für sich und ihre Erben auf eine feste Rechtsgrundlage stellen. Ein beträchtlicher Erfolg auf dem Wege zur allgemeinen Anerkennung des römischen Primats, der Universalität des Papstes, brachte die Mailänder Legation Petrus Damianis und Bischof Anselms I. von Lucca (-»Alexander II.) im Jahr 1059, wohl nach der römischen Fastensynode. Zwar gelang nur eine vorläufige Vermittlung in den Auseihan-

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dersetzungen zwischen M a i l ä n d e r —»Pataria, h o h e m Klerus und Erzbischof, aber die Legaten erzielten die öffentliche Anerkennung der Oberhoheit R o m s über die Kirche des heiligen - » A m b r o s i u s , eine Unterordnung, die Nikolaus II. auf der Fastensynode von 1 0 6 0 durch die Übergabe eines Ringes an den Erzbischof von Mailand symbolisch bekräftigte. M i t Nikolaus II., der a m 19. oder 2 0 . Juli 1061 ( N e k r o l o g von S. M a r i a di C o n i bzw. von M o n t e Cassino) in seiner Bischofsstadt Florenz, die ihn auch während seines Pontifikates häufiger und länger in ihren M a u e r n sah, starb, endet die Phase der römisch geprägten Kirchenreform, die noch von der harmonischen Eintracht zwischen regnum und sacerdotium, getragen w a r , die aber in den Grundforderungen der Kirche nach libertas ecclesiae den Konfliktstoff enthielt, der den sog. —»Investiturstreit auslöste. Bereits das E n d e N i k o l a u s ' II. w a r durch einen Bruch mit dem Königshof gekennzeichnet, verursacht durch den Spruch einer deutschen Synode. Die N a c h f o l g e im A m t (Alexander II.) gestaltete sich alles andere als einfach. Quellen Detlev Jasper, Das Papstwahldekret von 1059. Uberlieferung u. Textgcstalt, Sigmaringen 1986 (BGQMA 12) 9 8 - 1 1 9 . - M G H Const. 1, 5 3 9 - 5 5 1 (Lateransynoden von 1059 und 1060). - PL 143, 1 3 0 1 - 1 3 6 6 (Epistolae et diplomata). - Die Briefe des Petrus Damiani, hg. v. Kurt Reindel, T. 2, Nr. 4 1 - 9 0 , München 1988 (MGH.B 4,2). - Rudolf Schieffer, Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots für den dt. König, Stuttgart 1981 (MGH.SRI 28) 2 1 2 - 2 2 5 (Synodalschreiben Vigilantia universalis von 1059). - Nicolai papae II vitae: Pontificum Romanorum vitae I, hg. v. Johann M . Watterich, Leipzig 1862, 2 0 6 - 2 3 5 . - Le Liber Pontificalis, hg. v. Louis Duchesne, Paris, II 1892, 280.357 f. - Bruchstück aus den Verhandlungen der Lateransynode im Jahre 1059 s. Albert Werminghoff, Die Beschlüsse des Aachener Concils im Jahre 816: NA 27 (1902) 6 6 9 - 6 7 5 (vita communis). Literatur Vgl. allg. -»Investiturstreit u. die dort angegebenen Stichwörter. - Émile Amann, Art. Nicolas II: D T h C 11 (1931) 5 2 6 - 5 3 2 . - Willibald Plöchl, Art. Nicholas II: NCE 10 (1967) 441 f. - R. Schieffer, Art. Nikolaus II: LMA 6 (1993) 1170. - Theodor Schieffer, Art. Nikolaus II: LThK* 7 (1962) 977f. Bischof v. Florenz, Papstwahl u. -erhebung: Robert Davidsohn, Forschungen zur älteren Gesch. v. Florenz, Berlin 1896, 45f. - Ders., Gesch. v. Florenz I, Berlin 1896, 2 0 5 - 3 0 0 . - Werner Goez, Papa qui et episcopus. Zum Selbstverständnis des Reformpapsttums im XI. Jh.: AHP 8 (1970) 2 7 - 5 9 . - Nikolaus Gussone, Thron u. Inthronisation des Papstes v. den Anfängen bis zum 12. Jh., Bonn 1978 (BHF 41). - Dieter Hägermann, Zur Vorgesch. des Pontifikats Nikolaus* II.: Z K G 81 (1970) 3 5 2 - 3 6 1 . - Cinzio Violante, Il vescovo Gerardo - Papa Nicolo II e le comunità canonicali de Pieve nelle diocesi di Firenze: BSPis 40/41 (1971/72) 1 7 - 2 2 . - Joachim Wollasch, Die Wahl des Papstes Nikolaus II.: Adel u. Kirche. FS Gerd Tellenbach, Freiburg i. Br. 1968, 205 - 220. Papstwahldekret (Auswahl): Dieter Hägermann, Unters, zum Papstwahldekret v. 1059: ZSRG.K 56 (1970) 1 5 7 - 1 9 3 . - Detlev Jasper (s. Quellen). - Friedrich Kempf, Pier Damiani u. das Papstwahldekret v. 1059: AHP 2 (1964) 7 3 - 8 9 . - Hans-Georg Krause, Das Papstwahldekret v. 1059 u. seine Rolle im Investiturstreit, Rom 1960 (SGSG 7) (grundleg.). - Wolfgang Stürner, Das Papstwahldekret v. 1059 u. seine Verfälschung. Gedanken zu einem neuen Buch: Fälschungen im MA. Int. Kongreß der M G H , München, 1 6 . - 1 9 . Sept. 1986, Hannover, II 1988 (MGH. SRI 33,2) 1 5 7 - 1 9 0 . - Walter Ullmann, Zum Papstwahldekret v. 1059: ZSRG.K 68 (1982) 3 2 - 5 1 . - Kennerly M . Woody, Sagena piscatoris: Peter Damiani and the Papal Election Decree of 1059: Viator 1 (1970) 33-54. Kardinalskollegium: Mario Fois, I compiti e le prerogative dei cardinali vescovi secondo Pier Damiani nel quadro della sua ecclesiologia primaziale: AHP 10 (1972) 2 5 - 1 0 . - Rudolf Hüls, Kardinäle, Klerus u. Kirchen Roms 1 0 4 9 - 1 1 3 0 , Tübingen 1977 (BDHIR 48). - Edith Pasztór, Riforma della Chiesa nel secolo IX e l'origine del collegio dei cardinali: Studi sul medioevo cristiano offerti a Raffaello Morghen, Rom, II1974 (Studi storici 88 - 92) 6 0 9 - 625. - Dies., San Pier Damiani, il cardinalato e la formazione della curia Romana: SGSG 10 (1975) 3 1 7 - 3 3 9 . Lateransynoden 1059-61: Guiseppe Fornasari, Celibato sacerdotale e „autocoscienza" ecclesiale. Per la storia della „Nicolaitica haeresis" nell' Occidente medievale, Udine 1981 (Pubblicazioni della Facoltà di Magistero dell' Università di Trieste, ser. III, t. 7). - Ludwig Hödl, Die Confessio Berengarii v. 1059: Scholastik 37 (1962) 3 7 0 - 3 9 4 . - Raymund Kottje, Konkubinat u. Kommunionwürdigkeit im vorgratianischen Kirchenrecht. Zu c. 12 der röm. Ostersynode v. 1059: AHC 7 (1975)

Nikolaus V.

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Nikolaus V., Papst

(1447-1455)

(Quellen/Literatur S. 545) Die am 6. März 1447 im Kompromiß erfolgte Papstwahl des ligurischen Arztsohnes Tommaso Parentucelli aus Sarzana (15. November 1 3 9 7 - 2 4 . M ä r z 1455), der sich in humanistischer Manier nach seinem Gönner, dem Kartäuserkardinal Niccolö Albergati, als Papst Nikolaus V. nannte, stellt gewiß „einen der wichtigsten Wendepunkte in der Geschichte des Papsttums" dar (Pastor 1,379). Doch nicht so sehr, weil darob die Vertreter eines „christlichen" Humanismus jubelten, sondern weit eher, weil dadurch ein nach entbehrungsreichem Studium (Florenz, Bologna) universal gebildeter M a n n mit humanistischem Engagement an die Spitze der Christenheit trat. Durch kluges Entgegenkommen konnte er zum einen die Wirren des Basler Konzils (-»Basel-Ferrara-Florenz) und damit das Kirchenschisma endgültig beenden, zum anderen aber gelang es ihm, dank genauer Kenntnis der Verhältnisse im Reich bereits am 17. Februar 1448 das „Wiener Konkordat" abzuschließen. Als eine Art „Reichsgrundgesetz" regelte dieses bis zur Säkularisation (1803) die Angelegenheiten der Reichskirche. Eine Reihe von Reformwünschen abschwächend, anerkannte es die Bischofswahl durch die -»Domkapitel und das Pfründenbesetzungsrecht des Papstes in den ungeraden Monaten des Jahres (rnenses papales), unternahm aber nichts zur Abstellung der Mißstände im innerkirchlichen Bereich (Cravamina nationis germanicae). Mit seinem Abschluß (und der Anerkennung Nikolaus' V. durch König und Reich) war auch das Schicksal der nach Lausanne verlegten Basler Rumpfsynode entschieden. Durch ihre Selbstauflösung (29. April 1449) hatte das monarchische Papsttum einen Sieg über den -•Konziliarismus errungen. Augenfälligstes Zeichen der wiedergewonnenen Einheit von Kirche und Reich war die am 16. März 1452 in Alt Sankt Peter zu R o m vorgenommene Einsegnung der Ehe König Friedrichs III. mit der portugiesischen Infantin Leonora, auf die drei Tage später (19. März) mit den eigens aus Nürnberg verbrachten Reichsinsignien die Kaiserkrönung beider folgte. Sie war die erste eines Habsburgers, zugleich aber die letzte Krönung eines deutschen Königs durch einen Papst, die in R o m stattfand. Während eine Legation des Kardinals Guillaume d'Estouteville nach Frankreich (1452) ergebnislos blieb - es konnte weder der Friede mit England erreicht noch die Aufhebung der Pragmatischen Sanktion von Bourges (1438) erwirkt werden - , verlief die Sendung des Kardinals -»Nikolaus von Kues nach Deutschland und in die Niederlande (1450/52), die der Verkündigung eines Jubelablasses und der Reform des Weltund Ordensklerus galt, erfolgreicher, wenngleich auch hier eine nachhaltige Wirkung ausblieb. Ebenso wenig Erfolg war einem zur Befriedung Italiens nach R o m einberufenen

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Nikolaus V.

Kongreß beschieden (1453), doch führten Geheimverhandlungen zwischen Venedig und Mailand am 9. April 1454 zum Friedensschluß von Lodi und der Gründung einer „italischen Liga" (1455). Dieser ist der Papst auf Grund der Schreckensnachricht von der Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen (29. Mai 1453) im Februar 1455 als Protector et Custos beigetreten, worauf tatsächlich für Jahrzehnte in Italien Ruhe herrschte. Am 30. September 1453 erließ Nikolaus V. eine Kreuzzugsbulle, in der er die Christenheit zum Kampf gegen Sultan Mehmed II., den „Vorläufer der Antichrist", aufrief. Mehr der Sorge um das Schicksal Italiens und des Abendlandes entsprungen, denn dem Mitgefühl für die Griechen (deren Geiz man allgemein für den Fall der Stadt verantwortlich machte), verhallte dieser Appell jedoch ungehört bei den europäischen Mächten. Diese beschränkten sich durchwegs auf die Abgabe unverbindlicher Versprechungen. Das von ihm für 1450 ausgeschriebene -»Jubeljahr war zu einer überzeugenden Manifestation der wiederhergestellten Kircheneinheit geworden. Glanzvoller Höhepunkt war dabei die am Pfingsfest (24. Mai) vollzogene Heiligsprechung von Bernhardin von Siena, dem populärsten Büß- und Wanderprediger Italiens aus dem Minoritenorden. Tragisch überschattet wurde das Jubiläum allerdings von einer während der Sommermonate wütenden Pestepidemie und durch eine von scheuenden Zugtieren verursachte Katastrophe auf der Engelsbrücke (19. Dezember 1450), beide mit vielen Menschenopfern. Wie schwierig die Verhältnisse hierorts wirklich waren, lehrt indes die Verschwörung des Kurienbeamten Stefano Porcari. Als Feind der geistlichen Herrschaft - darin traf er sich mit dem Humanisten Lorenzo -»Valla, dem scharfsinnigen Kritiker der „Konstantinischen Schenkung" (-»Constitutum Constantini) - plante dieser ritterliche Stadtrömer mit einer Gruppe von Gleichgesinnten einen Uberfall auf den Papst. Durch Verrat flog das Unterfangen aber vorzeitig auf, sein Urheber endete am 9. Januar 1453 am Galgen. Er starb mit den Worten „O mein Volk, heute stirbt dein Befreier" als ein von antiken Vorstellungen des Souveränitätsrechtes der Römer erfüllter geistiger Nachfahr des Cola di Rienzo. Bedingt durch infolge des Jubiläums gemachte Erfahrungen traf Nikolaus V. eine Reihe wichtiger Erneuerungsmaßnahmen, die den baulichen Zustand der mittelalterlichen Stadt grundlegend verändern sollten. Allerdings konnten von diesen großen Plänen angesichts der Kürze des Pontifikates und des Ausmaßes der Entwürfe nur Bruchstücke verwirklicht werden. Abgesehen von der Wiederherstellung der Stadtmauern und der Brücken, der Versorgung von Rom mit Quellwasser aus den Albanerbergen und der Restaurierung verfallener (Stations-)Kirchen, wollte er den Borgo, also die „Leostadt" und den vatikanischen Palast, als riesige Wehrburg gegen gefährliche Aufstände absichern. Auf ihn geht der Plan zurück, die baufällig gewordene Konstantinsbasilika durch einen Neubau von grandiosen Ausmaßen zu ersetzen. In den 1449/53 für die päpstliche Privatkapelle angefertigten Fresken des Fra -»Angelico da Fiesole wird erstmals „das neue große Programm des vollen Einsatzes der Antike zum Triumphe des Christentums" verkündet (Bruhns 282 f). War das Bauen des Papstes Lust, so war das Abschreiben, Sammeln und Übersetzen antiker Texte ihm geradezu Leidenschaft. An seinem Musenhof tummelten sich daher die Humanisten, denen hierfür oft fürstliche Belohnung winkte. Nikolaus' V. Lieblingsidee war es, die ganze griechische Literatur durch Übersetzungen in Italien heimisch zu machen. Deshalb ließ er durch Agenten in nah und fern kostbare Handschriften aufspüren und ankaufen, wofür er an die 40.000 Goldstücke zur Verfügung gestellt haben soll. Auf diese Weise wurde der Grundstock zur Vatikanischen Bibliothek gelegt, die allerdings erst unter seinem vierten Nachfolger, Papst -»Sixtus IV., in der hier intendierten Weise realisiert wurde. Gemäß dem Willen des Stifters sollte sie öffentlich zugänglich sein (pro communi doctorum virorum commodo). Neueren Forschungen zufolge besaß der bücherbegeisterte Papst mehr als 800 lateinische und 353 griechische

Nikolaus V.

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Handschriften. Allein in seinem Schlafraum fanden sich bei seinem Ableben 56 Manuskripte. Trotz aller Prachtentfaltung bei Hof blieb Nikolaus V. zeitlebens der einfache, sittenstrenge Priester, der nicht für seine Verwandten, sondern für die Kirche lebte. Unansehnlich im Äußeren besaß er eine rasche Auffassungsgabe und ein treues Gedächtnis. Von bleicher Gesichtsfarbe verfügte er über eine volltönende Stimme, die bei hastiger Redeweise häufig in Erregung geriet, was zu Aufbrausen und zu Heftigkeit führte. Für einen deutschen Zeitgenossen war Nikolaus V. jedoch „ein gutter frydsamer man, von dem ich nye kein untugent hab hören sagen" (Chronik des Johannes Meyer [gest. 1485]; vgl. Pastor I, 389). Quellen Vespasiano da Bisticci, Le vite, ed. Aulo Greco I, Firenze 1970, 3 4 - 8 1 . - Domenico Giorgi, Vita Nicolai quinti Pont. Max., Romae 1742. - Giovanni Manetti, Vita Nicolai V summi pontifici: RIS 3.2, Mediolani 1734, 907-960. - Platynae hist. Liber de vita Christi ac omnium Pontificum, ed. Giacinto Gaida: RIS 1 3.1, Città di Castello 1913/32, 328-339. - HCMA 2, Monasterii 2 1914, lOf. - RepGerm 6,1.2, Rom/Tübingen 1985/89. Literatur Federico Antonini, La pace di Lodi ed i segreti maneggi che la prepararono: ASL 6.57 (1930) 233-296. - Maria Bertòla, Codici latini di Niccolò V perduti o dispersi, 1964 (StT 236) 129-140. - Jeanne Bignami Odier, La Bibliothèque Vaticane de Sixte IV à Pie XI, 1973 (StT 272) 9-17.283. Friedrich Bock, Art. Nikolaus: RGG 3 4 (1960) 1488. - Leo Bruhns, Die Kunst der Stadt Rom, Wien 1951. - Charles Burroughs, Bclow the Angel. An Urbanistic Project in the Rome of Pope Nicholas V: JWCI 45 (1983) 94-124. - Mario Caravale/AIberto Caracciolo, Lo Stato pontificio da Martino V a Pio IX, Torino 1978, 6 5 - 7 6 (Storia d'Italia 14). - Roberto Cessi, La congiura di Stefano Porcari, Bordeaux 1913/14 = ders., Saggi romani, Roma 1956 (SeL 62) 65-112. - Walter Deeters, Ein Breve des Papstes Nikolaus V. an den oström. Kaiser von 1453: QFIAB 48 (1968) 365-368. - Marc Dykmans, Le cérémonial de Nicolas V.: RHE 63 (1968) 365-378. 785-825. - Franz Ehrle/Hermann Egger, Der Vaticanische Palast in seiner Entwicklung bis z. Mitte des XV. Jh., 1935 (SSPAV2) 93-100. - Amato Pietro Frutaz, Il torrione di Niccolò V in Vaticano, Città del Vaticano 1956. — Maurizio Gargano, Niccolò V. La mostra dell'acqua di Trevi: ASRSP 111 (1988) 2 2 5 - 2 6 6 . - Aulo Greco, La Cappella di Niccolò V del Beato Angelico, Roma 1980. - Anton Haidacher, Gesch. der Päpste in Bildern, Heidelberg 1965, 160-173. - Joseph Hilgers, Die Vaticana u. ihr Gründer: StML 60 (1901) 368-381; 61 (1901) 287-302. - Ders., Zur Bibliothek Nikolaus' V.: ZfB 19 (1902) 1 - 1 1 . - Vincent Ilardi, The Italian League, Francesco Sforza, and Charles VII: StRen 6 (1959) 129-166. - Johannes Irmscher, Die Romidee bei den Griechen nach 1453: Parnassos 25 (1983) 3 9 - 4 6 . -Torgil Magnuson, Studies in Roman Quattrocento Architecture, 1958 (Figura 9) 55-214. - Giuseppe Marcotti, II Giubileo dell'anno 1450: ASRSP 4 (1881) 563-580. - Johann Martens, Die letzte Kaiserkrönung in Rom 1452, Diss. Leipzig 1900. - Erich Meuthen, Der Fall v. Konstantinopel u. der lat. Westen: HZ 237 (1983) 1 - 3 5 . - Andreas Meyer, Das Wiener Konkordat v. 1448: QFIAB 66 (1986) 108-152. - Massimo Miglio, „Viva la libertà et populo de Roma": ASRSP 97 (1974) 5 - 3 7 . - Paul Ourliac, La pragmatique sanetion et la légation en France du Cardinal d'Estouteville 1451-1453: ders., Études du droit medieval 1, Paris 1979, 375-398. - Ludwig v. Pastor, Gesch. der Päpste seit dem Ausgang des MA I, Freiburg/Rom "1955,369—652. - Massimo Petrocchi, La politica della Santa Sede di fronte all'invasione ottomana, Napoli 1955. - Kleo Pleyer, Die Politik Nikolaus V., Stuttgart 1927. - Giovanni Sforza, La patria, la famiglia e la giovinezza di papa Niccolò V., Lucca 1884; dt. Ausg. v. Hugo Th. Horak, Innsbruck 1887.Alfred A. Strnad, Die Päpste der Früh- u. Hochrenaissance. Von Nikolaus V. bis Julius II.: GK 12 (1985) 3 9 - 5 2 (Lit.). - John B. Toews, Formative Forces in the Pontificate of Nicholas V: CHR 54 (1968/69) 261-284. - Günter Urban, Zum Neubauprojekt von St. Peter unter Papst Nikolaus V.: FS Harald Keller, Darmstadt 1963, 131-173. - Cesare Vasoli, Profilo di una papa umanista: ders., Studi sulla cultura del Rinascimento, Manduria 1968, 69-121. - Ernst Werner, „Translatio Imperii ad Turcos". Päpstliche Renovatio u. Weltkaiseridee nach dem Fall Konstantinopels: ByF 11 (1987) 465 - 4 7 2 . - Caroli William Westfall, In This Most Perfect Paradise, London 1974; ital.: Firenze/Roma 1984. - Giuseppe Zander, Potrà il monumento sepolcrale di Niccolò V essere ricomposto?: Strenna dei Romanisti 49 (1988) 589-605. Alfred A. Strnad

546

Nikolaus von d é m a n g e s

N i k o l a u s v o n C l é m a n g e s (ca. 1. Leben 1.

2. Werk

1360-1437)

3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 548)

Leben

Nikolaus Poilevilain (Poillevillain) wird nach seinem Geburtsort, einem Dorf in der Grafschaft Champagne, kirchlich der Diözese Châlons-sur-Marne zugeteilt, lateinisch ,de Clamangiis' (de Clemengis) oder französisch ,de Clémanges' (de Clamanges) genannt. Er dürfte 1360 geboren sein. Mit zwölf Jahren wird er in das Collège de Navarre in Paris aufgenommen. 1381 wird er magister artium. Aus seiner Aussage, ihm sei amplissimus honor zuteil geworden (Ep. 42; ed. Lydius II, 127 b), wird nicht länger gefolgert, er sei Rektor der Universität gewesen. Er unterrichtet an der Artesfakultät und beginnt mit dem Studium der Theologie, das er frühestens 1387 mit dem Bakkalaureat abschließt. Den Doktorgrad der Theologie hat er wohl nie erreicht (gegen Lydius I, b3v). 1394 wird ihm die Aufgabe anvertraut, mehrere offizielle Schreiben der Universität zu formulieren (vgl. Glorieux, Notations 295). Durch den Kardinal Galeotto da Pietramala läßt ihm Benedikt XIII. ( 1 3 9 4 - 1 4 1 7 , gest. 1423) das Amt eines päpstlichen Sekretärs anbieten. Im November 1397 wird er ernannt und bleibt zunächst bis zum Mai 1398. Als Frankreich Benedikt den Gehorsam aufsagt, wird er als Franzose am päpstlichen Hof verdächtig. Andererseits muß er sich vor den Mitgliedern des Collège de Navarre, dem er in Paris angehört hat, dafür verteidigen, daß er den Hof nicht verläßt (Coville, Recherches 255). Vom Herbst 1398 bis zur Rückkehr Frankreichs in die Obödienz des avignonesischen Papstes im Sommer 1403 nimmt er selbst die Pflichten seiner Pfründe in Langres wahr: Schon 1397 war er Kanoniker der Kathedrale Saint-Mammès in Langres geworden, von 1398 bis 1404 zudem Schatzmeister des Kapitels (vom Mai 1405 an hat er die Pfründe des Kantors in Bayeux inne; weitere Pfründe nennen Coville, Gontier 85 u. Glorieux, Notations 296). Er prozessiert gegen den Dekan des Kapitels. Seine Rückkehr nach Avignon 1403 macht ihn bei Gegnern des Papstes in der Universität Paris verdächtig, an denen ihm liegt. Auf eine Drohung des Königs Karl VI., Benedikt XIII. erneut den Gehorsam aufzukündigen, antwortet der Papst mit der Gegendrohung, ihn zu exkommunizieren. Als diese Bulle im Frühjahr 1408 in Paris bekannt wird, wirft man Nikolaus vor, er habe sie verfaßt. Er verteidigt sich in einem Brief an die Magistri des Collège de Navarre (Ep. 42; ed. Lydius II, 127—131) und gibt den Dienst am päpstlichen Hof auf. Dem Papst wie auch dem schon 1398 gestorbenen Kardinal Galeotto da Pietramala bewahrt er auch nach seinem Abschied von der Kurie ein freundliches Andenken (Ep. 14; ed. Lydius II, 5 7 - 5 9 , sowie der Jesajakommentar von 1 4 2 3 - 1 4 2 6 ; Coville, Le traité 98). Er lebt als Gast zunächst in der Kartause von Valprofonde (Yonne), von Anfang des Jahres 1409 an im Augustinerpriorat Sainte-Madeleine de la Fontaine-au-Bois bei Provins, unterbrochen von zwei Aufenthalten in Langres. Im Februar 1418 sucht er d'Ailly beim Konstanzer Konzil auf, kehrt zunächst nach Provins zurück, 1423 wieder ans Collège de Navarre in Paris. Er stirbt 1437 und wird in der Kapelle des Collège begraben. 2.

Werk

N i k o l a u s ' Z e i t g e n o s s e n anerkennen ihn als h e r v o r r a g e n d e n H u m a n i s t e n . E r ist als Schriftsteller a u ß e r o r d e n t l i c h vielseitig. D a s G e n u s des Briefs beherrscht er besonders gut. Z u r Z e i t sind 151 Briefe bekannt (zur D a t i e r u n g vgl. G l o r i e u x , N o t a t i o n s 3 0 0 - 3 1 0 ) . In ihnen zeigt N i k o l a u s , w i e gut er die Schriften der antiken Schriftsteller kennt, und betont u m 1 4 3 0 (gegen P e t r a r c a s 1368 erhobenen A n s p r u c h a u f Überlegenheit d e r italienischen oratores

et poetae),

die französischen H u m a n i s t e n seien den italienischen

gleichrangig. U n t e r den Adressaten d e r Briefe des N i k o l a u s sind besonders zu nennen Pierre d'Ailly ( - » P e t r u s v o n Ailly), T h e o l o g i e p r o f e s s o r und Kanzler der Universität Paris, d a n n z u n ä c h s t B i s c h o f v o n L e Puy, später v o n C a m b r a i ; dessen Schüler und N a c h f o l g e r in den ersten beiden Ä m t e r n J e a n - » G e r s o n ; J e a n de M o n t r e u i l , P r o p s t von St. Pierre in Lille und Sekretär des Königs v o n F r a n k r e i c h , und G o n t i e r C o l , S e k r e t ä r des Königs von F r a n k r e i c h (weitere A d r e s s a t e n nennt G l o r i e u x , N o t a t i o n s 2 9 4 ) . In De studio logico

theo-

bedient N i k o l a u s sich einer biblisch gesättigten S p r a c h e . A u f Gestalten d e r klas-

sischen Antike liegt hier nicht der A k z e n t . - » H u g o v o n St. V i k t o r führt e r als E r bauungsschriftsteller, nicht als Scholastiker a n . In der N o v e l l e Floridatt

et Elvide

(1417

o d e r 1 4 1 8 ) läßt er Elvide Selbstmord begehen, u m ihre b e d r o h t e Keuschheit zu retten. E r s t eine kritische G e s a m t a u s g a b e seiner W e r k e und eine g u t e B i o g r a p h i e w e r d e n zeigen k ö n n e n , o b innerhalb v o n N i k o l a u s ' D e n k e n eine E n t w i c k l u n g festgestellt w e r d e n

Nikolaus von Clémanges

547

kann. Die seinerzeit von Voigt und von Coville vertretene These, um 1415 habe Nikolaus den antiken Autoren abgesagt, wird neuerdings zurückgewiesen (Beitran 720f). Sie wird verständlich aus Äußerungen wie dieser: „Nach ausgiebiger Lektüre der weltlichen Beredsamkeit und der heidnischen Schriftsteller, mit denen ich mich nicht eben kurze Zeit beschäftigte, machte ich mich dort schließlich mit großer Begierde daran, den heiligen Kanon und die heiligen Doktoren zu erforschen, die ihn mystisch und auf heilbringende Weise auslegen. Diese Lektüre von Christi Gnade ist nun fast die einzige, die mich e r f r e u t . . . Ich habe [davon] mehr Gewinn gehabt als in der ganzen vorangegangenen Zeit an der Pariser Universität" (Disputatio super materia coticilii generalis cum quodam scholastico Parisiensi, ed. Lydius I, 78f). Die kirchenreformerische Zielsetzung Nikolaus' zeigt sich am deutlichsten, wenn man seine Kritik an den Angehörigen verschiedener Stände in der Kirche in De ruina et reparatione ecclesiae durch das Idealbild eines Hochschullehrers der Theologie ergänzt, das er in De studio theologico entwirft. In der Schrift De ruina et reparatione ecclesiae (1400/1401; ed. Coville) skizziert Nikolaus den kirchlichen Verfall. Er beginnt mit Kritik am Finanzgebaren der avignonesischen Kurie, geißelt Kardinäle und Bischöfe, Kanoniker, Mönche und Nonnen. Vehement tadelt er den Vorgänger Benedikts XIII., -•Clemens VII. Von Gott allein erwartet er Wiederherstellung der Einheit der Kirche. In der Schrift De studio theologico (1411) antwortet Nikolaus dem Baccalaureus der Theologie Jean de Piémont auf die Frage, ob er für sein Heil gut daran tue, ein theologisches Lehramt anzustreben. Da Christus sein Leben als Lehrer verbracht habe, sei es heilbringend, zu lehren. Die Disputatio (oder: Collatio) super materia concilii generalis cum quodam scholastico Parisiensi (ed. Lydius I, 61—79) vereinigt zwei längere und einen kürzeren Brief zu einem Traktat. Die Briefe sind wohl bald nach Beginn des Konzils von Konstanz geschrieben worden. Der erste Brief setzt bereits einen Briefwechsel voraus. Mehrfach nimmt Nikolaus kritisch Bezug auf Beschlüsse des Konzils von —»Pisa (1409). Er tadelt, daß die Dekrete des Konzils nicht durch Zitate aus der Heiligen Schrift oder durch Berufungen auf allgemein anerkannte Dekrete früherer Konzilien beglaubigt worden seien. Im Unterschied zur triumphierenden Kirche im Himmel sei der auf Erden streitenden Kirche nur in Glaubensfragen Irrtumslosigkeit verheißen, nicht in Fragen von Ereignissen oder Sitten (ed. Lydius 1,61 b). Es gelte, nicht zu selbstgewiß zu behaupten, das Generalkonzil könne nicht irren (ed. Lydius I, 64b). Hätte sich die römische Kirche nicht angemaßt, alle Würden in der universalen Kirche verleihen zu dürfen, so wäre dieses Schisma entweder nicht entstanden oder es hätte doch zumindest nicht so lange gedauert (ed. Lydius 1,64b). N u r genannt werden können hier: Deploratio calamitatis ecclesiasticae per schisma nefandissimum cum exhortatione P.P. et pontificum ad eius exstirpationem (1408; ed. Lydius 1,32-36; Coville, Recherches 261-264); Descriptio et laus urbis Jatiuae (1408; Coville, Recherches 256-259); De fructu eremi (1408; ed. Lydius 1,121-132); De fructu rerum adversarum (1408?; ed. Lydius I, 132-143); De filio prodigo (1411; ed Lydius I, 109-121); Oratio ad Galliarum principes, qua eos a hello civili dehortatur (1411; ed. Lydius I, 169-174); De praesulibus simoniacis (1411/12; ed. Lydius I, 160-166); De novis celebritatibus non instituendis (1413; ed. Lydius 1,143-160); Quod tarn corpore e Babylone sit fugiendum quam mente (ed. Lydius 1,174-178); Fragmentum descriptionis vitae tyrannicae cum detestatione ac reprobatione (1418; Paraphrase eines Gedichts d'Aîllys, ed. Coville, Recherches 278-281); De lapsu et reparatione iustitiae (1420; ed. Lydius I, [37-40] 41-53); De Antichristo et ortu eius, vita, moribus et operibus (ed. Lydius 1,357-359). (Zur Biographie und Datierung von Briefen und Traktaten: Glorieux, Notations 3 0 0 - 3 1 0 und Ornato, Jean Muret 193-217.) 3.

Nachwirkung

Eines der zehn Gebete zur Eröffnung der kanonischen Hören aus der Feder des Nikolaus hat Eingang in das Brevier von Bayeux gefunden, wo Nikolaus zeitweise ein

548

Nikolaus von démanges

Kanonikat innegehabt hat. Es hat die Rezeption von Nikolaus' Werken zunächst gefördert, langfristig aber hat es ihr geschadet, daß sie in den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jh. um die Deutung der Kirchengeschichte verwendet worden sind. Das gilt besonders von der Schrift De ruina et reparatione ecclesiae. Sie ist im 15. Jh. wenig verbreitet, bis sie 1483 unter dem Titel De viciis ministrorum Ecclesiae in den zweiten Band der bei Johannes Koelhoff in Köln gedruckten Werke Gersons aufgenommen wird. Über 300 Jahre lang wird sie unter dem von Trithemius 1494 gebrauchten ungenauen Titel De corrupto ecclesiae statu zitiert. Im 16. Jh. betrachten protestantische Autoren dieses Werk als das eines Zeugen der Wahrheit vor der Reformation. Zwischen 1519 und 1608 erscheinen fünf Separatausgaben davon (Posthumus Meyjes 245, Anm.32). Giovanni della Casa, Erzbischof von Benevent, läßt 1549 in einem in Venedig promulgierten Index die Lektüre von De ruina et reparatione Ecclesiae (unter dem Titel: De corrupto ecclesiae statu) verbieten. Giovanni Angelo Arcimboldo, Erzbischof von Mailand, läßt 1554 das gesamte literarische Werk des Nikolaus auf den Index setzen. Der erste päpstliche Index untersagt im Jahre 1559 die Lektüre seiner sämtlichen Schriften. Im Jahre 1564 erscheint in Orléans eine durch Protestanten publizierte Ubersetzung von De ruina et reparatione Ecclesiae, die Jean Crespin vom gleichen Jahr an in sein „Livre des Martyrs" aufnimmt (fol. 60-70v). Der 1564 von einer Kommission des Konzils von Trient (->Tridentinum) erarbeitete Index erlaubt den Druck der Werke des Nikolaus unter der Bedingung, daß sie von anstößigen Stellen gereinigt seien. Doch wird Nikolaus auch als katholischer Autor in Anspruch genommen. Der Pariser Theologe Marguerin de la Bignè veröffentlicht 1575—1579 als katholischen Gegenentwurf zu den „Magdeburger Zenturien" seine „Bibliotheca SS. Patrum". In deren achten Band nimmt er Schriften des Nikolaus auf. Die einzige (unvollständige) Gesamtausgabe seiner Werke ist von Johannes Lydius 1613 mit der Absicht zusammengestellt worden, ihn als einen Kämpfer gegen die römisch-katholische Kirche darzustellen (vgl. den Widmungsbrief und die Liste der Zeugnisse über Nikolaus). Quellen Expositio super Ysayam, Paris, Bibliothèque de l'Arsenal Ms. 137. — Nicolai de Clemangiis...opera o m n i a . . . , ed. Iohannes Martini Lydius, Leiden 1613. — De studio theologico: Spicilegium sive collectio veterum aliquot scriptorum, qui in Galliae bibliothecis delituerant. Olim editum opera ac studio D. Lucae d'Achéry...Nova editio...per Ludovicum-Franciscum-Joseph de la Barre, Paris, I 1723, 473 - 4 8 0 . - Briefe u. Gedichte: Coville, Recherches (s.u.) 2 5 4 - 3 1 7 . - De ruina et reparatione Ecclesiae (De corrupto Ecclesiae statu), hg. von Alfred Coville: Le traité de la ruine de l'Eglise de Nicolas de Clamanges et la traduction française de 1564, Paris 1936. - Briefe: André Combes, Sur les lettres (s.u.) 3 6 7 - 3 7 8 . 3 8 1 - 3 8 6 . - Jean Leclercq, Les prières inédites de Nicolas de Clamanges: R A M 23 (1947) 1 7 1 - 1 7 3 . 1 7 4 - 1 8 3 . - Briefe: Jean Gerson, Œuvres complètes, hg. v. Palémon Glorieux, Paris, II 1960. - Floridan et Elvide. A Criticai Ed. of the 15th Century Text, with an Intr. by H. Peter Clive, Oxford 1959. - Briefe: Jean de Montreuil, Opera I, hg. v. Ezio Ornato, Turin 1963. - Briefe: Dario Cecchetti, Petrarca, Pietramala e Clamanges, Paris 1982, appendix I: Testi, 1 2 7 - 2 0 1 . Literatur Evencio Beitran, Rez. v. Dario Cecchetti, L'Evolutione del latino umanistico in Francia, Paris 1986 (Rubricae 3): BHR 49 (1987) 720f. - François Berier, L'humaniste, le prêtre et l'enfant mort. Le sermon „De sanctis innocentibus" de Nicolas de Clamanges: L'enfant au Moyen Âge (Littérature et civilisation), Aix-en-Provence 1980 (Sénéfiance 9) 1 2 3 - 1 4 0 . - Ders., Note sur la datation, la tradition manuscrite et le contenu des dix oraisons de l'humaniste Nicolas de Clamanges: La prière au Moyen Age (Littérature et civilisation), Aix-en-Provence 1981 (Sénéfiance 10) 7 - 2 5 . - Ders., La figure du clerc dans le „De studio Theologico" de Nicolas de Clamanges: Travaux de Linguistique et de Littérature 21,2 (1983) 8 1 - 1 0 3 . - Dario Cecchetti, Petrarca, Pietramala e Clamanges. Storia di una .querelle' inventata, Paris 1982. - Kathleen Chesney, Nicolas de Clamanges. Some Supplementary Bibliographical Notes: MAe 7 (1938) 9 8 - 1 0 4 . - André Combes, Sur les .lettres de consolation* de Nicolas de Clamanges à Pierre d'Ailly: AHDL 13 (1940-1942) 3 5 9 - 3 8 9 . - Ders., Jean de Montreuil et le chancelier Gerson, Paris 1 9 4 2 , 3 3 9 - 5 4 7 . - Alfred Coville, Gontier et Pierre Col et l'humanisme en France au temps de Charles VI., Paris 1934 = Genf 1977. - Ders., Recherches

Nikolaus von Flüe

549

sur quelques écrivains du XlVe et du XVe siècle, Paris 1935. - Ders., Nicolas de Clamanges à l'index au X V I e siècle: Mélanges offerts à M . Abel Lefranc, Paris 1 9 3 6 , 1 - 1 6 . - Ders., La vie intellectuelle dans les domaines d'Anjou-Provence, de 1380 à 1435, Paris 1941. - Palémon Glorieux, Notations biographiques sur Nicolas de Clémanges: Mélanges offerts à M . - D . Chenu, hg. v. A. Duval u.a., Paris 1967, 2 9 1 - 3 1 0 . - Georges Gougenheim, L'Humanisme en France aux X l V e et XVe siècles: B A G B 33 (1974) 4 1 3 - 4 2 0 . - Peter Hemmerle, Das rel. u. kirchenpolitische System des Pariser Theologen Nicolaus Poillevillain, gen. Nicolaus v. Clemanges, 1 3 6 3 - 1 4 3 7 , Algringen (Lothringen) 1912. - A. Kwanten, Nicolas de Clamanges et l'imitation de Jésus-Christ: M S A D M 74 (1959) 9 - 1 0 0 . - Adolphe Müntz, Nicolas de Clémanges. Sa vie et ses écrits, Straßburg 1846. - Ezio Ornato, Jean Muret et ses amis Nicolas de Clamanges et Jean de Montreuil. Contribution à l'étude des rapports entre les humanistes de Paris et ceux d'Avignon ( 1 3 9 4 - 1 4 2 0 ) , 1969 (PCRHP, IVe section, V 6). - Guillaume Henri Marie Posthumus Meyjes, De editie van Clémanges, Opera Omnia, bezorgd door Johannes Lydius (Leiden 1613): Boeken verzamelen (collectionner des livres). FS J . R . de Groot, red. J . A . A . M . Biemans/E. Brachus/W.R.H. Koops e . a . , Leiden 1983, 2 3 1 - 2 4 8 . - Richard H. Rouse, Florilegia and Latin Classical Authors in Twelfth- and Thirteenth-Century Orléans: Viator 10 (1979) 1 3 1 - 1 6 0 . - Pierre Santoni, Les lettres de Nicolas de Clamanges à Gerard Machet. Un humaniste devant la crise du royaume et de l'Eglise ( 1 4 1 0 - 1 4 1 7 ) : M E F R M 99.2 (1987) 793 - 823. - Gustav Schuberth, Nicolaus v. Clémanges als Verfasser der Schrift: de corrupto ecclesiae statu, Großenhain 1888. - Anton Simon, Stud. zu Nikolaus v. Clémanges, Endingen 1929. - Franco Simone, La coscienza della rinascita negli umanisti francesi, R o m 1949. - Ders., II Rinascimento francese. Studi et ricerche, Turin 1961. — Cesare Vasoli, Les débuts de l'humanisme à l'univ. de Paris: Preuve et raisons à l'univ. de Paris. Logique, ontologie et théologie au XlVe siècle, hg. v. Zénon Kaluza/Paul Vignaux, Paris 1984, 2 6 9 - 2 8 6 . - Georg Voigt, Die Wiederbelebung des classischen Alterthums, oder das Erste J h . des Humanismus, 2 Bde., Berlin, II '1893, 3 4 2 . 3 4 9 - 3 5 5 .

Christoph Burger Nikolaus von Flüe (ca. 1. Leben

2. Werk

1417-1487) 3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 550)

Nikolaus (Nikiaus) von Flüe (Bruder Klaus), wurde um 1417 geboren und starb am 21. März 1487 in Sächseln/Schweiz. Er war ein bedeutender Mystiker, Asket und Ratgeber. Am 5. Mai 1947 wurde er von Papst Pius XII. heiliggesprochen. Bruder Klaus von Flüe ist die übertragende Heiligengestalt der Schweizer Geschichte und zählt zu den wichtigsten Laienmystikern des ausgehenden Mittelalters. 1. Leben Nikiaus von Flüe wuchs auf einem ansehnlichen Bauernhof auf. Als junger Bursche beteiligte er sich an militärischen Auszügen, doch schätzte er das Kriegshandwerk nicht. Höhere militärische Funktionen bekleidete er entgegen einer weitverbreiteten Ansicht nie. 1445/46 heiratete er die gut 14jährige Dorothea Wyss, die zehn Kindern, je fünf Buben und Mädchen, das Leben schenkte. Spätestens 1457 war er Vorsteher der Gemeinde Sachsein, und spätestens 1462 gehörte er dem Führungszirkel des Standes Obwalden an. Das Landammannamt (Präsidentenamt) lehnte er ab. Um 1465 legte er die politischen Ämter nieder, und zwei Jahre später verließ er, in der Absicht, als Pilger zu wallfahren, am 16. Oktober 1467 seine Familie. Zuvor ordnete er den Nachlaß und vertraute die Familie den zwei ältesten Söhnen an. Von Visionen bestärkt, kehrte er bald um und ließ sich im nahegelegenen Ranft nieder, wo er bis zum Tod in persönlicher Armut lebte. Er wurde bald ein begehrter Ratgeber und Fürbitter. Im Dezember 1481 wirkte er beim Stanser Verkommnis (erster gemeinsamer Bündnisvertrag der damals achtörtigen Eidgenossenschaft) entscheidend auf die Kompromißbereitschaft der eidgenössischen Stände ein. Er wurde in der Sachsler Pfarrkirche beerdigt. 2. Werk Bruder Klaus, wie er sich als Einsiedler nannte, konnte weder lesen noch schreiben. Er hinterließ nur wenige, von ihm diktierte Briefe. Von zentraler Bedeutung für sein

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Nikolaus von Flüe

Verständnis und die Grundlage seiner Berühmtheit war die völlige Abstinenz von Speise und Trank während der 19einhalb Jahre im Ranft. Der Ubergang vom strengen Fasten zur vollständigen Abstinenz begann mit der Lichterscheinung bei Liestal/Baselland, die ihn zum Rückzug in den Ranft bewog. Als Pilger war er weggegangen, als Eremit kehrte er zurück. Sein Beichtvater Oswald Ysner aus Kerns erkannte in der Abstinenz ein „Zeichen göttlicher Liebe" (Dürrer 1,468). Nikiaus bekannte ihm, schon immer begehrt zu haben, nichts zu essen, um Gott „desto näher zu sein" (ebd.). Bruder Klaus hinterfragte dieses Phänomen nicht. Fragen beantwortete er ausweichend: „Gott weiß" (Durrer 1,64). Einmal bekannte er aber Ysner, daß er aus der Betrachtung des Altarsakramentes eine „wunderbare Stärkung" (Durrer 1,468/545) empfange. So wie Gott sich den Menschen hingegeben hatte, so wollte er sich ganz Gott übergeben. In der Eucharistie wird diese Hingabe Gottes immer wieder neu vollzogen. Im Zentrum seiner Betrachtungen und Visionen stand die Dreifaltigkeit. Für die Meditation benützte er ein einfaches Radbild, das einen dynamischen Gott postuliert, dessen Allmacht dreifach von der Mitte zurückkehrt. Als Mystiker (-»Mystik) suchte er mit aller Konsequenz das Einswerden mit Gott. Da ihn das Leben als erfolgreicher Bauer, Ehemann, Vater und Politiker nicht befriedigte, geriet er um 1465 in eine tiefe Sinn- und Lebenskrise. Die Betrachtung des Leidens Christi, von seinem priesterlichen Freund Heimo Amgrund empfohlen, half ihm, sich daraus zu lösen und den ihm gemäßen Weg zu finden. Zahlreiche Erscheinungen und Visionen, die er mit Freunden besprach, führten ihn nach langem Ringen auf den Weg in den Ranft. Seine Eremitenkapelle weihte er -»Maria, der Mutter Jesu, der Apostelin Maria Magdalena, der Kreuzerhöhung und den 10000 Märtyrern, den damaligen Nationalheiligen der Eidgenossenschaft. Bruder Klaus läßt sich nicht in eine mystische Tradition oder Schule einreihen, da ein direkter Einfluß nicht nachweisbar ist. Es ergeben sich aber beim Studium der authentischen Briefe und der unzuverlässig überlieferten Visionstexte zwanglos sprachliche und inhaltliche Analogien zu Heinrich -»Seuse, Meister -»Eckhart, -»Nikolaus von Kues oder -»Teresa von Avila. 3.

Nachwirkung

Bruder Klaus war im ganzen deutschen Sprachraum wie auch in Norditalien (Mailand) bekannt. Während das einfache Volk ihn als „lebenden Heiligen" verehrte, erinnerte er die Gelehrten an die Altväter der ägyptischen Wüste, von denen ähnliches berichtet wurde. Sein Rat an die Abgesandten der Tagsatzung von 1481 in Stans wurde weniger von den Zeitgenossen denn der Nachwelt als große eidgenössische Friedenstat verstanden. In der Zeit der Reformation erinnerten Schweizer Reformatoren (Ulrich -»Zwingli, Heinrich -»Bullinger) vor allem an die politischen Ratschläge (Abkehr vom Pensions- und Söldnerwesen), soziale und politische Einigkeit) des Eremiten, während die katholische Seite die religiösen Aspekte (Gehorsam, Verehrung des Altarsakramentes) betonte. Martin -»Luther veröffentlichte 1528 einen papstkritischen Briefwechsel über Bruder Klaus. Diese konfessionellen Gegensätze lebten zu Beginn des 20. Jh. nochmals auf, als seine Heiligsprechung näherrückte. Besonnene Kräfte betonten aber stets, daß Bruder Klaus allen Christen gehöre. In jüngeren Publikationen rücken vermehrt seine Visionen (von Franz), sein Meditationsbild und Gebet (Stirnimann) sowie seine Mystik (Gröbli) in den Mittelpunkt des Interesses. Quellen Robert Durrer, Bruder Klaus. Die ältesten Quellen über den seligen Nikolaus von Flüe, sein Leben u. seinen Einfluß, 2 Bde., Samen 1917-21 = 1981. - Rupert Amschwand, Bruder Klaus, ErgBd. zum Quellenwerk v. Robert Durrer, Sarnen 1987. Literatur Heinrich Federer, Nikiaus v. Flüe, Frauenfeld 1928 Luzern/Stuttgart '1986. - Marie-Louise v. Franz, Die Visionen des Nikiaus v. Flüe, Zürich/Stuttgart 1959 Zürich J 1983. - Roland Gröbli,

Nikolaus Kabasilas

551

Die Sehnsucht nach dem „einig Wesen". Leben u. Lehre des Bruders Klaus v. Flüe, Zürich 1990. - Paul Hilber/Alfred Schmid, Nikiaus v. Flüe im Bilde der Jahrhunderte, Zürich 1943. - Charles Journet, Saint Nicolas de Flüe. Nouv. éd, Neuchätel/Paris 1947 Fribourg 4 1980; dt.: Der hl. Nikolaus v. Flüe, Übers, v. Hans Grossrieder, Freiburg/Schw. 1980. - Klara Obermüller, Ganz nah u. weit weg. Fragen an Dorothee, die Frau des Nikiaus v. Flüe, Luzern/Stuttgart 1982 J 1987. - Gertrude u. T h o m a s Sartory, Nikolaus v. Flüe. Zugänge zu einem Heiligen: Nikolaus v. Flüe. Erleuchtete Nacht. Holzschnitte zu seinen Visionen v. Alois Spichtig mit Texten v. Margit Spichtig, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1981,9-44. - Heinrich Stirnimann, Der Gottesgelehrte Nikiaus v. Flüe, Fribourg 1981. - Ernst Walder, Bruder Klaus als politischer Ratgeber u. die Tagsatzungsverhandlungen in Stans 1481, 1988 (Freiburger Geschichtsblätter 65).

Roland Gröbli Nikolaus Kabasilas (Chamaetos) (ca. 1319/23-nach 1. Leben

2. Werke

3. Lehre und Nachwirkung

1391) (Quellen/Literatur S. 552)

1. Leben Das Geburtsdatum hat sich durch neuere Forschungen (Sevcenko, Loenertz) um etwa dreißig Jahre verschoben, um der Unwahrscheinlichkeit eines überhundertjährigen Lebens zu entgehen; damit wurde Nikolaus (griech. Nikolaos) Kabasilas zum Zeitgenossen seines bleibenden Freundes (trotz Divergenzen im Palamitenstreit und in der Unionsfrage) Demetrios —»Kydones. Nikolaos zog dem Familiennamen seines Vaters (Chamaetos) den wohlklingenden seiner Mutter (Kabasilas) vor, was freilich lange Zeit zu Verwechslungen mit anderen Trägern dieses Namens führte, besonders mit seinem Onkel Neilos (Taufname: Nikolaos), dem Erzbischof von Thessalonike (gest. 1363). Seine Ausbildung in der Hauptstadt folgte zunächst dem üblichen Schema der cyKVKhoq naiöda, mit Schwerpunkten in der Astronomie und der patristisch-liturgisch begründeten Theologie. Als sein geistlicher Vater kann der Hesychastenmönch Dorotheos Vlates, später Metropolit seiner Geburtsstadt Thessalonike, gelten. Seine politische Karriere - als Jurist bekämpfte er vor allem den Wucher (-»Zins) und staatliche Ubergriffe im sakral-spirituellen Bereich - begann er auf dem Höhepunkt der dynastischen Auseinandersetzung zwischen den Palaiologen und Johannes VI. Kantakuzenos, dem Nikolaos Kabasilas treu verbunden bleibt; in dessen Auftrag versucht er, die Anerkennung der Zelotenpartei in Thessalonike (Herrschaft: 1342-1349) für die Familie der Kantakuzenoi und deren Bischofskandidaten für die Stadt, Gregorios -»Palamas, zu gewinnen — umsonst. Dennoch wird er als (eheloser) Laie, der er zeitlebens blieb (ein Eintritt in den Mönchsstand bleibt Hypothese), 1353 sogar zu einem der Kandidaten für den Patriarchenthron. Über die Endphase seines Lebens ist nichts bekannt (der letzte an ihn adressierte Brief Kaiser Manuels II. stammt vom Jahre 1391). - Von der griechischen Kirche wurde er 1984 kanonisiert. 2. Werke Durch die Lücken in der Biographie sind viele Werke von Nikolaos Kabasilas nicht genau zu datieren; ihre inhaltliche Vielfalt ist auch der Hauptgrund, warum mehrere von ihnen noch nicht oder nur unzulänglich ediert sind (ganz abgesehen von unsicheren Zuschreibungen). Die beiden theologischen Hauptwerke, die mystische Abhandlung Über das Leben in Christus sowie der Kommentar Über die göttliche Liturgie, fanden allerdings in den letzten 150 Jahren (seit 1848) ein steigendes Interesse in zahlreichen Editionen, Übersetzungen, Monographien, Dissertationen und Einzelstudien. Das mag damit zusammenhängen, daß Nikolaos Kabasilas zwar die beiden führenden Strömungen seiner Zeit, Palamismus und Humanismus, gut kannte, aber ihnen gegenüber eine unabhängige Stellung einnahm, so daß sein Werk uns heute weniger zeitgebunden erscheint als das seiner Zeitgenossen; zudem lassen ihn seine bei allem Engagement für Staat und Kirche gewahrte Distanz zur Hierarchie und zum Mönchtum sowie seine dezidierten

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N i k o l a u s Kabasilas

Stellungnahmen zu rechtlichen und ethischen Z e i t f r a g e n heute als P r o t o t y p einer gesunden L a i e n f r ö m m i g k e i t erscheinen. Seine Predigten und hagiographischen W e r k e , seine philosophischen Schriften s o w i e seine Polemik gegen W u c h e r und behördliche Willkür zeigen die Breite seiner geistigen Interessen (im R a h m e n der klassisch-patristischen T r a dition), besitzen a b e r d u r c h die inzwischen veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse nicht m e h r die ursprüngliche, u n m i t t e l b a r e Überzeugungskraft.

3. Lehre und Nachwirkung D a s gedankliche E i g e n g u t des N i k o l a o s Kabasilas ist schwer zu fassen. Sein W e r k Über

das Leben

in Christus

enthält s o w o h l G e d a n k e n über die vita beata,

w i e m a n sie

v o n —»Aristoteles o d e r —»Augustin her kennt, ist a b e r gleichzeitig zentriert a u f die Initiationssakramente

- » T a u f e , Salbung ( - » F i r m u n g ) und Eucharistie

(-»Abendmahl).

Schlüsselbegriffe wie W i e d e r g e b u r t und Teilhabe ( a m göttlichen Leben), Bilder wie das v o m F e u e r d u r c h g l ü h t e Eisen für den P r o z e ß d e r persönlichen Heiligung (letzteres im L i t u r g i e k o m m e n t a r s o w i e in den m a r i a n i s c h e n Homilien) sind charakteristisch. A b e r all dies entspricht a u c h d e r Väterüberlieferung, die bei N i k o l a o s Kabasilas d u r c h spars a m e Z i t a t e , besonders aus d e m a u c h im Palamitenstreit von beiden Parteien g e s c h ä t z t e n P s e u d o — » D i o n y s i u s A r e o p a g i t a , allzeit p r ä s e n t ist. N i k o l a o s Kabasilas widersetzt sich ebenfalls jeder engen, konfessionellen V e r e i n n a h m u n g . - Sein Weiterleben in der n a c h byzantinischen E p o c h e ( z . B . d u r c h K o p i e n des M a x i m o s Peloponnesios für P a t r i a r c h M e l e t i o s Pegas) und seine R e n a i s s a n c e in d e r N e u z e i t sind sicher seiner Sensibilität für die christliche E x i s t e n z in d e r Welt zu v e r d a n k e n .

Quellen a) Theologische Werke: Daß der Mensch ohne Glauben nicht vollendet werden kann: Athanasios A. Angelopulos, NixôXaoç KaßäoiXcu; Xaftœzôç, Thessalonike 1970,114 f. - Drei Lobreden auf den hl. Demetrios: Theophilos Joannou, Mvrjpeîa âyioXoyixâ, Venedig 1884 = Leipzig 1973, 6 7 - 1 1 4 ; Basileios Laurdas: EEBS 22 (1952) 9 9 - 1 0 5 ; Basileios S. Pseutogkas, "Enzà àvéxôozoï Xôyoi TO npûrcov êxôiôopévoi, Thessalonike 1976, 1 3 5 - 1 4 2 . — Drei marianische Homilien: Martin Jugie: PO 19, Paris 1926, 465 - 5 1 0 ; Panayotis Nellas, NixoXâov KaßäaiXa - H Osoptr/zaip, Athen 1968 '1974. - Elç zijv Qtiav Xzizovpyiav: Sévérien Salaville (u.a.), Nicolas Cabasilas - Explication de la

divine liturgie, Paris 1943 2 1967 (SC 4bis) (krit. Ed.). - Ubers.: Ene Brannte, Explicarea Sf. Liturghii dupa Nicolae Cabasila, Bukarest 1943; J o a n Merwyn Hussey/P.A. McNulty, Nicholas Cabasilas - À Commentary on the Divine Liturgy, London 1960; Sévérien Salaville (s.o.). - Eiç ztjv iepàv ozoXijv/IIepitc5v ¿v t;J Oeiq. Xazovpyiç zeXoufiévœv: RenéBornert: Sévérien Salaville (s.o.) 3 6 4 - 3 8 1 (mit frz. Ubers.). - Enkomion auf die drei Hierarchien: Konstantinos Dyobuniotes: EEBS 14 (1938) 1 5 7 - 1 6 2 . - Enkomion auf die hl. Theodora: PG 150, 7 5 3 A - 7 7 2 B . - Epigramme/Epitaphien u.a.: Athanasios A. Angelopulos (s. o.) 9 9 - 1 0 2 (Anm.); Antonio Garzya: B B G G 10 (1956) 53 - 5 9 . - Gebet zu Christus: Sévérien Salaville: E O r 35 (1936) 4 3 - 4 6 (mit frz. Ubers.). - Kazd zäv zov rptjyopä Xr/pr/ftaziov Xôyoç: Antonio Garzya: Byz. 24 (1954) 5 2 4 - 5 3 2 . - Logos auf den hl. Nikolaos: Basileios S. Pseutogkas (s.o.) 1 2 4 - 1 3 4 . - Panegyrikos auf den hl. Andreas Neos: Athanasios PapadopuIos-Kerameus, EuXÀoyrj naXaiozivfjç xaiavpixijç âyioXoyiaç, St. Petersburg, 1 1 9 0 7 , 1 7 3 - 1 8 5 . - IJepi zijç ¿v Xpwzfp Çorjç: Marie-Hélène Congourdeau, Nicolas Cabasilas - La vie en Christ, Paris 1989/90 (SC 355.361) (krit Ed.); Wilhelm Gass, Die Mystik des Nikolaus Cabasilas vom Leben in Christo, Greifswald 1849 Leipzig 2 1899, 3 - 2 0 9 . - Übers.: S. Broussaleux, Nicolas Cabasilas, La vie en Jésus-Christ, Chevetogne ' i 9 6 0 ; Carmino J . de Catanzaro, Nicholas Cabasilas, T h e Life in Christ, Crestwood/New York 1974; Marie-Hélène Congourdeau (s.o.); Antonios Fyrigos (Hg.), Nicolau Cabasilas, La vida en Christ, Barcelona 1993; Gerhard Hoch/Endre v. Ivânka, Nicolaus Kabasilas: (Sakramentalmystik der Ostkirche.) Das Buch vom Leben in Christus, Klosterneuburg/München 1958 Wien/München/Basel '1966 Einsiedeln J 1991; M . Lisney, Nicolas Cabasilas - Life in Christ, 1989 (Auswahl); Friedrich Murawski, Führer zu Gott, Mainz 1926, 1 5 7 - 2 1 9 (Auswahl); Umberto Neri, Nicola Cabasila - La vita in Cristo, Turin 1971, 6 3 - 1 0 1 . - Vier Logoi auf die Visionen Ezechiels: Gennade Limouris: Kl. 14 (1982) 7 9 - 8 3 ; Basileios S. Pseutogkas (s.o.) 5 5 - 9 1 . - Vorrede zum Traktat über den Hl. Geist des Neilos Kabasilas: Andronikos K. Demetrakopulos, Dp6ôôo&ç "EXXâi, Leipzig 1872, Nachdr. Athen o. J . , 7 8 - 8 0 ; PG 149, 6 7 7 - 6 8 0 . - Zwei Homilien auf die Passion u. Himmelfahrt Christi: Basileios S. Pseutogkas (s.o.) 9 2 - 1 2 3 . b) Profane Werke: Gegen die Verleumder der weltlichen Weisheit/An die Athener über den Altar der Barmherzigkeit: Athanasios A. Angelopulos (s.o.) 1 1 1 - 1 1 3 . 1 1 6 - 1 1 8 . - Gegen die Wu-

Nikolaus Kabasilas

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cherer: PG 150,728A-749B. — Kommentar zum III. Buch des Ptolemaios: Simon Grynaeus, Oécovoç 'AXeÇavôpécoç Eiç rixoXepaíov MeyáXnv oóvxa&v ónopvt¡páxa>v ßißX. TX, 131-194: KÀauSiou ilxoXeßaiov MeyàXrjyç avvxàÇecoç ßißX. TT/Oécovoç 'AXe(avôpétoç Eiç xà aùxà ônofjvrjpâxcov ßißX. TÄ, Basel 1538. - Lobreden auf Anna von Savoien u. Matthaios Kantakuzenos: Martin Jugie: Izvestija Russkago Archeologiceskago Instituta v Konstantinopole 15 (1911) 112-21; Vitalien Laurent: Hell. 9 (1936) 201-204 (Var./Erg.). - Aôyoç rcepì xcòv napavó/uov xoîç äp/ovaiv ¿ni xoiç iepoîç XoXficafiévcov: Ihor Sevcenko: DOP 11 (1957) 9 1 - 1 2 5 = ders., Society and Intellectual Life in Late Byzantium IV, London 1981. - Ilepì xóxoo: Rodolphe Guilland, Eiç fivr\po]v E. A&pnpoo, Athen 1935, 274-277; Vitalien Laurent (s.o.) 200f (Var.). - Ilepì xov xpixrjpiov xfjç dXrjOeiaç ei êaxi napà Ilùfipœvoç xov xaxapáxov: Ludwig Radermacher/Anton Elter, Natalicia Regis Augustissimi Guilelmi I I . . . indicant Universitatis Rector et Senatus, Bonn 1899, 5 - 1 2 . c) Briefe: P. Enepekides: ByZ 46 (1953) 2 9 - 4 5 (18 Briefe); Raymond-Joseph Loenertz, Demetrius Cydonès. Correspondance, Città del Vaticano, I 1956, 169-172 (5 Briefe). - Briefe an Nikolaos Kabasilas: Angela Constantinides Hero, Letters of Gregory Akindynos, Washington D.C. 1983, 6 0 - 6 3 (mit engl. Übers.); Raymond-Joseph Loenertz, Demetrius Cydonès (s. o.), Città del Vaticano, II 1960, 92; ders.: Mak. 4 (1950-1960) 3 8 - 4 6 ; Nikolaos B. Tomadakes: EEBS 29 (1959) 31 f; Demetrios G. Tsames: Aaßiö Aiaimáxoo Aôyoç xaxà BapXaàft xai 'AxivSvvov izpàç NixôXaov KaßäaiXav, Thessalonike 1973 (Rez.: ByZ 69 [1976] 96 f). - Dt. Übers.: Franz Tinnefeid, Demetrius Kydones-Briefe, Stuttgart, 1.1 1981, 165-168; ders., a.a.O. 1.2 1 9 8 2 , 3 2 4 - 3 2 7 . 6 2 7 f ; ders., a.a.O. II 1991, 209-211. Literatur (Bischof) Aleksij (Molcanov), Vizantijskie cerkovnye mistiki 14-go veka: PravSob 2 (1906) 120-141. - Constantin Andronikof, Die eucharistische Lehre von Nikolaos Kabasilas: OR.B 31 (1977) 150-162. - Athanasios A. Angelopulos, Tò yeveaXoyixòv ôévôpov xfjç otxoyeveiaç xwv KaßaoiXiöv. Mak. 17 (1977) 367-396. - Michel Aubineau, Textes de Jean Chrysostome et de Nicolas Cabasilas dans le „Sinaiticus gr. 381": Ainxvxa 3 (1982/83) 240f. - Hermcncgild M. Biedermann, Die Lehre von der Eucharistie bei Nikolaos Kabasilas (t 1371): OstKSt 3 (1954) 2 9 - 4 1 . - Ders., Christusgemeinschaft in der Eucharistie bei Nikolaos Kabasilas: Praesentia Christi. 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554

Nikolaus von Kues

dans l'oeuvre de Nicolas Cabasilias: Iren. 26 (1953) 3 7 6 - 3 8 9 . - Dies., L'eucharistie chez Nicolas Cabasilas: DViv 24 (1953) 1 2 5 - 1 3 4 . - Dies., Le martyre comme témoignage de l'amour de Dieu, d'après Nicolas Cabasilas: Irén. 27 (1954) 1 5 7 - 1 6 8 . - Dies., Un maître de la spiritualité byzantine au X I V ' siècle: Nicolas Cabasilas, Paris 1958. - Franc Ksaver Lukman, Nikolaj Kabasilas in Simeon Solunski o epiklesi: Bogoslovski Vesnik 7 (1927) 1 - 1 4 . - Petrus Mayer, Die Früchte der Eucharistie nach der Lehre des Nikolaos Kabasilas: OstKSt 5 (1956) 1 7 7 - 1 9 5 . - Lambert Mellis, Die eucharistische Epiklese in den Werken des Nikolaos Kabasilas u. des Symeon v. Thessalonike, R o m 1977 (These/Teilabdr.). - Horst Müller-Asshoff, Beobachtungen an den Hauptschr. des Gregorios Palamas u. Nikolaos Kabasilas: B y Z 70 (1977) 2 2 - 4 1 . - Panayotis Nellas, NiKÔXaoç KaßäaiXag:

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Gerhard Podskalsky

Nikolaus von Kues (Nicolaus de Cusa, Nicolaus Cusanus) 1. Leben ratur S.561)

2. Werke

3. Philosophisch-theologische Lehre

(1401-1464)

4. Nachwirkung

(Quellen/Lite-

1. Leben Nikolaus Krebs (oder Cryfftz, latinisierte Form: Nicolaus Cancer), so der fast vergessene Familienname, wurde 1401 in Kues an der Mosel geboren. Bekannt wurde er,

Nikolaus von Kues

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der schon zu Lebzeiten als einer der bedeutendsten Kirchenpolitiker, Philosophen und Theologen des 15. Jh. galt, zunächst als Nicolaus Trevirensis (nach seiner Heimatdiözese), bald aber schon nach seinem Geburtsort als Nicolaus de Cusa oder auch Nicolaus Cusanus. Gesicherte Lebensdaten liegen erst ab Anfang 1416 vor, als er sich zum Eingangsstudium in der Artistenfakultät der damals nominalistisch (-»Nominalismus) ausgerichteten Universität -»Heidelberg immatrikulierte, die er nach etwa einem Jahr wieder verließ. Spätestens seit Ende 1420, wahrscheinlich aber schon früher, studierte er an der Universität Padua Kirchenrecht. 1423 schloß er dort das Fachstudium mit der Promotion zum doctor decretorum ab. 1425 ließ er sich als Doktor des kanonischen Rechts an der Universität zu -»Köln immatrikulieren. O b er dort, wie manche nicht ohne Grund vermuten, bei dem Kölner Albertisten Heimeric van den Velde (Heymericus de Campo) Philosophie und Theologie studierte oder, was von seiner Qualifikation her durchaus möglich war und von anderen in Erwägung gezogen wird, in der juristischen Fakultät lehrte, geht aus den Quellen ebensowenig hervor wie die Dauer seines Aufenthalts in Köln. Die philosophisch-theologischen und kirchenpolitischen Schriften seines Freundes Heimeric, mit dem er 1428 eine Reise nach Paris zum Studium der Werke des Katalanen Raymundus -»Lullus unternahm, haben sein eigenes Werk nachhaltig beeinflußt. Zwei Lehrstuhlangebote (Ende 1428, erneut 1435) der neugegründeten Universität -»Löwen für eine Professur des kanonischen Rechts schlug er aus. Sicher ist, d a ß Nikolaus bald nach dem Paduaner Studienabschluß anwaltlich, seit 1425 als Sekretär des Trierer Erzbischofs tätig war, zunächst in Sachen einer Kloster- und Klerusreform, seit 1430 vor allem in dem aus einer Doppelwahl entstandenen Trierer Bischofsstreit, in dem er die Interessen eines der beiden Trierer Elekten, Ulrichs von Manderscheid, gegen den päpstlichen Kandidaten, den damaligen Speyerer Bischof Raban von Helmstadt vertrat (Meuthen, Trierer Schisma). Als Prokurator Ulrichs trat Nikolaus zunächst auf dem Nürnberger Reichstag (1431), ab Februar 1432 auch auf dem Basler Konzil (-•Basel-Ferrara-Florenz) auf, das 1431 als Reformkonzil eröffnet worden war. Dazwischen lagen mehrere, teils in offizieller Mission durchgeführte Romreisen (1424, 1427, 1429), aber auch die Wahrnehmung der ihm aus mehreren Pfründen obliegenden Pflichten. Obwohl Nikolaus nach mehrfachem Dispens die Priesterweihe erst zwischen 1436 und 1440 empfing, nahm er als Kanoniker an St. Florin bereits seit Ende 1430 das Predigeramt in Koblenz wahr.

In Basel vertrat er die Sache Ulrichs und der Trierer mit Nachdruck; seine Argumentation war grundsätzlicher Art: Nach der römischen Rechtsmaxime quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet (was alle bindet, muß von allen gebilligt werden) forderte er in dieser wie für alle anderen Kirchenangelegenheiten Einvemehmlichkeit und Konsens. Weil ius divinum und ius naturale über allem positiven Recht, auch über dem des Papstes stehe, dürfe kein Bischof und Würdenträger den Diözesanen gegen ihren Willen aufgenötigt werden. Gestützt auf alte, zum Teil von ihm selbst in Archiven und Bibliotheken ausgegrabene Entscheidungen, suchte Nikolaus diese Position auch mit historischen Argumenten abzusichern. Gleich nach Inkorporation in die Konzilsversammlung wurde er der Deputation für Glaubensangelegenheiten zugeteilt. Von Beginn an war er so mit einer Reihe von Fragen befaßt, die dem Konzil zur Behandlung und Entscheidung vorlagen, u . a . mit der Hussitenfrage (-»Hus/Hussiten; Hallauer), einem Simoniedekret und mit Schiedsrichtertätigkeit in verschiedenen Streitsachen. In Grundsatzfragen wie der Oberhoheit von Konzil oder Papst bestanden in Basel von Anfang an unterschiedliche Auffassungen und Interessen: Konziliaristen (—»Konziliarismus) auf der einen, Papst, Kurie und deren Anhänger auf der anderen Seite. Infolge der Interessenwahrnehmung des Trierer Elekten, für deren Durchsetzung die Unterstützung des Konzils erforderlich war, stand Nikolaus zunächst in Gegensatz zu den Papalisten. Deutlichen Ausdruck fand dies 1433 in seiner Beteiligung an einem Konzilsverfahren gegen Eugen IV. (AC Nr. 161). Aber noch bevor das Konzil 1439 die Kon-

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Nikolaus von Kues

zilsoberhoheit über den Papst definierte, vollzog Nikolaus einen Parteiwechsel. Äußerer Anlaß dafür waren die Bemühungen des Konzils um eine Wiedervereinigung der seit 1054 getrennten römischen und griechisch-byzantinischen Kirchen. Als Nikolaus erkannte, daß Einheit der Kirche vor allem Einheit mit dem Papst bedeute und die Eintracht der Kirchen eher mit dem Papst als mit der zerfallenden konziliaristischen Partei zu erreichen sei, stellte er sich im Mai 1436 auf die Seite der päpstlichen Konzilsminorität. Mit einer Gesandtschaft dieser Konzilsminorität verließ er am 17. Mai 1437 Basel, um in Konstantinopel Verhandlungen mit den Griechen zu führen. An den erfolgreichen Verhandlungen über ein Unionskonzil hatte er entscheidenden Anteil. Während des zweimonatigen Aufenthalts fand Nikolaus auch Zeit und Gelegenheit zu Koranstudien und zum Erwerb wertvoller Handschriften (Konzilsakten, patristisch-theologische, philosophische und Schriftstellertexte). Anfang Februar 1438 kam die Gesandtschaft mit einer griechischen Verhandlungsdeputation in Venedig an. In einer Kurzautobiographie vom Jahre 1449 resümierte Nikolaus seinen Erfolg so: „In seinem 37. Lebensjahr wurde er von Papst Eugen IV. nach Konstantinopel gesandt; er brachte den Kaiser der Griechen [Johann VIII. Palaeologus], den Patriarchen [Josef II.] und 28 Erzbischöfe der Ostkirche mit, die auf dem Konzil von Florenz den Glauben der heiligen Römischen Kirche ann a h m e n " (AC 1,2 Nr. 849). Über die Auseinandersetzungen hatte sich inzwischen das Konzil gespalten. Während die mehr und mehr schrumpfende konziliaristische Restpartei weiterhin in Basel tagte und durch Wahl des Gegenpapstes Felix V. (1439) ein neues Schisma schuf, kam es nach Verlegung des päpstlichen Konzils zunächst nach Ferrara, dann nach Florenz, dort am 6. Juli 1439 zum freilich nie recht wirksam gewordenen Konkordanz- und Einigungsvertrag, an dem Nikolaus allerdings wegen der Wahrnehmung anderer ihm vom Papst übertragener Aufgaben nicht mehr beteiligt war. Der Wechsel von der konziliaristischen zur päpstlichen Seite, den Nikolaus selbst stets als bruchlose Konsequenz seiner ursprünglichen Anschauung und Lehre (De concordantia catholica) wertete, wurde von den Baslern und auch später noch als opportunistische Wende bewertet. Enea Silvio Piccolomini, der Freund und spätere Papst —•Pius II., nannte ihn „Herkules der Eugenianer", eine Charakterisierung, die später in reformatorischen Kreisen wieder aufgegriffen wurde (Johannes Kymeus, Des Babsts Hercules wider die Deudschen, Wittenberg 1538: CusSt VI = SHAW.PH 1940/41, 6). Eine historische Bewertung dieses Wechsels sollte in der Mitte zwischen den beiden Bewertungsextremen liegen. Denn es ging Nikolaus um die Herstellung kirchlicher Einheit dort, wo sie möglich wurde, auf jeden Fall aber in Einheit mit Rom, auch um den Preis schismatischer Trennung mit der konziliaren Kirche. Manche, nicht unwesentliche Argumente seiner theoretischen Erörterungen und Äußerungen aus jener Zeit lassen den Wechsel konsequent und in Übereinstimmung mit der zuvor vertretenen Position erscheinen - diese Wertung hat sich heute weitgehend durchgesetzt - , andere, auf die sich vor allem seine Kritiker nicht grundlos berufen konnten, sprechen entschieden dagegen. M a n wird bei der „wohlverhaltenden Gesinnung", wie Nikolaus in der kurzen Autobiographie sein Verhalten gegenüber der römischen Kirche später umschrieb, auch die Berücksichtigung eigener Interessen in Rechnung stellen, gepaart mit einem sicheren, weitsichtigen Gespür dafür, wo die Z u k u n f t der Kirche, aber auch wo die eigene lag. Seine Einschätzung der Lage sollte sich bald schon als zutreffend erweisen. Das Basler Reformkonzil scheiterte. Nikolaus rückte in die vorderste Reihe kirchlicher Handlungsbevollmächtigter und Würdenträger vor, sichtbar dokumentiert einmal durch die ihm übertragenen Aufgaben, dann aber auch durch die Ernennung zunächst zum Kardinal in petto (1446), dann zum Fürstbischof von Brixen im Jahre 1452, schließlich aber auch durch die Tatsache, daß er bereits im Konklave von 1447 einer der Kandidaten war (AC N r . 740). Zunächst war er jedoch als päpstlicher Verbindungsmann zu den deutschen Fürsten auf Fürstenversammlungen und Reichstagen tätig, um deren Neutralität im Papstschisma

Nikolaus von Kues

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zugunsten der Anerkennung Eugens IV. aufzuheben. Der erstrebte Erfolg stellte sich schließlich ein und wurde in den Fürstenkonkordaten (1446/1447) und im Wiener Konkordat (1448) besiegelt. Zehn M o n a t e später wurde Nikolaus zum Kardinal kreiert; den Kardinalshut nahm er im Januar 1450 in Rom in Empfang. Als Titelkirche erhielt er San Pietro in Vincoli, wo auch heute noch sein Grabmal steht (AC Nr. 776-781.784; 862f; 788). Anfang 1451 begann er eine neue Mission als päpstlicher Legat in Deutschland, ausgestattet mit Vollmachten für die Verkündigung eines Jubiläumsablasses zum Heiligen Jahr und für eine Kirchen-, Klerus- und Klosterreform (AC N r . 953). Auf der eineinvierteljährigen Legationsreise durch Österreich, Deutschland und die Niederlande visitierte und reformierte er Kirchen und Klöster (Itinerar vorerst noch nach Koch, Umwelt; demnächst in AC 1,3). An die 50 Predigten sind aus dieser Zeit überliefert. Sogleich danach übernahm Nikolaus das Bischofsamt in Brixen, das ihm gegen den Willen des Domkapitels vom Papst übertragen worden war. Der ihm vor allem vom Landesfürsten Sigmund von Österreich entgegengesetzte erbitterte Widerstand (Jäger), an dem er schließlich auch scheiterte, verhinderte den vollen Erfolg seiner Absicht, die in zwei Jahrzehnten entwickelten Reformvorstellungen in seinem Bistum beispielhaft zur Wirkung zu bringen. Nach turbulenter Entwicklung holte ihn Pius II. 1458 an die Kurie nach Rom. Im folgenden Jahr legte er einen Vorschlag für eine weitreichende allgemeine Reform der Kirchenleitung vor ( R e f o r m a t i o generalis), die u . a . ein tägliches kleines Kirchenkonzil von Papst und Kardinälen und die Überprüfung päpstlicher Amtsführung durch Visitatoren vorsah. Im selben Jahr wurde er Generalvikar des Kirchenstaates. Seit Jahren schon durch Krankheit beeinträchtigt, starb Nikolaus am 11. August 1464 auf der Reise von Rom nach Ancona, auf die ihn der Papst mit dem Auftrag geschickt hatte, für das Zustandekommen eines Kreuzzugs gegen die Türken zu sorgen. Sein Leichnam wurde in Rom in seiner Titelkirche St. Peter in Ketten, sein Herz in der Kapelle des von ihm und seinen Geschwistern gestifteten St. Nikolaus-Hospitals in Kues (Marx, Geschichte) begraben, wo testamentarisch bis heute seine umfangreiche Bibliothek aufbewahrt wird (Testament ebd. 248-253). 2. Werke Neben den kirchenpolitischen Aktivitäten und der zeitlebens ernstgenommenen seelsorgerischen Tätigkeit entstand - außerhalb der akademischen Diskussion - in drei Jahrzehnten ein erstaunlich umfangreiches und thematisch breitgefächertes Werk. Es umfaßt philosophisch-theologische, kirchen- und staatstheoretische sowie mathematisch-naturwissenschaftliche Schriften. Etwa ein Viertel der mehr als 50 Schriften wurde in Dialogform, der Rest in freier Traktatform verfaßt. Eine vom Autor veranlaßte (nicht komplette) Sammlung seiner Schriften enthalten die H a n d schriften 218 und 219 der Bibliothek des St.-Nikolaus-Hospitals in Kues (Marx, Verzeichnis; H a n d schriftenbeschreibungen in M F C G 3ff). Überliefert sind ferner rund 300 Predigten sowie ein umfangreiches Akten- und Briefwerk. (Das gesamte Werk wird in den Acta Cusana chronologisch erfaßt.)

Unter den vor allem aus den Jahren 1433-1442 stammenden kirchen- und staatstheoretischen Schriften ragt die in Basel verfaßte und bis in nachreformatorische Zeit vielbeachtete Schrift De concordantia catholica (Über die allumfassende Eintracht; h XIV, 1 - 4 ) heraus. Geleitet von den Ideen des Konsenses als Legitimationsprinzip, der Konkordanz, in der jeder Konsens seinen Ausdruck findet, und einer hierarchisch gestuften Repräsentation, entwickelte Nikolaus eine allgemeine Ekklesiologie (Buch I), eine Konzilstheorie, in der er auch einen Reformvorschlag für Kirche und Konzilien vorlegte (Buch II), eine kurzgefaßte allgemeine Staatstheorie, eine spezielle Reichstheorie und Reichsreform (Buch III). Der von Raymundus Lullus übernommene Konkordanzbegriff war für ihn nicht nur Leitidee für den gesamtgesellschaftlichen Bereich; Kon-

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Nikolaus von Kues

k o r d a n z w a r für ihn auch in ontischem Sinn Strukturmerkmal allen Seins. - Seine Kirchentheorie hat Nikolaus später präzisiert. E r erweiterte seinen differenzierten Kirchenbegriff u m eine eschatologische, pneumatisch-spiritualistische Kirchenvorstellung, in der die Kirche des Jenseits als die allumfassende Einung gedacht wird. Als „Einung aller E i n u n g e n " umfaßt sie die absolute göttliche Einung der Trinität, die hypostatische Einung von G o t t und M e n s c h in Jesus Christus, durch den als ihren Mittler die Einung der ecclesta triumphans, die selbst eine Einung der Seligen und Engel ist, mit G o t t hergestellt wird (De d o c t a ign. III 12; ferner Brief v o m 2 0 . M a i 1 4 4 2 an R o d r i g o Sänchez de Arevalo, C u s a n u s - T e x t e [ = C T ] 11,1: S H A W . P H 1 9 3 5 / 3 6 , 1 0 6 - 1 1 2 , künftig in h X ) . Weitere Schriften aus dieser Zeit: De maioritate auctoritatis sacrorum conciliorum supra auctoritatem papae (Uber den Vorrang der Autorität der heiligen Konzilien über die Autorität des Papstes, 1433; C T 11,2: SHAW.PH 1977); De auctoritate praesidendi in concilio generali (Uber die Präsidialgewalt in einem Universalkonzil, 1434; C T 11,1: SHAW.PH 1935/36). Aus der aktuellen Konzilsarbeit entstanden weitere Schriften: das auf einen Kompromiß bedachte Opusculum contra errorem Bohemorum (1433/34: p H 2 , .Brief' II und III, fol. 5 r - 1 3 v ) , das in einem von vier Streitpunkten, dem der Laienkommunion unter beiderlei Gestalt, für die Gewährung der hussitischen Forderung plädierte (dazu erneut und verschärfend 1452 .Brief' IV bis VII, ebd. 1 3 " - 2 2 ' und ein Gutachten von 1462); eine Gutachtenschrift zu der in Basel betriebenen, aber erst 1582 unter Papst -•Gregor XIII. durchgeführten Kalenderreform Reparatio kalendarii (auch unter dem Titel De correctione kalendarii, 1433; Die Kalenderverbesserung: Schriften des Nikolaus von Cues, Heidelberg 1955); der Dialogus concludens Amedistarum errorem ex gestis et doctrina concilii Basiliensis (Dialog, der den Irrtum der Anhänger des Amadeus von Savoyen [des Gegenpapstes Felix V.] nach den Verhandlungen und der Lehre des Basler Konzils beweist); in dieser Schrift (MFCG 17 [1986] 1 1 - 1 1 4 ) rechtfertigte Nikolaus auch seinen Wechsel zur päpstlichen Partei. In die Reihe kirchentheoretischer Schriften gehört auch die oben erwähnte Reformatio generalis (1459). Vor allem aus der Dekade 1 4 4 5 - 1 4 5 5 stammt eine Reihe mathematischer Schriften (bisher am umfänglichsten, wenn auch nicht komplett: b 111,939-1154; demnächst: h X X ; dt.: Schriften, H. 11, Hamburg 1952 2 1979), vor allem zum Problem der Kreisquadratur, zur Berechnung der Zahl n (wie sie später genannt wurde) und zu geometrischen Transformationen. Sie brachten ihm, der schon in Padua auch mathematische und naturwissenschaftliche Studien betrieben, später mathematische Schriften gesammelt und mit bedeutenden Mathematikern seiner Zeit in Verbindung gestanden hatte (Toscanelli, Peurbach, Regiomontan), unter Zeitgenossen und auch später noch die (allerdings nicht von allen geteilte) Wertschätzung als Mathematiker ein. (Einen Uberblick bietet Joseph Ehrenfried Hofmann, Einf.: Schriften, H. 11, VII—LH.) Sein Interesse an der M a t h e m a t i k w a r nicht zuletzt spekulativer Art (vgl. De mathematica perfeettone [Uber die mathematische Vollendung, 1458]). Dazu zog er, wie auch in vielen seiner philosophischen Schriften, mathematische Flächen- und Körperfiguren wie Winkel, Dreieck, Kreis oder Kugel ( M a h n k e ) heran, um an ihnen symbolhaft, wenn auch dann nicht m e h r mit mathematischer Stringenz, transzendierendes theologisches Denken zu erläutern. Die dabei a n g e w a n d t e transzendierende M e t h o d e geht, anders als die M e t h o d e more geometrico bei Descartes, Leibniz u . a . , von anschaulichen endlichen mathematischen Figuren aus, übersteigert diese dann in mathematisch-begrifflicher Abstraktion zur abstrakten unendlichen Figur (infinite Linie, infiniter Kreis u.s.w.), u m diese wiederum in den Bereich des nicht-mathematisch Unendlichen, nämlich auf G o t t , zu transzendieren. In ihrer symbolhaften Zeichenfunktion sollen sie einer intuitiven Gotteserkenntnis dienen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Schrift De theologtcis complementis (Uber die theologischen Vollendungen, 1453: h X , II, 2 a). Naturwissenschaftliche Probleme behandelt neben der Reparatio kalendarii und einem kosmologischen Fragment (CusSt I = SHAW.PH 1929/30, 3, 41 ff) vor allem das vierte der W/ofa-Bücher: De staticis experimentis (Der Laie über Versuche mit der Waage, 1450), in dem Nikolaus neben die spekulative Naturphilosophie eine auf Beobachtung beruhende, messende, quantifizierende, in Vergleich setzende Datenerfassung stellte, von der er sich exaktere Erkenntnisse der natürlichen Welt versprach, als sie aus autoritativem Bücherwissen gewonnen werden könne, Erkenntnisse allerdings, die nach der zuvor entwickelten Konjekturalmethode (De coniecturis, 1440/44; Koch, Ars coniecturalis) dennoch stets nur Mutmaßungscharakter haben würden. Mit De staticis experimentis hat Nikolaus seinen Ruf als einer der Vorbereiter der Experimentalwissenschaft begründet (Nagel).

Nikolaus von Kues 3. Philosophisch-theologische

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Lehre

Nikolaus von Kues wurde und blieb vor allem durch seine Lehre von der docta ignorantia (belehrte Unwissenheit) und coincidentia oppositorum (Zusammenfall der Gegensätze) bekannt, die er gleich in seiner ersten philosophischen Schrift De docta ignorantia ( = d.i.; 1440) entwickelte. In philosophischer Begründung und Argumentation behandelte er, ausgehend vom Begriff der Größe (maximitas), in dieser Schrift drei Größte (maxima). Als ,Größtes' bestimmte er dasjenige, dem gegenüber es ein noch Größeres nicht geben kann. (Eine ähnliche, doch in einem Punkt andere Bestimmung hatte -»Anselm von Canterbury gegeben: das Größte, über das hinaus ein Größeres nicht gedacht werden kann.) Ein erstes, absolut Größtes, nämlich Gott, ist Thema von d.i.I. Ein zweites Größtes, eingeschränkt im Vergleich zu dem absolut Größten, das Universum nämlich, führt zu einer spekulativen Kosmologie mit seiner Zeit weit vorauseilenden, dann aber vor allem von Giordano -»Bruno aufgenommenen Konsequenzen (u. a. Unbegrenztheit des Kosmos; Aufgabe des geozentrischen Weltbildes, jedoch ohne Festlegung auf ein heliozentrisches Weltbild wie bei —»Kopernikus; Hypothese einer Vielheit von Welten; d.i. II). Ein drittes und letztes Größtes, in dem sich die beiden anderen koinzidentell verbinden, ein absolut und zugleich eingeschränkt Größtes also, das als der inkarnierte Gott-Mensch Jesus Christus bestimmt wird, führt zu einer philosophisch fundierten Christologie und zu einer spekulativen Entfaltung theologischer Glaubens- und Heilsmysterien (d.i. III). In dieser Schrift zeigt sich das Verhältnis von Theologie und Philosophie exemplarisch für das ganze Werk des Cusanus. Bei wechselnder Akzentuierung philosophischer und theologischer Problemstellungen gehen beide stets in eins (Haubst, Theologie). Dabei bleiben Ausgangspunkt (ex eodem Semper progrediens fundamento [immer von derselben Grundlage ausgehend]: d.i. III n. 264, h I, 163, 19) und Methode philosophisch fundiert. Unbeschadet ihres Ausgangs von Glaubens- und Heilsgewißheit ist die cusanische Theologie immer eine philosophisch reflektierte Theologie. (Anders Kandier, der Cusanus in erster Linie als Theologen sieht.) Denn seine Philosophie ist weitgehend Metaphysik, die Theologie im Sinn einer Ersten Philosophie mit Ontologie verknüpft, wie es an dem Erklärungsmuster explicatio/complicatio deutlich werden kann: Gott ist Einfaltung der Welt und Welt Ausfaltung oder Theophanie Gottes. Abgesehen von einigen kleineren exegetischen Erklärungen und theologischen Gutachten (als Opuscula II später in h X, 1; s. Haubst, Christologie 313ff), hat Nikolaus auf eine durchgängige theologische Schriftkommentierung und systematische Bibelauslegung verzichtet. Seine Doktrin über Gott, Universum und Menschen entfaltete er von Beginn an mit Begriffskonstanten, die er vor allem aus der philosophisch-theologischen Tradition des -•Piatonismus und -»Neuplatonismus schöpfte. Dazu gehören das Theorem der coincidentia oppositorum (zu den Quellen u.a. Proclus, -»Augustin, -»Dionysius Areopagita, -»Johannes Scotus Eriugena, s. De beryllo, Adnotatio 2, h XI, 1, 93ff), das in der Schule von -»Chartres (besonders von Thierry von Chartres) aus der platonischen Partizipationslehre entwickelte Seins- und Denkschema complicatio/explicatio, das neuplatonische triadische Entfaltungsschema, aber auch die aus der aristotelischen Philosophie entwickelte ontologische und erkenntnistheoretisch-methodische regula doctae ignorantiae, derzufolge die Dinge ebenso wie auch die auf diese gerichtete Verstandeserkenntnis im Bereich des Endlichen nie zu einem absolut Größten oder Kleinsten, sondern immer nur zu aktual Größten oder Kleinsten gelangen können (vgl. De ven. sap. 26 n. 79, h XII, 76). Deshalb verfährt alle rationale, an das logische Widerspruchsprinzip gebundene Wissenschaft bei den Dingen des endlichen Bereichs, die dadurch gekennzeichnet sind, daß sie ein Mehr und Weniger sein oder haben können, komparativ. Wo es aber darum geht, ein absolut Größtes ohne Mehr oder Weniger zu denken, und wo Vergleichserfahrung fehlt, soll das" Denken unter Aufgabe der Bindung an das Widerspruchsprinzip über rationale Erkenntnisintentionen hinausgehen. Das unternimmt die

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Nikolaus von Kues

Vernunft, wenn sie das Absolute oder Gott zu erkennen strebt. Vom absolut Größten, das als solches alles in sich enthält (kontroverse Deutung bei Wilpert und Flasch, Metaphysik 158-174), allerdings gegensatzlos, und nichts in der Weise des Endlichen, redet sie also in koinzidenteller Weise: Gott ist alles, aber anders als alles (-»Analogie; affirmative -»Theologie) und daher zugleich auch nichts von allem (negative -•Theologie), weil stets das absolut Größte. Damit nahm Nikolaus die zwei von der Tradition vorgezeichneten Wege theologischer Redeweise, die bejahende (Gott ist...) und die verneinende (Gott ist nicht ...), in der Weise auf, daß er beide, kataphatische und apophatische Theologie, in eins verbindend (kopulativ wie Dionysius Areopagita) und, dies noch übersteigend, zusammenfallend benutzte (Gott ist . . . und ist zugleich nicht...). In dieser theologischen Redeweise werden alle Gegensätze aufgehoben, sie fallen in sich zusammen, wenn sie als in Gott zusammenfallend gedacht werden. Gegen die Koinzidenzlehre und deren Folgen hat der Heidelberger Theologieprofessor Johannes Wenck als erster den -»Pantheismus-Vorwurf erhoben (De ignota ¡iteratura: Hopkins 95-118; s. auch Haubst, Studien). In der Cusanus-Forschung sind ihm andere darin gefolgt (ausführlicher Überblick bei Jacobi, Methode 49ff). Johannes Wenck, der gegen die Koinzidenzlehre den noch weitergehenden Vorwurf erhob, sie zerstöre jedes Wissen über Gott und somit alle Theologie, erkannte in seiner mißverstehenden Kritik allerdings genau den Punkt, auf den Nikolaus, der dessen Vorwürfe vehement zurückwies (Apologia doctae ignorantiae, 1449; h II), hinauswollte. Er wollte nicht auf einen die Differenz zwischen Absolutem und Endlichem aufhebenden seinsmäßigen Zusammenfall von Gott und Welt hinaus, sondern auf eine visio dei, ein Schauen oder Sehen Gottes (Beierwaltes, Visio facialis), bei dem der Intellekt auf begriffliche Anschauung verzichtet, weil er weiß, daß Gott nicht gewußt werden kann. Dieses Wissen und das Bewußthaben dieses Wissens war für Nikolaus ein belehrtes (und dadurch von der sokratischen äyvoia unterschiedenes) Nichtwissen (docta ignorantiä). Aus solchem belehrten Nichtwissen soll im Sinne des areopagitischen ignote supra setpsitm ascendere (ohne Wissen aufsteigen über sich selbst hinaus) „im Dunkel der Unwissenheit" ein Aufstieg zu mystischem Wissen und zur Einung mit dem verborgenen, aber dennoch zu suchenden Gott (De deo abscondito, De quaerendo deum, um 1445) ermöglicht werden. Das ist die cusanische Theorie einer erkenntnisgebundenen (kontrovers: Senger, Mystik u. Haas, Deum, der mehr das affektive Moment betont; zum sog. Mystikerstreit im 15. Jh. Vansteenberghe, Autor; Riemann), spekulativen -»Mystik. Nikolaus formulierte sie vor allem in De theologicis complementis (1453), De visione dei (1455) und De beryllo (1458). Paradoxerweise liegt der Erkenntnisgewinn der mystica theologia gerade im Wissen, Gott nicht wissen zu können. Das Koinzidenzwissen ist die cusanische Alternative zu scholastischer Analogie-Theologie. Dieser Weg führt weg von einer Erlebnismystik und hin zu einer Mystik im Sinne des plotinischen (—»Plotin) evaxr/ij-Strebens, die schließlich in eine Theologie des Schweigens mündet. In der voluntativen Freiheit eines dann auch affektiven Einungs- und Liebesakts liegt die Freiheit zum existenziellen Selbstentwurf des Menschen, zu dem Gott spricht: Sis tu tuus, et ego ero tuus (sei du dein, dann werde ich dein sein). Und so ist es „in meine [des Menschen] Freiheit gestellt, mein zu sein, wenn ich will" {posuisti in libertate mea, ut sim, si voluero, meiipsius: De vis. dei c. 7 n. 25, p l , 102r). Seine Lehren faßte Nikolaus am Lebensende noch einmal ausführlich in De venatione sapientiae (h XII), kurzgefaßt im Compendium (h XI,3) zusammen, freilich ohne auf ihre weitere Ausfaltung zu verzichten, wie noch verschiedene Präzisierungsversuche beim Gottesbegriff und bei den Gottesnamen zeigen (De venatione sapientiae, De apice theoriae, Memoriale). 4.

Nachwirkung

Die Lehre des Nikolaus von Kues fand keine schulmäßige Fortsetzung. Dennoch lassen sich Einflüsse und auch Nachwirkungen durchaus aufweisen. Verbreitung hat,

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wie die starke handschriftliche Überlieferung der Schriften zeigt, seine philosophischtheologische Spekulation zu seiner Zeit in süddeutschen und österreichischen Klöstern gefunden, vor allem bei den Benediktinern in Tegernsee (Bernhard von Waging, Kaspar Aindorffer; s. dazu Redlich), aber auch bei Dionys Rykel (-»Dionysius der Kartäuser). In Italien wurden Marsilio -»Ficino, Giovanni und Gianfrancesco -»Pico della Mirandola, -»Leonardo da Vinci, besonders stark Giordano -»Bruno, auch noch Tommaso Campanella von ihr beeinflußt, in Frankreich die Humanisten Jacques Lefevre d'fitaples (-•Faber Stapulensis, der die zweite Werkausgabe 1514 besorgte) und Charles Bouille (Bovillus). Spuren seines Denkens finden sich auch im deutschen -»Humanismus beider Konfessionen (Rudolf Agricola, Konrad Celtis, Johannes -»Eck, Beatus Rhenanus, Gregor Reisch, Johannes -»Reuchlin, Hartmann Schedel, Johannes Trithemius), in der Naturphilosophie (Nikolaus -»Kopernikus, Johannes -»Kepler) und Theosophie (-»Agrippa von Nettesheim, Sebastian -»Franck, Valentin -»Weigel, Jakob -»Böhme). Sie alle haben durch (partielle) Rezeption dazu beigetragen, das Denken des Cusanus (partiell) präsent zu halten. Eine gewisse Kenntnis seiner Philosophie bestand auch im 17. und 18. Jh.; ihr Einfluß ist durch unterschiedliche Rezeptionsabsichten bestimmter Elemente gekennzeichnet (zur Rezeption im 15. bis 18. Jh. s. Meier-Oeser). Eine Rezeption der cusanischen Philosophie in der Verbindlichkeit ihres Einheitscharakters ist nicht nachweisbar. Einfluß auf -»Spinoza, -»Leibniz, -»Hamann, -»Fichte, -»Schelling und -»Hegel ist, wie auch der weitgehend indirekte Vermittlungsweg (Giordano Bruno), nicht leicht zu konkretisieren. Die Reformtätigkeit des Cusanus zeitigte zumeist nur kurzfristig Erfolge. Allerdings blieben die ihr zugrundeliegenden, vor allem in De concordantia catholica und De pace fidei entwickelten Ideen (Konsens, Konkordanz, Religionsfriede) länger im Bewußtsein der Nachwelt und wirkten über die Reformationszeit hinaus bis zu -»Lessing nach. - Einflüsse auf das künstlerische Wirken wurden bei Michael Pacher (Thurmann) und Albrecht -»Dürer (Beierwaltes, Identität; Klibansky) festgestellt. Quellen Hist.-krit. Ed.: Nicolai de Cusa opera omnia iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis ad codicum fidem edita, Leipzig 1932 ff; seit 1950ff Hamburg (noch nicht abgeschlossen; bisher ersch. oder im Erscheinen: 14 Bde./Teilbde. Sigle: H). — Vier Drucke des 15. u. 16. Jh.: l.Ed. princeps: Straßburg 1488 (2 Bde., Sigle: a); diplomatischer Nachdruck: Nikolaus v. Kues. Werke, NA des Straßburger Drucks von 1488, Bd. I—II, hg. v. Paul Wilpert, Berlin 1967. - 2. Cortemaggiore 1502 (2 Bde., Sigle: m; weitgehend Nachdr. von a). - 3. Nicolai Cusae Cardinalis Opera, Paris 1514 = Frankfurt/M. 1962 (3 Bde., Sigle: p; für die in krit. Ed. noch nicht ersch. Sehr, zu benutzen). - 4. D. Nicolai de Cusa ( . . . ) opera, Basel 1565 (3 Bde., Sigle: m; weitgehend Nachdr. von p). - Zur Editionsgesch. dieser vier Ausg. s. Raymond Klibansky: Sehr., H. 15c, hg. v. Hans Gerhard Senger, 1977, 225 -235. - Studienausg.: Sehr, des Nikolaus v. Kues in dt. Ubers. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wiss. (Sigle: Schriften), hg. v. Ernst Hoffmann/Paul Wilpert/Karl Bormann, Leipzig 1936ff, seit 1949ff Hamburg (bisher 20, teils mehrbändige H., seit 1964 zweisprachig dt./lat.; Sigle: H). - Phil.-theol. Sehr., hg. v. Leo Gabriel, übers, u. komm. v. Dietlind u. Wilhelm Dupre. Stud.- u. Jubiläumsausg. lat.-dt., 3 Bde., Wien 1964-1967 = 1989. - Weitere Einzelausg. u. Ubers, sind verzeichnet bei Vansteenberghe, Le Cardinal (s.u.) 468ff, in der Forts.bibliogr. in MFCG (s.u.), bei Santinello, Introduzione "1987, 187ff, Izbicki, The Literature (s.u.) 263ff. - Zur Lebensgesch.: Acta Cusana. Quellen zur Lebensgesch. des Nikolaus v. Kues. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wiss., hg. v. Erich Meuthen u. Hermann Hallauer, Hamburg 1976 ff ( = AC); bisher ersch. Bd.1,1 1976 (1401-1437, Mai 17), 1,2 1983 (1437, Mai 17-1450, Dezember 31); im Druck: 1,3 (Januar 1451-März 1452); in Vorb. II (April 1452-April 1460), III (Mai 1460-August 1464). Literatur Bibliogr.: Ältere Lit. (unvollst.) bei Edmond Vansteenberghe, Le Cardinal Nicolas de Cues (1401-1464). L'action - la pensee, Paris 1920 = Frankfurt/M. 1963 = Genf 1974, IX-XVII. - Lit. seit 1920: MFCG 1 (1961), 3 (1963), 6 (1967), 10 (1973), 15 (1982); wird fortges. - Thomas M. Izbicki, Nicholas of Cusa. The Literature in English through 1988: Nicholas of Cusa. In Search of God and Wisdom, ed. by Gerald Christianson/Thomas M. Izbicki, 1991 (SHCT 45) 259-281.

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Nikolaus von Kues

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Nikolaus von Lyra

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Hans Gerhard Senger

Nikolaus von Lyra (um 1. Leben

2. Werke

1270-1349) 3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 565)

1. Leben Der aus der Normandie stammende (geb. in Lyre bei Evreux) -»Franziskaner (seit ca. 1300) wurde an der Universität -»Paris 1307 Baccalaureus der Theologie; als deren Lehrstuhlprofessor (magister regens) amtierte er um 1310, wahrscheinlich wieder um 1333. Als Provinzoberer seines Ordens (1319—1324 Francia, dann bis ca. 1330 Burgund) schrieb er eine Postille (vgl. Smalley 270) als fortlaufende Schrifterklärung aller Bücher des Alten und Neuen Testaments nach ihrem „Buchstabensinn", wofür er - nicht als erster seit -»Hieronymus (s. Smalley), doch besonders gründlich - auf Sprache und jüdische Erklärungstradition des hebräischen Alten Testaments einging. Schon als mittellosen Schüler soll ihn die wichtige jüdische Schule zu Evreux aufgenommen haben (s. Rüthing). 2. Werke Nach eigenen Angaben hat Nikolaus die Postilla lateralis 1322-1331 verfaßt und ihr bis 1339 eine kürzere Postilla moralis folgen lassen, die mit allegorischen und ethischen Auslegungen der Predigt dient. Solcher „geistlichen Bedeutung" (sensus mysticus seu spiritualis) bleibt freilich immer „als Grundlage" (tamquam fundamentum) „vorausgesetzt", was als sensus litteralis seu historicus ihres Textes erhoben worden ist (Postilla litteralis, Prologus II: PL 113, 29C). So folgt Nikolaus in der üblichen -»Hermeneutik des Vierfachen Schriftsinns (Prologus I: ebd. 25B-30B) der von -»Hugo von St. Viktor, -»Thomas von Aquino u.a. vertretenen Richtung. Ist es aber „notwendig, das Verstehen des Buchstabens an den Anfang zu setzen" (necessarium est ineipere ab intellectu sensus litteralis, Prologus II: ebd. 29C), dann ist der Bedarf an Klärung noch groß, da über den „wahren (ursprünglichen) Text" (veritas textus) und die Richtigkeit „unserer Ubersetzungen" viel Unsicherheit besteht (ebd. 29D), dazu noch der grundlegende Textsinn unter der Menge der beliebteren übertragenen Erklärungen nicht recht zu Wort kommt, „teilweise erstickt wird" (partim suffocatur) (ebd. 30C). Daher wollte Nikolaus in seiner ersten Postille „mit Gottes Hilfe auf dem Buchstabensinn bestehen und (nur) sehr wenige und kurze mystische Erklärungen mitunter einflechten, wenn auch selten." „Desgleichen beabsichtige ich, nicht nur die Aussprüche (dicta) der katholischen Lehrer, sondern auch (solche) der hebräischen... anzuführen, am meisten des Rabbi Salomo" (ebd. 30C/D), d.h. des -»Salomo ben Isaak (Raschi). Wenn die christlichen die jüdischen Exegeten ernstnehmen, „soweit sie mit der Vernunft und der buchstäblichen Wahrheit übereinstimmen" (ebd. 30D), können sie erst richtig erkennen, wo sich die Wege trennen. Die „buchstäbliche" Meinung eines biblischen Autors kann, wenn er prophetisch spricht, mitunter zweifach verstanden werden: einmal auf eine Erfüllung in der Geschichte Israels, sodann auf eine vollkommenere Erfüllung im Neuen Testament gerichtet (I Chr 17,13; Prologus II: PL 113, 31D-32A; Postilla litteralis zu Jes 11,1; Hos 11,1; s. Ebeling, Evangelienauslegung 203). In metaphorisch gemeinten Texten ist der Buchstabensinn nicht im Bild, sondern im von diesem Gemeinten. Die ethische („moralische") Bedeutung ist zugleich die buchstäbliche in paränetischen Texten wie den Briefen des Neuen Testaments, die darum alle, wie im Alten Testament (Prov, Koh, aber auch z.B. Ps 104), in der Postilla moralis fehlen.

Nikolaus von Lyra

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Unter Nikolaus' kleineren Schriften (s. Labrosse, Œuvres 1 7 5 - 1 8 7 ) sind die beiden Apologien der Messianität und Gottessohnschaft Jesu (s. Labrosse, Œuvres; EtFr 35 [1923] 1 3 7 - 1 7 5 ) sowie der Tractatus de differentia translationis nostrae ab hebraica littera Veteris Testamenti, ein „Résumé der Postilla litteralis" für Studenten (Hailperin 139), mit dieser eng verbunden. Aus Nikolaus' Wirken als Universitätslehrer haben sich nur einzelne Lehrfragen (Quästionen) in anonymen oder anderen zugeschriebenen Disputationssammlungen erhalten. 3.

Nachwirkung

Kundige Einzelkritik - oft zugunsten der katholischen Tradition (besonders - » T h o mas von Aquino) gegen die jüdische — enthalten die Additiones des Paulus, Bischofs von Burgos, eines Konvertiten aus dem Judentum (1429). Gegen ihn verteidigte nicht auf dem gleichen Niveau Matthias Döring, O F M (gest. 1469) seinen Ordensbruder (Replicae). (Zu weiteren Stellungnahmen s. Labrosse, Œuvres 3 7 0 f . ) Zwischen 1471 und 1660 lassen sich (vgl. Gosselin, Listing) etwa zehn Drucke beider Postillen und dreißig der ersten allein (mit variierenden Titeln, z . B . Postillae perpetuae . . . , z . T . in Bibelausg.) nachweisen. Darunter wie unter den noch häufigeren Drucken einzelner Teile finden sich auch französische, italienische, deutsche und niederländische Übersetzungen. Bezeichnend für die Beliebtheit dieser „standard guides to the study o f the B i b l e " (Wood 45) bei Exegeten und Predigern - nicht zuletzt bei -»Luther (vgl. Gosselin a. a. O . 401) - ist auch, daß verschiedene große Bibeldrucke die erste Postille - sieben dazu die zweite (die allein nur in vier sehr frühen [bis 1483] Drucken erschien) - enthalten, meist samt Paulus von Burgos und Döring (s.o.), öfters auch Nikolaus' Probatio adventus Christi (vgl. u.). (Zu Repertorien zu und Auszügen aus den Postillen s. Labrosse Œuvres 44.369 f; Langlois 381 f. Zu Nikolaus' Nachwirkung in Literatur und Kunst s. Gosselin, Listing 4 0 2 bzw. Netter und Rüthing 43.) Quellen Postilla litteralis et moralis in Vetus et Novum Testamentum, 5 Bde., Rom 1471/72; weitere Drucke s. o.; daraus drei Vorreden: PL 123,25B-36A. - Tractatus de differentia translationis nostrae ab hebraica littera Veteris Testamenti, Rouen o.J. (15. Jh.). - Expositio orationis dominicae, Köln 1480; 7 weitere Drucke bis 1495 (s. Gosselin, Listing 405 f). - Disputatici contra perfidiam Judaeorum (auch: Probatio adventus Christi, u. a.) s. Gosselin, Listing 415 f. - Responsio ad quemdam ludaeum, Antwerpen 1634 (mit Bibel, Postillen u.a.). - Quästionenverz. v. drei QQ u. drei QD: Pelster, QQ 953-958; daraus QI. q. 18: Pelster, Nikolaus 231 -250. - Vier andere q. quodlibetales: Iohannes Duns Scotus, Op. omnia, Paris, V 1892, 357-384. 404-417 (vgl. Pelster, Nikolaus 212 f). - Eine weitere q.: Postilla, Ausg. Venedig 1588, fol. 275v-280r. - Oratio ad honorem S. Francisci, gedr. 1512, 1623 u. 1641 (s. Labrosse, Œuvres 185-187). Literatur Marcus Adinolfi, De mariologicis Lyrani postillis in Prophetas medii aevi exegeseos lumine perpensis: SBFLA 9 (1958/59) 199-250. - Ders., Maria et Ecclesia in Cantico canticorum penes Lyranum: DT(P) 80 (1959) 559-565. - Ders., De mariologicis Lyrani postillis in Pss 8,5; 19,5c-6; 22,10-11; 67,7a: Anton. 34 (1959) 321-335. - Ders., De protevangelio (Gn 3,15) penes Lyranum: Anton. 35 (1960) 328-338. - Ders., weitere Aufs.: Gosselin, Listing 402. - Bernhard Blumenkranz, Anti-Jewish Polemics and Legislation in the Middle Ages. Literary Fiction or Reality?: JJS 15 (1964) 125-140. - Ders., Nicolas de Lyre et Jacob ben Ruben: JJS 16 (1965) 4 7 - 5 1 . - Gerhard Ebeling, Ev. Evangelienauslegung. Eine Unters, zu Luthers Hermeneutik, 1942 (SGLP 10. Ser. 1) = Darmstadt 1962,130-136.152-155 u. ö. - Ders., Luthers Psalterdruck vom Jahre 1513: ZThK 50 (1953) 43-99. - Edward A. Gosselin, A Listing of the Printed Ed. of Nicholas de Lyra: Tr. 26 (1970) 399-426 (Lit.). - Ders., The King's Progress to Jerusalem. Some Interprétations of David during the Reformation Period and their Patristic and Medieval Background, Malibu/Calif. 1976 (Humana Civilitas 2) 2 5 - 4 8 u.ö. - .Palémon Glorieux, Répertoire des maîtres en théologie de Paris au XIII e siècle II, 1933 (EPhM 18) 215-231. - Herman Hailperin, Rashi and the Christian Scholars, Pittsburgh 1963,135-236.281-357 (Lit.). - Thomas M. Kalita, The Influence of Nicholas of Lyra on Martin Luther's Comm. on Genesis, Diss. Washington/D.C. 1985. - Henri Labrosse, Sources de la biographie de Nicolas de Lyre: EtFr 16 (1906) 383-404. - Ders., Biographie de

566

Nikolaus von Myra

Nicolas de Lyre: EtFr 17 (1907) 4 8 9 - 5 0 5 . - Ders., Œuvres de Nicolas de Lyre: EtFr 19 (1908) 4 1 - 5 2 . 1 5 3 - 1 7 5 . 3 6 8 - 3 7 9 ; 35 (1923) 1 7 1 - 1 8 7 . 4 0 0 - 4 3 2 . - Charles-Victor Langlois, Nicolas de Lyre, Frère Mineur: H L F 36 (1927) 3 5 5 - 4 0 0 (Lit.). - Henri de Lubac, Exégèse médiévale II. 2, 1964 (Theol. [P] 59) 3 4 4 - 3 6 7 . 4 3 2 - 4 3 5 u.ö. - Maria Netter, Die Postille des Nikolaus v. Lyra in ihrer Wirkung auf die Bibelillustration des 15. u. 16. J h . , Diss./Basel 1943 - Franz Pelster, Q u. q. des Nikolaus v. Lyra: Mélanges Joseph de Ghellinck S. J . II, Gembloux 1 9 5 1 , 9 5 1 - 9 7 3 . - Ders., Nikolaus v. Lyra u. seine „q. de usu paupere": AFH 46 (1953) 2 1 1 - 2 5 0 . - James S. Preus, From Shadow to Promise. O T Interpretation from Augustine to the Young Luther, Cambridge/Mass. 1 9 6 9 , 6 1 - 1 0 1 u.ö. - Kurt Ruh, Bonaventura dt., Bern 1956 (Bibliotheca Germanica 7) 46 (Lit.) u . ö . - Ders., Art. Nikolaus v. Lyra: VerLex 6 (1987) 1 1 1 7 - 1 1 2 2 (Lit.). - R B M A IV, 1 9 5 4 , 1 5 1 - 1 9 8 . - Heinrich Rüthing, Krit. Bemerkungen zu einer ma. Biographie des Nikolaus v. Lyra: AFH 60 (1967) 4 2 - 5 4 (Lit.; Text: 52f). - Olaf Schwencke, Die Glossierung atl. Bücher in der Lübecker Bibel von 1494, Berlin 1967. - Beryl Smalley, T h e Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1940 J 1983. — Ceslaus Spicq, Esquisse d'une histoire de l'exégèse latine au moyen âge, 1944 (BiblThom 26) 1 5 2 - 1 5 6 . 3 3 5 - 3 4 2 u . ö . - Félix Vernet, Art. Lyre (Nicolas de): D T h C 9 (1926) 1 4 1 0 - 1 4 2 2 (Lit.). - Wilfrid Werbeck, Jacobus Perez v. Valencia. Unters, zu seinem Psalmenkomm., 1959 (BHTh 28). - Rega Wood, Nicholas of Lyra and Lutheran Views on Ecclesiastical Office: J E H 29 (1978) 451-462.

Martin Anton Schmidt Nikolaus von Myra 1. Fest 2. Legende (Literatur S. 568)

3. Kult

4. Name

5. Reliquien

6. Patronate und Ikonographie

1. Fest Nikolaus, der Überlieferung nach im 4. Jh. Bischof von Myra im kleinasiatischen Lykien, über Byzanz und Unteritalien ab dem 9. J h . in der gesamten Christenheit als Wundertäter verehrt, gehörte seit dem 13. Jh. in der westlichen Kirche zu den großen Festtagsheiligen. Das Konzil zu Oxford 1222 reihte den zum ersten Mal in Neapel zwischen 821 und 842 als seinen Gedenktag benannten 6. Dezember in die höchste Klasse. Schon die griechische Vita des 9. J h . nennt die Feier eine „würdige Vorbereitung auf das Weihnachtsfest" (Anrieh II, 261). Der Zeitpunkt im Advent, Charakterisierung des Heiligen als Gabenbringer und Helfer in jeder Not haben spätere Bräuche ausgelöst. Seit der Translation der Gebeine von Myra nach Bari 1087 ist dort der 9. Mai zweiter Festtag. Sein Gedenktag steht im evangelischen Namenkalender (—»Heilige/Heiligenverehrung). Der Römische Kalender von 1969 bezeichnet das Fest als „nicht geboten". 2.

Legende

Für den historischen Nikolaus gibt es in der Tat keine zeitgenössischen schriftlichen Quellen. Sein Name fehlt in den Namenslisten des ersten Konzils von -»Nicäa 325, während die Akten des zweiten Konzils von Nicäa 787 vermerken, er sei einem Diakon im Traum erschienen (Anrieh I, 450). Faktum ist allein sein Kult. Nach der ältesten Legende aus der Zeit —• Justinians „Von den drei Feldherren" (Stratelaten) setzte seine Verehrung schon zu Lebzeiten ein, weil er Kaiser —»Konstantin im Traum als Bischof erschienen und um Errettung dreier unrechtmäßig Inhaftierter bat, „engelgleich" als „himmlischer Mensch" oder „irdischer Engel". In der Legende „Vom gefangenen J o seph" wird er „kosmischer M e n s c h " genannt. Die Legende zeigt immer den gedeuteten Heiligen, der für möglichen Ausgleich zwischen Gott und Mensch steht. Schon die älteste Vita per Michaelem aus Konstantinopel entspricht dieser Berufung und gnadenhaften Begabung (Anrieh II, 361.368; I, 455; allgemein Angenendt 138ff). Typische Legendenmotive sind: Als Säugling nimmt er an Fasttagen die Mutterbrust nur einmal. Das ererbte Vermögen verwendet er für Wohltaten: Er wirft drei verarmten Jungfrauen als Mitgift eine Geldsumme durch das Fenster. Er rettet vom Sturm überraschte Schiffer. Alexandrinische Kornschiffe, für Konstantinopel bestimmt, entladen auf sein Anraten einen Teil ihrer Fracht in der von Hungersnot bedrohten Stadt Andriake. Am Zielort angekommen, erweist sich die Ladung

Nikolaus von Myra

567

als unvermindert. Die von ihm aus Myra vertriebene Artemis übergibt Wallfahrern auf der Schiffsreise zum Grabe des Heiligen Zauberöl für die Lampen am Heiligtum. Im Traum befiehlt ihnen Nikolaus, das Gefäß ins Meer zu werfen, wodurch dieses aufbraust und die dämonische Herkunft des Öls zu erkennen gibt.

Der für die weitere Legendentradierung wichtigste Text ist eine Vermischung mit der Vita des gleichnamigen Nikolaus von Sion, Bischof von Pinara (gest. 564), verfaßt von Simeon Metaphrastes (Anrieh II, 303 ff). Die früheste lateinische Vita von Johannes Diaconus (Neapel, 9. Jh.: BHL 6104) ist Grundlage der ersten volkssprachigen Legende des Anglonormannen Robert Wace im 12. Jh., sowie der weitverbreiteten Legenda aurea (—• Hagiographie). Daneben gibt es im Rahmen von Legendaren zahlreiche deutsche Versionen seines Lebens, z. B. eine Versfassung aus dem 13. Jh. (Werner Williams-Krepp, Nikolaus: VerLex 6 [ 2 1987] 1037-1039). In Frankreich entstanden und verbreitet ist die Legende von den drei eingepökelten Schülern (Meisen 280—306). Die Stratelatenlegende gilt in der Forschung als Ausgangspunkt der Nikolausverehrung, weil das Erscheinungsmotiv zu Lebzeiten eine bis dahin noch nicht bekannte Qualität von Heiligkeit bezeuge (Anrieh II, 501; Meisen 51; Jones 13; Mezger 12). Nach hagiologischem Prinzip erwächst jedoch die Legende aus einem Kult, nicht umgekehrt (Mezger 5 2 - 5 5 ; Delehaye). Der Literaturwissenschaft ist nur die Genese der Legende wichtig (Jones). Für das sozio-kulturelle Anwendungsstadium der Gestalt des Nikolaus bis in jüngste Zeit gibt es nach dem Abreißen spiritueller Traditionen viele gezielte Innovationen und spielerische Ausformungen (Jones, Mezger). 3. Kult Der eigentliche Kult jedoch, am Wallfahrtsort etwa oder am Gedenktag, drückt eine konkrete Beziehung zwischen den Gläubigen und der Person des Heiligen mittels hör-, sieht- oder tastbarer Dinge aus, wobei deren Gebrauchswert nie eindeutig, jedoch in der christlichen Glaubenswelt angesiedelt ist: Z.B. stiften die Nikolaus-Hymnen zur Festfeier Gemeinschaft, bekannt in der lateinischen Liturgie seit dem 9. Jh., von Süditalien ausgehend. Nikolaus-Ikonen, nach dem Bilderstreit verbreitet, werden zu sichtbaren Bezugspunkten zwischen Gläubigen und dem Dargestellten im privaten und öffentlichen Bereich. Als authentische Bilder angesehen, wird ihnen selbst Wunderkraft zuerkannt (Christa Belting-Ihm, Heiligenbild: RAC 14 [1988] 74): Das Wunder vom geraubten Nikolausbild, vom blutenden Nikolausbild, von der Verwandlung des Nikolaus in eine Ikone (Anrieh I, 339ff. 179ff). Nikolaus als Hyperhagios erscheint als Exorzist (Onasch 486). Biographische Ikonen, die sein Portrait mit den Legenden verbinden, sind zahlreich im byzantinischen Bereich (Belting 287ff). Man kennt durch vier Jahrhunderte 65 gleichbleibende Zyklen (Sevcenko 173). Aus dem l O . / l l . J h . sind 43 Siegel byzantinischer Hofbeamter bekannt mit dem Bildnis des Nikolaus gegenüber 24 von Georg (-»Georg, Heiliger) und 33 vom Erzengel -•Michael. 4. Name Die Verbreitung des Namens Nikolaus beginnt im 5 . - 7 . Jh. erst im Umkreis von Myra, außerhalb Lykiens im 8. Jh. noch selten, im 9. Jh. häufig im byzantinischen Einflußbereich. In der hochmittelalterlichen Namengebung wurde Nikolaus Leitname, er folgte unmittelbar auf Johannes (Mitterauer 280). Die „Kraft des N a m e n s " für seinen Träger, d. h. die eigene Existenz mit Hilfe des Heiligen gegen Satan und Dämonen zu bestehen, war potenziert, wenn die „Kraft des Tages" hinzukam, der Geburtstag des Nachbenannten auf den Nikolaus-Tag fiel. Bei Kaiser Leon VI. (886-912) heißt es: „Der Feind des Menschengeschlechtes erleidet bei jedem Heiligenfest eine Niederlage, aber die meiste Angst verursacht ihm das Fest des heiligen Nikolaus, weil es in der ganzen Welt gefeiert w i r d " (Mitterauer 141 f).

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Nilus von Ancyra

5. Reliquien Keine Translation von -»Reliquien im Mittelalter ist so oft beschrieben worden wie die des Nikolaus von Myra nach Bari 1087. Der zeitgleiche Text des Nikephoros aus Bari wirft Licht auf gemeinsame und unterschiedliche Praxis der Heiligenverehrung in Byzanz und Unteritalien (Ms. Vat. lat. 5074: Jones 176—202). Bari wollte nur die Reliquien und überließ Myra die wundertätige Ikone und das im Sarkophag angesammelte Myron. Denn Nikolaus galt als Myroblytos, dessen Reliquien unaufhörlich eine Flüssigkeit hervorquellen ließ. Der Translationsbericht weist mehrfach darauf hin. Als wirksames Mittel gegen mögliches Unheil konnte man solche Eulogie in Fläschchen ständig bei sich tragen (Kötting 403—413). Auch Teilreliquien sonderten Flüssigkeit ab, wie z.B. das Fingerglied, welches schon 1065 in der Abtei Gorze aufbewahrt, dann in SaintNicolas-du-Port, im 12. Jh. die größte französische Nikolauswallfahrt begründete (Marot 1963). Den Christen wurde immer wieder nahegebracht, daß es Gott selbst ist, der den Menschen durch die Reliquien der Heiligen Hilfe zuteil werden läßt (z.B. Johannes von Damaskus, vgl. Kötting 405.219). 6. Patronate und

Ikonographie

Nikolaus war Helfer in jeder Not und darum Patron von Altären, Kirchen, Kapellen, Hospizen. Vor 1500 entstanden mehr als 2000 Kultstätten im Westen bis Skandinavien (Meisen 126-171). Darstellungen zeigen Nikolaus im Osten als bärtigen Bischof mit Mitra und Stab, im Westen in Pontifikalgewandung mit aufgeschlagenem Buch und Segensgestus. Seine Attribute sind drei goldene Kugeln oder Äpfel, die er den Jungfrauen schenkt, drei Schüler im Salzfaß, oder er wird im Schiff als Retter aus Seenot dargestellt (Meisen 216ff mit Abb; Brückner 1175f; Petzoldt, 45 -58). Bilder nach Legenden stellen ihn in Gesellschaft anderer Heiliger dar, besonders mit Maria und dem Kind, mit Anna Selbdritt. Literatur Arnold Angenendt, Heilige u. Reliquien, München 1994. - Gustav Anrieh, Hagios Nikolaos. Der hl. Nikolaus in der griech. Kirche, Leipzig/Berlin, I 1913 II 1917. - Hans Belting, Bild u. Kult, München 1990. - Annemarie Brückner, Nikolaus v. Myra: LMA 6 (1993) 1173-1176. - Hippolyte Delehaye, Les légendes hagiographiques, 1927 (SHG 18). - Der ev. Namenskalender, Hannover 1984. - Werner Groß, Die Heiligenverehrung in Gesch. u. Gegenwart, hg. v. Peter Dinzelbacher/ Dieter Bauer, Ostfildern 1990,358-70. - Johannes von Damaskus, Expositio fidei 88, ed. Bonifatius Kotter, 1973 (PTS 12) 204. - Charles William Jones, Saint Nicholas of Myra, Bari and Manhatten. Biography of a Legend, Chicago/London 1978. - Bernhard Kötting, Peregrinatio Religiosa. Wallfahrten in der Antike u. das Pilgerwesen in der alten Kirche, Münster '1980. - Pierre Marot, Saint-Nicolas-du-Port. La „Grande église" et le pèlerinage. Description archéologique par André Phillipe, Nancy 1963. - Karl Meisen, Nikolauskult u. Nikolausbrauch im Abendlande, Düsseldorf 1931 = 1981. - Werner Mezger, Sankt Nikolaus. Zw. Kult u. Klamauk, Ostfildern 1993. - Michael Mitterauer, Ahnen u. Heilige. Namengebung in der europ. Gesch., München 1993. - Konrad Onasch, Dämonen/Dämonologie: LMA 3 (1986) 476 - 4 8 7 , bes. 485f. - Leander Petzoldt, Nikolaus v. Myra: LCJ 8 (1976) 4 5 - 5 8 . - Der Rom. Kalender, gemäß Beschluß v. Paul VI. eingeführt, lat. u. dt. hg. u. übers, v. den liturg. Instituten in Salzburg, Trier u. Zürich, 1969 (NKD 20). - Nancy Patterson Sevcenko, The Life of St. Nicholas in Byzantine Art, Turin 1983.

Annemarie Brückner Nilus von Ancyra (Nilus Asketes, Nilus Sinaita) (1. Hälfte 1. Einführung

2. Schriften

3. Autor

4. Lehre

S.Jh.)

5. Fortleben

(Quellen/Literatur S. 572)

1. Einführung Der gelehrten Arbeit von Leone Aliaci, Pierre Poussines und Giuseppe Maria Suarès u.a. ist es zu verdanken, daß 1865 von Migne ein kompletter Band mit Werken des

Nilus von Ancyra

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Nilus vorgelegt werden konnte. Nach der grundlegenden Arbeit von Karl Heussi aus dem Jahre 1917 fehlt eine neuere systematische Untersuchung des Schrifttums ebenso wie eine heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Gesamtausgabe. Spätere Arbeiten haben nur Schneisen in den Urwald des „Nilusproblems" geschlagen. Es bedarf noch erheblicher Anstrengungen, um Klarheit in das „Pseudonyme Schrifttum" zu bringen. Man könnte mit Riedinger annehmen, daß Nilus wie z.B. -»Makarius und Isidor von Pelusium nur eine geistliche Adresse für ein von den -»Akoimeten ausgewähltes, z.T. verurteiltes Schrifttum war. Aber ein - wenn auch „rätselhafter" - Mönch Nilus hat wirklich gelebt (Guérard). Heussis Verdienst ist es, daß er den Wohnsitz dieses „Nilus des Asketen" bei Ancyra neu entdeckt hat. 2. Schriften Es handelt sich um mehrere Sammlungen, die sich z.T. überschneiden. Von den von Heussi nach PG 79 aufgelisteten 24 Schriften sind inzwischen mehr als die Hälfte anderen Autoren, vor allem -»Evagrius Ponticus, zugewiesen. Die Echtheitsfrage hat bisher niemand systematisch für alle Schriften bearbeitet. Andere Ausgangsschriften führten zu unterschiedlichen Ergebnissen: Heussi (33) geht von der Briefsammlung aus und hält die Narrationes und Ad Agathium (Peristeria) nicht für echt; Ringshausen und Guérard nehmen den Hoheliedkommentar als Ausgangspunkt und halten von daher auch die beiden vorgenannten Schriften für echt. 2.1. Asketische Werke Ad Agathium oder (so Suarés) Peristeria (812A-968B). In seiner Einleitung teilt Nilus mit: Durch die Begegnung mit dem Mönch Agathios veranlaßt (812A), habe er beschlossen, in Erinnerung an Peristeria, wohl eine Christin aus Alexandrien, die in den Akten des Konzils von -»Chalkedon zitiert wird und vor 451 starb (Heussi 161), dieses Werk zu schreiben (813B-D). Es behandelt u.a. 1) die mönchischen Tugenden, das geistliche Leben und das inständige Gebet, 2) die Sorge für andere Menschen und 3) den geistlichen Kampf. De monachorum praestantia (1061A-1093C). In 27 capita wird das mönchische Leben ausführlich beschrieben. Zum Schluß werden die unabhängigen Wüstenmönche, die wie xpoyóveq, Turteltauben, leben, mit den Stadtmönchen, den nepiarepai, den Haustauben, verglichen (1092BC). De monastica exercitatione (720A-807D). Der Logos asketikos stellt in 75 capita die Grundlagen des Mönchtums vor: c. 1—20: das mönchische Leben als die wahre Philosophie, die die Freiheit von den Leidenschaften verschafft; c. 21-45: das Verlassen des Landes, das Disteln und Dornen hervorbringt, um „Arbeiter und Wächter des Paradieses" zu werden (748B), die geistliche Führung durch Mönchsobere und Pflichten der Schüler; c. 46-66: die Reinigung von den Sünden und der geistliche Kampf; c. 67-75: die Sorglosigkeit als Aufgabe der „vollkommenen Seele" {reXciaq y/oxrjQ éozi rö áfiépifivov). De voluntaria paupertate (968C-1060D). Die 67 capita umfassende Schrift „an die verehrungswürdige Diakonin Magna aus Ancyra über die Besitzlosigkeit" ist am stärksten systematisch gestaltet. Nilus unterscheidet eine dreifache Besitzlosigkeit (985B-D): 1) die höchste (tj ätcpa áKitjfioavvt]), die Armut Adams vor dem Fall; sie war von Anfang an und ist vom Schöpfergott für alle bestimmt, 2) die tiefste, ihre Anhänger sind ganz fleischlicher Gesinnung und dem Dienst des Irdischen ergeben, und 3) die mittlere (fiéot]). Ihr widmet Nilus seine Aufmerksamkeit: Sie ist mit Gebeten und geistlichen Übungen erfüllt. Dabei scheut sie die Handarbeit nicht - im Gegensatz zur Faulheit der Messalianer. In Albianum (696A-712A) ist eine Lobrede auf einen sonst nicht weiter bekannten Mönch. Albianus, wie Nilus ein Galater, wächst in Ancyra auf (700C) und geht dann zu den Mönchen auf dem Berge vor der Stadt, wo er Nilus begegnet ist (704A). Das

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Nilus von Ancyra

asketische Leben wird wie in anderen Nilusschriften als Aufenthalt außerhalb der Städte, als Zusammensein von erfahrenen Lehrern mit Schülern, als wahre Philosophie, als Lektüre der Heiligen Schrift, als Leben in Armut ( 7 0 8 C - 7 0 9 B ) geschildert. Die Frucht der „kurzfristigen M ü h e n " ist „ewige Freude" (712A). Für eine Reihe der asketischen Werke ist andere Autorschaft wahrscheinlich. Aufgrund der guten syrischen Bezeugung und aufgrund innerer Kriterien (vgl. A. Guillaumont) gilt Evagrius Ponticus als Verfasser folgender Schriften: Ad Eulogium monachum (1093C-1140A), De octo spiritibus malitiae (1145A-1164D), De oratione (1165A-1200C), De diversis malignis cogitationibus (1200C-1233A) und Capita paraenetica (1249C-1264A). - Die 1908 von Paul van den Ven edierte Schrift „Uber die Lehrer und die Schüler" behandelt ähnliche Themen wie der zweite Teil des Logos asketikos. Sie dürfte eher, wie die syrische Übersetzung belegt, dem evagrianischen Schrifttum zugehören. - Die 135 sententiae (1240C-1249B) enthalten sowohl Auszüge aus De vol. paup. (Nr. 100-121) und De mon. praest. (Nr. 122-135) des Nilus als auch Worte aus Werken des Evagrius Ponticus u.a. - De octo vitiosis cogitationibus (1436-1472C) ist eine frühestens aus dem 7. Jh. stammende Kompilation aus Johannes -»Cassianus sowie Evagrius Ponticus und Johannes Climacus.-Der Tractatus moralis et multifarius (1279B-1185B) ist arabisch (Vat. ar. 71, f. 151r-162v) unter dem Namen des Mönches Markianus überliefert und wird als dessen „op. X I " von Lebon aufgeführt (55.67). 2.2. Exegetische

und homiletische

Werke

Von Nilus stammt einer der in der griechischen Tradition am vollständigsten erhaltenen Kommentare zum Hohen Liede. Er läßt sich rekonstruieren. Leider liegt eine zugängliche Edition neben der editio princeps von Harald Ringshausen bisher nicht vor. Editionen sind angekündigt von Hans-Udo Rosenbaum (CPG 3, 6051) und MarieGabriclle Guerard (350). — Im Hohenlied-Kommentar sind ebenfalls Mönche angesprochen; so sind viele Berührungen insbesondere mit Peristeria (Ringshausen, Guerard) gegeben. Die Seele der Mönche soll im geistlichen Kampf gestärkt werden. Von - > O r i genes in der Auslegung und von -»Athanasius in der Christologie beeinflußt, wird der Triumph des KvpiaKÖQ ävBpamoq herausgestellt. In Peristeria (812D-813A) wird die e/g row; y/aXßoti; daxoXia erwähnt. Dies ist vermutlich nur ein Hinweis auf die Übung des Mönches, den Psalter zu rezitieren (Guerard 350), und kein Beleg für die Verfasserschaft eines Psalmenkommentars. Der sermo über Lk 22,36 ( 1 2 6 4 B - 1 2 8 0 A ) deutet mit einer Fülle von Bibelzitaten die Worte „Schwert" und „Gewand" aus Lk 22,36 als „Wort Gottes" bzw. als „christliche Tugenden". Auch hier ist ein mönchischer Zuhörerkreis vorausgesetzt. 2.3.

Erzählungen

Die Narrationes (Sitjyfmaxa, 5 8 9 A - 6 9 3 B ) „des Mönches Nilus Eremita, die den Mord der Mönche auf dem Berge Sinai und die Gefangenschaft des Theodulus, seines Sohnes, beschreiben", enthalten - stellenweise in „etwas zu redseliger Berichterstattung" (Degenhart 9) - neben dem Bericht über den Sarazeneneinfall und die Ermordung der Sinaimönche sowie die Gefangenschaft des Theodulus lange Erörterungen über das Leben der Sinaimönche und der Sarazenen. Sie sind eine wertvolle Quelle für die Erforschung der politischen und sozialen Verhältnisse auf der Sinaihalbinsel und für die Märtyrertradition vom Sinai. Gewiß hat ihr Autor im 5. Jh. „vorliegende schriftliche Nachrichten... zusammengearbeitet mit einem Motiv (Trennung und Wiedervereinigung von Vater und Sohn, zweier sinaitischer Mönche), das ursprünglich mit der Märtyrertradition nichts zu tun hatte" (Solzbacher 241). Aber muß man den Grundbestand dieser Narrationes mit Heussi und Solzbacher dem Nilus absprechen? Gewiß sind sie keine „Quasi-Autobiographie des Nilus von Ankyra" (Solzbacher 250). Aber darf man nicht doch diesen „Nilus Sinait^" mit dem Autor der asketischen Schriften, wie es seit dem 14. Jh. durch Nikephoros Kallistos erfolgte, in Verbindung bringen (so Ringshausen, Guerard)?

Nilus von Ancyra

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2.4. Briefe Die Epistolarum libri quattuor (81A-581B) nach der Ausgabe von Allaccio-Migne enthalten 1061 Briefe (3 Bücher mit je 333 und ein Buch mit 62 Briefen). Nach Gribomont hat die ursprüngliche Sammlung aus 3 Büchern mit 329 (verlorenen), 375 und 323 ( = 1027) Nummern bestanden. - Die vorliegende Sammlung enthält große Teile aus dem Logos asketikos des Nilus, dazu Zitate aus -»Johannes Chrysostomus u . a . Sie kann nicht früher als im 5. Jh. entstanden sein. Einige Briefe sind offensichtlich eingefügt, um Nilus als Bckämpfer der Häresien darzustellen (z. B. ep. I 28; vgl. Predigt über H b 1,3 des Chrysostomus). Die beiden berühmten Briefe ep. IV 61 (577B-580A) an den Präfekten Olympiodorus über die Ausschmückung der Kirchen (-»Ikonographie) und ep. IV 62 (580B-582B) an den Silentiar Heliodorus über den Heiligen Piaton von Ancyra sind bekannt, weil sie als Dokumente zur Frage der Bilderstreitigkeiten 787 bei der zweiten ökumenischen Synode von -»Nicäa vorlagen; sie sind der Briefsammlung auf Hinweis von Suares durch Allaccio hinzugefügt, dürften aber im 8. Jh. in einer Sammlung von Nilusbriefen vorgelegen haben (Heussi 79). Trotz der vielen Nummern der Sammlung liegt kein Schriftwechsel des Nilus mit bekannten Zeitgenossen vor; nur wenige der Briefempfänger sind überhaupt bekannt. So tragen die Briefe wenig zur Erhellung der Lebensumstände von Nilus bei. Dennoch dürfte die Briefsammlung in ihrem Grundbestand auf den Mönchsautor Nilus zurückgehen. Dabei könnte der Briefautor auch bewußt Johannes Chrysostomus zitiert haben (Heussi). 3. Autor Im 9. Jh. berichtet der Mönch Georgius, der sich „der Sünder" nannte, d a ß der Heilige Johannes Chrysostomus folgende Schüler gehabt habe: (die Bischöfe) Proklus, Palladius, Brison, -»Theodoret, (die Asketen) Markus (-»Marcus Eremita), Nilus und -•Isidor von Pelusium (Chronikon IX, 9). Da in der Briefsammlung über 50 wörtliche Zitate aus Johannes Chrysostomus zu finden sind, hat man diese (eigentlich mit großer Vorsicht zu betrachtende) Nachricht für glaubwürdig gehalten (Kunze 37 ff. 130 f; Heussi 12; Guerard 347). Nach den Narrationes ist Nilus verheiratet und hat zwei Söhne; noch im besten Mannesalter trennt er sich von seiner Frau, um Mönch zu werden. Den Sohn Theodulus nimmt er mit (600C—601C). Beim Besuch des Sinai erlebt er einen Sarazenenüberfall, bei dem mehrere Mönche ermordet werden und sein Sohn gefangen fortgeführt wird (625D-632C). Nach der wunderbaren Rettung des Sohnes setzt Nilus gemeinsam mit Theodulus das Mönchsleben fort (692A—693A). Dieser „Nilus Sinaita" kann identisch sein mit „Nilus dem Aszeten". Über ihn erfahren wir aus In Albianum, daß er Galater ist; denn der Briefempfänger Albianus ist galatischer Herkunft, in Ancyra aufgewachsen (700C, 704A) und Landsmann des Nilus. - Nach Galatien weist auch das Wunder des Heiligen Piaton, des Ortsheiligen von Ancyra, in ep. IV 62, eine Variante der Narrationes zur Rettung des gefangenen Sohnes eines Mönches. - Die Diakonin Magna kommt aus Ancyra (De vol. paup. 967B). Sie ist vermutlich identisch mit einer Magna, die von Palladius, hist. Laus. 67 (ca. 420) genannt wird. - Die Sammlung der ep. in Ottob. gr. 250 (11. Jh.) enthält den Hinweis: „Nilus von Ancyra in Galatien" (Heussi 92, Guerard 346). Die Abfassungszeit der asketischen und exegetischen Schriften sowie der Briefe und Narrationes führt uns ebenso in das 5. Jh. wie die (vermutlichen) Lehrer des Nilus' Johannes Chrysostomus und Evagrius Ponticus, und seine „Mitschüler" Marcus Eremita und Isidor von Pelusium. Hierzu passen auch die Lebensdaten von Magna und Peristeria und schließlich in De vol. paup. (997A) der Hinweis auf den Messalianerführer (-»Messalianer) Adelphius von Mesopotamien und auf Alexander, „der in Konstantinopel sein Unwesen getrieben hatte" (das Auftreten Alexanders, des Begründers der akoimetischen Bewegung, in Konstantinopel läßt sich in das Jahr 426/27 datieren). M i t anderen Worten:

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Nilus ist in der ersten Hälfte des 5. Jh. als Autor tätig gewesen und wohl Ende des 4. Jh. geboren. Einer späteren Nachricht aus dem Synaxar von Konstantinopel (10. Jh.) kann man entnehmen, daß Nilus zur Zeit des Kaisers Theodosius (379-395) ein Hofamt in Konstantinopel bekleidet habe (Heussi 16ff, Guérard 352). 4. Lehre „Nilus der Asket", den wir in seinen asketischen Werken kennenlernen, ist ein geistlicher Lehrer des 5. Jh., der jüngeren Mönchen (âpxôpevot) seine eigenen Erfahrungen (und die Erfahrungen anderer?) weitergibt. Der Umgang mit Anfängern wird dadurch deutlich, daß Nilus von den Versuchungen der Welt warnen muß: Reichtum, der Anblick von Frauen, übertriebener Wein- und Speisegenuß, Lob von anderen Menschen usw. gefährden den Fortschritt (npoKonrf) der Anfänger (De mon. ex. 748A, De vol. paup. 1045BC). Hinderlich für das Vorankommen ist das Hinterfragen der Hilfen Gottes (nepiepyâÇeoSai ràç oÎKOVopiaç) und das Prüfen der Anordnungen der Oberen (ôoKifiâÇeiv xà npozaooôpeva). Durch intensives und langanhaltendes Bemühen läßt sich die Vollkommenheit (zeXsiôxtjç) erreichen (Peristeria 968AB). Der Weg dorthin wird von Nilus in der Regel als Kampf (âyœv) beschrieben; dem Kämpfer winkt als Lohn der Siegeskranz (De mon. ex. 969BC, Peristeria 845B, De vol. paup. 1020D-1021A u.ö.). Gern gebraucht Nilus hierbei den Ausdruck von der „oberen Berufung" aus Phil 3,14 (Peristeria 924AB, vgl. Guérard 34). In Abgrenzung zu Vorstellungen der Messalianer tadelt er deren „Faulheit" und „scheinbares Gebet" (De vol. paup. 997A, vgl. auch 1000C-1001D). Er spricht deswegen lieber von dem „inständigen Gebet" (ÈKtevfjç npoaeoxfj) und nicht vom dauernden âôiâÂEmzoç (Peristeria 813C, vgl. De vol. paup. 1044 C, De mon. praest. 1084D). In der wohlorganisierten Mönchsgemeinschaft des Nilus (De mon. ex. 721B, De mon. ex. 772-773) ist die Handarbeit Pflicht aller (De vol. paup. 1048B-D). Die Taufe als Sakrament wird bei Nilus kaum erwähnt, anders als bei seinem Zeitgenossen Marcus Eremita; und wenn es in den Briefen der Fall ist, scheint dieses unter dem Einfluß von Johannes Chrysostomus zu erfolgen. Konstitutiv für Nilus ist die Gewißheit, daß das mönchische Leben {fiovaâiKÔçßiog, In Albianum 704B, De mon. ex. 724A, De vol. paup. 996CD u.ö.; -»Mönchtum) durch den Täufer Johannes (De vol. paup. 996CD, De mon. praest. 1073D) und die Apostel begründet ist (De vol. paup. 996CD). Es ist die wahre Philosophie (In Albianum 720A, 721BC, vgl. 732C, De mon. ex. 748B, 776B: „Einsamkeit ist die Mutter der Philosophie" u.ö.). 5. Fortleben Das Fortleben des Nilus ist das Fortleben der Sammlungen. Anastasius Sinaita (Hypotheses, PG 89,349 f, 437,536) zitiert im 7. Jh. dreimal aus Peristeria. - Auf der zweiten ökumenischen Synode von Nicäa 787 genießt Nilus das Ansehen eines Heiligen (s.o.), in dem Synaxar von Konstantinopel (s.o.) wird das im 10. Jh. bestätigt. Die Bedeutung der „Nilus"-Schriften für den —•Hesychasmus ist erwiesen. Quellen (vgl. CPG 3,6043 -6084) Nili opéra quaedam nondum édita, ex bibliotheca illustrissimi domini Caroli de Montchal, ed. Petrus Possinus, Paris 1639 (PG 79). - S. Nili epistolae, ed. Petrus Possinus, Paris 1657. - S.P.N. Nili ascetae... epistolarum libri quattuor, ed. Leo Allatius, Rom 1668. - S.P.N. Nili abbatis tractatus seu opuscula, ed. Joseph Suaresius, Rom 1673 u. a. - Paul van den Ven (Hg.), Un opuscule inédit attribué à St. Nil: Mélanges Godefroy Kurth, Paris 2 1908, 7 3 - 8 1 .

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3. Die Schule von

Kultur

Nisibis, das heutige Nusaybin in der südöstlichen Türkei nahe der Grenze zu Syrien, liegt am Fuß des Tur Abdias an einem Schnittpunkt antiker Verkehrsverbindungen in der Landschaft Mygdonia (Strabo 527, 736). Die Stadt wird bereits in assyrischen Annalen der Zeit Adad-Niraris II. (911-890) erwähnt und galt als Gründung Nimrods. Seleukos I. Nikator (311—281) gestaltete sie zu einer hellenistischen Stadt um, die den Namen Antiocheia in Mygdonien erhielt. Während der Verfallszeit des Seleukidenreiches wurde sie von dem armenischen König Tigranes II. (ca. 9 5 - 5 5 ) erobert. Danach kam sie durch Lucullus in römischen Besitz. Später eroberten die Parther die Stadt, und Artabanes III. (79-80) schenkte sie Izates von Adiabene (Jos. Ant. XX,3,3). Kaiser Trajan (98-117) eroberte sie auf seinem Partherfeldzug, und Lucius Verus (161-169) unterwarf sie endgültig der römischen Herrschaft. 195 wurde Septimia Nisibis Hauptstadt der Provtncia Mesopotamia und Sitz des Dux Mesopotamiae. Im 3. Jh. wurde Nisibis in die beständigen römisch-sassanidischen Auseinandersetzungen hineingezogen und 298 beim Friedensschluß zwischen Narsë und Diokletian zu dem einzigen Grenzort bestimmt, an dem Handelsverkehr zwischen Römern und Persern zugelassen war. Diokletian baute die Stadt zur Festung an der strata Diocletiana aus (Orientis firmissimum claustrum: Amm. Marc. XXV,8,14). Im 4. Jh. wurde sie bis zu dreimal, 338, 346 und 350, von Sapur II. (309-379) belagert. Vor allem die letzte dieser Belagerungen ließ die durch den M u t ihrer vornehmlich christlichen, von ihrem legendarischen ersten Bischof Jakobus angefeuerten Einwohnerschaft berühmt werden. Nach der Niederlage und dem Tod von Julianus Apostata trat Jovianus 363 Nisibis an die Sassaniden ab. Die christlichen Einwohner, unter ihnen -»Ephraem der Syrer, wichen nach Amida und von dort zum Teil nach -»Edessa aus (Amm. Marc. XXV,8,5-6). Sapur siedelte in der Stadt eine große Anzahl von Persern an. Sie blieb eine bedeutende Grenzfestung zwischen Byzanz und den Sassaniden, in der häufig Verhandlungen zwischen den Gegnern stattfanden und über die ein beträchtlicher Teil des wechselseitigen Handelsverkehrs abgewickelt wurde (Cod. Iust. IV,63,4). Als ausgesprochene Grenzstadt hatte Nisibis eine gemischte Einwohnerschaft und kann mit Dura Europos am Euphrat und dem nahegelegenen Edessa verglichen werden.

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Die Stadt zählte eine bedeutende jüdische Gemeinschaft; denn sie bildete den Mittelpunkt des Gebietes, in das die Assyrer die zehn Stämme Israels deportiert hatten (II Reg 17,6; 18,11). Die Juden waren in beträchtlichem Umfang am Seidenhandel mit dem Fernen Osten beteiligt. In Nisibis bestand eine tanna'itische Akademie, die im 2. Jh. in Juda b. Bathyra einen bedeutenden Gelehrten aufzuweisen hatte. Nach der Niederschlagung des jüdischen Bar-Kochba-Aufstandes von 132-135 zogen sich die Schüler von Rabbi Akiba nach Nisibis zurück. Als jüdisches Zentrum im nördlichen Mesopotamien war die Stadt Amtssitz eines Exilarchen oder Archisynagogos und eine Sammelstelle der Tempelsteuer für Jerusalem. 2. Das Christentum bis zum Ende des 5. Jh. Die Christianisierung von Nisibis liegt historisch gänzlich im dunkeln. Sie wird dem legendären Apostel von Edessa Addai mit seinen Gehilfen Aggai und Mari zugeschrieben. Die Acta Maris stellen demgegenüber allein Mari als Gründer der Kirche von Nisibis dar. Die Legende läßt durchscheinen, daß die Einführung des Christentums in Nisibis wahrscheinlich von Westen her, namentlich von Edessa aus, erfolgt ist und nicht von Arbela und der Adiabene her, wie gelegentlich aufgrund der unechten Chronik von Arbela angenommen wird. Das Bild des frühen nisibenischen Christentums entspricht höchstwahrscheinlich weitgehend dem des edessenischen und wurde wie dieses mehrheitlich von Markioniten (—»Marcion), Bardesaniten (—»Bardesanes) und Manichäern (—•Manichäismus) bestimmt, hat doch Ephraem der Syrer sein antihäretisches Werk gegen diese Gruppen jedenfalls zum Teil in Nisibis verfaßt. Der bekannte Markionitenbestreiter und Bischof von Hierapolis in Phrygien Aberkios hat ebenfalls um 200 Nisibis besucht, das in der Aberkios-Inschrift aufgeführt wird. Der erste uns bekannte Bischof von Nisibis war Jakobus. Er hat zur Zeit -»Konstantins d.Gr. die große, später nach ihm benannte Basilika errichtet, nahm am Konzil von -»Nicäa teil und war der Lehrer Ephraems, den er mit der Aufgabe der Schriftauslegung betraute. Er ist 338 kurz nach der ersten Belagerung von Nisibis gestorben. Sein Nachfolger wurde Babu, während dessen Amtszeit Konstantius 345 Nisibis besuchte. Babu starb 350, im Jahr der dritten Belagerung. Ihm folgte Vologeses. Unter dessen Episkopat wurde 359 das noch erhaltene Baptisterium errichtet, dessen ebenfalls noch vorhandene Gründungsinschrift die älteste bekannte christliche Inschrift der Stadt ist. Aus dem polemischen Schrifttum Ephraems ergibt sich auch, daß der -»Arianismus in Nisibis eine beträchtliche Rolle gespielt hat. Vologeses verstarb 361 oder 362. Sein Nachfolger, Bischof Abraham, verließ 363 mit seiner Gemeinde Nisibis unter Mitführung der Gebeine des heiligen Jakobus, des göttlichen (OETOQ) Verteidigers der Stadt (nohoù'/oc; Kai azpaxìiyóq). Von den alten nisibenischen Kirchen kennen wir noch die Basilika der heiligen Febronia, die heutige Zaynal-'Abidin-Moschee. Der bekannteste Bischof von Nisibis im 5. Jh. war Barjauma. Während seiner Amtszeit fand zwischen 471 und 489 der von seinem Bischof amtsenthobene Vorsteher der edessenischen Schule, der Perser Narsai (Narses), in Nisibis Zuflucht und wurde dort zum Begründer der berühmten Schule von Nisibis. 3. Die Schule von Nisibis Narsai, „die Harfe des heiligen Geistes", war ein überzeugter Anhänger der antiochenischen Theologie (-»Antiochien) von -»Diodor von Tarsus, -»Theodor von Mopsuestia und -»Nestorius. Daneben spielen in seinen zahlreichen memre, metrischen Lehrreden, von denen etwa achtzig erhalten sind, die Theologie Ephraems und die in der Schule von Edessa geläufigen Vorstellungen eine Rolle. In Nisibis baute er den Lehrbetrieb der Schule von Nisibis auf, die zum geistlichen und geistigen Mittelpunkt der -»Nestorianischen Kirche im Sassanidenreich werden sollte. Die 496 aufgestellten Kanones der Schule sind erhalten geblieben. Die Schule war nach dem Vorbild derjenigen von Edessa aufgebaut, aus der nach ihrer Schließung 489 viele Lehrer und Studenten

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nach Nisibis gekommen waren. Sie hatte einen mepasgana, d. h. einen Exegeten, zum Vorsteher, ein Amt, das von Narsai wahrgenommen wurde. Finanz- und Haushaltsangelegenheiten lagen in der Hand eines rabbatta (Verwalters), und ein Rat der Brüder war für die innere Ordnung zuständig. Die Unterweisung umfaßte Unterricht in Lesen und Schreiben, Rhetorik und Philosophie, sie fand ihren Höhepunkt aber in der Auslegung der Heiligen Schrift, in der sich alle geistlichen und weltlichen Kenntnisse bündelten. Richtungsweisend waren dabei die Kommentare von Theodor von Mopsuestia, die in syrischer Ubersetzung verwendet wurden. Die Schule war als Klostergemeinschaft eingerichtet und unterwarf ihre Studenten strengen Lebensregeln, die die Ernährung, Kleidung und Zeiteinteilung ordneten, den Umgang mit Frauen verboten und vor allem strenge Strafen für das Betreten byzantinischen Gebietes vorsahen. Die Grenze zwischen -»Byzanz und dem Sassanidenreich markierte zugleich die religiöse Scheidelinie zwischen -»Monophysiten und Dyophysiten. Narsai starb 502 oder 503. Der dritte rabbatt (Vorsteher) der Schule war Abraham von Beth Rabban, ein Schüler Narsais. Während seiner langen Amtszeit von 510 bis 569 erweiterte er die Schule beträchtlich, unter anderem durch ein Gästehaus. Er verfaßte vor allem alttestamentliche Kommentare. Innere Auseinandersetzungen führten 540/41 zu einer zeitweiligen Schließung der Schule, bei der auch Druck seitens der persischen Magi und des Sassanidenherrschers Chosroes I. Anosirvan mit im Spiel war. Zu dieser Zeit entfaltete sich die Schule von Seleukeia-Ktesiphon zu einer Blüte, an der mit M a r Aba I. auch ein bedeutender Lehrer aus Nisibis wirkte. Bruchstücke seiner Bibelkommentare finden sich in nestorianischen exegetischen Sammelwerken. Der bedeutendste Lehrer der Schule von Nisibis während des 6. Jh. war ein Schüler von Mar Aba, Paulus der Perser, der später Metropolit von Nisibis wurde. Er wirkte als Ubersetzer der Werke des —»Aristoteles und verfaßte eine Einführung in die Bibelauslegung, die in lateinischer Ubersetzung unter dem Titel De partibus divinae legis erhalten ist und beträchtlichen Einfluß auf -»Cassiodor geübt hat. Nach dem Vertrag von 561 gehörte Paulus zu den Gelehrten, die von Chosroes mit einer Gesandtschaft an den byzantinischen Hof entsandt wurde und dort ein theologisches Streitgespräch mit —»Justinian führte, dessen Text in arabischer Fassung erhalten ist. Paulus starb 573. Bereits vorher hatte Henana von Adiabene als Lehrer mit abweichenden christologischen Auffassungen zu großen Mißhelligkeiten in der Schule Anlaß gegeben. Unter anderem unter dem Einfluß von -»Origenes und der allegorischen Schriftauslegung vertrat er die Lehre von einer Natur und einer Hypostase in -»Jesus Christus, wodurch er in die Nachbarschaft zu den Monophysiten und Chalkedonensern und somit zu dem verhaßten Byzanz geriet. Man bezichtigte ihn aufgrund seiner Vorstellungen von der communicatio idiomatum patripassianischer Auffassungen. Sein Auftreten führte zur Gründung einer konkurrierenden Schule in Nisibis. Nachdem der Metropolit Gregorius mit 300 Schülern und vielen Lehreren 601 Nisibis verlassen hatte, stellte Henana neue Schulsatzungen auf. 612 wurde er schließlich endgültig durch eine Synode verurteilt, doch zu dieser Zeit hatte der Niedergang der Schule bereits eingesetzt. 4. Spätere

Geschichte

Zur gleichen Zeit, als Henana Anlaß zu religiöser Beunruhigung gab, lebten auch die Feindseligkeiten zwischen Byzantinern und Persern wieder auf. Justin II. forderte Nisibis von den Persern zurück, und der offene Streit begann, als er 572 den Feldherrn Markianos nach Nisibis entsandte. Justins Nachfolger Maurikios verhandelte 591 in Nisibis mit Chosroes und schloß mit ihm einen Vertrag, der hielt, bis Maurikios 602 ermordert wurde und die Perser Nisibis plünderten. Die Stadt war dann in die Auseinandersetzungen zwischen Herakleios und den Persern verwickelt, bis sie 640 in muslimische Hand fiel. Während der 1. Hälfte des 7. Jh. trat Babai Rabba (Babai der Große, gest. 627/8) an der Schule als fruchtbarer Schriftsteller hervor. Er verfaßte Kommentare zu biblischen Schriften und sein bekanntes christologisches Hauptwerk, den Liber de

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unione. Barhadbesabba von Halwan, ein Schüler Henanas, ist der Verfasser einer berühmten Abhandlung über die Rolle der Schulen in der Heilsgeschichte, die auf eine Verherrlichung der Schule von Nisibis hinausläuft. In der 2. Hälfte des 7. J h . war Sürln rabban der Schule, deren führende Stellung zu dieser Zeit jedoch bereits von der Schule von Seleukeia-Ktesiphon übernommen worden war. Heute gibt es in Nisibis noch eine kleine Gemeinschaft syrisch-orthodoxer („monophysitischer") Christen (-»Jakobitische Kirche), während die Geschichte alle Spuren der nestorianischen Vergangenheit der Stadt verwischt hat. Quellen/Literatur Mar Barhadbsabba 'Arbaya, Cause de la fondation des écoles, hg. v. Addai Scher, 1907 (PO 4,4). - D. Biindy, Jacob of Nisibis as a Model for the Episcopacy: Muséon 104 (1991) 235-249. - M. H. Dodgeon/S.N.C. Lieu, The Roman Eastern Frontier and the Persian Wars AD 226-363. A Documentary History, London/New York 1991. - Des Hl. Ephraem des Syrers Carmina Nisibena, hg. u. übers, v. Edmund Beck, 1961-63 (CSCO.S 9 2 - 9 3 . 102-103). - Jean Maurice Fiey, Jalons pour une histoire de l'église en Iraq, 1970 (CSCO.Sub 36). - Ders., Nisibe. Métropole syriaque orientale et ses suffragants des origines à nos jours, Louvain 1977 (CSCO.Sub 54). - J. Honigmann, Art. Nasïbtn: EI(D) 3 (1936) 9 2 6 - 929. - T. Jansma, Études sur la pensée de Narsaï. L'homélie N° XXKlV, essai d'interprétation: OrSyr 11 (1966) 147-168. 265-290. 393-429. - Arnold Hugh Martin Jones, The Cities of the Eastern Roman Provinces, Oxford 2 1971. - A. Khatchatrian, Le baptistère de Nisibis: Actes du S* congrès int. d'archéologie chrétienne, Aix-en-Provence 13-19 Sept. 1954, 1957 (SAC 22) 407-421. - Paul Krüger, Jakob v. Nisibis in syr. u. armenischer Überlieferung: Muséon 81 (1968) 161-179. - Jérôme Labourt, Le christianisme dans l'empire perse sous la dynastie sassanide (224-632), Paris 1904. - Samuel N.C. Lieu, The Emperor Julian. Panegyric and Polemic, Liverpool 1986. - C.S. Lightfoot, Facts and Fiction. The Third Siege of Nisibis (AD 350): Hist. 37 (1988) 105-125. - R. Macina, L'homme à l'école de Dieu: POC 32 (1982) 87-124. 263-301; 33 (1983) 39-103. - Homélies de Narsaï sur la création, hg. v. Philippe Gignoux, 1968 (PO 34,3-4). - Narsai's Metrical Homilies, hg. v. F. G. McLeod, 1979 (PO 40,1). - Jacob Neusner, A History of the Jews in Babylonia, 5 Bde., Leiden 1965-1970. — Paul Peeters, La légende de St. Jacques de Nisibe: AnBoll 38 (1920) 285-373. - Josef Sturm, Art. Nisibis: PRE 17,1 (1936) 714-757. - Robert Turcan, L'abandon de Nisibe et l'opinion publique (363 ap. J.C.): Mélanges d'archéologie et d'histoire offerts à André Piganiol II, Paris 1966, 875-890. - Arthur Vööbus, The Statutes of the School of Nisibis, 1961 (PETSE 12). - Ders., History of the School of Nisibis, 1965 (CSCO.Sub 26). - Engelbert Winter, Die säsänidisch-röm. Friedensverträge des 3. Jh. n. Chr. Ein Beitr. zum Verständnis der außenpolitischen Beziehungen zw. den beiden Großmächten, Frankfurt/ M. 1988 (EHS 350). Hendrik J . W. Drijvers Nitzsch, Carl Immanuel 1. Leben 1.

2. Werk

(1787-1868) 3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 581)

Leben

Der Unions- und Vermittlungstheologe Carl Immanuel (Kant zu Ehren!) Nitzsch wurde am 2 1 . 9 . 1 7 8 7 in Borna bei Leipzig als drittes Kind des sächsischen Superintendenten Carl Ludwig Nitzsch ( 1 7 5 1 - 1 8 3 1 ) und seiner Ehefrau Luise geb. Wernsdorf ( 1 7 5 7 - 1 8 2 6 ) geboren. Der Vater, ab 1790 Generalsuperintendent und Professor für systematische und „angewandte" Theologie in -»Wittenberg, später erster Direktor am Predigerseminar dort, sorgte für den häuslichen Unterricht seines Sohnes, bevor er ihm von 1803 bis 1806 in Schulpforta eine gründliche klassische Bildung angedeihen ließ. Ab 1806 studierte Nitzsch an der Universität Wittenberg Theologie, hauptsächlich bei seinem Vater und Tzschirner, sowie Philosophie bei dem Kantianer Grohmann. 1809 erlangte er den Grad eines Magister artium, promovierte zum Doktor der Philosophie und bestand vor dem Konsistorium in Dresden (Reinhard und Tittmann) das Examen pro ministerio mit „sehr wohl". Am 16.6.1810 habilitierteer sich in der philosophischen Fakultät. Ordiniert durch seinen Vater am 6.11.1811, wurde Nitzsch 1813 nach einer Hilfspredigerzeit an der Wittenberger Schloßkirche dritter Diakonus an der Stadtkirche und hielt gleichzeitig dogmatischeund exegetische Vorlesungen an der Universität bis zu ihrer Schließung nach dem Wintersemester 1812/13.

Nitzsch

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Nach der Veröffentlichung Theologische(r) Studien (Erstes [und einziges] Stück, Leipzig 1816) wurde ihm am Reformationsjubiläum 1817 wegen seiner „durch hervorragende Schriften erwiesenen theologischen Bildung" von der Berliner Fakultät unter -«Schleiermacher als Dekan der theologische Ehrendoktor verliehen. Ab 1816 war Nitzsch neben seinem Pfarramt Dozent am Wittenberger Predigerseminar, das 1817 durch Friedrich Wilhelm III. offiziell eingeweiht wurde. 1818 heiratete Nitzsch Emilie Schmieder (1796-1876), Tochter des geistlichen Inspektors von Schulpforta, die später häufig unter Schwermut litt. Verschiedene Rufe auf einen theologischen Lehrstuhl lehnte er ab und wurde 1820 Superintendent in Remberg, das er aber schon 1822 verließ, um dem Ruf an die Universität -»Bonn zu folgen. Dort lehrte er an der theologischen Fakultät von 1822-1847 systematische und praktische Theologie. Mit der ordentlichen Professur übernahm Nitzsch zugleich die neue Stelle eines Universitätspredigers, in der er sich als vicarius mit Pfarrer K . H . Sack, seinem praktisch-theologischen Fakultätskollegen, beim „vereinigten Pfarr- und Universitätsgottesdienst" in der Schloßkirche wöchentlich abwechselte. Als Mitglied und Delegierter des Presbyteriums der bereits 1816 uniert gegründeten evangelischen Gemeinde in Bonn gehörte Nitzsch ab 1824 zur Kreissynode Mülheim am Rhein, die ihn 1835 zur Provinzialsynode delegierte. 1838 wurde er deren Assessor (Vizepräses) bis zu seinem Wechsel nach Berlin. 1836 zum nebenamtlichen Rat im Koblenzer Konsistorium berufen, wurde er auf Antrag von Minister Eichhorn 1843 zum Oberkonsistorialrat ernannt.

25 Jahre war Nitzsch an der Bonner Fakultät (1827/28 auch als Rektor der Universität) und in der evangelischen Rheinprovinz die bestimmende Persönlichkeit und gewann durch seine akademische, pastorale, synodale und konsistoriale Wirksamkeit wie durch sein irenisches Wesen das Ansehen eines „rheinischen Kirchenvaters". 1847 wurde ihm auf Betreiben von Eichhorn gegen anfängliche Bedenken von Friedrich Wilhelm IV., dem man Nitzsch als Gegner seiner kirchlichen Intentionen hingestellt hatte (Beyschlag 305f), als Nachfolger von —»Marheineke in Berlin die Professur für systematische und praktische Theologie verliehen, wiederum verbunden mit der neuerrichteten Stelle eines Universitätspredigers an der Dorotheenstädtischen Kirche. Den Höhepunkt seines vermittlungstheologischen Einflusses erreichte er 1846 auf der ersten preußischen Generalsynode, an der er als rheinischer Assessor und Oberkonsistorialrat teilnahm: „Ich bin hier eine Art von Personification der Union" (Beyschlag 294). Es war zum großen Teil sein persönlicher Erfolg, daß die Synode zu einem Konsens als Grundlage einer Lehrordnung der Union (-»Unionen, Kirchliche) fand und daß sie für eine Vereinigung von Konsistorial- und Presbyterialverfassung in der gesamten preußischen Landeskirche stimmte. Aber alle Beschlüsse der vertagten Generalsynode wurden vom König, der sich durch sie in seiner Vorstellung von einer „apostolischen" Kirchenverfassung nicht unterstützt sah, ad acta gelegt und in der Folgezeit unter dem Druck politischer wie kirchlicher Reaktion nicht wieder aufgegriffen. Zwar sollte noch durch königliche Verordnung vom 2 8 . 1 . 1 8 4 8 das von der Generalsynode vorgeschlagene und von Nitzsch im Dankschreiben für seine Ernennung zum Mitglied (GStA Merseburg, Rep. 76 III Sekt. 1 Abt. 1 Nr. 4 Bd. 1 Bl. 145) als „Fortschritt zur Verselbständigung der Evangelischen Kirche" begrüßte Oberkonsistorium in Berlin eingerichtet, aber nach seiner ersten Sitzung am 16.3.1848 faktisch wieder aufgelöst werden. Bei der Einsetzung des Evangelischen Oberkirchenrats am 2 9 . 6 . 1 8 5 0 wurde Nitzsch auffallend übergangen. Friedrich Wilhelm IV. übertrug ihm zwar 1850 die Funktion eines „königlichen Commissarius", als der er auf der rheinischen Provinzialsynode in der Verfassungsfrage zu vermitteln hatte, aber erst am 1 2 . 6 . 1 8 5 2 konnte er (mit Twesten und -»Stahl) in den Evangelischen Oberkirchenrat eintreten, nachdem für den König „die Anstände" beseitigt waren, die gegen seine Berufung „insbesondere aus dessen Betheiligung bei der Herausgabe des .preußischen Wochenblatts' entnommen werden konnten" (Erlaß des Königs vom 2 1 . 2 . 1 8 5 2 an den Minister: GStA Merseburg, Rep. 76 III Sekt. 1 Abt. 1 Nr. 76 Bd. 1 Bl. 18). Nitzsch hatte das liberale Programm der Zeitung seines Freundes v. Bethmann-Hollweg öffentlich unterstützt, weil es „an einer gründlichen und gerechten Besprechung der preußischen Staatsangelegenheiten fehle" (Beyschlag 361), und war vor allem von -»Hengstenberg angegriffen worden. Erfolgreich widersetzte sich Nitzsch der umstrittenen Kabinettsordre vom 6 . 3 . 1 8 5 2 mit ihrer kon-

fessionellen itio in partes, indem er erklärte (tertium datur!), er sei „seit dreißig Jahren amtlich

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und rechtlich dem Bekenntniß des Consensus zugethan" (Beyschlag 386), war aber im Evangelischen Oberkirchenrat einziger Vertreter der Konsensusunion.

Seine Reputation nicht nur in der Berliner Bürgerschaft - im Revolutionsjahr 1848/49 Rektor der Universität, seit 1848 Mitglied im engeren Ausschuß des „Kirchentages", 1849/50 und 1852 konservativer, konstitutionell gesinnter Abgeordneter in der Ersten Kammer des preußischen Landtags, ab 1851 Leiter der monatlichen Zusammenkünfte im Berliner „Predigerverein" - wuchs noch mehr, als er 1855 auf Vorschlag des Magistrats (als Patron von St. Nikolai) zum Propst von Berlin an St. Nikolai und St. Marien bestellt wurde, bei eingeschränkter Lehrtätigkeit und niedergelegtem Predigeramt an der Universität. Hochgeehrt (der König verlieh ihm den „Stern zur zweiten Classe des Rothen Adler-Ordens") beging Nitzsch 1860 das Jubiläum seiner Habilitation. Schwer fiel ihm 1864 die pflichtgemäße Übernahme der mit der Propstei verbundenen Superintendentur für die Hälfte der Berliner Synode, weswegen er seine akademische Lehrtätigkeit bis auf die homiletisch-katechetischen Übungen einstellen mußte und wovon er trotz seiner „wiederholt und dringend" vorgetragenen Bitten erst 1866 entpflichtet wurde. Am 23.11.1866 wurde Nitzsch auf eigenen Wunsch aus Alters- und Krankheitsgründen von Wilhelm I. „in Gnaden" aus dem Evangelischen Oberkirchenrat entlassen und im Frühjahr 1868 auch vom Amt des Propstes entbunden. Fast erblindet starb Nitzsch am 21.8.1868 in Berlin. 2. Werk 2.1. „Es war meine Bestimmung von Jugend her, in meinem öffentlichen Leben durchweg kirchliches und akademisches Lehramt zu vereinigen" (PrTh III.2, VII). Diese doppelte Beanspruchung hat sich auf Nitzschs schriftstellerische Arbeit sowohl belebend, als auch erschwerend ausgewirkt. Einerseits liegt eine Fülle nicht nur wissenschaftlicher Beiträge, sondern auch gehaltvoller Predigten, profunder Vorträge und Gelegenheitsschriften vor, zu denen er sich durch theologische und kirchliche Zeitfragen herausfordern ließ - zum Teil von beträchtlichem Umfang, z.B. Eine protestantische Beantwortung der Symbolik von Dr. Möhler (ThStKr 1834/35; separat: Hamburg 1835), Eine theologische Beantwortung der Philosophischen Dogmatik des Dr. D. F. Strauß (ThStKr 1842/43) - , größtenteils publiziert in den von ihm mitgegründeten Theologische(n) Studien und Kritiken (ab 1828) und der mitherausgegebenen Monatsschrift für die evangelische Kirche der Rheinprovinz und Westphalens (ab 1842), sowie der Deutsche(n) Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben (ab 1850). Andererseits kam er durch die umfangreiche kirchliche Tätigkeit nur zur Ausarbeitung zweier Lehrbücher: System der christlichen Lehre (Bonn 1829 '1851) und Praktische Theologie (I-III, Bonn 1847-1867 »1859-1868).

Nitzsch hat für seine Theologie, wie er sagt, am meisten von seinem Vater, von Schleiermacher und von -»Daub gelernt, von denen er sich zugleich unterscheidet (Beyschlag 138). Nach dem Ende lutherischer Orthodoxie überwand die an Lessing und -•Kant geschulte Theologie seines Vaters in origineller Weise den Antagonismus von Rationalismus und Supranaturalismus und bot Nitzsch früh die richtungweisende Gestalt einer allerdings überwiegend ethisch ausgerichteten Vermittlung, die ihn zu Schleiermacher führte. Uber seine Beziehung zu ihm, dem er im Kreis der Vermittlungstheologen (-•Vermittlungstheologie) nahe stand, ohne mit ihm in persönlicher Verbindung gewesen zu sein, schrieb er nach dessen Tod 1834: „Was für ein Leben aus Einem Stück, und welch ein Ganzes! Es hat für mich manchen Scheidepunkt gegeben, wo ich ihm nicht folgen wollte, aber ich habe seit zwanzig Jahren, wenigstens in der Wissenschaft fast immer mit ihm und von ihm gelebt" (Brief an Schmieder: a.a.O. 143).

Durch Daub wird Nitzsch zur Auseinandersetzung mit spekulativer Theologie geführt, was bereits die Theologischen Studien (1816) zeigen, in denen er das „Theologumen vom Pneuma Hagion als der Mutter des Christs" (Hebräerevangelium) „in seinem Zusammenhange mit den allgemeinen theogonischen Begriffen der morgenländischen, und den besondern der jüdischchristlichen Gotteslehre" in der Absicht darstellt, „den

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Begriff der christlichen Trinität aus d e m Gebiete der l o g i s c h - m e t a p h y s i s c h e n T h e o g o n i e zu r e t t e n " ( 1 5 0 ) . So plädiert er im Schlußkapitel: „Ethische Theogonie" für einen „Offenbarungsglauben", der „aus der innigsten Bekanntschaft mit der reinen Menschlichkeit des Heilands, aus dem ethischen Eindrucke seines Characters und Lebens hervorging" (146) und folgert aus der Identität von Seinsund Erkenntnisgrund in der Offenbarung die Notwendigkeit trinitarischer Unterscheidung im Blick auf das in Analogie zu ihr gedachte Heil: „ . . . denn nur indem sie [sc. die Menschen] dieß dreifach Göttliche richtig unterscheiden und gleich göttlich verehren, werden sie zu ihrem Heile auf das dreifach Menschliche, auf das, was sie von Natur, was sie in der Zeit, und was sie nach dem Geiste sind, auf ihre natürliche, verlorne und neue Unschuld und Göttlichkeit aufmerksam werden" (149f). Zugleich denkt Nitzsch schon hier als kirchlicher Theologe, indem er „für die wissenschaftliche Kritik der Religionen kein andres Princip, als die Idee der Kirche und des kirchlichen Zweckes" (6) angibt. 2 . 2 . D a s System der christlichen Lehre, d a s keine „ D o g m a t i k im vollen S i n n e " ( 5 1 8 4 4 , VIII) sein will, sondern seine A u f g a b e darin sieht, „ d i e Religion der Christen in d e r Ungeschiedenheit des E r k e n n e n s und H a n d e l n s " ( 1 8 2 9 , 3) darzustellen, findet diese E i n heit „in d e r Soteriologie, in der d u r c h Christi Dasein und W i r k e n b e s t i m m t e n Vorstellung des Göttlichen und M e n s c h l i c h e n " ( M 8 4 4 , VI). Seinen enzyklopädischen O r t h a t das System zwischen einer von N i t z s c h m e h r f a c h v o r g e t r a g e n e n , als „ W i s s e n s c h a f t v o n der Bildungsgeschichte d e r geoffenbarten R e l i g i o n " ( 1 8 2 9 , VII) v e r s t a n d e n e n , „biblischen T h e o l o g i e " und einer ausgeführten D o g m a t i k und E t h i k . E n t s p r e c h e n d der „ E i n h e i t des christlichen L e b e n s " verbindet N i t z s c h Glaubens- und Sittenlehre „ g e n e t i s c h " für eine Z e i t , in der „ d a s W i s s e n v o m F u n d a m e n t e und v o m U m f a n g e des C h r i s t e n t h u m s sehr streitig und s c h w a n k e n d g e w o r d e n i s t " (a. a. 0 . 3 ) und in d e r p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e K o m p e t e n z „ z u r N e u - und F o r t b i l d u n g des K a t e c h i s m u s " (a. a. O . V ) verlangt w i r d . Bezogen auf Religion und Offenbarung sieht Nitzsch das Christentum als „eine bestimmte Weise des Menschenlebens" ( a . a . O . 5), das zu seiner verlorenen Ursprungsbestimmung zurückgeführt wird. Ethik und Soteriologie im Leitbegriff des Heils verbindend, handelt er erstens „Vom Guten" (1. „Von G o t t " , in trinitarischer Entfaltung, 2. „Von der Creatur"), zweitens „Vom Bösen" (1. „Von der Sünde", 2. „Vom Tode") und drittens „Vom Heile" (1. „Von der Begründung des Heils in der Person des Heilandes", 2. „Von der Aneignung des Heils", 3. „Von der Gemeinschaft im Heil", 4. „Von der Vollendung des Heils"). Entgegen der „absoluten Theo-Logik, der Identitätslehre" -»Hegels (*1839, VII) weiß sich Nitzsch in der Erzeugung eines kirchlichen Lehrbegriffs aus dem christlichen Bewußtsein einig mit Schleiermacher, dem gegenüber er aber die im „zuständlichen" Grundgefühl mitgesetzte Erkenntnis und die „gegenständliche" Bedeutung der gesamtbiblischen „Offenbarungsurkunde" in der Unterscheidung von Schrift und Wort Gottes hervorhebt. Diese biblisch fundierte und auf das Fundamentale konzentrierte „Art der systematischen Theologie" (1829, 1) sollte der Entwicklung eines Lehrbegriffs für die Union dienen. So ist es auch aus kirchenpolitischen Gründen verständlich, daß das „System der christlichen Lehre" bis 1851 sechs, im wesentlichen unveränderte, nur durch kritische Fußnoten erheblich erweiterte Auflagen erfuhr, im wachsenden -»Konfessionalismus aber nahezu bedeutungslos wurde. 2.3. N i t z s c h k a m s c h o n aus W i t t e n b e r g als ein entschiedener B e f ü r w o r t e r d e r U n i o n ins R h e i n l a n d und griff als solcher n i c h t nur a u f d e r M ü l h e i m e r K r e i s s y n o d e 1 8 2 4 , sondern a u c h literarisch in den Agendenstreit ein. Sein Theologisches Votum über die und deren weitere Einführung ( B o n n 1 8 2 4 ) begründet deren neue Hofkirchenagende Ablehnung n a c h gründlicher P r ü f u n g unter d e m G e s i c h t s p u n k t , d a ß in kirchlichen D i n gen die „ h ö c h s t e R ü c k s i c h t " die sei, „ d a ß e t w a s und o b e t w a s zur E r b a u u n g d e r G e meinde g e r e i c h e " ( 3 0 ) . N i t z s c h sieht die U n i o n gefährdet, weil die A n n a h m e der A g e n d e „ d e n r e f o r m i e r t e n G e m e i n d e n und Predigern ungleich s c h w e r e r als den l u t h e r i s c h e n " falle (83). Auf der Generalsynode 1846 trug Nitzsch als Referent der ersten Kommission das Gutachten über die Verpflichtung der Geistlichen auf die Bekenntnisschriften vor, das auch ein als „Versuch" gedachtes Ordinationsformular mit einem Bekenntnis „in Urworten der Schrift und nach Analogie der Apostellehre" enthält (Verhandlungen der ev. Generalsynode zu Berlin vom 2. Juni bis zum 29. August 1846 [Amtlicher Abdruck], Berlin, II 1846, 81). Dieses im Plenum als neues symbolum

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biblicum umstrittene, von Gegnern als „Nitzschenum" bespöttelte Bekenntnis (Text: a . a . O . II, 79) wurde zur Überarbeitung an die durch -»Dorner, Sack, Stahl und Twesten verstärkte Kommission zurückverwiesen und fand nur modifiziert Eingang in den von Dorner bearbeiteten und von der Synode dann beschlossenen zweiten Kommissionsentwurf ( a . a . O . I, 368f), dem auch Nitzsch voll zustimmte mit der Bemerkung, es sei wohl unmöglich, „in heutiger Zeit etwas Unangreifbares zu liefern" ( a . a . O . I, 382; nur für diese Überarbeitung, in der das -» Augsburger Bekenntnis nicht mehr hervorgehoben wird, kann auf Dorners Autorschaft verwiesen werden [Rothermundt: T R E 9 , 156]; vgl. seine auf den 27.6.1846 datierten Gedanken zur „Verpflichtungsformel": Briefwechsel zwischen H . L . Martensen und I.A. Dorner 1839-1881, Berlin, I 1888, 180f). 2.4. H a t t e N i t z s c h b e r e i t s 1831 in e i n e r a k a d e m i s c h e n F e s t r e d e sein p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e s P r o g r a m m ad theologiam practicam felicius excolendam ( B o n n 1831) vorgestellt, in d e m e r m i t S c h l e i e r m a c h e r T h e o l o g i e als p r a x i s b e z o g e n e W i s s e n s c h a f t (scientia ad praxin) a u s d e r A u f g a b e d e r K i r c h e n l e i t u n g b e g r ü n d e t e u n d d i e p r a k t i s c h e T h e o l o g i e als D i s z i p l i n ü b e r d i e P r a x i s ( d i s c i p l i n a de praxi) b e s t i m m t e , so k a m e r z u r A u s f ü h r u n g w e i t g e h e n d e r s t in d e r f ü r i h n k i r c h e n p o l i t i s c h e n t t ä u s c h e n d e n B e r l i n e r Z e i t . In der dreibändigen Praktischen Theologie, ihrer ersten Gesamtdarstellung überhaupt, hat er der Disziplin mit einer „allgemeinen Theorie des kirchlichen Lebens" von seiner „Idee" bzw. seinem „urbildlichem Begriff" bis zum „jetzigen Z e i t p u n k t " (I) die wissenschaftliche Grundlegung durch einen geschichtlich-empirisch vermittelten, der Dogmatik gegenüber selbständigen Kirchenbegriff gegeben: „ M i t den Gemeinplätzen, es giebt nur eine wahre Theologie und Kirche, diese ist es oder jene, es ist alles fundamental, was die Kirche lehrt, es muß ein festes, ganzes System von Eigenthümlichkeiten des Dogma's sein, was die Gemeine regiert und den Katechumenen mit ihr zusammenhält, und mit dergleichen läßt sich nicht mehr haushalten" (I, 1847, 505). Erst dann entfaltet er „das kirchliche Verfahren oder die Kunstlehren" (II u. III) historisch-empirisch, begrifflich-logisch und technisch-regulativ. Praktische Theologie ist „Theorie der kirchlichen Ausübung des Christenthums" (I, 1847, 1), das mit empirischer Kirche nicht einfach identisch, sondern soziokulturell vermittelt ist. Subjekt der Praxis ist „der ersten Potenz nach weder der einzelne Christ als solcher noch der Kleriker, sondern eben die Kirche" ( a . a . O . 15). Nitzsch unterscheidet die „unmittelbar auf Erbauung der Gemeine gerichteten Thätigkeiten" als „Dienst am Wort" bzw. „Lehre" (Homiletik und Katechetik zusammen als „Didaktik"), „Feier" und „eigenthümliche Seelenpflege" (bezogen auf „innere Mission") von den „reflexiven, ordnenden und regierenden" durch Kirchenrecht, Gesetzgebung und Verfassungsbildung ( a . a . O . 128f). Einheit und Vielfalt aller Tätigkeiten und Ämter gründen im Leben der christlichen Gemeinde, die in ethischer „Wechselwirkung" mit analogen Einrichtungen in Kultur, Staat und Gesellschaft steht. Nitzschs „Praktische Theologie" teilt so die vermittlungstheologische Intention, die er auch für die „positive evangelische Union" beansprucht: „Wiedervereinigung getrennter Theile vermöge theologischer und religiöser Vertiefung in den Grund Christi zu gemeinsamem Fortschritte" ( a . a . O . 491). 3.

Nachwirkung

G e m e s s e n a n s e i n e m g r o ß e n p e r s ö n l i c h e n A n s e h e n in K i r c h e u n d T h e o l o g i e ist N i t z s c h b a l d n a c h s e i n e m T o d in V e r g e s s e n h e i t g e r a t e n . Seine B i o g r a p h i e ließ sich 1882 n u r als „ w o h l f e i l e " A u s g a b e d e r E r s t a u f l a g e v e r k a u f e n . O h n e e i n e t h e o l o g i s c h e Schule g e b i l d e t zu h a b e n , b l i e b seine W i r k u n g a u f e i n z e l n e b e g r e n z t . Sein E i n f l u ß als t h e o l o g i s c h e r L e h r e r —»Diltheys a u f d e s s e n H e r m e n e u t i k , e t w a i m V e r s t ä n d n i s v o n „ G e s c h i c h t l i c h k e i t " (Scholtz), b l e i b t z u u n t e r s u c h e n . In t h e o l o g i s c h e r w i e k i r c h e n p o l i t i s c h e r H i n s i c h t ist N i t z s c h s N a m e bis h e u t e m i t d e n B e s c h l ü s s e n d e r G e n e r a l s y n o d e 1846 zu O r dination, Union und Kirchenverfassung verbunden geblieben (Mehlhausen). G r o ß e Wirk u n g h a t t e N i t z s c h in d e r p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e n D i s z i p l i n , d i e sich in d e r Folgezeit in w i s s e n s c h a f t l i c h e r B e g r ü n d u n g , O r g a n i s a t i o n u n d M e t h o d i k a n s e i n e m g r u n d l e g e n d e n W e r k o r i e n t i e r t e , s o d a ß —»Achelis 1911 u r t e i l e n k o n n t e : „ S o v e r s c h i e d e n a u c h d i e Eint e i l u n g e n d e r p r a k t i s c h e n T h e o l o g i e seit N i t z s c h sich g e s t a l t e t h a b e n , so h a t k e i n e u n t e r i h n e n d e n B o d e n v e r l a s s e n , a u f d e n d i e s e r A l t m e i s t e r u n s e r e r W i s s e n s c h a f t sie gestellt h a t " (E. C h r . A c h e l i s , L b . d e r P r a k t . T h e o l . , L e i p z i g , 1 3 1 9 1 1 , 1 7 ) . Von d e r - » d i a l e k t i s c h e n T h e o l o g i e w e i t g e h e n d i g n o r i e r t ( n u r seine P r e d i g t d e f i n i t i o n w u r d e v o n —»Barth k r i t i s c h gewürdigt), gelangte Nitzsch erst wieder im Z u g e der wissenschaftsgeschichtlichen und - t h e o r e t i s c h e n S e l b s t v e r s t ä n d i g u n g d e r - » P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e ( G e r h a r d - » K r a u s e ) zu

Nitzsch

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kritischer Geltung, was sich in der Aufarbeitung sowohl seiner Gesamtkonzeption (Wintzer, Drehsen) als auch einzelner Handlungsfelder und Theorien zeigt und wofür das an der Universität Bonn veranstaltete praktisch-theologische Symposion zum 200. Geburtstag von Nitzsch ein Beispiel ist. Quellen 1. Bibliographie: HenningTheurich, 1975 (s.u.) 240-248. - 2 . Nachweis uttveröff. Sehr.: Volker Drehsen, 1990 (s.u.) 310-313. - 3. Vorl.nachschr. (hs. gebunden) s. Bibliothek der Ev. Kirche im Rheinland, Düsseldorf: Bibl. Theol. des A u. N T (123 SS, 256 S.); Dogmatik (118 S.) u. Dogmengesch. (114 S.), Bonn, Sommersemester 1835 (J. Reinhardt); Christi. Moral (140 SS. 240 S.), Bonn Sommersemester 1836 (J. Reinhardt); Theol. Encyklopädie (105 $S, 28 S.); Das Buch der Weisheit bis Cap. XIX,18, „geschlossen am 30. August 1836" (72 S.). - 4. Archivalien: Übersicht über die Nachkommen des Dr. Karl Ludwig Nitzsch Weiland Generalsuperintendenten zu Willenberg, zusammengestellt v. G. Stier, 8. Ausg. v. Ewald Stier unter Mitarbeit v. Karl Nitzsch, Kiel o.J. (abgeschl. 1.5.1933). Literatur Karl Barth, Homiletik. Wesen u. Vorbereitung der Predigt, Zürich 1966, 15-21. - Willibald Beyschlag, Karl Immanuel Nitzsch. Eine Lichtgestalt der neueren dt.-ev. Kirchengesch., Berlin 1872/ 1882. - Robert M. Bigler, The Politics of German Protestantism. The Rise of the Protestant Church Elite in Prussia 1815-1848, Berkeley/Los Angeles/London 1972. - Joachim Cochlovius, Bekenntnis u. Einheit der Kirche im dt. Protestantismus 1840-1850, Gütersloh 1980 (LKGG 3). - Wilhelm Dilthey, Carl Immanuel Nitzsch zum 16. Juni 1860: GS XI, Stuttgart/Göttingen M960, 39-56. - Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Prakt. Theol. Aspekte der theol. Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christl. Religion, Gütersloh 1988, 134-155. - Ders., „Die kirchl. Ausübung des Christenthums". Programm u. Gestalt der Prakt. Theol. von Carl Immanuel Nitzsch: PThl 8 (1988) 297-316. - Ders., Kirchentheol. Vermittlung. Carl Immanuel Nitzsch (1787-1868): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, I. Aufklärung - Idealismus - Vormärz, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 1990, 287-318. - Wolfgang Eichner, Die Rolle von Nitzsch als .vicarius' der ev. Gemeinde in Bonn: MEKGR 36 (1987) 165-184. - Albert Haas, Grundlinien der Unionstheol. von K.I. Nitzsch, Diss. theol. Göttingen 1964. - Eberhard Hübner, Theol. u. Empirie der Kirche. Prolegomena zur Prakt. Theol., Neukirchen-Vluyn 1985. - Gerhard Krause, Prakt. Theol. Texte zum Werden u. Selbstverständnis der prakt. Disziplin der ev. Theol., Darmstadt 1972 (WdF 264). - Gustav Adolf Krieg, Die Ästhetik von C.I. Nitzsch: ZKG 99 (1988) 147-167. - Joachim Mehlhausen, Das Recht der Gemeinde. Carl Immanuel Nitzschs Beitrag zur Reform der ev. Kirchenverfassung im 19. Jh.: ZKG 100 (1989) 33-57. - Norbert Mette, Theorie der Praxis. Wissenschaftsgesch. u. methodologische Unters, zur Theorie-Praxis-Problematik innerhalb der prakt. Theol., Düsseldorf 1978. - Ulrich Nembach, Seelsorge nach Karl Immanuel Nitzsch: ThZ 28 (1972) 331-346. - Friedrich Nitzsch, Art. Nitzsch, Karl Immanuel: RE J 14 (1904) 128-136. - Gert Otto, Grundlegung der Prakt. Theol., München 1986. - Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie u. Theol., Frankfurt/M. 1973. - Dietrich Rössler, Grundriß der Prakt. Theol., Berlin/New York 1986. - Reinhard Schmidt-Rost, Seelsorge zw. Amt u. Beruf. Stud. zur Entwicklung einer modernen Seelsorgelehre seit dem 19. Jh., Göttingen 1988 (APTh 22). - Ders., „Eigentümliche Seelenpflege". C.I. Nitzschs wiss. Grundlegung einer speziellen Seelsorgelehre: PThl 8 (1988) 283-295. - Wilhelm Schneemelcher, Carl Immanuel Nitzsch, 1787-1868: Bonner Gelehrte, Beitr. zur Gesch. der Wiss. in Bonn, Abt. Ev. Theol. (150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Univ. zu Bonn 1818-1968), Bonn 1968, 15-30. - Christoph Schneider-Harpprecht, Trost in der Seelsorge, Stuttgart/Berlin/Köln 1989, 14-22. - Gunter Scholtz, Erg. zur Herkunft des Wortes „Geschichtlichkeit": ABG 14 (1970) 112-118. - Friedrich Schweitzer, Kirche als Thema der Prakt. Theol. Carl Immanuel Nitzsch, sein wissenschaftstheoretisches Programm u. dessen Zukunftsbedeutung: ZThK 90 (1993) 71-86. - Henning Theurich, Theorie u. Praxis der Predigt bei Carl Immanuel Nitzsch, Göttingen 1975 (SThGG 16) (Lit.). - Ders., Predigt „zur Erbauung der Gemeine". Zugleich ein Beitr. zur Frage nach dem Subjekt kirchl. Handelns bei Carl Immanuel Nitzsch: PThl 8 (1988) 323-339.-Eberhard Winkler, Carl Immanuel Nitzsch in Berlin 1847-1868: ebd. 317-321.-Friedrich Wintzer, C.I. Nitzschs Konzeption der Prakt. Theol. in ihren gesch. Zusammenhängen: EvTh 27 (1969) 93-109. - Ders., Einf. zu dem Bonner prakt.-theol. Symposion vom 20.-22.11.1987. Zur Bedeutung von Carl Immanuel Nitzsch für die Prakt. Theol. u. die kirchl. Praxis: PThl 8 (1988) 269-271. Henning Theurich

582

Noachitische Gebote I

Noachitische Gebote I. Judentum II. Neues Testament

S. 585

I. Judentum 1. Inhalte und allgemeiner Sinn Noachiten (Literatur S. 584)

1. Inhalte und allgemeiner

2. Geschichte

3. Religiöse Motivation

4. Chancen der

Sinn

Nach jüdisch-religiöser Auffassung werden unter den Noachitischen Geboten bestimmte Beschränkungen verstanden, die für die nichtjüdischen Nachkommen Noachs, d.h. für die ganze außerisraelitische Menschheit verbindlich sind. Damit sollte ein gesetzlicher Rahmen abgesteckt werden, nach dem auch die Nichtjuden vor Gott bestehen können. Nach dem Glauben Israels sind nämlich nur die Juden zum Leben nach dem Gesetz verpflichtet. Andererseits schließt der universalistische Aspekt des Judentums keinen Menschen von vornherein vom Heil aus. Nach rabbinischer Ansicht unterstehen die Noachiten folgenden sieben Ge- und Verboten: 1) Verbot des Götzendienstes {'avodah zarah), 2) Verbot der Gotteslästerung (qillelat hash-shem), 3) Verbot des Blutvergießens (shefikut damim; gemeint ist die ungerechte Tötung eines Menschen), 4) Verbot der Unzucht (geschlechtliche Perversion, bes. Sodomie: gilluy 'arayot), 5) Verbot des Raubs von Menschen und von fremdem Eigentum (hag-gezel), 6) Gebot, eine geordnete Rechtsprechung einzurichten (had-dinim), 7) Verbot, ein Stück von einem lebenden Tier zu essen ('ever min ha-hay). Wichtigste rabbinische Belege für die Noachitischen Gebote: tAZ 8,4-6; yAZ 2,1,40c; bAZ 64b; bSan 56b-57a; BerR 16 zu Gen 2,17 (vgl. auch —•Bileam). Laut DevR 2,25 zu Dtn 4,41 hat bereits Adam die ersten sechs Gebote erhalten. Weil aber ihm und seinen Nachkommen nach Gen 1,29-31 nur Pflanzennahrung gestattet wurde, habe das siebte Gebot erst bei Noach aktuell werden können. Ihm sei der Fleischgenuß gestattet (Gen 9,3-5), jedoch mit dem Verbot verbunden worden: „Nur Fleisch, in dessen Seele noch Blut ist, dürft ihr nicht essen" (Gen 9,4). Dieses siebte Gebot verbietet nach rabbinischer Auffassung für die Noachiten den Genuß von Teilen lebender Tiere. Im Gegensatz zum östlichen Text von Act 15,20 (s. u. II.) verbietet das rabbinische Judentum den Noachiten also den Blutgenuß nicht. Nur dieses siebte Gebot begründen die Rabbinen ausführlich biblisch; die übrigen sechs Gebote werden meistens ohne direkten biblischen Bezug aufgezählt und dann auf Einzelfragen angewandt. 2.

Geschichte

Die Liste der sieben Noachitischen Gebote ist in jüdischen Quellen erst in der 2. Hälfte des 2. Jh. n. Chr. belegt. Aber schon viel früher war die Dringlichkeit entstanden, den Status solcher Nichtjuden zu umschreiben, die dem Götzendienst abgeschworen hatten. Schon in biblischer Zeit näherten sich Heiden dem Judentum, ohne Vollproselyten zu werden, d.h. ohne sich beschneiden zu lassen. Man nannte sie Gottesfürchtige (yir'e has-sem bzw. aeßo/iEvoi töv 9edv: Ps 115,11; 118,4; 135,20 u.ö.). Es scheint, daß sich viele nichtjüdische Christen aus dieser Menschengruppe rekrutiert haben (vgl. Act 13,16.26.43; 16,14; 17,4). Deshalb wurden die Christen in der Antike vielfach von den Heiden zu den Gottesfürchtigen gezählt (Bernays, Pines). Die Mehrzahl der Gottesfürchtigen hatte nicht ohne jüdischen - später christlichen - Einfluß dem Götzendienst abgeschworen (vgl. JosAs 8,5). Ihre Anwesenheit vor den Pforten des Judentums verpflichtete die Rabbinen moralisch zu Festlegungen der Pflichten dieser „Frommen der Weltvölker" (haside 'ummot ha-'olam). Die sieben Noachitischen Gebote sind das Endergebnis aus örtlichen Bräuchen (-»•Gewohnheit), Vorschlägen und Vereinbarungen: sie

Noachitische Gebote I

583

können als eine Art Fundamentalmoral aufgefaßt werden. Im Urchristentum entstand ein ähnliches Problem, als die Zahl der Heidenchristen wuchs (s.u. II.). G. Resch hat seinerzeit zu zeigen versucht, d a ß der „westliche" Text des Aposteldekrets der ursprünglichere sei. Nach dieser Version werden die Heidenchristen nur verpflichtet, sich vor der Befleckung durch Götzen, vor der Unzucht und vor dem Blut (d.h. Blutvergießen!) zu bewahren. Die Richtigkeit der These Reschs habe ich anderwärts bestätigen können (Flusser/Safrai 174-176; anders s.u. S.586). Jedenfalls decken sich diese drei von den Heidenchristen unbedingt zu meidenden Laster mit den drei jüdischen Kardinalsünden (bzw. Todsünden), die ein Jude laut Entscheid einer Versammlung in Lydda (um 120 n. Chr.) unter keinen Umständen begehen darf: Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen (zu den drei Todsünden vgl. bes. bEr 15b; bSan 4 0 b - 4 1 a ; BerR 16, zu Gen 2,16; der Entscheid von Lydda: SifDev 41, 85; bKid 40b; bSan 74a; ySan 3,21b; yShevi 4,35a).

Was dem Juden selbst bei Gefahr für Leib und Leben verboten ist, ist nach rabbinischer Auffassung auch den Nichtjuden verboten. Heiden, die diese drei Todsünden begehen, werden von Gott hart bestraft. In dem protoessenischen —•Jubiläenbuch (Jub 7,20f; 20,5f; 23,14; vgl. CD 4,13-19) werden im Namen Noachs drei andere, verwandte Gebote aufgezählt: Die Nachkommen Noachs sollen ihre Seele von Unzucht, Unreinheit und aller Ungerechtigkeit bewahren. Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen bildeten offensichtlich den ältesten Grundbestand der Noachitischen Gebote. In der ersten Hälfte des 1. Jh. n.Chr. kamen noch Raub (Diebstahl) und Gotteslästerung dazu. Diese fünf Grundgebote finden sich bereits in der -»Didache. Did 3 , 1 - 6 : „Mein Sohn, fliehe vor allem Bösen und vor allem, was ihm ähnlich ist. Werde nicht zornig, denn der Zorn führt zum Mord . . . Werde nicht lüstern, denn die Lüsternheit führt zur U n z u c h t . . . Werde kein Vogelschauer, denn dies führt zum Götzendienst... Werde kein Lügner, denn die Lüge führt zum Raub . . . Werde nicht mürrisch, denn dies führt zur Gotteslästerung . . . " Die jüdische „Zwei-Wege-Lehre" lag dem christlichen Verfasser der Didache vor, und Did 3,1—6 ist von der Forschung seit langem als älter als die „Zwei-Wege-Lehre" erkannt worden. Die Liste der fünf Verbote, die von der gesitteten Menschheit beachtet werden müssen, scheint also etwa so alt zu sein wie das Aposteldekret. Die Fünferliste hat somit wohl eine Zeit lang neben der Liste der älteren drei Kardinalsünden bestanden. Einen weiteren Schritt in der Richtung zu den sieben Noachitischen Geboten bedeuten die sechs Adamitischen Gebote (DevR 2,25 zu Dtn 4,41; vgl. oben 1.). Das hinzukommende sechste Gebot beinhaltet die Verpflichtung der Menschheit zur Gerichtsbarkeit, d. h. zur geordneten Justiz. Es ist jedoch auch möglich, daß die Adamitische Sechserliste später ist als die Noachitische Siebenerliste. 3. Religiöse

Motivation

Die Noachitischen Gebote sind als religiöse und ethische Grenzpfähle und Warnungen für gottesfürchtige Nichtjuden entstanden, damit auch sie am Heil Israels partizipieren könnten. Sie dürfen nicht als „ritualistische" Ge- und Verbote bezeichnet werden, weil die Nichtjuden nach jüdischer Auffassung nicht auf das Gesetz Moses verpflichtet sind. Einzig das siebte Gebot könnte „ritualistisch" gedeutet werden. Es ist jedoch nur aus Gen 9,4a abgeleitet und sollte die Menschheit vor Grausamkeit bewahren. Hinter ihm steht die ethisch-religiöse Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben. Die Noachitischen Gebote können schließlich auch nicht als bloße Naturgesetze, naturrechtliche Bestimmungen oder Vernunftgebote gedeutet werden. Zwar weiß die rabbinische Tradition, daß die menschliche Gesellschaft ohne Beobachtung dieser Gebote nicht funktionieren kann (Sifra zu Lev 18,4: bYoma 67b). Die Noachitischen Gebote werden aber als Ge- und Verbote des Gottes Israel verstanden. Daher unterliegt ihre Beobachtung nicht bloß natürlicher Motivation, sondern ist ein Ausdruck des Gehorsams der nichtjüdischen Menschheit gegenüber dem Gott Israels (vgl. Maimonides Yad, Hilkot Melakim 10,7f).

584 4. Chancen

Noachitische Gebote I der

Noachiten

Die Noachitischen Gebote bilden die Grundbedingung für das Heil der Völker. Es entstanden im rabbinischen Judentum nun aber folgende drei Fragen: 1. Sind die Noachitischen Gebote das Minimum oder das M a x i m u m an Soll für die Nichtjuden? 2. Sind die nichtjüdischen Völker als Ganzheit überhaupt willens oder fähig, die Noachitischen Gebote einzuhalten? 3. Wie weit können die „Frommen der Weltvölker" ( = die Noachiten) gegenüber den im allgemeinen götzendienerisch und judenfeindlich gesinnten Weltvölkern ('ummot ha-'olam) zum Zuge kommen? Bestimmte radikale Juden meinten, die Noachitischen Gebote seien nur ein Minimum. Dieses Minimum werde zur Gottmißfälligkeit, wenn ein Noachite nicht schließlich Jude werde. Ein Beispiel ist die Geschichte von Izates, dem König von Adiabene, dem in der Mitte des 1. J h . n . C h r . ein Jude riet, es genüge, wenn er Gottesfürchtiger bleibe, während ein anderer von ihm die Konversion verlangte (Josephus, Ant 2 0 , 1 7 - 4 0 , bes. 4 1 - 4 5 ) . Andererseits gibt es rabbinische Aussagen, wonach die Noachitischen Gebote in sich ein hoher Wert sind, zu dessen Erhöhutig man noch jüdische Gebote hinzufügen kann. „Einem Nichtjuden, der einen (jüdischen) Segensspruch im Namen Gottes spricht, dem antwortet (die jüdische Gemeinde) mit „ A m e n " (tBer 5,21). Dazu paßt Did 6 , 2 f : „Wenn du das ganze J o c h des Herrn auf dich nehmen kannst, wirst du vollkommen sein. Wenn du es aber nicht kannst, tue, was du kannst. Betreffs der Speise: Was du kannst, nimm auf dich! Aber von dem Götzenopferfleisch nimm dich sehr in acht. Denn dies ist ein Kult für tote G ö t t e r " (in gleichem Sinn Sifra zu Lev 18,5). Ein besonders optimistischer Standpunkt bezüglich des Endheils der Weltvölker findet sich in dem aus der Mitte des 2. J h . n . C h r . stammenden 'alenu-Gebet: „ . . . Deshalb hoffen wir zu dir, Ewiger, unser Gott, daß wir bald die Pracht deiner Kraft sehen werden, daß die Götzen aus der Welt verschwinden und die Idole ausgemerzt werden, daß die Welt durch das Reich des Allmächtigen hergestellt wird und daß alle Sterblichen deinen Namen anrufen werden. Ferner hoffen wir, daß sich zu dir bekehren alle Frevler der Welt. Und alle Bewohner des Erdkreises werden erkennen und wissen, daß vor dir sich jedes Knie beugt und jede Zunge schwört." Hier ist geradezu eine jüdische änoKaxäaxaoiq nävtcov ausgedrückt (ähnlich M e k h Y zu E x 22,20). Daneben gibt es aber auch einschränkende rabbinische Worte, wonach die Noachiten (am Ende der Tage) mehrheitlich dem Götzendienst verfallen (yAZ 2 , l / 4 0 c ; yNed 3 , 1 2 f / 3 8 a ) . Dies mag mit schlechten Erfahrungen mit der römischen Weltmacht und dem Christentum zusammenhängen. Von R a b b i Schimon ben Yochai ist das Dictum überliefert: „Die Gottesfürchtigen sind zum Stolperstein (taqala) für Israel geworden." Er war daher der Ansicht, daß „auch der Beste unter den Völkern zu verurteilen i s t " ( M e k h Y zu E x 14,7). In Einzelfällen gibt es auch prinzipielle rabbinische Zurückweisungen von Bemühungen seitens der Weltvölker, sich die Tora anzueignen (PesK 21,3: Drillingsgleichnisse vom lohnenden Warten; T h o m a / L a u e r 2 5 2 - 2 5 6 ) . Innerhalb der Kirche gab es ähnliche Schwankungen. Das Heil wurde teilweise exklusiv in der Kirchenmitgliedschaft ohne schwere Vergehen gesehen. So schloß die Synode von Elvira (306 n.) Götzendiener, M ö r der und Unzüchtige aus ihrer Gemeinschaft aus, was wohl auf einen indirekten Einfluß der rabbinischen Versammlung von Lydda zurückgeht (Flusser/Safrai 1 8 0 f ) . Literatur Gedalyahu Alon, Die Halacha in der Zwölfapostellehre: Studies in Jewish History I (hebr.), o. 0 . 1 9 5 7 , 2 2 7 - 2 7 9 . - Jacob Bernays, Die Gottesfürchtigen bei Juvenal: Ges. Abh. v. Jacob Bernays, Berlin, II 1885, 7 0 - 8 0 . - Bill. 1,221-224; 111,36-38. - David Flusser, Paul's Jewish-Christian Opponents in the Didache: Gilgul. FS Zwi Werblowsky, Leiden 1987, 83 - 9 0 . - Ders./Shmuel Safrai, Das Aposteldekret u. die Noachitischen Gebote: „Wer Tora vermehrt, vermehrt Leben". FS Heinz Kremers, hg. v. Edna Broche/Hans Barkenings, Neukirchen 1986, 1 7 3 - 1 9 2 . - A. Greenbaum, Dreißig Noachitische Gebote nach Rav Samuel ben Hofni (hebr.): Sinai 72 (1973) 2 0 5 - 2 2 1 . - A. Lichtenstein, The Seven Laws of Noah, New York 1981. - David Novak, The Image of the Non-Jew in Judaistn. A Historical and Constructive Study of the Noachide Laws, 1983 ( T S T 14). - Shlomo

Noachitische Gebote II

585

Pines, T h e Iranian Name for Christians and the ,God-Fearers': Israel Academy Proceedings II.7, Jerusalem 1 9 6 7 , 1 4 3 - 1 5 2 . - G . Resch, Das Aposteldekret nach seiner außerkanonischen Textgestalt untersucht, Leipzig 1905 (TU NS 20) 1 - 1 7 9 . - Chaim and Yakov Rogalski, T h e Path of the Righteous Gentile. An Intr. to the Seven Laws of the Children o f Noah, Southfield/Mich. 1987. - Willy Rordorf/André Tuilier (ed.), La dottrine des douze Apòtres (Didache), 1978 (SC 248). - H. Sahlin, Die drei Kardinalsünden u. das N T : StTh 20 (1970) 9 3 - 1 1 2 . - Emil Schürer, Gesch. des jüd. Volkes III, Leipzig 1909, Nachdr. Hildesheim 1970, 178 f. - Yoel Schwarz, Licht für die Völker (hebr.), Jerusalem 1983. - Clemens Thoma/Simon Lauer, Die Gleichnisse der Rabbinen, T. 1: Pesiqtl de Rav Kahana, Bern 1986.

David Flusser II. Neues Testament 1. Einleitung und Problemstellung 2. Der Textbefund in der Apostelgeschichte 3. Die Noachitischen Gebote und das Aposteldekret 4. Zur Funktion der Noachitischen Gebote im frühen Christentum (Literatur S. 586)

1. Einleitung und

Problemstellung

Die Noachitischen Gebote umfassen eine Auflistung von sieben Ge- und Verboten, mit deren Hilfe das rabbinische Judentum Richtlinien für das Verhalten von Nichtjuden im Umgang mit Juden festsetzte (s. 1.1.). Da in jüdischen Quellen eine Auflistung der sieben noachitischen Gebote erst ab der 2. Hälfte des 2. Jh. nachweisbar ist, stellt sich für das Neue Testament die Frage, ob in den Forderungen (auch „Jakobusklauseln" genannt) des sog. Aposteldekrets (Act 15,20.29; 21,25) Vorstufen dieser Ge- und Verbotsreihe zu finden sind, mit deren Hilfe das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen in gemischten Gemeinden geregelt werden konnte. Die Beantwortung dieser Frage wird dadurch erschwert, daß das Aposteldekret in zwei unterschiedlichen Textformen überliefert ist (zum historischen Ort des Aposteldekretes vgl. -»Urchristentum). 2. Der Textbefund

in der

Apostelgeschichte

Der sog. alexandrinische Text überliefert das Aposteldekret in den folgenden drei Fassungen (vgl. Gerhard Schneider, Die Apostelgesch. II, 1982 [ H T h K 5/2] 192): Act 15,20: „Götzen und Unzucht und Ersticktes und Blut"; so P 7 4 X A B C E u . a . - Act 15,29: „den Götzen Geopfertes und Blut und Ersticktes und Unzucht"; so in den oben genannten Textzeugen. — Act 21,25: „den Götzen Geopfertes und Blut und Ersticktes und Unzucht"; so in denselben Textzeugen. Demgegenüber bietet der sog. westliche Text folgende drei Versionen: Act 15,20: D (gig) I r ' " lassen xai [TOÜ] nvixzoö weg und fügen die (negative) -»Goldene Regel an. - Act 15,29: D l I r ' " (Tert) lassen xai nvixxwv weg und fügen ebenfalls die (negative) Goldene Regel an. - Act 21,25: D gig lassen xai KVIXTÓV weg. Beide Lesarten haben die Formmerkmale eines nominalen Katalogs, der den seit Plato (Phaid. 113c.114a) nachgewiesenen Listen von Kapitalvergehen nahekommt. Innerhalb des alexandrinischen Textes unterscheiden sich die drei Fassungen in der Reihenfolge der Klauseln und in der Wortwahl. Dies kann man entweder als stilistische Variation des Lk (so Ernst Haenchen, Die Apostelgeschichte, 7 1977 [KEK III] 390 Anm. 5) oder als Ergebnis unterschiedlicher traditionsgeschichtlicher Vorstufen (so Klinghardt 159) erklären. Im westlichen Text fällt „das Erstickte" regelmäßig weg, und die Goldene Regel wird auffallenderweise in Act 21,25 nicht angefügt.

3. Die Noachitischen

Gebote und das

Aposteldekret

Aus dem Textbefund des Neues Testaments ergeben sich in der Forschung drei Lösungen für das Verhältnis von Noachitischen Geboten und Aposteldekret. Die meisten Forscher nehmen eine Priorität des alexandrinischen Textes an und sehen in dieser Fassung des Aposteldekrets eine kultisch-rituelle Kompromißformel, die das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen in gemischten Gemeinden ermöglichte. Man nimmt dabei an, daß die vier Klauseln des Dekretes auf die genm-Gebote des -•Heiligkeitsgesetzes zurückgehen, da in Lev 17 f entsprechende Regelungen für „den Fremdling, der bei euch wohnt", in gleicher Reihenfolge vorliegen. (Klinghardt 1 5 8 - 1 7 0 versucht, für die einzelnen Dekretsforderungen traditionsgeschichtliche Vermittlungsstufen nach-

586

Noachitische Gebote II

zuweisen.) Eine Verbindung zu der u.a. auf der rabbinischen Synode von Lydda (120 n.Chr.) nachweisbaren ursprünglichen Version der Noachitischen Gebote (Trias „Götzendienst, Unzucht, Mord") läge nur mittelbar in dem Sinne vor, daß sowohl die Gebote aus dem Heiligkeitsgesetz als auch der Katalog der drei Kardinalsünden dazu geeignet sind, den Nichtjuden ein Minimum entweder ritueller oder moralischer jüdischer Gesetzespraxis aufzuerlegen. Wenn man allerdings von einer Priorität des westlichen Textes ausgeht (so Resch, Sahlin, Flusser), bestünde eine direkte Übernahme der Ursprungsform der Noachitischen Gebote in das Aposteldekret. Die apostolische Urkirche hätte dann einfach die jüdische Gesetzpraxis in Bezug auf deren moralische Grundgebote übernommen und damit den Nichtjuden Anteil am Heil Israels gegeben (so Flusser/Safrai; s.o. S. 583). Die Version des alexandrinischen Textes wäre dann eine spätere Überarbeitung mit dem Ziel, die Heidenchristen über das Moralische hinaus durch rituelle Vorschriften stärker zu binden (so Flusser/Safrai 184). Als eine dritte Möglichkeit nahm man gelegentlich an (so zuletzt Boman), daß in Act 21,25 (D) die ursprüngliche Form des Aposteldekrets vorliege, die dann durch den westlichen Text in Act 15,20.29 um die Goldene Regel und im alexandrinischen Text an allen drei Stellen um das „Erstickte" erweitert wurde (Argumente gegen diese These: Klinghardt 171). 4. Zur Funktion

der Noachitischen

Gebote

im frühen

Christentum

Meines Erachtens sollte man an dem Forschungskonsens einer Priorität der alexandrinischen Fassung des Aposteldekrets festhalten (vgl. hierzu die ausgewogene Beurteilung aller Argumente bei Kümmel). Die ursprüngliche Fassung des Dekretes diente zur Lösung eines innergemeindlichen Konfliktes um das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen. Durch die heidenchristliche Annahme eines Minimums von Reinheitsvorschriften sollte den Judenchristen ein Zusammenleben mit ihnen ermöglicht werden. Ursprüngliches „Modell" für diesen Kompromiß waren die gerim-Gebote des Heiligkeitsgesetzes. Die im westlichen Text vollzogene Angleichung des Aposteldekretes an den Grundbestand der Noachitischen Gebote und die damit verbundene Ethisierung spiegelt eine spätere kirchengeschichtliche Situation: Nun war das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen kein bedrängendes Problem mehr, Konflikte entstanden vielmehr im Zusammenleben der christlichen Gemeinden mit ihrem paganen und jüdischen Umfeld. In diesem Zusammenhang kann man die westliche Fassung des Aposteldekrets als eine frühe Form von Apologetik gegenüber der Umwelt auffassen. Sowohl die Noachitischen Gebote in ihrer ursprünglichen Fassung als auch die angefügte Goldene Regel formulieren Verhaltensweisen, die gegenüber den Auffassungen der Außenwelt vermittelbar sind. In diesem Sinne behalten die drei Noachitischen Hauptgebote als für alle Menschen verbindliche Ursatzungen ihren ursprünglichen jüdischen Sinn auch im frühen Christentum bei. Literatur (die einschlägigen wiss. Komm, zu Act sind nicht mitaufgeführt) Kurt Aland, Die Bedeutung des p 7 5 für den Text des NT. Ein Beitr. zur Frage der „Western non-interpretations": ders., Stud. zur Überlieferung des N T u. seines Texts, 1967 ( A N T T 2) 1 5 5 - 1 7 2 . - E r n s t Bammel, Der Text v. Apostelgesch. 15: Jacob Kremer (Hg.), Les Actes des Apotres, Gembloux/Leuven 1 9 7 9 , 4 3 9 - 4 4 6 . - Hans-Werner Bartsch, Traditionsgeschichtliches zur,Goldenen Regel' u. zum Aposteldekret: Z N W 75 (1984) 1 2 8 - 1 3 2 . - Friedrich Blass, Zu den zwei Texten der Apostelgesch.: ThStKr 73 (1900) 5 - 2 8 . - Carl Böckenhoff, Das apostolische Speisegesetz u. seine Geltung in den ersten fünf Jh., Paderborn 1903. - Otto Böcher, Das sog. Aposteldekret: Hubert Frankemölle/Karl Kertelge (Hg.), Vom Urchristentum zu Jesus. FS Joachim Gnilka, Freiburg/Basel/Wien 1989, 3 2 5 - 3 3 6 . - Thorleif Boman, Das textkrit. Problem des Aposteldekrets: N T 7 (1964) 26 - 3 2 . - Frederick F. Bruce, The Apostolic Decree of Acts 15: Wolfgang Schräge (Hg.), Stud. zum Text u. zur Ethik des NT. FS Heinrich Greeven, 1986 (BZNW 47) 1 1 5 - 1 2 4 . - Lyder Brun, Apostelkonzil u. Aposteldekret, Gießen 1922. - David R. Catchpole, Paul, James, and the Apostolic Decree: NTS 23 (1977) 4 2 8 - 4 4 4 . - Hans Diehl, Das sog. Aposteldekret. Ein Beitr. zur Kritik v. A. Harnacks „Apostelgeschichte": Z N W 10 (1909) 2 7 7 - 2 9 6 . - Ernst Dietrich, Die „Religion Noahs", ihre Herkunft u. ihre Bedeutung: Z R G G 1 (1948) 3 0 1 - 3 1 5 . - Gianfranco

N o m a d e n t u m im Alten Testament

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H i n w e i s e enthalten die Beschreibungen des K a i n s n a c h k o m m e n J a b a l in G e n 4 , 2 0 als S t a m m v a t e r der M e n s c h e n , die in Z e l t e n leben und T i e r e aufziehen, und d e r L e b e n s w e i s e d e r R e k a b i t e n in J e r 3 5 ( J o n a d a b ben R e k a b ) . A u c h a n d e r e D o k u m e n t e a u s d e m alten O r i e n t kennen keine b e s t i m m t e T e r m i n o l o g i e für die N o m a d e n . D a s W o r t N o m a d e ist vielmehr a u s d e m Griechischen herzuleiten, w o u. a. H e r o d o t die W a n d e r h i r t e n als vôfiaôeç bezeichnet. In d e r alttestamentlichen F o r s c h u n g h a t der N o m a d i s m u s eine g r o ß e R o l l e gespielt, die teilweise geschichtlicher, teilweise kulturgeschichtlicher A r t gewesen ist. S o h a b e n die meisten F o r s c h e r des 2 0 . J h . sich der N o m a d e n bedient, u m die E n t s t e h u n g - » I s r a e l s zu e r k l ä r e n . Z u n ä c h s t w u r d e n die E r z v ä t e r als N o m a d e n angesehen, w o b e i Bestandteile der E r z v ä t e r e r z ä h l u n g e n in der Genesis als E r b e der früheren n o m a d i s c h e n E x i s t e n z d e r Israeliten verstanden w u r d e n , in Sonderheit die R e l i g i o n der E r z v ä t e r , die Verehrung des s o g e n a n n t e n „ G o t t e s der V ä t e r " . D a z u k o m m t , d a ß F o r s c h e r w i e A l b r e c h t - » A l t und M a r t i n —»Noth a u f eine bes t i m m t e F o r m des N o m a d e n t u m s , a u f die s o g e n a n n t e n K l e i n v i e h n o m a d e n ( o d e r „ S e m i n o m a d e n " ) , die ausschließlich Schafe und Z i e g e n aufziehen, hingewiesen h a b e n , u m

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Nomaden tum im Alten Testament

die Einwanderung der Israeliten in Palästina als einen allmählichen Prozeß statt einer militärischen Eroberung erklären zu können, weil die Kleinviehnomaden im Unterschied zu den Kamelnomaden, den Beduinen, gewöhnlich wenig streitlustig sind. In Verbindung mit der Auffassung der Israeliten als Nachkommen früherer Nomaden haben sich mehrere Forscher, unter ihnen R. de Vaux und S. Nyström, bemüht, viele kulturelle Elemente der späteren israelitischen Kultur als Reste nomadischen Lebens der Frühisraeliten zu erklären. Dazu gehört nicht nur die israelitische Jahwereligion (-•Jahwe), sondern auch eine Reihe von Gebräuchen und Gesetzen, weil sie als urtümlicher als die eines Kulturvolks eingestuft wurden. Doch hat man sich auch vorgestellt, daß es zwischen den nomadischen Israeliten und den ansässigen Kanaanäern in Palästina einen ständigen kulturellen Austausch gab, was zu synkretistischen Erscheinungen in der altisraelitischen Kultur führte, z.B. zum israelitischen Passahfest (—•Pesach), das von zwei ursprünglich unabhängigen religiösen -»Festen herzuleiten sei, einerseits vom kanaanäischen Erntefest (Massotfest) und andererseits vom israelitisch-nomadischen Passahfest. Diese Auffassung vom Leben der Israeliten in der Frühzeit beruht auf zwei ehemals weithin anerkannten Voraussetzungen, die aber heute fast aufgegeben worden sind. Zum einen stellte man sich vor, daß im Altertum eine Reihe von Völkerwanderungen stattgefunden hat, bei denen nomadische Stämme aus der Wüste in das Kulturland eingewandert sind, um sich dort anzusiedeln. Zum anderen hat man geglaubt, daß es in Nahost seit dem Altertum eine ständige Dichotomie zwischen ansässigen Kulturvölkerschaften, die in Dörfern oder Städten lebten, und Nomaden, die gewöhnlich am Rande des Kulturlandes zu finden waren, gegeben hat. Die Nomaden sollen im Laufe der Geschichte ihre Heimat oftmals verlassen haben, um in das Kulturland einzudringen und dort ansässig zu werden. So hat man die Einwanderung der Israeliten mit der sogenannten Völkerwanderung der Aramäer in Verbindung gebracht, wonach sie nach Palästina um 1200 v. Chr. als Nomaden gekommen wären. Diese Erklärung der Entstehung Israels läßt sich wegen einer revidierten Auffassung des allgemeinen nahöstlichen Nomadentums nicht mehr aufrechterhalten. Als Ursache dieses Tatbestands darf das nach dem Zweiten Weltkrieg erneuerte Interesse der Ethnologen an der orientalischen Gesellschaft betrachtet werden, wodurch die frühere Auffassung der Nomaden, die meistens von Entdeckungsreisenden und Orientalisten ohne professionelle ethnographische Ausbildung formuliert wurde, grundsätzlich revidiert worden ist. Die neue ethnographische Forschung hat u.a. zu folgenden Ergebnissen geführt: - Es ist korrekt, daß die Nomaden des 2. Jt. überwiegend Kleinviehzüchter waren, weil Kamele nicht vor dem 1. Je. v.Chr. in vollem Umfang domestiziert wurden, was für die Entstehung des modernen Nomadentypus, des Beduinentums, eine unentbehrliche Voraussetzung war (These von A. Alt). - Andererseits ist es eine Tatsache, daß sich Nomaden nicht freiwillig ansiedeln, jedoch oftmals durch Verhältnisse, die sie selbst nicht kontrollieren können, zur Ansiedlung gezwungen werden. In Sonderheit muß man auf das Wirken politischer Instanzen zentralisierter Staaten hinweisen, wodurch der Staat einen gewaltigen Druck auf die Nomaden ausüben kann, um ihre freien Wanderungen zu begrenzen und dadurch ihr Leben beschwerlich zu machen. Die Auffassung, daß Nomaden grausame Eroberer von besiedelten Gebieten mit dem Ziel der Seßhaftwerdung waren, ist falsch und kann durch ethnographische Fakten nicht begründet werden. - Zwischen Nomaden und Ansässigen, die in Dörfern und Städten leben, gab es keine fundamentale Trennung - ebensowenig zwischen Dorfbewohnern und Stadtbewohnern. Statt der gewohnten Dreiteilung der nahöstlichen Gesellschaft in Nomaden, Bauern und Städter ist es erforderlich, von einem soziokulturellen und sozioökonomischen Kontinuum zu reden, von einer Gesellschaft mit einer komplizierten Gesellschaftsstruktur, wo eine Person bald die eine ökonomische Lebensweise, dann die andere wählt

Nominalismus

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und w o man von keinen festgelegten Trennungslinien zwischen den Tätigkeitsbereichen reden kann. In Sonderheit gilt es für die Kleinviehnomaden (die allerdings keinen besonderen Gesellschaftstypus darstellen), da sie sich meist in einem symbiotischen Lebensverhältnis mit der Bevölkerung ihrer Wandergebiete befinden und sich oftmals mit anderen Tätigkeiten (wie dem Ackerbau) beschäftigen. - Das Nomadentum in Nahost muß deshalb als eine multifacettierte Lebensweise aufgefaßt werden, die in vieler Hinsicht mit anderen Sozialformen interferiert. Nomaden haben im Laufe der Geschichte eine überlegene Fähigkeit demonstriert, sich den verschiedenen ökonomischen, kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen und Verhältnissen anzupassen. - Es darf gleichzeitig nicht übersehen werden, daß Nomaden nicht ausschließlich Hirten sind, sondern mit anderen Gruppen zusammengehören: Gewisse Handwerkerzünfte und umherwandernde Künstlergruppen sind hier mitzurechnen. Solche Stände und Gruppen werden in der Notiz Gen 4 , 2 0 - 2 2 über die Familie Lamechs in Verbindung mit den Hirten sachgemäß genannt. Im alten Israel dürfen die Keniter wohl als eine solche Berufsgruppe betrachtet werden. Der neuen Auffassung vom Nomadentum ist bei der Einschätzung der Rolle der Nomaden im Alten Testament Rechnung zu tragen. Es ist besonders wichtig, daß manche Züge der israelitischen Kultur, die früher als nomadisch betrachtet wurden, nicht notwendigerweise aus dem Leben der Nomaden herzuleiten sind, sondern vielmehr Reste einer frühen israelitischen Tribalorganisation darstellen, die vor der Entstehung der zentralisierten Staaten existiert und auch nach der Staatenbildung ihre Bedeutung nicht ganz verloren hat. Dabei darf nicht vergessen werden, daß Nomaden in der alten Welt nicht die einzigen tribal organisierten Gruppen waren, sondern daß Stammesorganisation überall dort wichtig war, wo es noch keine zentralisierten Staaten gab. Waren die Israeliten zweifellos als Stammesgesellschaft organisiert, bedeutet das keineswegs, daß sie ursprünglich Nomaden waren und auf der Suche nach Ackerland nach Kanaan gekommen sind, um das Land mit Gewalt einzunehmen. Nach heutiger wissenschaftlicher Erklärung ist die Entstehungsgeschichte Israels viel komplizierter gewesen. Literatur Albrecht Alt, Die Landnahme der Israeliten in Palästina (1925): ders., KS zur Gesch. des Volkes Israel I, München 1953, 89-125. - Ders., Der Gott der Väter (1929): ebd. 1 - 7 8 . - Niels Peter Lemche, Early Israel. Anthropological and Historical Studies on the Israelite Society Before the Monarchy, 1985 (VT.S 37). - Matthias Köckert, Vätergott u. Väterverheißungen. Eine Auseinandersetzung mit Albrecht Alt u. seinen Erben, 1988 (FRLANT 142). - Samuel Nyström, Beduinentum u. Jahwismus. Eine soziologisch-religionsgesch. Unters, zum AT, Lund 1946. - Pastoral Production and Society. Proceedings of the International Meeting on Nomadic Pastoralism, Paris 1 - 3 Dèe. 1979, Cambridge/Paris 1979. - Thomas Staubli, Das Image der Nomaden im Alten Israel u. in der Ikonographie seiner seßhaften Nachbarn, 1991 (OBO107). - Roland de Vaux, Les institutions de l'Ancien Testament I: Le nomadisme et ses survivances, institutions familiales, institutions civiles, Paris »1961. Niels Peter Lemche

Nominalismus 1. Begriff 2. Die Nominalisten 3. Wissenschaftslehre 4. Erkenntnislehre 5. Universalienlehre 6. Die Entdeckung des Sachverhaltes 7. Das Problem der Gewißheit 8. Die doppelte Macht Gottes 9. Kategorien-und Eucharistielehre 10. Naturphilosophie 11. Oeconomia modernd (Quellen/Literatur S. 600) 1. Begriff Der Begriff Nominalismus ist ursprünglich nur ein Teil eines Gegensatzes. Nominalismus und -»Realismus sind im 18. und 19. J h . ein klassisches Begriffspaar, nach dem

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Nominalismus

die gesamte Philosophiegeschichte eingeteilt wurde. Es geht auf die aus dem 12. Jh. stammende Unterscheidung zwischen Nominales und Reales im Bereich der -»Logik zurück. Im 15. Jh. wird dieser Gegensatz dramatisch verschärft, weil jetzt die beiden Begriffe ganz verschiedene philosophische und theologische Denkrichtungen bezeichnen, wie insbesondere aus Verordnungen gegen den Nominalismus hervorgeht. Im Verbannungsedikt Ludwigs XI. vom 1. März 1474 wird die Lehre der Reales Doctores (Aristoteles, Thomas, Bonaventura, Duns Scotus u. a.) als nachahmenswert empfohlen, während die Lektüre der Schriften der Nominalisten (Wilhelm von Ockham, Johannes von Mirecourt, Gregor von Rimini, Johannes Buridanus, Petrus von Ailly, Marsilius von Inghen, Adam Wodeham, Johannes Dorp und Albert von Sachsen) ausdrücklich verboten wird. Genau in diesem Sinne wird der Begriff Nominalismus auch hier verwendet. Er repräsentiert eine bestimmte, historische Denkhaltung im 14. und 15. Jh., die - oftmals den Denkanstößen Wilhelms von Ockham folgend - hinsichtlich bestimmter Themenbereiche „neue Wege" im Vergleich zur traditionellen Philosophie und Theologie beschreitet. Diese Innovationen des Nominalismus machen seine historische Bedeutung aus. 2. Die

Nominalisten

Ausgangspunkt des neuen Denkens sind die Schriften des Franziskaners Wilhelm von -»Ockham, der 1317-1319 über die Sentenzen des -»Petrus Lombardus Vorlesungen in Oxford hält. 1323 wird Ockham von dem Oxforder Kanzler Johannes Luttereil wegen angeblicher Irrlehren in 56 Punkten am päpstlichen Hof in Avignon angeklagt. Später entzieht sich Ockham dem Zugriff der päpstlichen Kommission durch die Flucht an den Hof König Ludwigs des Bayern in München, wo auch Michael von Cesena, -»Marsilius von Padua und Johannes von Jandun Aufnahme finden. Die neue philosophische Bewegung zeigt ihre Wirkung zunächst in -»Oxford und -»Paris, schließlich an den meisten Universitäten Europas. Walter Chatton hat die Gedanken Ockhams kritisch rezipiert und Ockham selbst in einigen Punkten (z.B. in der Universalienlehre) zu einer Kehrtwendung veranlaßt. Die weitere Rezeptionsgeschichte, aus der die für die -»Sprachphilosophie bedeutsame Kontroverse zwischen Robert Holcot und Crathorn hervorragt, wird durch die Werke Adam Wodehams, Robert Holcots, Richards von Billingham und besonders auch Richard FitzRalphs bestimmt. Was durch Ockham und seinen Kritiker Walter Burley auf den Gebieten der Logik und Physik begonnen worden war, wird in Oxford von einem Kreis von Männern fortgesetzt, dessen Beziehung zum Nominalismus Ockhams noch genauerer Erforschung bedarf: Thomas Bradwardine, Roger Swineshead, Richard Kilvington, William Heytesbury, John Dumbleton, Richard Swineshead u. a. Das im Jahre 1339 von der Pariser Artistenfakultät ausgesprochene Verbot des Gebrauchs der Ockhamschen Schriften sowie das von derselben Fakultät ein Jahr später formulierte sog. Nominalistenstatut („zur Zurückweisung dieser Irrlehren der Ockhamisten") beweisen, daß nominalistische Gedanken auch an dieser wissenschaftlichen Metropole längst aufgenommen waren. Zu den eifrigsten Verfechtern der neuen Lehre gehören Nikolaus von Autrecourt und Johannes von Mirecourt, aus deren Werken zahlreiche Sätze 1346/1347 verurteilt und in die Liste der in Paris verurteilten Lehrsätze eingetragen wurden. Eine große Verbreitung fand die nominalistische Philosophie auch durch -»Gregor von Rimini, der in den 20er Jahren in Paris studiert hatte, 1343/44 dorthin zurückkehrte und 1345 den Titel eines Magister regens der Theologie erwarb. Nicht zuletzt war es Johannes Buridanus, 1327/28 und 1340 Kanzler der Pariser Universität, der dem nominalistischen Denken eine eigene Wendung gab. Dieser buridanische Ansatz des nominalistischen Denkens wurde durch die miteinander befreundeten Heinrich von Langenstein und Heinrich Totting von Oyta, die beide beim Aufbau der Wiener Universität halfen, und seinen Schüler Nicolaus Oresme und insbesondere auch durch Albert von Sachsen, den ersten Rektor der Wiener Universität und späteren Bischof

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v o n Halberstadt, a u f g e n o m m e n und weiterentwickelt. W i e Albert v o n Sachsen, so w u r d e mit Marsilius v o n Inghen ein weiterer Schüler Buridans Rektor einer gerade gegründeten Universität, nämlich in Heidelberg. Eine neue Variation nominalistischen D e n k e n s entsteht in den Werken des -»Petrus v o n Ailly, der 1 3 8 9 - 9 5 Kanzler der Universität zu Paris und später Bischof v o n Cambrai war. D e n n hier, wie auch in den Werken Johannes - » G e r s o n s , seines Schülers, vermischen sich auf eigene Weise die eigentlichen Elemente des N o m i n a l i s m u s mit den aus -»Bernhard v o n Clairvaux, - » B o n a v e n t u r a und der mystischen Tradition ( - » M y s t i k ) übernommenen Grundgedanken. Während alle diese Autoren die philosophischen und theologischen Lehren O c k h a m s z.T. erheblich modifiziert haben, werden sie im 15. Jh. gewissermaßen in reiner Gestalt n o c h einmal aufg e n o m m e n und weitervermittelt (u.a. auch an Luther) durch jenen M a n n , den m a n den „letzten Scholastiker" nennt: durch Gabriel -»Biel. 3.

Wissenschaftslehre

Dreh- und Angelpunkt des nominalistischen Denkens ist der neue Wissenschaftsbegriff. Da, wie schon -»Thomas von Aquino lehrte, eigentlicher Gegenstand des Wissens nicht das kontingente Geschehnis dieser Welt, auch nicht der einzelne Begriff sein kann, sondern allein ein Satz, muß sich auch Wissen im strengsten Sinne auf eine bestimmte Art von Sätzen beziehen. Wilhelm von Ockham hat drei Bedingungen für die Formulierung eines streng wissenschaftlichen Satzes genannt, die für das Verständnis des nominalistischen Denkens von fundamentaler Bedeutung sind. Von Wissen im strengsten Sinne kann nur dann die Rede sein, wenn es sich um die evidente Erkenntnis eines notwendigen Satzes handelt, der prinzipiell bezweifelbar ist und mit Hilfe eines demonstrativen Syllogismus bewiesen, d.h. auf evidente, notwendige Prinzipien zurückgeführt werden kann. Auf evidenter Erkenntnis muß ein wissenschaftliches Urteil beruhen, weil so alle Formen des bloßen Meinens, Vermutens und Glaubens und ähnlicher Zustimmungsarten ausgeschlossen sind. Durch die Modalkategorie der Notwendigkeit werden alle kontingenten Sätze, von denen auch eine evidente Erkenntnis möglich ist, aus dem Gegenstandsbereich wissenschaftlichen Erkennens verbannt. Der Charakter der Bezweifelbarkeit muß einem wissenschaftlichen Satz zukommen, weil er nur so von dem schon immer gewußten Selbstverständlichen und Selbstevidenten, den unbeweisbaren propositiones per se notae, unterschieden werden kann. Die letzte Bedingung schließlich ist die wichtigste: Ein wissenschaftlicher Satz muß durch die Rückführung auf notwendige und dem Intellekt vorher schon evidente Prinzipien selbst evident gemacht werden können. Dadurch ist er von solchen Sätzen unterscheidbar, die auch den Charakter erster notwendiger Prinzipien haben, zugleich aber bezweifelbar sind, weil sie auf Erfahrung beruhen (OT I,76ff.87ff; VIII,44ff). Ein Satz wie calor est calefactivus (die Wärme wärmt) ist ein solcher schlechthin „erster" Satz, der nicht auf irgendwelche früher bekannten zurückgeführt werden kann und gleichwohl nicht selbstevident, d . h . durch die Kenntnis der Termini schon bekannt ist. Vielmehr kann er nur durch die Erfahrung dieses Vorgangs bekannt werden. Nach Ockham sind alle allgemeinen, synthetischen Sätze, die mehr als nur das in der Definition Enthaltene aussagen und gleichwohl nicht auf andere, vorher bekannte zurückgeführt werden können, also alle in der Scholastik sog. propositiones per se secundo modo - z.B. homo est risibilis (der Mensch kann lachen) - , derartige Sätze, die auf einmaliger oder mehrmaliger Erfahrung als ihrer Möglichkeitsbedingung beruhen. Die Evidenz wissenschaftlicher Sätze kann somit nicht nur durch die Rückführung auf selbstevidente, sondern auch auf durch Erfahrung bekannte Prinzipien gewonnen werden. Die in der kritischen Auseinandersetzung mit -»Duns Scotus gewonnene Unterscheidung zwischen selbstevidenten Prinzipien und Erfahrungsprinzipien, die auch in der praktischen Philosophie eine bedeutsame Rolle spielt, ist das eigentlich Epochemachende in der nominalistischen Wissenschaftslehre. Nicht nur deswegen, weil sie von fast allen nominalistischen Autoren rezipiert wurde, sondern auch wegen der weiteren Wirkungsgeschichte: Ockhams Gedanke von der nur durch Erfahrung ermöglichten evidenten Erkenntnis eines Allgemeinen (OT 1,318,15) ist die Grundidee der späteren experimentellen Forschung, in der aufgrund einer besonderen Erfahrung ein allgemeiner Satz gewonnen wird. Die Unterscheidung der Prinzipienarten als solche aber ist wiedererkennbar in -»Leibniz' Unterscheidung der vérités de raison und vérités de fait. 4.

Erkenntnislehre

Während die selbstevidenten Prinzipien sich ergeben aufgrund der Kenntnis der Termini allein, beruhen die durch Erfahrung bekannten Prinzipien auf der Erkenntnis eines kontingenten Satzes. So stellt sich das Problem, wie denn der Intellekt hinsichtlich der Wahrheit solcher kontingenter Sätze Gewißheit erlangen kann. Auch für die Theologie ist diese Frage relevant, denn Sätze wie

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Nominalismus

„Gott hat die Welt erschaffen" oder „Gott hat Fleisch angenommen" sind kontingente Sätze. Für die evidente Erkenntnis aller derartiger kontingenter Sätze genügt nicht jene Art des Erkennens, bei dem von der Existenz oder Nichtexistenz, dem hic et nunc und überhaupt allen individuellen Umständen abgesehen wird. Vielmehr bedarf es zur evidenten Erkenntnis kontingenter Sätze einer A n des Erkennens, durch das wir die Sache gerade hinsichtlich ihrer Existenz oder Nichtexistenz betrachten. O c k h a m unterscheidet beide Erkenntnisarten durch die von Duns Scotus übernommenen Termini technici der abstraktiven und intuitiven Erkenntnis. Jede Erfahrungserkenntnis beruht deswegen auf dem intuitiven Erfassen einer kontingenten Wahrheit. Das wissenschaftliche Erkennen der äußeren sinnfälligen Dinge beginnt so mit der sensitiven intuitiven Erkenntnis der Dinge. Das wissenschaftliche Erkennen der rein intelligiblen Gegenstände aber, d . h . der sog. inneren Erfahrungen - z.B. d a ß „ich erkenne", „liebe", „traurig b i n " usw. - , gründet in der intellelctiven intuitiven Erkenntnis. Die intuitive Erkenntnis ist es somit, „von der die Erfahrungserkenntnis ihren Anfang n i m m t " ( O T 1,32), in der zunächst eine kontingente Wahrheit und vermittelt durch sie schließlich die notwendige Wahrheit eines Satzes erfaßt wird. Deswegen kann O c k h a m sagen, d a ß bestimmte allgemeine Sätze - eben die Erfahrungsprinzipien - nur durch Erfahrung evident erkannt werden können ( O T 1,318). Was die Ockhamsche Auffassung der intuitiven Erkenntnis von der Scotischen unterscheidet, betrifft vor allem die Nichtexistenz des Gegenstandes. Während nach Scotus die intuitive Erkenntnis den Gegenstand als existierenden oder präsenten erkennt, ist sie nach Ockham jene Form inkomplexer Erkenntnis, durch die von der Sache festgestellt werden kann, daß sie ist, wenn sie ist, oder im Falle ihrer Nichtexistenz, d a ß sie nicht ist, mag nun diese Nichtexistenz natürlicher- oder übernatürlicherweise verursacht worden sein ( O T 1,286). Ockham hat darüber hinaus die These vertreten, daß Gott de potentia absoluta (s. u. 8.) in uns die intuitive Erkenntnis einer nichtexistierenden Sache verursachen und bewahren könne. Während die ältere Forschergeneration (z. B. Gilson, Pcgis, Michalski) hier schon die Vorstellung eines Betrügergottes erkennen zu können glaubte, ist heute allgemein anerkannt, d a ß das ein Fehlurteil war. Denn die intuitive Erkenntnis ist das einfache Erfassen (apprehensio) von etwas und nicht schon ein Urteil oder eine Zustimmungsart. Die These, Gott könne im Menschen ein Urteil über die Existenz einer nichtexistierenden Sache hervorrufen, hat Ockham immer als in sich widersprüchlich abgelehnt. 5.

Unwersalietilehre

Das Ergebnis des Abstraktionsprozesses ist der Allgemeinbegriff einer Sache. Der ontologische Charakter des Universale (—•Universalienstreit) ist ein Hauptgegenstand der nominalistischen Philosophie. Allerdings ist die durch den Begriff des „Nominalismus" unterstellte Position — das Allgemeine sei nur ein N a m e - nirgendwo in der nominalistischen Philosophie des 14. und 15. Jh. vertreten worden. Ockhams Lehre ist auch in diesem Punkt repräsentativ. Sie ist gekennzeichnet durch den aufsehenerregenden Wechsel von der sog. Fictum- zur Intellectio-Theorie, der zugleich einen Schritt vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen Denken darstellt. Nach der zuerst vertretenen F/efH/n-Theorie hat der von dem Intellekt gebildete, die äußeren Dinge alle in indifferenter Weise repräsentierende, daher allgemeine Begriff die Seinsweise des „objektiven Seins". Sein Sein besteht im bloßen Objiziertsein, d . h . im Gedachtwerden durch den Intellekt. Dieses durch den Intellekt „Gebildete" (fictum), das den Charakter des Objekts hat, entzieht sich nach Ockham allen kategorialen Bestimmungen, da das Substanz-Akzidens-Schema nur für das extramentale Sein gültig ist. Da der vom Intellekt gebildete Begriff auch „Gleichnis" oder „Abbild" bzw. das „Bild" der Sache genannt wird, gehört die Ficfum-Theorie evidentermaßen in die Tradition der hochscholastischen Verbumlehre. Nach der von Ockham später vertretenen Intellectio-Theorie ist der Allgemeinbegriff der Akt des Erkennens selbst, dem die Seinsweise des „subjektiven Seins" zukommt. Der aristotelischen Terminologie gemäß hat somit der Begriff ein intramentales, aber reales Sein, insofern er als eine reale Qualität dem Intellekt als Subiectum inhäriert ( O T 11,271-283; VIII,175; O P 11,347-376). Die ontologischen Konsequenzen dieser Theorie liegen auf der H a n d . Der Unterschied zwischen dem realen extramentalen und dem nur gedachten intramentalen Sein wird aufgehoben. Alles was ist, intramental oder extramental, ist kategorisierbares, d . h . reales Sein, das ist die These des späten O c k h a m . Deswegen kann er sagen: Ens rationis est ens reale (OP I,113; vgl. OP 11,358). Diese Frage, o b den Begriffen, Intentionen, Sätzen, Syllogismen usw. ein reales, subjektives intramentales Sein oder der Charakter des bloßen Gedachtseins, d. h. des objektiven Seins zukommt, steht im Zentrum der nominalistischen Metaphysik, denn Ockham hat ausdrücklich darauf hingewiesen, d a ß die Behandlung dieser Frage nicht der Logik, sondern der Metaphysik obliegt (OP II,7,116ff; 349,8ff; O T IV,65). Indem er die Intellectio-Theorie favorisierte, hat er - trotz des Wiederbelebungsversuchs der Fictum-Theorie in Descartes' III. Meditation - der neuzeitlichen Metaphysik den Weg gewiesen.

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6. Die Entdeckung des Sachverhalts Ein großes Problem der nominalistischen Wissenschaftstheorie betrifft den Gegenstand der komplexen Erkenntnis und damit auch und zuletzt den Gegenstand des in einem Satz enthaltenen Urteils bzw. seiner Zustimmung. Ockham hatte die klassische Formel gefunden, daß der „Gegenstand" des Glaubens und Wissens nichts anderes sei als der Satz selbst. Was gewußt wird, ist die Konklusion eines syllogistischen Prozesses. Diese These ist zuerst von Walter Chatton, einem der frühesten Kritiker Ockhams - dessen erste Kommentierung der Sentenzen (Reportatio) auf die Jahre 1321 -1323 zurückzugehen scheint - , kritisiert worden. Bevor der Wahrheit eines Satzes zugestimmt wird, ist nämlich die Zustimmung schon zu dem gegeben, was der Satz bezeichnet. Das aber ist nach Walter Chatton die äußere Sache selbst oder auch eine Vielzahl von Dingen. Deswegen muß als unmittelbares Objekt der Zustimmung, also des Meinens, Glaubens und Wissens, die von dem Satz bezeichnete Sache - sei es eine äußere oder auch ein Begriff - angesehen werden. Gegen diese Theorie verteidigte zunächst der Oxforder Dominikaner Robert Holcot die These Ockhams, indem er kritisch darauf hinwies, daß ein einzelnes extramentales Ding, also z.B. ein Stein, nicht „gewußt" werden könne. Deswegen komme als mögliches Objekt des Wissens nur ein Komplexes als solches, eben der Satz selbst, in Frage. Just diese verschärfte Formulierung der Ockhamschen These rief ihrerseits eine kritische Reaktion hervor, die philosophiehistorisch von höchstem Interesse ist. Der Oxforder Dominikanerlehrer (Johannes) Crathorn entwickelte nämlich die Anfangsgründe einer Theorie vom Sachverhalt, die dann von Adam Wodeham und -»Gregor von Rimini aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Nach Crathorn wird nicht der Satz, auch nicht die im Satz thematisierte singuläre extramentale Sache gewußt, sondern das, was durch den Satz als Satz bezeichnet wird. Dieses durch den Satz Bezeichnete ist verschieden sowohl von dem ausgesprochenen oder gedachten Satz selbst wie auch von allen Dingen, von denen im Satz die Rede ist. So vermittelt z. B. der Satz „die Sonne kann sich verfinstern" nicht das Wissen über einen bestimmten Satz, auch nicht über den bestimmten Zustand der Sonne, sondern präzis das Wissen davon, daß die Sonne sich verfinstern kann. Auf diese Weise kommt hier zum ersten Mal zu Bewußtsein, daß der Gegenstand unseres Wissens, ja aller Formen komplexer Erkenntnis, nicht der Satz selbst ist, sondern das durch den Satz als Satz Bezeichnete. Eine dritte Art der Realität (neben dem Satz und der einzelnen Sache) ist gefunden. Wir nennen diese durch den Satz als solchen ausgedrückte und bezeichnete Realität den Sachverhalt. Adam Wodeham und Gregor von Rimini haben die Seinsweise des vom Satz und dem einzelnen Gegenstand Verschiedenen zu klären versucht. Nach Wodeham zeigt gerade die in jedem Aussagesatz verwendete Kopula, die ganz Beliebiges miteinander verbinden kann, daß der Satz eine Einheit ist und als solche etwas bezeichnet, was weder durch das Subjekt noch das Prädikat, sondern nur durch den Satz als ganzen bezeichnet werden kann. Deswegen nennen Wodeham und Gregor von Rimini den Sachverhalt das totale significatum complexi oder das complexe significabile oder auch das (schon bei Abaelard belegbare) dictum propositionis. So ist beispielsweise der durch den Satz „der Mensch ist weiß" bezeichnete Gegenstand nichts anderes als eben der Sachverhalt, „daß der Mensch weiß" ist. Auch negative Sätze bezeichnen einen eigenen Sachverhalt: Der Satz „der Mensch ist nicht ein Esel" bezeichnet den Sachverhalt, „daß der Mensch nicht ein Esel ist". Es ist evident, daß Sachverhalte aller Art im Deutschen durch einen Daß-Satz, im Lateinischen durch einen Acl ausgedrückt werden können. Das zeigt aber nach den beiden späten Nominalisten, daß der Sachverhalt in seiner Existenz nicht von der Bildung eines entsprechenden Satzes abhängig ist, sondern durch ihn nur bezeichnet werden kann. So ergibt sich, daß der Sachverhalt (das sie esse a parte rei vel sie non esse) eine vom menschlichen Bewußtsein und jedem Zeichen unabhängige Existenzweise hat. Nach Gregor von Rimini ist er ein Seiendes besonderer Art. Soll der Begriff des Seienden eine Wesenheit oder eine existierende Entität im Sinne der aristo-

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telischen Wesensontologie bezeichnen, dann ist der Sachverhalt freilich „nichts". Wird aber der Begriff des Seienden als das verstanden, was durch einen wahren komplexen bzw. inkomplexen Begriff bezeichnet wird, dann ist der Sachverhalt ein Seiendes und kann mit dem synonymen Begriff des „ E t w a s " oder der „Sache" bezeichnet werden. Das gilt noch viel eher, wenn der Begriff des Seienden schließlich im allerweitesten Sinne verstanden wird als das, was durch einen wahren oder falschen komplexen bzw. inkomplexen Begriff bezeichnet werden kann. Was Gregor von Rimini durch diese berühmte Lehre von der dreifachen Bedeutung des Begriffs „Seiendes" deutlich machen will, ist, daß die bisherige aristotelische Wesensontologie sich nur an jenem Begriff des Seienden orientiert hat, der im Sinne einer existierenden Entität verstanden wird. Die complexe sigtiificabilia, die Sachverhalte, sind aber keine Entitäten. „Denn jede Entität ist eine Substanz oder Quantität oder etwas anderes, das durch eine Kategorie bezeichenbar ist. Kein nur komplex Bezeichenbares aber ist Substanz oder Quantität usw., daher ist kein solches eine Entität" (Gregor von Rimini, Lectura 111,109). Mit anderen Worten kann dieser Gegensatz so ausgedrückt werden: Die Entität, die durch eine der zehn Kategorien bezeichnet werden kann, ist ein inkomplex Bezeichenbares, der Sachverhalt aber ist ein nur komplex Bezeichenbares. Damit ist auch klar, daß der Sachverhalt ein Seiendes ist, das dem aristotelischen Kategorienschema entzogen ist. Die nominalistische Metaphysik des Sachverhalts ist das Resultat der Kritik an der Engstirnigkeit der Entitätenmetaphysik der aristotelischen Tradition. Von erheblicher Bedeutung für die Theologie wird diese Metaphysik des Sachverhalts da, wo Gregor sie auch auf den Bereich der Praxis überträgt. Das Wesen der Sünde bzw. der verdienstvollen Tat kann so nämlich in einem neuen Licht erscheinen. Da —• Augustin die Sünde ein „Nichts" nannte, weil sie keine eigene Natur habe - „ N a t u r " aber bezeichnet nach Gregor hier dasselbe wie der Begriff der Entität - , hat er offenbar andeuten wollen, daß so etwas wie die Sünde oder auch das verdienstvolle Tun überhaupt nicht mit diesen ontologischen Kategorien faßbar ist. Ehebruch, Mord und Diebstahl und Gotteshaß sind offenkundig keine Entitäten, sondern complexe significabilia, also Sachverhalte praktischer Natur. Wenn wir sagen, Gotteshaß ist eine Sünde, ist der wahre Sinn, „daß einer Gott haßt, ist eine Sünde", so daß die erste Formulierung nur eine verkürzte Rede des eigentlich Gemeinten darstellt. Keinesfalls aber ist der Sinn der verkürzten Rede, daß irgendeine Entität oder Affektion des Willens oder ein schlechter Akt die Sünde ist. Nicht deswegen sündigt einer, „weil er einen schlechten Akt ausführt, wobei ich schlechten Akt jene Entität nenne, die jetzt von den Modernen schlechter Akt genannt w i r d . . . , sondern deswegen sündigt er, weil er jenen Akt in schlechter Weise vollzieht" (Gregor von Rimini VI,272). Gregors Theorie vom praktischen Sachverhalt, nach der die Sünde, das Verdienst, ja überhaupt die menschliche Handlung ein complexe significabile ist, richtet sich somit gegen jene verbreitete scholastische Lehre, die die menschliche Handlung selbst auch als eine Sache im Sinne der Entität behandelt hat. 7. Das Problem der

Gewißheit

Nichts kennzeichnet das nominalistische Denken mehr als die Infragestellung der Gewißheit des menschlichen Erkennens. Die Philosophie des 14. und 15. Jh. ist insgesamt von dieser Frage nach der Möglichkeit der Gewißheit überschattet. In dieser Zeit ist sie die Frage aller Fragen. Sie wird zumindest in dreifacher Form gestellt: Wie ist Gewißheit im Bereich theoretischen Erkennens, zu dem auch die sinnliche Erkenntnis gehört, denkbar? Wie ist Gewißheit im Bereich des praktischen Erkennens, d. h. „moralische Gewißheit" möglich? Und wie ist religiöse Gewißheit möglich, d . h . in scholastischer Sprache, wie kann ich wissen, von Gott in Gnaden angenommen zu sein? Das 14. und 15. Jh. wurde von dieser Frage nach der Möglichkeit der Gewißheit in Atem gehalten, ohne daß eine allgemein angenommene Antwort gefunden wurde. Diese gab vielmehr erst die Neuzeit. Der Beginn des neuzeitlichen Denkens ist dadurch gekennzeichnet, daß durch eine neue Methode eine neue Antwort auf diese alte Frage gefunden

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wurde. Die Frage nach der Gewißheit im Bereich sinnlichen und theoretischen Erkennens war durch die These des -»Petrus Aureoli—dessen Sentenzenkommentar 1317 erschienen war und von fast allen nominalistischen Autoren hoch eingeschätzt wurde — provoziert worden. Sie besagt, d a ß die intuitive Erkenntnis nicht notwendigerweise die reale Präsenz bzw. die aktuelle Existenz des zu erkennenden Gegenstandes erfordert. Nachdem Ockham seine These von einer möglichen göttlichen Verursachung der intuitiven Erkenntnis eines Nichtexistierenden, die freilich keine evidente Urteilserkenntnis sein kann, aufgestellt hatte, war die Frage gewissermaßen unausweichlich geworden, ob es überhaupt menschliche Erkenntnis geben könne, die den Charakter der Gewißheit trägt, wenn doch immer — im Rahmen des Nichtwidersprüchlichen — mit Gottes möglichem Eingriff in den Lauf der N a t u r , in die Struktur der Denkgesetze und theoretischen Wahrheiten gerechnet werden muß. Im Rahmen des Nominalismus sind hinsichtlich dieser Frage nach der theoretischen Gewißheit zwei extreme Theorien entwickelt worden. Die eine stammt von Nikolaus von Autrecourt, die andere finden wir bei Johannes Buridanus, Johannes von Mirecourt und Petrus von Ailly. Nikolaus von Autrecourt wurde 1346 oder 1347 dazu verurteilt, seine Lehren, gerade auch die über das Problem der Gewißheit, zu widerrufen. Nach dem wohl um 1330 entstandenen Traktat Exigit ordo executionis — der als ganzer eine kritische Reaktion auf die Ockhamsche Philosophie darstellt - ist die Gewißheit einer Erkenntnis dadurch gewährleistet, daß ich eine klare und evidente Erkenntnis des Gegenstandes habe. Im eigentlichen Sinne evident können aber nur - im Bereich des inkomplexen Erkennens - die auf bestimmte sinnfällige Dinge gerichtete Sinneserkenntnis und die innere Erfahrung bestimmter Akte, sowie — im Rahmen der komplexen Satzerkenntnis — die sog. selbstevidenten Prinzipien und die davon abhängigen Konklusionen sein. Die von Ockham als indemonstrable erste Prinzipien charakterisierten Sätze der Erfahrung haben dagegen nach Nikolaus von Autrecourt nicht den Charakter der Gewißheit, sondern nur der „Vermutung". Was in dieser Frage den Traktat mit den (wahrscheinlich späteren) zwei Briefen an Bernhard von Arezzo (der die Position des Petrus Aureoli zu vertreten scheint) verbindet, ist der Absolutheitsanspruch im Hinblick auf die Gewißheit. Im Traktat heißt es, daß das göttliche Erkennen sich vom menschlichen nicht durch einen höheren Grad an Klarheit oder Evidenz unterscheidet. Deswegen hat der menschliche Intellekt, der „ G o t t gleich ist in der Wurzel", eine ebenso große Gewißheit wie Gott. Dieser Gedanke wird im zweiten Brief an Bernhard durch den berühmten Satz ausgedrückt: „Die Gewißheit der Evidenz hat keine Grade." Dem steht der Satz des Petrus von Ailly gegenüber, der zugleich die entgegengesetzte Theorie zusammenfaßt: Nott est necesse evidentiam de aliquo esse summam, immo in evidentia sunt gradus (es ist nicht nötig, daß es von etwas eine höchste Evidenz gibt, vielmehr gibt es Grade in der Evidenz: In Sent. q . l , fol. 25 va). Dahinter steht jene Theorie, die von einer Vielheit unbeweisbarer Prinzipien ausgeht. Johannes Buridanus unterscheidet in diesem Sinne eine zweifache Art der Wahrheit oder Evidenz. Die Wahrheit schlechthin, die durch keine Macht der Welt, auch nicht durch die Allmacht Gottes erschüttert werden kann, kommt jenen Sätzen zu, bei denen der Intellekt aufgrund seiner eigenen Natur quasi „gezwungen" ist zuzustimmen, so vor allem dem Widerspruchsprinzip. Der Intellekt ist in diesem Falle wie auch bei der Glaubenserkenntnis der Wahrheit der Aussage absolut gewiß, d . h . er hat keinen Grund zu fürchten, daß das Gegenteil richtig sein könne. Gleichwohl berichtet Buridanus von einem „Experiment", das zeigen soll, daß die Gewißheit dieses Prinzips in der Lebenswelt nicht so groß ist, wie Nikolaus von Autrecourt annimmt: Alte Frauen haben auf die Frage, ob der allmächtige Gott bewirken könne, daß sie gleichzeitig essen und nicht essen, sitzen und nicht sitzen können, geantwortet, sie wüßten es nicht, denn er könne alles bewirken. Von dieser - zumindest in der Welt der Philosophie — allgemein anerkannten schlechthin gültigen Wahrheit oder Evidenz ist nach Buridanus die evidentia secundum quid sive ex suppositione zu unterscheiden. Diese Art der Evidenz ist sicher unter der Voraussetzung, daß Gott kraft seiner absoluten Macht nicht in den normalen Lauf der N a t u r eingreift. Z u diesen be-

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dingten Wahrheiten gehören die Sätze der Physik, z.B. der Satz, daß das Feuer heiß ist, daß die Himmel sich bewegen usw. Johannes von Mirecourt und Petrus von Ailly haben diese Unterscheidung zwischen der absoluten und der relativen Evidenz, d.h. zwischen einer unbedingten und einer bedingten Gewißheit aufgegriffen und näher erläutert. Gegen Nikolaus von Autrecourt wird ausdrücklich erklärt, daß der homo viator nicht nur über das erste Prinzip, sondern auch über viele andere Wahrheiten eine absolut gewisse Erkenntnis haben kann. Diese anderen Wahrheiten sind vor allem analytische Sätze und bestimmte kontingente Wahrheiten der inneren Erfahrung. Den Charakter der bedingten Gewißheit dagegen haben alle Sätze, die eine äußere Erfahrung ausdrücken und die die Existenz oder Eigenschaft einer äußeren Sache betreffen. Obwohl das äußere Erscheinungsbild einer Sache prinzipiell auch durch die absolute Macht Gottes bewirkt werden kann, ohne daß die Sache existiert, haben wir nach Petrus von Ailly keinen vernünftigen Grund, deswegen an der Wahrheit der Sache zu zweifeln. Sonst würde nämlich „daraus viel Unpassendes und Absurdes folgen". Dies ist offenkundig ein zu schwaches Argument, um einem prinzipiellen Zweifel zu wehren. —»Descartes hat diesen universalen, methodischen Zweifel als den einzig möglichen Weg angesehen, um die Philosophie aus dem Gestrüpp bloßer Annahmen und topischer Gewißheiten befreien und sie wieder auf ein festes Fundament gründen zu können. Bezeichnenderweise hat er dabei die These des Nikolaus von Autrecourt erneuert: Die Evidenz hat keine Grade. Dieser Satz steht sowohl am Beginn einer bedeutenden innernominalistischen Auseinandersetzung wie auch am Beginn des neuzeitlichen Denkens. Die nominalistische Gewißheitsproblematik blieb jedoch nicht auf das Gebiet des theoretischen, und darin eingeschlossen: des sinnlichen Erkennens beschränkt. Vielmehr sind auch die Bereiche des sittlichen und religiösen Erkennens davon zutiefst bestimmt. Bezeichnenderweise taucht der später so wichtige Terminus technicus der „moralischen Gewißheit" (certitudo moralis) im Umfeld des nominalistischen Denkens zum ersten Mal auf, wo er die sittliche Gewißheit im engeren Sinne, also das Wissen von Gut und Böse, wie auch die religiöse Gewißheit, das Wissen, bei Gott in Gnaden zu sein, bezeichnet (J. Gerson, OCIX,36). Wie im Bereich des theoretischen Erkennens der Gedanke der potentia absoluta Gottes dazu führte, die faktische Gewißheit als nur bedingte anzunehmen und unbedingte Gewißheit auf ganz wenige Erkenntnisse zu beschränken, so wird auch die religiöse Gewißheit durch die Annahme der absoluten Macht Gottes erschüttert. Während noch Petrus Aureoli die von den Nominalisten später „pelagianisch" genannte These vertrat, daß die erworbene geschaffene —»Gnade Gott zur Akzeptation nötige, hat das gesamte nominalistische Denken immer die absolute Freiheit der Gnadenmitteilung Gottes gelehrt, die auch nicht durch eine „übernatürliche", von Gott dem Menschen geschenkte Form eingeschränkt wird. Deswegen kann Gott de potentia absoluta den Sünder retten und den Gerechten verdammen. Aus solcher Sicht scheint keines Menschen ewiges Glück sicher zu sein. Selbst der „Selige" - so faßt Gregor von Rimini diesen Lehrsatz von der religiösen Ungewißheit zusammen - „ist nicht gewiß, daß sein Glück nicht von ihm weggenommen werden könnte, im Gegenteil, er ist gewiß hinsichtlich des Gegenteils, wobei wir immer von der absoluten Macht Gottes sprechen" (11,241). 8. Die doppelte Macht

Gottes

Ein weiteres charakteristisches Element des nominalistischen Denkens ist die Lehre von der doppelten Macht Gottes. Schon seit dem Beginn des 13. Jh. wurde das Begriffspaar potentia ordinata/potentia absoluta in der theologischen Rede von Gott kontrovers diskutiert und auch zur angemessenen Beschreibung der päpstlichen Gewalt gebraucht. Gleichwohl gewinnt die Lehre von der doppelten Macht Gottes erst im Nominalismus ihre philosophisch zündende Kraft, weil sie hier als universale Grundlage aller philosophischen und theologischen Überlegungen fungiert und zudem in manchen Fällen eine radikalisierte Form annimmt. Während -»Duns Scotus die Unterscheidung zwischen der potentia absoluta und potentia ordinata Dei noch im juridischen Sinne auffaßte - d . h . den gegebenen Gesetzen entsprechend oder außerhalb bzw. jenseits dieser Gesetze

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handeln zu können - , begreift sie Ockham als zwei Weisen des göttlichen „Könnens" und damit des Möglichen: Das, was innerhalb der von Gott gewollten und eingerichteten Gesetze möglich ist, und das, was „absolut", vor jeder göttlichen Selbstbestimmung, dies oder das zu tun, möglich ist. Das „absolut" Mögliche umfaßt all jenes, was, wenn es gemacht wird, keinen Widerspruch in sich schließt. Wie Gregor von Rimini, Petrus von Ailly, Gabriel Biel u.a. diese Bestimmung Ockhams aufnehmend dargelegt haben, sind so durch das Begriffspaar potentia ordinata/potentia absoluta zwei Weisen des göttlichen Könnens bezeichnet, von denen die letztere sich auf einen größeren Bereich des Möglichen bezieht. „Es ist aber klar, daß Gott schlechthin und absolut... vieles kann, was er nicht kann, solange sein Gesetz besteht und sein Wille, durch den er es so machen wollte" (Gregor von Rimini). Für das adäquate Verständnis dieses so wichtigen nominalistischen Lehrsatzes von der doppelten Macht Gottes hängt alles davon ab, wie das Verhältnis der beiden „Mächte" zueinander zu bestimmen ist. Die neuere Forschung hat es als ein dialektisches Verhältnis angesehen, als ob ein quasi notwendiger Prozeß der Selbstbindung Gottes von der potentia absoluta zur potentia ordinata anzunehmen sei (Oberman, Oakley, Hamm, Courtenay). Doch aus zwei Gründen ist diese These unhaltbar. Einmal scheint in ihrem Innersten der Wurm einer contradictio in adiecto zu nisten. Wenn das Verhältnis zwischen potentia absoluta und potentia ordinata dialektischer Natur ist, dann kann nämlich nicht zugleich von einer „freien Selbstbindung" gesprochen werden, so als ob Gott sich auch auf jede andere Ordnung hätte festlegen können. Ein dialektisches Verhältnis impliziert die Notwendigkeit der Entwicklung von einem zum anderen. Der zweite Grund betrifft den Begriff der „Selbstbindung" selbst. Als eine Form der „Pflicht" ist er nach nominalistischer Lehre gar nicht auf den göttlichen Willen sondern nur auf den menschlichen Willen anwendbar. Nach Ockham ist Gott „zu nichts verpflichtet", d.h. an nichts gebunden (ad nihil obligatur). Deswegen kann die göttliche Festlegung auf die faktisch und kontingent gewählte Ordnung nicht als eine Selbstverpflichtung verstanden werden. In Wirklichkeit jedoch ist in der nominalistischen Lehre genau wie in der traditionellen Lehre die Ansicht vom Nebeneinander zweier Ordnungen enthalten. So deutete schon Petrus von Tarantasia die potentia ordinata als die „jetzige" Ordnung und die potentia absoluta als die Ordnung schlechthin. Und Hugo von St. Cher betonte, daß Gott de potentia absoluta eingreifen „konnte und noch immer kann" (W. Courtenay, Capacity 107 Anm. 17; 109 Anm. 39). Die potentia absoluta ist also ein aktuell Mögliches. Als solche aber ist sie eine beständige Bedrohung all unserer Gewißheiten. So bestätigt z.B. Robert Holcot den Satz, daß Gott mehr tun kann, als unser Verstand versteht, z. B. könnte er auch die Welt in eine Fliege verwandeln oder einen Esel in Gestalt eines Menschen erscheinen lassen, so daß „jede Gewißheit der Erfahrung zugrunde ginge". In diesem Sinne sind die Naturgesetze das von Gott Gewollte und bezeichnen die Grenze dessen, was unter der Bedingung des aktuellen Willens Gottes möglich ist. Aber sie sind nicht absolut notwendig. Deswegen können nach Ockham - und der Nominalismus hat es allgemein übernommen — de potentia Dei absoluta z. B. zwei Körper zugleich an einem Platze sein, Feuer kann kalt sein, Wasser kann weder kalt noch warm, ja ganz ohne akzidentelle Bestimmung sein, ein Körper kann an vielen Orten gleichzeitig sein, Gott kann im selben Sinne die intuitive Erkenntnis eines aktuell Nichtexistierenden verursachen, d.h. er „kann machen, daß ein Nichtexistierendes die intuitive Schau begrenzt" (OT VII,119). Er kann eine Wirkung ohne ihre natürliche und wesensmäßige Ursache hervorbringen. Wenn also jemand z. B. Rauch sieht, kann er nicht evident wissen, daß er von einem bestimmten Feuer verursacht wird, „weil er von Gott allein verursacht werden kann" (OT V,379). Dieser theologische Hintergrund muß beachtet werden, wo er, wie bei Nikolaus von Autrecourt, nicht mehr eigens erwähnt wird. Die 1346 verurteilten, das Kausalprinzip bestreitenden Sätze des Nikolaus von Autrecourt, derentwegen er in der modernen Forschung schon voreilig als der mittelalterliche Hume oder Kant gefeiert wurde, beruhen auf dieser theologischen Grundlage (vgl. die Sätze Nr. 14 und 15 der verurteilten Artikel: Briefe, ed. Imbach/Perler). Sie drücken aus, daß auch das Kausalprinzip bedingt ist durch die von Gott gewollte Ordnung, so daß eine nach ihm erfolgende Erkenntnis nicht den Rang evidenter Gewißheit im Sinne des unbedingt gültigen Widerspruchsprinzips haben kann. Doch die nominalistische Lehre von der doppelten Macht Gottes hatte noch eine andere Stoßrichtung. Nicht nur die Ordnung der Natur mit ihren Gesetzen erschien so in ihrer Bedingtheit, sondern auch die Ordnung des Sittengesetzes. Gott kann z. B. - gegen -»Petrus Aureoli - de potentia absoluta einen Menschen ohne eine erworbene Form des Verdienstes annehmen und ebenso einen anderen, ohne daß er schuldig geworden wäre, verwerfen. Er kann kraft seiner absoluten Macht eine Schuld nicht nachlassen, ohne ungerecht zu sein, und auch einen anderen ohne vorhergehende Schuld bestrafen, wenngleich ein solcher Akt nicht eigentlich mehr Strafe genannt werden kann. Er kann sogar jemanden zur ewigen Strafe verdammen, der ohne Sünde ist. Er kann von zweien - wie man am Beispiel von Jakob und Esau sehen kann - , die hinsichtlich aller natürlichen und übernatürlichen Fähigkeiten und Verdienste gleich sind, den einen erwählen, den anderen verwerfen, „wenngleich nicht de potentia ordinata" (OT VIII,22). Nach Wodeham und Fitz Ralph kann Gott auch lügen und betrügen, aber diese Position ist innerhalb des Nominalismus von Gregor von

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Rimini selbst zurückgewiesen worden. Doch offenbar ist das sittlich Mögliche vom Standpunkt absoluter Macht verschieden von dem, was im Rahmen der von Gott gesetzten sittlichen Ordnung möglich ist. So kann Gott de potentia absoluta den Diebstahl und die Hurerei gebieten. Er kann sogar nach dem frühen Ockham, Robert Holcot und anderen - wenngleich Ockham in seiner späteren Zeit und andere Nominalisten auch das als innerlich widersprüchlich ansahen - den Akt des Gotteshasses gebieten, der aus Gottesliebe vollzogen werden sollte (W. Courtenay, Schools 298 ff). Gotteshaß, Diebstahl, Ehebruch usw. haben nämlich den Charakter des sittlich Verwerflichen nur aufgrund der Tatsache, daß der Mensch nach dem de facto gültigen, von Gott gegebenen Gebot zum Gegenteil verpflichtet ist. Wenn Gotteshaß, Diebstahl oder Ehebruch aber Inhalt eines göttlichen Gebotes wären, dann - so lehrt Ockham — würde der diesem Gebot Folgende einen verdientsvollen Akt vollziehen, der dann freilich nicht mehr Haß, Diebstahl oder Ehebruch genannt würde (OT V,352). Die faktische sittliche Ordnung geht somit zwar auf den göttlichen Willen als Grund zurück, aber er hätte auch de potentia absoluta eine ganz andere Ordnung geben können. Da aber Gott nach nominalistischer Lehre „zu nichts verpflichtet ist", auch nicht der von ihm selbst gegebenen Ordnung gegenüber, könnte er auch jederzeit de potentia absoluta eine neue Sittenordnung installieren. Das Sittliche ist so in seiner inhaltlichen Bestimmtheit ganz vom Willen Gottes abhängig. Oder wie Gabriel Biel es ausdrückt: Nec enim quia aliquid rectum est aut iustum, ideo Deus vult; sed quia Deus vult, ideo iustum et rectum (nämlich nicht, weil etwas richtig oder gerecht ist, deshalb will es Gott; sondern weil Gott es will, deshalb ist es gerecht und richtig: Collectorium 1,423). Es war dieser Grundsatz des stat pro ratione voluntas, der die neuzeitliche Kritik (bes. Leibniz') am nominalistischen Gottesbegriff bzw. am Begriff des Sittlichen hervorrief (vgl. Kobusch, Paradoxon). Auf diese Weise wird durch die Lehre von der potentia absoluta/potentia ordinata die absolute Kontingenz der Naturordnung wie der sittlichen Ordnung deutlich gemacht. 9. Kategorien-

und

Eucharistielehre

Das nominalistische Denken ist auch durch eine Uminterpretation der aristotelischen Kategorienlehre gekennzeichnet, die bedeutsame theologische Konsequenzen haben sollte. Nach der traditionellen Lehre ist von einer realen Verschiedenheit der Substanz und aller akzidentellen Bestimmungen auszugehen. Deswegen bezeichnen auch die Kategorien je verschiedene reale Bestimmtheiten des extramentalen Seins, so daß - nach Thomas' berühmter Bestimmung im Metaphysikkommentar - den einzelnen Prädikationsweisen die Bestimmungen des Substantiellen, Quantitativen, Qualitativen usw. als „Seinsweisen" entsprechen. Demgegenüber sind nach Ockham nur noch die -»Substanz und die Qualität reale Kategorien, während die übrigen acht keine von der absoluten Sache real verschiedene Bestimmtheit bezeichnen. Waren nach der traditionellen Ansicht die Kategorien die von den verschiedenen Seinsmodi abgeleiteten Prädikationsmodi, so sind sie jetzt nach Ockham als jene inkomplexen Begriffe anzusehen, deren Verschiedenheit auf der je verschiedenen, die individuelle Substanz betreffenden Frage (z. B. was oder welcher Art oder wie groß oder wann oder wo usw.) beruht (SL 1,41). Die Kategorien, die diese Fragen beantworten, sind somit Begriffe, von denen die einen (Substanz und Qualität) die individuelle Sache und sonst nichts bezeichnen, während die anderen als konnotative Begriffe immer nur etwas an der Sache und noch etwas anderes bezeichnen. Deswegen sind die acht Kategorien zwar als Begriffe unterschieden, aber ihnen entspricht kein sachlicher Unterschied. Infolgedessen kann die Seinsweise der acht Kategorien auch nicht mehr als reale Inhärenz begriffen werden. Die traditionellen Ausdrücke, die davon sprachen, daß „das Prädikat im Subjekt ist" oder „dem Subjekt zukommt" oder ihm „inhäriert", können jetzt - nach der Reduzierung der sachhaltigen Kategorien auf Substanz und Qualität - im Sinne des „Ausgesagtwerdens" verstanden werden. Aus diesem Grund hat Ockham auch einen doppelten Sinn des Begriffs „Akzidens" unterschieden: Akzidens ist jene reale Form, die einem anderen als ihrem Subjekt real inhäriert. Akzidens ist aber auch der von einem anderen kontingenterweise aussagbare Begriff, der als solcher nicht eine von der absoluten Sache verschiedene Realität bezeichnet. Diese Lehre von der Reduzierung der realen Kategorien auf Substanz und Qualität muß auch im Zusammenhang mit der Ockhamschen -»Ontologie gesehen werden. Besagte der oben dargelegte Wechsel von der F/cinm-Theorie zur Intellectio-Theorie ontologisch, daß alle entia rationis eigentlich entia realia sind, so kann die Ockhamsche These jetzt erweitert werden: Alles reale Sein, das extra- wie das intramentale, ist kategorial faßbar und immer entweder als Substanz oder Qualität bestimmbar. Dieses Verständnis der Kategorien betrifft vor allem auch das Verhältnis zwischen Substanz und Quantität. Die Quantität bezeichnet keine von der Substanz und Qualität verschiedene Sache, sondern diese selbst, insofern sie ausgedehnt ist, d.h. als Ganzes den ganzen Raum und als Teil einen Teil des Raumes ausfüllt (circumscriptive). Die Substanz ist somit selbst das Quantum, insofern sie auseinanderliegende Teile hat, zwischen denen eine lokale Bewegung möglich ist.

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Diese Umdeutung der Kategorienlehre, die schon bei Petrus Johannes Olivi und Petrus de Palude im wesentlichen vorbereitet war, hatte eine wichtige Konsequenz im Bereich der Philosophie, aber auch in der Theologie, nämlich in der Eucharistielehre (-»Abendmahl III.). Nach traditioneller Lehre wird bei der Wandlung die Substanz des Brotes in die Substanz des Leibes Christi verwandelt, während die Akzidentien des Brotes (Geschmack, Geruch, Aggregatzustand u. dgl.) nicht mitverwandelt werden, sondern bleiben, was sie sind. Als Akzidentien aber inhärieren sie der Quantität des Brotes, die, weil sie ein von der Substanz real unterschiedenes Akzidens ist, von der Substanz des Brotes auch getrennt werden kann. Da nun nach Ockham diese These von der realen Unterscheidung und damit auch der Trennbarkeit von Quantität und Substanz nicht aufrechterhalten werden kann, muß auch der Wandlungsvorgang anders gedacht werden. Unbestreitbar ist die wahre Präsenz des Leibes Christi nach der Wandlung. Allerdings ist die Präsenzweise eine besondere. An einem Ort zu sein kann nämlich im doppelten Sinne verstanden werden. Etwas ist circumscriptive an einem Ort, dessen Teile an bestimmten Teilen des Ortes und dessen Ganzes am ganzen Ort ist. Das ist die Weise, einen Platz zu haben, die jedem quantitativ bestimmten, d.h. ausgedehnten Ding zukommt. In „definitiver" Weise aber ist etwas an einem Ort, dessen Ganzes am ganzen Ort und in jedem Teil des Ortes ist. Auf diese Weise ist z.B. die Seele im Körper und so auch der Leib Christi in der Hostie. Die Frage ist nur, ob im Augenblick der Wandlung die Substanz des Brotes verschwindet oder bleibt. Ockham hat aus seiner Favorisierung der These von der Koexistenz des Brotes neben dem Leib Christi in der Hostie keinen Hehl gemacht und diese These gegenüber der Bestimmung der Kirche für die vernünftigere gehalten. Denn allein auf diese Weise könne die größte aller Ungereimtheiten, die in der Lehre von der Eucharistie zu stecken scheinen, vermieden werden: daß die Akzidentien ohne einen zugrundeliegenden Träger sollen existieren können (OT VII,139; IX,449f). Die Ockhamsche Kategorienlehre hat ihre eigene Wirkungsgeschichte, die noch nicht deutlich erkennbar ist. Aber sowohl bei Robert Holcot, wie bei Buridanus, wie bei Marsilius von Inghen, Petrus von Ailly und Gabriel Biel wird diese Lehre diskutiert und teils rezipiert, teils abgelehnt. Nicht zuletzt ist Luthers Konsubstantiationslchre (TRE 1,110-113) ohne sie nicht denkbar. 10.

Naturphilosophie

Während in den anderen Disziplinen der Philosophie die Veränderungen gegenüber der aristotelischen Tradition und damit der Eigencharakter des Nominalismus gut erkennbar ist, hat es damit im Falle der -»Naturphilosophie eine besondere Bewandtnis. Denn zweifellos vollzogen sich die Innovationen auf diesem Gebiet nicht bei Ockham, sondern bei anderen nominalistischen Autoren, die dabei meist den Einfluß einer neuen nichtnominalistischen Naturphilosophie (in Oxford) verraten. Wie groß der Anteil Bradwardines und der Oxforder Calculatores, aber auch Heinrichs von Harclay an den innovatorischen Leistungen des 14. Jh. auf dem Gebiet der Naturphilosophie wirklich ist, kann freilich erst eine künftige intensive, auch editorische Beschäftigung mit den Werken Harclays, Bradwardines, John Dumbletons, John Ashendens, Williams von Heytesbury, Richard Swinesheadsu.a. zeigen. Sicher ist jedoch, daß bestimmte Nominalisten wie Nicolaus Oresme, Johannes Buridanus, Albert von Sachsen und (durch ihn beeinflußt) Marsilius von Inghen u.a. auf einzelne neue Theorien aus Oxford kritisch oder zustimmend reagiert haben. Innovatorische Elemente enthalten insbesondere die nominalistischen Lehren vom Wesen der Bewegung (forma fluens-Lehre bei Ockham; fluxus formae-Lehre bei Walter Burley, Johannes Buridanus, Albert von Sachsen u.a.), vom Vakuum, von der Messung der Zeit, von der Quantifizierung der Qualitäten (Nicolaus Oresme), die Kritik an der aristotelischen Definition des Kontinuums bei Nikolaus von Autrecourt, Gregor von Rimini, Walter Chatton, Richard Kilvington und nicht zuletzt die Theorie von der Geschwindigkeit und ihrem Verhältnis zum Widerstand bei allen Arten der Bewegung. Doch keine naturphilosophische Lehre ist so deutlich von der aristotelischen Physik verschieden und so eigentümlich für das 14. Jh., wie die sog. Impetustheorie, die deswegen dem 16. Jh. auch als die das Mittelalter repräsentierende naturphilosophische Theorie erschien. In Wirklichkeit ist sie nur die Theorie von der Wurfbewegung, der im Ganzen der Bewegungslehre eine eher marginale Bedeutung zukommt. Die Impetustheorie, die einen jener seltenen Fälle darstellt, in denen ihre Vertreter -»Aristoteles offen widersprechen, geht wie ihre Vorgängerin von dem aristotelischen Grundsatz aus: omne quod movetur, ab aliquo movetur, d.h. jede Bewegung setzt eine fix motrix als Ursache voraus. Wenn diese zu wirken aufhört, hat auch die Bewegung ein Ende. Vor dem Hintergund dieses Grundsatzes bedurften aber solche Phänomene wie die Bewegung eines fliegenden Pfeils oder eines geschleuderten Steines einer eigenen Erklärung, da hier Bewegung stattfindet, ohne daß der Bewegende noch irgendeine Wirkung ausübt. Nach Aristoteles ist das so zu erklären, daß der ursprüngliche Beweger etwas von seiner eigenen Bewegungskraft auf das Medium, d.h. die Luft, überträgt und sie so selbst zu einem aktiven Beweger macht. Die Übertragung der Be-

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wegungsfähigkeit geschieht in von Luftschicht zu Luftschicht abnehmender Stärke bis zu einer Schicht, die nichts mehr weitergeben kann, so daß der Gegenstand in dieser zu Boden fällt. Die Impetustheorie, deren Grundgedanke schon von -»Johannes Philoponus, dem spätantiken Aristoteleserklärer, ausgesprochen und dann 1319/20 von dem italienischen Scotisten Franciscus de Marchia weiterentwickelt worden war, verstand sich als die Korrektur dieser aristotelischen Erklärung. Johannes Buridanus, Nicolaus Oresme und Albert von Sachsen sind die Hauptvertreter dieser neuen Theorie, nach der beim Wurf oder Schleudern nicht dem Medium, sondern dem proiectum selbst eine bewegende Kraft durch den ursprünglichen Beweger mitgeteilt, d.h. eingeprägt wird. Diese bewegende Kraft in dem geworfenen Gegenstand, die Franciscus de Marchia noch eine vis derelicta genannt hatte, nennt Buridanus den Impetus. Sowohl der Scotist wie der Nominalist nehmen diese Theorie in Anspruch, um auch die Bewegung der Himmelskörper zu erklären. Während jedoch nach Franciscus de Marchia wie auch später Nicolaus Oresme und Marsilius von Inghen sich diese von Gott den Himmelskörpern eingeprägte Kraft von selbst verbraucht, so daß die Vorstellung von Engeln oder Intelligenzen, die die himmlischen Körper durch eine derartige verbrauchbare Kraft bewegen, nach wie vor unverzichtbar zu sein scheint, ist Buridanus davon ausgegangen, daß der Impetus sich nicht selbst zerstört, sondern eine „Qualität permanenter Natur" ist, die unbegrenzt wirkt, wenn kein Widerstand ihr entgegenwirkt. Da aber die himmlischen Körper nicht - wie die sublunaren Formen des Impetus — den Widerstand eines Mediums überwinden müssen, kann der ihnen von Gott bei der Schöpfung eingeprägte Impetus unbegrenzt weiterwirken, ohne des erneuten Anstoßes durch Intelligenzen zu bedürfen. So treten nach dieser Theorie an die Stelle der Engel oder Intelligenzen rein mechanische Kräfte, die analog zu dem Impetus irdischer Körper zu denken sind. 11. Oeconomia

moderna

Der Nominalismus hat auch auf dem Gebiet, das wir heute Ökonomie oder Nationalökonomie nennen, imposante Innovationen hervorgebracht. Die Welt des ökonomischen war in der aristotelischen Tradition immer im Zusammenhang mit der monastischen Ethik oder der Politik mitthematisiert worden, so z.B. auch die Geldwerttheorie. Während Thomas von Aquino in seinem Kommentar zum V. Buch der Nikomachischen Ethik und in der Summa Theologiae (II-II qq. 77.78) den Preis einer Sache in enger Beziehung zum „Bedürfnis" des Menschen bestimmte, ohne doch wirklich die für die Preisfestsetzung konstitutive Funktion von Angebot und Nachfrage zu erkennen, haben Autoren des 14. Jh. die ersten Schritte auf eine moderne Geldwerttheorie hin gemacht. Offenbar war der Augustinertheologe Heinrich von Friemar der erste, der die Beziehung zwischen dem „Bedürfnis" und der Seltenheit der Sache (caristia) als das entscheidende preisbestimmende Element erkannte. Buridan hat diesen Gedanken aufgenommen und weiter ausgeführt. ¡ndigentia istius hominis vel illius non mensurat valorem commutabilium, sed indigentia communis eorum qui inter se commutare possunt (nicht das Bedürfnis dieses oder jenes Menschen bestimmt den Wert der Güter, sondern das gemeinsame Bedürfnis derer, die miteinander Handel treiben können: J. Buridanus, In Eth. Nie. V, 16). Indigentia wird nicht mehr nur als individueller Wunsch, als individuelles Bedürfnis verstanden, auch nicht als objektiver Mangel im Sinne des Lebensnotwendigen, sondern als ein aggregathaftes Phänomen. Indigentia ist ein formaler Begriff. Er bezeichnet jedes faktische Bedürfnis. Auch der Reiche, der alles zum Leben Notwendige besitzt, bedarf doch der Luxusgegenstände, und dieses Bedürfnis ist nicht grundsätzlich verschieden vom Bedürfnis des Lebensnotwendigen. Deswegen muß nach Buridanus das Bedürfnis als Maß des Wertes auch der Luxusgüter angesehen werden. Buridanus orientiert sich somit nicht mehr nur an den basishaften Notwendigkeiten des menschlichen Lebens — wie es weitgehend bei Thomas noch der Fall ist - , sondern an dem, was wir heute die tatsächliche Nachfrage nennen würden. Deswegen spricht vieles dafür, Buridans Begriff der indigentia, der von -»Heinrich von Langenstein und anderen übernommen wird, mit der modernen Vorstellung des „Marktes" in Verbindung zu bringen („c'est la notion exacte du marché économique": Brants, zit. O. Langholm, Price 109) oder ihn als die Geburtsstätte des modernen Begriffs der „Nachfrage" (Langholm) zu begreifen. Dies eine Beispiel zeigt, daß der Nominalismus auch durch die verstärkte Hinwendung zu den Problemen der Ökonomie gekennzeichnet ist. Eindrucksvoll wird das auch belegt durch die Schrift De moneta des Nicolaus Oresme, den Tractatus de imprestantiis Venetorum et de usura des Gregor von Rimini, den Tractatus bipartitus de contractibus emptionis et venditionis des Heinrich von Langenstein, und nicht zuletzt durch die Traktate De contractibus von Heinrich Totting von Oyta, J . Gerson und G. Biel (In IV Sent., dist. 15). Quellen Allgemeine Bibliographien zu den Autoren: Etienne Gilson, History of Christian Philosophy in the Middle Ages, London 1955 u.ö. ( = Gilson). - VerLex. - LMA. - Cambridge History of

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Nommensen

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Theo Kobusch Nommensen, Ludwig Ingwer

(1834-1918)

1. Leben und Wirken 2. Glauben und Denken graphie/Quellen/Literatur S. 608)

1. Leben und

3. Aufnahme und Interpretation

(Biblio-

Wirken

Ludwig Ingwer Nommensen wurde am 6.2.1834 auf der Insel Nordstrand, Schleswig, geboren. Sein Vater war Deichschleusenwärter. Die Rettung bei einem Unfall führte ihn zu dem Entschluß, Heidenmissionar zu werden. Er trat 1857 in die Rheinische Missionsgesellschaft (-»Missionsgesellschaften/Missionswerke) zu Barmen ein und wurde nach vierjähriger Ausbildung ordiniert (20.10.1861). Wenige Monate später reiste er nach -»Indonesien aus. Gemeinsam mit vier anderen Missionaren begann er die -»Mission unter den Batak und konnte 1864 bei den Toba Batak im Silindungtal, Nordsumatra, Fuß fassen. Er missionierte unter der Dorfbevölkerung des von der holländischen Regierung noch unabhängigen Gebietes, indem er mit den Batak lebte, ihre Sprache sprach und unermüdlich Anlaß zu fast unbegrenztem Vertrauen gab. Er nahm ihre Menschenwürde und ihr Recht auf eigene Überzeugung ernst. Der Häuptling Raja Pontas Lumbantobing (ca. 1830-1900) schützte ihn und vermittelte, Vertrauen bildend, zwischen Nommensen und der Führerschaft des Volkes. Er wurde Christ und wagte es, sein Volk zu drängen, das Evangelium von der Vergebung der Schuld und von der Versöhnung mit Gott und den Feinden anzunehmen und die holländische Regierung aus politischer Klugheit zu akzeptieren, so daß die altreligiösen Führer schließlich nachgaben. Zusammen mit Lum-

Nommensen

605

bantobing und dem Pädagogen Peter Hinrich Johannsen (1839-1898) legte Nommensen den Grund zur sog. historischen Epoche der Christianisierung der Batak. P.H. Johannsen hat das Verdienst, während der ersten drei Jahrzehnte Lehrer-Prediger ausgebildet und eine bataksche Literatur geschaffen zu haben. Eine frühe geistliche und soziale Verselbständigung der Getauften erreichte Nommensen, indem er Andachtsgruppen in den Dörfern bildete, die von Laienmitarbeitern, den späteren Gemeindeältesten betreut wurden. Er taufte in den ersten zwei Jahrzehnten Familien und Einzelne, wobei er großen Wert auf persönliche Glaubensüberzeugung legte. Er übersetzte christliche Grundschriften.

Schon ein Jahr nach den Erstlingstaufen vom 27.8.1865 führte Nommensen die „Kirchenordnung der durch die von der Rheinischen Missionsgesellschaft gebildeten Gemeinden aus den Heiden" ein, die die entstehende Kirche an die „kanonischen Bücher der heiligen Schrift gemäß der Augsburgischen Konfession, dem Katechismus Lutheri und dem Heidelberger Katechismus" band (1866). Mit Rücksicht auf das Wachstum der Gemeinden entwarfen Nommensen und W. Ködding (1837-1897) eine kontextuell orientierte Kirchenordnung (1881-1930). Fragen der Lehre und des Bekenntnisses wurden in dieser Ordnung nicht berührt. Das Verständnis von der Kirche wurde mehr von der genossenschaftlich-anthropologischen als von der christologischen und universalen Begründung her entwickelt. In Glauben und Praxis unterschied er Elemente, die dem Christlichen widersprachen, von solchen, die ihm konform erschienen. Elemente, wie z.B. das Bodenrecht, hielt er für neutral. Dieser Zugang zur Lebens- und Glaubenswelt der Batak war zwar nicht von einem ganzheitlichen Verständnis menschlicher Existenz bestimmt, ermöglichte ihm jedoch neben der Verdammung des „Heidentums", z. B. in der Ahnenverehrung und im batakschen Schamanismus, dekalogähnliche Teile der Adat, d.h. der Lebensordnung, anzuerkennen und so mit den Häuptlingen „christlich-bürgerliche Gesetze" abzufassen. Die für die Christen lebensbedrohliche Auseinandersetzung mit den Priestern der alten batakschen Religion dauerte bis etwa 1878. Die Barmer Missionsleitung ernannte Nommensen 1881 zum Ephorus der Rheinischen Batakmission. Fortan galt ein Teil seines Wirkens den europäischen Missionaren und Schwestern. Er unterwies die Missionare in ihrem Umgang mit den Batak: „ M a n trage sie auf priesterlichem Herzen und predige ihnen das Wort zur Zeit und zur Unzeit. M a n sehe jeden Menschen, der zu einem kommt, an als vom Herrn gesandt und widme ihm die Zeit, welche nötig ist, ihm den Weg des Lebens zu zeigen" (Verein. Ev. Mission, Archiv Ms. R M G 1.340.3,29). Der Weg zu diesem Umgang mit den Menschen führt über die Erlernung der Sprache. Daneben „ h a t man ein Doppeltes zu tun, nämlich seinen Glauben den Heiden vorzuleben und die Denkungsart der Heiden zu studieren" ( a . a . O . 45). Bereits 1882 ließ Nommensen die Ausbildung von drei Lehrer-Predigern zu Pfarrern beginnen (Ordination als Hulp-Predikanten 1885). Erst mit der Internierung der deutschen Missionare, 1940, wurde die kirchliche Gleichberechtigung verwirklicht.

1885 zog Nommensen von Silindung an die dichtbesiedelte Südküste des Tobasees. Das rapide Wachstum der Arbeit 1885 bis 1911 spiegelt sich in vielen Briefen mit Bitten um Missionare und bataksche Lehrer: „daß wir in 1904/05 allein noch 28 Missionare brauchen". So wurden 120 Lehrer-Prediger in die Pfarrerausbildung aufgenommen. Bis 1910 standen 637 Lehrer-Prediger zur Verfügung. Aus missionspolitischen Erwägungen änderte Nommensen sein Evangelisierungskonzept und stimmte der gruppenweisen Aufnahme in die Kirche zu, ohne auf vorheriger Glaubensbildung und -entscheidung zu bestehen. Mit Genehmigung der örtlichen Fürsten konnte 1903 die Evangelisierung des Simelungunbatak-Gebietes beginnen. Diese Phase seines Lebenswerkes leitete er zwar noch ein, führte sie aber nicht mehr selbst durch. 1893 erhielt er das Ritterkreuz des königlichniederländischen Ordens von Oranien-Nassau. Anläßlich des 50. Jahrestages seiner Ordination (13.10.1861) und des Anfangs der Batak-Mission (7.10.1861) wurde er 1911 mit dem Offizierskreuz des Ordens ausgezeichnet. Im Jahre 1904 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Evangelisch-Theologischen Fakultät Bonn.

606

Nommensen

Die selbstlose Präsenz als Verwirklichung der Liebe Christi bestimmte seine Verhaltensweise. So gewann er auch das Vertrauen des einflußreichen Priesterkönigs Sisingamangaraja XII., der die europäische Kolonialmacht ablehnte, aber N o m m e n s e n als ebenbürtig anerkannte. Bis zu dessen Tod 1907 vermittelte N o m m e n s e n zwischen ihm und der Kolonialmacht (Streng 137f). Jahrzehntelang hatte er als Schiedsmann oder Dorfrichter gewirkt - Last und Liebe zugleich. Darum verm o c h t e er nicht zu akzeptieren, daß die Regierungsbeamten später diese Funktion übernahmen. E r fühlte sich einer Vollmacht beraubt. Auch für ihn galt, daß beständige Hingabe und Zuwendung nur für den Preis der Einseitigkeit zu haben sind.

Nommensens familiären Verhältnisse waren geprägt von der Spannung der Missionarsexistenz „zwischen Heimat und Missionsfeld". Er heiratete 1866 Caroline Gutbrod (gest. 1887), die er mit ihren Kindern wegen Krankheit und Schule 1881 in Deutschland zurücklassen mußte. 1892 heiratete er Christine Härder, die 1909 auf Sumatra starb und drei Kinder hinterließ. Nommensen starb im Dienst am 23.5.1918. Seine Lebensleistung spiegelt sich sowohl in der Batakkirche mit ihren 34 Pastoren, 788 LehrerPredigern und 180.000 Mitgliedern (Stand 1918) als auch in der jahrzehntelangen Leitung der über 60 Missionsmitarbeiter/innen. Sie spiegelt sich auch in der Bereitschaft der Batak, die neue Zeit anzunehmen und so die Wende in ihrer jüngeren Geschichte herbeizuführen. In dieser Entwicklung hat auch die holländische Besetzung insofern eine positive Rolle gespielt, als sie ein gewisses Maß an ziviler Sicherheit und Ordnung gewährleistete. Nommensen hat als Pioniermissionar und erster Leiter der größten einzelnen evangelischen Kirche in Südostasien seinen Platz in der jüngsten Kirchengeschichte. 2. Glauben

und

Denken

Nommensens religiöse Vorstellungen wurden von der Erweckungstradition (-»Erweckung/Erweckungsbewegungen) —»Schleswigs geprägt. Im Missionsseminar machte er sich die Theologie des —»Biblizismus zu eigen, wie sie von den Missionsinspektoren Friedrich Fabri und L. von Rohden gelehrt wurde. Letzterem blieb er zeitlebens verbunden. Zum Kern dieser theologisch-philosophischen Gedankenwelt gehörte die Popularisierung des Tholuck-Neanderschen Verständnisses vom Christentum als - neuem - Leben (A. -»Neander, F. —•Tholuck). Nommensen und seine Mitbrüder übernahmen das Neue im Sinne von Leben, Gesetz, Sitte, Zeit und Herrschaft als kerygmatisches Paradigma für die Evangelisierung. Das neue Leben sollte das „heidnische" Volk durchdringen. Der anthropozentrische Ansatz von Rohdens setzte Nommensen instand, von vornherein dialogisch zu evangelisieren und diese Missionsmethode zu seinem theologischen proprium zu machen. Der Taufunterricht begann mit der Frage nach der Seligkeit und dem ewigen Leben und dem erforderlichen Gehorsam gegen den Dreieinigen Gott, weniger mit Genesis und mit Israel. Nommensens Vorstellungen von organischem Wachstum christlicher Sittlichkeit wurde von einer unerschütterlichen Christus-Frömmigkeit getragen, die den anthropozentrischen Ansatz vor dem Abgleiten in eine für die Batak neue Weltanschauung bewahrte. Hinführen zu persönlicher Entscheidung und zur Heilserfassung, orientiert an der Wiederkunft Christi, blieben Schwerpunkte seiner Verkündigung. Seine kirchlich-pietistische Herkunft veranlaßte ihn die Gestalt des „Teufels", die die Batak in ihrer Religion nicht kannten, sowohl in die Übersetzung biblischer Texte (Iblis, arab.-malaiisch) als auch in die Verkündigung hineinzunehmen. Als Widersacher des Menschen galten bei den Batak Totengeister (begu). Nommensens Gemeindeaufbau orientierte sich an seiner Vorstellung von der -»Kirche. Auch hier erwies sich der anthropozentrische Ansatz seiner Theologie als geeignetes Instrument zur Einwurzelung der christlichen Gemeinschaft im Batakvolk. Durch Beispiel und Methode vermittelte er eine menschlich-solidarische Existenz. Folgerichtig übertrug er nach den ersten Taufen die Verantwortung für den Glauben an bereitwillige Männer in den Dörfern. Er erreichte so eine Vervielfältigung der Evangelisierung: „Durch Lehrer (ausgebildete Gemeindeleiter) werden eigentlich wenige in die Gemeinde einge-

Nommensen

607

führt, dagegen viele durch Häuptlinge, Älteste und fromme oder auch nichtfromme Christen" (Referat „Die Batakpredigt", o. J.: Vereinigte Ev. Mission, Archiv Ms. R M G 1.340.2). In dieser Kirchenvorstellung überwiegt der Aspekt der unter Gottes Wort versammelten Gläubigen gegenüber dem Aspekt vom Leib Christi. Nommensen praktizierte eine kontextuelle Ekklesiologie, indem er die Adat und die Struktur des Batakvolkes für den Aufbau der Volkskirche übernahm und ihr anpaßte, vielleicht auf Kosten des unverwechselbar Christlichen in ihr. Er richtete immer neue „ Z e n t r e n " oder Zellen ein, die eigenständig eine geistliche Dynamik entfalteten und einer Bekehrung durch Assoziation den Weg öffneten. „Nommensen schuf die geistliche Möglichkeit der Zunahme von Macht und Ansehen, so daß die Batak auch auf seine Religion hörten und das Christentum vorwärts eilte" (von Zanen 103). 3. Aufnahme

und

Interpretation

Nommensens fünfzigjähriges Lebenswerk unter dem Volk der Batak vollzog sich unter religiösen und kommunikativen Gegebenheiten, die von Europa sehr verschieden waren. In seinem Selbstverständnis war er zuerst und wesentlich der Evangeliumszeuge in uneingeschränkter Solidarität mit den Menschen dieses Volkes. So wurde er von ihnen als der Ihrige angenommen und verstanden. Für das authentische Verständnis des M a n nes und seiner Leistung ist darum die Art und Weise entscheidend, in der die Menschen in -»Indonesien ihn sahen. Im Vergleich dazu bleibt seine Rezeption in Europa durch eine Interpretation vermittelt, die an Missionswerbung orientiert ist. Im Gegensatz zu seiner hohen Bedeutung in Nordsumatra ist die Lage der Quellen ziemlich begrenzt. Sein veröffentlichtes Schrifttum ist von geringem Umfang. Der Nachlaß in Europa umfaßt den langjährigen Briefwechsel mit der Missionsleitung und mit seinen Kindern sowie Tagebücher, einige Referate und thematische Schriftsätze, persönliche Papiere und Urkunden. Nommensens zahllose Briefe an Empfänger in Sumatra scheinen nicht erhalten zu sein. J. Warneck vertritt in seinem Lebensbild Nommensens (1919), der einzigen eigenständigen deutschen Biographie, die These: „Die Geschichte dieser Mission ist zugleich die Geschichte Nommensens" (6). Er sieht ihn als „unvergeßlichen Führer" und idealen Pionier der Mission. Die Betonung von Nommensens Verdiensten als einer Einzelpersönlichkeit verkürzt den Zusammenhang mit seinen Mitarbeitern. J. H . Hemmers' holländische Biographie 1928 (1935) verarbeitet auch holländische Literatur und gewährt einen von der Rheinischen Mission unabhängigen Zugang zu Nommensen. Nommensens Sohn Jonathan (1873-1950) legte 1921 ein bataksches Lebensbild seines Vaters vor, das, in Sumatra verfaßt, durch authentische Situationsberichte und eine eigenständige Interpretation hervorragt. Nommensen hat in Indonesien eine anhaltende Nachwirkung gehabt. Eine kritische Behandlung seiner Rezeption in Indonesien hat in letzter Zeit begonnen. Außerhalb Sumatras hat Nommensen breite literarische Aufnahme gefunden. Er wird vor allem in missionswissenschaftlichen Abhandlungen im Zusammenhang mit der Batakmission und -kirche behandelt. Volkstümliche Lebensbilder in mehreren Sprachen lehnen sich an Warnecks Darstellung an. Im Unterschied zur Verehrungshaltung in den 20er und 30er Jahren, zeichnen Autoren in jüngerer Zeit ein kritisch-differenziertes Bild. Das Interesse richtet sich immer wieder auf die Stellung zur Lebensordnung (Adat). Bengt Sundkler betont den Versuch, sie zu christianisieren, damit Stamm und Kirche eins würden (vgl. T h e World of Mission, London 1965, 189f). Stephen Neill's hohe Bewertung, Nommensen sei einer der größten Missionare aller Zeiten, ist jedoch mit seiner realistischen Einschätzung der beiden letzten Jahrzehnte Nommensens zusammen zu sehen, d a ß „er kaum in der Lage war, auf den Zustrom neuer Ideen zu reagieren und diese zu verstehen" (Colonialism and Christian Missions, London 1966, 188.197). So nachhaltig sich Nommensens Bild als großer Missionsführer eingeprägt hat, so undeutlich bleibt es in der Literatur, wenn man nach einer Präzisierung von Einzelzügen fragt. Um die Geltung von Nommensens theologischen und kulturanthropologischen

608

Norbert von Xanten

Grundsätzen für heutige Fragen der Evangelisierung und Missionstheologie zu zeigen, sind sie in Verbindung mit der Entwicklung der Batak-Kirche, aber nicht in Identität mit ihr zu erarbeiten. Bibliographie J.P. Sarumpaet, Bibliografi Batak, Melbourne 1988. - L. Schreiner: MisSt 9.2 (1992) 249ff (auch indonesische Titel). Quellen Ausg. u. Übers. (Auswahl): Katechismus Lutheri, na nihatabatakkon ni Pandita Nommensen dohot angka donganna, Barmen 1874 (Der KIKat übers, ins Bataksche von Nommensen u. seinen Gefährten). - The NT of Our Lord and Saviour Jesus Christ, transl. out of the orig. Greek into Batta (Toba), Elberfeld 1878 (in Batak-Schrift). Art. u. Beitr. (Auswahl): Aus den Tagebüchern eines jungen Missionars: BRMG 5 (1863) 125-140.153-166. -Erster Niederlassungsversuch in der Landschaft Silindong auf Sumatra: BRMG 8 (1864) 225-235. - Sitten u. Gebräuche der Battas: BRMG 9 (1864) 271-281.303-305. - Reise nach dem Tobasee: BRMG 3 (1877) 6 9 - 7 9 . - Endgültiger Ber. über den Krieg auf Sumatra: BRMG 12 (1878) 361-381. - Reiseber, des Missionars Nommensen an seine Freunde I—III, Breklum 1882-1886. Literatur Art. Nommensen, Ludwig Ingwer: Encyclopaedie van Nederlandsch Indie 8 (1939) 1485. - D. A.P. van Duuren, Parmalims en Parhudamdams. Twee profetische bewegingen bij de Bataks rond de eeuwwisseling, Diss. Utrecht 1983. - J.H. Hemmers, Schetsen uit het leven van Ludwig Ingwer Nommensen, den apostel der Batakkers, Baarn 1928. — Ders., Ludwig Ingwer Nommensen, de Apostel der Batakkers. Weltevreden (1928), den Haag 1935; engl. Übers, v. R. L. Archer: Malaysia Message/Methodist Recorder, Singapore Nov. 1938 bis Oct. 1939. - Masashi Hirosue, Prophets and Followers in Batak Millenarian Responses to the Colonial Order. Parmalim, Na Siak Bagi and Parhudamdam, 1890-1930, Diss. Phil. Canberra 1988. - Jubil Raplan, Hutauruk. Die Batakkirche vor ihrer Unabhängigkeit, Diss. theol. Hamburg 1980. - Andar M. Lumbantobing, Das Amt in der Batakkirche, Wuppertal-Barmen o. J. - Gustav Menzel, Ein Reiskorn auf der Straße. Ludwig Ingwer Nommensen, Apostel der Batak, Wuppertal 1984. - Ders., Peter Hinrich Johannsen, ein Lehrer der Batakkirchen, Wuppertal 1989. - Lothar Schreiner, Ludwig Nommensen-Studies - A Review: MisSt 9,2 (1992) 241-251. - Justin Sihombing, Ludwig Ingwer Nommensen: . . . gemacht zu Seinem Volk, hg. v. Hans de Kleine, Wuppertal-Barmen o. J., 21-26. - Manfred Streng, Die Rheinische Missionsgesellschaft im Batakland (1861-1940) u. Formen des batakischen Widerstands, Diss. Phil. München 1989. - Ph. L. Tobing, The Structure of the Toba-Batak Belief in the High God, Amsterdam 1956. - J(ohannes) Warneck, D. Ludwig Ingwer Nommensen, Barmen 1919 4 1934; engl. Ubers, v. William Nommensen, San Diego/Cal. 1994. - Ders., Sechzig Jahre Batakmission in Sumatra, Berlin 1925. - Ders., D. Nommensens 100. Geburtstag: BRMG 91 (1934) 37. - A. J. van Zanen, Voorwaarden voor maatschappelijke ontwikkeling in het centrale Batakland, Leiden 1934. Lothar Schreiner Nomokanon -»Kirchenrechtsquellen Non-Jurors -»England, -»-Hochkirchliche Bewegung Norbert von Xanten

(1080/85-1134)

1. Leben und Wirken 2. Persönlichkeit und Beurteilung durch die Zeitgenossen rische Bedeutung 4. Nachleben und Verehrung (Quellen/Literatur S. 611) 1. Leben und

3. Histo-

Wirken

Norbert wurde zwischen 1080 und 1085 als Sohn des dem höheren Adel zwischen Rhein und Maas angehörenden Heribert von Gennep und seiner Gemahlin Hadewig geboren, entweder in Xanten am Rhein oder in Gennep an der Maas. Als nachgeborener Sohn für den geistlichen Stand bestimmt, wurde er schon im jugendlichen Alter in das St. Viktorstift zu Xanten aufgenommen. Im Gefolge des Kölner Erzbischofs Friedrich

Norbert von Xanten

609

I. nahm er 1110/1111 am Romzug Heinrichs V. und dessen Verhandlungen mit Paschalis II. teil. 1113 lehnte er das ihm vom Kaiser angebotene Bistum Cambrai ab, was man damit erklärt, daß er angesichts der Pressionen, die Heinrich V. auf den Papst ausgeübt hatte, in das päpstliche Lager übergetreten sei. Den Viten zufolge, hatte er im Mai 1115 auf dem Weg zum westfälischen Frauenstift Vreden ein Bekehrungserlebnis, das ihn veranlaßte, sich nach einem Aufenthalt in der jungcluniazensisch ausgerichteten Abtei Siegburg, wo er mit -»Rupert von Deutz zusammentraf, in Köln auf unkanonische Weise am selben Tag zum Diakon und Priester weihen zu lassen. Nach dem Bruch mit den reformunwilligen Kanonikern von St. Viktor und nicht genau datierbaren Kontakten mit dem Eremiten Ludolf von Lonnig und den eremitisch-asketisch ausgerichteten Regularkanonikern von Klosterrath begann er auf dem Fürstenberg bei Xanten ein Leben, das eremitische Zurückgezogenheit mit Büß- und Reformpredigt verband. Wegen seiner irregulären Priesterweihe und der für seinen Stand unangemessenen Lebensweise hatte er sich am 28. Juli 1118 vor der von dem päpstlichen Legaten Kuno von Praeneste geleiteten Synode von Fritzlar zu verantworten. Da diese sein Verhalten mißbilligte, begab er sich nach dem Verzicht auf Pfründe und Besitz als Pilger über Huy an der Maas ins südfranzösische Saint-Gilles-du-Gard, wo er von Gelasius II. die Erlaubnis zur Wanderpredigt erhielt, die er seit dem Frühjahr 1119 mit einigen Gefährten in Nordfrankreich, Belgien und dem Rheinland so wirkungsvoll ausübte, daß sich ihm zahlreiche Gläubige beiderlei Geschlechts anschlössen. Vielleicht auf Anraten Calixts II., den er im Oktober 1119 auf der Synode zu Reims um Erneuerung seiner Predigererlaubnis bat, mit Sicherheit aber auf Betreiben des Bischofs Bartholomäus von Laon und des seiner ungebundenen Predigertätigkeit eher ablehnend gegenüberstehenden Episkopats erklärte sich Norbert zur dauernden Niederlassung in der Diözese Laon bereit, ohne jedoch auf seine zur Nachfolge Christi und der Apostel auffordernde Predigt zu verzichten. Nach dem fehlgeschlagenen Versuch, das Stift Saint-Martin in Laon zu übernehmen und in seinem Sinne zu reformieren, ließ er sich in Premontre bei Laon nieder, wo sich 1120/1121 unter seiner Leitung eine nach der -•Augustinusregel im Sinne des orde novus lebende Kanonikergemeinschaft bildete, der sich in kurzer Zeit ältere und neugegründete Kommunitäten, nämlich Floreffe, Vivieres, St. Martin in Laon, St. Michael in Antwerpen sowie Cappenberg mit Valar und Ilbenstadt, anschlössen. Nachdem er am 16. Februar 1126 seine Gründungen in Rom von Honorius II. hatte approbieren lassen, faßte Norbert den schon seit Ende 1125 herangereiften Entschluß, die Leitung der ihm als „Eigenklöster" übertragenen Stifte niederzulegen und sich, wie ihm offenbar von der Kurie, dem königlichen Hof und den Reichsfürsten nahegelegt wurde, als Bischof in den Dienst von Kirche und Reich zu stellen. Im Sommer 1126 nahm er nach der Ablehnung des ihm im April angebotenen Würzburger Bischofsstuhles die im Juni/Juli auf dem Hoftag zu Speyer erfolgte „Wahl" zum Erzbischof von -»Magdeburg an. In Magdeburg, wo er am 18. Juli seinen Einzug hielt und eine Woche darauf von Bischof Udo von Zeitz-Naumburg geweiht wurde, versuchte er die finanzielle Lage des Erzbistums zu bessern und dessen Klerus zu reformieren, wogegen sich dieser im Bündnis mit Adel und Bürgerschaft so massiv wehrte, daß sich der Erzbischof vor den Mordandrohungen nach Kloster Berge bzw. in das Stift Neuwerk bei Halle in Sicherheit bringen mußte. Dennoch gelang es Norbert, durch die Regulierung des Stiftes Unser Lieben Frauen in Magdeburg und des magdeburgischen Eigenklosters Pöhlde sowie die Neugründung von Gottesgnaden bei Calbe den Kern einer Gruppe von Klöstern zu bilden, die anders als die von seinem Nachfolger in Premontre, Hugo von Fosses, nach dem Vorbild der Zisterzienser zu einem monastisch geprägten Orden zusammengefaßten nordwesteuropäischen Stifte ihren „reformpriesterlichen" Charakter beibehielt und bis zu ihrer Aufhebung eine Sonderstellung unter den —•Prämonstratensern einnahm. Seit 1126 überwog die Tätigkeit des Erzbischofs und Reichsfürsten diejenigen des Ordensmannes. 1131 erwirkte Norbert von Innozenz II. die Bestätigung und Erweiterung der seinem Erzbistum bereits in der Ottonenzeit ver-

610

Norbert von Xanten

liehenen Privilegien, ohne freilich den daraus abzuleitenden Anspruch auf die Metropolitangewalt über die damals bestehenden bzw. geplanten polnischen Bistümer durchzusetzen zu können. Sein Wirken als Erzbischof wurde durch die Teilnahme an Hoftagen und Reisen im Dienste des Reiches unterbrochen. Die letzte führte ihn im Gefolge Lothars III. nach Rom, wo er am 4. Juni 1133 an dessen Krönung teilnahm und noch am selben Tag von Innozenz II. eine Bestätigung des „Polenprivilegs" von 1131 erhielt. Auf dem Umweg über Würzburg, Mainz und Köln zu Beginn der Fastenzeit 1134 nach Magdeburg zurückgekehrt, starb der bereits auf der Reise zu Tode Erkrankte am 6. Juni 1134 in seiner Bischofsstadt, wo er am 11. Juni auf Veranlassung des Kaisers nicht im Dom, sondern in der Kirche des von ihm reformierten Stiftes Unser Lieben Frauen beigesetzt wurde. 2. Persönlichkeit

und Beurteilung durch die

Zeitgenossen

Norbert, der in Xanten, Siegburg, Köln und vielleicht auch in Laon eine theologische Ausbildung erfahren hatte und mit solcher Wortgewalt und Überzeugungskraft ausgestattet war, daß ihn Bernhard von Clairvaux als fistula evangelii rühmen konnte, hat mit Ausnahme zweier Urkunden keine authentischen Schriften hinterlassen und kann, auch wenn er von —»Gerhoch von Reichersberg als vir litteratus bezeichnet und von Arno von Reichersberg mit -»Bernhard von Clairvaux und -»Hugo von St. Victor auf eine Stufe gestellt wird, nicht als Theologe oder sogar Intellektueller im eigentlichen Sinne gelten. Es ging ihm auch nicht darum, im Sinne der „Théologie monastique" durch Auslegung und Betrachtung die Heilige Schrift in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen oder gar mit den von Frühscholastikern (-»Scholastik) entwickelten scholastischen Methoden zwischen Glauben und Vernunft zu vermitteln. Seine Intention war, wie der Chronist Hermann von Tournai betont, als Wanderprediger so viele Menschen wie möglich zur Nachfolge Christi zu bewegen, die Seelen der Gläubigen zu retten, den Kampf mit dem Satan zu führen und als Erzbischof für die Rechte seiner Metropolitankirche und die Freiheit der Ecclesia Romana einzutreten. Seine Ordensund Kirchenpolitik, sein spannungsreiches und widerspruchsvolles Leben und sein willensstarker, nicht von Ehrgeiz freier Charakter haben schon Zeitgenossen wie Bernhard von Clairvaux, Rupert von Deutz, Idung von Prüfening und die Verfasser der Viten Bischof Ottos I. von Bamberg, ja selbst enge Gefährten wie Gottfried von Cappenberg zu heftiger Kritik veranlaßt. Ihr haben in der Mitte des 12. Jh. verfaßte Viten, die kürzere, historisch wertvollere Vita Noberti A und die längere an Wundererzählungen und Betrachtungen reichere Vita Norberti B, im Interesse des Ordens und zur Förderung der Verehrung seines Stifters ein harmonischeres Bild gegenübergestellt, ohne jedoch die Spannungen und Widersprüche im Leben Norberts gänzlich überdecken zu können.

3. Historische

Bedeutung

Norbert wird heute nicht mehr wie noch vor einigen Jahrzehnten uneingeschränkt als Stifter des Prämonstratenserordens betrachtet (-»Prämonstratenser). Seine Leistung wird darin gesehen, daß er die Impulse der am Ideal der Vita apostolica orientierten Reformbewegung des ausgehenden 11. und beginnenden 12. Jh. aufgegriffen und als Erzbischof von Magdeburg mit dem Ziel einer allgemeinen Kleriker- und Kirchenreform propagiert hat. Sein Einsatz im Hof- und Reichsdienst sowie seine Bemühungen um die Stützung Lothars III. und die Anerkennung Innozenz' II. als rechtmäßigen Papst, vor allem aber sein früher Tod, haben ihn daran gehindert, dieses Ziel zu erreichen. Es gelang ihm dennoch, in seiner achtjährigen Amtszeit als Erzbischof von Magdeburg, mit der Klosterreform, der Sicherung der Rechte seiner Kirche und der Abwehr konkurrierender Ansprüche, wie derer es polnischen Episkopates und des Pommernmissionars -»Otto von Bamberg, Voraussetzungen für die Bekehrung der Slawen und die Christianisierung des Raumes zwischen mittlerer Elbe und Oder zu schaffen, was das Urteil Dietrich Claudes, Norbert habe als Erzbischof von Magdeburg versagt und der Mission schweren Schaden zugefügt, als ungerechtfertigt erscheinen läßt. 4. Nachleben

und Verehrung

Norbert genoß schon bald nach seinem Tode in der Erzdiözese Magdeburg, dem Prämonstratenserorden und dem Xantener St. Viktorstift besondere Verehrung. Doch trotz wiederholter Bemühungen wurde den Prämonstratensern erst am 28. Juli 1582

Norbert von X a n t e n

611

von -»Gregor XIII. erlaubt, Norbert in ihr Ordensmartyrologium aufzunehmen und als heiligen Bischof und Bekenner zu verehren. Die zunächst auf den Orden beschränkte, nach Erweiterungen und Präzisierungen durch Clemens VIII. und Paul V. 1621 von Gregor XV. auf die ganze Kirche ausgedehnte Verehrung erfuhr 1626 ihren Höhepunkt, als die Reliquien des Heiligen aus der Klosterkirche von Unser Lieben Frauen gegen den Widerstand von Rat und Bürgerschaft des inzwischen lutherisch gewordenen M a g deburg in die Prager Prämonstratenserabtei Strahov überführt und in einer Seitenkapelle der Klosterkirche der Verehrung der Gläubigen zugänglich gemacht wurden. Die Intensität, mit der Norbert im 16. und 17. Jh. in Böhmen, im Rheinland und in den spanischen Niederlanden verehrt wurde, hatte nicht nur ordensinterne Gründe. Norbert wurde, wie vor allem seine Ikonographie zeigt, aus religiöser Überzeugung und mit Hilfe politischer Propaganda zum Exponenten der Rechtgläubigkeit gemacht, der sich in der Auseinandersetzung mit dem der Häresie verdächtigten Tanchelm von Antwerpen als Verteidiger des wahren Glaubens bewährt hatte und sich dadurch als Vorkämpfer der Gegenreformation empfahl. In den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten des 20. Jh. wurde er gegenüber den „Vereinnahmungsversuchen" der Niederländer, Belgier und Franzosen als deutscher Heiliger und Ordensstifter gefeiert, nach 1945 betrachteten ihn die aus Schlesien und Böhmen vertriebenen Katholiken und die in der damaligen D D R lebenden Gläubigen als Patron und Bindeglied zwischen alter und neuer Heimat, zwischen West und Ost. Quellen Vita Norberti A, ed. J. Rogerus Wilmans: MGH SS XII, 1856 = Stuttgart/New York 1963, 663-703. - Vita Norberti B, ed. Daniel Papebroch: AASS Jun. I, Antwerpen 1685, 8 0 7 - 8 4 5 = PL 170, 1253-1344; dt. v. Gerhard Hertel: GdV 64, M941, 3 - 9 6 . - Ausgew. Quellen zur dt. Gesch. des MA 22, hg. v. Hatto Kalifelz, 1973, 443-541; niederl.: Bibl. AnPraem. 18 (1990). - Wilfried Marcel Grauwen, De handschriften van de Vitae Norberti: AnPraem 70 (1994) 5 - 1 0 1 (Lit.). - Liber de miraculis S. Mariae Laudunensis, ed. Rogerus Wilmans: MHG SS XII (s.o.) 6 5 4 - 6 6 0 (Ausz.). - Continuatio Praemonstratensis: MGH SS VI, 1844 = Leipzig 1925, 447 - 4 5 6 . - Additamenta Fratrum Capenbergensium, ed. Rogerus Wilmans: MGH SS XII (s. o.) 704-706. - Vita Godefridi Capenbergensis: ebd. 513-530. - Gesta archiep. Magdeburgensium: MGH SS XIV, 1883, 374-489. - UB Stadt Magdeburg I—II, 1892-1896. - UB Kloster ULF, 1878. - Zu den Quellen vgl. auch: Norbert Backmund, Die ma. Gesch.Schreiber des Prämonstratenserordens, Averbode 1972. - Wilfried Marcel Grauwen, Lijst van oorkonden waarin Norbert woord genoemd: AnPraem 51(1975)139-182. - Ders., De bronnen voor de geschiedenis van Norbert, stichter van Prémontré: AnPraem 59 (1983) 190-205. Literatur (in

Auswahl)

Allgemein: Norbert Backmund, Art. Norbert v. Xanten: LThK 1 7 (1962) 1030f. - Kaspar Elm (Hg.), Norbert v. Xanten. Adeliger, Ordensstifter, Kirchenfürst, Köln 1984,315-318 (Lit. bis 1984). - Ders., Norbert v. Xanten: LMA 6 (1993) 1233-1235. - Léon Goovaerts, Ecrivains artistes et savants de l'Ordre de Prémontré, 4 Bde., Brüssel 1899-1920. - Wilfried Marcel Grauwen, Art. Norberto: DIP 6 (1980) 332-335. - Charles L. Hugo, Sacri et Can. Ord. Praem. Annales I, Nancy 1734. - Jean Lepaige, Bibl. Praem. Ord., Paris 1633. - E. Poche/Norbert Backmund, Art. Norbert v. Magdeburg: LCI 8 (1990) 6 8 - 7 1 . - Jean-Baptiste Valvekens, Norberto: BSS 9 (1967) 1050-1068. - Ders., Art. Norbert: DSP 11 (1982) 412-416. - Laufende Bibliogr.: Analecta Praemonstratensia. Zu 1.: Alfons Alders, Das Leben des hl. Norbert, Xanten M981. - Ders., Norbert v. Xanten als rheinischer Adeliger u. Kanoniker an St. Viktor: Elm (s.o.) 3 1 - 6 7 . - Johannes Bauermann, Erzbischof Norbert v. Magdeburg: Sachsen und Anhalt 11 (1935) 1 - 2 5 . - Werner Bornheim gen. Schilling, Die Familienbeziehungen des hl. Norbert Heribertiner u. Norbertiner: Jb. für westdt. Landesgesch. 4 (1978) 3 7 - 6 0 . - Charles Dereine, Les origines de Prémontré: RHE 42 (1947) 352-378. - Helmut Deutz, Norbert v. Xanten bei Propst Richer im Regularkanonikerstift Klosterrath: AnPraem 68 (1992) 5 - 1 6 . - Kaspar Elm, Norbert v. Xanten: GK 3 (1983) 161-172. - Franz Feiten, Norbert v. Xanten. Vom Wanderprediger zum Kirchenfürst: Elm, 1984 (s. o.) 6 9 - 1 5 7 . - Wilfried Marcel Grauwen, Norbertus Aartsbischop van Maagdeburg 1126-1134, Brüssel 1978 (Verhdl. Acad. Belgie Kl. Lett. XL, 86); dt.: Ludger Horstkötter, Norbert, Erzbischof von Magdeburg (1126-1134), Duisburg 1986 (Quellen u. Lit. bis 1986: 465 - 5 1 9 ) . - Ders. zu Norbert v. Xanten: AnPraem 62 (1986) 78 - 84; 63 (1987) 5 - 2 5 ; 64 (1988) 5 - 1 8 . 2 7 3 - 2 8 7 ; 65 (1989)

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Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche

1 5 2 - 1 6 1 . 1 6 2 - 1 6 5 ; 66 (1990) 4 8 - 5 3 . 1 2 3 - 2 0 2 ; 67 (1991) 5 - 2 2 . 2 3 - 4 1 . 1 0 5 - 1 0 9 . 1 7 5 - 1 8 6 . 1 8 7 - 1 9 7 ; 68 (1992) 5 - 1 6 . 1 7 - 4 2 . 4 3 - 7 5 . 1 8 5 - 1 9 5 . 1 9 6 - 2 0 8 ; 6 9 (1993) 5 - 1 6 . 1 7 - 4 1 . 4 1 - 5 0 . 5 1 - 5 9 . 6 0 - 7 8 ; 7 0 (1994) 5 - 1 0 1 . - Ludger Horstkötter, Der hl. Norbert u. die Prämonstratenser, Duisburg '1984. - Placide Lefèvre, L'épisode de la conversion de Saint Norbert: R H E 54 (1959) 2 5 2 - 2 6 5 . - François Petit, Norbert et l'origine des Prémontrés, Paris 1981. - Berent Schwineköper, Norbert v. Xanten als Erzbischof v. Magdeburg: Elm, 1984 (s.o.) 1 8 9 - 2 0 9 . - Stefan Weinfurter, Norbert v. Xanten. Ordensstifter u. „Eigenkirchenherr": AfKG 59 (1977) 6 6 - 9 8 . - Ders., Norbert v. Xanten als Reformkanoniker u. Stifter des Prämonstratenserordens: Elm, 1984 (s.o.) 1 5 9 - 1 8 3 . - Ders., Norbert v. Xanten u. die Entstehung des Prämonstratenserordens: ders.: Barbarossa u. die Prämonstratenser, Göppingen 1989, 6 7 - 1 0 0 (Sehr, zur staufischen Gesch. u. Kunst 10). Zu 2.: Kaspar Elm, Norbert v. Xanten. Bedeutung - Persönlichkeit - Nachleben: ders., 1984 (s.o.) 2 6 7 - 3 1 8 . - Hans-Werner Goetz, Eschatologische Vorstellungen u. Reformziele bei Bernhard v. Clairvaux u. Norbert v. Xanten: Clemens Kasper/Klaus Schreiner (Hg.), Zisterziensische Spiritualität. Theol. Grundlagen, funktionale Voraussetzungen u. bildhafte Ausprägungen im M A , St. Ottilien 1994, 1 5 3 - 1 7 1 (StMGBO Erg.bd. 34). - Wilfried Marcel Grauwen, Rupert van Deutz en Norbert van Gennep in de recente literatuur: AnPraem 65 (1989) 1 5 2 - 1 6 1 . - Ludger Horstkötter, Die Beurteilung des Magdeburger Erzbischofs Norbert v. Xanten in den Otto-Viten: Bischof Otto I. v. Bamberg. Reformer-Apostel oder Pommern-Heiliger. Gedenkschrift zum Otto-Jubiläum, Bamberg 1 9 8 9 , 2 6 1 - 2 9 1 (Ber. Hist. Verein Bamberg 125). - J . H. Picheier, Das Verhältnis des hl. Bernhard v. Clairvaux zu unserem Ordensgründer Norbert v. Xanten zu anderen Prämonstratensern: Schlägel intern 19 (1993) 8 4 - 1 3 2 . - Dino Santa, La personalità umana e spirituale di San Norbert da Xanten: Gedenkboek Orde van Prémontré 1 1 2 1 - 1 9 7 1 , Averbode 1 9 7 1 , 3 9 - 5 3 . - S t e f a n Weinfurter: Norbert v. Xanten im Urteil seiner Zeitgenossen: Xantener Vorträge 1 9 9 0 - 1 9 9 2 , Xanten 1994, 37-62. Zu 3.: Kaspar Elm (s.o. zu 2.). - Dietrich Claude, Gesch. des Erzbistums Magdeburg bis in das 12. J h . , Köln/Wien 1975 (Mitteidt. Forschungen 6 7 / 2 ) . - M a r i e - L u i s e Crone, Unters, zur Reichskirchenpolitik Lothars III. ( 1 1 2 5 - 1 1 3 7 ) zw. reichskirchl. Tradition u. Reformkurie, Frankfurt u.a. 1982 (EHS.G 130). - Dietrich Kurze, Christianisierung u. Kirchenorganisation zw. Elbe u. Oder: Wichmann-Jb. 30/31 (1990/91) 1 1 - 3 0 . - Franz Josef Schmale, Stud. zum Schisma des Jahres 1130, Köln/Graz 1961 (FKRG 3). - Stefan Weinfurter, Norbert v. Xanten als Reformkanoniker u. Stifter des Prämonstratenserordens: Elm, 1984 (s.o.) 1 5 9 - 1 8 4 . Zu 4.: Kaspar Elm (s.o. zu 2.). - Hl. Norbert v. Magdeburg. FS zur Erhebung des hl. Norbert. - Ludger Horstkötter, Die Feier des 900. Geburtsfestes des hl. Norbert in Deutschland im Jahre 1981: AnPraem 57 (1981) 8 1 - 1 0 0 . - D e r s . , Norbert-Patrozinien u. Stätten bes. Norbert-Verehrung in Deutschland: AnPraem 58 (1982) 5 - 3 4 . - François Petit, La Dévotion à Saint Norbert aux XVII* et XVIII« siècles: AnPraem 49 (1973) 1 9 8 - 2 1 3 . - Renate Stahlheber, Die Ikonographie Norbert v. Xantens Themen u. Bildwerke: Elm, 1984 (s.o.) 2 1 7 - 245. - Paul Emiel Valvekens, La „Canonisation" de Saint Norbert en 1582: AnPraem 10 (1934) 1 0 - 4 7 . Kaspar Elm Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche 1. Entstehung der Nordelbischen Kirche 1. Entstehung

der Nordelbischen

2. Struktur

3. Stand

(Literatur S. 615)

Kirche

A m 1. J a n u a r 1 9 7 7 t r a t die Verfassung der N o r d e l b i s c h e n E v a n g e l i s c h - L u t h e r i s c h e n K i r c h e ( N E K ) in K r a f t , und a m 0 9 . 0 1 . 1 9 7 7 w u r d e in einem Festgottesdienst i m D o m zu L ü b e c k der Z u s a m m e n s c h l u ß d e r vier n o r d d e u t s c h e n evangelisch-lutherischen Kirchen v o n - » S c h l e s w i g - H o l s t e i n , - » H a m b u r g , - » L ü b e c k und E u t i n sowie des K i r c h e n kreises H a r b u r g der H a n n o v e r s c h e n L a n d e s k i r c h e feierlich begangen. D a m i t k a m e n eine 2 5 jährige D e b a t t e und u m f a s s e n d e Vorarbeiten z u m A b s c h l u ß . Konfessionell h a t es nie Schwierigkeiten gegeben, weil es sich u m bekenntnisgleiche K i r c h e n handelte, die in verschiedenen kirchlichen Z u s a m m e n s c h l ü s s e n bereits verbunden w a r e n ( - » V e r e i n i g t e Evangelisch-Lutherische

Kirche Deutschlands

[VELKD],

-»Evangelische

Kirche

in

Deutschland, -»Lutherischer Weltbund, ö k u m e n i s c h e r R a t der Kirchen [ - » Ö k u m e n e ] ) und a u c h eine vergleichbare G e s c h i c h t e aufweisen, z. B. sind die r e f o r m a t o r i s c h e n Kirc h e n o r d n u n g e n v o n H a m b u r g , L ü b e c k und Schleswig-Holstein (sowie D ä n e m a r k ) alle v o n J o h a n n e s - » B u g e n h a g e n verfaßt. Die N o t w e n d i g k e i t zu einer Fusion e r g a b sich a u ß e r der geringen G r ö ß e der L a n d e s k i r c h e n L ü b e c k und E u t i n besonders aus d e r Si-

Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche

613

tuation im Hamburger Raum. Durch das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 waren die Städte Altona, Wandsbek und Harburg, dazu 27 Gemeinden in Hamburg staatlich eingegliedert worden, kirchlich aber bei Schleswig-Holstein oder Hannover geblieben (mit kleinen Ausnahmen). Schon damals gab es mehr national motivierte Bestrebungen, ob man die kirchlichen nicht den staatlichen Verhältnissen anpassen sollte, die aber aus verschiedenen Gründen scheiterten. Ab Anfang der 50 er Jahre wurde die Diskussion öffentlich geführt, besonders nachdem Dr. Herntrich auf einer VELKD-Synode 1953 dafür eintrat. 1959 fiel auf der Bäk bei Ratzeburg einstimmig der Beschluß der Kirchenleitungen: „Wir wollen sein eine Kirche mit einer Synode, einer Kirchenleitung, einem leitenden Bischof, einem Bischofsrat...". Bischöfe und Kirchenleitungen vermochten sich in den folgenden Jahren aber nicht zu einigen, besonders nicht auf die Zahl der Bischöfe und Sprengel (zwischen 1 und 7). Daraufhin wurde 1968 eine Intersynodale Nordelbische Kirchenkommission gebildet (mit zehn Synodalen aus jeder Vertragskirche), die 1969 einen Vertrag vorlegte, der drei Sprengel und Bischöfe mit Sitz in Hamburg, Lübeck und Schleswig und für das Kirchenamt Kiel vorsah. Nach Verabschiedung durch alle Synoden trat der (noch leicht korrigierte) Vertrag am 1. Juli 1970 in Kraft. Damit war die Nordelbische Kirche konstituiert. Die verfassungsgebende Synode brauchte 5 - 6 Jahre, bis die neue NEK-Verfassung am 1. Jan. 1977 Rechtskraft erlangen konnte. Über ein Einführungsgesetz benötigte man noch einmal drei Jahre, um alle gesetzlichen Grund-

Die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche Sprengel und Kirchenkreise

614

Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche

lagen zu schaffen, so daß erst Ende 1979 die vorläufigen von den endgültigen Organen der N E K abgelöst werden konnten. 2.

Struktur

2.1. Geographisch-parochial

(s. Karte)

Die N E K besteht aus drei Sprengein mit den historischen Bischofs-Orten Schleswig (Bischofskirche D o m ) , Lübeck (Bischofskirche Dom) und Hamburg (Bischofskirche St. Michaelis nach Übergang in St. Nikolai). Der Sprengel Schleswig (in Klammern steht der Sitz von Propst und Verwaltung, sofern nicht bereits durch Namen ersichtlich) mit den traditionellen Kirchenkreisen (früher Propsteien) Südtondern (Leck), Flensburg, Angeln (Kappeln), Husum-Bredstedt, Schleswig, Eiderstedt (Garding) und Eckernförde wurde um die hauptsächlich südlich der Eider gelegenen Kirchenkreise Norderdithmarschen (Heide), Rendsburg und Süderdithmarschen (Meldorf) erweitert, um die Größe der Sprengel nach Mitgliedern nicht zu sehr divergieren zu lassen. Ihm sind die deutschen Gemeinden in Nordschleswig angeschlossen (gegenwärtig sieben Gemeinden sowie vier städtische, die zur dänischen Volkskirche gehören). Im Sprengel Holstein-Lübeck kommen zu den traditionellen Holsteiner Kirchenkreisen Münsterdorf (Itzehoe), Rantzau (Elmshorn), Pinneberg, Neumünster, Kiel, Plön (Preetz), Segeberg und Oldenburg (Neustadt) die alte Landessuperintendentur Lauenburg (Ratzeburg) mit bisherigen Sonderrechten (die nach einem höchstrichterlichen Urteil für die NEK nicht mehr gelten), die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Eutin (erwachsen aus dem zum früheren Oldenburgischen Großherzogtum gehörenden Landgebiet des alten Lübecker Stifts) und die Evangelisch-Lutherische Kirche Lübeck als neue Kirchenkreise. Im Sprengel Hamburg wurde die Alt-Hamburger Kirche (jetzt ein Kirchenkreis mit fünf Pröpsten und vier Hauptpastoren) erweitert um die Kirchenkreise Stormarn (vier Pröpste, Verwaltung in Volksdorf), Blankenese, Niendorf, Altona und Harburg (früher zur Evangelisch-Lutherischen Kirche Hannover gehörig, „getauscht" gegen das ehemals hamburgische Cuxhaven). Die Grenzen des Sprengeis sind nicht identisch mit denen des Bundeslandes Hamburg, sondern ragen im Westen (z.B. Wedel), Norden (z.B. Norderstedt) und Osten (z.B. Ahrensburg) erheblich nach SchleswigHolstein hinein. 2.2.

Neuerungen

Diese organisatorische Vereinigung selbständiger Kirchen ohne äußeren Druck über das Gebiet von zwei Bundesländern erforderte einen nicht politischen Namen, eben „Nordelbien", der aber alte historische Wurzeln hat (Helmold von Bosau [gest. nach 1177] gebraucht bei der Kennzeichnung des Sprengeis des mittelalterlichen Erzbistums Hamburg-Bremen den Ausdruck ,Transalbingia* oder ,Nordalbingia': „ . . . pars Saxoniae, quae est trans Albiam et dicitur Nordalbingia" [Chron. Slav. 1,6]. Von 1 8 4 4 - 1 8 5 5 erschien in Kiel z . B . die historische Zeitschrift „Nordalbingische Studien" [hrsg. von G . Waitz]). So wurde etwas Neues geschaffen, wenngleich fraglich bleibt, ob dadurch das „Landeskirchentum" wirklich überwunden ist (Lange 150). In die Verfassung sind einige Akzente eingebaut, die es so kaum in anderen Landeskirchen gibt. 2.2.1. Die Hervorhebung des Kirchenkreises als Mittelinstanz darf als eine gelungene Reformidee bezeichnet werden. Der Kirchenkreis ist zugleich Selbstverwaltungskörperschaft, Aufsichts- und Verwaltungsbezirk (Art. 25-28). Dadurch, daß sogar die Finanzhoheit dem Kirchenkreis übertragen wurde, sind sie zur stabilen Säule der NEK geworden (als Kompromiß gegenüber dem Ortskirchensteuersystem in Schleswig-Holstein und der zentralen Besteuerung und Leitung der Stadt-Kirchen, die jetzt Kirchenkreise sind). 2.2.2. Die Herausstellung der Dienste und Werke auf allen Ebenen integriert die vielfältigen diakonischen, missionarischen und zielgruppenorientierten Dienste und Werke voll in die Kirche und gibt ihnen einen selbständigen Status gegenüber den Parochien z.B. als eigenständige Wahlkörper in den Synoden auf Kirchenkreis- und nordelbischer Ebene (Art. 4,43 - 4 5 ; 61-63). 2.2.3. Das Parochialpiimip ist dadurch aufgelockert, daß die Mitglieder sowohl ihre Gemeinde („Umgemeindung") wie ihren Pastor selbst wählen können (Art. 11). 2.2.4. Die hauptamtlichen Mitarbeiter sind ebenso wie die Pastoren berechtigt, über eine eigene Liste ihre Vertreter in die Synoden zu entsenden und müssen im Kirchenvorstand vertreten sein. Auch die Pröpste wählen ihre eigenen Vertreter in die nordelbische Synode. Manche sprechen

Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche

615

daher von einer „Stände-Verfassung", aber sie wirkt sich de facto kaum als solche aus (Art. 16.4; 31.2; 39.3; 71; 84). 2.2.5. Das Verhältnis von Amt und Gemeinde sowie von Ordinierten und nichtordinierten Mitarbeitern gehört zu den umstrittensten Fragen. Die neugefundenen Formulierungen der Art. 19-23 tragen daher Kompromißcharakter und sind interpretationsfähig (z.B. wie weit welche Mitarbeiter Anteil am Verkündigungsauftrag und am Beichtgeheimnis haben). 2.2.6. Die leitenden geistlichen Ämter Propst (Art. 40 + 41) und Bischof (Art. 88-93) werden auf Zeit (10 Jahre) mit Möglichkeit der Wiederwahl festgelegt, während die Pastoren sich nach 10 Jahren im Kirchenvorstand einem Gespräch unterziehen müssen und mit zweidrittel Mehrheit des Kirchenvorstandes gebeten werden können, sich innerhalb angemessener Frist um eine andere Pfarrstelle zu bemühen. 2.2.7. Der Sprengel ist ein geistlicher Aufsichtsbezirk (Art. 94,2). Er hat einen Beirat, der kaum Funktionen hat (nach der Novellierung 1989 bestehend aus den Präsidenten der Kirchenkreis-Synoden) und einen Pröpste-Konvent, der den Stellvertreter des Bischofs wählt. 2.2.8. Die gesamtkirchliche Ebene der NEK scheint eher geschwächt. „Die Nordelbische Kirche wird von der Synode, der Kirchenleitung und den Bischöfen in gemeinsamer Verantwortung geleitet" (Art. 65), also ohne Nordeibisches Kirchenamt in Kiel, das als Verwaltungsbehörde eingestuft wird (Sitz in Kiel; Art. 102ff). Die Synode hat erhebliche Vollmachten, tagt aber nur zwei- bis dreimal im Jahr. Sie wählt die Bischöfe und die Kirchenleitung. Letztere ist ein ehrenamtliches Gremium, das gewöhnlich einmal im Monat tagt und außer den Bischöfen aus sieben Laien und drei Theologen/Theologinnen bzw. Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen besteht. Einer der Bischöfe soll in einer Periode von sechs Jahren Vorsitzender der Kirchenleitung sein. Er kann neben seinen Sprengelaufgaben und den gesamtdeutschen und ökumenischen Obliegenheiten die Leitung und Repräsentation der NEK in Schleswig-Holstein und Hamburg nur schwer wahrnehmen. Die Novellierung von 1989 versuchte daher, einen vierten kirchenleitenden Bischof zu installieren, kam aber in der Synode damit nicht zum Zuge. Diese hat durch eigene Vorschläge versucht, die Leitungsebene der NEK zu stärken. 2.2.9. Finanziell ist durch das Finanzgesetz ein Ausgleich gefunden, der Kirchen im Ballungsraum Hamburg, in den Großstädten sowie in den Kirchenkreisen mit reicher historischer Bausubstanz und mit geringer Bevölkerungsdichte prozentuale Zuschläge gibt, die sich bewährt haben. Ansonsten bleiben 70% der Einnahmen bei Kirchengemeinden und -kreisen und 30% bei den Nordelbischen Einrichtungen, für Pensionen der Pastoren und Beamten sowie als Hilfe für ökumenische, missionarische und diakonische Ziele und Einrichtungen. Leider ist es noch nicht gelungen, in Hamburg und Schleswig-Holstein einen einheitlichen Hebesatz für die Kirchensteuer zu erreichen (in Hamburg 8 % , in Schleswig-Holstein 9 % ) , obwohl die Verfassung dieses vorschreibt (Art. 111). 3. Stand Die neue Verfassung ist sicher „kein Jahrhundertwerk" (Göldner/Blaschke 22), aber sie hat sich im großen und ganzen bewährt. Das hat die Novellierung von 1989 gezeigt, die nur geringe Veränderungen in den Funktionen einiger Gremien erbrachte, aber keine grundsätzliche Korrektur gegenüber den Demokratisierungstendenzen der Gründerzeit in den siebziger Jahren, wie einige es gerne gehabt hätten. Der Prozeß des Zusammenwachsens dauert an. Besonders der Sprengel Hamburg ist dabei, eigene Strukturen für den Ballungsraum zu entwickeln. Durch die unterschiedlichen Strukturen in den beiden Bundesländern und die drei Sprengel wird es schwierig bleiben, eine einheitliche Leitung effektiv zu gestalten und ein gemeinsames kirchliches Bewußtsein zu formen. Dennoch ist es ein kirchen- und verfassungsgeschichtliches Ereignis, daß mehrere selbständige Kirchen ohne politischen Anpassungsdruck (wie 1 9 1 8 , 1 9 3 3 und 1945) eine eigenständige Evangelisch-Lutherische Partikularkirche mit einer ganz neuen synodal erstellten Verfassung verwirklicht haben (s. Diagramm auf S. 616). Literatur Klaus Blaschke, Die Verfassung der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche: ZEvKR 22.314 (1977) 254-281. - Horst Göldner/Ders., Verfassung der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche. Erläuterungen, Kiel 1978. - Hartmut Lange, Die Nordelbische Ev.-Luth. Kirche. Vorgesch. u. rechtliche Gliederungsprobleme, Diss. Kiel 1972. - Jens Motschmann, Kirche zw. den Meeren. Beitr. zu Gesch. u. Gestalt der Nordelbischen Kirche, Heise 1981 (Steinberger Stud. 2). Niels Hasselmann

616

Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche

Aufbau der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (Artikel 16, 31, 71 Verfassung)

Nordelbische Kirche X

Kammer der Dienste und Werke

Synode

HauptausschuB

RechnungsprüfungsausscnuQ Rechnungsprüfungsamt

Berufungen — Kirchenleltung

(140 Mitglieder)

(10 von der Synode aus ihrer Mitte gewählte Mitglieder und 3 Bischöfe)

hauptamtliche Mitarbeiter (Wahlgremien)

1

Wahl

Fakultäten

Nordelbieche« Kirchenamt

Nordschleswigsche Gemeinde

27 Kirchenkreise r Kirchenkreissynoden 1

Pastorenkonvent Mitarbeiterkonvent Konvent der Dienste und Werke (Wahlgremien)

(44-154 Mitglieder)

Berufungen — Kirchenkreisvorstände ( 5 - 7 von der Kirchenkreissynode aus ihrer Mitte Gewählte sowie Propst und Stellvertreter)

Î

Wahl

676 Kirchengemeinden Kirchenvorstände

Î

Ausschüsse Gemeindeversammlung

Wahl

Wahlberechtigte Gemeindeglieder (ab 16 Jahre)

Normannen (Literatur S. 619)

Die Normannen waren in ihren Heimatländern schon früh mit dem Christentum konfrontiert worden. Missionsversuche werden ansatzweise bereits vor der Wikingerzeit stattgefunden haben, wie etwa um 700 durch -»Willibrord im heutigen Dänemark, doch stellten sich Erfolge erst langsam im Anschluß an das Wirken - • Ansgars im 9. Jh. ein. Dabei haben manche kostbare Geschenke seitens der Kirche und/oder christlicher Herrscher an nordische Könige im Sinne einer Missionsdiplomatie den Weg geebnet. Aber zur Zeit Adams v. Bremen (gest. ca. 1081) gab es immer noch verschiedenenorts in Skandinavien ein ausgeprägtes Heidentum, so etwa mit blutigen Opfern im Umfeld des Tempels von Alt-Uppsala im ausgehenden 11. Jh. Näher zum Kontinent konnte Harald Blauzahn (-»Dänemark) schon Ende des 10. Jh. stolz auf einem Runenstein in Jelling, Ostjütland, wo er ein bedeutendes heidnisches Denkmal seiner Vorfahren zu einem christlichen Zentrum umgestaltete, vermerken: „König Harald ließ diese Denkmäler errichten nach seinem Vater Gorm und seiner Mutter Thyra, der Harald, der Dänemark ganz unterwarf und Norwegen und die Dänen zu Christen machte." Der Stein trägt auf einer weiteren Seite die früheste Darstellung des Gekreuzigten in Nordeuropa, allerdings mit Odinselementen, d.h. nicht am Kreuz, sondern im Geäst eines Baumes. Einen solchen Übergangshorizont repräsentieren auch einige Gußformen, in denen offensichtlich ohne Gewissensprobleme jeweils gleichzeitig heidnische und christliche Symbole gegossen werden konnten. Die genannten Beispiele deuten an, daß es langer Zeit bis zur endgültigen Rezeption des Christentums und tatsächlichen Aufgabe des Heidentums im Norden selbst bedurfte. Archäologisch zeigt sich das allmählich vordringende Christentum in der Ost-WestAusrichtung der Bestattungen, im Aufhören der heidnischen Beigabensitte, in kleinen, demonstrativ als Anhänger getragenen Kreuzen und Kruzifixen, in Runeninschriften wie „Er starb in weißen Kleidern" ( = getauft) sowie in Kirchenbauten, die aber in der Form der charakteristischen Stabkirchen im wesentlichen erst dem 11. Jh. angehören. Schon für das 9. Jh. bezeugte Kirchenbauten sind noch nicht gefunden worden. In den wikingischen Expansionsgebieten sind prinzipiell vergleichbare Anzeichen für den Wandel vorauszusetzen. Doch muß unterschieden werden zwischen Gebieten, die lediglich zu (Raub- und) Handelszwecken befahren wurden, solchen, in denen vorübergehend Niederlassungen und Herrschaften errichtet wurden, und schließlich denjenigen, die auf Dauer in die nordische Welt einbezogen wurden. Auf den Färöern trafen die ersten Nordleute im 9. Jh. auf irische Eremiten, die aber schnell die Flucht ergriffen. Laut Dicuil sollen sie dort schon seit dem 8. Jh. ein zurückgezogenes Leben geführt haben. Auch auf -»Island stießen die nordischen Siedler auf Eremiten. Davon zeugt noch der Name der im Südosten vorgelagerten Insel Papey ( = Pfaffeninsel). Andere Anhaltspunkte sind dafür im Gelände bisher nicht festgestellt worden. Erst fünf Generationen nach der Entdeckung Islands wurde dort im Jahre 1000 folgender Althingbeschluß gefaßt: „Alle Leute auf Island sollten getauft werden und an einen Gott glauben. Aber wegen der Kindesaussetzung und des Pferdefleischessens sollten die alten Gesetze beibehalten werden. Opfern sollte man heimlich, wenn man wollte" (Das Buch von der Einf. des Christentums [Kristni saga], Kap. 13). Etwa gleichzeitig durfte Erichs des Roten bereits christliche Frau Thjodhild auf dem Familienhof Brattahlid, Westgrönland (-»Grönland), eine erste kleine Kirche bauen, jedoch nur weit vom Wohnhaus entfernt in der äußersten Ecke der Hauswiese. Um 1000 bezeugen auch einige Skaldenstrophen Pilgerfahrten von Island nach Rom, und um die Jahrtausendwende sind ebenfalls schon die Namen Peter und Paulus im Norden belegt. Seit dem hohen Mittelalter gehörte eine kleine Kirche zum üblichen Bild eines großen isländischen Einzelhofes.

618

Normannen

Hochkreuz von Middleton, Yorkshire

Weniger nachhaltig vor Ort waren die Begegnungen mit dem Christentum in den übrigen normannischen Expansionsgebieten, in denen es nicht zu dauerhaften Landnahmen gekommen ist. So scheint die byzantinische Kirche trotz der vielen Ostfahrer und der Skandinavier in der kaiserlichen Leibgarde keinerlei Einfluß erzielt zu haben. s Runengraffiti in der Hagia Sophia und ein vereinzelter byzantinischer Reliquienbehälter aus einem schwedischen Fund sind eher als Kuriosa anzusehen. Nur bruchstückhaft ist auch die Konfrontation mit dem bereits seit längerem christianisierten insularen Westen, d.h. mit den angelsächsischen Königreichen (-»England)

Normannen

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und mit dem spätkeltisch-frühchristlichen -»Irland zu beleuchten. Einerseits wurden hier Kirchen und Klöster fast systematisch geplündert, und das R a u b g u t gelangte als Beute in wikingische Siedlungen und Gräber N o r d e u r o p a s . Andererseits w u r d e aber auch ein reger Handelsverkehr betrieben. D a f ü r ließ sich mancher heidnische K a u f m a n n primsignieren, d. h. ohne Taufe mit d e m Kreuz bezeichnen, um mit einem christlichen Partner besser Geschäfte betreiben zu können. Aber nur in den seltensten Fällen wird das als wirkliche Vorstufe zur späteren A n n a h m e des Christentums geführt haben. Das Spannungsfeld zwischen den beiden Glaubensrichtungen gibt sich besonders deutlich auf d e m Hochkreuz von Middleton, Yorkshire, zu erkennen. Auf diesem an sich der äußeren Form nach christlichen D e n k m a l des 10. J h . ist a m Schaft ein kriegerischer N o r d m a n n in seinem G r a b mit heidnischer Ausstattung dargestellt: Helm, Kurzschwert, Langschwert, Lanze, Streitaxt und Beigefäß (s. Abb.). Im wikingischen York des 10. J h . wurden auch silberne Pennies geprägt, die eine Referenz an St. Peter mit einem Bild von T h o r s H a m m e r kombinieren. Solche fast harmonischen Verbindungen beleuchten den Pragmatismus der Missionszeit, zu d e m offensichtlich o f t eine notwendige Rückversicherung gehörte. Erst nach der Stabilisierung nordischer Herrschaften, z. B. in York und Dublin, und der Anpassung ihrer Könige an ihre neue Umwelt ist es zu einer dauerhaften Christianisierung g e k o m m e n . Deren bedeutendster Exponent ist Knut der G r o ß e gewesen, der zeitweilig über ein Nordseereich mit D ä n e m a r k , England und Teilen N o r wegens im frühen 11. Jh. gebot. Im 10. und 11. Jh. gab es auch eine intensive gegenseitige Beeinflussung wikingischer und frühchristlicher Kunst in England. Früher und intensiver sind die Kontakte mit der kontinentalen Kirche gewesen. Bereits 826 w u r d e der aus seinem Land vertriebene Däne H a r a l d nach seiner T a u f e in Ingelheim mit Rüstringen belehnt (Ann. regn. Franc.). Das änderte jedoch zunächst nichts d a r a n , d a ß auch weiterhin kontinentale Städte und kirchliche Z e n t r e n von Wikingern heimgesucht wurden: 8 3 4 - 8 3 7 Dorestad (Wijk bij Duurstede), 841 R o u e n , 844 Sevilla, 845 H a m b u r g , 845 Paris, 856 Tours und 882 rheinische Städte. Laut D u d o s Historia Normannorum soll 860 sogar versucht worden sein, R o m als „ H a u p t der Welt" einzunehmen, doch wurde stattdessen versehentlich Luna an der Grenze des Kirchenstaates erobert. Erst Rollos Belehnung mit der N o r m a n d i e 911 f ü h r t e durch Legalisierung bereits bestehender Verhältnisse zur Entstehung eines normannischen Herzogtums im christlichen Reich des französischen Königs. Im J a h r 826 waren auch schon schwedische Gesandte bei Ludwig dem F r o m m e n mit der Bitte um Entsendung von Glaubensboten erschienen (-»Schweden), da man bis dahin nach Dorestad reisen m u ß t e , um getauft zu werden. D a m i t w a r die Basis gelegt f ü r Ansgars Wirken. Er und seine Nachfolger reisten auf den von Kaufleuten vorgezeichneten Wegen, so d a ß sich die ersten Erfolge an den großen Handelsplätzen einstellten. Z w a r w u r d e die Mission durch manche Rückschläge unterbrochen, bei denen es allerdings trotz aller Anpassungsprobleme nie zu einem -»Synkretismus gekommen ist, doch konnten die Verbindungen seit der Errichtung des Bistums - » H a m b u r g 831 nicht mehr gänzlich zerstört werden, zumal bald auch junge nordische Zöglinge auf d e m Kontinent zu Priestern ausgebildet wurden. N a c h mehr als zweieinhalb J a h r h u n derten ständiger Bemühungen wurde der Norden Europas schließlich zu einem festen Bestandteil des christlichen Abendlandes.

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Nonnen I

(1951) 1 - 5 6 . - Kurt-Ulrich Jäschke, Die Anglonormannen, Stuttgart u.a. 1981. - Herbert Jankuhn, Das Missionsfeld Ansgars: FMSt 1 (1967) 213 - 2 2 1 . - Knud J . Krogh, Viking Greenland, Kopenhagen 1967. - Wolfgang Lange, Stud. zur christl. Dichtung der Nordgermanen 1 0 0 0 - 1 2 0 0 , Göttingen 1958. - Arndt Ruprecht, Die ausgehende Wikingerzeit im Lichte der Runeninschr., Göttingen 1958. - Peter Sawyer, Kings and Vikings. Scandinavia and Europe AD 7 0 0 - 1 1 0 0 , London/ New York 1982. - Gro Steinsland (Hg.), Words and Objects. Towards a Dialogue Between Archaeology and History of Religion, Oslo 1986. - Wikinger, Waräges, Normannen. Die Skandinvier u. Europa, hg. v. Else Roesdahl, Berlin 1982. - Horst Zettel, Das Bild der Normannen u. der Normanneneinfälle in westfränkischen, ostfränkischen u. angelsächsischen Quellen des 8 . - 1 1 . Jh., München 1977.

Torsten Capelle

Nonnen I. Philosophisch II. Ethisch III. Die theologische Begründung ethischer Normen

S. 628 S. 637

I. Philosophisch 1. Bedeutungsdimensionen des Norm-Begriffs 2. Norm als Grundbegriff ethischer Reflexion 3. Die Funktion von Normen 4. Das Problem der Normenbegründung 5. „Deontologische Teleologie" (Literatur S. 626)

Die Übersetzung des lateinischen Ausdrucks norma mit „Winkelmaß", „Richtschnur" verweist auf die Herkunft des Begriffs aus der Bautechnik (Vitruv, De arch. IX, Praef.); bereits durch Cicero, der Kavcbv (Maßstab, Regel) mit norma und regula übersetzt (De orat. 3,190; De lege 2,61), findet der Begriff Eingang in die rechtsphilosophische Reflexion. In der Moralphilosophie dagegen gewinnt der Begriff der Norm (abgesehen von gelegentlichen früheren Erwähnungen) erst im 19. Jh. zunehmend an Bedeutung, um dann — im 20. Jh. und vor allem im deutschsprachigen Bereich - zu einem Grundbegriff ethischer Reflexion zu werden; im angelsächsischen Sprachraum werden statt „Norm" vor allem die Ausdrücke „Prinzip" (principle) oder „Regel" (rule) gebraucht. 1. Bedeutungsdimensionen

des

Norm-Begriffs

Der Begriff der Norm wird auf unterschiedlichen Bedeutungsniveaus verwendet. In einem ersten Sinn wird als Norm angesehen, „was in der Regel tatsächlich geschieht" (Kelsen 3), bzw. wie „das, was so oder auch anders sein kann, im allgemeinen vorkommt (Normalität)" (Krings, Norm 61 ff); die Norm fungiert insofern als ein (empirisch zu ermittelnder) Maßbegriff, der es erlaubt, Ereignisse, Zustände, Dinge als normal oder anomal zu klassifizieren. Davon unterschieden sind Normen im technisch-pragmatischen Sinn (DIN-Normen, Spielregeln, Regeln für korrektes Verhalten); sie beruhen auf Konventionen und sind in der Regel nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit festgelegte Standards. Eine weitere Bedeutungsvariante des Ausdrucks „Norm" bildet seine Gleichsetzung mit „Gesetz". Allerdings ist hier zu unterscheiden: nur Gesetze, die präskriptiven Charakter haben, können im engeren Sinne als Norm gelten. Dies gilt etwa für die Gesetze eines Staates, die durch eine Norm-Autorität erlassen und in der Regel zugleich mit einer Sanktion für Normverletzungen versehen sind. Dagegen sind die Gesetze der Natur deskriptiv; sie beschreiben Regelmäßigkeiten in den Naturvorgängen (Wright 18ff). Allerdings würde eine Gleichsetzung von „präskriptiv" mit „normativ" bzw. von „Präskription" mit „Norm" den Gebrauch des Ausdrucks „Norm" zu sehr einschränken (ebd.): Die Gesetze der -»Logik gelten als Normen, obwohl sie weder präskriptiv noch deskriptiv sind, sondern die Regeln richtigen Denkens festlegen-, einen damit vergleichbaren Normtyp bilden die Regeln der Grammatik (ebd. 22). In rechtlicher und moralischer Hinsicht drücken Normen Objektivierungen des rechtlich oder moralisch Erlaubten, Ge- oder Verbotenen aus. Sie können sich auf Ziele oder

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Formen des Handelns beziehen oder Handlungen in bezug auf bestimmte Situationen/Umstände (bedingte Normen) oder unabhängig von bestimmten Situationen (unbedingte Normen) als erlaubt, ge- oder verboten qualifizieren. Sofern Normsätze zugleich die Bedingungen angeben, unter denen sie gelten (z.B.: Bedürftigen sollst du helfen), und somit den Fall ihrer Anwendbarkeit beschreiben (z. B.: hier ist ein Bedürftiger, hilf ihm), haben sie deskriptiven Gehalt (Eckensberger 133ff); als präskriptive Setzungen dagegen, die bestimmte Handlungen ge- oder verbieten, haben Normen imperativischen Charakter. Gegenüber Sätzen, die ausschließlich deskriptiven Gehalt haben, d. h. feststellen oder beschreiben, was der Fall ist, und die daher wahr oder falsch sein können, ist es auf Grund des imperativischen Charakters der Normen sinnvoll, in bezug auf Normsätze statt von „wahr/falsch" von „gültig/ungültig" zu sprechen (Morscher 453); an Stelle der Ausdrücke „gültig" bzw. „Gültigkeit" werden auch die Termini „gelten" bzw. „Geltung" gebraucht. Die logischen Beziehungen zwischen Normsätzen, die als solchedeontischePrädikatoren (z.B. „erlaubt", „geboten", „verboten", „sollen", „müssen") enthalten, bilden den Gegenstandsbereich der „deontischen Logik" (s. Wright, Kutschera) bzw. der „ethischen Modallogik" (Lorenzen 22ff). 2. Norm als Grundbegriff

ethischer

Reflexion

Als Grundbegriff ethischer Reflexion wird der Begriff der Norm erstmals in der „Ethik" W. Wundts ausgewiesen. Wundt definiert „Norm" als „reine Willensregel, die dem Sein ein Sollen gegenüberstellt" (Wundt II,177ff), und er unterscheidet zwischen „Grundnormen", die „die Bedeutung eines praktischen Axioms haben" (167) und konstitutiv für Sittlichkeit sind, und abgeleiteten Normen (z.B Rechts-Normen). In der Geschichte der Ethik sind nach Wundt an Stelle von Normen vor allem zwei Klassen von Allgemeinbegriffen verwendet worden: Pflicht- und Tugendbegriffe; demgegenüber hebt er ausdrücklich „die primäre Natur der Norm und die im Vergleich damit sekundäre der Pflicht- und Tugendbegriffe" hervor (182). Obwohl das Werk Wundts bald in Vergessenheit geriet, bestimmt die Überzeugung vom Vorrang des Norm-Begriffs gegenüber den Begriffen der -»Pflicht und der -»Tugend die neuere Diskussion. Allerdings ist die Bedeutung des Norm-Begriffs terminologisch nicht eindeutig festgelegt. Unter Normen bzw. Norm-Sätzen werden verstanden: alle Regelungen, die den Menschen fordernd entgegentreten (Weischedel); Gebote, Verbote, Erlaubnisse (Riedel); allgemeine Sätze, „in denen unabhängig von der Individualität der Handelnden zu bestimmten Zwecksetzungen aufgefordert wird" (Schwemmer, Grundlagen 83 £); universelle Aufforderungen (Oelmüller, Normenbegründung 147); „.allgemeine* Imperative, die sich mit Hilfe einer Variablen an jedermann wenden" (Lorenzen 22); Handlungsanweisungen (-maximen) oder Werturteile (-Standards), für die allgemeine Anerkennung gefordert wird (Habermas 262; Albert 492; Lübbe, Begründbarkeit 180); praktisch regulative Ideen (Oelmüller, Normenbegründungen 167); einschränkend gebraucht H. Krings den Begriff der Norm: Normen seien Maßbegriffe, die „eine Funktion für die Legalität einer Handlung", nicht aber eine „direkte Funktion für das Gute oder gar für das Beste" haben (Freiheit 596ff). 3. Die Funktion von

Normen

Die durchgängige „normative Verfaßtheit des konkreten Lebens einer... Gesellschaft" (Kluxen 22) und damit die faktische Geltung von Normen (Brauch, Sitte, Konventionen, Gesetzesvorschriften, moralisch verpflichtende Regeln) bilden einen Gegenstandsbereich soziologischer Forschung: Ihrer Funktion nach werden Normen auf Grund ihres imperativischen Charakters als „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen" (Luhmann, Normen 537) betrachtet, die für (Teil-)Bereiche des sozialen Systems (spezifische) Erwartungsmuster festlegen; die faktische Geltung bestehender Normen wird nicht reflexiv begründet, sondern - ebenso wie ihre Entstehung — durch die Beobachtung des Verhaltens von Normproduzenten und Normadressaten festgestellt. Entsprechend läßt sich auch die Legitimität geltender Rechtsnormen durch die Beschreibung „rechtlich

geordnete(r) Verfahren" (Luhmann, Legitimation 7) ausweisen, durch die Normerzeugung, Normänderung und Normanwendung geregelt sind. - Im Unterschied zur soziologischen Betrachtungsweise wird es dagegen als Aufgabe der praktischen Philosophie (wie auch der Moraltheologie) angesehen, nicht bei einer Beschreibung unmittelbar handlungsorientierender Normen und ihrer „Stellung im Variablengefüge gesellschaftlicher Systeme" (Luhmann/Pfürtner 8) stehenzubleiben, sondern Gesichtspunkte für die Prüfung, Begründung und Rechtfertigung von Normen im Rückgang auf die ihnen zugrundeliegenden (moralischen) „Prinzipien" (Patzig, Ethik 79) oder „Grundnormen" (Kamiah 96) zu entwickeln, denen Unbedingtheit und Allgemeingültigkeit zukommen. 4. Das Problem der

Normenbegründung

Eine Theorie der „Grundnormen des Moralischen" wurde — in kritischer Auseinandersetzung mit dem ,Formalismus' der Kantischen Ethik - erstmals von F. E. Beneke aufgestellt. Für ihn sind Normen allgemeingeltend und verpflichtend, da sie als Ausdruck „der tiefsten Grundverhältnisse der menschlichen N a t u r " (247) zu verstehen sind. Sie werden nach Beneke durch die „psychologische Zergliederung" der Natur der menschlichen Seele gewonnen und dienen der Bewertung der Gegenstände (Güter, Zwecke) des Begehrens; das moralische Gesetz als Inbegriff aller moralischen Normen bildet daher die „allgemein-gleiche, allgemein-gültige N o r m der Werthe" (70). — Unter veränderten Vorzeichen werden diese Überlegungen gegen Ende des 19. Jh. erneut thematisch. Für Chr. Sigwart stellen sittliche Normen die unbedingt gültigen „Normal-Gesetze des Wollens" dar (565), da die „natürlichen Willensrichtungen des Menschen auf die Verwirklichung der Sittlichkeit" angelegt seien; die Wahrheit ethischer Überzeugungen sieht er darin begründet, daß die „obersten und unbedingten Normen unseres Wollens" durch die „Idee eines schlechthin einheitlichen allumfassenden wollenden Selbstbewußtseins ermittelt" seien (585). Nach W. Windelband werden durch die „normative Gesetzgebung des logischen, des ethischen und des ästhetischen Bewußtseins" bestimmte Zustände des Seelenlebens als der logischen, ethischen und ästhetischen Normalität entsprechend ausgezeichnet (Präludien 59ff); dabei wird dem „Wert der Normalität", der von allen anerkannt werden soll, „Allgemeingültigkeit" zugesprochen. Die Geltung anerkannter Werte beruht nach Windelband grundsätzlich auf dem von ihm postulierten „Normalbewußtsein" (Lehrbuch 566), das die Regeln (Normen) für die Beurteilung von Werten hervorbringt. Das damit vorgegebene Begründungsverhältnis von N o r m und Wert wurde im 20. Jh. - vor allem durch die Wertethik - in Frage gestellt. Bereits E. —>Husserl vertrat die Auffassung, daß die „Normierung (des Sollens)" (45) Werturteile voraussetzt. M . —>Scheler bestreitet, daß (Grund-)Normen „letzte ursprüngliche Tatbestände des sittlichen Lebens" seien (224), vielmehr seien sie durch die vorgängig gegebene apriorische Rangordnung der Werte begründet (30); der Gehalt der Normen sei Ausdruck idealer Sollensinhalte, deren Geltung auf —•Werten beruhe (224). Allerdings zeigt nach Scheler bereits die Notwendigkeit einer Normierung idealer Sollensinhalte an, daß „das unmittelbare Gefühl für die Werte, auf die sie (die Sollensinhalte) zurückgehen, sich verdunkelt hat oder wenigstens das Streben eine diesem Wertgefühl entgegengesetzte Richtung h a t " (223). - Auf die Begründungsfunktion der Werte für Normen wird auch in der Gegenwart hingewiesen, ohne allerdings den Wertbegriff - wie in der Wertethik - mit ontologischen Konnotationen zu versehen (Lenk); den Zusammenhang von N o r m - und Wertbegriffen betont auch A. Pieper, nach der der deskriptive Gehalt einer (ethischen oder ästhetischen) N o r m einen Wert bezeichnet, so daß (ethische und ästhetische) Normen als „axiologischnormative Begriffe" zu verstehen sind (Norm 1013). Dagegen grenzt M . Riedel Normen und Werte gegeneinander ab: Normen seien „im Kern personale Aufforderungen, Werte hingegen sachliche Anforderungen im weitesten Sinne des Wortes" (Norm 99). In ähnlicher Weise unterscheidet W. K. Frankena zwischen Verpflichtungsurteilen, die zugleich Normsätze sind, und Werturteilen: Moralische Normen sagen aus, „daß eine bestimmte

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Handlung oder Klasse von Handlungen moralisch richtig, falsch, geboten oder pflichtgemäß ist, daß man sie ausführen sollte oder nicht"; demgegenüber beziehen sich moralische Werturteile nach Frankena nicht auf Handlungen oder Klassen von Handlungen, sondern auf „Personen, Beweggründe, Absichten, Charakterzüge... und sagen von ihnen, daß sie moralisch gut, schlecht, tugendhaft, lasterhaft, verantwortlich, tadelnswert, beachtenswert usw. sind" (Ethik 27). Moralische Verpflichtungsurteile (Normsätze) sind nach Frankena — in Übereinstimmung mit C.D. Broad (206f) - entweder deontologisch (zo ¿¿ov = die Pflicht), unter Absehung von den Handlungsfolgen, oder teleologisch (ro XEXOQ = der Zweck, das Ziel), d.i. im Hinblick auf die durch die (gebotene) Handlung zu verwirklichenden Zwecke oder Werte, begründbar (Frankena 32). Die Unterscheidung findet sich der Sache nach bereits bei F. Paulsen, der in diesem Zusammenhang vom „Gegensatz der formalistischen und teleologischen Moralphilosophie" spricht (296). Während die formalistische Moralphilosophie, als deren Repräsentanten Paulsen -»Kant nennt, „jeden inneren Zusammenhang zwischen den sittlichen Normen und den Gütern überhaupt" ablehne und allein die „Gesinnung" als Begründungsinstanz sittlicher Normen anerkenne, behaupte die teleologische Moralphilosophie einen inneren Zusammenhang zwischen Norm- und Zweckwerten (Gütern). (Im Gegensatz zu Paulsen, für den die beiden Typen der Ethik komplementär sind, da die formalistische Ethik eine subjektive Würdigung der Person, die teleologische dagegen die objektive Wertung von Handlungen ermögliche [298], hat Max -»Weber den Gegensatz der formalistischen und teleologischen Moralphilosophie durch die Entgegensetzung von „Gesinnungsethik" und „Verantwortungsethik" verschärft [167]. Den Versuch einer deontologischen Normenbegründung hat im 20. Jh. vor allem D. Ross mit dem Aufweis von „prima facte duties" unternommen, die sich nach Ross aus den grundlegenden Beziehungen ergeben, in denen Menschen untereinander stehen (19ff). Die teleologische Normenbegründung dagegen hat ihre konsequenteste Ausformung im Rahmen des -»Utilitarismus erhalten. Die zuerst von F. Hutcheson aufgestellte, dann von J. Bentham als utilitaristisches Normierungsprinzip eingeführte Formel „das größte Glück der größten Zahl" nennt als Kriterium für die Beurteilung moralischer Verpflichtungsurteile die Maximierung des Gesamtnutzens für alle Betroffenen. Das Normierungsprinzip wird angewandt sowohl bei der Uberprüfung von Verpflichtungsurteilen, deren Gegenstand einzelne Handlungen sind (Handlungsutilitarismus), als auch in bezug auf Verpflichtungsurteile, die Regeln ausdrücken, nach denen bestimmte Klassen von Handlungen als erlaubt, ge- oder verboten charakterisiert werden (Regelutilitarismus; Hoerster). Worin der zu bewirkende Nutzen besteht, wird durch eine Wertlehre festgelegt; als (nicht-moralische) Werte, an denen sich der zu bewirkende Nutzen bemißt, gelten: Glück, Vergnügen, Freude (pleasure) (hedonistischer Utilitarismus; J. Bentham, J.St. Mill); eine Pluralität höchster Werte, die in sich gut sind (idealer Utilitarismus; G.E. Moore); die Befriedigung menschlicher Wünsche, Bedürfnisse, Interessen (Präferenz-Utilitarismus; P. Singer). Nach J. Rawls bleibt allerdings im Rahmen der utilitaristischen Theorie weitgehend ungeklärt, nach welchen Regeln der Gesamtnutzen auf die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft verteilt wird; zudem geht für ihn der Begriff des Guten (Wert) dem des Rechten voraus. Der eine wohlgeordnete Gesellschaft kennzeichnende Zustand einer Kongruenz des Gerechten und Guten erfordert daher nach Rawls, daß Normen im Rückgang auf das Prinzip der Gerechtigkeit als Fairness begründet werden (Theorie 433ff). Das Interesse an einer „Rehabilitierung der praktischen Philosophie" (Riedel) führte im Ausgang der 60er Jahre zu neuen Verfahren der Prüfung, Rechtfertigung und Begründung von Normen. Als Aufgabe der Ethik wird in der „konstruktiven Ethik" (Lorenzen/Schwemmer) der sogenannten Erlanger Schule „Normenbegründung zum Zwecke der Konfliktbeseitigung" (Schwemmer) angesehen: Da durch Normen jeweils konkrete Zwecksetzungen begründet werden, sollen im Fall eines Normenkonflikts in

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praktischer Beratung, in der die an der Beratung Beteiligten ihre Subjektivität transzendieren („Prinzip der Transsubjektivität"), miteinander verträgliche „Supernormen" gesucht werden, um dann zu diesen Supernormen „Subnormen" aufzustellen, die ihrerseits miteinander verträglich sind („Moralprinzip") (Lorenzen/Schwemmer 88). Eine Norm gilt dann als begründet, „wenn sie als eine Subnorm einer Supernorm aufgezeigt ist, die mit den anderen befolgten Supernormen verträglich ist" (Schwemmer, Grundlagen 88). - Auch für die Diskursethik (K.-O. Apel, J. Habermas) liegt das Ziel moralischen Argumentierens in der Auflösung praktischer Widersprüche (Interessenkonflikte) durch Konsensbildung über Normen. Nach Apel erfolgt konsensuale Normenbildung in einem zweistufigen Verfahren. Im Ausgang vom Apriori der Kommunikationsgemeinschaft wird durch transzendental-pragmatische Reflexion die Unhintergehbarkeit der Forderung konsensualer Normbegründung, die als Grundnorm (Metanorm) gilt, letztbegründet. Das „Postulat der Realisierung der idealen Kommunikationsgemeinschaft" (Apel, Transformation 434) bildet das regulative Prinzip, unter dem dann im realen praktischen Diskurs die Überprüfung der Konsensfähigkeit situationsbezogener Normen erfolgt. Die Einsicht, daß „die Geltung einer Norm auf dem Anspruch diskursiver Begründbarkeit" beruht, führt bei Habermas zur Grundlegung einer „universalistischen Sprachethik" im Rekurs auf die „Logik des praktischen Diskurses" (Habermas/Luhmann 119). Im Gegensatz zu Apel schließt Habermas die Möglichkeit einer reflexiven Letztbegründung normativer Ethik aus; als Moralprinzip gilt der als Argumentationsregel verstandene „Universalisierungsgrundsatz", nach dem Normen als ungültig ausgeschlossen werden, die nicht die „qualifizierte Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen finden könnten", während der diskursethische Grundsatz besagt, „daß jede gültige Norm die Zustimmung aller Betroffenen, wenn diese nur an einem praktischen Diskurs teilnehmen könnten, finden würde" (Habermas, Moralbewußtsein 73.132). Beide Grundsätze zeigen an, daß die Diskursethik lediglich die „Prozedur" angibt, die die „Unparteilichkeit der Urteilsbildung garantieren soll"; die Inhalte normativer Setzungen dagegen (Grundnormen des Rechts und der Moral) werden nach Habermas durch die Diskursethik nicht vorgegeben, sondern sind abhängig von realen Diskursen (ebd. 132f.96ff). - Gegenüber dem Versuch transzendental-(bzw. universal-)pragmatischer Normenbegründung durch die Diskursethik zeigt H. Krings, daß der Universalisierungsgrundsatz zwar Kriterium für die Wohlbegründetheit von Normen, nicht aber deren Geltungsgrund sein kann (Krings, Struktur). Für ihn erfordert die transzendentale Begründung von Normen die Bezugnahme auf die Freiheit des Menschen als sittlicher Person (Autonomie): Die Anerkennung der Freiheit des anderen als Ausdruck der eigenen Freiheit bildet nach Krings den ersten Geltungsgrund für die Geltung handlungsleitender und -bestimmender Normen (Krings, Norm). 5. „Deontologische

Teleologie"

Seit der 2. Hälfte des 19. Jh. gewinnt der Normbegriff auch moraltheologisch zunehmend an Bedeutung. Gegenüber der „subjektivistisch-relativistische(n) Theorie" Kants, der fälschlicherweise die „Norm der Moralität... aus der Vernunft allein" abgeleitet und zudem mit dem kategorischen Imperativ ein nur formales Kriterium der moralischen Beurteilung aufgestellt habe, betont A. Stöckl den „doppelten Charakter" der Norm: Sie ist einerseits als Imperativ (norma imperata), andererseits aber als inhaltlich bestimmte „Richtschnur" des Handelns (norma directiva) zu begreifen (Stöckl 347 f). Geltungsgrund der Normen ist „die natürliche sittliche Ordnung" (lex naturalis); die „letzte und höchste Norm" aber ist nach Stöckl in „letzter Instanz im göttlichen Verstände gegründet" (lex aeterna) (355). Der damit angezeigte Begründungszusammenhang von Norm und Gesetz wird in grundsätzlich ähnlicher Weise auch in späten Werken zur Moralphilosophie auf aristotelisch-scholastischer Grundlage in Anspruch genommen. Unter dem Einfluß der modernen Wertethik unterstreicht Th. Steinbüchel dagegen, daß der Inhalt der sittlichen Norm als sittlicher Wert zu bestimmen ist; da der Norm-Cha-

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rakter als Sollensanspruch erfahren wird, sind „Werterfassung und Normerlebnis als differente Erlebensmomente" beschreibbar (vgl. auch Reding). Mit der seit den 60er Jahren verstärkt einsetzenden „Kritik an einem aprioristischen Naturrechtsdenken in kasuistischer Anwendung" (Furger, Einf. 12) rückte zugleich das Problem der Geschichtlichkeit konkreter sittlicher Normen ins Blickfeld (Furger, Geschichtlichkeit; Kerber). Die Einsicht, daß Normbildung als ein eigenständiger kulturgeschichtlicher Prozeß zu begreifen ist (Böckle, Fundamentalmoral 176 ff u. ö.), begründet jedoch nicht notwendigerweise einen -»Relativismus sittlicher Normen: Die „naturale und geschichtliche Unbeliebigkeit menschlicher Normativität" folgt nach W. Korff aus der Rückbindung normativer Setzungen an die unter naturalen Bedingungen sich verwirklichende „Natur" des Menschen, die wesentlich Vernunftnatur ist; der Unbedingtheitsanspruch des Sittlichen wird theologisch begründet (Korff 134ff). Mit dem Bewußtsein der geschichtlichen Bedingtheit der Normen wird zugleich die Annahme der Absolutheit konkreter ethischer Normen (als operativer Handlungsregeln) (Auer, Absolutheit 346) fragwürdig; der Wandelbarkeit der konkreten sittlichen Normen wird die Unwandelbarkeit allgemeiner moralischer Prinzipien (z.B.: das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden) gegenübergestellt, aus denen jedoch konkrete sittliche Normen nicht unmittelbar ableitbar sind (Kerber 97ff). Statt von allgemeingültigen, universalen und insofern absoluten Normen zu sprechen, die als solche nur formal sein können, schlägt J. Fuchs vor, sittliche Normen daraufhin zu überprüfen, ob sie ein „seinsgerechtes" Handeln („Treue zur Ordnung der (erlösten) Schöpfung"' ermöglichen und in diesem Sinne „richtig" bzw. „objektiv" sind (Fuchs, Absolutheitscharakter 85). Dies bedeutet nach A. Auer, die „in den einzelnen Bereichen der Welt aufzuspürenden Gesetzlichkeiten", deren Gesamt er „Autonomie" nennt (Auer: Sauer 44), unter Einbeziehung der modernen Humanwissenschaften, die ihr integrierendes Bezugssystem in der Anthropologie suchen, zu erkennen (Auer, Moral 36ff; vgl. Demmer, Norm); J. Gründel nennt eine solche Argumentation, die zur moralischen Gewißheit führen soll, „Konvergenzargumentation" (Gründel, Ethik 64ff). Die Normierung menschlichen Handelns setzt daher nach Auer die „Synopse von humanwissenschaftlichen Erkenntnissen und anthropologischen Sinneinsichten" voraus (vgl. Böckle, Fundamentalmoral), so daß die Verbindlichkeit inhaltlich bestimmter sittlicher Normen durch Vernunft autonom einsichtig zu machen ist; das Proprium christlicher Ethik liegt daher nicht in einem neuen System materialethischer Normen, sondern in einem durch die christliche Deutung des Menschseins in der Welt eröffneten neuen Sinnhorizont und den dadurch gegebenen spezifisch christlichen Motivationen des Handelns (Auer, Absolutheit 356 ff; vgl. auch Stoeckle, Grenzen). Dem Bewußtsein von der Geschichtlichkeit konkreter sittlicher Handlungsnormen und der Orientierung an den Erkenntnissen der Humanwissenschaften bei der Beurteilung von Normen entspricht das Interesse, gegenüber einem deontologischen - apriorisch begründete Pflichten (lex naturalis) voraussetzenden - Verfahren der Normenbegründung ein teleologisches Vorgehen zu rechtfertigen. In einem Beitrag zum Prinzip von der Doppelwirkung, nach dem eine üble Wirkung des Handelns (als Nebenfolge) nur dann zuzulassen ist, wenn sie nicht in sich selbst beabsichtigt, sondern indirekt und durch einen entsprechenden Grund aufgewogen ist, hat P. Knauer mit Nachdruck auf die Notwendigkeit einer teleologischen Betrachtungsweise hingewiesen (Knauer, Prinzip): Eine Handlung wird dann als gut beurteilt, wenn die erreichten Güter (Werte) den mitbewirkten Übeln „entsprechen" und sie überwiegen. Handlungen sind für ihn nur dann intrinsece schlecht, wenn für die Verursachung eines Übels kein entsprechender Grund vorliegt; das sittlich Gute besteht „in der aufs ganze gesehen bestmöglichen Verwirklichung des jeweils angestrebten Wertes" (ebd. 121; vgl. McCormick). Während Knauer die Anwendung teleologischer Gesichtspunkte zunächst nur bei Verpflichtungsurteilen, die Handlungen betreffen, zur Geltung bringt, fordert B. Schüller im Anschluß an die utilitaristische Ethik grundsätzlich, die deontologische Normierung zu Gunsten

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einer teleologischen N o r m i e r u n g aufzugeben (Begründung; Connery), zumal auch die Anerkennung deontologischer N o r m e n durch teleologische Überlegungen bestimmt sei (Schüller, Beiträge 122ff). Der zu verwirklichende W e r t ist für ihn durch das christliche G e b o t der Gottes- und Nächstenliebe vorgegeben, das zugleich die Anerkennung und Bejahung der Wirklichkeit einschließt. Die von Schüler vollzogene radikale Entgegensetzung von deontologischer und teleologischer N o r m b e g r ü n d u n g wird von R . Spaemann kritisiert: Weder gebe es bei deontologischer N o r m i e r u n g ein vollständiges Absehen von den Handlungsfolgen, noch kann die Gesamtheit aller Folgen einer Handlung in die Verantwortung des Handelnden fallen. N a c h Spaemann ergeben sich sittliche N o r m e n aus „sittlichen Verhältnissen" und den aus ihnen resultierenden Verantwortlichkeiten (Unmöglichkeit; Moraltheologie 301 f. 3 0 8 ; vgl. C u r r a n 6 7 9 f ; Ratzinger). O b w o h l auch F. Furger feststellt, daß weder ein bloß konsequenzialistischer Sozialeudaimonismus, noch ein Utilitarismus wohlverstandener Eigeninteressen geeignet sei, die einzelnen N o r m s t r u k t u r e n auf die unbedingten und letzten Zielsetzungen des Glaubens hin zu bemessen (Einf. 13), hält er doch den methodologischen Ansatz teleologischer N o r m e n b e g r ü n d u n g für gerechtfertigt, da er die Zielbezogenheit sittlicher N o r m e n auf die Verwirklichung unbedingter Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit, wie sie sich in dem Liebesgebot Jesu findet, zur Geltung bringt (ebd. 1 3 3 f ; vgl. M o r a l t h e o l o g i e 153ff). Gefordert ist daher nach Furger eine „ d e o n t o logische Teleologie" als Strukturprinzip christlicher Ethik. Literatur Zu 1.-4.: Hans Albert, Ethik u. Mctaethik: ders./Ernst Topitsch (Hg.), Werturteilstrcit, Darmstadt 1979. - Karl-Otto Apel, Transformation der Phil. II. Das Prinzip der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M. 1973. - Ders. 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Wolfgang H. Schräder II. Ethisch 1. Strukturelle Normtheorie (Literatur S. 637)

2. Normbegründungstheorie

3. Kasuistische Normtheorie

Der Begriff Norm geht erst im Laufe des 20. Jh. in den wissenschaftlichen Diskurs ein, beginnend mit der Rechtswissenschaft, von hier aus in die Ethik und Moraltheologie und nicht zuletzt, vor allem als deskriptive Kategorie, in die Soziologie. Er wird zu einem Subsumtionsbegriff, der alle Regelsysteme und Regelformen menschlichen Deutens, Ordnens und Gestaltens kennzeichnet. Normen sind Regulative menschlichen Deutens, Ordnens und Gestaltens, die sich mit einem Verbindlichkeitsanspruch darstellen, der die Chance hat, Anerkennung, Zustimmung und Gehorsam zu finden. Ethisch stellen sich damit drei grundlegende Fragen: - Die Frage nach den unterschiedlichen Normarten, in denen sich Norminhalte verbindlich setzen: strukturelle Normtheorie. - Die Frage nach generellen Voraussetzungen und Bedingungszusammenhängen für den Gültigkeitsaufweis von Normen: Normbegründungstheorie. - Die Frage nach generellen Kriterien der Anwendung von Normen: kasuistische Normtheorie. 1. Strukturelle

Normtheorie

Am Anfang der Geschichte menschlicher Lebenspraxis steht als umfassende handlungsregelnde Vermittlungsform des Ethischen die -»Sitte (E9O Apostolische Glaubensbekenntnis und eine Vaterunserversion. Der Hiob schließlich, den Notker nach Ekkehart IV. auf das einschlägige Riesenwerk -»•Gregors des Großen stützte, galt im Mittelalter als eine der schwierigsten Aufgaben der Exegese. In der Volkssprache wagte man sich erst Jahrhunderte später wieder an ihn heran. Von besonderem Wert sind die Bemerkungen, die Notkers Brief im Hinblick auf die von ihm verfolgte Zielsetzung enthält. Die Freien Künste sind für ihn nur Instrumente, die einem einwandfreien Verständnis der libri ecclesiastici dienen sollen, das ohne sie nicht möglich sei. Sie haben keinen Wert für sich selbst, sind in dieser Zweckbindung aber durchaus etwas, das Genuß und Befriedigung verschafft, freilich auch Versuchung bedeuten und als Last empfunden werden kann. Aus diesem spannungsvollen Verhältnis zu den Artes, in das sich Notker hineinstellt, ist sein gesamtes Werk zu verstehen. Das gilt besonders auch für Notkers oft fehlgedeuteten Einsatz des Deutschen. Auch er ist rein im instrumentalen Sinn zu verstehen. Notker gebraucht das Deutsche nicht, um das Lateinische seiner Vorlagen zu ersetzen, sondern nur, um deren integres Verständnis

N o t k e r Labeo

667

zu sichern. Die Zielrichtung geht nicht vom Lateinischen zum Deutschen, sondern umgekehrt vom Deutschen zum Lateinischen, und dies nicht um der Sprache, sondern um der in ihr ausgesagten Sache willen. Voraussetzung f ü r die Erfüllung dieses Konzepts ist freilich nicht nur volle Souveränität im Umgang mit beiden Sprachen, sondern auch die große Kreativität, mit der N o t k e r das Deutsche seiner Zeit auf Inhalte und differenzierte Aussageweisen seiner Vorlagen abstimmen mußte, die der Volkssprache bis dahin noch nie abgefordert worden waren. So bewertet N o t k e r seinen Einsatz des Deutschen denn auch als etwas nahezu Unerhörtes, dem der Charakter eines gewagten Experiments zukomme. Der Gebrauch des Deutschen als M e d i u m f ü r gelehrte Inhalte und wissenschaftliche Aussagen hat N o t k e r tatsächlich zu einer bis dahin unbekannten, neuen und historisch einmaligen Form wissenschaftlicher Darstellung geführt. Die zu seiner Zeit f ü r gelehrte Arbeiten noch übliche literarische Technik der Kompilation, wie sie von -»Beda Venerabiiis begründet und von den großen karolingischen Gelehrten perfektioniert worden w a r , hätte ihren Sinn bei der Einbeziehung des Deutschen weitgehend verloren. Eine volkssprachige Umsetzung des glossatorischen Verfahrens lateinischer Kommentatorik, wie es Notkers H a u p t g e w ä h r s m a n n Remigius von Auxerre (ca. 841 - c a . 908) auf die Consolatio und auf die Nuptiae anwendet, hätte nur einem elementaren, N o t k e r nicht genügenden Verständnisniveau dienlich sein können. Der konsequente Einsatz des Deutschen bei der anspruchsvoll gelehrten Vermittlung und Deutung literarischer Texte und wissenschaftlicher Kompendien war nur möglich, wenn d a f ü r eine neue Form der Darstellung entwickelt wurde. N o t k e r ist das auf eine einmalige und dabei ganz natürliche Weise gelungen, für deren nähere Beschreibung hier nicht R a u m ist. 3.

Nachwirkung

Notkers sprachliche und gelehrte Leistung ist innerhalb der deutschen Literatur des Mittelalters und auch im Vergleich mit dem lateinischen Schrifttum des Mittelalters außerordentlich hoch einzuschätzen. Kaum je wird er weder sprachlich noch im Hinblick auf das sachliche Niveau von der meist popularisierenden deutschen Ubersetzungsliteratur des späteren Mittelalters in Theologie, Philosophie und Fachschrifttum erreicht oder gar überroffen. Sein in so vielfacher Hinsicht außerordentliches Werk ist praktisch ohne Nachwirkung geblieben. Die Überlieferung, der - ungewöhnlich für das Werk eines Gelehrten im Mittelalter - aus sprachlichen G r ü n d e n nur der deutschsprachige R a u m offenstand, drang k a u m über St. Gallen hinaus und läuft auch hier mit dem Ende des 11. Jh. aus. Auch der reicher überlieferte Psalter Notkers bildet da keine Ausn a h m e . Denn w o er über das 11. Jh. hinaus tradiert wird, z.T. bis ins 14. Jh. hinein, ist er durch gründliche Umgestaltung von einem wissenschaftlichen Werk zum Erbauungsbuch für f r o m m e Frauen geworden und gerät so in das gleiche Fahrwasser wie die vielen, unabhängig von N o t k e r seit dem 12. Jh. entstandenen deutschen Psalmenbearbeitungen. Quellen Die Sehr. Notkers u. seiner Schule, hg. von Paul Piper, 3 Bde., Tübingen 1883-1888 '1895. - Notkers des Dt. Werke, hg. v. Edward H. Sehrt/Taylor Starck, 3 Bde., 1933-1955 I/II '1966 (ADTB 32-34, 37, 40, 42, 43). - Die Werke Notkers des Dt. Neue Ausg., begonnen v. Edward H. Sehrt/Taylor Starck, fortges. v. James C. King/Petrus W. Tax, bisher 7 Bde., 1972-88 (ADTB 7 3 - 7 5 , 80, 81, 84, 87, 91, 93, 94, 98, 100). - Nur separat: Computus Notkeri, hg. v. P. Gabriel Meier: Jahresber. über die Lehr- u. Erziehungsanstalt des Benediktiner-Stiftes Maria-Einsiedeln 1886/87,31-34 (Pariser Hs.). - Abdruck nach der besseren Münchener Hs. bei Paul Piper, Nachtr. zur älteren dt. Litteratur v. Kürschners dt. National-Litteratur, Stuttgart 1898, 312-318. - Ernst Hellgardt, Notkers des Dt. Brief an Bischof Hugo v. Sitten. Befund u. Deutung: Zum Verhältnis v. Empirie u. Interpretation in Sprach- und Literaturwiss., hg. v. Klaus Grubmüller u.a., Tübingen 1979, 169-192. - Der Liber Benedictionum Ekkeharts IV., hg. v. Johannes Egli, St. Gallen 1909 (Nachruf auf Notker: 230-34).

668

Nouvelle T h é o l o g i e

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Notwendigkeit

Gottesbeweise, -»Kontingenz, —•Wille/Willensfreiheit

Nouvelle T h é o l o g i e 1. Ausgangslage 2. Phasen der Auseinandersetzung gen/Quellen/Literatur S.673)

3. Die zentralen Themen

(Anmerkun-

Die Nouvelle T h é o l o g i e ist eine theologische Strömung, die in Frankreich in der Zeit unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg größte Aufmerksamkeit erregt hat. 1 U m die Tragweite der Auseinandersetzung recht zu begreifen, sollen zunächst der K o n t e x t beschrieben, dann der Ablauf nachgezeichnet und schließlich die zentralen theologischen T h e m e n , um die es ging, aufgezeigt werden. 1.

Ausgangstage

Das Umfeld, in das sich die Kontroverse u m die Nouvelle Théologie einzeichnet, ist einerseits durch ein weit verbreitetes Unbehagen, andererseits durch Bemühungen u m eine Erneuerung charakterisiert. 1.1. Unbestreitbar herrscht in den späten 3 0 e r und in den 40er Jahren in gewissen Kreisen ein Unbehagen über die A r t , wie D o g m a t i k gelehrt wurde, und über die offensichtliche Unfähigkeit dieser D o g m a t i k , den E r w a r t u n g e n der Pfarrer und Seelsorger zu entsprechen. Selbst L a b o u r d e t t e (Théologie 3 5 3 f), der als Verteidiger des T h o m i s m u s auftritt, erkennt an, daß der theologische Unterricht oft genug trocken und weltfremd sei. In den Priesterseminaren und den Ausbildungsstätten der Orden m a c h t sich ein Gefühl der Unzufriedenheit breit: Die offizielle T h e o l o g i e scheint kaum auf die Fragen des modernen M e n s c h e n abgestimmt und wenig fruchtbar für das geistliche Leben zu

Nouvelle Théologie

669

sein. In den Kreisen der Action catholique (-*Katholische Aktion) beklagt man in ähnlicher Weise dieselben Mängel und bedauert, daß eine theologische Reflexion über die Welt der Arbeit und die mundanen Realitäten fehle. Was die theologische Wissenschaft angeht, so scheint das Denken oft dazu zu neigen, sich mit dem Erreichten zu begnügen, wobei man vorgibt, die Theologie des heiligen -»Thomas von Aquino habe einen wissenschaftlichen Standard erreicht, der gewissermaßen nicht übertroffen werden kann. Selbst bei Fragen, die sich von der aktuellen wissenschaftlichen und philosophischen Diskussion her stellen, geht die Reflexion nicht über die Grenzen der überkommenen Problemstellung hinaus. Die Verteidigung des christlichen Glaubens hätte jedoch angesichts seiner radikalen Infragestellung eine bessere Beachtung wissenschaftlicher Errungenschaften und neuer philosophischer Strömungen erfordert. Zweifellos kann man die ängstliche Zurückhaltung der Theologen durch das Klima der Verdächtigung erklären, das durch die Verurteilung des -»Modernismus und durch die kleinliche Wachsamkeit, mit der gewisse römische Stellen die Verbreitung neuer Irrtümer zu verhindern suchen, geschaffen wurde. 1.2. Unterdessen entfalten sich auf anderen Gebieten als dem der Dogmatik die Bemühungen um eine Erneuerung durch eine Rückkehr zu den Quellen. Die geduldig vorangetriebenen Forschungen der katholischen Exegeten beginnen, ihre Früchte zu tragen. Die Enzyklika Divino afflante Spiritu (1946) erlaubt, auch wenn dabei die notwendige Zurückhaltung anempfohlen wird, die Anwendung moderner Methoden. Die Exegese beginnt sich von der Vormundschaft und den allzu engen Rahmenbedingungen der Schultheologie zu lösen und widmet sich einem Textstudium, das die literarischen Gattungen und den historischen Kontext miteinbezieht. Auf dem Gebiet der Liturgiewissenschaft erlaubt es die historische Fragestellung, die Entwicklung der Riten, den Reichtum der Sakramentstheologie des patristischen Zeitalters und den tieferen Sinn der liturgischen Handlung, durch die sich das Eintauchen in das Geheimnis von Tod und Auferstehung Jesu Christi vollzieht, besser zu begreifen. Die Erneuerung der patristischen Studien weitet sich mit der Änderung der Perspektive aus. Statt nach dicta probantia, die die Schultheologie absichern sollen, zu suchen, interessiert man sich mehr und mehr für die theologische Methode der Kirchenväter und wird aufgeschlossen für eine umfassendere Sicht, die darum bemüht ist, die Themen der Glaubenslehre in ihrer Verbindung untereinander zu erfassen und die Geschichte als Heilsgeschichte darzustellen. Zugleich streicht man die Fruchtbarkeit einer Theologie heraus, die sich in erster Linie als Kommentar zur Heiligen Schrift begreift, und deren spirituelle Kraft noch nicht durch die Anwendung einer rein analysierenden und didaktischen Methode erloschen ist. 2. Phasen der

Auseinandersetzung

2.1. Die Auseinandersetzung um die Nouvelle Théologie beginnt mit einer Inkubationsphase, die durch eine Serie von Publikationen gekennzeichnet ist. 1937 bringt M.-D. Chenu außerhalb des Buchhandels einen kleinen Band mit dem Titel Une école de théologie. Le Saulchoir heraus, in der er seine Ideen über die Erneuerung der Theologie vorstellt. Diese Schrift wurde 1942 auf den Index gesetzt und der Autor seiner Funktion als Direktor von Le Saulchoir enthoben. - Yves Congar begann in dieser Zeit mit seiner Reihe Unam Sanctam (1937) und veröffentlichte 1938 als dritten Band dieser Reihe Catholicisme. Les aspects sociaux du dogme von H. de —>Lubac. Dieses Buch ist unter mancherlei Aspekten eine Programmschrift für eine neue Praxis in der Theologie. - ZuChrétiennes, sammen mit J . Daniélou begründete H. de Lubac 1941 die Reihe Sources deren erste Bände in zügiger Folge erschienen. Gleichzeitig begannen die Jesuiten von Lyon-Fourvière, die Reihe Théologie herauszugeben. Es war gerade der erste Band dieser Reihe, der die Auseinandersetzung um die Nouvelle Théologie ausgelöst hat.

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Nouvelle Théologie

2.2. Die erste Phase der Auseinandersetzung: die Debatte zwischen einer Gruppe von Dominikanern und einer Gruppe von Jesuiten 2.2.1. Die Veröffentlichung der Dissertation von H. Bouillard SJ, Conversion et grâce chez saint Thoma löste die Kontroverse aus. Der Verfasser, der sich zum Ziel gesetzt hatte, eine historische Untersuchung vorzulegen, kam zu dem Ergebnis, daß der Aquinate eine Entwicklung durchgemacht habe: Dieser habe nämlich nacheinander verschiedene Erklärungen über die Beziehung von Gnade und Bekehrung vorgelegt, was sich daraus erkläre, daß sich das Problem neu gestellt habe, nachdem er von Contra Gentiles an den Semi-Pelagianismus miteinbezogen hatte. Der Verfasser unterstreicht außerdem, daß der heilige Thomas nicht im Schema der gratia actualis elevans denke, wie es die moderne Auslegung tut. In der Zusammenfassung kommt der Verfasser dann zu verallgemeinernden Betrachtungen über die Entwicklung, der die Theologie bei sich ändernden geistigen Kontexten unterliegt: Die Theologie kann durchaus im Laufe der Zeit unterschiedliche Formen annehmen, wobei sich allerdings in diesen kontingenten Formen eine „Invariante" durchhält, die die geoffenbarte Wahrheit bestätigt. 2.2.2. Solche Ergebnisse waren kaum im Sinne des offiziellen Thomismus, dem der heilige Thomas als ein Theologe galt, der nicht historischen Kontingenzen unterworfen ist. M.-L. Guérard des Lauriers OP war der erste, der in zwei Artikeln der Année Théologique (ATh) darauf reagierte. Einerseits bemühte er sich darum, aufzuzeigen, daß der heilige Thomas, auch wenn er den Begriff der gratia actualis elevans nicht benutzt, den Begriff des interior instinetus verwendet, der eine Bewegung nach oben bezeichnet. Andererseits warnt der Autor vor den methodologischen Implikationen der Dissertation von H. Bouillard: Diese seien solcher Art, daß sie die traditionelle Auffassung des Dogmas auflösten. M.-M. Labourdette OP griff das Thema in der Revue Thomiste (RThom) auf und weitete zugleich die Diskussion aus. Er stellte eine Verbindung zwischen den ersten Bländen der Sources Chrétiennes und der Reihe Théologie her und glaubte, einen gemeinsamen Geist entdecken zu können. Er griff dabei Passagen heraus, die seiner Meinung nach auf eine Abwertung des Thomismus zielten. Damit sei die Gefahr eines dogmatischen Relativismus und eines oberflächlichen Lavierens gegeben (Théologie. Réponse 394). In der R T h o m des gleichen Jahres äußert sich M.-J. Nicolas kritisch über das Buch Corpus Mysticum von H. de Lubac und verurteilt die These, dergemäß die Theologie, als sie rational und wissenschaftlich wurde, die Kraft verlor, das Symbolhafte, wie es den Alten und den Kirchenvätern so vertraut war, in sich aufzunehmen. 2.2.3. Diese vereinten Angriffe provozierten Repliken von Seiten der inkriminierten Theologen. H. Bouillard veröffentlichte 1946 in den Recherches de science religieuse (RSR) eine Stellungnahme. Außerdem machte er von seinem Recht auf Antwort Gebrauch und ließ in der ATh (1946) Notes sur le développement de la Théologie abdrucken. Die Jesuiten, auf den Plan gerufen, ließen fernerhin eine gemeinsame Antwort in den RSR (1946) erscheinen. Sie bedauern, daß es zu diesen Anschuldigungen gekommen sei, und plädieren für die Freiheit theologischer Schulbildung im Schöße der einen Orthodoxie. Sie geben zu bedenken, daß es erlaubt sein müsse, gegen gewisse Formen von Intellektualismus zu reagieren, und unterstreichen, daß sich in der Offenbarung in erster Linie eine Person kundtut und nicht eine Sammlung von Lehrsätzen. Der unnötig provozierende Ton mancher Äußerung der Jesuiten und die Repliken von dominikanischer Seite, die manchmal an Unterstellungen grenzten, konnten der Objektivität der Auseinandersetzung nur schaden. M.-M. Labourdette OP versuchte die Geister zu beruhigen, als er im Dialogue théologique die zentralen Punkte zusammenstellte. In einem Kommentar wies er die Unterstellung zurück, die R T h o m strebe einen Appell an das Lehramt an. Anderweitig ist bekannt geworden, daß er zu verhindern suchte, daß Rom die Sache an sich zog, und daß er sich weigerte, die Spalten der R T h o m R. Garrigou-Lagrange O P zu öffnen. 2

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Nouvelle Théologie 2.3. Die zweite Phase: die Intervention

römischer

Instanzen

Die Gefahr einer römischen Intervention war wirklich gegeben. Um sie abzuwenden, suchte man jedenfalls in bestimmten Kreisen, die Angelegenheit wieder in angemessenere Bahnen zu lenken. Bei einem Empfang in der französischen Botschaft am Heiligen Stuhl im Jahre 1946 hob Kardinal Saliège vor dem damaligen Botschafter J . Maritain die oben genannten Jesuiten lobend hervor; selbst M . D . Chenu, der ja im Verdacht stand, neue Ideen zu verbreiten, fand Erwähnung. Eine weitere Stimme meldete sich zu Wort, nämlich Monsignore Bruno de Solages, Rektor des Institut Catholique von Toulouse. Er rief dazu auf, innerhalb der Kirche eine legitime Vielfalt theologischer Strömungen zu respektieren. Solche Interventionen führten nicht zum erhofften Erfolg. In einer Ansprache vor der Generalversammlung der Jesuiten am 19.09.1946 kam -»Pius XII. auf die Nouvelle Théologie zu sprechen und stellte dann die Frage, ob bei dem Gedanken einer unablässigen Entwicklung nicht die Unveränderbarkeit der Dogmen bedroht sei (Allocution aux Pères Jesuites 384). Die römischen Kreise waren also alarmiert, und was Pius XII. nur verhüllt ausdrückte, trat in den Beiträgen, die R. Garrigou-Lagrange zwischen 1946 und 1951 im Angelicum veröffentlichte, deutlich ans Licht. Der erste dieser Artikel ist überschrieben: „La nouvelle théologie où va-t-elle?" Die Antwort auf die Frage wird in der Zusammenfassung gegeben: „Sie fällt in den Modernismus zurück" (143). Dank einer geschickten Collage von aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen läßt R. Garrigou-Lagrange den Eindruck entstehen, H. Bouillard wolle dem Leser als Schlußfolgerung nahelegen: Die Theologie des heiligen Thomas ist, da sie nicht mehr aktuell ist, eine falsche Theologie. Wie können aber dann die Päpste, wendet er ein, wie kann der Codex iuris canonici (-»Kirchenrechtsquellen) das vertiefte Studium des Thomismus zur Pflicht machen? Weiterhin beschuldigt er Bouillard, für die von M . Blondel gegebene Definition der Wahrheit zu optieren. Schließlich erwähnt er noch die maschinenschriftlich hergestellten Skripte, die die Gedanken Pierre -»Teilhard de Chardins verbreiten, dessen Werke zu dieser Zeit noch nicht veröffentlicht waren.

Monsignore Bruno de Solages intervenierte ein zweites Mal mit der Schrift: Pour l'honneur de la théologie. Le contre-sens du R.P. Garrigou-Lagrange. Er bedauerte, daß der genannte Pater den Thomismus wie eine Keule einsetze, um die Gegner niederzuschmettern; er warf ihm weiterhin vor, daß er die Gesetze literarischer Kritik mißachte, vor überzogenen Verallgemeinerungen nicht zurückschrecke und sinnentstellende Interpretationen vorlege. R. Garrigou-Lagrange setzte dem eine Klarstellung entgegen und ließ eine Serie von Artikeln erscheinen, die der Definition von Wahrheit und der Begrifflichkeit, sie auszudrücken, gewidmet sind. Er versuchte zu beweisen, daß durch die Konzilien bestimmte Begriffe festgeschrieben seien, die man nicht einfach durch andere Begriffe ersetzen könne, ohne einem Relativismus oder Nominalismus zu verfallen. Seine Folgerungen beruhen im wesentlichen auf dem Autoritätsargument. 2.4. Die Reaktionen

aus

Rom

2.4.1. Am 12. August 1950 ließ Pius XII. mit der Veröffentlichung der Enzyklika Humani generis eine lehramtliche Entscheidung ergehen. Dieses Dokument, das man in katholischen Kreisen erwartet hatte, geht die kontroversen Fragen offen und direkt an. Die Einleitung unterbreitet eine Analyse der Ursprünge der neuen Tendenzen: die Attraktivität von Neuerungen in Philosophie und Wissenschaft, der alles relativierende Historismus und eine falsch verstandene Irenik. Der erste Teil stellt dann die neuen Tendenzen in der Theologie vor und legt die Gefahren dar, die mit einem Relativismus in der Lehre, mit der Verkennung der Aufgabe des Lehramtes und mit einer symbolischen oder spirituellen Interpretation verbunden sind. Der zweite Teil, der philosophischen Fragen gewidmet ist, verteidigt die dauerhafte Gültigkeit von Prinzipien, die der traditionellen Philosophie zugrunde liegen und fordert, daß die scholastische Philosophie zu respektieren sei. Der dritte Teil untersucht das Verhältnis des Glaubens zu bestimmten Bereichen der Wissenschaft am Beispiel der Evolutionstheorie, der Polygenese und der

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Nouvelle Théologie

Historizität der ersten elf Kapitel der Genesis. Bei der Lektüre dieses Dokumentes kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß vor allem, auch wenn sie nicht ausdrücklich genannt wird, die Nouvelle Théologie getroffen werden soll. Eine flüchtige Lektüre kann die Vorstellung hervorrufen, die Irrtümer hingen derart miteinander zusammen, daß daraus ein System erwächst, das einem Angst und Bange macht; eine sorgfältigere Lektüre bringt ans Licht, daß nicht alles auf die Nouvelle Théologie im engeren Sinne bezogen ist und daß gewisse Passagen die Türe offen lassen zu weiterführenden Forschungen, die darauf angelegt sind, den Wissensstand zu erweitern und klarere Antworten auszuarbeiten. Die Enzyklika wurde vielfach und in aller Breite kommentiert, da die Debatte ja in vielen Kreisen mit größter Aufmerksamkeit verfolgt worden war. 2.4.2. Die ergangenen Sanktionen. Der General der Jesuiten, J.-B. Janssen, traf Maßnahmen gegen die beschuldigten Theologen. Bereits 1950 mußte H. de Lubac seine Vorlesungstätigkeit aufgeben und Lyon verlassen; ähnliche Sanktionen trafen die anderen Mitglieder der Lyoner Gruppe. Es zeigte sich jedoch sehr bald, daß solche disziplinarischen Maßnahmen von höchster kirchlicher Autorität gar nicht gefordert waren. 1957 überreichte A. Bea H. de Lubac einen Brief Pius' XII., der Dank und Ermunterung für die Z u k u n f t enthielt. 1960 wurde H. de Lubac Berater der Theologischen Kommission, sodann Experte auf dem II. Vatikanischen Konzil ( Vatikanum II) und schließlich wurde er sogar zur Kardinalswürde erhoben. 3. Die zentralen 3.1. Theologie

Themen und

Geschichte

Die Jesuiten greifen eine Problematik auf, der sich die Theologie nicht mehr entziehen kann, nachdem sich die Geschichtswissenschaft im 19. Jh. durchgesetzt hatte. Das Programm einer historischen Theologie entfalten sie im Rahmen von Reihen, die an sich schon den Beweis liefern, wie sehr die Hinwendung zur Vergangenheit und die historische Forschung für die Wiederentdeckung verborgener Schätze und die Reformulierung bestimmter Fragestellungen fruchtbar sein können. Die Verteidiger des Thomismus gehen zu weit, wenn sie die Nouvelle Théologie wegen eines angeblichen Relativismus in der Lehre denunzieren; sie sind jedoch im Recht, wenn sie vor der Gefahr warnen, einer historischen Vorgehensweise anzuhängen, die durch ideologische Vorurteile verfälscht ist. 3.2. Theologie und die Rückkehr zu vorthomistischem Denken Die Gruppe von Saint-Maximin ist davon überzeugt, daß der Thomismus die Substanz theologischen Denkens der ersten zwölf Jahrhunderte in sich aufgesogen habe und „das wirklich wissenschaftliche Stadium" des christlichen Denkens bedeutet. Demnach sei es überflüssig, zu den früheren Jahrhunderten zurückzukehren. Das erklärte Ziel der Gruppe der Jesuiten von Lyon-Fourvière dagegen ist es, hinter den heiligen Thomas zurückzufragen. Sie machen geltend, daß das Gesetz des Fortschritts in der Theologie es verlange, sich regelmäßig auf die Ursprünge zu beziehen, auf die Heilige Schrift in erster Linie, dann aber auch auf die Kirchenväter, um Aspekte wieder ans Licht zu bringen, die die verwissenschaftlichte Theologie verdeckt hat, und um die Verbindung von theologischer Reflexion und Spiritualität besser zu begreifen. 3.3. Theologie und Philosophie Die Jesuiten fordern dazu auf, über die Kategorien, die auf der aristotelischen Physik beruhen und heute der Vergangenheit angehören, hinauszugehen. Die Dominikaner der R T h o m sind dagegen der Auffassung, d a ß es einen -»Aristoteles gebe, der fortbesteht, und der sozusagen „die Grundlage menschlicher Intelligibilität, die Voraussetzung auch für die theologische Erklärung ist", verkörpere (Guérard des Lauriers, Théologie 46). In der Tat ist es die thomistische Philosophie, die die Begrifflichkeit liefert, derer sich

Nouvelle Théologie

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die thomistische Theologie bedient; darauf zu verzichten hieße, die Kohärenz des Systems zu erschüttern. Die Jesuiten dagegen sind der Auffassung, d a ß die Begrifflichkeit einer Erneuerung bedürfe. Der Rückgriff auf die Vergangenheit k ö n n t e sich dabei als fruchtbar erweisen, da sie Kategorien und Symbole, die die scholastische Dialektik nicht zu integrieren vermochte, wieder zur Geltung kommen lasse, und so zu einer Sprache führe, die dem modernen Denken angemessener sei. 3.4. Auslegung

der

Konzilstexte

Die Dominikaner hatten ein Gespür dafür, d a ß die A n w e n d u n g der historischen M e t h o d e notwendigerweise Folgen f ü r die Auslegung der Konzilstexte zeitigen werde. Weniger klar ist m a n sich dessen bewußt, daß auch das Verhältnis Theologie - Heilige Schrift neu zu definieren ist. Die laufenden Forschungen veranlassen die Exegeten, die Historizität bestimmter grundlegender Texte, wie die ersten Kapitel der Genesis, differenzierter einzustufen. In dem M a ß e wie die historisch-kritische Exegese ihre Autonomie behauptet, sind bestimmte theologische Schlußfolgerungen der traditionellen Exegese erneut zu überdenken. 3.5. Theologie

und

Naturwissenschaft

Des öfteren wird auf Teilhard de Chardin angespielt, und damit ist die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und moderner Naturwissenschaft gestellt. Gewisse Dominikaner treten f ü r die Verwerfung der Evolutionstheorie ein und zwar unter dem Vorwand, sie sei eine Frucht des -»Rationalismus und des „Hegeischen —•Pantheismus". Die Jesuiten vermeiden es, diese Frage frontal anzugehen. Aber die Auseinandersetzung zeigt dann doch, d a ß solche naturwissenschaftlichen Fragen einschneidende Konsequenzen für die Diskussion über die christliche Anthropologie mit sich bringen. Die Erbsünde (-»Sünde) ist der Punkt, w o die Einwände der Naturwissenschaftler und der Widerspruch der Theologen aufeinanderprallen. Im Blick darauf weisen die Theorien von Teilhard de Chardin einen originellen Weg, u m die oft sterilen Kontroversen zu überwinden. 3.6. Theologie

und

Lehramt

Die Argumentation von R. Garrigou-Lagrange beruht letzten Endes auf einer Theorie des Lehramtes, das als regula fidei proxima begriffen wird. In der Tat hat sich dann Pius XII. sehr bald zu Wort gemeldet und mit dem Einsatz seiner Autorität die Anerkennung der scholastischen Philosophie gefordert. Die Jesuiten verlangen, d a ß dem Pluralismus theologischer Schulen ein Recht eingeräumt wurde und protestieren damit gegen ein M o n o p o l in der Theologie zugunsten des Thomismus. Die Auseinandersetzung um die Nouvelle Theologie wirft auf ihre Weise auch die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Lehramt auf. Im Streit um die Nouvelle Theologie stehen sich nicht einfach zwei O r d e n gegenüber, sondern die Spaltung verläuft mitten durch die einzelnen O r d e n . Wenn es Jesuiten gibt, die Verdacht auf sich gezogen haben, so gibt es auch Dominikaner, die umstritten waren. 3 So manche Jesuiten gingen auf Distanz und schienen einzuräumen, d a ß die Intervention der römischen Autoritäten gegen ihre Mitbrüder wohl begründet gewesen sei. Der Streit stellt gewissermaßen ein Psychodrama her, ausgelöst durch das Auftauchen neuer Tendenzen, die mit den überkommenen Ideen, wie die offizielle theologische Praxis auszusehen habe, in heftigen Konflikt geraten sind. Das Vatikanum II sollte dann die Lösung bringen, die dadurch zu einer Beruhigung führte, daß die entscheidenden Anliegen Berücksichtigung fanden und so die Konfliktsituation entschärft wurde. Jedoch sollte man es vermeiden, die Veränderung des Klimas als Triumph einer Partei über die andere darzustellen. Anmerkungen 1

Der Ausdruck „Nouvelle Theologie" ist nicht in dem weiten Sinne zu verstehen wie bei A.H. Maltha, De Nieuve Theologie, 1958; dt.: Die neue Theologie, München/Mainz 1960. Dieses

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2

3

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Werk stellt die verschiedenen Strömungen der neuesten Theologie dar. Es handelt sich hier vielmehr um eine spezifische Bewegung, die von einer Kontroverse zwischen einer Gruppe von Jesuiten - die wir hier die Gruppe von Lyon-Fourvière nennen - und einer Gruppe von Dominikanern ausgegangen ist. Der Begriff wurde in diesem Zusammenhang von 1946 an von Pius XII. und R. Garrigou-Lagrange OP gebraucht. Un maître en théologie. Le père Marie-Michel Labourdette: RThom 92 (1992) 1 - 3 0 , mit einem Briefausschnitt von J . Maritain: „Mir scheint die Gefahr darin zu bestehen, daß die kirchliche Autorität mit entsprechenden Sanktionen interveniert und daß das Heilige Offizium sich einschaltet: Es sollte nicht soweit kommen, daß man sagen wird, es sei die kirchliche Autorität, mit der der Thomismus sich verteidigt" (31). Vgl. dazu auch H. de Lubac, Mémoire 198. Sanktionen gegen Dominikaner: M.-D. Chenu OP, dessen Schrift Une école de théologie. Le Saulchoir (1937) 1942 auf den Index gesetzt wurde, mußte den Unterricht in Le Saulchoir aufgeben; 1954 wurde er erneut verdächtigt, im Zusammenhang der Affäre um die Arbeiterpriester; Y. Congar und F. H . M . Féret wurde bei der gleichen Gelegenheit die Lehre untersagt. Quellen

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Novalis

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N o v a l i s (Friedrich 1. Leben 1.

von Hardenberg,

2. Werk

3. Wirkung

1772-1801) (Quellen/Literatur S. 677)

Leben

Friedrich von Hardenberg oder N o v a l i s (diesen N a m e n g a b er sich 1798, er bedeutet „der N e u l a n d Bestellende") wurde am 2 . 5 . 1 7 7 2 als Sohn eines adligen Landbesitzers in Oberwiederstedt im Mansfeldischen geboren. Sein Vater, der im Jahre 1784 z u m Direktor der kursächsischen Salinen ernannt wurde, siedelte mit der Familie nach Weißenfels über; im H a u s e wehte ein pietistischer Geist (-»Pietismus), vor allem war das Gedankengut v o n —»Spener und -»Zinzendorf lebendig. Im Oktober 1790 immatrikulierte N o v a l i s sich als Student der Jurisprudenz an der Universität —»Jena, w o er auch die Vorlesungen Friedrich -»Schillers über Geschichte und Philosophie besuchte. Im Jahre 1791 wechselte N o v a l i s an die Universität Leipzig über, w o er Friedrich Schlegel kennenlernte, eine Begegnung, die von einzigartiger Bedeutung für die Entwicklung der —•Romantik war. N o v a l i s , der von sehr regem intellektuellem Geiste war, vertiefte sich in allerlei Studien, und im Sommer 1794 legte er das juristische E x a m e n in —»Wittenberg ab. Es wäre falsch, N o v a l i s als einen romantischen Schwärmer anzusehen: Er wollte als tätiger Bürger einen Beruf ergreifen und trat einen Dienst in Tennstedt an. Mitte N o v e m b e r traf er in Grüningen Sophie von Kühn, damals zwölfeinhalb Jahre alt; fünf M o n a t e später wurde das inoffizielle Verlöbnis gefeiert. D a s unkomplizierte M ä d c h e n w u r d e als mystisches Ideal, als Inbegriff der Philosophie und der Liebe begrüßt (der

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Novalis

N a m e schon deutet auf die heilige Sophia, die Weisheit Gottes in der -»Kabbala). Ihre Erkrankung und seine philosophischen Studien richteten seine Gedanken auf transzendentale und religiöse Begriffe; naturwissenschaftliche Fächer (Chemie und Geologie) waren jedoch auch wichtig, denn im Februar 1796 trat er sein Amt als sächsischer Salinenbeamter an. Zwei Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag (am 19. März 1797) starb Sophie von Kühn; Novalis, der sich auf „Brautnacht, Ehe und Nachkommenschaft" gefreute hatte, vertiefte sich in seine Dichtung und seine philosophischen und naturwissenschaftlichen Betrachtungen. Der Tod des Bruders Erasmus erschütterte ihn schwer, aber die berufliche Tätigkeit und seine Hemsterhuis-Studien halfen ihm, den Verlust beider zu überwinden. Ende des Jahres 1797 studierte Novalis an der Bergakademie in Freiberg bei Abraham Werner; in Freiberg hatte er Julie von Charpentier kennengelernt, und zu Weihnachten 1798 verlobte er sich mit ihr. Im Jahre 1799 begegnete er dem Dichter Ludwig Tieck und stattete einen Besuch bei -»Goethe ab. Er vertiefte sich in das Studium von Henrik Steffens, Friedrich -»Schleiermacher und Schlegel; Ende des Jahres wurde Novalis zum Salinen-Assessor ernannt. Das Jahr 1800 brachte erneute literarische Tätigkeit sowie geologische Untersuchungen und Aufzeichnungen zu medizinischen, religiösen und poetischen Themen; die Freundschaft mit Tieck wurde inniger. Novalis wurde zum Supernumerar-Amtshauptmann im thüringischen Kreise ernannt; bürgerliches Glück (Ehe und berufliche Beförderung) stand ihm bevor. Sein Gesundheitszustand war jedoch bedenklich, denn der Beruf hatte seine schwache körperliche Konstitution untergraben. Novalis starb am 25. März 1801 an Tuberkulose. 2. Werk Der Dichter der blauen Blume, der vom Tod verklärte Jüngling, der romantische Schwärmer: Das sind die Bilder, die mit dem Namen Novalis verknüpft sind. Man darf aber nicht vergessen, daß Novalis ein scharfsinniger Intellektueller war, daß die medizinischen, philosophischen und technischen Studien ebenso wichtig sind wie seine Dichtung, daß die geschichtsphilosophische Studie Die Christenheit oder Europa gleichzeitig mit einem ausführlichen Bericht über das Braunkohlewesen entstand. Novalis war noch nicht dreißig Jahre alt, als er starb, doch die Reichweite seines Gedankengutes ist erstaunlich und fast mit Goethes zu vergleichen. Theologisches, Dichterisches, Philosophisches und Naturwissenschaftliches befinden sich nebeneinander oder verschmelzen in eine fruchtbare Synthese. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, daß das Gesamtwerk das Ergebnis weniger Schaffensjahre war, durch amtliche Tätigkeit unterbrochen, durch schlechte Gesundheit erschwert, aber glücklicherweise durch innige Freundschaft mit jungen Gleichgesinnten befördert. Den echten Anfang seines Schaffens stellte Blütenstaub dar, eine Aphorismen- oder Fragmentensammlung, die 1798 im Athenäum erschien. Diese verstreuten Gedanken entspringen einer „Symphilosophie", die Novalis mit Friedrich Schlegel verband, einer echt romantischen „progressiven Universalpoesie", in der Gedanken über Kunst, Wissenschaft, Religion, Philosophie und Psychologie sich in oft verwirrender Weise durchkreuzen: keine klassisch gerundete Form, sondern Impulse, Gedankenblitze und Aperçus. Aufschlußreich ist der Satz: „Nichts ist zur wahren Religiosität unentbehrlicher als ein Mittelglied, das uns mit der Gottheit verbindet" (Sehr. II, 441-442). Schlegel gegenüber gestand Novalis, sein Lieblingsstudium heiße im Grunde wie seine Braut: Philosophie sei die Seele seines Lebens und der Schlüssel zu seinem Selbst. Sophie wird auch später für Novalis das Sinnbild der christlichen Liebe, der weibliche Teil der Gottheit selbst („Christus und Sophie"). Eine romantische Staatsauffassung kommt in Glauben und Liebe oder der König und die Königin zum Ausdruck. Zur gleichen Zeit entstand der Aufsatz Die Christenheit oder Europa, der aber erst 25 Jahre nach seinem Tode erschien. Als Lob auf das Mittelalter enthält er auch die Hoffnung, daß die neue, romantische Weltanschauung den Keim zukünftiger Größe in sich trage. Im Jahre 1800 erschienen im Athenäum die sechs Hymnen an die Nacht, ein Werk, das durch den Tod Sophie

Novalis

677

von Kühns (und auch seines Bruders) inspiriert wurde: Die dritte Hymne besteht aus der mystischen Vision, die Novalis am Grabe Sophies erlebte. Das Werk ist im wesentlichen eine Sehnsucht nach dem Tode und erstrebt eine Synthese zwischen Christus und Sophie. (Jesus ist „die süße Braut", der Geliebte, dessen Gegenwart die Liebe zu Sophie in der Brust des Dichters entzündet hatte.) Die Schriften, von Schlegel und Tieck herausgegeben, erschienen nach seinem Tode (1802) und enthielten Die geistlichen Lieder (fünfzehn Hymnen, von welchen einige immer noch im protestantischen Gesangbuch zu finden sind), verschiedene aphoristische Fragmente und die zwei unvollendeten Romane Die Lehrlinge zu Sais und Heinrich von Ofterdingen. Die Lehrlinge enthält das Märchen „Hyazinth und Rosenblüte" und ist als eine poetische Auseinandersetzung mit der Philosophie -•Fichtes zu verstehen. Das bedeutendste Werk ist aber Heinrich von Ofterdingen, ein ,Anti[Wilhelm]Meister'; es sollte zeigen, wie ein junger Mensch Dichter wird. Erst durch die Liebe wird der Mensch der Wunder der Welt gewahr: Die „blaue Blume" ist der Inbegriff der Liebe, der Sehnsucht und der Verklärung. Das erste Buch gipfelt in „Klingsors Märchen", in dem Symbole (teils alchemistische, teils christliche), Allegorien und dichterische Metaphern die Wiederkunft des goldenen Zeitalters beschreiben. Sehnsucht, Apotheose und Synthese kennzeichnen den poetischen Prozeß: Philosophie scheint in Kunst, Kunst in Religion und Religion in Liebe aufzugehen und zu verschwinden; der Tod wird als Höhepunkt der Existenz gefeiert und verklärt. 3.

Wirkung

Für viele ist Novalis der romantische Dichter kat exochen. Laut Karl -»Barth: „Romantik ist als Sehnsucht rein und nur als das. Darum ist Novalis reiner Romantiker" (310). Nicht nur die Zeitgenossen, sondern später Geborene haben das Bedürfnis gefühlt, sich mit seinem Werk auseinanderzusetzen. Seine Aphorismen sind besonders aufschlußreich und von einer frappanten Modernität. Die großen Themen (Tod und Liebe vor allem) finden bei ihm innigsten Ausdruck: der Begriff des Traumes, die Synthese zwischen Innen- und Außenwelt, die Uberwindung des Solipsismus, die Verschmelzung von Geist und Materie wirken faszinierend auf spätere Generationen. Umstritten ist aber vieles, besonders seine Christlichkeit (ob mystisch, ob rein persönlich, ob poetisch). Vielen ist auch das synthetische Denken fragwürdig, und Henrik Steffens drückte den Vorbehalt aus, daß „dennoch etwas Ruchloses im Ganzen [lag]" (Brief an L. Tieck v. 11.9.1814), d . h . in der Romantik an sich, besonders in dem Streben, alles mit allem zu vergleichen und stets auf Synthese bedacht zu sein. Quellen Sehr., hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, erg. u. neugeordnete Ausg. in 4 Bdn., Leipzig 1929. - Werke, Briefe u. Dokumente, hg. v. Ewald Wasmuth in 4 Bdn., Heidelberg 1953-1957. - Sehr. Die Werke Friedrich v. Hardenbergs, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel u.a., Stuttgart "1960-1975 3 1977ff. - Novalis. Sehr., Hist.-krit. Ausg. in 5 Bdn., hg. v. Richard Samuel/Paul Kluckhohn/Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz u.a., Stuttgart 1960-1988. Literatur Abraham Avni, T h e O T in Novalis' Poetry: Monatsh. für dt. Unterricht, dt. Sprache u. Lit. 56 (1964) 160-166. - Karl Barth, Die prot. Theol. im 19. Jh., Zürich 1947 4 1981. - Maurice Besset, Novalis et la pensée mystique, Paris 1947. - Eugen Biser, Abstieg u. Auferstehung. Die geistige Welt in Novalis' „Hymnen an die N a c h t " , Heidelberg 1954. - T h o m a s Carlyle, Essays on the Greater German Poets and Writers, London 1829. - Wilhelm Dilthey, Novalis: PrJ 15 (1865) 596-650. - Ernst-Georg Gäde, Eros u. Identität. Z u r Grundstruktur der Dichtung Friedrich v. Hardenbergs, Marburg 1974. - Edgar Hederer, Friedrich v. Hardenbergs „Christenheit oder Europ a " , Diss. München 1936. - Friedrich Hiebel, Novalis. Der Dichter der blauen Blume, München 1951. - Ders., Novalis. Dt. Dichter, Europ. Denker, Christi. Seher, Bern 1972. - Walter Jens/Hans Küng, Dichtung u. Religion, München 1985. - Hans-Georg Kemper, Gottebenbildlichkeit u. Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß, Tübingen 1981. - Uicha Kimura, Novalis u. der Pietismus: Doitsubungaku-Ronko 21 (1979) 2 1 - 4 4 . - M a x Kommerell, Novalis' „Hymnen an die N a c h t " : Gedicht u. Gedanke. Auslegungen dt. Gedichte, Halle 1942. - Georg v. Lukács, Die Seele

Novatian/ Novatianer

678

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Raymond Stephen Furness

Novatian/Novatianer 1. Leben 2. Werk 2 . 1 . Verfasserschaft 2 . 2 . Datierung lung des N o v a t i a n i s m u s (Quellen/Literatur S. 6 8 2 )

1.

2 . 3 . Inhalt

3. Spätere E n t w i c k -

Leben

Novatians Werdegang muß größtenteils anhand des Schrifttums von ihm übelgesonnenen Kritikern rekonstruiert werden. Zu einem unbekannten Zeitpunkt vor dem Jahr 250 wurde er Presbyter der Kirche zu R o m ; der Bischof räumte dabei den Einwand, Novatian habe lediglich auf dem Krankenbett die Nottaufe ( - » Taufe) empfangen, aus dem Weg (Eusebius, h.e. 6,43,17). Wie man vermuten kann, dürfte als Empfehlung für sein Amt unter anderem seine hohe Bildung gedient haben, eine vergleichsweise seltene Qualität unter den Christen jener Zeit und Gegenstand späterer Kritik (ebd. 6 , 4 3 , 7 - 8 ; Cyprian, Ep. 55,24,1). In der Zeit der Vakanz des römischen Bischofsstuhls infolge des Märtyrertods Papst Fabians (20.1.250) im Zuge der Decischen Christenverfolgung (vgl. T R E 8 , 2 6 , 1 2 - 3 5 ) trat Novatian, der sich bisland, wie man es interpretieren könnte, vorsichtig im Hintergrund gehalten hatte, zum ersten M a l auf den Plan, um per Brief eine Interims-Ubereinkunft zwischen -»Karthago und - » R o m in der Frage der lapsi, der unter dem Druck der Verfolgung vom Glauben Abgefallenen, zu bekräftigen (Eusebius, h.e. 6,43,16): Demgemäß sollten, solange die Ernennung eines Nachfolgers Fabians und ein Synodalbeschluß zur Problematik der lapsi noch ausstand, diejenigen, die sich in irgendeiner Weise dem Decischen Edikt, das Opfer an die römischen Götter verlangte, gefügt hatten, - » B u ße für die Sünde des Abfalls leisten, aber nur „bei dringender Todesgefahr" (Cyprian, Ep. 30,8) wieder in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen werden. Der im Spätsommer 250 von Novatian im Namen der römischen Priesterschaft verfaßte Brief hielt im wesentlichen einen Standpunkt aufrecht, zu dem die karthagische Geistlichkeit in einem früheren Briefwechsel gedrängt worden war und den ihr Bischof, -»Cyprian, anschließend bestätigte (Ep. 8,3,1; 20,3,2). Nach dem Ende der Verfolgung wurde im Frühling des Jahres 251 der Presbyter Cornelius mit der Unterstützung der Mehrheit der römischen Gemeinde und einer ansehnlichen Zahl von Bischöfen zum römischen Bischof ernannt (Ep. 55,8,4; 55,24,2; vgl. Eusebius, h.e. 6,43,11 f). Novatian wurde Gegenbischof, unterstützt nicht nur von einigen Geistlichen und Bischöfen, sondern auch von den Konfessoren (vgl. T R E 2 2 , 2 0 9 , 1 5 - 2 5 ) , denen man aufgrund ihrer Leiden wäh-

Novatian/ Novatianer

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rend der Verfolgung eine einzigartige Verehrung entgegenbrachte und die außergewöhnlichen Einfluß besaßen - allerdings konnten einige von ihnen später dazu gebracht werden, die Seiten zu wechseln (Eusebius, h.e. 6,43,5.8.20; 6,46,5). Persönliche Rivalität zwischen Cornelius und Novatian, wie sie sich in den jeweils vom anderen gezeichneten Zerrbildern bekundet, und Probleme der Kirchenzucht verflochten sich in der Folgezeit miteinander (ebd. 6 , 4 3 , 5 - 2 2 ; Cyprian, Ep. 45,2,2; 55,8; vgl. Diercks XI). Cornelius wurde beschuldigt, Gemeinschaft mit denen zu halten, die Opfer dargebracht hätten (Cyprian, Ep. 55,12). Cyprian räumt in der Tat ein, daß Cornelius nicht nur im Falle von „Todesgefahr" die kirchliche Wiederaufnahme derer gebilligt habe, die den römischen Göttern durch Weihrauchgaben Ehre gezollt hätten (Ep. 55,11,3; vgl. 55,13,1). Doch der Streit konzentrierte sich auf die Wiederaufnahme der sogenannten libellatici, die sich in der Verfolgungszeit durch Bestechung oder andere Mittel eine falsche Bescheinigung über die Darbringung des geforderten Opfers verschafft hatten. Dieses Vergehen hielt Cornelius (und letztendlich auch Cyprian) für weniger sträflich als das der sacrificati, die tatsächlich geopfert hatten (Ep. 55,14). Daher übernahm Novatian, der einer billigenden Hinnahme der Opferforderung ebenso sehr die Vergebung verweigerte wie ihrer aktiven Erfüllung, die Führung der sog. „Reinen" (Kadapoi) (Ep. 55,13,2; 30,3,1; Eusebius, h.e. 6,43,1). Da das Problem der lapsi die Kirche allgemein berührte, warben die beiden gegnerischen römischen Bischöfe weitgreifend um Unterstützung. Im Westen sah sich Novatian im Sommer 251 einem allgemeinen Konsens gegenüber, der durch Synoden zu Carthago und Rom bestätigt worden war, daß nämlich bußfertige libellatici, jedoch keine sacrificati, wieder in die Kirchengemeinschaft aufgenommen werden sollten (Cyprian, Ep. 55,6,2; Eusebius, h.e. 6,43,2). Dann aber wurde im Frühsommer 253 in der Erwartung einer weiteren Verfolgung die Rekonziliation auch auf sacrificati ausgedehnt, die hinlänglich Buße geleistet hatten (Cyprian, Ep. 57,2,2). Im Osten kam es, obwohl Novatian zunächst in Fabius von -»Antiochien einen Verbündeten gefunden hatte, zu einer Übereinkunft zwischen —> Alexandrien und Antiochien, die die Rekonziliation der lapsi befürwortete und Cornelius unterstützte (Eusebius, h.e. 6,44,1; 6,46,3f). Novatian aber organisierte trotz seiner offiziellen Verurteilung die Opposition zu einer solchen Kompromiß-Politik und trat an die Spitze einer eigenen Hierarchie von Gleichgesinnten (Cyprian, Ep. 55,24,2; 59,9,2; Socrates, h.e. 4,28). Die von einem unbekannten Kritiker in Afrika oder Italien vermutlich noch zu Lebzeiten Novatians verfaßte Schrift Ad Novatianum zeigt, wie jede Seite beharrlich ihren Standpunkt mit Schrifttexten unterfütterte (Novatian, ed. Diercks 129-152). Zusätzlich zu seiner Rolle als Polemiker scheint Novatian einige Jahre lang oberhirtliche Aufgaben erfüllt zu haben (De bono pudicitiae l , 2 f ) . Als einer der prominentesten Christen Roms dürfte er während einer späteren Verfolgungsphase gestorben sein, möglicherweise 258 unter Valerian, wenn nicht durch Hinrichtung, so doch in der Verbannung. Seine Gegner allerdings stritten ihm erwartungsgemäß die Berechtigung des Märtyrertitels ab, den seine Anhänger später für ihn beanspruchten (Pacianus, Ep. 2,7: PL 13,1062f; Socrates, h.e. 4,28; Eulogius, fr. Novat. 280: PG 104,353f). Eine Inschrift und ein Kalender-Eintrag, die das Gedächtnis mindestens eines römischen Märtyrer namens Novatian bezeugen, werfen ungelöste Fragen der Identifizierung auf (Vogt, Coetus 2 4 - 2 6 ) . 2. Werk 2.1. Verfasserschaft. Mehr oder minder sicher können Novatian vier teils unter dem Namen Tertullians, teils unter dem Cyprians erhaltene Schriften, nämlich die Abhandlung De trinitate und die drei kleineren Traktate De cibis iudaicis, De spectaculis und De bono pudicitiae, sowie drei Briefe aus der cyprianischen Briefsammlung (Epp. 30,31 und 36) zugeschrieben werden (Diercks V f ) . Daß sie nur einen Teil seines Schaffens darstellen, läßt sich aus der von —»Hieronymus gegebenen Aufstellung der Schriften Novatians ersehen. Hieronymus nennt: De pascha, De sabbato, De circumcisione, De sacerdote, De oratione, De cibis iudaicis, De instantia, De Attalo „und vieles mehr,

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Novatian/Novatianer

außerdem das umfangreiche Werk" De trinitate (Vir. 70). Der Traktat De cibis iudaicis, dessen Titel auf der Liste des Hieronymus erscheint, spielt auf zwei weitere, nicht erhaltene Schriften an, die sich mit De sabbato und De circumcisione aus der genannten Liste identifizieren lassen (Cib. 1,6). Obwohl De spectaculis und De botto pudicitiae nicht ausdrücklich von Hieronymus angeführt werden, könnten diese unter die Wendung „und vieles mehr" subsummiert werden. Hieronymus sah im charakteristischen Stil des Verfassers von De trinitate eine Bestätigung der schon zu seiner Zeit umstrittenen Zuschreibung dieser Schrift an Novatian (Ruf. 2,19). Tatsächlich beruft sich die moderne Wissenschaft bei der Zuschreibung der genannten Schriften an Novatian neben einer gewissen sachlich-inhaltlichen Stringenz ebenfalls auf stilistische Argumente (s. Melin). Das gleiche gilt für seine Briefe, von denen lediglich drei aus einer einstmals vermutlich umfangreichen Korrespondenz (Cyprian, Ep. 45,2,1; Hieronymus, Ep. 10,3; Socrates, h.e. 4,28) die Zeit überdauert haben. Da Cyprian (Ep. 55,5,2) darauf hinweist, daß Ep. 30 von Novatian verfaßt sei, können demselben auch die stilistisch sehr ähnlichen Epp. 31 und 36 zugeschrieben werden. 2.2. Datierung. Eine genaue Datierung ist unmöglich, außer im Fall der Epp. 30, 31 und 36, die sich alle mit dem Problem der lapsi im Spätsommer 250 befassen (Diercks XII; Clarke 11,115.133.165). Da De bono pudicitiae, wie ihr Beginn erweist, in eine Reihe von pastoralen Ansprachen eines abwesenden Bischofs an seine Gemeinde gehört, muß diese Schrift nach der Erhebung Novatians zum Bischofsamt im Jahr 251 angesetzt werden (Pud. 1 , 1 - 3 ) . Zu derselben Reihe gehören vielleicht auch De cibis iudaicis und De spectaculis, in denen ebenfalls ein abwesender Amtsinhaber, allerdings nicht notwendigerweise ein Bischof, durch Briefkontakt seine Hirtenpflicht erfüllt (Spect 1,1; Cib. 1,1-3). Möglicherweise wurden diese beiden Traktate jedoch früher verfaßt, als Novatian noch Presbyter war (Vogt, Coetus 2 7 - 3 5 ) . Gemeinhin wird vorgeschlagen, De trinitate ebenfalls vor 251 zu datieren, vor allem, weil Novatians literarische und philosophische Kompetenz, die in dieser Schrift am besten entfaltet ist, anscheinend schon anerkannt war, bevor er sich ins Schisma begab (Harnack 226). 2.3. Inhalt. De trinitate ist womöglich nicht der ursprüngliche Titel, da der Terminus „Trinität" im Werk selbst in keiner Weise auftaucht. Dem Verfasser geht es, wie zuvor -•Tertullian, hauptsächlich darum, den zweiten Satz des dreiteiligen Glaubensbekenntnisses gegen christologische Fehlauslegung zu verteidigen (Trin. 30,1 f; vgl. Tertullian, Prax. 1 , 1 - 3 ; Hieronymus, Vir. 70). Der Vergewisserung des Glaubens an Gott als den Schöpfer folgt der Hauptteil, in dem die wahre Menschheit und Gottheit des Sohnes und seine ewige Beziehung zum Vater gegenüber marcionitischen (-»Marcion/Marcioniten), doketischen, adoptianistischen und sabellianischen Theorien (-»Jesus Christus II) verfochten wird (Trin. 1 - 8 ; 9 - 2 8 ; 3 0 f ) . Eine kurze Passage über den heiligen ->Geist, der in der Taufe empfangen wird, betont dessen Rolle bei der individuellen Heiligung und beim Schutz der Kirche vor verschiedenen Sünden, insbesondere der Häresie (ebd. 29). De cibis iudaicis andererseits setzt, zusammen mit den nicht mehr existierenden De sabbato und De circumcisione, eine andauernde Diskussion unter den Christen über die Wichtigkeit von Speisebeschränkungen und anderen alttestamentlichen Vorschriften voraus (Cib. 1,5; vgl. Hieronymus, Ep. 36,1). Hier wird geltend gemacht, daß, wenn wahrer Glaube und ein reines Gewissen die Nahrung der Christen sind, Freiheit in Belangen gewöhnlicher Nahrungsmittel Enthaltsamkeit, nicht Maßlosigkeit bedeutet; Götzenopferfleisch hingegen bleibt für Christen nicht weniger streng als für Juden verboten (Cib. 5—7). Die Traktate De spectaculis und De bono pudicitiae sind homiletische Bearbeitungen traditioneller Themen: Ersterer kritisiert Christen, die sich der Unsittlichkeit und dem Unglauben aussetzen, indem sie Spiele oder das Theater besuchen, wohingegen letzterer zu sexueller Enthaltsamkeit aufruft und dafür Jungfräulichkeit, Enthaltung in der Ehe sowie eheliche Treue - in dieser Reihenfolge — empfiehlt (Pud. 14,4; vgl. Tertullian, De spectaculis; De pudicitia). Alle diese Werke betonen die wesen-

Novatian/Novatianer

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hafte Reinheit der Kirche, obwohl man darüber diskutieren kann, wie weit Novatian dabei eher stoischem Moralismus (-»Stoa/Stoizismus) als frühchristlichem Rigorismus verpflichtet war (vgl. Vogt, Coetus 136-138). Es scheint immerhin, daß die rigoristische Einstellung gegenüber „sexuellen Sünden", ein Charakteristikum späterer Novatianer, auf Novatian selbst zurückgeht (Spect. 1,3; Pud. 2 , 1 - 2 ; 6 , 1 - 7 ; vgl. C Nie. [325], can. 8). Die Briefe 30, 31 und 36 schließlich werfen die Frage nach Novatians Einstellung zur Buße auf. Möglicherweise kann nach wie vor die Ansicht vertreten werden, er habe Apostaten die Teilhabe an der Kommunion zu ihren Lebzeiten verweigert, weil er glaubte, sie könnten ihre Sünde nur - falls überhaupt - mit der längstmöglichen Buße sühnen, und er habe somit das Urteil über ihre Angelegenheit letztendlich Gott überlassen (Cyprian, Ep. 55,28,1; vgl. Ep. 30,6,2-7,1; Harnack 236-240). Da der Gedanke der Buße in den erhaltenen pastoralen Traktaten allerdings kaum erwähnt ist, in denen vielmehr die Sorge um die Reinheit der Kirche zum Ausdruck gebracht wird, wurde dahingehend argumentiert, daß Novatian den lapsi durch deren fortwährenden Ausschluß jede Hoffnung, sogar die auf göttliche Vergebung, versagt habe (Pud. 13,4; vgl. Ad Novat. 13,10; Vogt, Coetus 140-153). 3. Spätere Entwicklung

des

Novatianismus

Die erhaltenen Zeugnisse sind zwar meistens einseitig, können aber doch hinreichend zeigen, daß die novatianische Gemeinschaft angesichts offizieller Mißbilligung und gelegentlicher Verfolgung nicht nur mehrere Jahrhunderte lang in vielen christlichen Hauptzentren überall im Reich ihre Existenz behauptet, sondern sich in einigen Bereichen sogar weiterentwickelt hat (Vogts, Coetus 183—289). Das Konzil von -»Nicäa von 325 förderte die Aufnahme von novatianischen Geistlichen in die katholische Kirche durch Handauflegung - unter Beibehaltung ihres Ranges - , sofern sie dem Novatianismus abschworen, d . h . insbesondere, daß sie den Widerstand gegen die Kirchengemeinschaft mit Apostaten oder Wiederverheirateten, die ordnungsgemäß ihre Buße abgeleistet hatten, aufgaben (C Nie. [325] can. 8). Dennoch gewährte eine Kaiserkonstitution von 326 den Novatianern, zumindest für einige Zeit, eigene Gottesdienststätten (Cod. Thds. 16,5,2). Im Westen zeigt eine umfassende Widerlegung des Novatianismus, die in den dem -»Ambrosiaster zugeschriebenen biblischen Quaestiones enthalten ist, daß die Gemeinschaft auch im späten 4. Jh. nach wie vor Auseinandersetzungen wachrufen konnte; dasselbe bezeugen des weiteren -»Ambrosius in Italien, Pacianus in Spanien sowie für das frühe 4. Jh. in einem heute verlorenen Werk Recticius in Gallien (Pseudo- Augustinus, Qu. test. 102; Ambrosius, Paen. 1,3; Pacianus, Epp. tres; Hieronymus, Vir. 82). Daß -•Augustinus die Novatianer nur flüchtig behandelt, mag die Tatsache widerspiegeln, daß diese in Afrika zu seiner Zeit ihre Führungsrolle als Verfechter einer „puritanischen" Haltung bereits an die, wenn auch anders gearteten, Donatisten abgetreten hatten (Haer. 38). Im Osten weist Eusebius von Emesa auf zunehmende Unterstützung für den Novatianismus in Syrien im 4. Jh. hin; seine anti-novatianistische Abhandlung existiert allerdings nicht mehr (Hieronymus, Vir. 91). Der Kirchengeschichtsschreiber Socrates, der, selbst katholisch, die Novatianer voller Bewunderung als entschiedene Christen und sicherlich nicht als Häretiker betrachtete, liefert umfangreiches Belegmaterial von unterschiedlichem Wert; es stammt häufig aus persönlichen Kontakten in Konstantinopel und bezeugt für das 4. und 5. Jh. die Existenz des Novatianismus in der östlichen Hauptstadt und in vielen Teilen -•Kleinasiens, wo sein Erfolg möglicherweise, auf jeden Fall bis zu einem gewissen Grad, als Wiederbelebung eines montanistischen (-»Montanismus) Rigorismus erklärt werden kann (Socrates, h.e. 4,28; 5,21; 7,6 et pass.; vgl. Sozomenos, h.e. 2,22). Eine noch im 7. Jh. von Eulogius von Alexandrien verfaßte umfangreiche, allerdings nur fragmentarisch erhaltene Widerlegung des Novatianismus fr. Novat. ap. Photium, cod. 182; 208; 280) ist ein augenfälliger Beweis für die Vitalität dieser Bewegung.

682

Nubien

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Nubien 1. N a m e 2. Geschichte 2.1. Vorgeschichte 2.2. Nubien und Ägypten 2.3. KuschitischMeroitisches Reich 2.4. Frühchristliche Zeit 2.5. Nobatien und Makurien 3. Kirchen- und Kulturgeschichte (Anmerkungen/Literatur S. 693) 1.

Name

N u b i e n (LÄ 4 [1982] 5 2 6 - 5 3 2 ) , ein T o p o n y m , das auf Erathostenes (3. Jh. v . C h r . ) zurückgeht, b e z o g sich auf das Volk der Novßai, w i e Strabo (XVII,1,2; vgl. Plinius, hist.nat. VI,192; P t o l e m a i o s , G e o g r . I V , 7 4 8 - 7 8 3 ; dazu s. D e s a n g e s , C a t a l o g u e 194; ders., Recherches; M a n n e r t / S c h o l z ) überliefert hat. Seit d e m H e l l e n i s m u s bis in das Mittelalter w u r d e dieser N a m e für das Gebiet des N i l t a l e s z w i s c h e n den Katarakten, also v o n A s s u a n bis zur Bayuda-Steppe b z w . W ü s t e (nach der traditionellen A u f t e i l u n g nur bis zu Taqassi, d . h . N-Breite 16°), v e r w e n d e t . O b d a s T o p o n y m N u b i e n aus d e m ägyptischen Wort nbw für G o l d NOYB (kopt.) s t a m m t , ist umstritten. D i e heutigen N u b i e r v e r w e n d e n diesen N a m e n nicht m e h r - o b w o h l er im Arabischen als N ü b a ( h ) v o r k o m m t (EI 6 [1927]

Nubien

683

942-946) man spricht nur vom Biläd el barabra (EI 2 1 [1960] 1028f) und von Nobiin als der Sprache der Nubier (s.u.); das hängt mit dem durch die Mahdlya (HIsL 3 9 3 - 3 9 7 ; RGG 3 4 [1960] 604f), d.h. seit Muhammed Ahmad ibn 'Abdallah ( 1 8 4 3 - 1 8 8 5 ; EI 6 [1927] 6 8 0 f ) , sich extrem intensivierenden Islamisierungsprozeß (s.u.) zusammen, in dessen Folge man mit einer quasi wissenschaftlichen Legitimation eine „Afro-Arab culture" im Sudan zu postulieren bemüht ist1. Die vielfältige Toponomastik (Zibelius, Afrikanische Ortnamen) mit den Bezeichnungen: Wawat (;w3w3t), Schaat (s3't), Irame (jrm, j-T-mj-y, jw-r-mjw), Kusch (k3s, ks; vgl. LÄ 3 [19S0] 8 8 8 f ) ,

Medja (md3, md3jw), Jam (jm3, j3m), Punt (pwnt, pwn-'t), Ai&ionia (Ableitung von AiMoy, so auch in Act 8,26 f; erst seit Philostorgios, K G 111,10 als Landbezeichnung) 2 , Mspöv AWSEKO.- (Ptol. IV,5,74) bzw. /TQiÖKOvza-a/oTvoq (s. T ö r ö k , Dodekaschoenos 79), wird durch die altägyptischen, seit dem Hellenismus auch durch die klassisch-antiken Überlieferungen (s. T ö r ö k , Geschichte; Desanges, Bilan), denen man altorientalische und biblische hinzufügen kann, geprägt. Neben dem bekanntesten und fast von allen orientalischen Kulturen übernommenen Toponym Kusch (IBD 3 4 9 f ) , akk. Kasi, ass. Kusi, pers. Kuschaya, meroit. Qes (Qesw, Q o s ) , hebr. Ks (so auch in Gen 2 , 1 3 ; 10,6ff; Ps 7,1; s.u.), griech. XoOc ( L X X : Gen 10,6), sonst Land der AiSioneq (auch in L X X , II Reg 19,9; Josephus, Ant. 131), altnub. KAC gibt es noch andere, wie z . B . Melublja und Ophir ( = Punt?, s. Herzog, Punt; dazu Rez. Kitchen: O r . 4 0 [1971] 185ff), die aber immer noch sehr umstritten sind, insbesondere was ihre Lokalisierung anbelangt (Scholz, Aithiopen 295 ff). Schon unter Kusch sind nach der alttestamentlichen Uberlieferung drei verschiedene Länder bzw. Völker zu verstehen. Eines ist in Südarabien (Gen 2,13; II Chr 21,16) zu lokalisieren; ein anderes bezog sich auf das Land des Assyrerkönigs Tukulti-Ninurta I. ( = Nimrod, 1 2 4 3 - 1 2 0 7 v . C h r . ; Gen 10,8) und ein weiteres auf Nubien, das Land der Aithiopen bzw. Kuschiter (II R e g 19,9; Jes 2 0 , 3 - 5 ) ' . D a s hat bis in die Gegenwart spürbare Konsequenzen für die Rezeption der Länder und Völker Nordostafrikas, weil man bei der Suche nach der Genese der Völkerschaften im Raum des Roten Meeres große Unsicherheiten feststellen kann (Baumann, Völker; Desanges, Recherches; Updegraff/Török).

2. Geschichte

(vgl. Zeittafel)

Nubien ist somit aus geohistorischer Sicht nur schwer topographisch zu umreißen, selbst wenn man den linguistischen Aspekt und die Ausbreitung der nubischen Sprachen 4 : Kunüzi/Fadidja (auch Fadicca, Khalil M o k t h a r , W ö r t b . ) , M a h a s und Sukkot/Sakküt (auch Nubiin genannt: Werner, Grammatik), Dongolawi (Armbruster) einbezieht. Die Islamisierung bedeutet eine totale Arabisierung und umgekehrt; die Nubisch sprechende Bevölkerung (Herzog, Nubier) wird verdrängt und gesellschaftlich als minderwertig behandelt (nubische Sprachen werden am meisten noch von den Frauen beherrscht, s. Kronenberg, Märchen 271). Die als nubisch erkennbaren Gebiete schrumpfen. Eine geschichtliche Darstellung muß daher einen Raum umfassen, der nicht nur die ca. 2 0 0 0 km des Kataraktenniltals, sondern auch Gebiete im Norden (—•Ägypten) und Süden (-»Äthiopien), die eng mit der Ostwüste zwischen dem Niltal und der Küste des Roten Meeres, aber auch mit der östlichen Sahara 5 verbunden sind, beinhaltet. Es läßt sich deshalb von einem nubisch-äthiopischen Raum sprechen, der neben dem heutigen Nordsudan Teile Südägyptens und sogar Äthiopiens (Erithrea) umfaßt (Scholz, Orbis aethiopicus). In Folge der Umsiedlung, die der Bau des großen Assuanstaudammes in den 60er Jahren verursachte, sind jetzt Nubier im R a u m von Kom O m b o (Ägypten) und in Khashm el Gibra in der Kassala Provinz (Sudan) ansässig. M a n kann heute die Zahl der Nubier in Ägypten mit ca. 5 0 - 6 0 . 0 0 0 und im Nordsudan mit ca. 1 5 0 - 1 8 0 . 0 0 0 angeben (Dafalla, Exodus, mit genauer Statistik).

2.1.

Vorgeschichte

Die Vorgeschichte Nubiens (Arkell, Wendorf), die sich seit über 100000 Jahren nachvollziehen läßt, ist hier besonders reich an archäologischen und paläonthologischen Dokumenten, die eine grobe Rekonstruktion von ökologisch-kulturellen Phasen ermöglichen (s. Konferenzen in Dymaczewo, Bibliogr.). Sie lassen sich nicht nur als Spuren eines „corridor to Africa" (W.Y. Adams) interpretieren, sondern weisen auch Eigenständigkeiten auf, die die Einheit des nordostafrikanischen Raumes und seine ursprüngliche Verbindung mit Südwestasien belegen. Die ökologischen Bedingungen haben sich im Laufe der Jahrtausende stark verändert (Butzer). Es verschwanden nicht nur die westlichen Zuflüsse des Nils (Kuper, s.Anm. 5), sondern auch Fauna und Flora reduzierten sich erheblich. Dieser ökologische Prozeß war im 6 . / 5 . Jh. v. Chr. abgeschlossen.

684

Nubien

Seit dieser Zeit scheinen nur geringfügige Veränderungen stattgefunden zu haben. Die an Funden reiche kulturelle Entwicklung ist am besten durch die Entdeckungen in Kerma (Reisner, Bonnet) belegt. Dort etablierte sich zwischen Ende des 3. und Anfang des 2 . J t . v.Chr. eine Hochkultur, die intensive Kontakte mit den sogenannten Hyksos (TUAT 1,525 - 5 3 4 ) unterhielt und die deshalb für die Josephsgeschichte (Gen 3 7 - 5 0 ) relevant ist (Scholz, Aithiopen). 2.2. Nubien

und

Ägypten

Kultureller Austausch und Handelsbeziehungen zwischen Ägypten und Nubiern (auch als „Südländer", nhsjw bezeichnet) waren im Laufe der Geschichte von unterschiedlicher Intensivität (Säve-Söderbergh, Ägypten; Trigger, Nubia). Seit den Anfängen der ägyptischen „Geschichtsschreibung" sind Berichte und Quellen über gegenseitige, sowohl friedliche als auch kriegerische Kontakte vorhanden. Als Beispiele bieten sich an: die Reise des Herchuf nach Jam unter Pepi (2200 v.Chr.) 4 ; die Versuche der ägyptischen Könige, den Nil auch im Kataraktenbereich schiffbar zu machen, wofür man kanalartige Erweiterungen des Flußbettes durchführte (Kurt Sethe, Urkunden des Alten Reiches, Leipzig, I 2 1933, 108,13); die Errichtung von Festungen in Semna West und Süd, Kumma, Uronarti, Mirgissa, Buhen, Serra Ost und West, Faras (s. Ausgrabungsberichte u. LÄ); Expeditionen und Feldzüge, die in der Zeit des Neuen Reiches bis zum III. und IV. Katarakt führten (Thutmosis III.; Amenophis III., IV.; Sethos) und die für fast 1000 Jahre die territoriale Macht Ägyptens über Unternubien (Zibelius-Chen, Expansion) bestehen ließen, was man jedoch nicht mit dem Begriff „Kolonie" versehen kann (Hofmann, Kolonie). So wird verständlich, daß es im Neuen Reich zu so vielen Tempelbauten (Säve-Söderbergh, Temples) im Niltal zwischen den beiden ersten Katarakten gekommen ist, unter denen die des Ramses II. in Abu Simbel (Scholz, Abu Simbel) Weltruhm erlangten. Dort befindet sich auch die biblisch relevante Darstellung der Schlacht bei Kadesch (NBL 2 [1992] 4 2 1 - 4 2 4 ) . 2.3. Kuschitisch-Meroitisches

Reich

Die kriegerischen Konfrontationen und ihre Manifestationen bestätigen, daß es in Nubien politische Kräfte gab, die gegen Ägypten Widerstand leisteten. Ägyptische „Ächtungstexte" mit ihrer geringschätzigen Bezeichnung „elendes Kusch" (k3s hzjt) bestätigen das. Im Süden etablierte sich langsam eine neue kuschitische Macht mit dem Zentrum in Napata (um 1000 v.Chr.). In Napata (meroit. Amanapa, LÄ 4 [1982] 342ff) entstand am Fuße des heiligen Berges Gebel Barkai der große Amun-Tempel (neue Forschungen: Kendall), den angeblich die unter Amenophis IV. (Echnaton) aus Kamak vertriebenen Priester errichtet haben sollen 7 , eine Verehrungsstätte des widderköpfigen Gottes Amun, der im Neuen Reich zum ägyptischenen Reichsgott aufstieg und dessen Ursprung als Widder-Gott auf den kuschitischen Einfluß zurückgeht, was D. Wildung nachgewiesen hat*.

Von diesem kuschitischen Machtzentrum breitete sich die Herrschaft über ganz Nubien aus, bis sie schließlich in der Zeit der 25. kuschitischen ( = äthiopischen; s. Manetho) Dynastie auch Ägypten erfaßte (TUAT 1,557-594). Die Könige dieser Dynastie: Schabako, Schebitku, Taharqo (der biblische Tirhaqa: II Reg 19,9), Tantamani (bzw. Tanwetamani) initierten eine Renaissance der altägyptischen Kultur im Sinne des Alten Reiches (Kitchen; Leclant, Recherches). Dafür sprechen auch ihre Begräbnisstätten in el-Kurru und Nurri, über die sich relativ kleine Pyramiden erheben. Kuschiten wurden zu Gegenspielern der Assyrer, weshalb auch das Alte Testemant über sie berichtet (s.u.). Nubier werden als Gefangene in den Ninivereliefs dargestellt (British Museum Nr. 124928)', in der Wunschvorstellung des Asarhaddon (670-669) wird aber auch Taharqo als sein Gefangener - zusammen mit Abdimilkutti von Sidon - auf einer Stele aus Sam'al (Zincirili/Türkei, Staatliche Museen Berlin) 10 wiedergegeben (vgl. T R E 4,265-277).

ZEITTAI Zeit

Ägypten

Mittelmeerraum/Europa Mesolithikum

4900 3900

Uegalilh-Kullvr Amralien

3800

Ica.3800)

3700 3600 Nagada

3500

II

3400

Abitan Schahetnab

3300 3200

Nagada III Pridynastische

Perioda

3100

A-G

ruppe

3000 2900 AR (ca.2800-2000)

2800 2700

Djoser

• Pyramide

12650)

Ägyptisch» Festungen im Raum I II Katarakt

A

2500

Kykladem

2400 2300

Früh - u. II. Helladische

Uittel-Uinoische Kultur 2600-1600

PEPI I I

Tumbus Bugdunbush

m>

(2200-2160)

2100 2000

MR (ca.2000-1700) SESOSTRIS

C - Gruppe >Kerma

1900

(1881-1842)

1800 1700

Hyksos

(1650-1540)

1600

NR (1550-1050) Deir el

Uykene

Bahari

1500 HATSCHEPSUT RAMSES I I

11600-1150)

(1479-1458)

Seevölker

1100

Spät Z Athen unter P E R I K L E S ( t 4 9 2 ) HERODOT. ALEXANDER HANNIBAL

900

(946/24)

800

Olympisch« Spiel* 17761 GrQndnung Roms (um 750) (664-332)

25 Dys.

PIJE ( 7 4 5 - 7 1 3 ) SC HB ~ A K O (713-698) :H

500

JOdische Wilitirkoloni» Elephantine Ibis 3991

d.Gr.(356/10-23)

PTOLEMAER

300

(310-30)

200



Ikonoklastlsche Auseinandersetzungen (726 843) n Portiers (732) KARL d.Gr (768-814)

(30•

)

KLEOPATRA VII

(69-30)

200

Diokletianische Verlolgung (303(11) 'Pachom Klostergrundungen •Arlus-Streit (311-381) Byzantiner 'Nestorlus in Verbannung

300

Isis - Heiligtum aul Perser C H O S R A U I I ( 5 9 0 - 6 2 7 )

600

Philae geschlossen (537)

400 500

Sulra

X-G ruppe

SILK

Qustol/Ballana Nobatia

Uakuria 700 Faras ! Pachoras Nubisch äthiopischer Feld.'.ug n. Alexandria Alodia P A T R I A R C H ».ALEX. (744/68) Arabische Eroberung (641)

S A L A D I N ( 1 1 3 7 - 1 193) •('291).

• AJJUBIDEN M A M E L U K E N (ab 1 2 6 0 )

*

M K' Z.

1000 . Auseinandersetzungen Qasr Ibrim

1200

1300 1400

1453 Eroberung Konstaniinopols

Meroi Naga Musawwarat el

100 Gnostische Sekten

F A T I M 1 D E N ( 9 6 9 / 1 171)

Cypern (1489)

Gebet Barkai INapalai

0

900

KreuzzOge (1096/1291) Kubischer König In Konstantine in Ko n st an ti no- j-o y i 2 0 4 ) F R I E D R I C H II (1194

SCHE TAHA

100

Rimer

N E R O ( 5 4 - 6 8 ) "Paulus In Rom 313 Toleranzedikt von Maifand K O N S T A N T I N (324-337) • A U G U S T I N U S (354/430) cnalcedon [ 4 5 1 ) U J S T Y N I A N und T H E O D O R A (483/527-565)

fli

Kam

400 .

(247-183)

CAESAR ( t 4 4 ) Prisen von Samos (21/22) zwischen Auguslus&Mero4

Kuschitisches El

700

Skythen Perser

Hist.(484-425)

-

Tutmosis - Stele bei Kurgus (IV.Kai.)

1000 SHESCHONQ

- Gräber

1300

(1279/12)

1200

i

Plannen

1400

1500

(1172-117 Arabtsc

TTAFEL Kusch - Meroè -

Nubien

1

Äthiopisches Hochland

Vorder

|Arabien|

Orient

Indus - Tal

Kulturen

S«6«! Moyl

Djemdet

Nasr

Städtebau

Elam DUmun Meluha/Megan Ur-Kónlgsgrlber

ush Reise des H e r c h u l

(ca.2260)

Hethiter Hawelti-Melazo HAMMURABI (1793/50) ügarit Gribar

-

Kultur

Alphabet

um 1500

P u n i E x p e d i t i o n dar H a t s h e p a u l / F Ü R S T I N ITI

SUPILULIUMA (1380/1346) n Kadesch (1286)

Siele bei '.Kat.)

hitisches

SttvOlkar / Troja fìeich

Königin « SABA

Ophir Raisan -

S A L O M O (um 9 7 2 - 9 2 9 )

ALARA KASCHTA SCHEBITKU (700-690) T A H A R Q O (690-664) TANWATAMAN1 (664-653)

r ¡ Eltekoh (701)

KAMBYSES Feidzug bis Napata ?(525) j

Assyrer

ASSARHADDON (681/60)

Perser

KYROS II ( 5 5 9 - 5 2 9 )

S a b a l s c h e H a n d e l s k o l o n i e in M a r o !

aga at el Sutra

HARSIJOTEF NASTANSEN ERGAMENES ERGAMENES

omischa Nilarkundungan

(ca. 404-369) (um 3 2 8 - 3 0 8 ) I (270-260) II < 2 1 8 - 1 9 5 )

1

t

Matara

Skythen

Kandaka Amanitore Bekehrung das Eunuchan d a r K a n d a k a ( A p g 1.26.1)

(60)

AálOKA und Ausbreitung d.

Buddhismus

Blemmyer fBe0a)

'Periplus M a r i s Er y Ih '

Palmyra

Christianisierung

M e r o * wird durch dia Aksumltef erobert (ca.350)

E Z A N A . K ö n i g > AJuum

" a n a S I L K O (Inschrift)

Kreuzigung 'Jesu Jerusalem Tempel « I r d Z e r s d o r l (70)

(ZENOBIA (212) •MANI (216-276) K o n z i l «. E p h e s o s ( 4 3 1 )

Aithiopia Himyaritische Kriegs (518/42)

!choras hl«

M E R K U R 1 0 S (um 6 9 0 ) Vereinigung Nobadlen KYRIAKOS ( 7 4 8 - 7 6 5 ) mil Makurian

• M U H A M M E D (570/632)

Z A C H A R I A S (822)

C H O S R A U II ( 5 9 0 - 6 2 7 ) ABBASIDEN (750-1258)

Georglos Gesandschall nach Bagdad (836)..

j ü d i s c h e Königin J U D I T H

K O N I G S A L O M O N (um 1080)

KreuzzQge

(1172-1173) Arabische

SALADIN ( 1 1 3 8 - 1 1 9 3 ) Invasion M u s l i m e in A l t D o n g o l a

(1317)

Z A G W E - DVN. LALIBELLA A H M E D GRAÑ

j

Nubien

685

M i t der Verdrängung der Kuschiten aus Ägypten endete z w a r ihre H e r r s c h a f t über T h e b e n und Ägypten, nicht a b e r über N u b i e n . D o r t stabilisierte sich ihre M a c h t bei gleichzeitig w a c h s e n d e m Interesse für Innerafrika 1 1 , a b e r a u c h für den R a u m des R o t e n M e e r e s ; m a n unterhielt gegenseitige K o n t a k t e mit den a r a b i s c h e n Königreichen, z . B . mit S a b a 1 2 , wahrscheinlich sogar mit Indien und C h i n a . D i e E n t w i c k l u n g von M e r o e als Z e n t r u m der aktiven M a c h t des kuschitisch-meroitischen sakralen Königreiches - das allerdings i m m e r n o c h von dem O r a k e l aus N a p a t a b e s t i m m t w a r - ging von der E x e kutive aus, die in den H ä n d e n der in M e r o e residierenden K a n d a k e ( N B L 2 . 8 [1992] 4 3 9 f) lag. Das Phänomen des sakralen -»Königtums (TRE 19,323 - 3 2 7 ) im kuschitisch-merotischen Reich ist beispielhaft für das Niltal (die Ansicht wird nicht von allen Forschern geteilt, s. Török, Staat u. Rez. v.Scholz: Nubica 1/2 [1987/88] 383f; ders., Geschichte). In seiner beinahe archaischen Form wirkte es sich bis zum Ende des meroitischen Reiches (ca. Mitte des 4. Jh.n.Chr.) aus. Bedeutsam ist dabei die Stellung der Königsmutter, die im kuschitisch-meroitischen Raum als Ktk (KavöäKri, so auch in Act 8,27, s.u.) bezeichnet wird. Sie legitimiert als Auserwählte des Gottes Amun das göttliche Erscheinen des irdischen Horus, des jeweiligen Königs. Daraus resultiert ein Herrschaftsmodell, in dem der jeweils regierende Gott-König als „Legislative" - nur seine bloße Existenz garantiert die Weltordnung, die Ma'at (Assmann, Ma'at) - im Schutz des heiligen Bezirkes (Orakel) weilte und die reale Macht als „Exekutive" der jeweiligen Kandake zugeteilt wurde. Für das sakrale Königtum war nicht die irdische Realität, sondern die Aufrechterhaltung der sakralen Ordnung von Bedeutung. D i e kuschitischen H e r r s c h e r erwehrten sich der persischen Invasion, die unter K a m byses ( 5 2 5 v . C h r . ) angeblich bis N a p a t a vorgedrungen sein soll ( H e r o d o t I I I , 1 7 f f ; M o r k o t , N u b i a ) , und versuchten i m m e r wieder, mindestens den südlichen Teil Ägyptens unter ihre K o n t r o l l e zu bringen bzw. ihn zu halten. D o r t herrschten j e d o c h bis zum Ende des 4. J h . v. C h r . die Perser, die u. a. die Juden in ihrer ägyptischen D i a s p o r a ( T R E 3 , 7 0 8 — 7 1 8 ) insbesondere in Edfu und Elephantine unterstützten ( - • Perserreich und Israel) 1 1 . N a c h dem Sieg über die Perser veränderte sich die Situation der J u d e n in Ägypten soweit, d a ß sie Elephantine ( R G G 3 2 [1958] 4 1 5 ff) verließen; hierbei scheint für sie der Weg n a c h Süden der einfachste gewesen zu sein. D i e Stellung der J u d e n verdient im Z u s a m m e n h a n g mit Kusch/Äthiopien besondere B e a c h t u n g , nicht nur wegen der E r w ä h n u n g e n im Alten T e s t a m e n t ( G e n , 2 , 1 3 ; 1 0 , 6 f f ; N u m 1 2 , 1 ; II R e g 1 9 , 9 ; II C h r 1 2 , 3 ; 1 4 , 9 . 1 2 f ; 16,8; 2 1 , 1 6 ; Est 1,1; 8 . 9 ; Hi 2 8 , 1 9 ; Ps 7 , 1 ; 6 8 , 3 2 ; 8 7 , 4 ; J e s 1 1 , 1 1 ; 1 8 , 1 ; 2 0 , 1 . 3 ff; 3 7 , 9 ; 4 3 , 3 ; 4 5 , 1 4 ; J e r 3 8 , 7 . 1 0 . 1 2 ; 3 9 , 1 6 ; E z 2 9 , 1 0 ; 3 0 , 4 f . 9 ; 3 8 , 5 ; N a h 3 , 9 ; D a n 1 1 , 4 3 ) , sondern auch wegen der m ö g l i c h e n Auswirkungen auf die E n t s t e h u n g der jüdischen D i a s p o r a in Kusch (vgl. A n m . 13) und ihren Einfluß auf die E n t w i c k l u n g der Eisenmetallurgie ( A m b o r n ) , die A . H . Sayce ( 1 8 4 5 - 1 9 3 3 ) dazu v e r a n l a ß t e , M e r o e als „ B i r m i n g h a m des A l t e r t u m s " zu bezeichnen (Arkell, H i s t o r y 147). D i e religiöse Sonderstellung des J u d e n t u m s der Elephantine 1 4 k a n n t e s c h o n lange M i s c h ehen m i t Kuschitern ( N u m 12,1; s. D i e b n e r ) , w a s eine spätere Assimilierung verständlich erscheinen läßt. O b die J u d e n aus Kusch weiter ins äthiopische H o c h l a n d vorgedrungen sind, bleibt umstritten, ist a b e r nicht auszuschließen 1 1 . Vieles spricht sogar d a f ü r , ' d a ß sie teilweise die a u t o c h t o n e B e v ö l k e r u n g zum J u d e n t u m b e k e h r t e n , das nubische C h r i stentum beeinflußten (s.u.) und selber zum Christentum ü b e r t r a t e n . D a f ü r m a g die nubische P r o s o p o g r a p h i e ein gutes Zeugnis ablegen. D i e n o c h lange nicht in allen Einzelheiten und c h r o n o l o g i s c h e n A b l ä u f e n (unterschiedliche Datierungsversuche) b e k a n n t e G e s c h i c h t e des k u s c h i t i s c h - m e r o i t i s c h e n R e i c h e s 1 ' , aus der uns einige K ö n i g s n a m e n , die auch bei den a n t i k e n A u t o r e n in griechischer F o r m v o r k o m m e n , wie z . B . N a s t a n s e n (ca. 3 3 5 - 3 1 5 ; Hintze) und E r g a m e n e s (meroit. A r a k a k a m a n i , - u m 2 7 0 , bei D i o d o r 111,6) überliefert sind, birgt viele P r o b l e m e , u . a . im Bereich der C h r o n o l o g i e , die bis heute n o c h unsicher ist (Hintze; H o f m a n n ; Shinnie: C H A 2 ( 1 9 7 8 ) 2 1 3 f . 2 3 0 f). D i e s e Schwierigkeiten resultieren möglicherweise aus der S t r u k t u r des sakralen Königreiches, in der sowohl die N a m e n der jeweiligen K a n d a k e

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als auch die des jeweiligen Königs (meroit. qore) erwähnt sind. Ob man dabei auch noch von Nebendynastien 17 sprechen kann, ist fraglich, wenn man von einem einheitlichen meroitischen Reich ausgehen will. Die von W.Y. Adams" suggerierte Trennung zwischen „North and South Nubia" erscheint abwegig, weil sie auch durch das archäologische Material nicht bestätigt wird. Im Gegenteil kann viererlorts, sowohl im Norden als auch im Süden, eine meroitische kulturelle Blüte festgestellt werden (eigene Schrift, Architektur und Kunst, weitreichende Außenkontakte). Die meroitische Religion (Leclant; Kormyschewa; Onasch; Millet), die sich heute am besten in den ikonographischen Dokumenten widerspiegelt (Pyramiden, Grabmalereien, Plastik, Keramik, Kleinkunst; viele Beispiele bei Scholz, Kusch), weist Spezifika auf, die einerseits mit den ägyptischen sehr korrespondieren (z. B. Totenglaube und -kult), andererseits sich von ihnen unterscheiden. So finden sich im meroitischen „Pantheon" (Onasch) neben den aus Alt-Ägypten bekannten Göttern auch solche wie Apedamak (Zabkar), Sebiumeker, Arensnuphis (Winter; Wenig), die nur in Meroe auftreten. Damit ist aber der Charakter dieser Religion nicht vollständig erfaßt und ausgeschöpft. Mit dem -»Hellenismus kam es zu Synkretisierungsprozessen, in denen auch mediterrane Götter (bes. Dionysos) und andere orientalische (bes. persische) Kulte Zugang zum südlichen Niltal fanden." Die Begegnung der a u t o c h t o n e n kuschitisch-meroitischen Kultur mit der Außenwelt kann nicht darüber hinweg täuschen, d a ß es im Lande selbst zu i m m e r häufigeren Unruhen k a m , die möglicherweise mit dem Aufstieg der Blemmeyer (BXenveq, BAefiftva;; vgl. U p d e g r a f f / T e r ö k ) , der späteren B e d j a (davon läßt sich der Begriff Beduin/-en ableiten), z u s a m m e n h ä n g t . G . Reisner sprach hier von einer X - G r u p p e , die M e r k m a l e aufwies, die mit der Kultur der früheren Bevölkerung der sog. P f a n n e n - G r ä b e r (LÄ 4 [1982] 9 9 9 f f ) verwandt w a r und die mit den schon im Alten Ägypten bek a n n t e n Med3jw identifiziert wird. Diese Kultur k a m im D o d e k a s c h o i n o s zur Blüte, mit allen synkretistischen M e r k m a l e n , die sich in den einmaligen tumuliartigen G r ä b e r n von Q u s t o l und Ballana ( E m e r y / K i r w a n ) am besten manifestiert haben (heute in Kairo, Ägyptisches M u s e u m ) . Es handelte sich um eine „ S ö l d n e r " Zivilisation, die im Grenzgebiet zwischen Ägypten und M e r o e bis ins byzantinische Zeitalter eine wichtige R o l l e gespielt hatte (die Schließung des Isis-Heiligtums [ 5 3 5 - 5 3 7 n . C h r . ] auf Philae [Prok o p , bell. pers. I , 1 9 , 3 6 f ] hängt damit z u s a m m e n , s . A n m . 3 4 ) . Diese berittenen Truppen bildeten eine interessante Besonderheit, die sich als eine Reitervolkkultur klassifizieren läßt. Dabei scheint ihre Tradition lokale Z ü g e getragen zu h a b e n , wenn man bedenkt, d a ß schon seit dem 16. J h . v. C h r . Pferde in Nubien b e k a n n t waren und d a ß man hier auch den Sattelbaum (eine Revolution im Reitwesen) entwickelt hat. O b die Novßai mit dieser Kultur zusammenhingen, ist i m m e r noch schwer eindeutig zu b e s t i m m e n 2 0 .

Die Eroberung Ägyptens durch Rom brachte den Meroiten neue Nachbarn, die nicht willens waren, deren unabhängiges Reich zu akzeptieren. Unter Augustus versuchte man ( 2 6 - 2 1 v.Chr.), sowohl Arabien (Feldzug des Gallus) 21 als auch Nubien (durch Petronius; Speidel; Burstein) zu erobern. Die Quellen (Strabo XVII,1,54) machen jedoch deutlich, daß der Kampf mit der „Einäugigen Kandake" für die Römer, trotz der Apotheose in den Res gestae (26), mit einem Frieden auf Samos (21 v. Chr.), der zur Errichtung von diplomatischen Vertretungen in R o m " und wahrscheinlich auch in Meroe - wo man die südlichste lateinische Inschrift fand (LD 6 [1913] 101,56; Th. Mommsen, Rom.Gesch. V, J 1904, 594f; ND VIII,1976,289) - zu Ende ging. Auch später kam es immer wieder zu Versuchen, Nubien unter römische Kontrolle zu stellen. Kaiser Nero 23 sandte seine Spione bis in den Südsudan (60/61). Von den nordafrikanischen römischen Militärstationen aus erkundete man den Weg nach Indien, einen Weg, der bis in die Gegenwart die geopolitische Position des nubisch-äthiopischen Raumes entscheidend bestimmt hat. Meroe lag nicht am Rande der Welt, obwohl man dieses Reich in der antiken und abendländischen Geschichtsschreibung allzu oft als eine „Randkultur" behandelt hat 14 . Römische Frauen pilgerten dorthin, um „die heiligen Nilwässer beim Isis-Heiligtum in Rom sprengen zu können" (Juvenal, Sat. VI,512-556). Ihre Pilgerschaften waren - wie das auch einige Inschriften belegen 25 - sehr gut orga-

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nisiert. A b e r auch aus d e m meroitischen R e i c h gelangten Pilgerschaften in den M i t t e l m e e r r a u m , w a s die A c t 8 , 2 6 - 3 9 e r w ä h n e n (Scholz, Pilgerschaft).

2.4. Frühchristliche Zeit D i e lukanische P e r i k o p e der Act 8 , 2 6 ff k a n n s o w o h l d a n k der überzeugenden A r g u m e n t e von M . H e n g e l " , als auch der historischen G e g e b e n h e i t e n , die sich für d a s 1 . J h . n . C h r . ergeben (Scholz, Frühchristi. Spuren), nicht als „ L e g e n d e " (U. W i l c k e n s , D a s N T , G ü t e r s l o h 7 1 9 8 3 , 4 2 3 ; T R E 3 , 4 9 6 , 5 6 f) o d e r als P h a n t a s i e 2 7 behandelt w e r d e n . D i e B e k e h r u n g des Äthiopiers (ávfjg Ai9íotf/) - dessen Bezeichnung EÖVOVXOQ öüväaxt]Q nicht einen K a s t r a t e n , sondern einen W ü r d e n t r ä g e r und Vertrauten der regierenden K a n d a k e bedeutete — w a r m ö g l i c h , weil die E x i s t e n z der jüdischen D i a s p o r a in Kusch für die Pilgerschaft (Act 8 , 2 7 ) n a c h J e r u s a l e m eine ausreichende G r u n d l a g e lieferte. D a s ist j e d o c h nicht mit einer B e k e h r u n g des gesamten R e i c h e s , a u s d e m der H o f b e a m t e s t a m m te, z u m C h r i s t e n t u m gleichzusetzen, sondern v e r a n l a ß t zu der berechtigten A n n a h m e , d a ß die L e h r e Christi N u b i e n a u f unterschiedlichen Wegen schon im l . J h . erreichen k o n n t e . Spuren ( z . B . sog. „ C h r i s t o g r a m m " [?] in D e n d u r , c a . 1 . - 3 . J h . ; Speidel 7 8 9 f ) finden sich hierfür s o w o h l in der Q u s t o l / B a l l a n a - K u l t u r , als auch bei den neuen L o k a l h e r r s c h e r n , die den T i t e l Basiliskos ( ß a o i k i o K C x ; ) trugen. D a f ü r spricht die seit J a h r zehnten diskutierte Silko-Inschrift, die u m 4 5 0 (?) einen m o n o t h e i s t i s c h e n G o t t verkündet: „Ich Silko, Basiliskos der Nubaden und aller Äthiopier (ßaaiXioKO£ NovßäScov Kai SXcav xwv bin zweimal nach Talmis (Kalabscha) und nach Taphis (Taffa) gekommen. Ich habe die Blemmeyer bekämpft, und G o t t gab mir drei Siege und nur eine Niederlage. Nachdem ich sie abermals besiegte und mich ihrer Sitze bemächtigte, habe ich mich mit meiner Gefolgschaft hier angesiedelt. Als ich sie das erste M a l besiegte, flehten sie mich um Gnade an; ich schloß Frieden mit ihnen, und sie schworen ihn bei ihren Götzenbildern. Und ich habe ihrem Schwur vertraut, weil ich sie für ehrenhaft h i e l t . . . " 2 8 .

AiHioncüv),

Frühchristliche Indizien sind d a m i t nicht ausgeschöpft. M a n k a n n u . a . e r w ä h n e n die Flucht und V e r b a n n u n g verfolgter Christen nach N u b i e n , die E x i s t e n z der jüdischen D i a s p o r a - die dem palästinensischen J u d e n t u m fern stand und d a h e r für die neue L e h r e offen w a r - , die breite R e z e p t i o n des C h r i s t e n t u m s im ' E z a n a - R e i c h ( M ü n z e n mit Kreuzzeichen, u m 3 1 0 / 2 0 ) , das M e r o é im 4 . J h . besiegte und w a h r s c h e i n l i c h das C h r i s t e n t u m dort zu einer begünstigten Religion g e m a c h t hatte. Schließlich f a n d das - » M ö n c h t u m sehr schnell seinen W e g a u c h in den Süden, wie m a n d e m Z e u g n i s des Pahnutius (um 3 8 0 o d e r früher) e n t n e h m e n k a n n " . M a n m u ß für N u b i e n von der r ö m i s c h geprägten S i c h t einer oft erzwungenen Ane r k e n n u n g des C h r i s t e n t u m s durch Verfolgung von Andersgläubigen abgehen. Vieles spricht d a f ü r , d a ß es a u f d e m B o d e n der meroitischen R e l i g i o n , die sich nicht missionarisch verstand, keinen G r u n d für Verfolgung anderer R e l i g i o n e n g a b . N u b i e n w a r seit altersher ein L a n d , das Flüchtlinge und Verfolgte a u f n a h m . M a n urteilt d a h e r nicht falsch, wenn m a n a n n i m m t , d a ß in diesem L a n d seit den A n f ä n g e n viele Christen Unterschlupf fanden. Ihre Eingliederung in eine k i r c h l i c h e J u r i s d i k t i o n erfolgte w a h r s c h e i n lich erst m i t der o s t r ö m i s c h e n Infiltration im R a u m des R o t e n M e e r e s (Engelhardt). D e s h a l b gehen die früheren Versuche, das n u b i s c h e C h r i s t e n t u m historisch zu erfassen ( K r a u s , M o n n e r e t de Villard), erst von der „ e i g e n t l i c h e n " M i s s i o n i e r u n g N u b i e n s aus, die bei J o h a n n e s von E p h e s o s (hist. eccl. IV, 6 - 9 . 4 9 - 5 3 ) überliefert w i r d 3 0 . Aus der A n o n y m i t ä t traten N a m e n hervor: B i s c h o f T h e o d o r von Philae, der 5 2 5 v o m E r z b i s c h o f T i m o t h e o s III. von A l e x a n d r i e n ( 5 1 8 - 5 3 5 ) in sein A m t eingeführt w u r d e , der Presbyter J u l i a n o s , der im A u f t r a g der Kaiserin T h e o d o r a auch als M o n o p h y s i t missionieren sollte (6. J h . ) , d a n n der B i s c h o f L o n g i n o s , der als Vertreter der O r t h o d o x i e in der Z e i t - » J u stinians die offizielle Evangelisation N u b i e n s (bis n a c h A l o a ; s . u . ) betrieben hat. O b daraus der H o h e i t s a n s p r u c h von Byzanz auf N u b i e n abzuleiten ist, k a n n nicht eindeutig festgestellt werden.

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Nubien

Die herkömmlichen kirchengeschichtlichen Darstellungen sind sehr einseitig und entsprechen den historischen Tatsachen kaum (z.B. Die Gesch. des Christentums VI, Freiburg u.a. 1991, 237f). Es gab in Nubien eine starke lokale Tradition und Entwicklung, die im Meroitischen wurzelte und die sich auch als solche feststellen läßt. Man denke hierzu sowohl an die Spezifika der christlichen Lehre: Marienverehrung als Folge des ausgeprägten Isis- und Mutterkultes; gnostische und magische Elemente", die zum wichtigen Bestandteil der dortigen Angelologie wurden; monophysitische Christologie - die möglicherweise aus der Konzeption des Gott-Königs entstanden ist. Neben diesen internen Merkmalen müssen auch die äußeren Gegebenheiten berücksichtigt werden: die lange Existenz des ägyptischen (TRE 19,595 ff), aber auch des äthiopischen Christentums (TRE l,574ff), die kaum annehmen läßt, daß bis ins 6. Jh. eine so große heidnische Lücke zwischen den beiden Christenheiten, die dem Alexandrinischen Patriarchat unterstellt waren, hätte bestehen können. Schließlich muß auch die Frage beantwortet werden, wie es dazu kommen konnte, daß das angeblich erst im 6. Jh. entstandene Christentum Nubiens sich schon seit dem 7. Jh. als staatliche Religion so bewußt und überzeugend bis in das 16. Jh. gegenüber dem Islam behaupten konnte. Eine Antwort, die von der religionskulturellen Situation am Vorabend der Christianisierung des nordostafrikanischen Raumes ausgeht, kann nur lauten: Seit den Anfängen der Verbreitung der Lehre Christi erreichte sie in einer ersten Phase als neue „jüdische" Botschaft alle Länder (Act 2,9-11), in denen eine jüdische Diaspora bestand, damit auch Nubien. Hinweise dafür blieben noch lange in der nubischen Prosopographie (Abraham, David, Isaak usw.) erhalten. Nachweislich gab es in der gesamten nubischen Umwelt spätestens seit dem 2. Jh. Christen. Nubien unterhielt Kontakte mit den Ländern des Mittelmeerraumes, was sich aus antiken Quellen (Plinius, hist. nat. VI,177-192; Seneca, n.qu. VI,8,3ff) 32 und einigen geschichtlichen Ereignissen ergibt. Nubien gehörte zu den Ländern, die im Handel mit Indien und Fernasien eine zentrale Rolle spielten. Dafür sprechen nicht nur die Kephalaia (LXXVII,3; s. TRE 22,36), sondern auch die römische Dodekaschoinos-Politik (Speidel) und die archäologischen Funde in Gebieten des Auftretens der Blemmeyer (der nomadischen Stämme, die mit der X-Gruppe zu verbinden sind) in Unternubien. Sie stehen in enger Verbindung zu den Nobaten, die sehr früh christlich wurden. Auf Philae etablierte sich eine Gemeinde mit einem Bischofssitz (362)", für den die missionarische Tätigkeit selbstverständlich war. Einsiedler, die für Oberägypten reichlich belegt sind (vgl. Anm.29), haben auch Nubien erreicht, wo in der Zeit der Diokletianischen Verfolgung viele Christen Zuflucht fanden. Deshalb kann als sicher gelten, daß die Lehre Christi seit dem 3. Jh. - in welcher Form auch immer - südlich von Ägypten allgemein bekannt war und Anhänger auch unter den nomadischen Völkern hatte (u.a. den Novßai). In der ersten Phase existierten neben dem Christentum auch andere Religionen, was man aus der Tatsache entnehmen kann, daß das Isis-Heiligtum auf Philae erst unter Justinian geschlossen wurde 54 . Ausschlaggebend für die Entstehung der christlichen Staatsreligion in Nubien war die Konfrontation mit der Reichskirche des Römischen Imperiums. Christliche Häresien waren für die etablierte Orthodoxie oft schlimmer als Heidentum, was ihre „Bekehrung" rechtfertigte und weswegen vorher bestehende Formen nicht als Christentum bezeichnet wurden. 2.5. Nobatien und Makurien Der Aufstieg und die Etablierung der wandernden Völker führte in Unternubien zur Entstehung des Königreiches Nobatien, das unter dem bekanntesten nubischen König Merkurios (679-710) eine Vereinigung mit Makurien einging (Munro-Hay, Kings). Der Mittelpunkt des Reiches - mit einem sehr ausgebauten Verwaltungsapparat (Hägg; vgl. Anm. 28) — befand sich in Pachoras (Faras), bzw. in Primis (Qasr Ibrim) und später in (Alt-)Dongola. Vieles spricht allerdings dafür, daß man zwischen den administrativen und religiösen Zentren zu unterscheiden hat. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Gebel Adda bzw. Qasr Ibrim in Nobatien das politische und Pachoras das sakrale (Bischofs-

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Theben A / » A Luxor

EdfuA

ÄGYPTEN

I Kalarah

Kalabsha A

Abu Simbel A / + Kamrah

SUDAN

A

Wadi

Qasr Ibrim Haifa

Akasha

[ (NOBADIEN) Insel Sai Abu Haraed

KOKKA Gebel Bailcal

Port Sudan

MAKURIEN

4 Katarakt

5 Katarakt

Alt Dongola

Atbara MAKURIA 6 Katarakt

^^Meroê

A Musawwarat A es Sufra

Nac|a Ornthirman ® i . • A T Soba Khartoum ( » X ALODIA

LEGENDE ALODIA

Christ!. Königreiche

DOTAWO +

Christi F ü r s l ü m e r

A

Antike Stätten

5 0 MM)

Christ] Ruinen

.J', lat. potestas, auetoritas, später superioritas (territorialis); engl, supreme power; niederl. overiebbeit; franz. souverainité. Für das Sachverständnis grundlegend: die Unterscheidung von Obrigkeit als öffentlicher Gewalt (imperiitm, potestas regnandi, iurisdictio, potestas legis condendae, Regiment, Regierung) von privater Verfügungsmacht über Eigentum (dominium, Hausherrschaft). Die realen Fundamente dieser potestas sind physische: überlegene Gewaltmittel (potentia, puissance, power) zur gegebenenfalls nötigen Gehorsamserzwingung, und moralische: das öffentliche Anerkanntsein der Funktion der Obrigkeit, ihrer Inhaber und ihres Handelns. Die Anerkennungsgründe bewegen sich stets im Horizont der geschichtlich variablen Lebens-, Selbst- und Weltgewißheit aller Beteiligten. Daraus resultieren mannigfaltige Obrigkeits- (Souveränitäts-, Herrschafts-)theorien. Jede ist Theorie der Konstitution des Obrigkeitsamtes und seiner Funktion, seiner dadurch begründeten Gebundenheit - bzw. Ungebundenheit - und Bindekraft, sowie seiner gültigen Innehabung und Ausübung; davon abhängig: Bestand und Ausmaß des Widerstandsrechts. 2. Das Erbe der alten

Kirche

Ausgangs- und dauernder Orientierungspunkt für das christliche Obrigkeitsverständnis ist das neutestamentliche Zeugnis: M t 2 2 , 1 5 - 2 2 ; I Petr 2, 1 3 - 1 7 ; I Tim 2,1 f und - traditionsbeherrschend - Rom 1 3 , 1 - 7 : Das faktische Bestehen einer höchsten gesellschaftlichen Verfügungs- und Ordnungsmacht (èÇouaia, potestas) ist „von Gott" dem

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Obrigkeit

Schöpfer und besitzt dadurch eine alle Untertanen, auch die Christen, innerlich verpflichtende Autorität. Paulus greift hier bis in die Wortwahl hinein auf das gemeinantike religiöse Verständnis sozialer Verfügungs- und Ordnungsmacht zurück (Strobel, Käsemann, Wilckens) und rückt diese „Selbstverständlichkeiten" in den Horizont des christlichen Gottes-, Welt- und Selbstverständnisses. In diesem wird jeder Absolutheits- und Letztgültigkeitsanspruch obrigkeitlicher Macht (und aller ihrer innerkosmischen Fundamente) verneint; nicht durch Abstoßung des „religiösen" Verständnisses, sondern durch Einholung in den christlichen Horizont. Auch in ihm hat Obrigkeit einen kosmologischen (schöpfungstheologischen) Status: Sie gehört ursprünglich zur Verfassung der Welt, die auf Versöhnung und Vollendung hin geschaffen ist. Der Glaube erkennt diesen Schöpferwillen an nicht nur durch mitwirkenden Gehorsam gegenüber der Obrigkeit (in den Grenzen von Act 5,29), sondern auch durch Übernahme ihrer Funktionen. Auf dieser Linie - und orientiert an einem platonisierenden Verständnis der paulinischen Unterscheidung zwischen „innerem Menschen" und Leib (II Kor 4,16), das den Wirkungsbereich der sozialen Ordnungsmacht auf die zweite Sphäre einschränkt - bewegt sich die alte Kirche vor der konstantinischen Wende (Gebet für die Obrigkeit nach I Tim 2,1 f i n I Clem 6 0 , 4 - 6 1 , 1 ; G. Krüger [Hg.], Ausgewählte Märtyrerakten, Tübingen 4 1965,4.29.34; Aland [1979] 229; Bauer 263ff; Orígenes, Comm. in Rom. 655-657 [Rufin 1226-1230]) und danach (exemplarisch Augustin, Expositio 7 2 - 7 4 : PL 35, 2083). Daß die staatliche Ordnung ein Wesensmerkmal der Welt als gefallener ist (so seit Augustin, civ. XIV, 28), negiert nicht, sondern präzisiert die Christenpflicht zur Teilnahme am Amt der Obrigkeit und seiner Verantwortung. Die beiden seit dem 4. Jh. neuen Fragen - a) Wie sieht die Ausübung obrigkeitlicher Gewalt nach christlichen Prinzipien in einer Gesellschaft mit mehrheitlich oder ausschließlich christlichen Gliedern aus? b) Wie verhält sich unter diesen Bedingungen das Amt der Obrigkeit zum Amt der Gemeindeleitung? - wurden freilich nicht befriedigend beantwortet, sondern auf dem Boden einer unsachgemäßen Voraussetzung — mit unheilvoller Fernwirkung: Der christliche Glaube wird in den Horizont politischen Religionsverständnisses des Heidentums eingeordnet und als Polisreligion (Reichsreligion) verstanden, die als solche Bestandteil der politischen Ordnung ist und folglich - wie die politische Ordnung selbst - nur eine sein kann. So gilt ad a): Die christliche Obrigkeit hat die christliche Religion als „die wahre" und ihre kirchliche Organisation zu dulden, zu fördern, zu monopolisieren und ihre Gegner auf kirchliches Verlangen hin zu verfolgen (seit Augustin bis in die europäische Neuzeit [1648] Fundament der Kirchenadvokatur der Obrigkeit und des Ketzerrechts). Ad b) zeichnen sich früh zwei konfligierende Linien ab. Die im biblischen Schrifttum (vor allem im Alten Testament) anerkannte eigenständige Würde der Obrigkeit wird immer irgendwie gewahrt, aber mit unterschiedlicher Betonung: in proto- und kosmologischem Horizont (Betonung der Eigenständigkeit der Obrigkeit in der rex-imagoDe/-Lehre seit Ambrosiaster, vgl. Affeldt, Kern, Kantorowicz; Tendenz zur Gleich- oder Überordnung des Obrigkeitsamtes in der Christenheit über das Amt der Gemeindeleitung) oder in soterio- und eschatologischem Horizont (medialer Status des Obrigkeitsamtes, Tendenz zu seiner Unterordnung unter das der Gemeindeleitung; so schon im Konflikt Ambrosius/-»Theodosius, dann mit Langzeitwirkung im Dekretum Gelasianum: DAS 347). - Erst spät und langsam wurde verstanden, daß proto- bzw. kosmologische und soterio- bzw. eschatologische Gesichtspunkte auch im Verständnis des Obrigkeitsamts untrennbar sind. 3. Aktualisierung

und Fortschreibung

des altkirchlichen

Erbes im

Mittelalter

Die germanische Tradition kennt drei Typen höchster gesellschaftlicher Ordnungsgewalt: Hausherrschaft, Landesherrschaft, Gefolgsherrschaft des Herzogs (bzw. Königs) über heerbannpflichtige Vasallen. Nur letztere ist Herrschaft über Freie, in der Gewalthaber und Untergebene im Wechselverhältnis von „Schutz und Schirm"/„Rat und Hilfe" aneinander gewiesen sind.

Obrigkeit

725

Die funktionale Ausdifferenzierung ist gering: a) öffentliche Gewalthabe wird lange nach dem Modell hausherrlichen Verfügungsrechts über Eigentum gedacht, praktiziert und vererbt; Landesherrschaft entsteht - und besteht lange - aus der Bündelung von Eigentumsrechten durch Einsatz überlegener physischer Macht, b) Das Wechselverhältnis von „Schutz und Schirm"/„Rat und Hilfe" umfaßt ohne funktionale Differenzierung alle wesentlichen gesellschaftskonstitutiven Leistungen; insbesondere ist die Herrenstellung - schon vorchristlich - in sich selbst religiös begründet und mit religiösen Kompetenzen ausgestattet. Das ermöglichte die Supplierung mangelnder Erblegitimität durch einen christlich-religiösen Weiheakt (Salbung Pippins durch fränkische Bischöfe 751, 754 wiederholt durch Papst Stephan und seitdem fester Bestandteil des Herrschaftsantrittsritus; daran anknüpfend: die königliche Selbstbezeichnung gratia dei rex francorum). Die spätere Zeit (bis zur - » R e n a i s s a n c e ) bietet zum Verständnis des Ursprungs verpflichteter (deshalb auch verpflichtender) höchster G e w a l t h a b e vier Gruppen von Entwürfen: Positionen auf dem Boden des christlichen Wirklichkeitsverständnisses und solche, die es verlassen haben; sowie in beiden Rubriken Positionen, die das Ansehen der höchsten Gewalt „ m e t a p h y s i s c h " (aus einem Gesamtverständnis von Ursprung, N a t u r und Bestimmung von Welt, M e n s c h , Gesellschaft und Geschichte heraus), und solchen, die es lediglich „ f u n k t i o n a l " aus ihrer Leistung für das Z u s a m m e n l e b e n begründen. Die Entwicklung beginnt mit einem Konsens über den E r w e r b der Gewalthabe: Stabile Funktionstüchtigkeit eignet keiner usurpierten, sondern nur rechtmäßig erworbener Gewalthabe: durch E r b g a n g , Wahl der Freien oder göttliche Erwählung (Atto v. Vercelli, gest. 9 6 0 : Miethke, Theorien). Vor diesem Hintergrund lebt die Debatte über den Ursprung der obersten Gewalt und das Verhältnis zwischen ihrer proto- bzw. eschatologischen Deutung neu auf. -•Gregor VII. erneuert die zweite Möglichkeit, radikalisiert das Gewicht der Übertragung der obersten weltlichen Gewalt an die fränkischen Könige durch das kirchliche Amt und entkleidet damit die rcgalis potestas jeder selbständigen (protologischen) religiösen Würde, entsakralisiert und funktionalisiert sie (Inhaber weltlicher Gewalt können bei Versagen ihres Amtes entsetzt werden: Manegold von Lautenbach, gest. 1109, Ad Gebehardum Liber; vgl. Fuhrmann), dem kirchlichen Amt wird aber zusätzlich zu seiner überlegenen heilsteleologischen Autorität die Fülle sozialer Verfügungs- und Ordnungsgewalt vindiziert (dictatus papae: Miethke/Bühler 6 2 - 6 7 ; seit Rufin [1157-59]: plenitudo potestatis). Der Widerspruch gegen diese Position (exemplarisch der „Normannische Anonymus", um 1100, s. Kantorowicz) insistiert auf der protologischen Eigenständigkeit der königlichen Gewalt als Wesenszug der Schöpfung und ihrer darin gründenden eigenständigen religiösen Würde; nicht gegen die Sicht des christlichen Glaubens, sondern in deren Namen (Rückgriff auf Ambrosiaster). Diesen Gegensatz kontinuiert und verschärft einerseits das kurialistische Schrifttum (Aegidius Romanus [1243/47-1316], De ecclesiastica potestate [Ausbau der Lehre von der plenitudo potestatis - durch Einbeziehung der pseudo-areopagitischen Hierarchienlehre - zur Theorie von der Stellung des Papstes als summus hierarcha, letzter und einziger Quelle aller legitimen sozialen Ordnungsmacht auf Erden]) und die ihm folgende offizielle Lehrposition der römischen Kirche (Bulle LItiam sanetam Bonifaz' VIII.: Gesellschaft und Kirche werden gleichgesetzt; innerhalb der Kirche [ = Christenheit = Gesellschaft] ist die regalis potestas von der plenitudo potestatis des Papstes abhängig) und andererseits die christlichen Verteidigungen von eigenem Ursprung und Würde weltlicher Gewalt (etwa Johannes Quidort [ca. 1250-1306], De regia potestate et papali [1302]: Legitimierender Ursprung weltlicher Gewalt ist nicht das Priestertum, sed est a deo et a populo regem eligente in persona vel in domo [sondern sie ist von Gott und vom Volk, das den König wählt, sei es durch persönliche Wahl oder Wahl einer Dynastie]). Seit dem 12. J h . greift die theologische Sozialtheorie zunehmend auf die antike Sozialphilosophie ( - • Sozialwissenschaften), besonders die des Aristoteles zurück. Ihre klassische Gestalt findet sie bei - • T h o m a s von Aquino und in seiner Schule (De regno ad regem Cypri [ 1 2 6 5 / 6 7 ] : Der M e n s c h als animal sociale lebt von N a t u r aus in Gesellschaft. W i e das Leben jedes Einzelnen durch die Vernunft geleitet werden muß, bedarf auch die societas eines membrttm principale, das sie kraft seiner vis regitiva auf das ihr durch den Schöpfer vorgesetzte Ziel [finis], das bortum commune [im Unterschied zum bonum proprium der einzelnen] hinlenkt. Die Organisationsform der obersten Gewalt ist variabel - Ü b e r n a h m e der aristotelischen Regierungsformenlehre - und steht immer vor der Alternative, das bonum commune oder das bonum proprium des/der Gewalthaber

726

Obrigkeit

zu verfolgen; im zweiten Fall wird sie tyrannisch. Diese Perversion der Gewalthabe eines Einzelnen ist der schlimmste, die vernünftige Direktion durch einen Einzelnen [Monarchie] der beste Fall). Zukunftsweisend ist der Ansatz zur Uberwindung der Alternative zwischen plenitudo-potestatisund rex-imago-Dei-Lehre (Ursprung, Wesen und Funktion der obersten sozialen Ordnungsmacht sind schöpfungsmäßig hingeordnet auf das ursprüngliche Heilsziel der Welt) und die Methode (Einbau der empiristischen Anthropologie und Sozialphilosophie des Aristoteles in die theologische Obrigkeitslehre; so wird diese selbst auf Erfahrung bezogen und ist an ihr zu bewähren). Wilhelm von Ockhams (-•Ockham/Ockhamismus) Theorie über dominium (Verfügungsgewalt über Eigentum) und iurisdictio (oberste soziale Ordnungsgewalt) - entwickelt im Breviloquium (1340) und im Traktat De Imperatorum et Pontificum potestate (1346/47; vgl. Miethke, Theorien) - variiert und radikalisiert diesen aristotelischen Ansatz der christlich-theologischen Obrigkeitstheorie, die jetzt explizit in den Kontext christlicher Dogmatik tritt: dominium und iurisdictio werden Themen der Urstandsund Sündenlehre. Das ermöglicht erstmals die explizite Unterscheidung zwischen göttlicher Stiftung und menschlicher Ausgestaltung sozialer Funktionen: Die geschichtlichen Ausgestaltungen von dominium (Erwerb und Verfügung über Eigentum) und iurisdictio (soziale Ordnungsmacht) sind nicht göttliche Stiftungen, sondern menschliche Verabredungen und als solche notfalls auch zu ändern. Kriterium: die optimale Erfüllung ihrer ursprünglichen Funktion, das menschliche Zusammenleben auch unter den Bedingungen der Sünde zu gewährleisten. Methodische Pointe: Gerade der dogmatische Ansatz der Theorie verweist sie an die erfahrbare Lage des menschlichen Lebens unter der Sünde mit seinen Bedürfnissen und Notwendigkeiten. Allein von diesen geht ->Marsilius von Padua (Defensor Pacis, 1324) aus: Die von der erfahrbaren Hinfälligkeit und Bedürftigkeit des Menschen geforderte Ordnung des Zusammenlebens ist nicht natürlich gegeben, sie muß gewollt und hergestellt werden. Das ist grundsätzlich Sache der Gesamtheit, die ihre eigene oberste Ordnungsmacht der pars principans der Gesellschaft übertragen kann, ohne dadurch ihre Letztzuständigkeit zu verlieren. Zweck dieser Ordnung ist das bonum commune in letzter Elementarität: äußere pax und tranquillitas. Effektive Erzwingbarkeit ist die erste und hinreichende Bedingung für die Anerkennung eines Gesetzes als Gesetz. Seine inhaltliche Güte ist zwar nicht gleichgültig (Unterscheidung zwischen leges imperfectae und perfectae), aber Sache der geschichtlichen Variation, ohne Einfluß auf die Geltung von Gesetzen. Marsilius begreift die Bedürftigkeit des Menschen, anders als Ockham, nicht aus seiner Sündhaftigkeit, sondern aus seiner natürlich leibhaften Schwäche und Hinfälligkeit. Bewegt er sich damit noch im christlichen Horizont? Das ist mit Sicherheit nicht mehr der Fall bei Niccolo -»Machiavelli (Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, 1513ff; II Principe, 1516): Die Theorie der obersten Gewalt ist auf Erfahrung fußende Naturwissenschaft; in Parallele zur Medizin, die den Menschen betrachtet nicht als Person (sich im Lichte seines Selbstbewußtseins über seinen Ursprung und seine Bestimmung selbst frei nach Zwecken bestimmend), sondern als Naturwesen (letztlich nur - affektbestimmenden - causae efficientes unterliegend). Wie ein Mediziner angesichts des Faktums von Gesundheit und Krankheit fragt der Machttheoretiker Machiavelli angesichts des Faktums obrigkeitlicher Macht nur nach der verita effetuale de la cosa. Summarische Antwort: „ G l ü c k " und „Tüchtigkeit" (Kenntnis aller wirksamen Mittel des Machterwerbs und Fähigkeit zu ihrer Benutzung, ohne Rücksicht auf die Meinung der Leute). - Bei Machiavelli kehrt der theoretische Diskurs zur Ausgangsfrage Attos nach dem dauerhaften Erwerb höchster gesellschaftlicher Ordnungsmacht zurück. Die alte Antwort ist ersetzt durch Behauptung des Gegenteils: Zu stabiler Gewalthabe gelangt nur, wer die scelleratezza nicht scheut. Grund der Veränderung: die Ersetzung der Sicht des Menschen als zur Selbstbestimmung bestimmte Person durch seine Sicht als kausal bestimmtes Naturwesen.

Obrigkeit 4. Die

727

Reformatoren

4.1. -»Luther (Der 82. Psalm ausgelegt: W A 3 1 / 1 , 1 8 9 - 2 1 8 ; Von weltlicher Oberkeit, wie weit m a n ihr G e h o r s a m schuldig sei, 1523: W A 11, 2 4 5 - 2 8 1 ; D e r 101. Psalm durch D . M . Luther ausgelegt, 1 5 3 4 / 3 5 : W A 5 1 , 2 0 0 - 2 6 4 ; O b Kriegsleute auch im seligen Stande sein können, 1526: W A 19, 6 2 3 - 6 6 6 ; Schriften zum Bauernkrieg). Luthers Gelegenheitsaussagen zum T h e m a summieren sich zu einer vollständigen, stimmigen Gesamtsicht (gegen Troeltsch, W ü n s c h , Günther). Sie bewegt sich - wie O c k h a m s - bewußt und konsequent im H o r i z o n t der dogmatischen Entfaltung christlicher Gewißheit. Das gewinnt betonte Wichtigkeit: Weil Luther ausschließlich der durch Offenbarung erleuchteten Vernunft Z u g a n g zur wahren Erkenntnis von Welt, Mensch und Gesellschaft, ihres Ursprungs, ihrer N a t u r und ihrer Bestimmung zubilligt, wird der Rückgriff auf die T h e o rietraditionen der antiken Philosophie, insbesondere -»Aristoteles und das vorchristliche Naturrechtsdenken (—•Naturrecht), kritisch gebrochen (vgl. Disputatio de homine). Kontext der materialen Aussagen Luthers zur Sache ist der gesamte Themenbestand der D o g m a t i k : über Urstands- und Sündenlehre ( - » S ü n d e ) hinaus i m m e r auch Gnadenlehre ( - » G n a d e ) und - » E s c h a t o l o g i e (formale Ähnlichkeit zu T h o m a s ) . Grundgedanken: Vom Menschen als der guten Schöpfung Gottes zeigt sich noch etwas in der Erfahrung: Als vernunftbegabte Wesen leben die Menschen jeweils als Volk in einer „Gemeine" zusammen (WA 31/1,193f), für die eine doppelte Binnendifferenz ursprünglich - also von Gott selbst gestiftet - und somit wesentlich ist: die Unterscheidung zwischen Regierenden und Gehorchenden (WA 31/1,217,15) und die Unterscheidung von „Ständen" mit unterschiedlicher sozialer Leistung (WA 44,440,25; 49,613,1 ff); die erste kann auch als unter der zweiten mitbegriffen gedacht werden (WA 6,408,13; so auch Auslegung des 4. Gebots im Großen Katechismus). Die Herrschaftsbeziehung ist von der Eigentumsbeziehung unterschieden (WA 31/1,194,32). Ursprüngliche und wesentliche Aufgabe der Obrigkeit: durch Sorge für eine (auch sie selbst bindende) Rechtsordnung (WA 19, 359,9ff; WA31 1,200,5ff. 31 ff; 201,31f; WA26,229,29) - einschließlich der Neusetzung von Recht (31/1,201,18), aber nur im Rahmen des schon geltenden - , das bonum commune und nicht ihr bonum proprium zu suchen (WA7,602,12; WA 28,526). Die Stabilität und Legitimität der Gewalthabe hängt davon ab, ob sie diese obrigkeitliche Funktion erfüllt, nicht davon, wie sie erworben wurde (WA 6,464,4). Die Inhaber der Gewalt und die Regierungsformen sind dem geschichtlichen Wechsel unterworfen; ebenso die sozialen Funktionspositionen (WA 57,452,30). Für seine Gegenwart rechnct Luther - in Aufnahme älterer Traditionen (Eiert, Schwarz) - mit den „drei Ständen": des Lehrens, des Regierens und des häuslichen Wirtschaftens (WA 2,734,24; WA26,504f). Von den beiden ursprünglichen Unterscheidungsdimensionen einer Gemeine sind also ihre geschichtlich variablen Ausgestaltungen zu unterscheiden. Erstere sind der Schöpfung vom Schöpfer selbst ein„gestiftet", letztere sämtlich durch das Handeln von Menschen mit verursacht und insofern nicht Gottes Werk. Dieser Sachverhalt tritt freilich in Luthers Gelegenheitsäußerungen nicht in der erforderlichen Ausführlichkeit hervor. Dem Faktum Rechnung tragend, daß keine Einzelperson Herr der geschichtlichen Verhältnisse ist, betont Luther vielmehr die geschichtliche Vorgegebenheit solcher Ausgestaltungen, betrachtet sie sogar im Horizont der Vorsehungslehre als Schickungen Gottes, denen insofern die Verbindlichkeit eines göttlichen „Berufs" zukommt (vgl. Wingren; und zu Gottes Geschichtswirken: Eiert, Soziallehren 3 8 - 7 9 , Sommer 42-50). Für den Christen ist diese durch Gottes Schöpfungs- und Vorsehungshandeln bestimmte Situation weiterhin bestimmt: durch die Sünde der Menschen und durch das Gnadenhandeln Gottes, durch das er seine Schöpfung gegen die Sünde ihrem ursprünglichen Vollendungsziel entgegenführt. Der Christ kennt beide Zustände und weiß, daß in beiden das geschöpfliche Leben der Gemeine, das Walten der Obrigkeit und ihre Rechtsordnung jeweils ein verschiedenes Aussehen gewinnen: Der Selbstsucht des Sünders begegnet die das Recht setzende obrigkeitliche Gewalt als Instrument des göttlichen Zorns (WA 11,268,4), das durch äußere Zwangsgewalt droht, schreckt, begrenzt und zügelt (WA7,583,14; WA 24,33,11). Dem Glauben aber präsentiert sich die Zwangsordnung des Rechts als Teil des gegen die Sünde über sie hinaus gerichteten göttlichen Heilswillens; er respektiert sie als gute Gabe Gottes (TR 1,77 Nr. 162), die im obrigkeitlichen Amt auch von Christen zu pflegen und funktionsgerecht zu gestalten ist. Zwar bräuchten Christen, wenn und soweit sie innerlich erneuert und von innen heraus gemeinschaftsfähig (statt vom amor sui vom amor Dei et proximi beherrscht) sind, für sich selbst diese Ordnung nicht mehr. Aber sie erhält das Zusammenleben gegen die gesellschaftsauflösenden, lebenszerstörenden Tendenzen der Sünde. Das gilt - auf der Linie Marsilius' - für jede Obrigkeit, auch eine schlechte oder nichtchristliche. Aufruhr

728

Obrigkeit

(Gewaltanwendung) gegen eine ihre Elementarfunktion erfüllende Obrigkeit ist nicht zulässig, sondern äußerer Gehorsam unter Wahrung der Clausula Petri (Act 5,29) geboten, im Konfliktfall nur passiver Widerstand erlaubt. Christen haben aber die Funktionen der Obrigkeit nicht nur zu erleiden, sondern auch zu unterstützen und selbst wahrzunehmen; sie sollen das Amt der Obrigkeit übernehmen bzw. ihm helfen. Das Eintreten in eine solche „Amtsperson(rolle)" (WA 19,648,19) widerspricht nicht der aus dem Glauben folgenden Liebe zum Nächsten, vielmehr verlangt die Liebe selbst die obrigkeitliche Arbeit an der Rechtsordnung (WA 11,255,16). Dadurch kann sie verbessert und zu einer im christlichen Sinne guten Ordnung werden. Qualitätsmerkmale: In ihr können auch Sünder leben, zum Glauben kommen und in ihm wachsen (WA 18,420,28). Denn in einer solchen Ordnung beschränkt die weltliche Gewalt ihre Funktionen auf die äußerliche Ordnung ohne die Gewissen zu zwingen, richtet aber gleichzeitig die zwangsbewehrte Rechtsordnung so ein, daß die Möglichkeit der inneren Verwandlung der Menschen zum Guten erleichtert und nicht beschränkt wird. Insofern hat die Obrigkeit auch die äußere Fürsorge für die Institutionen der inneren Bildung, die kirchlichen und schulischen, wahrzunehmen; was freilich - entgegen den Optionen der alten Kirche - den Einsatz von Zwangsmitteln zugunsten oder gegen religiöse Überzeugungen, auch die christliche selbst, ausschließt. In all dem unterscheidet L u t h e r A u f g a b e und W i r k u n g des obrigkeitlichen A m t e s strikt von A u f g a b e und F u n k t i o n des geistlichen - » A m t e s (für das dann n o c h einmal die B e s c h r ä n k u n g m e n s c h l i c h e r V e r a n t w o r t u n g a u f den äußeren Bereich gilt). Für C h r i sten im obrigkeitlichen A m t und ihre A m t s f ü h r u n g ist die A n e r k e n n u n g der A u t o r i t ä t des geistlichen A m t e s wesentlich (vgl. Auslegung von Ps 101), jedoch nicht für die O b rigkeit als solche. 4 . 2 . -*Zwingli (Von g ö t t l i c h e r und m e n s c h l i c h e r G e r e c h t i g k e i t , 1523; Fidei r a t i o , 1530). Auch Z w i n g l i e n t w i c k e l t seine O b r i g k e i t s t h e o r i e im H o r i z o n t seiner r e f o r m a t o rischen Sicht des Verhältnisses zwischen der gegebenen menschlichen N a t u r als gefallener und d e m G n a d e n s t a n d , a l s o ebenfalls nur im H o r i z o n t eines christlich g e b r o c h e n e n N a t u r r e c h t s d e n k e n s (mit F a r n e r gegen T r o e l t s c h ) . N u r im G n a d e n s t a n d ist der w a h r e S c h ö p f e r w i l l e , die w a h r e lex naturaedie F o r d e r u n g v o l l k o m m e n e r G o t t e s - und N ä c h stenliebe - erkenn- und erfüllbar, nur im G n a d e n s t a n d k a n n die entsprechende O r d n u n g des Z u s a m m e n l e b e n s realisiert werden. Jenseits der G n a d e leben die M e n s c h e n zusammen wie T i e r e : innerlich angetrieben von eigensüchtigen Affekten und T r i e b e n , äußerlich z u s a m m e n g e h a l t e n d u r c h Z w a n g . Die O b r i g k e i t ist Instrument G o t t e s , durch das er diese äußere Z w a n g s o r d n u n g a u f r e c h t e r h ä l t , u m den Übergang in den G n a d e n s t a n d zu ermöglichen. Die Obrigkeit ist also nicht Selbstzweck, sondern Dienerin der Zwecke Gottes, seines Reiches. Diesem Telos hat sie zu entsprechen unter Wahrung ihrer rein äußerlichen Wirkungsweise, also durch Errichtung einer äußeren Ordnung, die dem inneren Ubergang dienlich ist und sich daher über Fragen der Eigentums- und Wirtschaftsordnung sowie der inneren und äußeren Sicherheit hinaus auch auf die äußere Ordnung der Kultus- und Bildungsinstitutionen, Schule und Religion, erstreckt. Nun wird aber dieses ursprüngliche Telos der Obrigkeit erst im Zustand der Gnade, also im Glauben erkannt, nur seine Erkenntnis des Schöpferwillens ist die wahre. Folglich ist auch nur Christen eine bestimmungsgemäße Führung des obrigkeitlichen Amtes möglich. Dazu gehört jedenfalls der Schutz und die Beförderung der christlichen Religion als der wahren. Zwar kann dieser Schutz und diese Förderung nur ein äußerlicher sein, er darf keinen Gewissenszwang beinhalten. Aber diese Schranke sah Zwingli schon in der Freistellung der Auswanderung gewahrt. Innerhalb ihrer schließt die Pflicht der christlichen Obrigkeit zum Schutz der christlichen Religion die Unterdrückung jeder öffentlichen Bestreitung der - christlichen - Wahrheit ein, nicht nur in Wort und Schrift, sondern auch durch Wandel und abweichende - kirchliche und bürgerliche - Sitte. Diese T e n d e n z , die w a h r e ä u ß e r e O r d n u n g der K i r c h e auch zur w a h r e n zwangsbewehrten R e c h t s o r d n u n g der Gesellschaft zu e r h e b e n , trat im Verlauf der Z ü r c h e r R e f o r m a t i o n seit 1 5 2 4 z u n e h m e n d hervor. D a s bedeutete zunächst - s o l a n g e Z w i n g l i selbst seit 1528 geistlicher B e r a t e r des Kleinen R a t e s w a r - eine k o n s e q u e n t e U n t e r o r d n u n g und A b h ä n g i g k e i t der christlichen O b r i g k e i t v o m kirchlichen A m t : In ecclesia Christi [sie!] aeque necessarius est magistratus atque prophetia; utcunque illa sit prior (In der K i r c h e Christi ist das A m t e b e n s o n o t w e n d i g wie die Prophetie; sofern nur jene vor-

Obrigkeit

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geordnet ist: Fidei ratio). Aber nach seinem Tod 1531 hinderte nichts den Zürcher Rat an der Umkehrung dieser Sicht. Als Kern des Zürcher Kirchenstaats der Jahre 1 5 2 8 - 3 1 überdauerte die Zürcher Staatskirche der Folgezeit. 4.3. -^Melanchthon gibt der Obrigkeitstheorie des Luthertums erstmals zusammenhängende Gestalt: Der Schöpfer will, daß die Menschen in einer societas leben (CR 25,152), in einer durch Frieden (pax) und Ruhe (tranquillitas) schönen Ordnung (CR 8, 189; l l , 9 0 9 f ; 919; CR 12,131; 690; CR 16,94). Dazu zählt die geordnete Unterscheidung zwischen den Funktionspositionen („Ständen"): oeconomia, politia und ecclesia (CR 5, 265,9,561; 13,1209; 14,429,894,973; 15,1362; 16,159; 21,984, 1000; 25,48; CA Art. XVI, Apol. VIII, 54f.58,65). Das schließt schon ein die Differenz zwischen den Inhabern der obersten Ordnungsmacht und denen, die ihr gehorchen (CR 16,423). Funktion der Obrigkeit ist es, das Zusammenleben durch die Zwangsordnung des Rechts aufrechtzuerhalten, Gesetze zu erlassen, die ihnen entsprechenden Einzelanweisungen zu geben und auf ihre Einhaltung zu achten, und dies in eigener Bindung an schon bestehendes Recht. Durch diese Funktion erfüllt die Obrigkeit das „Naturgesetz" Gottes: Aufrechterhaltung derjenigen äußerlichen Ordnung von Politia und Oeconomia, die es erlaubt, daß in ihr auch Ekklesia „gesaminelt"werden kann. Folglich gilt für die Kirche: a) Sie ist als leibhafte Societas auch der Zwangsordnung des Rechts, die von der Obrigkeit unterhalten wird, unterworfen; die Obrigkeit ist sogar befugt und verpflichtet, für die Gestalt der Kirche in der Zwangsordnung des Rechts Raum zu schaffen und mit ihren Mitteln für sie Sorge zu tragen. - b) Aber die Mitgliedschaft in der Societas und in der Ekklesia sind unterschiedlichen Ursprungs und Wesens: Glied der Societas ist jeder Mensch als Geschöpf ohne Rücksicht auf seinen inneren Zustand, als Sünder wie als Glaubender. Mitglied der Ekklesia sind Menschen hingegen nur kraft der Gnade, die in ihnen die Sünde überwunden und den Glauben ermöglicht hat. Damit nimmt Melanchthons Obrigkeitstheorie in ihren einheitlichen (!) Gesamtzusammenhang die Differenz zwischen dem Verständnis der Obrigkeit aus der Perspektive des Unglaubens und aus der des Glaubens auf; sie gewährt dieser Differenz in der Tätigkeit der Obrigkeit und in der von ihr zu gewährenden Rechtsordnung bleibenden Raum.

Mit Zwingli und Luther denkt auch Melanchthon auf der Linie eines christlich gebrochenen Naturrechts. Gegen Zwingli, mit Luther, gewährt er der Differenz zwischen Glauben und Unglauben in der Tätigkeit der Obrigkeit und in der von dieser zu gewährleistenden Zwangsordnung des Rechts einen bleibenden legitimen Raum. Aber anders als Luther rechnet Melanchthon nur mit einer Verdunklung des Gotteswillens und Hemmung zu seiner Erfüllung beim Unglauben; an sich hat auch dieser schon (noch) Anteil an der Erkenntnis des wahren Naturrechts und am Konsoziationsmotiv. Das beweisen die frommen Heiden: Cicero, Aristoteles. Ihren Einsichten und Theorien folgt Melanchthon; in Ubereinstimmung mit der gesamten humanistischen Zeitgenossenschaft und beispielhaft für die Folgezeit. 4.4. -*Calvin. Auch Calvins Obrigkeitstheorie steht im Horizont der Sicht des Menschen in der Bestimmtheit durch Sünde und Gnade, also auf dem Boden eines christlich gebrochenen Naturrechtsdenkens. Die wahre Erkentnis des zwar im Herzen jedes Geschöpfes sprechenden (Rom 2,15), aber durch die Sünde verdunkelten Schöpferwillens, der lex naturae, ist nur aus dem durch das innere Zeugnis des Geistes erleuchteten Studium und Verständnis der Heiligen Schrift zu gewinnen. Die dadurch gewonnene Gottes- und Selbsterkenntnis des Glaubens ist Calvins kritischer Leitfaden im Gespräch mit der vor- und außerchristlichen Philosophie - insbesondere Aristoteles, Cicero und Seneca - und ihrer Rezeption ins Wahrheitsbewußtsein des Glaubens. Daraus ergibt sich Calvins Soziallehre und auf ihrem Boden seine Obrigkeitstheorie. - 1. Soziallehre: Die Menschen leben von Natur aus in civitates oder res publicae, funktional gegliederten Organismen, zusammen und werden am Leben gehalten durch die Befolgung von Gesetzen, die dem „Naturgesetz" des Schöpfers entsprechen sollen (Inst. IV,20 14). Darin ist die ursprüngliche Differenz zwischen dem Amt der Obrigkeit und den übrigen Bürgern

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Obrigkeit

eingeschlossen; ebenso die Notwendigkeit des Amts der Obrigkeit (IV,20,14), ihrer Macht zur Erzwingung der Gesetzesbefolgung (IV,20,9), aber auch ihre Befugnis und Pflicht zur Gesetzgebung als kontinuierlicher Sorge für die „Billigkeit" (aequitas) der konkreten Rechtsordnung. Billig sind Gesetze, wenn sie a) den jeweils gegebenen Umständen entsprechen, aber auch b) der einen ursprünglichen und unwandelbaren lex naturalis (IV,20,16). Das führt zur Grundaufgabe der Obrigkeit: - 2. Obrigkeitstheorie: Die Obrigkeit hat als „lebendiges Gesetz" die Entsprechung der positiven Gesetze zu Naturgesetz und Situation, ihre Billigkeit, zu gewährleisten (IV,20,14) in Orientierung an der lex naturae des Doppelgebots der Liebe (IV,20,15) als Summe der Gebote beider Tafeln (11,8). Der Glaube weiß, daß dies zunächst unter den Bedingungen der Sünde geschieht. Dieses obrigkeitliche Walten trägt bei Calvin alle Züge - und auch den Namen - von Luthers usus politicus legis (11,7,10). Aber Calvins besonderes Interesse gilt dann dem, was die im Glauben richtig und vollständig erkannte lex naturalis den Christen für ihre eigene Teilnahme am politischen Leben vorschreibt, als Inhabern obrigkeitlicher Gewalt und als Untertanen (Schlußtraktat der Institutio von 1559: „Vom bürgerlichen Regiment"): a) D a s obrigkeitliche R e g i m e n t d u r c h die Z w a n g s m i t t e l des Rechts ü b e r d a s ä u ß e r e Verhalten der M e n s c h e n ist verschieden v o m Regiment des Geistes d u r c h die Schrift ü b e r die H e r z e n der M e n s c h e n u n d findet in diesem seine Schranke. Aber d a s Regiment des Geistes in d e n H e r z e n verlangt selbst die E r h a l t u n g der bürgerlichen O r d n u n g d u r c h die O b r i g k e i t , weil u n d solange die G l a u b e n d e n als leibhafte G e s c h ö p f e auf dieser Erde leben (IV,20,1.2.). Die s c h w ä r m e r i s c h e Vera c h t u n g u n d F e r n h a l t u n g v o m A m t der Obrigkeit ist v e r k e h r t (IV,20,2), im Gegenteil die Ü b e r n a h m e dieses Amtes, einschließlich der d a f ü r wesentlichen G e w a l t a n w e n d u n g , ist den C h r i s t e n geboten (IV,20,10). - Seine A u f g a b e : „ f ü r d a s g e m e i n s a m e Wohlergehen u n d d e n g e m e i n s a m e n Frieden aller zu s o r g e n " (IV,20,9), zuerst und zuletzt f ü r eine „ g e r e c h t e " (billige) R e c h t s o r d n u n g (IV,20,14-16). Diese R e c h t s o r d n u n g m u ß d e m N a t u r g e s e t z , wie es die Christen jetzt in seiner Wahrheit aus der Schrift k e n n e n , in seinem ganzen Umfang e n t s p r e c h e n , also a u c h i m m e r die erste Tafel u m f a s s e n , ein Religionsrecht bieten (IV,20,9). D a b e i gilt auf d e m Boden der w a h r e n - christlichen - Gottes-, Selbst- u n d Gesetzeserkenntnis f ü r eine christliche O b r i g k e i t : Sie h a t nicht n u r - in f o r m a l e r Parallele zu allen vorchristlichen O b r i g k e i t e n - ü b e r h a u p t ein Religionsrecht zu entwickeln, s o n d e r n sie h a t a u c h mit den M i t t e l n der R e c h t s o r d n u n g f ü r die w a h r e G o t t e s v e r e h r u n g Sorge zu tragen; b e s c h r ä n k t auf die ä u ß e r e O r d n u n g u n d o h n e G e w i s s e n s z w a n g hat sie d a r a u f zu d r i n g e n , „ d a ß die w a h r e Religion, die in G o t t e s Gesetz beschlossen liegt, nicht u n g e s t r a f t öffentlich u n d mit öffentlichem Frevel geschändet u n d g e s c h m ä h t w i r d " (IV,20,3). Sie h a t d a s L a n d u n d seine O r d n u n g n a c h a u ß e n d u r c h gerechte Kriege (IV,20,11 f.) zu verteidigen u n d Steuern zu erheben (IV,20,13). b) Als U n t e r t a n e n d ü r f e n die Christen die Hilfe der O b r i g k e i t in A n s p r u c h n e h m e n , insbesondere die mit d e r R e c h t s o r d n u n g g e w ä h r t e Rechtssicherheit d u r c h A n r u f u n g der Gerichte genießen (11,20,19-21). Sie h a b e n die Inhaber obrigkeitlicher G e w a l t u m ihres A m t e s willen zu ehren (IV,20,22) u n d ihren Gesetzen, A n w e i s u n g e n u n d materiellen F o r d e r u n g e n zu g e h o r c h e n (IV,20,23). G r u n d dieser A u t o r i t ä t u n d E h r w ü r d i g k e i t : D a s A m t d e r O b r i g k e i t ist im Schöpferwillen G o t t e s selbst begründet (IV,20,4). Z u ehren ist a u c h eine ungerechte, tyrannische O b r i g k e i t . Auch ihr ist im R a h m e n der Clausula Petri (Act 5,29) zu g e h o r c h e n . Ein R e c h t z u m aktiven W i d e r s t a n d gibt es f ü r Privatleute o h n e A m t u n t e r keinen Bedingungen (IV,20,24-30). - A n d e r s sieht es aus, w o es „ V o l k s b e h ö r d e n " gibt wie in Sparta die E p h o r e n , in A t h e n die D e m a r c h e n , im R o m die Volkst r i b u n e n u n d in d e r G e g e n w a r t „vielleicht a u c h die drei Stände in d e n einzelnen Königreichen, w e n n sie ihre wichtigsten V e r s a m m l u n g e n h a l t e n " . „ W o d a s also so ist, d a verbiete ich diesen M ä n n e r n nicht e t w a , der wilden U n g e b u n d e n h e i t der Könige p f l i c h t g e m ä ß entgegenzutreten, nein, ich b e h a u p t e geradezu: W e n n sie Königen, die m a ß l o s w ü t e n u n d d a s niedrige Volk q u ä l e n , d u r c h die Finger sehen, s o ist solch ihr absichtliches Übersehen i m m e r h i n nicht frei v o n schändlicher Treulosigkeit; d e n n sie v e r r a t e n ja in s c h n ö d e m Betrug die Freiheit des Volkes, zu d e r e n H ü t e r n sie . . . d u r c h G o t t e s A n o r d n u n g eingesetzt s i n d ! " (IV,20,31; d a r a n anschließend bezeichnet die C o n f . Scot. XIV den T y r a n n e n m o r d als „gutes W e r k " ) . c) D a m i t ist die Frage n a c h d e r Verfassung der R e g i e r u n g gestellt. Calvin spricht der Aristokratie o d e r einem aus ihr u n d d e r bürgerlichen G e w a l t gemischten Z u s t a n d d e n Vorzug zu (IV,20,8). G r u n d s ä t z l i c h ist die R e g i e r u n g s f o r m n a c h ihren K o n s e q u e n z e n f ü r die g e s a m t e R e c h t s o r d n u n g zu b e w e r t e n . Die glücklichste ist, „ w o die Freiheit die g e b ü h r e n d e M ä ß i g u n g e r f ä h r t u n d in rechter Weise auf beständige D a u e r eingerichtet i s t " (IV,20,8). D a s ist so, w e n n der I n h a b e r der obersten G e w a l t z w a r allen einzelnen Regelungen d e r R e c h t s o r d n u n g gegenüber frei (insofern legibus so-

731

Obrigkeit Intus) ist, jedoch gleichzeitig nicht nach Willkür, sondern gebunden an die lex naturae, das Amt selbst gefordert und in seinem ganzen Aufgabenbereich beschrieben ist.

durch die

Calvins Position läuft nicht so zielstrebig wie Zwingiis auf die Lehre von einer christlichen Gesellschaft hinaus, aber sie schließt diesen Gedanken auch nicht aus und ist auf solche Verhältnisse besonders leicht anwendbar. Sie schloß nicht aus, daß Calvin die Obrigkeit um Hilfe gegen Michael -»Servet anging und daß an diesem als öffentlichem Beleidiger der wahren Religion die Ketzerstrafe des Feuertodes (1553) exekutiert wurde. 5. Römisch-katholische

Obrigkeitstheorie

im

16./17.Jh.

Die römisch-katholische Obrigkeitstheorie verdankt ihre Fortschritte seit Beginn des 16. Jh. zunächst der Dominikaner-Schule von Salamanca (Francisco —»Vitoria, Relectiones Theologicae, darin: De postestate civili, 1528, De postestate papae et concilii, 1534, Erstdruck 1557; Martinus de Azpilcueta [Navarrus] [1492-1586]; Domingo de -•Soto; Alphonsus de Castro [1495-1558]; Diego Covarruvias y Leyva [1512-1577] sowie der Jurist Fernando Vasquez de Menchaca [1512-1569]) und dann den Jesuiten (Jakob -»Lainez; Roberto -»Bellarmini; Francisco -»Suärez; —• Molina; Juan de Mariana [1554-1624], De rege et regis institutione, 1599). - Für die erste Gruppe ist wiederum eine anthropologische Grundentscheidung fundamental. Sie fügt das Erbe des Ockhamismus und die neuen Anregungen des -»Humanismus wieder in den Horizont des thomanischen Grundsatzes ein: Ratio natura non tollit sed perficit (Die Vernunft zerstört nicht die Natur, sondern vollendet sie: Sth II/II q 10 alO). Aus Rom 2,15 wird der - reformationskritische - Grundsatz gewonnen: Evangelium [und die lex evangelica. E.H.] non est in verborum foliis, sed in radice rationis (Das Evangelium findet sich nicht auf Blättern voller Wörter, sondern in der Wurzel der Vernunft: Navarrus). Die wurzelhafte Vernünftigkeit der menschlichen Natur wird zur Auslegungsnorm der gesamten Überlieferung, des Schrifttextes ebenso wie aller Rechtsüberlieferungen (römisches Recht, kanonisches Recht, überliefertes Königs- und Kaiserrecht; Covarruvias). - Das ermöglicht einen zukunftsweisenden methodischen Schritt: Mit theologischen Argumenten kann für eine theologiefreie, rein natürlich-vernünftige Sozialtheorie, Herrschafts- und Rechtstheorie eingetreten werden (so schon F. Vasquez). Inhaltlich gilt dann: Alle Menschen (auch in den überseeischen Gebieten und auch Nichtchristen) leben von Natur aus in Gemeinwesen (societates, res publicae) (aristotelischer Ansatz) um ihrer Selbsterhaltung willen (stoische Zuspitzung). Alle Menschen sind von Natur frei; Herrschaft von Menschen über Menschen ist wider die Natur (Covarruvias). Erst nach dem Fall zwingt Sittenverderbnis zur Ordnung des Gemeinwesens durch die Zwangsordnung des Rechts und damit zur Differenz Obrigkeit/Untertanen. Das ist eine Anordnung und Forderung Gottes, die durch die Radix rationis jedem Menschen, auch dem Ungläubigen, unmittelbar bekannt ist und ihn verpflichtet. Gesetz und Recht, die auf diese Weise allen Menschen und allen Gemeinschaften ex radice rationis unmittelbar von Gott gegeben sind, machen den Bereich der lex naturae, lex divinae, des jus naturale (Castro) aus; die in Wahrnehmung dieser lex in den Gemeinwesen durch menschliches Wirken zustandegekommene Rechtsordnung ist das ius gentium (Castro). Obrigkeitstheoretische Konsequenz: Zwar liegt auch in der gefallenen Welt allen Rechtsordnungen mit ihrer Funktionsdifferenz zwischen Obrigkeitsamt und Untertanenstatus die Anordnung Gottes zugrunde (Rom 13,1), aber das ursprüngliche und bleibende Subjekt der Ausgestaltung dieser Ordnung, einschließlich der Ausgestaltung der Funktionsdifferenz Obrigkeit/Untertan sind und bleiben die Gemeinwesen; sie sind es, von denen die nähere Bestimmung der Funktionen des Obrigkeitsamtes abhängt und vor allem auch: seine Besetzung mit bestimmten Personen bzw. Personengruppen (Navarrus, Castro). Damit ist keine Vorentscheidung zugunsten irgendeiner Regierungsform gefallen, wohl aber als letzte Grundlage jeder Ausgestaltung obrigkeitlicher Gewalt und ihrer legitimen Ausübung der Wille des Volkes ausgesprochen, also der Grundsatz der Volkssouveränität (so schon

732

Obrigkeit

auf thomanischer Linie -»Cajetan, Apología de potestate Papae, p 2 c 10; damit übereinstimmend Soto, De justitia et jure IV, q 4 a 1). Konsequenzen für das Widerstandsrecht: Recht und Pflicht des aktiven Widerstandes können gegenüber der reformatorischen Position ausgedehnt und von den Dominikanern der Gesamtheit des Volkes zugesprochen werden. Dies präludiert zwar den späteren Theorien der Volkssouveränität. Aber im Unterschied zu vielen späteren Positionen sind sie von einer christlichen und nicht irgendeiner naturalistischen Sicht der menschlichen Lebenswirklichkeit geleitet (von der in der römischen Kirche im Vordringen begriffenen thomanischen). Aufgrund dieses christlich-anthropologischen Ansatzes ist die Position auch immer verbunden mit einer Theorie über die Fundamente der potestas ecclesiastica, genau papalis: Nur die potestas ecclesiastica ist von Gott direkt eingesetzt, die potestas civilis nur indirekt (über die Beauftragung der Völker zu ihrer Ordnung). Konsequenzen für das Verhältnis zwischen weltlicher und kirchlicher Gewalt: Anerkennung der Eigenständigkeit der Leitungsgewalt der gesellschaftlichen Obrigkeit (gegen die Überspitzungen von Gregor VII. bis Innocenz VIII.) bei gleichzeitiger Erfassung der Überlegenheit der Leitungsgewalt der kirchlichen Obrigkeit über die der gesellschaftlichen (Wahrung des Wahrheitsgehalts von Unam sanctam). - Die Ausarbeitung dieses Zusammenhangs erfolgte vor allem im Jesuitenorden: Schon in Trient trug der Ordensgeneral J . Lainez die skizzierte Theorie vor- und zwar im Zusammenhang einer Theorie der bischöflichen potestas ( . . . verum est, quod potestas regis est a Deo; sed falsum est, quod sit immediate a Deo, quia est a Deo mediante re publica [ . . . wahr ist, daß die Macht des Herrschers von Gott ist; aber falsch ist, daß sie unmittelbar von Gott sei, denn sie wird von Gott verliehen durch die res publica als Vermittlungsinstanz: Akten des Konzils v. Trient, hg. v. d. Görresgesellschaft, Bd. IX, 94ff]). Der zweite dieser beiden genannten Grundsätze erlaubt die Integration aller altgermanischen und alteuropäischen Traditionen des Widerstandsrechts der Gemeine gegenüber einer treulosen Obrigkeit (Kern 1 4 5 - 1 7 4 , 2 1 3 - 2 4 0 ) , während der erste Grundsatz — wiederum alte Traditionen einfangend (Kern 1 7 5 - 2 1 2 , bes. 181 ff) - speziell eine christliche Widerstandspflicht gegenüber Obrigkeiten zu begründen erlaubt, die treulos von ihren Pflichten zum Schutz der wahren - römisch-katholischen — Religion abgefallen sind (Juan de Mariana). 6. Christliche und naturalistische Theorien tismus (Mitte des 16. bis Ende des 18. Jh.)

der Obrigkeit

im Zeitalter

des

Absolu-

Die kriegerischen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jh. in Deutschland, Spanien und den Niederlanden, Frankreich, Schottland und England waren ein Kräftemessen zwischen Zentralgewalt und Ständen mit dreifachem Ausgang teils in der Etablierung zentralistischer Machtstaaten (in Frankreich und den bedeutenderen Territorien des Deutschen Reiches), teils in republikanischen Gemeinwesen (Generalstaaten), teils in einem konstitutionellen Ausgleich zwischen Krone und Ständen (England). Das schlägt sich nieder in den Obrigkeitstheorien zunächst der Theologie: 6.1. Die Ereignisse der Bartholomäus-Nacht 1572 veranlaßten eine Fortbildung der Obrigkeitstheorie des Calvinismus (Theodor -»Beza, De jure magistratuum in subditos [franz. 1574, lat. 1576]; Francois Hotman [1524-1590], Franco Gallia [1573, weitere Aufl.: 1574, 1576, 1586]; Georg Buchanan [1506-1582], De jure regni apud Scotos dialogus [1579; vgl. T. Ruddiman (Hg.), Opera omnia, 2 Bde., 1715]; Hubert Languet [1518-1581]/Philippe Duplessis-Mornay [1549—1624], Vindiciae contra tyrannos sive de principis in populum, populique in principem legitima potestate [1580, unter Pseudonym: Stephanus Junius Brutus Celta]). Die Autorengruppe wird - einschließlich einzelner römischer Katholiken — unter der Sammelbezeichnung „Monarchomachen" zusammengefaßt (seit W. Barclay, De Regno et Regali potestate adversus Buchananum, Brutum Boucherium et reliquos Monarchomachos Libri VI, 1600). Die Gruppe will das Widerstandsrecht der Stände gegen einen sein Amt tyrannisch ausübenden König be-

Obrigkeit

733

gründen, in geschichtlicher Erinnerung an den Widerstand der lutherischen Reichsstände gegen den Kaiser im Schmalkaldischen Krieg (vgl. Bezas Wahl des fiktiven Druckorts Magdeburg), inhaltlich jedoch durch Ausbau von Calvins Obrigkeitslehre. Schwerpunkte des letzteren: Hervorhebung des Wahrheitsmoments im stoisch-naturrechtlichen Verständnis von Rom 2,15, Betonung der wechselseitigen Verbindlichkeiten zwischen Regierten und Regierenden als Zentrum der Rechtsordnung, Interpretation dieser mutua obligatio durch Rückgriff auf die Vertragsfigur des römischen Privatrechts (aber mit veranschaulichendem Rückgriff auf das Königtum des Alten Testaments und unter breiter Einarbeitung der einheimischen Tradition der Übertragung des Königtums durch Wahl [an einzelne oder ganze Geschlechter]), Rückgriff auf Calvins Interpretation des Willensverhältnisses zwischen Schöpfer und Geschöpf nach biblischem Vorbild als „Bund", der durch - wiederum römisch-privatrechtlich gedachte - freie Selbstverpflichtung, Selbstbindung und damit auch Selbstbeschränkung beider Seiten begründet wird, jedoch so, daß der Grund des ganzen Verhältnisses auf der Seite verbleibt, der es auch entspringt: auf der Seite Gottes (Bohatec, Calvins Lehre 247ff). Diese Traditionselemente werden zu einer Theorie verbunden, die die Konstitution des obrigkeitlichen Amtes und dessen Übertragung an seine Inhaber als Zusammenhang zweier foedera (so erstmals in den Vindiciae) faßt. Pointe: Über die Einhaltung des Vertrages wacht jeweils die überlegene, das Verhältnis inaugurierende Seite: im ersten Fall Gott, im zweiten das Volk; und zwar das Volk in seinen Repräsentanten: Magistraten und Ständen. Sie haben die oberste und letzte soziale Ordnungsmacht inne, die Souveränität (Stände- oder Magistratssouveränität). Diese Souveränität der Volksrepräsentanten ist immer dann gegen die Inhaber der obersten Gewalt zu aktivieren, wenn diese ihre vertraglichen Pflichten verletzen, also auch dann, wenn sie Beeinträchtigungen und Angriffe auf die wahre Religion nicht verhindern oder selbst vornehmen. Dann ist für alle Christen der passive Widerstand geboten, darüberhinaus aber für die Inhaber öffentlicher Ämter - Magistrate und Stände - auch aktive, notfalls gewaltsame, Maßnahmen zur Wahrung bzw. der Wiederherstellung der Rechtsordnung. Nach diesem Ansatz ist die Magistratssouveränität als Ausdruck der Volkssouveränität zu verstehen, jene in dieser begründet. Diesen Schritt vollzieht Lambert Danaeus (1530-1595; Ethices Christianae libri tres, 1577; Politices Christianae libri Septem, 1596) und Johannes Althusius (1557 [?] —1638; Politica methodice digesta, atque exemplis sacris et profanis illustrata, 1603). Letzterer lehrt: Der Kunst, das Zusammenleben der Menschen zu leiten (Pol 1,1), der „Politik", ist die Vergesellschaftung der Menschen vorgegeben (Pol 1,2). Sie ist getragen durch den physischen und durch den allen Menschen als lex und jus naturae ins Herz geschriebenen Sozialtrieb (Die. I,XIII,7.11), der als solcher das ursprüngliche und unveränderliche Formprinzip des gesamten Zusammenlebens ist (Pol XXI, 16). Durch diese innere Bekanntschaft mit dem Willen des Schöpfers sind alle Menschen vor Gott gleich; dies aber unbeschadet ihrer inneren (seelischen) und äußeren (gesellschaftlichen) Unterschiede. Solche sind unaufhebbar, weil jede consociatio ein Organismus von Teilgemeinschaften ist, die jeweils in sich und alle untereinander eine auf Über- und Unterordnungen, Befehl und Gehorsam aufbauende Ordnung bilden. Sie reicht von den privaten Gemeinschaften der Häuser über die verschiedenen öffentlichen Gemeinschaften der Stadt und der Provinz (consociatio publica particularis minor) bis zum Reich (consociatio publica universalis major oder imperium, regnum, respublica, populus in corpus unum: Winters 217). Alle diese Lebensgemeinschaften kommen nicht durch formellen Konsens und Vertragsschluß zustande, sondern leben als personale Gemeinschaften von immer schon bestehenden, natürlichen Anerkennungsverhältnissen. Nur deshalb werden dann auf politischer Ebene sowohl die Übertragung der potestas imperandi an einzelne Personen als auch die Grundregeln für die Ausübung dieser potestas durch einen unwiderruflichen Auftragsvertrag (contractus mandati), den Herrschaftsvertrag, begründet. Die derart übertragene potestas imperandi ist also nicht legibus solutus, nicht perpetua, „sie endet mit Tod des Inhabers oder durch Entzug", sie ist nicht die summa potestas oder das jus majestatis und kann es durch einen solchen Herrschaftsvertrag auch nicht als Eigentum erwerben. Die summa potestas bleibt dem ganzen politischen Gemeinwesen zugehörig (Pol IX,22) und wird durch den Herrschaftsvertrag nur einzelnen Personen - oder auch Kollegien (Pol IX,19) - zur Verwaltung übertragen. Kraft dieser Konstitution kann das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten Foedus inter magistratum et

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Obrigkeit

populum initum, et obligatio mutua contracta (Pol XXI,49) genannt werden. In dieser Terminologie spiegelt sich der durchgehend theologische Rahmen auch dieser Obrigkeitstheorie (mit E.Wolf, Winters gegen Reibstein). Der von der Volkssouveränität lebende Herrschaftsvertrag des Althusius hat religiösen Sinn. Er wird getragen von der summa potestas (der majestas) des Volkes, die ihm als in allen seinen Gliedern durch das in jedermanns Herz lebendige jus naturae, den Willen Gottes selbst, eignet. Dadurch ist aber weder die zwischen allen Einzelnen bestehende physische, psychische und soziale Ungleichheit geleugnet, noch etwa die direkte Abhängigkeit der potestas regni unter Überspringung der Mittelinstanzen von der Zustimmung aller Einzelnen. Solche Konsequenzen begegnen erst in der Spätphase der englischen Revolution. Die Gründer der Neuenglandkolonien hatten das Beispiel einer direkt aus dem religiösen Bund Gottes mit den Einzelnen hervorgehenden Begründung von Obrigkeiten gegeben. Diese Erfahrung inspirierte den radikalen Independentismus der Leveller zur Forderung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Demgegenüber hielten aber nicht nur die presbyterianische Parlamentsmehrheit (etwa: Philip Huntons [1604?—1682], A Treatise of Monarchy . . . Done by an earnest Desire of his Countries Peace [1643]), sondern auch der gemäßigte Independentismus (etwa John -»Milton, Tenure of Kings and Magistrates, 1649; The Ready and Easy to Establish a Free Commonwealth and the Excellence thereof compared with the Inconveniences and Dangears of Readmitting Kingship in this Nation, 1660) an der klassischen calvinistischen Unterscheidung zwischen souveränem Volk, Ständen bzw. mittleren Magistraten und oberstem Magistrat (Könige bzw. Lord Protector) fest. Auch für die Mittelinstanz - das Parlament - sahen sie ein nach Besitz (Huntons) oder Bildung (Milton) abgestuftes Wahlrecht vor. T r o t z u n v e r k e n n b a r k o n s t i t u t i o n a l i s t i s c h e n S c h w e r p u n k t s k o n n t e die calvinistische O b r i g k e i t s t h e o r i e unter U m s t ä n d e n auch den f r o m m e n oder aufgeklärten A b s o l u t i s m u s eines fürstlichen R e g i m e n t s rechtfertigen und unterstützen (vgl. K r e t z e r , T h a d d e n ) . 6 . 2 . Im römisch-katholischen Bereich wurde zwar die m o n a r c h o m a c h i s c h e A r g u m e n t a t i o n gelegentlich aufgegriffen, a b e r es g a b auch prinzipiellen W i d e r s p r u c h . D e r T h e o loge und J u r i s t J e a n B o d i n ( 1 5 2 9 / 3 0 - 1 5 9 6 ) veröffentlichte 1576 Les Six Livres de la République. Im R ü c k g r i f f auf die scholastische Unterscheidung zwischen - » N a t u r und —•Offenbarung, - » P h i l o s o p h i e und - » T h e o l o g i e , legt Bodin hier o h n e B e z u g n a h m e auf einen konfessionell-theologischen R a h m e n eine „ p h i l o s o p h i s c h e " T h e o r i e des politischen G e m e i n w e s e n s und der O b r i g k e i t vor, w a s dem W e r k schnelle g e s a m t e u r o p ä i s c h e R e z e p t i o n sichert ( 1 5 8 8 ital., 1590 span., 1 5 9 2 dt., 1 6 0 6 engl.). Bodin geht von der Existenz politisch verfaßter Gemeinschaften, res publicae, aus und fragt nach ihrem Wesen. Seine Antwort: „Unter einer res publica versteht man die am Recht orientierte, souveräne Regierungsgewalt über eine Vielzahl von Haushaltungen, und das, was ihnen gemeinsam ist" (1,1). Die Verfassung eines Gemeinwesens wird aus der es zusammenhaltenden Rechtsordnung heraus verstanden, die nur durch eine potestas regni begründet und garantiert werden kann, die ihrerseits tatsächlich oberste und effektiv letztentscheidend ist, eben: „souverän". Dafür ist wesentlich: die tatsächliche Überlegenheit der die Rechtsordnung begründenden Gewalt gegenüber allen Gewalten innerhalb der durch sie begründeten Rechtsordnung (1,8). In diesem Sinne souverän ist die Ordnungsgewalt, wenn sie a) von ihrem Träger als seine eigene (nicht im Namen eines anderen) ausgeübt wird, b) von ihm auf Dauer besessen und geübt wird, c) ihrem Inhaber von keiner Instanz innerhalb der Rechtsordnung rechtens entzogen werden kann, d) ihre Anordnungen für jedermann innerhalb der Rechtsordnung effektive Verbindlichkeit besitzen. Dann ist sie in einem bestimmten Sinne legibus soluta: als Quelle allen positiven Rechts selbst an kein positives Recht gebunden. Sie ist aber nicht Freiheit zu willkürlichem Machtgebrauch, sondern steht selbst in der umfassenden Ordnung der Schöpfung, die von Gott, dem Schöpfer, als Träger oberster Souveränität, geordnet ist. Von ihm ist der Träger der „Souveränität" abhängig, durch sein überpositives Schöpferrecht verpflichtet und gebunden. Wenn der Souveränitätsträger die darin liegenden Souveränitätsschranken übertritt, verstößt er gegen die Natur der Sache und gefährdet damit seine eigene Herrschaft. Insbesondere ist er gebunden, den natürlichen Zweck einer res publica zu verfolgen: die Sicherung der sozialen Koexistenz (Schutz von Leib und Leben, der Freiheit und des Eigentums) der Untertanen (1,1), sodaß diese den Endzweck des menschlichen Lebens erreichen können: die Glückseligkeit, „sich in der Betrachtung der natürlichen, menschlichen und göttlichen Dinge zu üben und für alles den mächtigen Fürsten der Natur zu lobpreisen" (1,1; auf konfessionelle Näherbestimmung dieses religiösen Telos wird bewußt verzichtet). Antimonarchomachische Pointe: Die Souveränitätsschranken ergeben sich aus der Natur der Sache, die sich selbst rächt, so daß Verstöße kein Widerstandsrecht begründen (11,4/5).

Obrigkeit

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Auch Bodins Theorie der Entstehung von souveräner Gewalt orientiert sich an der geschichtlichen Wirklichkeit und ihrer Mannigfaltigkeit. Er rechnet mit zwei Grundtypen: Wachstum aus einer Familie heraus oder plötzliches vertragliches Z u s a m m e n t r e t e n mehrerer Familien. Beiden Vorgängen liegen natürliche Triebkräfte zugrunde, die aber an dem moralischen (von interpersonaler Anerkennung getragenen) C h a r a k t e r des Vorgangs selbst und der resultierenden O r d n u n g nichts ändern (IV, 1). - Deskriptiv ist auch die Diskussion der verschiedenen Regierungsformen (Formen der Ausübung von Souveränität): Die Diskussion der traditionellen Alternativen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) (II) ergibt für Bodin die faktische Funktionsüberlegenheit der Monarchie (II). Damit ist das Fundament f ü r Selbstverständnis und Selbstbewußtsein des monarchischen Absolutismus der Folgezeit gelegt (schon a m Ende des 16. Jh. in der - anonym veröffentlichten - Schrift James I. The True Law of Free Monarchies [1598] hervortretend). Der deskriptive Ansatz der Theorie ermöglichte ihren Einbau in unterschiedliche sozialphilosophische und -theologische Kontexte; so zunächst in die auf salmazensischen Fundamenten errichteten Sozial- und Obrigkeitstheorie der Jesuiten. Für Roberto —•Bellarmini (De officio principis christianis libri très ad serenissimum principem Wladislaum Sigismundi III. Poloniae et Sueviae regis filium, 1619) gilt: Immer liegt und bleibt kraft göttlichen Naturrechts die Quelle aller potestas civilis bei der Gesamtheit, sie wird ihren geschichtlichen Trägern nicht unmittelbar von Gott, sondern mediante populo zuteil (thomanischsalmazensische Komponente). Immer wird dadurch dem jeweiligen Träger die souveräne Regierungsgewalt übertragen (Bodinsche Komponente). Zwischen diesen beiden Pfeilern liegt der ganze Spielraum unterschiedlicher Staats- und Regierungsformen (Arnold 210 f); keine ist notwendig, alle sind möglich, in allen kann mit Nachdruck für die Souveränität des jeweiligen Gewalthabers eingetreten werden. Eine fast identische Systematisierung der Theorie bietet Francisco -»Suärez (De legibus et de Deo legislatore, 1612; Defensio Fidei Catholicae et Apostolicae adversus Anglicanae sectae errores, 1613; De opere sex dierum, 1622). Unbeschadet der Betonung der natürlichen Rechte des Volkes k o n n t e auch eine Bet o n u n g der „ s a k r a l e n " Stellung des Fürsten kirchlich korrekt sein, wie sie in den weltlichen Traditionen der europäischen Nationen galt, aber auch in der kirchlichen Tradition bekannt war. D u k t u s solcher theologischer Begründungen des Absolutismus: a) Der Fürst ist faktisch Träger der Souveränität im Bodinschen Sinne; b) er ist dies zu Recht und legitimerweise durch den G a n g der Geschichte, und d. h. unter Einschluß auch von menschlichen Zustimmungsakten, die Ausdruck der göttlichen Providenz sind, also letztlich (aber eben nur: derart vermittelt) „von Gottes G n a d e n " ; exemplarisch: Jacques-Bénigne ->Bossuet (Politique tirée des propres paroles de l'Ecriture sainte, 1670-1680; Discours sur l'Histoire universelle, 1681 2 1704). 6.3. Die Obrigkeitstheorie im Luthertum. Die Obrigkeitstheorie lutherischer O r t h o doxie bewegt und entwickelt sich in anderen sozialen Kontexten als die reformierte. Das ändert nichts an der Ähnlichkeit im theoretischen Ansatz. Ihre klassische Gestalt begegnet im Locus XXIV von J o h a n n - » G e r h a r d s Loci theologici (1610-1622). Auch diese Obrigkeitstheorie konzentriert sich auf die Ausübung der obersten Gewalt durch Christen und nach christlichen Grundsätzen: Die Dreiständelehre wird zur Theorie der natürlichen Vergemeinschaftung der Menschen - im Zusammenwohnen und -wirtschaften von Häusern, Familien - und der darauf aufbauenden politischen Verfassung des Gemeinwesens in einer Rechtsordnung, die in der Existenz und Tätigkeit des magistratus politicus als Inhaber oberster Ordnungsgewalt gründet (ebd. cl). Causa efficiens principalis des Daseins eines solchen Magistrats ist Gott (ebd. c III sl), der für das Herrscheramt geeignete Personen (ebd. c IV) selbst in dieses Amt beruft, direkt durch Erwählung (ebd. c III s II §83) oder durch die normalen Mittel der bestehenden Rechtsordnung: Wahl (§84ff), verschiedene Formen der Nachfolge (§ 86ff), legitime Eroberung (§ 87ff), aber auch illegitime Weisen (gewaltsame Eroberung, Unterwanderung, Erwerb durch Bestechung) (§88). Die potestas politica, verstanden als majestas im Sinne Bodins (§ 123 ff) kann in den verschiedenen Regierungsformen: Aristokratie, Demokratie, Monarchie ausgeübt werden (cVsIII), jedoch immer nur zu demselben Endzweck (finis principalis) und durch dasselbe Mittel (finis minus principalis et intermedius). Ersterer ist

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die gloria Dei, letzteres das bonum publicum, cui inest etiam bonutn sigulorum subditorum privatum (welches auch das Wohl der einzelnen privaten Untertanten ist); woraus sich die wesentlichen Pflichten (officio) der Magistrate ergeben: die im Dekalog auf beiden Tafeln enthaltenen. Die Amtsführung der Obrigkeit ist Erfüllung dieser persönlichen Christenpflichten von Majestätspersonen (cVI). Sie umfassen: die Pflichten der Majestätspersonen gegen Gott, gegen sich selbst, gegen die Mitglieder des Hofes und gegen andere Majestätspersonen; sodann die in drei Glieder zerfallenden Pflichten gegen die Untertanen (subditi): a) die pietas und ihre Fundamente, nämlich die wahre Religion, bei den Untertanen zu befördern (m I), b) äußere Ehrbarkeit und Gerechtigkeit durch die Rechtsordnung zu pflegen (durch Gesetze, Gerichte, Strafen), c) den Untertanen eine vita quieta et tranquilla zu gewähren durch Aufrechterhaltung von Sicherheit gegen äußere Feinde (zusammenfallend mit den Pflichten der Majestätspersonen gegen ihre äußeren Feinde). CVII handelt von den Mitarbeitern der Majestätspersonen, der Beamtenschaft (von den mere subditi unterschieden) und c VIII von den inneren Feinden der Obrigkeit: der inneren und äußeren Unordnung. - Der zweite Teil handelt dann vom Untertanenstand, seiner Begründung (durch Geburt oder Wohnort), seinen beiden genera: Untertanen ohne und mit Anteilhabe an der potestats civilis (in diesem Zusammenhang auch über die Stellung der Geistlichkeit in der Rechtsordnung, d. h. über die Beseitigung ihrer Exemtion) und abschließend von den virtutes und den officio der Untertanen, ihrer Gehorsamspflicht und deren Grenzen: Für mere subditi besteht nur passive Widerstandspflicht gegenüber Befehlen gegen die wahre Religion, kein Widerstandsrecht gegen eine schlechte oder unfromme Obrigkeit; hingegen kann dem tyrannischen Regiment einer Obrigkeit, deren potestas durch ständische Rechte begrenzt ist, auch von diesen Ständen mit bewaffneter Hand widerstanden werden ( § 4 8 5 - 4 8 8 ) . Z u s a m m e n f a s s e n d e Definition: D e r ordo politicus ist der status a deo ordinatus magistratui ac subditis certis officiorum generibus sibi invicem devinctis constans, ob tranquillitatem et salutem humatii generis institutus (von G o t t für die O b r i g k e i t und die Untertanen a n g e o r d n e t e S t a n d , der aus b e s t i m m t e n Arten von miteinander verbundenen Diensten besteht, eingerichtet zum Frieden und Heil des m e n s c h l i c h e n Geschlechts: § 4 9 0 ) . - W a h r und gültig ist die gesamte T h e o r i e weil Teil der aus der Bibel als inspirierten W o r t e n G o t t e s g e w o n n e n e n O r t h o d o x i e , die gegen jegliche Verderbnis zu verteidigen ist ( § 4 8 9 ) . A u f die R e a l i t ä t des D e u t s c h e n R e i c h e s w a r diese T h e o r i e doppelt anzuwenden: auf das Verhältnis zwischen Kaiser und Reichsfürsten und a u f deren Stellung in ihren T e r ritorien. W e m ist im ersten Fall die „ M a j e s t ä t " zuzusprechen, Kaiser o d e r S t ä n d e n , und wie ist d e m e n t s p r e c h e n d die R e g i e r u n g s f o r m des R e i c h e s zu b e s t i m m e n , als M o n a r c h i e o d e r Aristokratie? I m skizzierten R a h m e n begegnen beide Auffassungen und dazu noch eine vermittelnde: Bogislaw Philipp von Chemnitz' (1605-1678) Dissertatio de ratione status Imperio nostro romano-germanico (1640, unter Pseudonym Hippolithus a Lapide) beschreibt das Reich als Aristokratie von souveränen Ständen, in deren Auftrag Kaiser und Kurfürsten in der Regierung bzw. Verwaltung des Reichs zusammenwirken. Chemnitz sieht das Ringen des -»Dreißigjährigen Krieges in Parallele zu den Auseinandersetzungen zwischen Krone und Ständen in Frankreich, das beweist der Titel einer früheren Veröffentlichung: „Vindiciae secundum libertatem Germaniae contra pacificationem Pragensem. Das ist: Rettung der alten deutschen Freiheit, gegen dem schädlichen und schändlichen pragerischen Friedens/Unfrieden" (1636). - Daß nicht der Kaiser, sondern der Reichstag oberster Gesetzgeber ist, war - im orthodoxen Rahmen - schon früher von Johannes Lymnaeus behauptet worden: Die Reichsverfassung ist eine rei publicae forma mixta. Denn der Reichstag ist Inhaber der realen Majestät, kraft deren er dem Kaiser durch Wahl personale Majestät überträgt, ohne damit seine reale zu verlieren. Das ist der Sache nach Althusius' Lehre von der Volkssouveränität. - Der Kaiser konnte aber auch als Träger der keiner irdischen Gewalt verantwortlichen Majestät verstanden werden. So lehrte über Jahrzehnte hin, unbeeindruckt von den Zeitereignissen, Dietrich Reinkingk (Tractatus de Regimine saeculari et ecclesiastico, 1619 s 1651): Gegen jeden Gedanken von Volkssouveränität gilt, daß der Kaiser als Haupt des Reichskörpers allein die volle Majestät besitzt, nicht populi beneficio, auch nicht kraft Übertragung durch den Papst, sondern unmittelbar ordinatione Dei. Die potestas der Territorialfürsten - unter der des Kaisers und durch sie begrenzt - ist ihr nicht gleich, nur ähnlich. Aber diesen durch direkte Gottesordnung begründeten Absolutismus des Kaisers und der Fürsten versteht Reinkingk als immanent begrenzt: den der Fürsten begrenzt durch die übergeordnete potestas des Kaisers, und beider potestas, auch die des Kaisers, durch den Rahmen vorgegebener Rechtsordnungen, zunächst der Reichsgrundgesetze, zuletzt aber des jus naturale, wie es in der Heiligen Schrift als jus divinum rechtsrelevant greifbar ist.

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Die orthodoxen Positionen legen eine aus der Heiligen Schrift gewonnene, offenbarte Sicht der menschlichen Gesellschaft überhaupt zugrunde, für die gilt: a) Die res publica ist nicht in der Kirche, sondern die Kirche in der res publica, b) die christliche Obrigkeit ist ein Stand in der Kirche. Gemäß dem ersten Grundsatz besitzt jede Obrigkeit ihre eigene Autorität gegenüber dem kirchlichen Leitungsamt, diesem kommt keine plenitudo potestatis zu. Aber gemäß dem zweiten besitzt das kirchliche Amt sehr wohl eine Lehrautorität gegenüber der christlichen Obrigkeit. Diese von den Wittenberger Reformatoren gegenüber den sächsischen Kurfürsten exemplarisch eingenommene Stellung versuchten die Hofprediger der orthodoxen Zeit zunächst fortzusetzen (vgl. Sommer), sie zerfiel aber schnell unter pietistischem Vorzeichen: J e intensiver das geistliche Amt auf die persönliche Frömmigkeit gerade auch der Majestätspersonen drang (so Johann -•Arndt, Joachim Lütkemann [ 1 6 0 8 - 1 6 5 5 ] , Philipp J a k o b ->Spener) und je mehr die Majestätspersonen sich persönlich als Christen engagierten, desto mehr tendierte deren summepiskopales Wirken dazu, sich über die äußere Ordnung der Kirche auch auf ihr Inneres zu erstrecken. Die Autokratie des absoluten Herrschers griff auch auf Kirche und Schule über, exemplarisch sichtbar in Herrscherpersönlichkeiten wie August d. J . zu Braunschweig und Lüneburg ( 1 5 7 9 - 1 6 6 6 ) oder Ernst d. F. von Sachsen-Gotha-Altenburg ( 1 6 0 1 - 1 6 7 5 ) . Im zuletztgenannten Territorium zeigt sich der Übergang von der hochorthodoxen zur pietistischen Position an Lebensgang und literarischem Werk des dort tätigen Veit Ludwig von -»Seckendorff. Dessen Schrift Teutscher Fürstenstaat (1656) zeichnet das am konkreten Fall seines Landes abgelesene Modell des persönlichen Regiments eines frommen Fürsten, wie es sich aus Befolgung der exemplarisch bei Reinkingk oder Gerhard begegnenden „politischen" bzw. obrigkeitstheoretischen Grundsätzen ergeben mußte. Die pictistische Vertiefung des Modells durch Annahme einer völlig konsequenten Befolgung der Grundsätze frommer Politik begegnet dann in Seckendorffs späterem Christen-Stat, in drey Bücher abgetheilet (1685). Die geschichtliche Realität bestimmten schon dem entgegengesetzte Entwicklungen: Durch den Streit der konfessionellen Interpretationen, zunächst des - * Augsburger Religionsfriedens von 1555 und dann des -»Westfälischen Friedens von 1648, war die Fundierung des obrigkeitlichen Waltens und der gesamten Rechtsordnung durch die biblisch offenbarte und theologisch entfaltete Sicht von Mensch, Gesellschaft, Herrschaft und Recht in Mißkredit geraten. Die Umstellung auf naturrechtliche Fundamente schien geboten. Das konnte zunächst als Emanzipation der Politik und Jurisprudenz von der Theologie im Rahmen und auf dem Boden christlicher Überzeugungen geschehen, wie in der Tradition römisch-katholischer Scholastik so auch in Tradition des Luthertums selbst, etwa bei Samuel -»Pufendorf und Christian ->Thomasius. Pufendorf hat niemals die christliche Sicht von Natur und Bestimmung des Menschen auf der Linie ihres lutherischen Verständnisses in Frage gestellt, weder das Gefallensein der Welt des Menschen und ihr Angewiesensein auf Gnade für die Erlangung ihrer Heilsbestimmung, noch ihren ursprünglichen Charakter als göttliche Schöpfung (De officio 1,3,11). Er will nur den Charakter dieser Schöpfung - auf der Linie Luthers - als einer, unbeschadet ihres Gefallenseins, doch für alle Menschen kraft ihrer Begabung mit „Vernunft" erkennbaren „ N a t u r " ernstnehmen und auch nur aus ihr die für jedermann erkennbaren, verständlichen und darum auch verbindlichen Grundsätze des Zusammenlebens, obrigkeitlicher Gewalt und des Rechts erheben. Das tut er, indem er über den Aristoteles nun auch Einsichten des in der reformierten Tradition ( 1 6 6 1 - 1 6 6 3 Studium in Leiden) vorherrschenden Neustoizismus und ihr Vertragsdenken rezipiert. In seinen Hauptwerken De Jure Naturae et Gentium, Libri V/J/ (1672), De Officio Hominis et Civis juxta Legem Naturalem, Libri II (1673) und De habitu religionis christianae ad vitam civilem (1687) lehrt er: Die Welt des Menschen ist durch einen göttlichen Willensakt geschaffen, der als solcher die Geschöpfe verpflichtet. Unbeschadet ihres Gefallenseins können die Menschen diese ihre geschaffene Lage, soweit sie durch die Vernunft erkennbar ist, auch durch die Vernunft erkennen, und insofern auch ihre eigene Natur und ihre darin beschlossenen natürlichen Rechte

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und Pflichten. Die - nicht nur physische, sondern auch geistig-sittliche - Natur des Menschen ist zwar durch die Sünde durchgehend verdorben, aber nicht beseitigt. Auch nach dem Fall ist es für alle menschlichen Personen - ausgestattet mit Vernunft, Wahlfreiheit (in irdischen Dingen), Gewissen, Zurechnungsfähigkeit - wesentlich, nach Vollkommenheit und Glückseligkeit zu streben, die jedoch nur in Gemeinschaft zur erreichen sind. Diese in seiner Natur begründete Vergemeinschaftungspflicht erkennt und befolgt der Mensch als Person schon im Naturzustand, schon hier lebt er in privaten menschlichen Gemeinschaften wie Familie, Ehe, Häusern zusammen (gegen Hobbes, mit Gerhard). Aber vollständig erreicht wird diese aus der Pflicht zur Selbsterhaltung abgeleitete Gemeinschaftspflicht erst in der politischen Gemeinschaft, verstanden „als eine Gesellschaft, die außer sich keinem Menschen unterworfen ist und durch Obrigkeit zusammenhängt und regiert wird" (De habitu §11,30). Diese übt nicht das dominium, sondern das imperium aus. Dafür, daß und wie sie dies tut, ist über den Hinweis auf Gott als letzte Ursache (Gerhard: causa prittcipalis) dieses Verhältnisses hinaus herauszuarbeiten: der Vertrag (mit Hobbes, gegen Horn, Alberti: J N G VII,1,4; De officio 11,6); zunächst der Gesellschaftsvertrag, dann der Vertrag über die forma regiminis (De officio 11,6) und schließlich der Herrschaftsvertrag, nicht mit den älteren reformierten Autoren als Auftragsvertrag, sondern als Unterwerfungsvertrag (JNG VII,2,8; 4,2; 4,3.). Die so konstituierte potestas imperii ist legibus soluta im Rahmen des Herrschaftsvertrages, der (gegen Hobbes) die Personwürde der Untertanen nicht tangiert und ihnen auch ein Widerstandsrecht einräumt. Souveränität ist nicht unbeschränkte Herrschaft (JNG VII,6,7), sondern in Bindung an das Staatsgrundgesetz und das durch den Schöpfer gesetzte jus naturale setzt die Obrigkeit ihre postestas absoluta zugunsten des bonum commune ein. Das schließt zwar auch für Pufendorf nicht nur die Materie der zweiten, sondern ebenso der ersten Tafel ein, aber einerseits beschränkt sich hier die Zuständigkeit der Obrigkeit rein auf die äußere Rechtsordnung; andererseits vollzieht der Souverän diese Aufgabe wie alle anderen ausschließlich in Bindung an das jus naturale und nicht an ein offenbartes jus divinium-, und folglich auch nicht beraten durch die christliche Theologie, sondern die Politik und Jurisprudenz. Die Bedeutung der christlichen Glaubensüberzeugung für die Bildung der Innerlichkeit und der Handlungsfähigkeit der Bürger bleibt anerkannt (als ein der Obrigkeit und ihren Mitteln entzogener Sachverhalt). T h o m a s i u s - Einleitung zur Vernunftlehre und Ausübung der Vernunftlehre (beide 1691), Einleitung zur Sittenlehre (1692) und Ausübung der Sittenlehre ( 1 6 9 6 ) ; grundlegend jedoch schon: Institutiones jurisprudentiae divinae (1688) und Fundamenta juris naturae et gentium (1705) - pointiert die Linie Pufendorfs. Der christliche, genau: lutherische, H o r i z o n t ist im Titel der Erstlingsschrift angedeutet, wird aber erst im zweiten lateinischen H a u p t w e r k radikal durchgeführt: Gegen Pufendorf bringt T h o m a s i u s den ganzen Realismus lutherischer Tradition bei der Beschreibung der menschlichen N a t u r abgesehen v o m W i r k e n der G n a d e zum Z u g e : die Herrschaft des -»Willens über den Verstand und der Affekte über den Willen. Der d a r a u s resultierende K a m p f aller gegen alle wird nur unter Verhältnissen vermieden, in denen die affektgetriebenen Individuen gemeinsame Regeln äußerlich befolgen, aus Furcht vor Strafe und Hoffnung auf L o h n , also in einem politischen Z u s a m m e n l e b e n unter einer Rechtsordnung, die durch das Walten einer überlegenen M a c h t garantiert wird. Sie kann nur Erfüllung der äußeren Verbindlichkeiten erzwingen, nicht der inneren. Die letzteren ergeben sich nicht nur aus dem durch übernatürliche Offenbarung bekanntgemachten Willen Gottes, sondern schon aus dem Schöpferwillen Gottes, den er als ewiges N a t u r r e c h t allen Menschen ins H e r z geschrieben hat. Es verpflichtet zwar die M e n s c h e n , ist aber nicht erzwingbar. Thomasius unterscheidet strikt zwischen äußeren, erzwingbaren rechtlichen Verbindlichkeiten durch das positive Recht und inneren unerzwingbaren moralischen Verbindlichkeiten durch das jus naturale, die unbeschadet ihrer Unerzwingbarkeit gleichwohl das Kriterium einer guten und gerechten Rechtsordnung sind. Das gilt gleichermaßen für Obrigkeiten und Untertanen. Beide sind in der Ausübung ihrer Macht äußerlich gebunden durch die positive Rechtsordnung, in der sie sich bewegen (die Fürsten durch Reichsrecht und internationales Recht, die Untertanen durch die positive Rechtsordnung ihres Landes). Beide sind innerlich verbunden durch das jus naturale: die Untertanen zur Erbringung des justum (Befolgung der Rechtsordnung), des honestum (der nichterzwingbaren Pflichten gegen sich selbst) und des decorum (der nicht erzwingbaren Pflichten gegen andere); die Fürsten nach außen zur Einhaltung von Verträgen (was nicht erzwungen werden kann), nach innen zu einer dem jus naturale entsprechenden Gestaltung der positiven Rechtsordnung, in

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der die Untertanen, indem sie ihre durch die Rechtsordnung verlangten erzwingbaren äußeren Verbindlichkeiten erfüllen, instandgesetzt werden, auch ihre nichterzwingbaren inneren Verbindlichkeiten gegenüber sich selbst und gegenüber anderen zu erbringen. Folglich umfaßt die von der Obrigkeit zu setzende und zu garantierende Rechtsordnung nicht nur alle Bereiche des Zusammenlebens, also - traditionell - auch das jus circa sacra, sondern in allen Bereichen kommt es auf eine spezifische Qualität der rechtlichen Ordnung an: Sie hat einerseits die asozialen Leidenschaften der Menschen zu unterdrücken, aber gleichzeitig solche Regeln zu sanktionieren, die die Erkenntnis des göttlichen Willens und die innere Neigung, ihn zu erfüllen, also die sozialen Neigungen der Liebe und Hilfsbereitschaft, befördern. Durch die Gestaltung der Rechtsordnung erfüllt - oder versäumt - die Obrigkeit einen Erziehungsauftrag. Das gestaltet ihr Verhältnis zu den Untertanen asymmetrisch: Letztere besitzen kein Urteil darüber, ob die Obrigkeit ihre inneren Verpflichtungen einhält, sie besitzen keine Rechtsansprüche gegenüber der Obrigkeit, kein Widerstandsrecht. Nun unterliegt aber die Obrigkeit selbst der menschlichen Natur und ihren unvernünftigen und asozialen Tendenzen. Wie wird für sie der Schöpferwille bekannt und in ihren Maßnahmen wirksam? Hier ersetzt Thomasius die Antwort der lutherischen Tradition durch den Hinweis auf die Beratungsfunktion der „Weisen", bei denen die Erkenntnis des Schöpferwillens Einfluß auf den Affekt, das Wollen und darum auch des Urteilsvermögen gewonnen hat. - Schließlich gilt: Die Obrigkeit kann überhaupt nur aufgrund ihrer Machtposition ihre inneren Verbindlichkeiten erfüllen. Deshalb rechnet Thomasius damit, daß sie nicht nur geneigt, sondern auch berechtigt ist, die Erfüllung ihrer inneren Pflichten unter Umständen aus Gründen der Staatsräson - also zugunsten von Maßnahmen des Machterhaltes bzw. der Machterweiterung - hintanzustellen.

So gilt zwar auch für Thomasius, daß die Kirche in der Res publica existiert, aber nicht mehr, daß die Obrigkeit ihrem Wesen nach ein Stand in der Kirche ist. Klar ist damit das Ende der Res publica christiana, unklar aber, was an deren Stelle tritt. 6.4. Am Ende des 16. Jh. beginnt mit Justus Lipsius (1547-1606) die Reihe der Autoren, deren Gesellschafts- und Obrigkeitstheorie man nicht mehr das christliche Menschenbild unterstellen kann. Lipsius' Ethik De Constantia libri dito ... praeeipue ...in malis publicis (1584) ist das „Grundwerk einer erneuerten römisch-stoischen Weltans c h a u u n g . . . , die kaum die unbiblische, heidnisch-stoische Basis verbergen kann oder will" (Oestreich, Geist und Gestalt 39). Fünf Jahre später folgen Politicorum seu civilis doctrinae libri sex (1589), deren Breitenwirkung die der Werke Bodins und Althusius' weit übertrifft und bis ins 18. Jh. nachweisbar ist. Ausgehend (Buch I) von einer Sicht der natürlichen Vergesellschaftung des Menschen, ihrer inneren Bedingungen, prudentia und virtus (letztere, gelebt als religio, umfassend: pietas und probitas) und ihrer äußeren Formen, commercium und imperium, konzentriert sich das Werk auf die Aufgaben des imperium für das Ganze und auf die inneren Bedingungen ihrer Erfüllung. Aufgabe ist das bomtm publicum (subditorum commodum, securitas, salus), Bedingung ihrer Lösung prudentia und virtus der Regierenden. Virtus im Regiment wird stoisch begriffen als Selbstbeherrschung, die potestas nicht als legibus soluta. Z w a r ist die Aufrechterhaltung einer Rechtsordnung eine Frage der Macht (vis), aber Macht ohne Klugheit (in der Einschätzung von Situationen und Handlungsfolgen: Buch II und III) bewirkt nichts. Die Praxis eines derart klugen Regiments richtet sich auf zwei Bereiche: Als prudentia togata regelt es die zwischenmenschlichen Angelegenheiten und die göttlichen Dinge (sacra et religio). Im letzten Bereich geht es nicht um Entscheidungen über Uberzeugungen, sondern um Schutz einer guten Ordnung. Die läßt - nach antiker Überzeugung - nur eine Religion im Gemeinwesen zu; leitender Gesichtspunkt beim Gesamtvollzug der Zivilklugheit ist aber: Mehrung oder Minderung des Regiments. Ersteres verlangt neben vis auch virtus: Alle Regierungsmaßnahmen müssen auf Stärkung der Tugend aussein. So reflektiert Lipsius (Buch IV) die Auswirkungen aller Regierungsmaßnahmen auf die innere Befindlichkeit der Bevölkerung. Treue ist oberstes Gebot; auch wenn aus Gründen der Staatsräson (des Machterhalts) unter Umständen Ausnahmen geboten sind. Entsprechend dieser Fundamentalbedeutung der vis für das imperium sind die beiden letzten Bücher (V und VI) der Militärklugheit gewidmet.

Aufbau und Schwerpunkt des Werkes zeigen: Fundament effektiver obrigkeitlicher Gewalt ist für Lipsius Macht: in physischer Stärke begründet, in Selbstbeherrschung vollendet. Auch Thomas ->Hobbes begreift obrigkeitliche Gewalt aus ihrem Machtfundament (vis, potentia): Leviathan or the matter, form and power of a commortwealth, eccle-

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siastical and civil (1651). Schon der Titel spricht die potestas civilis als potentia, als power an. Primavista scheint Hobbes' Position christlich zu sein, weil er nicht nur von der natürlichen Verfassung eines politischen Gemeinwesens als dem „natürlichen Reich Gottes" ausgeht (Teil II), sondern dieses auch unter der Alternative sieht, entweder zu einem „christlichen Gemeinwesen" zu werden, in dem der Mensch seine Bestimmung erreicht (Teil III) oder zum „Reich der Finsternis" (Teil IV); und dies aus dem Gesichtspunkt einer einleitenden und grundlegenden Untersuchung über die menschliche Natur (Teil I). Aber die hier entwickelte Sicht des Menschen ist sachlich mit dem christlichen Menschenbild unvereinbar: Der Mensch ist Naturwesen und steht wie diese in der Kausalkette des natürlichen Wirkungszusammenhanges; die über sein Verhalten entscheidenden Ursachen und Gesetze sind wissenschaftlich erkennbar; und aufgrund dieser Erkenntnis ist sein Verhalten technisch zu beeinflussen. Das gilt zunächst für das Zustandekommen eines Gemeinwesens: Es wird kausiert durch das Zusammenspiel von Affekten und affektbestimmter Vernunft. Machtstreben und Todesfurcht führen zum Krieg aller gegen alle und zu einem allgemeinen Leiden unter diesem Zustand, von dem eingesehen wird, daß er nicht anders als durch Übergang in einen Zustand beendet werden kann, in dem die Koexistenz aller unter für alle geltende Regeln möglich ist. So kommt es zum - kausalmechanisch notwendigen - Übergang aus dem Natur- in den Gesellschaftszustand. Dann aber wird der Mechanismus, der zum Zustandekommen des Gesellschaftszustandes geführt hat, auch zu seiner Erhaltung wirksam: Alle müssen durch Appell an ihre Todesfurcht an Auflehnung gehindert werden. Dazu ist die Errichtung eines Gewaltmonopols erforderlich durch einen Herrschaftsvertrag, kraft dessen diese supreme power zum Repräsentanten des Ganzen wird, der nicht nur das Recht, sondern auch die Fähigkeit aller Einzelnen zum Wollen gegen das Ganze konsumiert. Der Souverän wird zur überlegenen, konkurrenzlosen und allbestimmenden Zwangsmacht. Wie aber kommt der Herrschaftsvertrag selbst zustande? Als Vertrag muß er freiwillig erfolgen, aus der zwingenden Einsicht aller Beteiligten in die wahre Natur des Menschen und seine Notwendigkeit. Folglich entsteht und besteht souveräne Ordnungsmacht nur, wenn sie auch für den Fortbestand wahrer Einsicht sorgt: Sie hat mit ihren Zwangsmitteln die christliche Gotteserkenntnis durch wahre Auslegung der Heiligen Schrift sicherzustellen - vorausgesetzt, daß die calvinistische Prädestinationslehre mit der naturwissenschaftlichen Sicht des Menschen zusammenfällt. Dieser Irrtum schließt Hobbes' Obrigkeitstheorie aus der christlichen Tradition aus. Sie ist Vorläufer aller „wissenschaftlichen Politik" auf dem Boden „wissenschaftlicher Weltanschauung".

Auch -»Spinoza legt im Tractatus theologico-politicus (1670) und im Tractatus politicus (postum 1677) ebenfalls eine im anthropologischen Determinismus (-»Wille, Willensfreiheit) fundierte Obrigkeitstheorie vor. Aber für ihn befähigt den Menschen seine Vernunft nicht nur zum Uberleben, sondern auch dazu, sein Leben durch individuelle Einsicht in die Notwendigkeit zu verbessern. Deshalb kommt zwar auch für Spinoza der Uberschritt vom status naturalis in den status civilis durch Vernunftentschluß zustande, aber die auf individuelle Einsicht hinwirkende Vernunft überträgt in dem dafür notwendigen Herrschaftsvertrag die souveräne Gewalt nur einer Instanz, die allen Einzelnen Spielraum für Mitwirkung läßt. Gottfried Wilhelm -»Leibniz legt ebenfalls eine Rekonstruktion der biblisch-christlichen Sicht von Welt, Mensch, Gesellschaft, Recht und Obrigkeit als wissenschaftliche Wahrheit vor: die apriorische Vernunftkonstruktion der „Monadologie". Sie versteht die gesamte Wirklichkeit, d. h. den Bereich der Natur und der Gnade, als allumfassendes Geisterreich, das unter der vollkommen rationalen Leitung Gottes nicht nur die beste aller möglichen Welten ist, sondern die monarchie véritablement universelle der cité de Dieu, in der sich alle einzelnen esprits nach den vollkommen vernünftigen Gesetzen des göttlichen législateur richten und deshalb in absoluter Gerechtigkeit zusammenleben. In diesem „Reich Gottes" besitzt das menschliche Zusammenleben seinen Grund und seine Norm. Die rationale Bestimmung aller Gemeinwesen besteht darin, sich vermöge einer durch das Vernunftrecht des Gottesreichs bestimmten vernünftigen Gesetzgebung vernünftiger Regenten zu Vernunftstaaten zu entwickeln, die jeder das Gottesreich im kleinen abbilden. Aufgrund der Einheit des in ihnen allen wirkenden Naturrechts und dessen Konformität mit der für die gesamte Wirklichkeit geltenden Gesetzgebung Gottes

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sind alle diese einzelnen Vernunftstaaten dazu bestimmt, sich schließlich zu einem weltweiten einheitlichen Reich zusammenzuschließen. Erster Schritt: die Etablierung der Respublica Christiana, verstanden als abendländisches Universalreich, das alle christlichen Länder umfaßt. In ihm wird das Naturrecht in positives Recht umgesetzt und exekutiert durch die Fürsten, an oberster Stelle durch den Kaiser. Die Gewährung der Übereinstimmung des positiven Rechts mit dem Naturrecht ist vornehmste Aufgabe der Juristen (De scientia juris, 1677/78), die Gewinnung des Naturrechts aus der Gesetzgebung Gottes jedoch ist Aufgabe der Kirche und ihres Lehramts, zuoberst des Papstes. Das kann der Lutheraner Leibniz (seit seinem Dienst am kurmainzischen Hof an der Wiedervereinigung der Konfessionen arbeitend) zugestehen, weil er davon überzeugt ist, daß die biblisch-christliche Sicht von Welt und Mensch identisch ist mit der rein vernünftigen, so daß über und durch die kirchlichen Institutionen letztlich nur die Herrschaft der Wissenschaftler und Weisen zum Zuge kommt, die Zugang zur rationalen Wahrheit besitzen und sich zur Erfüllung ihrer gesellschaftspolitischen Ordnungsaufgabe in Orden und Gesellschaften zusammenzuschließen haben. Nach antikem Vorbild sind sie die eigentlichen spiritus rectores im Empire de la Raison.

Christian Wolff hat diese Konzeption Leibniz* systematisiert und zu internationaler Wirkung in den Kreisen der europäischen Aufklärung gebracht (Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und in Sonderheit dem gemeinen Wesen zur Beförderung der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts mitgeteilt, 1721; Jus naturae methodo scientifica pertractatum, tom. I—VIII, 1 7 4 0 - 1 7 4 8 ; Jus gentium methodo scientifica pertractatum, 1749; Institutiones juris naturae et gentium, 1754). Wie für Leibniz gilt für Wolff: Die Welt - und darin das Leben der Menschen - ist eine durch göttliche Gesetze zusammengehaltene und beherrschte Einheit. Diese Gesetze können die Menschen kraft ihrer Vernunft erkennen als solche, die für ihr privates Handeln und für ihr Zusammenleben verbindlich sind. Das Christentum ist die wahre Religion, weil es selbst dieses von Gott stammende ursprüngliche und absolut verbindliche Naturgesetz lehrt. Sein konkreter Inhalt: die gegebene und erkennbare Natur des Menschen als Person, d . h . als vernunftbegabtes, freies Individuum. Diese gegebene Natur des Menschen gilt der christlich-theologischen Tradition Europas einerseits als gute Schöpfung Gottes, andererseits als gefallen und durch den Fall depraviert. Die protestantische Tradition betont das letztere, die thomanische, über Salamanca an die jesuitische Scholastik vermittelte Sicht das erstere. Wolff legt - im Unterschied zu Hobbes, Spinoza, aber auch Thomasius - seiner Naturrechtslehre de facto die jesuitische Sicht zugrunde (vgl. Thomann 1963). Für den Naturzustand, in dem jeder Mensch geboren wird, ist wesentlich: neben der Vernünftigkeit die Gleichheit (JN 1,130) und „Freiheit" (JN 1,145.148). Sittlich gut - und in diesem wertenden Sinne „moralisch" - ist das menschliche Handeln und Zusammenleben, wenn und soweit es dieser Norm des Naturrechts folgt. Für die Ausübung der potestas legislatoria der potestas civilis bedeutet das: Sie ist verpflichtet, das positive Recht so zu gestalten, daß es der genannten Naturrechtsnorm, d. h. den angeborenen Rechten der Menschen, Rechnung trägt. Dementsprechend ergibt sich die innerlich verbindende Autorität der Inhaber der potestas civilis weder aus der Art ihrer Organisation als Monarchie, Demokratie oder Aristokratie, auch nicht aus der legitimen Herrschaftsübertragung, sondern aus der Qualität ihrer legislatorischen Praxis: Sie ist innerlich verbindlich, soweit sie den Normen des Naturrechts - Freiheit und Gleichheit - zum Zuge verhilft.

Diese Theorie war ebenso geeignet, Programm des fürstlichen Absolutismus zu werden (so in Preußen), wie zu seiner vernichtenden Kritik und vor allem auch zur Begründung eines berechtigten Widerstands gegen ihn (so in Frankreich; vgl. dazu Thomann, Einleitung). Die Konsequenz des Leibniz-Wolffschen Ansatzes für die Legitimität der Innehabung und Ausübung obrigkeitlicher Gewalt zeigt sich exemplarisch an Jean Jacques -»Rousseau. Seine zwischen 1750 und 1762 in resonanzkräftigen Schriften - Discours sur les sciences et les arts, 1750; Discours sur l'origine et les fondement de l'inégalité parmis les hommes, 1755; Julie ou la nouvelle Héloise, 1761; Emile, 1772; Du contrat social ou principes du droit politique, 1762 - vorgetragene Sozialphilosophie und Obrigkeitstheorie versteht mit der philosophischen und kirchlichen Tradition aller Konfessionen (und mit Leibniz/Wolff) die Wesensnatur der menschlichen Person von ihrer formalen

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Freiheit her. Der Mensch ist Willenswesen, zu Selbstbestimmung und Selbstgestaltung bestimmt. Aber dieser Wille ist nicht von vernünftiger Einsicht bestimmt (wie bei Leibniz und Wolff, in der antiken Philosophie und der thomanisch-salmazensischen Scholastik), sondern durch Trieb und affektives Streben (Gestalten des amor), und folglich die Vernunft auch abhängig vom affektbestimmten Wollen. Dazu tritt eine ambivalente Sicht des Naturzustandes: Er präsentiert sich als das Zusammenleben (Vergesellschaftetsein) von Einzelnen und verlangt daher eine doppelte Betrachtung: der Einzelnen, und dann ihres Zusammenlebens. In der ersten Hinsicht kommt auch Rousseau zur positiven Einschätzung der menschlichen Natur als ursprünglicher Norm für alle freien Akte menschlicher Selbstbestimmung (die Menschen sind frei und gleich geboren, mit vernünftiger Selbstliebe [amour de soi-même] begabt und dadurch zum unverzerrten Vernunftgebrauch imstande). Aber im Blick auf die natürliche Vergesellschaftung ist der Naturzustand negativ zu beurteilen: In ihr herrschen rein naturwüchsige Unterschiede von Macht und Besitz, die zu Abhängigkeits- und Herrschaftsformen führen, in denen die angeborene Gleichheit und Freiheit aller nicht respektiert, sondern willkürlich übergangen wird und eben dadurch allen Menschen ein Leben im Widerspruch zu ihrer eigenen Natur, ein Leben in Entfremdung (aliénation) aufgenötigt wird (Folge: die Perversion der individuellen Naturanlagen, die Degeneration des amour de soimème zum amour propre). Zur Natur von Vergesellschaftung gehört die Existenz einer Rechtsordnung, die davon lebt, wie die Inhaber des obrigkeitlichen Amtes, der Souveränität, deren Zwangsmittel einsetzen. Die Ausübung des Imperium steht nun vor der prinzipiellen Alternative, entweder nur die naturwüchsigen Vergesellschaftungsformen und ihre entfremdenden Abhängigkeitsverhältnisse abzusichern, oder der guten Seite des Naturzustandes, der Freiheit und Gleichheit aller Einzelnen, gegen die aus naturwüchsiger Vergesellschaftung resultierende Entfremdung zum Zuge zu verhelfen. Nur letzteres ist sittlich gut, moralisch, gerecht (dem Naturgesetz entsprechend), legitim, für die Untertanen innerlich verbindlich. Freilich ist diese tatsächliche Realisierung der Naturrechtsnorm nicht nur eine Frage von vernünftiger Einsicht und ihrer Verbreitung, sondern des Wollens. So fragt sich erstens: Wie kommt es zu einem naturrechtskonformen Wollen?; und zweitens: Was sind die Bedingungen dafür, daß dieser Wille in die Position der Obrigkeit gelangt, des Souveräns? Nur indem der Wille des Einzelnen aufhört, Individualwille zu sein, und sich stattdessen von dem Gemeinwillen (volonté générale) bestimmen läßt, gewinnt er die Qualität der Sittlichkeit (moralité). Nur wo dieser sittliche Wille in die Position des Souveräns kommt, haben wir es mit einem naturrechtskonformen, moralischen und sittlichen Gemeinwesen zu tun, einer res publica. Für deren Zustandekommen ist unabdingbar ein Herrschaftsvertrag, der die Übertragung der Souveränität auf die volonté générale begründet, die Organisation ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit bestimmt und die Form der diese Rechtsordnung dann exekutierenden Regierung festlegt. Sein grundlegender Inhalt: Verzicht aller Einzelnen auf die individuellen Ziele ihres Wollens zugunsten von dessen ausschließlicher Bestimmtheit durch das naturrechtskonforme Ziel der volonté générale und Übertragung der Souveränität auf das dadurch als sittliche Gemeinschaft konstituierte Volksganze, dessen substantielle Sittlichkeit sich dann auch ipso facto allen seinen gesetzgeberischen Akten mitteilt.

Rousseaus Obrigkeitstheorie hat also ebenso wie die Wolfis ihre Pointe darin, die Legitimität obrigkeitlichen Handelns und der durch es gesetzten Rechtsordnung von der „Moralität" des obrigkeitlichen Handelns abhängig zu machen; wobei „Moralität" heißt: Übereinstimmung mit der jeweils als wahr anerkannten inhaltlichen Norm des Naturrechts. Der in Ubereinstimmung mit dieser Wahrheit und zu ihren Gunsten erfolgende Einsatz obrigkeitlicher Zwangsmittel ist legitim. Ebenso legitim ist aber auch umgekehrt der aktive Widerstand gegen den Einsatz obrigkeitlicher Zwangsmittel, wenn behauptet und plausibel gemacht werden kann, daß er nicht konform mit der wahren Naturrechtsnorm erfolgt. Das wiederum schließt ipso facto auch die Möglichkeit eines legitimen Einsatzes obrigkeitlicher Zwangsmittel im Namen und zugunsten dieser Wahr-

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heit über den Menschen ein. Die -»Französische Revolution zeigte, wie von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden konnte. I. —»Kant hat die Stärke dieser naturrechtlichen Obrigkeitstheorie anerkannt, ihre Schwächen aber durch Radikalisierung überwunden. Die Stärke Wolfis und Rousseaus ist, die Sittlichkeit von Macht an Wahrheit gebunden zu haben; ihre Schwäche jedoch das Fehlen von Vorkehrung gegen den Einsatz von obrigkeitlichen Zwangsmitteln zugunsten irgendeiner behaupteten Wahrheit über den Menschen. Diese gefährliche Konsequenz vermeidet Kant, indem er radikaler ansetzt: Ist es überhaupt und warum ist es wahr, daß zur menschlichen Natur das Dasein einer obersten sozialen Ordnungsmacht und der Einsatz ihrer Zwangsmittel gehört? Die Antwort in der Metaphysik der Sitten (1785) wird nicht durch Rückgriff auf Einsichten der empirischen Anthropologie gegeben, sondern durch Rückgriff auf den „apriorischen" Begriff des Menschen als endlichen Vernunftwesens. Als solches ist er bestimmt durch das Faktum des kategorischen Imperativs, das selbst einschließt: a) das Faktum des „angeborenen Rechts" der freien Selbstbestimmung, „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann"; und b) zugleich auch die Möglichkeit, Verfügungsrechte über Außeres zu erwerben, die als solche durch alle anderen anerkannt sind. Diese im Faktum endlicher Vernunftwesen beschlossene Möglichkeit privatrechtlicher Beziehungen schließt mit sachlogischer Notwendigkeit das Postulat des öffentlichen Rechts, des bürgerlichen Zustandes und damit auch der ihn garantierenden Obrigkeit ein.

Mit dieser Begründung der Notwendigkeit des bürgerlichen Zustands ist zugleich auch ein Begriff der Reichweite und damit ein Kriterium für den sachgemäßen Einsatz obrigkeitlicher Gewalt gegeben. Er ist legitim, soweit er sich auf den Schutz privater Rechtstitel beschränkt. Diese Funktionsbeschränkung widerspricht all den Positionen, die den Einsatz obrigkeitlicher Zwangsmittel zugunsten irgendeiner christlichen oder sonstigen Wahrheitsüberzeugung erwarten oder verlangen. So öffnet Kants Radikalisierung der rationalistischen Obrigkeitstheorie diese für die pluralistischen Züge der älteren empiristischen Ansätze. Von einer aus geschichtlicher Selbsterfahrung stammenden Sicht der menschlichen Natur gehen die Obrigkeitstheorien Lockes und Montesquieus aus. - John Lockes Obrigkeitstheorie (Two Treatises of Government, 1698) besitzt zwei Pointen: Die erste betrifft das Verhältnis zwischen Naturzustand und bürgerlichem Zustand. Ersterer ist die natürliche Vergemeinschaftung der Einzelnen auf der Basis der allen Individuen angeborenen und unveräußerlichen „Freiheit und Gleichheit", die aber von Natur aus nicht Zügellosigkeit sind (licence), sondern durch Rücksichtnahme und Zuneigung bestimmt und somit schon zu einer natürlichen Form von Gerechtigkeit führen, die den Erwerb von Eigentum und Eigentumsunterschieden einschließt. Der davon unterschiedene bürgerliche Zustand und die für ihn wesentliche potestas civilis (civil government) lebt von diesem Naturzustand, dient ihm und hat deshalb auch seine Gerechtigkeit als Norm zu beachten. Die den bürgerlichen Zustand tragende und bestimmende Souveränität liegt grundsätzlich beim Volk als einem auf natürliche Weise vergesellschafteten Ganzen. Durch es wird die bürgerliche Ordnung etabliert und erhalten. Sie hat die natürlichen Rechte der Einzelnen zu schützen. Zu diesem Zweck muß durch ein vertraglich vereinbartes Grundgesetz festgelegt werden, wie die potestas civilis auszuüben ist: durch Teilung der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt und ihre Kontrolle durch den Souverän, das Volk selbst. Das ist für Locke möglich in einer konstitutionellen Monarchie. Naturzustand und bürgerlicher Zustand treten bei Locke in das Verhältnis nicht von Natur- und Rechtszustand, sondern von Gesellschaft und Staat; dieser ist durch jene in seinen Funktionen begründet, normiert und beschränkt. Das hat dann zweitens Konsequenzen für das Verhältnis der Obrigkeit zur Religion: Religion ist ein wesentliches Moment der menschlichen Natur und damit auch des natürlichen Zusammenlebens der Menschen. Aber ein Moment, das dem Einsatz obrigkeitlicher Zwangsmittel entzogen ist. Die obrigkeitlich garantierte Rechtsordnung hat sich auf die Gewährung und den wirksamen Schutz von Toleranz zu beschränken (A Letter concerning

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Toleration, 1689). Die Argumente für die Ausnahme von „Atheisten" und „Katholiken" beweisen, daß Lockes Toleranzidee nicht mit der öffentlichen Irrelevanz von Religion rechnet, sondern ihr eine gesellschaftskonstitutive Funktion zuerkennt. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt Charles-Louis de Secondat Baron de la Brède et de -»Montesquieu: Mit der -»Stoa sieht Montesquieu alles Wirkliche, auch das menschliche Zusammenleben, von natürlichen Gesetzen geregelt, die es zu kennen und zu befolgen gilt, wenn der Mensch als Vernunftwesen zum geforderten „naturgemäßen Leben" gelangen soll. Solche Gesetze regeln auch das soziale Leben: die Beziehung zwischen den einzelnen Gesellschaften (zu fixieren als Regeln des Völkerrechts) und innerhalb einer Gesellschaft, sowohl zwischen Regierenden und Regierten (zu fixieren als Regeln des Staatsrechts) als auch zwischen den Bürgern untereinander (zu fixieren als Regeln des bürgerlichen Rechts). Die im Rahmen eines derart deskriptiv naturwissenschaftlich gehaltenen Gesellschaftsverständnisses stehende Obrigkeitstheorie liegt vor in dem späten Hauptwerk De l'esprit des lots, 1748: Es konstatiert vier Typen der Ausübung obrigkeitlicher Gewalt, den aristokratischen Typ, den demokratischen (für Montesqieu zwei Spielarten eines einheitlichen Grundtyps: des republikanischen), den monarchischen und den despotischen (11,1 ff.). Alle diese Regierungsformen sind für Montesquieu Ausdruck jeweils eines inneren „Prinzips", einer inneren Beschaffenheit und Haltung bei allen Mitgliedern der Gesellschaft, und bestehen nur, solange sie diesem entsprechen: die despotische Regierung der crainte, die monarchische der honneur, die aristokratische der modération, die demokratische der vertu (III). Letztere umfaßt: Gleichheit - absolute vor dem Gesetz und wenigstens relative wirtschaftliche, soziale und politische Gleichh e i t - sowie Freiheit. Diese lebt als innere Freiheit von und in einem sozialen Spielraum, den die Obrigkeit durch die Rechtsordnung zu sichern hat. Dabei hat das Walten der Obrigkeit selbst dem demokratischen Prinzip zu entsprechen und sich unter Beteiligung aller als Selbstgesetzgebung und Selbstregierung der Bürger zu vollziehen, die als solche gleichzeitig Ausdruck und Schutz der Freiheit der Bürger ist. Vor Entartung wird dieser d e m o k r a t i s c h e Vollzug obrigkeitlicher G e w a l t geschützt durch Fixierung seiner Regeln in einer Verfassung ( X I ) . Sie sieht in Anlehnung an L o c k e und die englische Verfassung vor: regelmäßige Beteiligung aller Bürger an der Legislative durch periodische Wahlen, die über die Z u s a m m e n s e t z u n g der gesetzgebenden Körperschaft ( „ S e n a t " ) entscheiden, Trennung der Exekutive von der Legislative und Bindung an diese, darüber hinaus aber auch Verselbständigung der J u d i k a t i v e gegenüber der E x e k u t i v e ( X I , 18). W i e L o c k e sieht M o n t e s q u i e u die demokratische Regierungsform u n a b h ä n g i g von einem inneren Prinzip der Gesellschaft, der Tugend, die er aber anders als L o c k e nicht m e h r in religiösen Uberzeugungen begründet sieht, sondern - wie in der römischen R e p u b l i k - durch die Gesetzgebung selbst und durch eine geeignete Erziehung (IV).

Der von Montesqieu bevorzugte Typ der Ausübung obrigkeitlicher Gewalt, die -»Demokratie, ist dennoch nur eine von vielen geschichtlichen Möglichkeiten. Die Politik beherrscht diese Möglichkeiten nicht, sie kann nur ihre Gesetze erkennen und ihnen in der Gestaltung der Rechtsordnung entsprechen (Stabilitätsbedingung: XXVI). Diese Sicht der Vernunft im geschichtlichen Werden prägt auch die Obrigkeitstheorie G.W.F. -»Hegels: § 4 8 8 - 5 5 5 der Enzyklopädie ([1817] 1830) und Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Das subjektivitätstheoretische Fundament ( § 1 - 3 2 ) ist der Begriff des Menschen als individueller, selbstbewußter und freier Wille, der durch sein eigenes Wesen auf eine natürliche Vergesellschaftung angelegt ist, die den Prinzipien der Legalität (Entwicklung von Eigentumsrechten, deren äußerliche Respektierung rechtens erzwungen werden kann, § 3 4 - 1 0 4 ) und der Moralität (der gewissensmäßigen Bekanntheit mit und Bestimmtheit durch das Sittengesetz, § 1 0 5 - 1 4 0 ) unterliegt, deren gleichzeitige Wirksamkeit die konkrete Wirklichkeit der „Sittlichkeit" ausmacht; erste objektive Erscheinung: die Institution der Familie (§158—181). Aus der Vergrößerung der Familie oder aus dem Zusammentreten mehrerer ergibt sich die bürgerliche Gesellschaft, die sich als Zusammenleben unter der „fürstlichen Gewalt" als „Staat" konstituiert (§257-340). Pointe dieser Sicht: Die Gesellschaft ist nicht schon als bürgerliche,

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Obrigkeit

sondern wird erst als staatlich verfaßte, d. h. durch die Ausübung der „fürstlichen Gewalt" — als Regierungsgewalt und gesetzgebender Gewalt — zur objektiven Realisierung der Sittlichkeit (§ 257ff) (-»Sitte/Sittlichkeit), der also über den Charakter der „Legalität" (der bloß äußeren Rechtlichkeit, § 183) hinaus der Charakter der „Moralität" (die innere Ubereinstimmung mit dem Sittengesetz, d. h. hier: mit dem objektiven Vernunftinteresse) eignet. Damit ist wie bei Wolff und Rousseau die Abhängigkeit der Sittlichkeit des gesellschaftlichen Gesamtzustandes von der Moralität der Rechtsordnung und des obrigkeitlichen Waltens behauptet, einschließlich seiner totalitären Konsequenzen; nur mit dem Unterschied, daß der sittliche Zustand des Ganzen nicht erst durch Aufklärung oder Gesellschaftvertrag herbeizuführen ist, sondern durch die Geschichte selbst geschaffen wird. Die Geschichte selbst ist „der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" (Phil, d. Gesch., Jubiläumsausg., 12.45). 7. Theologische

Obrigkeitstheorien

im Deutschland

des 19. Jh.

Die juristische Theoriebildung hat sich im 17. und 18. Jh. definitiv vom Boden der theologischen gelöst. Ihre weitere Entwicklung und vielfältigen - häufig nur verborgen wirksamen - „philosophischen", bzw. sonstwie weltanschaulichen Leithorizonte können hier nicht weiter verfolgt werden. Die Obrigkeitstheorie der deutschen evangelischen Theologie im 19. Jh. zeigt zwar einen gewissen festen thematischen Grundriß, der aber nur in schulspezifischen Variationen begegnet. 7.1. Der Linie Hegels folgen Carl - » D a u b (Vorl. über die Prolegomena zur theol. M o r a l . . . , 1839) und Richard - R o t h e (Theol. Ethik, 3 Bde., 1845ff; 5 Bde., 2 1867ff). Rothe lehrt die Identität von sittlichem Gemeinwesen und Verfassungsstaat, genau: verfassungsmäßiger Monarchie. Im Verfassungsstaat hat sich das Volk kraft der ihm eignenden „Majestät der Obrigkeit" diejenige „ O r ganisation" gegeben, in der alle Einzelnen ganz für sich selbst leben, indem sie ganz für das Allgemeine leben. Die - im Fürsten zusammenströmende und durch ihn repräsentierte - Sittlichkeit dieser Verhältnisse setzt die Differenz zwischen Obrigkeit (seit der 2. Aufl. nur noch Bezeichnung der Verfassungsorgane) und Untertanen so, daß sie sie zugleich aufhebt, und schließt daher die Tendenz zu wachsender, schließlich „absoluter Centralisation" des Gesamtorganismus ein. Dann wird die politische Gemeinschaft auch die religiöse in sich aufgenommen haben, die nur solange neben der politischen besteht, wie dieser die volle Sittlichkeit noch mangelt.

7.2. Die Gleichsetzung von Staat und sittlichem Gemeinwesen hatte bereits F.D.E. -•Schleiermacher bestritten (Die Lehre vom Staat. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlaß u. nachgeschriebenen Vorl. hg. v. Chr. Brandis: SW III/8, 1845). Seiner Sicht des Staates als einer unter mehreren selbständigen Sphären des sittlichen Lebens (Religion, Wissenschaft, Ökonomie) und den daraus folgenden Restriktionen obrigkeitlichen Waltens folgen die Vertreter der -+ Vermittlungstheologie. Für I.A. -»Dorner (System der christlichen Sittenlehre, hg. v. A. Dorner, 1885 [nach Vorl. in den 60er u. 70er Jahren]) gilt: Das in Gottes Schöpferwillen gründende spezifische und beschränkte Prinzip des Staates ist im Unterschied zu den anderen von ihm umfaßten, aber auch ihn umfassenden sittlichen Sphären, die Idee des Rechts, das dem Chaos und der Willkür wehrt. Dessen Praktizierung verlangt die Selbstunterscheidung des Volkes in Obrigkeit und Untertanen. Für den Christen gilt: Obrigkeitliche Gewalt soll nach einer Verfassung ausgeübt werden, die die Mitwirkung aller vorsieht und regelt. Schlechtes Recht ist notfalls zu leiden, aber sobald die Inhaber der obrigkeitlichen Gewalt durch ihr Handeln die Idee des Rechts verletzen, kommt das einer Abdikation und Revolution gleich. Dagegen hätte der den Staat erhaltende „konservative Sinn des Christen zu reagieren", und zwar durch Maßnahmen, die den Staat effektiv wiederherstellen, also auch Gewaltmaßnahmen (ebd. 520). - Der übrigen sittlichen Sphären ist der Staat nicht mächtig - „er hat nicht Religion zu machen oder zu lehren, Ehen zu stiften etc." —, sondern nur einen Rechtsrahmen zu bieten, der ihre autonome Entwicklung fördert. — Insgesamt ähnlich Julius Köstlin (1826-1902; Christliche Ethik, 1899), mit besonderer Betonung,

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daß Staat und Obrigkeit als solche nicht wesentlich christlich sind und aus christlicher Sicht auch keine Präferenz für eine Monarchie von Gottes Gnaden besteht (646). 7.3. Beide Abgrenzungen beziehen sich auf Positionen, die vertreten worden waren im Anschluß an F.J. -»Stahl (Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, 1 8 3 0 - 1 8 3 7 ; Das monarchische Prinzip, 1845; Uber den christlichen Staat, 1847; Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche, 1863): Auszugehen ist nicht von der bloß gedachten, abstrakten, sondern von der wirklichen, konkreten Einheit der Wirklichkeit, die nicht in dieser selbst, sondern nur jenseits ihrer in Person und Willen ihres Schöpfers begründet sein kann. Diesem - jedem Einzelnen durch sein eigenes Dasein bekannten — Gotteswillen entsprechen nur diejenigen gesellschaftlichen Ordnungen und Institutionen, die durch die Geschichte als die Manifestation des göttlichen Willens geheiligt sind. Dazu zählt der Staat, der die jeweils herrschenden religiösen Vorstellungen vom Willen G o t t e s realisiert „in der Weise des R e c h t s , nämlich durch äußere, zuletzt erzwingbare G e b o t e und Anstalten, und eben deshalb in b e s c h r ä n k t e m , nur negativem U m f a n g e " (Philosophie II, Buch 4 , 1 3 6 f ) . Die Autorität der R e c h t s o r d n u n g ist aber die Autorität der O b r i g k e i t , die „ n i c h t durch das Volk konstituiert, sondern in diesem gegeben, ihm vorgegeben i s t . . . Nicht die R e c h t s o r d n u n g , sondern die Obrigkeit ist eine göttliche I n s t i t u t i o n " , „von G o t t e s G n a d e n " (Philosophie II, Buch 4 , 2 5 0 ) . G n ä d i g e Institution G o t t e s ist diese Obrigkeit nun aber nicht als „ u n m i t t e l b a r persönliche oder private H e r r s c h a f t " (Philosophie II, Buch 4 , 1 4 1 ) , folglich auch nicht deshalb, weil „die Anordnungen der Obrigkeit selbst als G e b o t e G o t t e s zu betrachten s e i e n " , sondern weil es das A m t (Aufgabe und Funktion) dieser Institution ist, „seine G e b o t e aufrecht zu h a l t e n " (Philosophie II, Buch 4 , 1 7 9 ) . Diese begegnen nicht als abstraktes N a t u r r e c h t , sondern als geschichtlich gewordenes R e c h t , das „Gesetz des Staates, das durch die G e s c h i c h t e ü b e r k o m m e n über Fürst und Volk steht und nur nach seinen eigenen Bedingungen abgeändert werden k a n n " (Philosophie II, Buch 4 , 4 ) . D a s so verstandene G o t t e s g n a d e n t u m schließt den Konstitutionalismus ein, verstanden als Bindung aller obrigkeitlichen T ä t i g k e i t e n an das ü b e r k o m m e n e positive Gesetz, an die Kontrolle seiner Einhaltung durch unabhängige R i c h t e r (Philosophie II, Buch 4 , 2 5 6 ) und an seine Fortbildung unter Beteiligung der Repräsentanten des Volkes (Stände) (Philosophie II, Buch 4 , 4 ) . N u n ist aber das geschichtliche H e r k o m m e n in Deutschland durch das positive Christentum bestimmt. Folglich ist der auf dem Boden dieser G e s c h i c h t e stehende Staat, der den genannten Bedingungen genügt, der „christliche S t a a t " . - I m Luthertum lehnen sich an diese Sicht an: F. A. C h r . - » V i l m a r (Das Königtum des A T u. D a s Königtum des D t . Volkes, 1848) und H . L . M a r t e n s e n ( 1 8 0 8 - 1 8 8 4 ; D i e sociale Ethik, J 1 8 8 6 ) .

7.4. Aber diese Sicht ist auch im Luthertum schon früh bestritten worden, nicht von ungefähr im katholischen Bayern (—• Neuluthertum). Für A . G . C h r . v. - » H a r l e ß (Christliche Ethik, 4 1 8 6 4 ) ist der Staat menschliche Einrichtung a u f dem Boden einer durch den Schöpfer für alle gefügten O r d n u n g . Für ihn ist wesentlich: nicht, d a ß er christlich ist, sondern d a ß er durch das geschichtliche E t h o s der N a t i o n gestaltet wird. D a s christliche E t h o s deckt die Differenz dieser O r d n u n g zur idealen (dem Schöpferwillen in Wahrheit entsprechenden) auf und ermöglicht Annäherung an sie. Es selbst entspringt aber nicht in der staatlichen sondern der kirchlichen O r d n u n g , die jener gegenüber selbständig bleibt. N o c h pointierter äußert sich F. H . R . - » F r a n k (System der christlichen Sittlichkeit. Z w e i t e H ä l f t e , 1887): Die staatliche O r d n u n g ist Instrument der göttlichen Weltregierung, hingeordnet auf das Reich G o t t e s , a b e r von ihm unterschieden (431), M i t t e l , auch unter der Sünde ein Z u s a m m e n l e b e n zu ermöglichen (431 f): „ W i r brauchen die O b r i g k e i t wie das tägliche B r o t , und eine s c h l e c h t e . . . ist i m m e r besser als k e i n e " , aber „ v o n einer unmittelbaren göttlichen Einsetzung der Obrigkeit ist selbstverständlich keine R e d e " , jeder „ungesunden A d o r a t i o n ist zu w e h r e n " (434 f). „ G ö t t l i c h e n Ursprungs ist die F u n k t i o n der O b r i g k e i t , nie ihre G e s t a l t " (435). Letztere ist geschichtlich variabel. Christliches Handeln im O b r i g k e i t s a m t zielt darauf, „die m i t . . . Zwangsmitteln durchzusetzende R e c h t s o r d n u n g als solche gerade nicht zu verchristlichen, sondern offenzuhalten für a l l e " (445). D a s verlangt die dauernde Selbständigkeit der kirchlichen O r d n u n g gegenüber der staatlichen (452 ff). Aber der sächsische Lutheraner C h r . E . Luthardt ( 1 8 2 3 - 1 9 0 2 ; K o m p e n d i u m der theologischen E t h i k , 2 1898) lenkt wieder zur legitimistischen Position zurück: Staat, R e c h t und O b r i g k e i t sind das „geschichtlich gewordene Rechtsgemeinwesen des V o l k s l e b e n s " (328). D i e Differenz von O b rigkeit und Volk ist für die geschichtliche R e c h t s o r d n u n g ursprünglich und wesentlich, deshalb auch „die O b r i g k e i t von G o t t g e s e t z t " , also „ v o n G o t t e s G n a d e n " ; ein Ausdruck, der nicht den totalen U m f a n g der M a c h t bezeichnen soll, sondern den „Ursprung(s) der G e w a l t " und die „ U n -

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terordnung unter G o t t " , Luthardt hält a m „christlichen S t a a t " fest, freilich nur „als durch die nationale Sitte v e r m i t t e l t . . . (Schule, Eid, E h e , S o n n t a g und gesamte L e b e n s o r d n u n g ) " (333); und insbesondere dadurch, daß der Christ in seine Teilnahme a m politischen Leben „die eine und selbe g o t t g e m ä ß e Gesinnung der Liebe hineinlegen kann und s o l l " .

7.5. Der Schule A. -»Ritschls ist das nach seinen eigenen Gesezen verlaufende gesellschaftliche Leben Mittel zur Beförderung der allgemeinen Sittlichkeit (des „Reich Gottes"), also auch der staatliche und politische Funktionszusammenhang von VolkStaat-Recht-Obrigkeit, der teils partizipations-, teils machtorientiert gesehen wird. Für J o h a n n e s G o t t s c h i c k etwa ( 1 8 4 7 - 1 9 0 7 ; Ethik (1907), ist Z w e c k des Staates Schutz und Pflege „des Volksthums und der nationalen K u l t u r " durch die R e c h t s o r d n u n g . Deren E x e k u t o r i n ist die „ O b r i g k e i t " ( 2 0 0 f ) . Ihr Zusammenspiel mit den Untertanen regelt die Verfassung. Sie hat allen Bürgern M ö g l i c h k e i t e n der Mitgestaltung der Rechtsordnung einzuräumen, die zu ergreifen ist Christenpflicht, einschließlich eines parteipolitischen Engagements (208). Die Obrigkeit hat im Spiel der Interessen ihre Selbständigkeit zu w a h r e n ; am leichtesten in Gestalt des erblichen Königtums einer volksverbundenen Dynastie (207). Keine bestimmte Verfassungsgestalt hat religiöse Verbindlichkeit, in jeder kann man eine „Willensbekundung Gottes e r b l i c k e n " , wenn sie geschichtlich z w e c k m ä ß i g ist. „ C h r i s t l i c h " ist der Staat in dem M a ß , „als in i h m . . . die christliche Sittlichkeit lebendig ist und ihn t r ä g t " (211). T h e o d o r - > H ä r i n g (Das christliche Leben, ' 1 9 0 7 ) sieht Staat und Obrigkeit auf der Trias „ V o l k , M a c h t und R e c h t " begründet. Z u m Staat k o m m t es nur, wenn in einem Volk die M a c h t da ist, R e c h t zu setzen und durchzusetzen (401). Von ihrer M a c h t b a s i s und R e c h t s f u n k t i o n her verstanden, sind Staat und Obrigkeit nicht wesentlich „ c h r i s t l i c h " , können es aber sein, in dem M a ß e als sie innerlich vom Geist des Evangeliums auf eine O r d n u n g der Freiheit gerichtet werden. Die Autorität der Obrigkeit hängt a b von ihrer M a c h t , der physischen und geistigen. Letztere ist in der Konkurrenz der Weltanschauungen zu b e w ä h r e n . D a s Resultat dieser Konkurrenz - an der das Christentum teilnimmt - entscheidet über die die Obrigkeit leitende Weltanschauung und damit über die reale Gestalt und Q u a l i t ä t der R e c h t s o r d n u n g .

Konsequent aus dem Machtgedanken heraus verstanden sind Staat und Obrigkeit schon früher bei Otto -»Pfleiderer (Grundriß der christlichen Glaubens- und Sittenlehre als Compendium für Studierende und als Leitfaden für den Unterricht an höheren Schulen, '1898): „Der Staat ist die organisierte Rechtsgemeinschaft des Volks" (298), für die das Dasein und Wirken einer „Obrigkeit" als „Centraigewalt" grundlegend ist, für deren sittliche Legitimität nicht ihr Zustandekommen, sondern nur der tatsächliche Besitz von Macht und deren Ausübung „im Dienste des allgemeinen Rechts" die Grundlage bildet. In dieser Funktion ist sie obwohl menschliche Einrichtung gleichwohl göttlich sanktioniert. Weil für das Recht konstitutiv, wird das Wirken der Obrigkeit auch nicht durchs Recht begrenzt. Vielmehr setzt sie das Recht ein als Mittel für die Erfüllung des dreifachen Staatszwecks (298f): „1) Z u s a m m e n f a s s u n g der M a c h t des Volksganzen zum Schutz seiner Existenz und seiner Lebensbedingungen nach außen und innen, 2) Herstellung und Erhaltung der R e c h t s o r d n u n g des Volks und 3) Förderung aller sittlichen K u l t u r a u f g a b e n . . . M a c h t , R e c h t und Kultur sind sich gegenseitig bedingende M o m e n t e der sittlichen Idee des S t a a t e s " . Punkt 1 u m f a ß t auch Wohlfahrtssteigerung durch Wirtschaftsförderung, Punkt 3 den G e s a m t b e r e i c h von Bildung und Religion: Schulen, Universitäten, Kunst und Religion sind Gegenstände obrigkeitlicher Regelungen, die zwar keinen Gewissenszwang ausüben dürfen, a b e r auch keine unkontrollierte „ k i r c h l i c h e Beeinflussung der öffentlichen M o r a l " zulassen. H i e r besitzt die Obrigkeit das M o n o p o l der Gestaltung des gesamten öffentlichen Lebens. D i e Gesellschaft ist der S t a a t , und der Staat ist Obrigkeitsstaat.

Die in ihrem Themenkanon gefestigt erscheinende theologische Theorie läßt also am Ende des 19. Jh. die Frage nach der Wahrheit, die im Leben von Volk, Staat, Recht und Obrigkeit begegnet und dem allen eine sittlich bindende Autorität verleiht, offen. 8. Die theologische

Obrigkeitstheorie

in den Umwälzungen des 20. Jh.

In den politischen und theoretischen Auseinandersetzungen, die durch den Ausgang des Ersten Weltkriegs ausgelöst wurden, erwies sich das Herzstück der Lehre - Staat, Recht und Obrigkeit als Funktionen des Volkslebens - als klärungsbedürftig und ge-

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gensätzlicher Bestimmungen fähig. Die Lehrpositionen variieren unter zwei Gesichtsp u n k t e n : e r s t e n s d e r B e t o n u n g o d e r V e r n a c h l ä s s i g u n g eines spezifisch theologischen Fund a m e n t e s , z w e i t e n s d e m Verständnis von „Volk". 8.1. R e i n h o l d - > S e e b e r g (System d e r E t h i k i m G r u n d r i ß , 1911; C h r i s t l i c h e E t h i k , 1936) h a t v o r 1914 u n d n a c h 1933 S t e l l u n g g e n o m m e n . B e i d e M a l e w i r d d e r n i c h t t h e o logisch b e s t i m m t e „ g e m e i n g ü l t i g e f o r m a l e S i n n " (System 11.20) d e s Sittlichen z u g r u n d e g e l e g t , d i e c h r i s t l i c h e S i t t l i c h k e i t ist n u r e i n e s e i n e r V a r i a t i o n e n . Sie v o l l z i e h t sich i m S t a a t , v o n d e s s e n W e s e n z u n ä c h s t ein n i c h t t h e o l o g i s c h e r „ a l l g e m e i n g ü l t i g e r " Begriff e n t w i c k e l t (123 ff) u n d e r s t d a n a c h die „ s i t t l i c h e B e t ä t i g u n g d e s C h r i s t e n in i h m " beh a n d e l t w i r d . In R a d i k a l i s i e r u n g d e r L i n i e P f l e i d e r e r s w i r d d e r S t a a t als V o l k s s t a a t n i c h t a u s d e m V o l k s r e c h t , s o n d e r n d a s V o l k s r e c h t a u s d e m V o l k s s t a a t b e g r i f f e n , d e r seinerseits u r s p r ü n g l i c h u n d w e s e n t l i c h n i c h t s ist als M a c h t o r d n u n g (123). Nicht der Schutz der Einzelnen, sondern der Bestand des Volkes ist Staatszweck, das Recht nur das dazu notwendige Mittel: „Demnach i s t . . . der Staat nicht nur als Rechtsstaat, der die freie Gesellschaft durch den Dienst des Nachtwächters vor Unruhen bewahrt, anzusehen, sondern zugleich als Kulturstaat, der die Gesamtentwicklung des Volkes positiv und zweckmäßig leitet". - Die Position wird 1936 nicht korrigiert, sondern ausgebaut. „Volk" ist nur Kultur- als schon zuvor Rassegemeinschaft (265 f). Die Variabilität der Verfassungen ist jetzt abermals durch die Geschichte bestätigt (345 ff), ebenso das natürliche Gesetz der Verfassungsänderung: die Steigerung ihrer Effektivität als Instrument für den Selbsterhaltungswillen des Volkes. Die nationalsozialistische Verfassung realisiert den schon 1911 konzipierten Staatsbegriff sowohl durch Machtergreifung der - als realer Ausdruck des gesamten Volkswillens - „alleingültigen" Partei, als auch durch das Führerprinzip. Auf der Linie des Gedankens der individuellen Verkörperung der allgemeinen Sittlichkeit (Rousseau, Hegel, Rothe, Stahl) heißt es: „Durch das Führerprinzip... kommt ein eigentümlich lebendiges, ja man könnte sagen mystisches Motiv in den S t a a t . . . Er ist seinem Wesen nach etwas anderes als Obrigkeit oder höchster Beamter; seine Autorität hat etwas von Vaterart an sich; er muß reines Herzens ohne Falsch wie die Tauben und doch klug wie die Schlangen sein. - Der Begriff des Führers ist daher rechtlich schwer zu fassen. Es ist ein metaphysischer oder mystischer Zug dabei mit im Spiel, wie ihn früher wohl auch das Gottesgnadentum dem Fürsten gab". - Theologische Bewertung: All dies ist geeignet, „in die mit dem christlichen Glauben gegebene Weltanschauung eingeordnet zu werden" und „auch vom Boden des Evangeliums her vor dem Volk vertreten werden (zu) k ö n n e n " (352). Emanuel H i r s c h will d e n V o l k s w i l l e n u n d seine R e a l i s i e r u n g n i c h t als b l o ß e s M a c h t p h ä n o m e n , s o n d e r n als i n n e r l i c h v e r p f l i c h t e n d e n s i t t l i c h e n S a c h v e r h a l t b e g r e i f e n . D a s geschieht im H o r i z o n t einer philosophischen Geschichtstheologie, die unter dem T i t e l „ e t h i s c h e r T h e i s m u s " v o r g e t r a g e n w i r d , e r s t m a l s 1921: Deutschlands Schicksal. Staat, Volk und Menschheit im Lichte einer ethischen Geschichtsansicht, d a n n nach der M a c h t e r g r e i f u n g v e r t i e f t : Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung. Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933 (1934). Für Hirsch verkommt das Freiheitspathos der Aufklärung nur dann nicht zu bindungsloser Beliebigkeit, wenn das Gewissen jedes Einzelnen durch die inhaltlich bestimmte Wahrheit über seine Bestimmung verpflichtet wird. Das geschieht, indem die die unhintergehbare Individualität jedes Einzelnen begründende und bestimmende soziale Stellung erlebt und angenommen wird als Offenbarung und Äußerung des Willens der Herrn der Geschichte an ihn: Die von den gesellschaftlichen Ordnungen her an den Einzelnen ergehenden Sachzumutungen werden als religiös verbindlich erlebt und der Einzelne in ihrer - hingegebenen, von jedem Schielen auf den Erfolg freien - Erfüllung als vor und durch Gott gerechtfertigt. Das schließt eine Einschätzung des Volkswillens und der durch ihn im geschichtlichen Progreß geprägten Lebensordnung als Ausdruck schöpferischer Lebendigkeit ein. Die systematische Gesamtdarstellung der Position (Die christliche Rechenschaft, hg. v. H . Gerdes, 1978) bietet im ethischen Teil die diesen Voraussetzungen entsprechende Theorie über Staat, Recht und Obrigkeit. F r i e d r i c h — • G o g a r t e n s V e r s u c h , in e i n e m e x i s t e n z p h i l o s o p h i s c h e n H o r i z o n t d a s F a k t u m d e s S t a a t e s als sittlich v e r p f l i c h t e n d e O r d n u n g a u s d e m V o l k s w i l l e n z u b e g r e i f e n , lebt v o n d e r e n t g e g e n g e s e t z t e n E i n s c h ä t z u n g dieses V o l k s w i l l e n s als d ä m o n i s c h u n d

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destruktiv, „sündhaft" (Die religiöse Entscheidung, 1921 l 1924), unfähig zur inneren Selbstbeschränkung (Illusionen. Eine Auseinandersetzung mit dem Kulturidealismus, 1926). Der Staat ist das für die Realisierung des göttlichen Heilswillens in der Geschichte (Ich glaube an den dreieinigen Gott. Eine Untersuchung über Glauben und Geschichte, 1926) unverzichtbare Instrument, um das innerlich zügellose Geschöpf durch die äußere Konfrontation mit der Autorität überlegener Macht und ihrer Forderungen in die „Hörigkeit" zu „zwingen" (Politische Ethik, 1932). Diese Sicht des Staates ist eine „Selbstverständlichkeit", die der christliche Glaube mit jedermann teilt. Darüberhinaus geht nur seine Erkenntnis des heilsamen telos dieser Ordnung Gottes (Die Selbstverständlichkeiten unserer Zeit und der christliche Glaube, 1932). Von daher erkennt der christliche Glaube die Zwangsordnung des nationalsozialistischen Staates an, freilich gerade ohne sie deutsch-christlich zu überhöhen. Dagegen ist die Staats- und Obrigkeitstheorie Georg Wünschs (1887-1964; Evangelische Ethik des Politischen, 1936) weniger gefeit. Wünsch versucht, den rückhaltlos anerkannten Machtcharakter des Staates zu rechtfertigen durch Bindung des Machtgebrauchs an sittliche Zwecke. Aber dafür kommen im Horizont der irrationalistischen Geschichtsphilosophie E. -»Troeltschs, auf deren Boden Wünsch vorbehaltlos steht, nicht mehr ein allgemeingültig bestimmbares bonum commune, sondern nur noch jeweilige geschichtliche „Höchstwerte" in Betracht, die selber dem geschichtlichen Kräftespiel und seinem Schwanken unterworfen sind. Der christliche Glaube ist nicht Basis eines eigentümlichen politischen Wertbewußtseins, greift also in die Bewegung nicht selbst produktiv ein, sondern deutet sie nur. 8.2. Nach 1919 begegnen aber auch Positionen, die sich bewußt auf das Fundament der biblisch-reformatorischen Sicht von Welt, Mensch, Geschichte und Gesellschaft stellen und eine inhaltlich spezifisch gefüllte Sicht und Behandlung des Politischen intendieren, und damit auch der Obrigkeit. Emil -•Brunner (Das Gebot und die Ordnungen, 1932; Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, 1935; Der Mensch im Widerspruch, 1937; Gerechtigkeit, 1943) begreift Staat und Obrigkeit aus der natürlichen Vergesellschaftung des Menschen, wie sie sich dem Glauben darstellt: in der gefallenen Welt, die aber als gute Schöpfung Gottes dennoch auf Überwindung der Sünde und Heil ausgerichtet ist. In diesem Kontext ist der Staat für den Glauben Machtordnung, die die zwingende Rechtsordnung fundiert. Seine Autorität bezieht er aus dem Gebot des Schöpfers, das eine solche Ordnung verlangt, die aber in keiner konkreten Gestalt heilig, weil in jeder Menschenwerk ist. Aufgrund dieses Ursprunges staatlicher Ordnung im menschlichen Zusammenwirken gewinnt sie keine Selbständigkeit gegenüber der Gesellschaft, sondern bleibt immer variabler „Ausdruck der im Volk stabilisierten Machtverhältnisse" (433.449). An diesen Machtverhältnissen, ihrer Stabilisierung und Ordnung nehmen Christen teil. Ohne besondere „Staatsfreudigkeit" und unter Beachtung der Dienstfunktion der Rechtsordnung für alle selbständigen Lebensbereiche der Gesellschaft erkennen sie dabei doch den Grundsatz an, daß obrigkeitliches Handeln nicht der Liebe, sondern der Staatsräson folgt.

Kommt damit das christliche Verständnis obrigkeitlichen Handelns zu hinreichendem Ausdruck? Die Frage ist noch dringlicher gegenüber folgenden Autoren: Paul -»Althaus (Religiöser Sozialismus. Grundfragen der christlichen Sozialethik, 1921; Staatsgedanke und Reich Gottes, 1923; Evangelium und Leben. GV, 1927; Leitsätze zur Ethik, 1928; Die deutsche Stunde der Kirche, 1933; Theologie der Ordnungen, 1934 '1935; Kirche und Staat nach lutherischer Lehre: Thmil 4 (1935); Obrigkeit und Führertum. Wandlungen des evangelischen Staatsethos, 1936; Volkserlebnis und Offenbarung: Stunde 10,41) rückt das überkommene Verständnis des Funktionszusammenhangs VolkStaat-Obrigkeit-Recht in einen theologischen Rahmen, der nicht nur die Innerlichkeit des Menschen, sondern auch dessen leibhafte Sozialität innerhalb der gesamten Natur der Herrschaft des Schöpfers unterworfen sieht. Wie in der Natur kommt auch in der

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Leibhaftigkeit des Menschen und in den dadurch bedingten Institutionen seines Zusammenlebens der Wille des Schöpfer zum Ausdruck. Damit ist der Schritt getan, bestimmte soziale Ordnungen nicht nur unter dem Gebot Gottes, sondern als Werk Gottes zu verstehen, insbesondere die Gliederung der Menschheit in Völker. Der Staat steht im Dienst des im jeweiligen Volkstum begegnenden Gotteswillens und hat dementsprechend die Verfassung (Ordnung der Ausübung obrigkeitlicher Gewalt) und die Rechtsordnung nicht am Maßstab einer abstrakten lex naturalis, sondern des jeweiligen volksmäßigen Gerechtigkeitsbewußtseins auszurichten. Folglich konnte Althaus Führerprinzip und Rechtsordnung des -»Nationalsozialismus als volksgemäß bejahen, freilich nur als Ordnung für die geschöpfliche Welt, die als solche nicht Heilsordnung ist (gegen die Deutschen Christen). Als Zeugin dieses Heilswillens Gottes kann sich die Kirche nicht in die staatliche Ordnung auflösen, wohl aber deren völkischen Charakter als dem Willen Gottes entsprechend verkündigen. Althaus kennt also eine spezifisch christliche Ethik des Politischen. Aber hat sie außer dem Verbot der Vergöttlichung natürlicher Ordnungen einen eigenen Inhalt?

Werner ->Elert (Die Lehre Luthers im Abriß, 1924; Das Luthertum und die Nationen: AELKZ [1925] 956 u.ö.; Morphologie des Luthertums [hauptsächlich im 16. u. 17. Jh.], 2 Bde., 1931 f; Bekenntnis, Blut und Boden. Theol. Vortr., 1934; Politisches und kirchliches Führertum, 1934; Confessio Barmensis: AELKZ [1934] 6 0 2 - 6 0 6 ; Die Herrschaft Christi und die Herrschaft von Menschen: Thmil 6 [1936]; Die Lutherische Kirche im neuen Reich: Luthertum [1937] 3 3 - 4 6 ; Das christliche Ethos. Grundlinien der lutherischen Ethik, 1949 *1962) rückt ebenfalls in die christliche Sicht der Schöpfungswirklichkeit die leibhaften Fundamente des menschlichen Zusammenlebens („Rasse, Blut und Boden") und die darin begründeten (allem Handeln gegenüber „präexistenten") Ordnungen (Familie, Ehe, Volk, Stände, Staat, Recht und Obrigkeit) als positiven Ausdruck des Schöpferwillens ein, den er mit dem - jedermann bekannten - Gesetz Gottes identifiziert. Dessen Verkündigung vor der Verkündigung des Evangeliums ist Aufgabe der Kirche. Diese Pflicht zur Gesetzespredigt sah Eiert durch die Barmer Theologische Erklärung (TRE 24,56,12ff) verletzt und formulierte darum in dem - auch von Althaus mitunterzeichneten - „Ansbacher Ratschlag" von 1934: „Das Gesetz, .nämlich der unwandelbare Wille' Gottes (FC Ep VI,6) begegnet uns in der Gesamtwirklichkeit unseres Lebens, wie sie durch die Offenbarung Gottes ins Licht gesetzt wird. Es bindet jeden an den Stand, in den er von Gott berufen ist und verpflichtet uns auf die natürlichen Ordnungen, denen wir unterworfen sind, wie Familie, Volk, Rasse (d.h. Blutszusammenhang). Und zwar sind wir einer bestimmten Familie, einem bestimmten Volk und einer bestimmten Rasse zugeordnet. Indem uns der Wille Gottes ferner stets in unserem heute und hier trifft, bindet er uns auch an den bestimmten historischen Augenblick der Familie, des Volkes, der Rasse, d.h. an einen bestimmten Moment ihrer Geschichte. - Die natürlichen Ordnungen geben uns aber nicht nur den fordernden Willen Gottes kund. Indem sie in ihrer Verbindung unsere gesamte natürliche Existenz begründen, sind sie zugleich die Mittel, durch die Gott unser irdisches Leben schafft und e r h ä l t . . . Als Christen ehren wir mit Dank gegen Gott jede Ordnung, also auch jede Obrigkeit, selbst in der Entstellung, als Werkzeug göttlicher Entfaltung, aber wir unterscheiden auch als Christen gütige und wunderliche Herrn, gesunde und entstellte Ordnungen. - In dieser Erkenntnis danken wir als glaubende Christen Gott dem Herrn, daß er unserem Volk in seiner Not den Führer als .frommen und getreuen Oberherrn' und in der nationalsozialistischen Staatsordnung ,gut Regiment', ein Regiment mit .Zucht und Ehre' bereiten will" ( K . D . Schmidt, Bekenntnisse 11,103).

Wie Althaus hat auch Eiert der religiösen Überhöhung der Volkswirklichkeit durch die Deutschen Christen widerstanden (vgl. dazu schon den Sammelband W. Künneth/H. Schreiner [Hg.], Die Nation vor Gott, 1933). Er hat auch nach 1945 sein empirisches Urteil über den Nationalsozialismus revidiert und den Gesetzgebungsprozeß an naturrechtlichen Normen des überpositiven Rechts orientiert wissen wollen (Ethos 153 f). Aber das ändert an der Systematik des Ansatzes und seinen beiden Grundfehlern nichts: a) Überspringung des Verdunkeltseins der Erkenntnis des Gesetzes durch die Sünde in dessen Gleichsetzung mit den selbstverständlichen Naturbedingungen des menschlichen Lebens (Ursache für den Verlust des eigentümlichen Inhalts der christlichen Sozialethik), b) Ausfall einer Reflexion auf das Verhältnis zwischen Vorgegebenheit und aktiver Ge-

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staltung in der Konstitution der natürlichen Lebensordnungen. Der zweite wird ungebrochen wiederholt von Walter Künneth (Politik zwischen Dämon und Gott. Eine christliche Ethik des Politischen, 1954). Künneth fragt nach der inneren Einstellung und äußeren Pflege der staatlichen Ordnungen unter Uberspringung der Frage nach ihrer geschichtlich-politischen Konstitution. Zwar wird - in Anlehnung an die Stellung des Bundespräsidenten im Grundgesetz der BRD - Obrigkeit nur noch als „Repräsentant" der Staatsgewalt gedacht, aber die Begründung ihrer Autorität aus der „Volkssouveränität" kategorisch abgelehnt (180): „Es muß in jeder Staatsform deutlich werden und Anerkennung finden, daß eine .Obrigkeit' besteht als Repräsentation der Staatsautorität. Diese Staatsgewalt ist, wie auch immer sie historisch zustandegekommen sein mag, prinzipiell ,von oben* geordnet, ist göttlichen Ursprungs und gestiftet durch Gottes Gnade als Bewahrer der Erhaltungsordnung." 8.3. Auf konsequente Unterscheidung zwischen Werk Gottes und Menschenwerk im Blick auf Volk, Staat, Recht und Obrigkeit zielt Karl -»Barth (Das Wort Gottes und die Theologie. GAufs., 1925; Der Heilige Geist und das christliche Leben, 1930; Christengemeinde und Bürgergemeinde, 1946; Der Götze wackelt. Zeitkrit. Aufs., Reden und Briefe von 1930-1960, hg. v. K. Kupisch, 1961; Ethik, 2 Bde., Vorl. Münster, Sommersemester 1928, Bonn 1930; hg. v. D. Braun, 1973). Ausgangs- und Ansatzpunkt ist für Barth die radikale Relativierung der Autorität staatlicher Macht, die nur im Horizont des Wirklichkeitsverständnisses des Unglaubens Eindruck machen kann, durch die alleinige Autorität der Macht Gottes, die im Lichte des durch die Christusoffenbarung erschlossenen Wirklichkeitsverständnisses des Glaubens sichtbar wird. Nur der Unglaube sieht sich direkt mit der Autorität der Macht des Staates konfrontiert (und unter Umständen in der Rolle des Revolutionärs zur Auflehnung durch Aufbau von Gegenmacht provoziert, die dann wiederum die überlegene Macht des Staates am eigenen Leibe erfährt: Römerbrief 470); der -»Glaube verhält sich zur Autorität des Staates nur vermittelt durch sein Verhältnis zur Autorität der Macht Gottes und im Gehorsam gegenüber dessen Gebot. Dieses drückt aus: den Willen Gottes, wie er sich in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung tatsächlich realisiert; und es verlangt: das Opfer aller Eigenmacht an diesen (ausschließlich in der Christusoffenbarung erkennbaren) wirkmächtigen Gotteswillen, das Mitgehen der Wege, die er von sich aus geht. Solches Mitgehen gewinnt die Struktur derjenigen Ordnung, die durch den Vorgang des göttlichen Wollens und Wirkens vorgezeichnet ist. Das sind ausweislich der Ethikvorlesung und der unvollendeten Ethik in der KD: die Ordnungen der Arbeit (Ethikvorl. I, 367ff), der Ehe (383), der Familie (408f), der „Gleichheit und Führung" (413ff). Erst durch das Gebot des Versöhners, also im regnum gratiae (415), treten dann die Ordnungen „Staat" und „Kirche" hinzu. Im regnum gratiae wird aber auch sichtbar, daß Schöpfung und Sünde keine eigene Wirklichkeit gegenüber der Gnadenwirklichkeit besitzen, nur durch sie und um ihretwillen existieren. Das ist der — erst postum vor dem Hintergrund der Barthschen Ethik voll durchsichtig gewordene — Zielpunkt der Staatslehre in „Christengemeinde und Bürgergemeinde": Das Reich Christi übergreift Schöpfung und Sünde und ihre Ordnungen, also auch den Staat. Der Staat hat keine vom Reich Jesu Christi abstrahierte, eigengesetzlich begründete und sich auswirkende Existenz, er ist „außerhalb der Kirche, aber nicht außerhalb des Herrschaftskreises Jesu Christi, ein Exponent dieses seines Reiches" (Christengemeinde 9). Das schließt nicht seine - von der der Christengemeinde - unterschiedene eigenartige Funktion aus, „ . . . nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichem Vermögen... für zeitliches Recht und zeitlichen Frieden... zu sorgen" (ebd. 13). An dieser Aufgabe des Staates haben sich die Christen aus Gründen ihres Glaubens und nach Maßgabe seines Wirklichkeitsverständnisses selber zu beteiligen. Das hatte schon die Barmer Theologische Erklärung in ihrer - unter dem Vorzeichen der 2. These stehenden - 5. These so ausgesprochen:

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„Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem M a ß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche anerkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt."

Damit ist nicht das Programm des christlichen Staates erneuert, wohl aber eine christliche Sicht des Staates artikuliert und gefordert, den Staat als das ernst zu nehmen und zu gestalten, was er im Licht der Offenbarung ist. Barth kennt also eine christliche Politik mit eigenem Inhalt. Für sie gilt auf der Linie Calvins: Sie muß von der Kirche ausgehen (Brief an einen Politiker: Der Götze wackelt 58 ff) und soll die vollendete Politeia schon in der Bürgergemeinde zeichenhaft verwirklichen (Christengemeinde 22ff). Die Frage ist, ob diese Regel die auch im Reich Christi bestehende Differenz zwischen dem himmlischen Politeuma und der Bürgergemeinde sachgemäß zum Zuge bringt. 8.4. Der Gegensatz der drei zwischen den Kriegen entwickelten Ansätze einer Obrigkeitstheorie in der evangelischen Theologie ist ein fundamentaltheologischer, ein sozialethischer und ein theologie- und gesellschaftspolitischer. Nach 1945 schied der den Deutschen Christen nahestehende Ansatz aus der Debatte aus. Für den Barthschen Ansatz kam in Anlehnung an A. de Quervain (Die Herrschaft Christi über seine Gemeinde und die Bezeugung dieser Herrschaft: EvTh 5 [1938] 45-57) die Bezeichnung „Königsherrschaft Christi" in Gebrauch (insbesondere durch einflußreiche Schriften E. Wolfs: Was heißt .Königsherrschaft Christi' heute? Unter der Herrschaft Christi: BEvTh 32 [1961] 67-91; Die Königsherrschaft Christi und der Staat: W. Schmauch/E. Wolf, Königsherrschaft Christi: TEH 64 [1958] 20-61). Die den Traditionen des neueren Luthertums (vgl. o. 7. u. 8.2.) verpflichtete Position wurde im Anschluß an eine Begriffsprägung Harald Diems (Luthers Lehre von den zwei Reichen untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus. Ein Beitrag zum Problem: „Gesetz und Evangelium", 1938) zusammenfassend als -»„Zwei-Reiche-Lehre" gekennzeichnet (vgl. H.-W. Schütte). Die sachlichen Anfragen an diesen Ansatz lauteten: Macht er ernst mit der ausschließlichen Bestimmtheit und Gebundenheit des christlichen Verhältnisses zur Gesamtwirklichkeit — also auch zu Gesellschaft, Recht, Staat und Obrigkeit — durch die Christusoffenbarung? Wird die Autorität des Wortes Gottes auf die Privatsphäre der persönlichen Lebensführung beschränkt? Erlaubt sie dem Rechtsleben und der Politik erneut, die Autorität ihrer Eigengesetzlichkeit geltend zu machen? Arbeitet sie dem Bestehenden in die Hände? Umgekehrt lauteten die Fragen an den Ansatz bei der Königsherrschaft Christi: Führt er zu theokratischer Gesetzlichkeit? Erlaubt er die auch aus der Sicht des Glaubens nicht verschwindende Eigenart von Schöpfung, Sünde und Gesetz angemessen zu respektieren? Erlaubt er der Sozialethik Erfassung der Natur der Sachen oder verleitet er zum postulatorischen und appellativen Uberspringen der Realtität? Blockiert er die Verständigung zwischen Christen und Nichtchristen, zwischen Theologie und Sozialwissenschaften, über die Themen Gesellschaft, Staat, Recht, Politik? Nachdem es in den 70er Jahren noch einmal zu einer heftigen und grundsätzlichen Infragestellung der Zwei-Reiche-Lehre und des gesamten Ansatzes lutherischer Sozialethik gekommen war (vgl. U. Duchrow/W. Huber, Die Ambivalenz der Zwei-Reiche-Lehre in lutherischen Kirchen des 20. Jh., 1976) und zu ihrer entsprechend vehementen Verteidigung (N. Hasselmann [Hg.], Gottes Wirken in seiner Welt. Zur Diskussion um die Zwei-Reiche-Lehre, 2 Bde., 1980), setzte sich die Einsicht in die sachliche Konvergenz beider Ansätze durch (exemplarisch: das kirchlich rezipierte Ergebnis von Lehrgesprächen im Bereich der BEK/DDR: J. Rogge/H. Zeddies [Hg.], Kirchengemeinschaft und politische Ethik. Ergebnisse eines theologischen Gesprächs über Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Christi, 1980; vgl. M. Seils). Diese Einmütigkeit trat endgültig im Verlauf des 50jährigen Barmenjubiläums hervor und prägt insbesondere die breit einsetzende

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Rezeption der 5. These (vgl. Mehlhausen; auch H.Ph. Meyer, Predigt und politische Verantwortung nach der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen 1934, 1984, 6; Theologisches Votum der EKU - Bereich BRD und Berlin/West: Für Recht und Frieden sorgen. Auftrag der Kirche und Aufgabe des Staates nach Barmen V, hg. v. W. Hüffmeier, 1986). Dieser theologische Klärungsprozeß war wiederum durch geschichtliche Herausforderungen gefördert worden: Nach den Erfahrungen des Kirchenkampfes, der Etablierung der Demokratie des Grundgesetzes in Westdeutschland und der Errichtung einer sozialistischen Volksrepublik in Ostdeutschland war die im deutschen Protestantismus lange (jedenfalls bis 1914, teilweise bis 1933) verzögerte Einsicht zum Durchbruch gekommen in die Differenz der politischen Verfasssung großer Industriegesellschaften — tragen sie nun den Charakter eines autoritären Zentralismus bzw. Totalitarismus oder der gewaltenteiligen föderalen Demokratie - gegenüber der Verfassung des politischen Systems frühneuzeitlicher Gesellschaften. Das Bewußtsein von der Tiefe der realen Veränderung hat in besonders provozierender und stimulierender Weise zum Ausdruck gebracht Otto —•Dibelius (Das Jahrhundert der Kirche, 1926; Grenzen des Staates, 1949; Vom ewigen Recht, 1950; Obrigkeit, 1959: Dokumente zur Frage der Obrigkeit. Zur Auseinandersetzung um die Obrigkeitsschrift von Bischof D. Otto Dibelius, 1960, 21 ff; Obrigkeit, 1963). Seine Thesen: a) Der moderne Staat ist in keinem Sinne mehr christlicher Staat, sondern weltanschaulich neutral. Damit ist die Kirche zur selbständigen Vertretung der Wahrheit des Evangeliums in der Öffentlichkeit herausgefordert und befugt (1926). b) Der weltanschaulich (oder: metaphysisch, durch überpositive Normen) und damit auch ethisch nicht mehr gebundene Staat tendiert durch die Eigengesetzlichkeit seines Wesens als Machtorganisation zum Totalitarismus (1949). c) Damit gewinnt die Frage nach den Grenzen der für den Christen gebotenen Loyalität bzw. umgekehrt dem Beginn der ihm gebotenen Widerstandspflicht eine bisher unbekannte Dringlichkeit: „Der Maßstab kann nur sein, ob sie (die Inhaber obrigkeitlicher Gewalt) grundsätzlich die Geltung eines über allen stehenden Rechtes anerkennen, oder ob sie selber Gott spielen wollen und damit aus der von Gott geordneten Gemeinschaft der Menschen, wie sie Rom 13 zugrundeliegt, ausscheiden" (Obrigkeit 1963, 91). Für Dibelius schied ebenso wie der NS-Totalitarismus auch der Totalitarismus des SED-Regimes aus, aber nicht nur sie.

Die tiefe und zukunftsweisende Kraft dieses Problembewußtseins zeigt sich in drei Hinsichten: 1. Im Widerspruch gegen Dibelius und unter Rückgriff auf die traditionelle Überzeugung, daß auch die schlechte Obrigkeit als Obrigkeit anzuerkennen ist, fanden sich entschiedene Vertreter sowohl des Barthianischen (M. Fischer) wie des lutherischen Ansatzes (W. Künneth) zusammen (vgl. Meinhold). 2. Die evangelische Theologie ist herausgefordert, ihre Obrigkeitstheorie und deren sozialtheoretische, anthropologische und schöpfungstheologische Horizonte so zu präzisieren, daß sie zu sachgemäßem Umgang mit den komplexen und ambivalenten Erscheinungen und Herausforderungen des modernen Staates in großen und offenen Gesellschaften instandgesetzt wird. Das hatte W. Trillhaas in der nötigen Zuspitzung auf das „unbewältigte Problem der Demokratie" schon 1953 in einem einflußreichen Votum gefordert (Die lutherische Lehre von der weltlichen Gewalt und der moderne Staat: Macht und Recht 22-33). 3. Richtig erwies sich Dibelius' Wahrnehmung, daß es sich bei der Frage nach dem Kriterium für die Begründung der Loyalitäts- bzw. Widerstandspflicht gegenüber der staatlichen Gewalt, ihrer Ordnung und Ausübung, nicht mehr nur um ein nationales, sondern internationales Problem handelte. Der Sachverhalt war schon durch die ökumenischen Weltkonferenzen wiederholt benannt worden (Oxford, Amsterdam) und gewann durch regionale Provokationen (Südafrika, Lateinamerika) Dringlichkeit. Die erste dieser beiden Aufgaben wurde im Deutschen Protestantismus einer ansatzweisen Lösung zugeführt durch die EKD-Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe" (1985). Und auch f ü r die Lösung der zweiten Aufgabe ist hier ein Ansatz geboten: Kriterium für die positive Beziehung von Christen

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zu einer politischen Ordnung, ist deren grundgesetzliche Selbstbindung an die Würde des Menschen und die in ihr beschlossenen Grundrechte, deren materieller Bestand in den Art. 1 - 9 des Grundgesetzes in Anlehnung an die Erklärung der Menschenrechte von 1789 und 1948 fixiert ist. 8.5. Dies Ergebnis konvergiert mit der T h e o r i e über Wesen und Autorität der Staatsgewalt in der römisch-katholischen Soziallehre ( H a u p t d o k u m e n t e der einschlägigen kirchenamtlichen Lehrtätigkeit: Enzyklika Kerum novarum (1891) Leos XIII. [ 1 8 7 8 - 1 9 0 3 ] , Ubiarcano [1922], Quadragesimo anno [1931] Pius* X I . [ 1 9 2 2 - 1 9 3 9 ] , Materet Magistra [1961] J o h a n n e s ' X X I I I . [ 1 9 5 8 - 1 9 6 3 ] , die Konstitution Gaudium et spes [1965], Populorum Progressio [1967] Pauls VI. [ 1 9 6 3 - 1 9 7 8 ] , Sollicitudo rei socialis [1987], Centesimus annus [1991] Johannes-Pauls IL). Die Stellungnahme zu Fragen der Wirtschaft und sozialen Gerechtigkeit ist in diesen Texten fortwährenden Konkretisierungen unterworfen, während das politiktheoretische F u n d a m e n t in allen dasselbe bleibt: 1. Entsprechend dem thomanischen Grundsatz, daß die Gnade die Natur nicht aufhebt, sondern vervollkommnet, gilt, daß die Schriftoffenbarung die vernünftige Erkenntnis der geschaffenen Natur des Menschen nur bestätigt. 2. Aufgrund seiner geschöpflichen Sozialnatur lebt der Mensch in Gemeinschaftsordnungen, die organisch gestuft aufeinander aufbauen; die letzte ist das auf seinen Schöpfer hingeordnete Gesamtuniversum. 3. Staat, res publica, ist diejenige Gemeinschaftsordnung, welche - die kleineren Gemeinschaftsformen, etwa Familie, Haus in sich aufnehmend - die Sozialanlage des Menschen zur vollen Erfüllung bringt und auf die auch der Mensch durch die vorgeordneten Gemeinschaften ausgerichtet ist. 4. Im Unterschied zu den naturwüchsig vorgelagerten Gemeinschaften ist der Staat sittliche Gemeinschaft, die nur durch die sittliche Entscheidung der Beteiligten zustandekommt, also „in irgendeiner Form" immer auf einen Willensentschluß und eine Willenseinigung, einen Konsens, einen Vertrag - im Unterschied zu Hobbes und Rousseau nicht „wesenskonstitutiv" sondern „wesensexplikativ" (Hauser) - zustande kommt. 5. Das so konstitutierte Ganze ist hingeordnet auf das bonum commune; in einer Definition Suarez': Ut (homines) in pace et iustitia vivant et cum sufficientia bonorum, quae ad vitae corporalis conservationem et commoditatem spectant et cum ea probitate morum, quae ad hanc externam pacem et felicitatem reipublicae et continentem humanae naturae conservationem necessaria est (Daß die Menschen in Frieden und Gerechtigkeit leben mögen und in ausreichendem Besitz der Güter, die der Erhaltung und Bequemlichkeit des leiblichen Lebens dienen und mit der Rechtschaffenheit der Sitten, die zum äußeren Frieden und Erfolg der res publica und zum fortgesetzten Erhalt der menschlichen Natur notwendig ist: De legibus III.c, N 7 ) . Das natürliche bonum commune schließt als solches also nicht die Sorge für das Heil der Bürger ein (keine Staatszuständigkeit für die wahre Religion). 6. Das bonum commune verlangt eine Ordnung der Gemeinschaft, für die die Differenz zwischen lenkenden und gelenkten Instanzen grundlegend ist: Socialis autem vita multorum esse non passet, nisi aliquis praesideret, qui ad bonum commune intenderet (Das gesellschaftliche Leben vieler kann nicht bestehen, wenn nicht jemand [ihnen] vorsteht, der das Gemeinwohl anstrebt: Thomas Sth 1,96,4). 7. Die intentio auf das bonum commune schließt die Begründung und Pflege einer Rechtsordnung ein. 8. Die Autorität des Inhabers des Regieramtes wird durch die Verbindung von Macht und Überlegenheit begründet. 9. Die Macht der Obrigkeit ist souverän, insofern sie Macht zur Setzung und Durchführung der Rechtsordnung ist, nach außen über Krieg und Frieden und nach innen über Tod und Leben entscheidet, ohne höhere Berufungsmöglichkeiten. 10. Innerlich verbindende Autorität besitzt die Obrigkeit aufgrund der wesentlichen Überlegenheit gegenüber allen anderen Gesellschaftsmitgliedern, die ihr das auf das natürliche bonum commune hingeordnete Amt verleiht. Weil dieses Amt hingeordnet ist auf das bonum commune als zielführende Ordnung, ist es das gesellschaftliche Analogon zum göttlichen Lenkungsamt im Blick auf die Gesamtwirklichkeit. Die ihr Amt nicht mehr auf das bonum commune hin ausübende Obrigkeit verliert ihre Autorität (nicht aber ihre Macht, Widerstand ist also erlaubt, aber eine Frage der Opportunität). 11. Die Einsetzung in das Regentenamt erfolgt stets durch das Volksganze, entweder in Form einer Designation, der entsprechend dann die Gewalt von Gott übertragen wird (Begründungsfigur für Gewalthabe „von Gottes Gnaden"), oder - entsprechend der Übertragungstheorie - so, daß sie direkt vom Volk übertragen wird (Begründungsfigur für die geschichtlich variablen Regime der Neuzeit). Die Stärke dieser Position: ihr klarer Blick für die geschichtlich-interaktionelle Konstitution aller geschichtlichen Gestalten der obrigkeitlichen O r d n u n g , die jeder von ihnen letzte Verbindlichkeit abspricht. Ihre Schwächen: Inhaltlich die Tendenz zur Gleichsetzung von Gesellschaft und Staat; und formal die Unterstellung, die N a t u r der Dinge sei für die menschliche Vernunft im Prinzip frei und auf einheitliche Weise zugänglich.

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D a m i t wird die — seit der R e f o r m a t i o n theologisch und seit der kritischen Arbeit des 19. J h . auch philosophisch durchschaute - unüberwindbare Gebundenheit aller nicht rein formalen, sondern inhaltlichen Wirklichkeitserkenntnis endlicher Personen verkannt. Das hat zwei bedenkliche Konsequenzen: 1. Einzelne Erkenntnispositionen versuchen, sich unter Überspielung ihrer de facto Perspektivität als das allgemein Vernünftige und W a h r e auszugeben; mit den aus der Geschichte bekannten totalitären Konsequenzen. 2. Es wird verkannt, d a ß zur geschichtlichen D y n a m i k des gesellschaftlichen Lebens wesentlich die dauernde Auseinandersetzung zwischen irreduzibel perspektivischen Sichtweisen der Gesamtwirklichkeit gehört; und die d a r a u s für die Ausübung obrigkeitlicher Gewalt resultierende Aufgabe: ihre M a c h t zur Gestaltung und Erhaltung einer Rechtsordnung einzusetzen, die den R a u m für den gewaltfreien Dialog und Wettstreit dieser verschiedenen Weltanschauungen und Kulturen offenhält. Z u r neuesten systematisch-theologischen Entfaltung des Obrigkeitsbegriffs in der evangelischen Theologie - » S t a a t . Literatur Absolutismus, hg. v. Walther Hubatsch, 1973 (WdF 314). - Werner Affeldt, Die weltliche Gewalt in der Paulus-Exegese. Rom. 1 3 , 1 - 7 in den Römerbriefkomm. der lat. Kirche bis zum Ende des 13. Jh., 1969 (FKDG 22). - Kurt Aland (Hg.), Kirche u. Staat. FS für Hermann Kunst, Berlin 1967. - Ders., Kirche und Staat, 1979. - Paul Althaus, Staatsgedanke u. 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Obrigkeit

759

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760

Anhang 1. Register 1.1. Bibelstellen 1.2. Namen/Orte/Sachen 2. Mitarbeiter 2.1. Autoren 2.2. Übersetzer 2.3. Registerbearbeiter 3. Artikel und Verweisstichwörter 4. Karten, Diagramm 5. Bildquellen 6. Corrigenda und Addenda

1. Register 1.1. Bibelstellen (bearbeitet von Hannelore Hollstein) Es werden nur die Bibelstellen aufgeführt, zu denen sich im Text nähere Ausführungen finden. Z u r Vororientierung wird zunächst der Artikel genannt, in dem die registrierte Bibelstelle vorkommt. - Nach der Seitenangabe wird (durch Komma getrennt) in der Regel die Zeile genannt, in welcher eine Bibelstelle vorkommt bzw. ein Bibelzitat beginnt, in Einzelfällen die Zeile, in welcher Darlegungen über eine Bibelstelle einsetzen. 1,1 1,26 1,27 1,28 1,28 1,29-31 1,31 2,13 2,16 2,17 3,1 4,3 ff 4,5 4,20

4,20-22

8,5 9,3-5 9,4

Naturphilosophie Naturrecht Naturphilosophie Natur Naturphilosophie Noachitische Gebote Naturphilosophie Nubien Noachitische Gebote Noachitische Gebote Neid Neid Neid Nomadentum im Alten Testament Nomadentum im Alten Testament Neujahrsfest Noachitische Gebote Noachitische Gebote

10,6 ff 21,1-34

124,3 141,24

22,1-24 124,29 99,42

22,12

124,38 Ex 582,25

37,4 49,26 3,2 f 12,2 14,7

124,19 683,16.21; 685,32

22,20 583,11 23,16 582,22 248,56 247,32 248,57

34,6-7 34,10-26 Lev

17 f 18,4

587,42 18,5 589,14

23,24 f

322,46

23,24

Nubien Neujahrsfest Neujahrsfest Neujahrsfest Neid Nasiräer Natur Neujahrsfest Noachitische Gebote Noachitische Gebote Neujahrsfest Neujahrsfest Neujahrsfest Noachitische Gebote Noachitische Gebote Noachitische Gebote Neujahrsfest Neujahrsfest

582,27 Num 582,28; 583,43

6,1-21 12,1

Nasiräer Nubien

683,16; 685,32 323,13 323,13 323,3 247,33 10,36 99,44 322,9.11 584,36 584,30 320,28 322,26 320,30 585,50 583,48 584,21 321,6 320,43; 321,33; 322,5.43; 323,2 11,22 ff 685,33.40

761

Bibelstellen

Dtn

29,1

Neujahrsfest

29,1-6

Neujahrsfest Neujahrsfest Noachitische Gebote

4,39 4,41

6,4

Neujahrsfest

7,6 ff

Obadja/ Obadjabuch Neid Neujahrsfest Neid Neujahrsfest Nasiräer Noth Neid Neujahrsfest Nasiräer Nasiräer Nasiräer Nasiräer Nasiräer Nasiräer Neujahrsfest Nasiräer Neid Nathan Nathan Nathan

15,9 16,1-17 29,25 ff 31,9-13

Jdc

33,16 34 2,17 9,27

13,14 13,25 14,6 ff 14,10ff 16,17 16,31 I Sam 1,1-2.10 1,11 18,9 II Sam 5 5,14 7 11,27b12,15 12 12,25 I Reg 1 4,5 18,3 ff II Reg 8 , 2 0 - 2 2 17,6 19,9 24,2 Jes

11,1 11,13 f

28,16

Nathan Nathan Nathan Nathan Nathan Obadja/ Obadjabuch Obadja/ Obadjabuch Nisibis Nubien Obadja/ Obadjabuch Nikolaus von Lyra Obadja/ Obadjabuch Naturrecht

51,17-23

322,43.50; 323,2 321,7; 323,13 323,45

61,2 Jer

17,26

582,24; 583,33

24,6 f

322,39; 323,46

27,3

719,5 247,20

31,2-20

321.2 247,29

31,20 35 35

321.3 10,37 660,50 247,27 321,24 11,3 10.45 10.47 10.48 10.49 10,44

49,7 ff 49,7-22 Ez

323,13 11.7 247,33 18,40 18,35 18,9 ff .22; 19,14ff; 20,7 20.8 ff 18,11; 20,31 18.46 18,10; 20,30 18.47 716,31 716,41 574,3 683,17; 23; 684,42; 685,33 716,49 564,44 717,55 141,12

13,19

16,60 37,16 ff 40-46 40,1 45,18-20

Hos

14,2-10

Am Ob

2,1 l f 1

Obadja/ Obadjabuch Neujahrsfest Obadja/ Obadjabuch Obadja/ Obadjabuch Obadja/ Obadjabuch Obadja/ Obadjabuch Neujahrsfest Neujahrsfest Nasiräer Nomadentum im Alten Testament Obadja/ Obadjabuch Obadja/ Obadjabuch Neujahrsfest Obadja/ Obadjabuch Newton Neujahrsfest Neujahrsfest Neujahrsfest Nasiräer Obadja/ Obadjabuch

718,2 325,2 716,50 718,1 717,55 717,8 323,13 323,16 11,15.16

587,43 718,15 718,7 323.48 717,54 426,35 320,48.49 320.49 322.35 11,11

715,27 la.15a.16Obadja/ 21 Obadjabuch 715.36 14.15 b Obadja/ Obadjabuch 715,33 Obadja/ 2-4 Obadjabuch 715,38.41 Obadja/ 2-14 Obadjabuch 716,40; 717,16.25; 718,5 Obadja/ 2-14.15b Obadjabuch 715,49

762

Bibelstellen 4.5 5-7

8f 10 f 10-14 11 11-14

12 fr 12-14 15 f 15

15a.16 15a.16f.18 15-21 16 f 16-21 18

18.21 19.20 19-21 21

Obadja/ Obadjabuch 716,4 Obadja/ Obadja715,30.44; buch 717,33 Obadja/ Obadjabuch 715,42 Obadja/ Obadjabuch 715,46 Obadja/ Obadjabuch 716,47 Obadja/ Obadjabuch 717,11 Obadja/ Obadjabuch 716,6 Obadja/ Obadja717,13 buch Obadja/ Obadjabuch 715,46 Obadja/ Obadjabuch 717,23 Obadja/ Obadjabuch 716,8; 717,40 Obadja/ Obadjabuch 715,31 Obadja/ Obadjabuch 717,29 Obadja/ Obadjabuch 718,3 Obadja/ Obadja717,37 buch Obadja/ Obadjabuch 716,45 Obadja/ Obadjabuch 716,11.13; 717,35.40 Obadja/ Obadjabuch 715,31 Obadja/ Obadjabuch 716,18 Obadja/ Obadjabuch 716,45; 717,43 Obadja/ Obadjabuch 716,19

Mi

7,18-20

Sach

7 9,14-15

Ps

2 7,1 33,15 73,2ff 105,47 115,11 137,7 137,8

Hi Prov Thr

38-41 8,22-225 4,7 4,21 f

Esr

1,1-4

Neh

1,1-7,5a 1,2 1,4 1,5 1,8-11 1,11 1,11-2,10 2,5 2,8.18 2,10.19 3

Neujahrsfest Obadja/ Obadjabuch Neujahrsfest Nathan Nubien Neujahrsfest Neid Neujahrsfest Noachitische Gebote Obadja/ Obadjabuch Obadja/ Obadjabuch Natur Nicäa Nasiräer Obadja/ Obadjabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehcmiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch

324,17 717,21 324,3 18,28 683,16 685,33 322,19 247,35 325,14 582,41 717,13 717,24 99,47 433,52 10,40 717,21 243,53 243,23 244,32 244,34 244,20 244,22 244,47 244,52 245,10 244,18 245,1 243,39

Bibelstellen 5,14

Nehemia/ Nehemiabuch 245,3 5,19 Nehemia/ Nehemia243,24 buch 6,5-9 Nehemia/ Nehemia245,9 buch 6,15-16 Nehemia/ Nehemia244,36 buch Nehemia/ 7,1 Nehemia244,42 buch Nehemia/ 7,2 Nehemia245,12 buch Nehemia/ 7,5 Nehemiabuch 243,34 7 , 5 b - 8 , l a Nehemia/ Nehemia243,32 buch Nehemia/ 7,6 Nehemiabuch 244,33 7 , 7 2 - 1 0 , 4 0 Nehemia/ Nehemia243,12 buch 8-10 Nehemia/ Nehemiabuch 244,1 Nehemia/ 8 Nehemia243,18 buch Nehemia/ 8,1 Nehemia243,12 buch Neujahrs8,2 fest 320,46 Nehemia/ 8,17 Nehemia244,11 buch 9,5-6 Nehemia/ Nehemia2+4,9 buch 9,6 Nehemia/ Nehemiabuch 243,20 10 Nehemia/ Nehemia243,40 buch 11,1.18 Nehemia/ Nehemiabuch 244,36 11,4-19 Nehemia/ Nehemia243,42 buch Nehemia/ 11,23 Nehemia244,26 buch 12,1-7.12Nehemia/ 21 Nehemiabuch 243,41

763 12,10 12,26 12,27-43 12,33 12,35 13,1

Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ Nehemiabuch

13,1-3.23Nehemia/ 31 Nehemiabuch 13,4-14 Nehemia/ Nehemiabuch Nehemia/ 13,7-14 Nehemiabuch Nehemia/ 13,15-22 Nehemiabuch Nikolaus I Chr 17,13 von Lyra 29,29 Nathan II Chr 5,3.13 Neujahrsfest 29,1 Neujahrsfest 36,22-23 Nehemia/ Nehemiabuch Obadja/ III Esr 4,45 Obadjabuch Jub 7,20 f Noachitische Gebote II M a k k Nehemia/ 1,10-2,18 Nehemiabuch 7,28 Naturphilosophie Nehemia/ Sir 49,5-13 Nehemiabuch Nehemia/ 49,13 Nehemiabuch Weish 7,20 Natur Natur 13,1 Naturrecht Mt 19,16 Obrigkeit 22,15-22 Neid 27,18

245,5 243,20 244,38 243,44 244,9 244,31

244,40 244,39 244,27 244,40 564,43 18,20 320,45 320,44 243,53 717,14 583,15

245,21 124,7 245,20 242,55 99,31 99,35 141,10 723,47 248,58

764

Bibelstellen

Mk

3,8

Lk

15,10 1,21 3,31 4,19 9,55 22,36

Joh

6,63

14,6 15,26

Act

2,9-11 5,29 8,26 ff 8,26-39 8,28 14,15 ff 15,20

15,20.29

15,29 18,18 21,23-27 21,25

Rom

l,19f 2,14 2,14 2,14 2,14f

Obadja/ Obadjabuch Neid Neujahrsfest Nathan Neujahrsfest Naturrecht Nilus von Ancyra NicänoKonstantinopolitanisches Glaubens bekenntnis Natürliche Theologie NicänoKonstantinopolitanisches Glaubens bekenntnis

2,14f 718,23 249,1

2,14f 2,14f 2,15 2,15

325,25 18,37 325,3 141,7 570,32.33

3,9 7,5 11,21.24 13,1 13,1-7 I Kor 2,12

452,17 3,11 5,17

86,5

11,14 12 13,12 15,44 ff 15,45

450,16; 452,23 688,20 724,12; 728,2 687,4 687,2 685,15

Nubien Obrigkeit Nubien Nubien Nubien Natürliche Theologie 86,5 Noachitische Gebote 582,30; 585,28.32 Noachitische Gebote 585,21; 586,15 Noachitische Gebote 585,33 Nasiräer 12,4 Nasiräer 12,1 Noachitische Gebote 585,21.30. 34.42; 586,14 Natürliche Theologie 86,6; 87,31 Natur 100,3 Natur und Übernatur 107,26 Naturrecht 142,31 Natürliche Theologie 86,6; 87,31

II Kor 4,16 8 Gal 4,1-7 4,10 Eph Phil

5,21-26 2,3 2,5-8

3,20 I Tim 2,1 f 3,16 4,8 Jak 3,7 I Petr 2,13-17 II Petr 1,4 2,12 I Joh 5 , 7 - 8 Jud 10 Apk 5,1 7,2 8,7-13

Natur und Übernatur Naturrecht Nygren Naturrecht Obrigkeit Natur Natur Natur Obrigkeit Obrigkeit NicänoKonstantinopolitanisches Glaubens bekenntnis Naturrecht Naturwissenschaft Natur Naturrecht Natur und Übernatur Natur NicänoKonstantinopolitanisches Glaubens bekenntnis Obrigkeit Naturrecht Naturphilosophie Neujahrsfest Neid Natur Nestorius/ Nestorianischer Streit Naturwissenschaft Obrigkeit Newton Naturrecht Natur Obrigkeit Natur Natur Newton Natur Natürliche Theologie Natur Natur

112,29 156,49 713,36 -155,47 729,43; 731,21; 733,5 100,15 100,17 100,4 731,44 723,48

452,25 141,13 218,44 100,28 141,32 112,15 100,22

452,17 724,14 141,5 124,30 325,4 249,3 100,18

285,8 218,43 723,47; 724,17 426,28 141,14 100,4 723,47 100,6 100,5 426,27 100,4 86,31 100,34 100,33

Namen/Orte/Sachen 1.2.

765

Namen/Orte/Sachen

(bearbeitet von Klaus Breuer/David Trobisch) Das TRE-Register enthält alle Sachbegriffe, Personen- und Ortsnamen, zu denen sich an den angegebenen Stellen registrierwürdige Informationen finden. - Fettdruck von Registerwörtern und Seitenzahlen weisen auf einen eigenen Artikel hin. - Die Verweisung nennt zur Vororientierung durchgängig zuerst den Artikel, in dem das registrierte Wort vorkommt, danach Seite und Zeile. Mit ff ist ein für das Registerwort relevanter längerer Zusammenhang gekennzeichnet. Auf systematische Zu- und Unterordnungen ist verzichtet; man findet daher systematische Unterbegriffe an ihrem alphabetischen Ort. - Sammelregistrierungen sind vorgenommen für Agenden, Bibelübersetzungen, Hochschulen, Kirchliche, Kirchenordnungen, Klöster und Stifte, Konkordate, Missionsgesellschaften, Päpste, Päpstliche Bullen, Enzykliken und Breven, Reichstage der Reformationszeit, Religionsgespräche, Synoden und Universitäten. Die gesuchten Agenden, Bibelübersetzungen usw. findet man bei diesen Registerwörtern nach alphabetischer Ordnung. Abendmahl: Neri 262,23; Neuluthertum 333,31; 337,3; Neuseeland 386,37; Nicetas Stethatos 463,31; Nikolaus Kabasilas 552,11; Nominalismus 599,3 Abraham von Beth Rabban: Nisibis 575,14 Abstinenz: Nikolaus von Flüe 550,1 Achelis, Ernst Christian: Nitzsch 580,49 Adalbert von Hamburg-Bremen: Norwegen 643,51 Addai und Mari: Nestorianische Kirche 264,38 Ägypten: Nubien 684,8 Ästhetik: Neuzeit 408,26 Afrika: Nationalismus 26,17 Agende: Nitzsch 579,44 Agenden: Hessen 1574: Nassau 13,24 Nassau-Saarbrücken 1576: Nassau 13,24 Nürnberg 1524: Nürnberg 701,25 Preußen 1821/22: Neuluthertum 328,36; 329,48; Nitzsch 579,44 Agricola, Rudolf: Niederlande 477,25 Albert v. Sachsen: Nominalismus 590,52; 599,39; 600,6 Alberti, Valentin: Naturrecht 160,14 Albrecht v. Mainz: Nürnberger Anstand 707,19; 708,13 Aleandro, Girolamo: Niederlande 477,38 Alexander I., Bischof v. Alexandrien: Nicäa 429,46 ff Alexandrien: Nicäa 429,44ff; 435,53, Novatian/ Novatianer 679,27; Nubien 688,12 Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz: Neuluthertum 338,3 Alt, Albrecht: Nomadentum im Alten Testament 587,54 f Alternativbewegungen: Naturphilosophie 131,2 Althaus, Paul: Nationalsozialismus und Kirchen 48,21; Natürliche Theologie 92,27; Naturrecht 177,19; Obrigkeit 749,44 Althusius, Johannes: Naturrecht 161,41 f; Obrigkeit 733,32 Altonaer Bekenntnis (1933): Nationalsozialismus und Kirchen 48,30 Ambrosiaster: Naturrecht 140,39 f; Nicetas von Remesiana 462,43; Novatian/Novatianer 681,30; Obrigkeit 724,39 Ambrosius v. Mailand: Nicetas von Remesiana 462,32; Nikolaus II. 542,3; Obrigkeit 724,43 Amt/Ämter/Amtsverständnis: Obrigkeit 728,18f

Amt: Neuluthertum 334,37 Anaximander: Naturrecht 133,31 Andreas v. Samosata: Nestorius/ Nestorianischer Streit 280,43 Ansbacher Ratschlag (1934): Obrigkeit 750,28 Ansgar: Normannen 617,6; 619,36 Anthropologie: Neuplatonismus 351,45 f; Nietzsche 517,14 f Antike: Naturrecht 132,51 Antiochien: Nestorius/Nestorianischer Streit 276,30; Novatian/Novatianer 679,26 Antiphon (Sophist): Naturrecht 135,10 Antisemitismus: Nationalsozialismus 35,27; Nationalsozialismus und Kirchen 48,6; Nietzsche 508,40; 521,52 Apologetik: Natürliche Religion 79,8 Apostel/Apostolat/Apostolizität: Neuapostolische Kirche 287,45 f Aposteldekret: Noachitische Gebote 585,27 Arbeiter/Arbeiterbewegung: Naumann 227,26; Nell-Breuning 255,27 f Arianismus: Newman 417,26; Newton 427,1 Arierparagraph: Nationalsozialismus und Kirchen 54,22.34; Niemöller 503,34 Aristoteles/Aristotelismus: Natur 100,41; 101,20; Naturphilosophie 119,17f; 122,21f; Naturrecht 136,51ff; Neid 248,1 f; Neuzeit 404,35; 409,1; Nicephorus Blemmydes 457,36; Nominalismus 599,53; Normen 633,18 Arius: Nicäa 429,46 ff Arndt, Johann: Obrigkeit 736,11 Asien: Nationalismus 26,17 Askese: Neuprotestantismus 370,55 Asmussen, Hans: Nationalsozialismus und Kirchen 48,26; 56,23; 69,53 Astrologie: New Age 412,5 Athanasius v. Alexandrien: Naturrecht 140,27; Newton 426,49; NicänoKonstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 448,33; Athenagoras: Naturrecht 140,27 Aufklärung: Nationalismus 29,35; Neuprotestantismus 367,24; Neuzeit 394,3; Norwegen 650,1 f; Nürnberg 704,25 Augsburger Bekenntnis: Neuluthertum 328,27; Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 454,46 Augustin/Augustinismus: Naturphilosophie 125,54; Naturrecht 141,45 f; Natur und Ubernatur 108,49; Natürliche Religion

766

Namen/Orte/Sachen

79,5.31; Natürliche Theologie 86,18; Neujahrsfest 325,13; Neuplatonismus 361,9; Nominalismus 5 9 4 , 2 4 ; Novatian/Novatianer 681,35; Obrigkeit 724,19 Augustiner-Chorherren: Niederlande 476,40 Augustinusregel: Norbert von Xanten 609,29 Aulen, Gustaf: Nygren 711,31 f Australien: Neuluthertum 336,8 Auswanderung: Neuluthertum 329,51; 330,8; 333,14; 336,7 Autonomie: Nationalismus 21,52; Neuprotestantismus 367,19; 372,35 Averroes/Averroismus: Neuzeit 403,26 Azpilcueta, Martinus de: Obrigkeit 731,12 Baader, Franz v.: Neuluthertum 336,51; Nihilismus 531,24 Bacon, Francis: Naturphilosophie 128,9.34; Neid 251,40; Neuzeit 4 0 5 , 1 9 f Baha'ismus: Neue Religionen 302,19; 309,17; 310,18 Balderik v. Utrecht: Niederlande 474,45 Barmer Theologische Erklärung: Nationalsozialismus und Kirchen 56,18 ff; Niemöller 503,50; Obrigkeit 751,50; 752,53 Barock: Nürnberg 703,6 Baronius, Caesar: Neri 260,37; 263,14 Barrow, Isaac: Natürliche Religion 83,35 Barth, Karl: Nationalsozialismus und Kirchen 52,7; 53,6f; 56,21; 59,49; Naturrecht 178,51; Neuluthertum 339,7; Neuzeit 399,49; Niebuhr, Helmut Richard 469,49; Nygren 713,40; Obrigkeit 7 5 1 , 1 4 f Bartholomäus v. Laon: Norbert von Xanten 609,23 Basel, Christentumsgesellschaft: Nürnberg 704,48 Basilius v. Caesarea: Naturrecht 140,28; Neid 249,6; 250,34; NicänoKonstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 448,34; 452,2 f Batak-Kirche: Nommensen 604,45 ff Baur, Ferdinand Christian: Neuprotestantismus 367,17 Bayern: Napoleonische Epoche 5,34; Neuluthertum 331,9; Nürnberg 704,34 Beck, Ludwig: Nationalsozialismus und Kirchen 68,31 Beginen: Niederlande 476,9 Beichte: Neri 262,24; Normen 635,31 Bekennende Kirche: Nationalsozialismus und Kirchen 44,40; 56,52ff; 60,48f; 61,32; Niemöller 503,47; Nürnberg 705,39 Bekenntnis: Neuluthertum 332,26 f; Norwegen 654,31 Belgien: Napoleonische Epoche 8,2; Niederlande 474,8 Bellarmini, Roberto: Obrigkeit 731,15; 735,16 Bentley, Richard: Newton 424,28 Beralanffy, Ludwig v.: Naturphilosophie 131,37 Berengar v. Tours: Nikolaus II. 541,38 Berggrav, Eivind: Norwegen 654,3.12 f Bergpredigt: Neuprotestantismus 369,52 Bergson, Henri: Niebuhr, Helmut Richard 470,5 Beringer, Diepold: Nürnberg 701,35 Berlin, Stadt: Nitzsch 578,3

Bernhard v. Clairvaux: Nominalismus 591,7; Norbert von Xanten 610,14 Bertram, Adolf Kardinal: Nationalsozialismus und Kirchen 47,35; 63,24; 65,6 Beukelsz, Jan: Niederlande 478,33 Beza, Theodor: Obrigkeit 732,41 Bezzel, Hermann: Neuluthertum 337,14; Nürnberg 705,29 Bibel/Bibelwissenschaft: Neuseeland 389,14; . Newton 426,20; Nouvelle Théologie 673,10 Bibelübersetzung: Niederlande 477,54 Bibelübersetzungen: deutsche: Nassau 14,1.3 Biblizismus: Nommensen 606,26; Oberlin 720,46 Biel, Gabriel: Nominalismus 591,12; 598,17; 599,26; 600,56 Bignè, Marguerin de la: Nikolaus von d é m a n g e s 548,21 Bilder: Nicäa 441,31 f Billingham, Richard v.: Nominalismus 590,31 Billuart, Charles-René: Naturrecht 148,16 Blondel, Maurice: Natur und Ubernatur 110,17 Blumenberg, Hans: Neuzeit 400,16 Bodelschwingh, Friedrich v. (Vater u. Sohn): Nationalsozialismus und Kirchen 51,7; 66,15; Niemöller 503,28 Bodin, Jean: Obrigkeit 734,27 f Bodinus, Heinrich: Naturrecht 161,4 Boeder, Johann Heinrich: Naturrecht 159,32 Böhme, Jacob: Neuluthertum 336,51 Boethius: Neuplatonismus 361,13; Notker Labeo 665,43 Bogomilen: Nicephorus Blemmydes 457,22 Bonald, Louis de: Napoleonische Epoche 4,28 Bonaventura: Nominalismus 591,7 Bonhoeffer, Dietrich: Nationalsozialismus und Kirchen 50,52; 68,30; Natürliche Theologie 92,49; Normen 639,16 Bonifatius (Winfrith): Niederlande 474,26 Bonifaz v. Albano: Nikolaus II. 540,48 Bordini, Giovan Francesco: Neri 260,38 Bormann, Martin: Nationalsozialismus und Kirchen 64,13 Borromeo, Carlo: Neri 263,41 Bossuet, Jacques-Bénigne: Obrigkeit 735,35 Boyle, Robert: Naturwissenschaft 190,52 Brahe, Tycho: Naturphilosophie 126,50; Naturwissenschaft 190,12 Braune, Paul Gerhard: Nationalsozialismus und Kirchen 66,11 Breit, Thomas: Nationalsozialismus und Kirchen 56,23 Bremen: Nationalsozialismus und Kirchen 57,6 Brès, Guido de: Niederlande 479,16 Brixen (Bistum): Nikolaus von Kues 557,13 Bruchhausen, Heilmann: Nassau 13,32 Bruderrat: Nationalsozialismus und Kirchen 56,54; 60,43 Brüderunität/Brüdergemeine: Norwegen 649,41 Brunner, Emil: Nationalismus 28,5; Natürliche Theologie 92,4; Naturrecht 177,44; Obrigkeit 749,27 Bruno, Giordano: Nikolaus von Kues 559,13 Brunstäd, Friedrich: Nationalsozialismus und Kirchen 48,21

Namen/Orte/Sachen Buchanan, Georg: Obrigkeit 732,43 Buchdruck: Neuzeit 394,32 Buchstabensinn: Nikolaus von Lyra 564,33 f Buddhismus: Nietzsche 514,19 Bugenhagen, Johannes: Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 455,7 Bulgarien: Nikolaus I. 536,38 Bullinger, Heinrich: Nikolaus von Flüe 550,37 Bultmann, Rudolf: Natürliche Theologie 92,15; Normen 639,23 Bund: Obrigkeit 733,12 Bürgerrechte: Napoleonische Epoche 1,36 Bürgertum: Neuprotestantismus 371,14 Buridan, Johannes: Nominalismus 590,47; 595,38; 599,25.39; 600,6.34 f Burley, Walter: Nominalismus 590,32 Buße: Novatian/Novatianer 678,42 Byzanz: Nicephorus Blemmydes 457,3 ff; Nicetas Stethatos 463,24 f; Nikolaus I. 536,25 f; Nikolaus von Kues 556,8 Caelestius: Nestorius/Nestorianischer Streit 278,50; 279,4 Caesarius v. Arles: Neujahrsfest 325,12 Cajetan de Vio, Thomas: Naturrecht 146,44 Calvin, Johannes: Naturrecht 156,28 ff; Obrigkeit 729,40 f; 733,3 Cambridge, Platoniker v.: Natürliche Religion 81,41; Neuplatonismus 361,34; Newton 424,24 Campeggio, Lorcnzo: Nausea 231,29 Camus, Albert: Nihilismus 527,47 Capra, Fritjof: New Age 412,12; 413,47; 414,33; 415,5 Cargo-Kult: Neue Religionen 307,38 Cassianus, Johannes: Nestorius/Nestorianischer Streit 280,12 Castro, Alphonsus de: Obrigkeit 731,13 Cathrein, Victor: Naturrecht 149,13 Cellarius, Christoph: Neuzeit 393,3 Celsus: Natürliche Religion 79,15 f Celtis, Konrad: Nürnberg 700,37 Chartres, Schule von: Nikolaus von Kues 559,40 Chateaubriand, François-René de: Napoleonische Epoche 4,28 Chatton, Walter: Nominalismus 590,26; 593,7; 599,45 Chemnitz, Bogislaw Philipp v.: Obrigkeit 736,37 Chiliasmus: Neuluthertum 333,46 Christian I., Kg. v. Dänemark: Norwegen 645,40 f Christian IL, Kg. v. Dänemark: Norwegen 645,46; 646,34 Christian III., Kg. v. Dänemark: Norwegen 646,38 f Christian IV., Kg. v. Dänemark: Norwegen 647.24 Christian VI., Kg. v. Dänemark: Norwegen 649.25 Christlich-soziale Bewegung: Naumann 226,lOf Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk: Nathan 18,17 Cicero: Naturrecht 138,36; 140,42 Clarke, Samuel: Newton 424,28; 425,27 Clemens v. Alexandrien: Naturrecht 140,25 Clemens v. Rom: Neid 250,30

767

Cocceji, Heinrich v.: Naturrecht 162,6 Cocceji, Samuel v.: Naturrecht 162,7 Coccejus, Johannes: Niederlande 484,19 Cochläus, Johann: Nausea 231,44 Code civil: Napoleonische Epoche 2,5 f Confessio Helvetica Posterior (1566): Naturrecht 161,34 Consalvi, Ercole: Napoleonische Epoche 2,44 Cook, James: Neuseeland 383,43; 388,40 Cotes, Roger: Newton 427,29 Coulomb, Charles Augustin de: Naturwissenschaft 194,12 Covarruvias y Leyva, Diego: Obrigkeit 731,13 Crathorn (Johannes): Nominalismus 590,30; 593,20 Cyprian v. Karthago: Neid 249,17; Novatian/Novatianer 678,47 Cyrillus v. Alexandrien: Nestorius/ Nestorianischer Streit 278 f; 280f; 283,44; Neuchalkedonismus 289,34; Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 447,35 Cyrillus und Methodius: Nikolaus I. 536,6 Dänemark: Neuluthertum 337,23; Normannen 618,12 Dalberg, Karl Theodor v.: Napoleonische Epoche 6,14 Damaskios: Neuplatonismus 359,41 f Danaeus, Lambert: Naturrecht 161,25; Obrigkeit 733,31 Darmstädter Wort (1947): Nationalsozialismus und Kirchen 70,17 Daub, Karl: Nitzsch 578,48; Obrigkeit 745,21 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Neuprotestantismus 366,5 Deismus: Natürliche Religion 78,39; 82,11 Dekalog: Naturrecht 158,17; 161,25 Delp, Alfred: Nationalsozialismus und Kirchen 68,24 Demokratie: Nationalismus 22,23; Obrigkeit 744,37 Denck, Hans: Nürnberg 701,37 Derham, William: Newton 424,29 Descartes, René: Naturphilosophie 126,51; 127,44; Naturwissenschaft 190,35; 191,51; Neid 252,33; Neuzeit 404,45; Niederlande 484,20.30 f; Nominalismus 596,15 Deuteronomium/Deuteronomistisches Geschichtswerk: Nathan 18,16 Deutsche Arbeiterpartei: Nationalsozialismus 35,5 Deutsche Arbeitsfront: Nationalsozialismus 40,32 Deutsche Bischofskonferenz: Nationalsozialismus und Kirchen 45,10 Deutsche Christen: Nationalsozialismus und Kirchen 43,27 ff; 48,1; 50,33 f; 52,27 f; Niemöller 503,24; Nürnberg 705,37.43 Deutsche Evangelische Kirche: Nationalsozialismus und Kirchen 50,21 f Deutscher Evangelischer Kirchenbund: Nationalsozialismus und Kirchen 49,50 Deutschgläubige Bewegungen: Nationalsozialismus und Kirchen 46,41 Deutschland: Napoleonische Epoche 5,18 f;

768

Namen/Orte/Sachen

Nationalismus 25,17; Obrigkeit 736,31 Dialektische Theologie: Neuprotestantismus 377,21; Neuzeit 399,37 Dibelius, Otto: Nationalsozialismus und Kirchen 69,53; Obrigkeit 753,16 f Didache: Noachitische Gebote 583,22 Diem, Harald: Obrigkeit 752,27 Dietrich, Veit: Nürnberg 702,34.49 Dilherr, Johann Michael: Nürnberg 703,10.27 Dilthey, Wilhelm: Naturwissenschaft 219,18; Neuzeit 398,40; Nitzsch 580,43 Dinter, Arthur: Nationalsozialismus und Kirchen 46,43 Diodor v. Tarsus: Nestorius/Nestorianischer Streit 278,1 Dionysius Areopagita: Neuchalkedonismus 294,47; Neupiatonismus 361,15; Nikolaus Kabasilas 552,17 Dionysius der Karthäuser: Niederlande 477,13 Dogmatik: Nitzsch 579,14; Nygren 711,42 Dogmengeschichtsschreibung: Neuluthertum 331.36 Dohm, Christian Wilhelm: Napoleonische Epoche 6,23 Dohnanyi, H a n s v.: Nationalsozialismus und Kirchen 68,30 Dominikaner: Obrigkeit 732,4 Domkapitel: Nikolaus V. 543,33 Dorner, Isaak August: Nitzsch 580,2; Obrigkeit 745.37 Dostojewskij, Fjodor Michajlowitsch: Nihilismus 530,7 Dreißigjähriger Krieg: Nürnberg 703,44 Drews, Paul: Niebergall 465,15 Duns Scotus/Scotismus: Naturrecht 145,14; Nominalismus 591,44 Duplessis-Mornay, Philippe: Obrigkeit 732,45 Ebner, Lienhard: Nürnberg 701,50 Ebo v. Reims: Nikolaus I. 538,33 Edessa: Nestorianische Kirche 265,8 Edom und Israel: O b a d j a / O b a d j a b u c h 715,28 ff Edwards, Jonathan: Niebuhr, Helmut Richard 470,1 Ehe/Eherecht/Ehescheidung: Nikolaus I. 537,8 f Eid: Nationalsozialismus und Kirchen 59,50; 61,50 Eigentum: Naturrecht 141,21; 158,29 Einstein, Albert: Naturwissenschaft 196,23; 199,6 ff; 201,44; 215,3; N e w Age 414,9 Eirene, Kaiserwitwe: Nicäa 441,30 Eiert, Werner: Nationalsozialismus und Kirchen 48,21; Naturrecht 178,16; Obrigkeit 750,15 Ellul, Jacques: Naturrecht 178,51 Elsaß: Napoleonische Epoche 4,10 Emanzipation: Nationalsozialismus 41,9 Empirismus: Naturphilosophie 128,4; Neuzeit 405.17 England: Nationalismus 24,51; N e w m a n 417,33; Normannen 618,8; Obrigkeit 734,9 Entnazifizierung: Nationalsozialismus und Kirchen 70,40 f Ephraem Syrus: Nisibis 573,46 Ephrem v. Antiochien: Neuchalkedonismus 292.18 Erathosthenes: Nubien 682,47

Eremiten: Nikolaus von Flüe 550,4 Erfahrung: Neuzeit 406,31 f Erkenntnis: Nominalismus 591,55 f Erlanger Schule: Neuluthertum 332,26 f; 334,34 Erwählung: Naturrecht 156,35; O b a d j a / O b a d j a b u c h 719,1 Erweckung/Erweckungsbewegung: Nassau 14,37; Neander 239,19; 241,6; Neuluthertum 328,24; Niederlande 488,23; Nommensen 606,24; Norwegen 650,27 f; 652,12 f; Nürnberg 704,45 Eschatologie: Neuluthertum 333,40; 334,15 Ethik: Naturrecht 139,19; 150,30; 167,51; 176,18ff; Neuluthertum 335,35; Neuprotestantismus 369,58; 370,49; 379,37; Niebuhr, Helmut Richard 469,12; 470,12; Nitzsch 579,21; Nygren 712,40; 713,30 Europa: Neuzeit 395,43 Eusebius v. Cäsarea: Nicäa 429,35 ff Eusebius v. Emesa: Novatian/Novatianer 681,38 Eusebius v. Nikomedien: Nicäa 431,27; 432,16; 433,31 Eustathius v. Sebaste: Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 448,35 Euthanasie: Nationalsozialismus 40,17; Nationalsozialismus und Kirchen 65,40 f Eutin: Nationalsozialismus und Kirchen 57,6; Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche 612,46 Eutyches/Eutychianischer Streit: Neuchalkedonismus 290,30 Evagrius Ponticus: Nilus von Acyra 569,14; 570,6 Evangelisch-Sozialer Kongreß: Naumann 226,5; Niebergall 465,30 Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte: Nationalsozialismus und Kirchen 45,1 Evangelische Kirche: Nationalsozialismus und Kirchen 43,22 ff; 47,40 f; 49,48 ff; 59,36 ff; 64,17f Evangelische Kirche der Union: Nationalsozialismus und Kirchen 50,8 Evangelisches Jugendwerk: Nationalsozialismus und Kirchen 54,29 Evangelium und Kirche: Nationalsozialismus und Kirchen 52,48 Exemtion: Nikolaus I. 538,23 Existenzrecht: Naturrecht 174,56 Exkommunikation: Nicäa 435,50 Experiment: Naturphilosophie 127,62 f Faber Stapulensis: Nikolaus von Kues 561,8 Fabri, Friedrich: Nommensen 606,27 Färöer: Normannen 617,35 Fakultäten, Theologische: Neuchâtel 297,10 f Farel, Guillaume: Neuchâtel 296,24 Farmer, Herbert H.: Natürliche Religion 84,21 Faschismus: Nationalismus 22,49 f; 32,41; Nietzsche 521,50 Faulhaber, Michael Kardinal v.: Nationalsozialismus und Kirchen 57,51; 59,4; 62,48 Fedeli, Allesandro: Neri 260,38 Felde, Johann vom: Naturrecht 159,29

Namen/Orte/Sachen Ferdinand I., Kaiser: Nausea 231,31; 232,9 Feste und Feiertage: Nomadentum im Alten Testament 588,13 Feuerbach, Ludwig: Natürliche Religion 83,15; Neuzeit 409,32 Feuerbach, Paul Johann Anselm: Naturrecht 171,23 Fichte, Johann Gottlieb: Nationalismus 22,42; 25,44; Natur 104,44; Naturrecht 168,50; Naturwissenschaft 217,30; Neuzeit 410,1 Ficino, Marsilio: Neuplatonismus 361,26 filioque: Nicephorus Blemmydes 458,53 Firmung: Nikolaus Kabasilas 552,11 FitzRalph, Richard: Nominalismus 590,31; 597,61 Florenz: Neri 259,30 Franciscus de Marchia: Nominalismus 600,4 Francke, August Hermann: Nürnberg 704,16 Frank, Franz Hermann Reinhold v.: Neuluthertum 335,18; Obrigkeit 746,42 Frankfurt a.M.: Nationalsozialismus und Kirchen 54,19; Nausea 231,43 Frankreich: Napoleonische Epoche l,19ff; Naturrecht 167,11 Franziskaner: Nikolaus von Lyra 564,8 Französische Revolution: Napoleonische Epoche 1,14 ff; Nationalismus 22,25; 24,22 f.39 Freiheit: Nationalismus 21,51; 33,17; Naturrecht 164,1; 168,16; Neuzeit 408,22; Niebuhr, Karl Paul Reinhold 472,2; Obrigkeit 744,23 Freikirche: Neuluthertum 332,48; Neuprotestantismus 371,29.42 Freisinger Bischofskonferenz: Nationalsozialismus und Kirchen 57,47 Freisler, Roland: Naturrecht 177,9 Freud, Sigmund: Neid 254,4; Normen 642,39 Frick, Wilhelm: Nationalsozialismus 38,9 Friede: Niemöller 505,27 Friedrich I., Kg. v. Dänemark: Norwegen 646,6 Friedrich Wilhelm IV., Kg. v. Preußen: Neuluthertum 330,23; Nitzsch 577,24 Frömmigkeit: Neri 261,30 f; 262,46 ff; Nürnberg 700,10 Fuchs, Josef: Naturrecht 148,10 Führerprinzip: Nationalsozialismus 36,3 f; 48,2 Führerstaat: Nationalsozialismus 39,12 Fürst: Obrigkeit 735,28 Fürstenspiegel: Nicephorus Blemmydes 458,12 Fuldaer Bischofskonferenz: Nationalsozialismus und Kirchen 57,46; 70,26 Galen, Clemens August Kardinal Graf v.: Nationalsozialismus und Kirchen 59,5; 66,17 Galenus: Nemesius v. Emesa 258,6 Galilei, Galileo: Naturphilosophie 126,17.50; Naturwissenschaft 189,33; Neuzeit 394,26; 404,36 Gallia, Franco: Obrigkeit 732,42 Gans, Eduard: Naturrecht 171,40 Gansfort, Wessel: Niederlande 477,14 Gassendi, Peter: Naturphilosophie 126,51; Naturwissenschaft 190,51 Gaudium et spes: Nationalismus 32,1 Gauß, Carl Friedrich: Naturwissenschaft 193,17

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Gebet: Neri 262,20; Nicäa 436,29 Gefühl: Neuprotestantismus 373,30 Gegenwart: Neuprotestantismus 364,16 f; Niebergall 465,10 Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben: Nasiräer 10,52; Natürliche Theologie 95,3; Neue Religionen 307,53 f; Neuplatonismus 348,35 Geisteswissenschaft: Naturphilosophie 120,23 Geistlicher Vertrauensrat der DEK: Nationalsozialismus und Kirchen 64,19 Gemeinde: Niebergall 465,42f; 467,18 Gemeindeaufbau: Nommensen 606,46 Gemeinwesen: Obrigkeit 727,18 ff; 734,33; 740,13 Gennadius v. Marseille: Nicetas von Remesiana 460,20 Georgius Akropolites: Nicephorus Blemmydes 457,40; 458,29 Georgius Pachymeres: Nicephorus Blemmydes 458.47 Georgius Pisides: Neid 249,40 Georgius v. Zypern: Nicephorus Blemmydes 458.48 Gerechtigkeit: Naturrecht 135,43 f; 162,24; Niebuhr, Karl Paul Reinhold 472,18 Gerhard v. Florenz: s. Nikolaus II., Papst Gerhard, Johann: Obrigkeit 735,40 Germanen: Obrigkeit 724,48 Germanos I., Patriarch v. Konstantinopel: Nicephorus Blemmydes 457,17.34 Gerson, Johannes: Nominalismus 591,5; 600,56 Gerstenmaier, Eugen: Nationalsozialismus und Kirchen 68,26 Gesandtschaftswesen, Päpstliches: Nikolaus von Kues 557,7 Gesangbuch: Nassau 14,4 Geschichte Israels: Noth 660,4.34 Geschichte/Geschichtsschreibung: Neuprotestantismus 368,15; Neuzeit 393,1 ff; 407,11 Geschichtstheologie: Obrigkeit 748,35 Gesellschaft: Nationalsozialismus 39,43; Neuprotestantismus 371,15; Obrigkeit 733 34- 744 9 Gesetz: Naturrecht 133,49 ff; 142,5; 155,34; 156,39f; Normen 628,49; Obrigkeit 731,37 Gesinnungsethik: Neuprotestantismus 374,19 Gewalt: Obrigkeit 725,12 f Gewerkschaften: Nell-Breuning 255,28 Gewissen: Naturrecht 149,44; 157,27f; 161,29; Neuzeit 408,24; Normen 631,46 Gewißheit: Nominalismus 594,42 ff Geyer, Christian: Nürnberg 705,21 Geyer, Heinrich: Neuapostolische Kirche 286,28 Gibson, Edmund: Natürliche Religion 83,30 Glaube: Neuprotestantismus 367,32; 370,37; Niebuhr, Helmut Richard 469,22; Nygren 712,42; Obrigkeit 724,28; 727,51 f Glaube und Denken: Newman 419,46 Glaubensbekenntnis: Neuprotestantismus 375,26 Gnade: Neuprotestantismus 369,43; Obrigkeit 728,27; 729,41 Gnade Gottes: Nominalismus 596,28 Gnosis: Natur 100,11.21

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Namen/Orte/Sachen

Goebbels, Joseph: Nationalsozialismus und Kirchen 63,29 Goerdeler, Carl: Nationalsozialismus und Kirchen 68,35 Göring, Hermann: Nationalsozialismus 38,8 Gogarten, Friedrich: Nationalsozialismus und Kirchen 48,21; 50,50; Neuzeit 400,1; Obrigkeit 748,53 Goldene Bulle: Nürnberg 699,13 Gott: Naturphilosophie 125,8; 127,5; Neuzeit 404,18; Newton 423,60; Niebuhr, Helmut Richard 469,1; Nikolaus von Kues 559,10 Gotteserkenntnis: Nikolaus von Kues 558,46 Gottschick, Johannes: Obrigkeit 747,9 Gregor v. Nazianz: Natürliche Religion 80,34; Nemesius v. Emesa 257,6; Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 451,27 f; 452,1 Gregor v. Nyssa: Nemesius v. Emesa 256,47; Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 451,22; 452,8 Gregor v. Rimini: Naturrecht 146,28; Nominalismus 590,45; 593,22.34f; 597,5.62; 599,45; 600,53 Gregorios Palamas: Nikolaus Kabasilas 551,32 Grönland: Normannen 617,46 Grosseteste, Robert: Naturphilosophie 126,28 Grotius, Hugo: Naturrecht 159,27; 163,16 Grüber, Heinrich: Nationalsozialismus und Kirchen 67,25 Grundrechte: Naturrecht 176,4 Guardini, Romano: Neuzeit 400,14 Guericke, Heinrich Ernst Ferdinand: Neuluthertum 330,29 Gunthar v. Köln: Nikolaus I. 537,13 Gustav II. Adolf v. Schweden: Nürnberg 703,49 Gut und Böse: Naturrecht 143,32f; Nominalismus 596,27 Haeckel, Ernst: Naturwissenschaft 197,56; 198,6 Häring, Bernhard: Nationalismus 32,23 Häring, Theodor: Obrigkeit 747,19 Halacha: Normen 637,44 Hallesby, Ole: Norwegen 653,52 f; 654,51 f Hamburg: Nationalsozialismus und Kirchen 55,33; Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche 612,46; 614,23 H a m b u r g - B r e m e n (Erzbistum): N o r m a n n e n 619,40 Hamilton, William Rowan: Naturwissenschaft 192,29.36 Handauflegung: Neuapostolische Kirche 288,46 Hannover: Nationalsozialismus und Kirchen 55,33; Neuluthertum 331,4 Harald Blauzahn: N o r m a n n e n 617,11 Harleß, Adolf Gottlieb Christoph v.: Neuluthertum 329,27; 331,18; Obrigkeit 746,36 Harms, Claus: Neuluthertum 328,39 Harnack, Adolf v.: Neander 241,53; Neuzeit 398,40 Harnack, Theodosius: Neuluthertum 333,3 Harsdörffer, Georg Philipp: Nürnberg 703,7 Hase, Karl v.: Neuprotestantismus 366,7; Neuzeit 398,4.15

Hauge, H a n s Nielsen: Norwegen 650,28 f Hawking, Stephen W.: Naturwissenschaft 205,55 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich/ Hegelianismus: Natürliche Theologie 91,1; Naturphilosophie 129,35; Naturrecht 170,2; Naturwissenschaft 193,10; Neuzeit 409,20; 410,10; Nihilismus 525,55 f; Obrigkeit 744,42 Heidegger, Martin: Neuzeit 409,37; Nihilismus 528,18 Heilige: Nürnberg 700,11 Heilsgeschichte: Neuseeland 387,49 Heilung/Heilungen: Neue Religionen 307,53 Heim, Karl: Nationalsozialismus und Kirchen 50,50 Heinrich V., Kaiser: Norbert von Xanten 609,1 Heinrich v. Friemar: Nominalismus 600,32 Heinrich v. Harclay: Nominalismus 599,34 Heinrich v. Langenstein: Nominalismus 590,50; 600,47.54 Heinrich Totting v. Oyta: Nominalismus 590,50; 600,55 Hengstenberg, Ernst Wilhelm: Neander 239,36 Heraklit: Naturrecht 133,42 Herbart, Johann Friedrich: Naturphilosophie 127,54 Herbert v. Cherbury, Edward: Natürliche Religion 81,28 Herborner Bibel: Nassau 14,1 Herder, Johann Gottfried: Nationalismus 22,42; 25,23; 27,33 Hermelink, Heinrich: Neuluthertum 328,4 Hermeneutik: Neuzeit 404,42; Nikolaus von Lyra 564,24 Herrschaft Gottes/Reich Gottes: Newton 427,22; Niebuhr, Karl Paul Reinhold 472,9; Obrigkeit 740,50 Herrschaftsvertrag: Obrigkeit 733,50 f Hesiod: Naturrecht 133,11.39 Hesse, Hermann Albert: Nationalsozialismus und Kirchen 50,7 Hessen: Neuluthertum 331,30 Hessen-Darmstadt: Nationalsozialismus und Kirchen 54,19 Hessen-Kassel: Nationalsozialismus und Kirchen 57,6 Hessen-Nassau: Niemöller 504,50 Heussi, Karl: Neuzeit 398,7 Hexen: Norwegen 648,4 Hieronymus: Nürnberg 700,45 Hilbert, David: Naturwissenschaft 213,32 Hindenburg, Paul v. Beneckendorff und v.: Nationalsozialismus und Kirchen 51,43 Hinduismus: Natürliche Religion 78,42 Hinkmar v. Reims: Nikolaus I. 537,15.48; 538,7.28 f Hippias: Naturrecht 135,4 Hirsch, Emanuel: Nationalsozialismus und Kirchen 48,21; Neuluthertum 328,3; 338,29; Obrigkeit 748,33 Hirscher, Baptist v.: Naturrecht 149,40 Hitler, Adolf: Nationalsozialismus 35,6 ff; 46,28; 48,50 ff; Nationalsozialismus und Kirchen 53,21; 60,1; 61,22; 63,37; 64,4; Niemöller 504,23

Namen/Orte/Sachen Hitler-Jugend: Nationalsozialismus und Kirchen 54,29 H o b b e s , T h o m a s : Naturphilosophie 127,50; Naturrecht 163,41; Neid 252,4; Obrigkeit 739,56 f Hochkirchliche Bewegung: N e w m a n 417,48 H o c h m a n n von Hochenau, Ernst Christoph: N ü r n b e r g 704,22 Hochschulen, Kirchliche: Sankt Georgen/Frankfurt: Nell-Breuning 255,1 Höfling, J o h a n n Wilhelm Friedrich: Neuluthertum 333,2; 334,43 H o f f m a n , Melchior: Niederlande 478,31 H o f f m a n n , Heinrich: Neuprotestantismus 376,45 H o f m a n n , J o h a n n Christian Konrad: Neuluthertum 332,1; 333,1 H o l c o t , Robert: N o m i n a l i s m u s 590,29; 593,15; 597,30; 599,25 Holstein-Lübeck: Nordelbische EvangelischLutherische Kirche 614,16 H o m e r : Naturrecht 132,53; Neid 247,3 H o s e a b u c h : Nyberg 709,39 Hossenfelder, J o a c h i m : Nationalsozialismus und Kirchen 50,39; 53,51 H o t m a n , François: Obrigkeit 732,42 H r a b a n u s M a u r u s : Naturphilosophie 125,22 H ü g e l , Friedrich v.: N e w m a n 419,35 H u g o v. St. Cher: Nikolaus von Clémanges 546,51; N i k o l a u s von Lyra 564,25; Nominalismus 597,27 H u m a n i s m u s : Neri 261,39; Neuprotestantismus 371,36; Neuzeit 393,40; N i k o l a u s V. 543,22; 544,45; N i k o l a u s von Clémanges 546,38; N i k o l a u s von Kues 561,9; N ü r n b e r g 700,27 H u m b e r t v. Silva Candida: Nicetas Stethatos 463,34; N i k o l a u s II. 540,47 H u m e , David: Natürliche Religion 81,17; Naturalistische Ethik 114,36; Neuzeit 405,18.52f Hundeshagen, Karl Bernhard: Neuluthertum 332,10 f Huschke, G e o r g Philipp Eduard: Neuluthertum 329,6 Husserl, E d m u n d : Neuzeit 407,45 Huygens, Christiaan: Naturwissenschaft 191,9 H y m m e n , Johannes: Nationalsozialismus und Kirchen 64,26 Iamblichos v. Chalkis: N e u p l a t o n i s m u s 355,46 Ibn al-'Arabl: Nyberg 709,23 Ich-Begriff: Neuzeit 404,47; 405,52 f; 408,3 Idealismus: Naturphilosophie 128,44; Naturrecht 149,41; Neuzeit 408,15 Idee: N e u p l a t o n i s m u s 345,34 ff Imperialismus: Nationalsozialismus 35,21 Impetus-Theorie: N o m i n a l i s m u s 599,49 Independenten: Obrigkeit 734,12 Indianer: Neuluthertum 336,42 Individuum/Individualismus: N a t i o n a l i s m u s 23,42; Neuprotestantismus 372,43 Indonesien: N o m m e n s e n 604,44; 607,19f Industrialisierung: N a u m a n n 228,5; Neuzeit 396,16 Innere Mission: N a u m a n n 226,1; 228,8;

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Niemöller 503,10; N o r w e g e n 652,34 Inquisition: Neri 260,47 Interim: N a s s a u 13,22; N ü r n b e r g 702,45 Investiturstreit: Niederlande 475,10 Iranische Religionen: N y b e r g 709,32 Irenaus v. Lyon: Nestorius/Nestorianischer Streit 284,17 Irland: N o r m a n n e n 619,1 Isidor v. Sevilla: Naturphilosophie 125,20; Naturrecht 142,35; N e i d 249,40 Islam: Nestorianische Kirche 267,16; Nietzsche 514,16; Nubien 688,16; N y b e r g 709,22f Island: N o r m a n n e n 617,37 Israel: N o m a d e n t u m im Alten Testament 587,49 Italien: Napoleonische E p o c h e 6,43 f; N i k o l a u s V. 543,52 Ivo v. Chartres: N i k o l a u s I. 538,55 J a c o b i , Friedrich Heinrich: Nihilismus 525,29 J ä g e r , August: Nationalsozialismus und Kirchen 51,32 J a k o b Baradaeus: Neuchalkedonismus 294,27 Jakobitische Kirche: Nisibis 576,6 J a n , Julius v.: Nationalsozialismus und Kirchen 62,21 J a n s e n / J a n s e n i s m u s : Niederlande 482,19 J a s p e r s , Karl: Nihilismus 527,26 Jefferson, T h o m a s : N a t i o n a l i s m u s 25,14 Jesuiten: Nell-Breuning 254,48; Obrigkeit 732,18; 735,15 J e s u s Christus: N a u m a n n 226,37; Nietzsche 514,43 f J o h a n n e s III. Vatatzes: Nicephorus Blemmydes 457,12 J o h a n n e s XI., Patriarch: Nicephorus Blemmydes 458,52 J o h a n n e s v. Antiochien: Nestorius/Nestorianischer Streit 280,53 J o h a n n e s v. C ä s a r e a : Neuchalkedonismus 290,6; 292,2 J o h a n n e s Chrysostomus: Naturrecht 140,28; Neid 249,7; Neujahrsfest 325,47; Nilus von Ancyra 571,25 J o h a n n e s v. D a m a s k u s : Neuchalkedonismus 294,32.50; N i c ä a 442,39; 443,34 J o h a n n e s M a x e n t i u s : Neuchalkedonismus 291,30 J o h a n n e s v. Mirecourt: N o m i n a l i s m u s 590,42; 596,2 J o h a n n e s Philoponus: N e u p l a t o n i s m u s 344,54; N o m i n a l i s m u s 600,3 J o h a n n e s v. R a v e n n a : N i k o l a u s I. 536,18.50 J o h a n n e s Scottus Eriugena: Naturphilosophie 125,11; Neuchalkedonismus 293,45; Neuplatonismus 361,19 J o h a n n e s v. Skythopolis: Neuchalkedonismus 291,49 J o h a n n s e n , Peter Hinrich: N o m m e n s e n 605,1 J o h n s o n , Gisle: N o r w e g e n 652,19 f J o n a / J o n a b u c h : O b a d j a / O b a d j a b u c h 718,48 J o s e p h : Nasiräer 10,36 J o w e t t , Benjamin: Natürliche Religion 83,6 Jubeljahr: N i k o l a u s V. 544,13 J u d e n : Niederlande 482,40; Nisibis 574,3; N u b i e n 685,31 f

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Namen/Orte/Sachen

Judenemanzipation: Napoleonische Epoche 6,22 Judentum: Napoleonische Epoche 4,41 f; Nietzsche 514,27 Judenverfolgungen: Nationalsozialismus und Kirchen 62,18; 66,33 f Jugoslawien: Nationalismus 27,1 Julian v. Aeclanum: Nestorius/Nestorianischer Streit 278,44 Junge, Christian Gottfried: Nürnberg 704,29 Jungreformatorische Bewegung: Nationalsozialismus und Kirchen 50,48 f; 52,44f; Niemöller 503,27 Justin der Märtyrer: Natürliche Religion 79,24; Naturrecht 140,20; Neid 250,30 Justinian, Kaiser: Neuchalkedonismus 293 f; Neuplatonismus 342,3; 359,44 Kaas, Ludwig: Nationalsozialismus und Kirchen 58,13 Kahler, Martin: Neander 241,49 Kaftan, Julius: Niebergall 465,16 Kahnis, Karl Friedrich August: Neuluthertum 327,41; 330,49 Kaisertum: N a u m a n n 228,37; Obrigkeit 736,32 Kaisertum u. Papsttum: Nikolaus I. 535,33f; 537,28; Nikolaus II. 541,18; 543,40 Kalenderreform: Newton 426,39; Nikolaus von Kues 558,19 Kalmarer Union 1319: Norwegen 643,20 Kanon: Nestorianische Kirche 271,45 Kant, Immanuel/Neukantianismus: Nationalismus 25,45; Natürliche Religion 84,5; Naturphilosophie 119,53;, 121,44; 128,14; Naturrecht 167,49; Neuzeit 402,60; 405,16; 406,28; 409,17; Nygren 711,39; 713,6; Obrigkeit 743,3 f Kapier, Hermann: Nationalsozialismus und Kirchen 50,1 Karl V., Kaiser: Nürnberger Anstand 707,20 f Karl der Große: Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 453,20 f; Niederlande 474,39 Karl der Kahle: Nikolaus I. 537,15; 538,6.32 Katechismus: N a u m a n n 227,30; Nausea 233,30 Kategorien: Nominalismus 598,25 f Katholisch-apostolische Gemeinde: Neuapostolische Kirche 286,27 Katholische Aktion: Nouvelle Theologie 669,1 Katholische Reform: Neri 259,48 Katzenelnbogen: Nassau 13,4 Kavel, August Ludwig: Neuluthertum 336,8 Kelsen, Hans: Naturrecht 172,13 Kenosis: Neuluthertum 335,14 Kepler, Johannes: Naturphilosophie 126,50 Kerrl, Hans: Nationalsozialismus und Kirchen 60,17f; 61,7; 62,12 Kierkegaard, Seren Aaby: Neujahrsfest 327,5 Kilvington, Richard: Nominalismus 599,45 Kirche: Nationalsozialismus und Kirchen 48,47 ff; Neuluthertum 334,9 f; Niebergall 465,8; Nikolaus von Kues 557,47; Nommensen 606,46; Obrigkeit 729,18; 737,3 Kirche von England: N e w m a n 417,11; N e w t o n 423,55

Kirche und Staat: Napoleonische Epoche 2,23 ff; 6,9; Nationalsozialismus und Kirchen 47,4 ff; 59,44; Neuchätel 297,6 f; Neuprotestantismus 370,2 Kirchenausschüssc: Nationalsozialismus und Kirchen 50,1; Niemöller 504,14 Kirchengeschichtsschreibung: Neander 240.25 ff; Neuzeit 398,4 ff Kirchenkampf: Nationalsozialismus und Kirchen 43,24 ff Kirchenordnungen: Batak-Kirche (1866): Nommensen 605,9 Batak-Kirche (1881-1930): Nommensen 605,15 Brandenburg-Nürnberg (1533): Nürnberg 702,29 Nassau-Weilburg (1533): Nassau 13,19 Kirchenrecht: Nikolaus I. 535,40; 537,56; Nikolaus von Kues 555,33 Kirchenrechtsquellen: Nikolaus I. 538,50 Kirchenreform: Nausea 232,37 f; Nikolaus II. 540.26 ff; Nikolaus von Clemanges 547,11; 548,4; Norbert von Xanten 610,39 Kirchenregiment, Landesherrliches: Nationalsozialismus und Kirchen 60,12 Kirchenstaat: Napoleonische Epoche 3,19 Kirchentheorie: Neuprotestantismus 378,26 Kirchenverfassung: Nationalsozialismus und Kirchen 49,49 f; 60,19; Nitzsch 577,36; Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche 613,18 Klausener, Erich: Nationalsozialismus und Kirchen 59,20 Klepper, Jochen: Nationalsozialismus und Kirchen 67,20 Kleutgen, Joseph: Naturrecht 147,50 Kliefoth, Theodor: Neuluthertum 331,24.38f Klöster und Stifte: Konstantinopel, Studioskloster: Nicetas Stethatos 463,27 Magdeburg, Unser Lieben Frauen: Norbert von Xanten 609,45; 610,10 Nürnberg, Klarakloster: Nürnberg 702,9 Premontre: Norbert von Xanten 609,28 Sankt Gallen: Notker Labeo 665,10 f Strahov: Norbert von Xanten 611,7 Xanten, St. Viktor: Norbert von Xanten 608,51 Kloster/Klosteranlage: Nationalsozialismus und Kirchen 65,29; Niederlande 475,28 Knut der Große: Normannen 619,18 Koch, Karl: Nationalsozialismus und Kirchen 56,4 Ködding, W.: Nommensen 605,14 Koinzidenz: Nikolaus von Kues 560,4 f Kolonialismus: Nationalismus 26,19 Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit: Nationalsozialismus und Kirchen 44,32 Kommission für Zeitgeschichte: Nationalsozialismus und Kirchen 45,11 Kommunismus: Nationalismus 26,34 Konfessionalismus: Neuluthertum 327,34 Konkordanzbegriff: Nikolaus von Kues 557,50 Konkordate: Nationalsozialismus und Kirchen 47,2;

Namen/Orte/Sachen 1446/47 (Fürstenkonkordate): Nikolaus von Kues 557,2 1448 (Wiener Konkordat): Nikolaus V. 543,30; Nikolaus von Kues 557,2 1801: Napoleonische Epoche 2,40f 1933: Nationalsozialismus und Kirchen 58,14f; 62,51; 63,18 Konkordienbuch: Neuluthertum 334,36; 335,11 Konkordienformel: Normen 637,31; Nürnberg 703,23 Konservatismus: Nationalismus 22,32 f; 33,4 Konstantin I., d.Gr.: Nicäa 429,28 ff Konstantinopel: Nicäa 441,48; Nicephorus Blemmydes 457,6 Kontinuität: Neuprotestantismus 368,53 Konziliarismus: Nikolaus V. 543,39; Nikolaus von Kues 555,47; 557,48 Kopernikus, Nikolaus: Naturphilosophie 126,46; Naturwissenschaft 190,1 Kosmologie: Nikolaus von Kues 559,12 Krause, Gerhard: Nitzsch 580,55 Krause, Reinhold: Nationalsozialismus und Kirchen 54,3 Kreisauer Kreis: Nationalsozialismus und Kirchen 68,19 Kreß, Christoph: Nürnberg 702,41 Kreuzzüge: Nikolaus V. 544,7 Krieg: Nationalsozialismus und Kirchen 63,45 Kritische Theorie: Neuzeit 407,43 Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit 398,32 Künneth, Walter: Nationalismus 27,48; Nationalsozialismus und Kirchen 48,16; 50,50; Obrigkeit 751,2 Kult: Nikolaus von Myra 567 f Kultur: Nationalismus 23,49; Neuprotestantismus 371,22; 372,24ff; Niebuhr, Helmut Richard 469,28 Kulturgeschichte: Neuprotestantismus 368,49 Kuno v. Praeneste: Norbert von Xanten 609,14 Kunze, Otto: Neuprotestantismus 377,3 Kydones, Demetrius: Nikolaus Kabasilas 551,19 Lagrange, Louis: Naturwissenschaft 192,28.32 Laienfrömmigkeit: Nikolaus Kabasilas 552,2 Lainez, Jakob: Obrigkeit 731,15; 732,18 Laktanz: Naturphilosophie 121,29 Lamarck, Jean Baptiste de: Naturphilosophie 118,25 Lambethkonferenzen: Nicäa 443,44 Lammers, Hans Heinrich: Nationalsozialismus und Kirchen 59,51 Langres (Bistum): Nikolaus von Clemanges 546,20 Languet, Hubert: Obrigkeit 732,44 Laon (Bistum): Norbert von Xanten 609,25 Laplace, Pierre Simon: Naturwissenschaft 192,28.42; 215,13 Laski, Johann: Niederlande 479,13 Latitudinarismus: Newton 424,20 f Le Coz, Claude: Napoleonische Epoche 4,30 Leben-Jesu-Theologie/Leben-Jesu-Forschung: Neander 239,39 f Lehmkuhl, Augustin: Naturrecht 148,21 Leibniz, Gottfried Wilhelm: N a t u r 104,11; Naturrecht 162,15; Neuzeit 402,43; Newton 424,17; 425,26; Obrigkeit 740,42

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Leland, John: Natürliche Religion 82,33 Leontius v. Jerusalem: Neuchalkedonismus 291,46; 292,36 Liberale Theologie: Niebergall 466,27; Niebuhr, Karl Paul Reinhold 471,25 Liberalismus: Nationalismus 22,15 f; 33,25; Neuluthertum 335,39; Niebuhr, Karl Paul Reinhold 471,41; Nürnberg 705,9 Licht: Naturphilosophie 126,30 Licinius: Nicäa 429,29 f Liebe: Niebuhr, Karl Paul Reinhold 472,15 Liebe Gottes: Normen 629,39 Lilje, Hanns: Nationalsozialismus und Kirchen 50,50 Linck, Wenzeslaus: Nürnberg 701,7 Linné, Carl v.: Naturwissenschaft 197,19 Linsenmann, Franz Xaver v.: Naturrecht 149,40 Lipsius, Justus: Obrigkeit 739,26 f Lagstrup, Knud Ejler: Normen 641,21 Loccumer Manifest (1933): Nationalsozialismus und Kirchen 50,20 Locke, John: Nationalismus 25,5; Naturrecht 165,12; Obrigkeit 743,29 f Löhe, Wilhelm: Neuluthertum 328,32; 329,39; 331,13 Logik: Nietzsche 512,8; Nominalismus 590,2; Normen 620,47 Lorenzo Valla: Nikolaus V. 544,23 Lortz, Joseph: Neuzeit 398,24 Lothar II., Kaiser: Nikolaus I. 537,8 Lothar III., Kaiser: Norbert von Xanten 610,4.41 Lothringen: Nikolaus I. 537,9 Lubac, Henri de: Nouvelle Théologie 669,48 f Ludolf v. Lonnig: Norbert von Xanten 609,10 Ludwig V., Pfalzgraf bei Rhein: Nürnberger Anstand 707,19; 708,14 Lübeck: Nationalsozialismus und Kirchen 57,6; Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche 612,46 Lütkemann, Joachim: Obrigkeit 736,12 Lullus, Raimundus: Natürliche Theologie 87,8 Lumbantobing, Raja Pontas: Nommensen 604,50 Luthardt, Christoph Ernst: Neuluthertum 330,53; Obrigkeit 746,53 Luther, Martin: N a t u r und Ubernatur 108,35; 110,37 f; Naturrecht 154,29 ff; Neujahrsfest 325,36; Neuprotestantismus 369,43; NicänoKonstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 455,4; Nikolaus von Flüe 550,40; Nominalismus 599,27; Normen 640,2; Nürnberg 701,lf; Obrigkeit 727,2ff Lutherische Kirchen: Napoleonische Epoche 4,10f; Nationalsozialismus und Kirchen 50,6 Lutherischer Weltbund: Neuluthertum 338,17; 339,11; Nygren 712,9; 713,52; 714,48 Lutherrenaissance: Neuprotestantismus 377,21 Luthertum: Neuluthertum 327,34ff Luttereil, Johannes: Nominalismus 590,20 Luxemburg: Niederlande 474,8 Lymnaeus, Johannes: Obrigkeit 736,45 Lyon: Nouvelle Théologie 672,14f Mach, Ernst: Neuzeit 406,23 Machiavelli/Machiavellismus: Nationalismus 24,32; Obrigkeit 726,37 f

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Namen/Orte/Sachen

M a c h t : N i e b u h r , Karl Paul R e i n h o l d 4 7 1 , 4 3 ; Obrigkeit 749,32; 751,19 M a c h t Gottes: Nominalismus 596,46 f Macintosh, D . C . : Niebuhr, Helmut Richard 469,37 M a g d e b u r g (Erzbistum): N o r b e r t von X a n t e n 609.39 Mainz: Nausea 231,50 Manichäismus: Nyberg 709,33 M a n n i n g , Henry E d w a r d : N e w m a n 4 1 9 , 1 6 M a r a h r e n s , August: Nationalsozialismus und Kirchen 5 0 , 6 ; 6 2 , 1 3 ; 6 4 , 2 4 M a r c e i l v. A n k y r a : N i c ä a 4 3 3 , 3 3 . 4 0 ; 4 3 4 , 8 f M a r c i o n u. seine Kirche: N e s t o r i a n i s c h e Kirche 265,10 M a r e s i u s , Samuel: Niederlande 4 8 3 , 2 8 ; 4 8 4 , 1 8 M a r i a ( M u t t e r J e s u ) : Neujahrsfest 3 2 5 , 2 8 M a r i a n a , J u a n de: O b r i g k e i t 7 3 1 , 1 6 M a r i u s Victorinus: N e u p l a t o n i s m u s 3 5 4 , 4 1 ; 361,5 Marsilius v. Inghen: N o m i n a l i s m u s 5 9 1 , 2 ; 599,25.39; 600,12 Marsilius v. Padua: O b r i g k e i t 7 2 6 , 2 4 f M a r t e n s e n , H a n s Lassen: O b r i g k e i t 7 4 6 , 3 2 M a r x / M a r x i s m u s : N a t i o n a l i s m u s 2 3 , 3 1 ; Neid 2 5 3 , 2 ; Nell-Breuning 2 5 5 , 3 1 ; Neuzeit 4 0 7 , 4 3 M a t e r i e : Neuplatonismus 351,1 M a t h e m a t i k : Naturphilosophie 121,57; 126,10; N e w t o n 4 2 3 , 2 7 ; N i k o l a u s von Kues 5 5 8 , 2 6 f M a t h i j s z , J a n : Niederlande 4 7 8 , 3 3 M a y e r , R u p e r t : Nationalsozialismus und Kirchen 6 2 , 4 0 M e a d , G e o r g e H e r b e r t : N i e b u h r , Helmut Richard 470,4 M e c h a n i k : N a t u r p h i l o s o p h i e 126,41 f M e c k l e n b u r g : Nationalsozialismus und Kirchen 5 7 , 7 ; Neuluthertum 3 3 1 , 2 4 M e i e r , Kurt: Nationalsozialismus und Kirchen 45,24 M e i s e r , H a n s : Nationalsozialismus und Kirchen 55,7; 56,2; 57,9; 62,13 M e l a n c h t h o n , Philipp: N a t ü r l i c h e T h e o l o g i e 8 8 , 4 ; N a t u r und U b e r n a t u r 111,4; N a t u r r e c h t 158,8; Neujahrsfest 3 2 5 , 4 4 ; O b r i g k e i t 7 2 9 , 4 f M e l e t i u s v. L y k o p o l i s / M e l e t i a n i s c h e s Schisma: N i c ä a 4 3 4 , 5 1 f; N i c ä n o - K o n s t a n t i n o politanisches G l a u b e n s b e k e n n t n i s 4 4 9 , 3 7 M e n c h a c a , F e r n a n d o Vasquez de: O b r i g k e i t 731,14 M e n n o S i m o n s / M e n n o n i t e n : Niederlande 478.40 M e n s c h : N a t i o n a l i s m u s 3 1 , 7 ; Naturphilosophie 124,27; 1 2 5 , 6 0 ; N a t u r r e c h t 137,50; 141,19; Neuzeit 4 0 9 , 1 7 ; O b r i g k e i t 7 3 1 , 1 7 ; 7 3 7 , 3 7 M e n s c h e n r e c h t e : N a p o l e o n i s c h e E p o c h e 1,36; Nationalismus 24,23; Naturrecht 175,52 M e r s e n n e , M a r t i n : N a t u r p h i l o s o p h i e 126,51 Messner, Johannes: Naturrecht 149,14 Metaphysik: Natürliche Theologie 88,14; Neuplatonismus 3 5 4 , 3 f; Nietzsche 5 1 2 , 1 4 f M e v i u s , David: N a t u r r e c h t 1 6 0 , 6 M e y e r , T h e o d o r : N a t u r r e c h t 148,7 M i c h a e l Kerullarius: N i c e t a s Stethatos 4 6 3 , 3 0 Middleton: Normannen 619,9 Milton, John: Nationalismus 25,1 Mischehe: Nehemia/Nehemiabuch 244,40

M i s c h n a : Neujahrsfest 3 2 2 , 7 M i s s i o n : Naturreligionen 1 8 8 , 1 7 ; Nestorianische Kirche 2 6 7 f; Neuluthertum 3 3 6 , 4 0 ; Neuseeland 3 8 4 , 2 7 f; N o m m e n s e n 6 0 4 , 4 0 ff; N o r m a n n e n 6 1 7 , 4 ; N o r w e g e n 6 4 8 , 9 ; 649,lOf; 651,50f M i s s i o n a r : Neuseeland 3 8 9 , 1 4 Missionsgesellschaften: Rheinische Missionsgesellschaft: Nommensen 604,41 Missouri-Synode: Neuluthertum 3 3 6 , 1 8 f M i t b e s t i m m u n g : Nell-Breuning 2 5 5 , 3 5 Mittelalter: N a t u r p h i l o s o p h i e 1 2 3 , 4 6 f ; Neuprotestantismus 3 6 9 , 2 8 ; Neuzeit 3 9 3 , 2 8 Modernisierung: Neuzeit 3 9 6 , 2 6 f M ö h l e r , J o h a n n A d a m : Neuzeit 3 9 8 , 5 M ö n c h t u m : Nilus von Ancyra 5 7 2 , 3 1 Molina/Molinismus: Naturrecht 146,47; Obrigkeit 7 3 1 , 1 6 M o l t k e , Helmuth J a m e s G r a f v.: N a t i o n a l sozialismus und Kirchen 6 8 , 1 9 M o l t m a n n , J ü r g e n : N e w Age 4 1 5 , 4 8 Monarchomachen: Obrigkeit 732,48 Monophysiten: Nubien 691,14 Monotheismus: Niebuhr, Helmut Richard 468,48 M o n t a g u , Charles: N e w t o n 4 2 4 , 6 Montauban: Napoleonische Epoche 4,7 M o n t e s q u i e u , Charles de: O b r i g k e i t 7 4 4 , 4 M o n t g e l a s , M a x i m i l i a n J o s e p h v.: Napoleonische Epoche 5,35 M o r a l : N a t u r r e c h t 168,52; Nietzsche 5 1 2 , 3 5 M o r e , Henry: N e w t o n 4 2 3 , 1 0 ; 4 2 4 , 2 4 M o r i t z v. O r a n i e n : Niederlande 4 8 1 , 3 8 M o r i t z v. Sachsen: N ü r n b e r g 7 0 2 , 5 1 M o t i v f o r s c h u n g : Nygren 7 1 2 , 2 2 M ü l l e r , Friedrich M a x : Natürliche Religion 84,17 M ü l l e r , Ludwig: Nationalsozialismus und Kirchen 5 0 , 9 ; 5 3 , 4 8 ff; 5 9 , 3 9 M ü n c h m e y e r , August Friedrich O t t o : Neuluthertum 3 3 5 , 6 M ü n s t e r : Niederlande 4 7 8 , 3 6 M u s i l , R o b e r t : Neuzeit 4 0 2 , 2 f M u s s o l i n i , Benito: Nationalsozialismus 3 6 , 1 2 M y s t i k : Neri 2 6 1 , 5 0 ; N i k o l a u s von Flüe 5 5 0 , 1 6 ; N i k o l a u s Kabasilas 5 5 1 , 4 2 ; N i k o l a u s von Kues 5 6 0 , 3 3 ; N o m i n a l i s m u s 5 9 1 , 8 M y t h o s : N i e b u h r , Karl Paul R e i n h o l d 4 7 2 , 2 8 Nächstenliebe: N a t u r r e c h t 160,49; 162,25 N a n t e s , Edikt v.: Niederlande 4 8 3 , 1 7 N a p o l e o n I. B o n a p a r t e : N a p o l e o n i s c h e E p o c h e 1,8 ff Napoleonische Epoche: 1 - 1 0 Nasiräer: 1 0 - 1 2 N a s s a u : 1 2 - 1 7 ; Nationalsozialismus und Kirchen 5 4 , 1 9 Nassau-Hessen: Nationalsozialismus und Kirchen 5 5 , 3 2 Nathan: 1 8 - 2 1 Nation: Nationalismus 33,6 Nationalismus: 2 1 - 3 4 ; Nationalsozialismus 35,15 Nationalökonomie: Nominalismus 600,24 Nationalsozialismus: 3 4 - 4 3 ; N a t i o n a l i s m u s

Namen/Orte/Sachen 23,7; Niemöller 503,20; Nihilismus 532,29; Nürnberg 705,34 Nationalsozialismus und Kirchen: 43 - 7 8 ; Niemöller 503,17 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei: Nationalsozialismus und Kirchen 46,20 Natürliche Religion: 7 8 - 8 5 Natürliche Theologie: 8 5 - 9 8 Natur: 9 8 - 1 0 7 ; Naturphilosophie 119,21 ff; 122,24 f; Naturrecht 134,17; 143,7; 144,4; Neuzeit 408,29; Normen 629,15; Obrigkeit 742,6 Natur und Übernatur: 1 0 7 - 1 1 3 Naturalistische Ethik: 1 1 3 - 1 1 8 Naturphilosophie: 1 1 8 - 1 3 2 ; Newton 424,33; Nikolaus von Kues 558,51; Nominalismus 599,3 l f Naturrecht: 1 3 2 - 1 8 5 ; Nell-Breuning 255,47; Neuprotestantismus 372,37; Normen 638,1; Nygren 713,33; Obrigkeit 727,13; 729,31; 741,33 Naturreligionen: 1 8 5 - 1 8 8 Naturwissenschaft: 1 8 9 - 2 2 5 ; Naturphilosophie 118,22 f Naumann, Friedrich: 225 - 2 3 0 ; Nationalismus 27,41 Nausea, Friedrich: 2 3 0 - 2 3 5 Nazarener: 2 3 5 - 2 3 8 Neander, Johann August Wilhelm: 238 - 2 4 2 ; Nommensen 606,30 Nehemia/Nehemiabuch: 2 4 2 - 2 4 6 Neid: 2 4 6 - 2 5 4 Nell-Breuning, Oswald von: 2 5 4 - 2 5 6 Nemesius v. Emesa: 2 5 6 - 2 5 9 Neri, Filippo: 2 5 9 - 2 6 4 Nestorianische Kirche: 2 6 4 - 2 7 6 ; Nisibis 574,49 Nestorius/Nestorianischer Streit: 2 7 6 - 2 8 6 Neuapostolische Kirche: 2 8 6 - 2 8 9 Neuchalkedonismus: 2 8 9 - 2 9 6 Neuchatel: 2 9 6 - 2 9 9 Neue Religionen: 2 9 9 - 3 1 5 Neuendettelsau: Neuluthertum 329,39 Neuhumanismus: 3 1 5 - 3 1 8 Neujahrsfest: 3 1 9 - 3 2 7 Neuluthertum: 3 2 7 - 3 4 1 ; Nürnberg 705,6; Obrigkeit 746,34 Neuplatonismus: 3 4 1 - 3 6 3 Neuprotestantismus: 3 6 3 - 3 8 3 Neuscholastik: Naturrecht 147,46 Neuseeland: 3 8 3 - 3 9 2 Neuss, Wilhelm: Nationalsozialismus und Kirchen 59,12 Neuzeit: 3 9 2 - 4 1 1 ; Neuprotestantismus 364,29ff; 368,53ff; 369,17ff; 3 7 2 , 6 f New Age: 4 1 1 - 4 1 6 ; Neue Religionen 304,14 Newman, John Henry: 4 1 6 - 4 2 2 Newton, Isaac: 4 2 2 - 4 2 9 ; Naturphilosophie 118,24; 126,50; Naturwissenschaft 189,50; 191,14f Nicäa, ökumenische Synoden: 429—444 Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis: 4 4 4 - 4 5 6 Nicephorus Blemmydes: 4 5 7 - 4 6 0 Nicetas (Niceta) von Remesiana: 4 6 0 - 4 6 3 Nicetas Stethatos: 4 6 3 - 4 6 4 Niebergall, Friedrich: 4 6 4 - 4 6 8

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Niebuhr, Helmut Richard: 4 6 8 - 4 7 0 Niebuhr, Karl Paul Reinhold: 4 7 0 - 4 7 3 ; Nationalismus 30,32 f Niederlande: 4 7 4 - 5 0 2 ; Napoleonische Epoche 8,2; Nassau 12,47; 15,3 Niemöller, Martin: 502 - 5 0 6 ; Nationalsozialismus und Kirchen 43,30; 50,52; 55,14 Nietzsche, Friedrich: 5 0 6 - 5 2 4 ; Neid 253,30; Neuzeit 407,41; Nihilismus 526,33 f Nihilismus: 5 2 4 - 5 3 5 ; Nietzsche 5 1 6 , 4 2 f Nikolaus I., der Große, Papst: 5 3 5 - 5 4 0 ; s.a. Päpste Nikolaus II., Papst: 5 4 0 - 543; s.a. Päpste Nikolaus V., Papst: 543 - 5 4 5 ; s.a. Päpste Nikolaus v. Autrecourt: Nominalismus 590,42; 595,15; 597,44; 599,45 Nikolaus von d é m a n g e s : 546—549 Nikolaus von Flüe: 5 4 9 - 5 5 1 Nikolaus Kabasilas (Chamaetos): 5 5 1 - 5 5 4 Nikolaus von Kues (Nicolaus de Cusa, Nicolaus Cusanus): 5 5 4 - 5 6 4 ; Naturphilosophie 121,31; 125,62f; Nikolaus V. 543,49; Nothelfer, Vierzehn 664,5 Nikolaus von Lyra: 5 6 4 - 5 6 6 Nikolaus von Myra: 5 6 6 - 5 6 8 Nikolaus v. Oresme: Nominalismus 590,51; 599,39; 600,6.53 Nilus von Ancyra: 5 6 8 - 5 7 3 Nisibis: 5 7 3 - 5 7 6 ; Nestorianische Kirche 264,36 Nitzsch, Carl Immanuel: 5 7 6 - 5 8 1 ; Niebergall 466,1 Nitzsch, Carl Ludwig: Nitzsch 576,42; 578,36 Noachitische Gebote: 5 8 2 - 5 8 7 Nomadentum im Alten Testament: 5 8 7 - 5 8 9 Nominalismus: 5 8 9 - 6 0 4 ; Neuzeit 403,46 Nommensen, Ludwig Ingwer: 6 0 4 - 6 0 8 Norbert von Xanten: 6 0 8 - 6 1 2 Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche: 612-616 Norm: Naturrecht 138,44 Normannen: 6 1 7 - 620; Nikolaus II. 541,41 Normen: 6 2 0 - 6 4 3 Norwegen: 643 - 6 5 9 ; Neuluthertum 337,23 Noth, Martin: 6 5 9 - 6 6 1 ; Nomadentum im Alten Testament 587,54 Nothelfer, Vierzehn: 6 6 1 - 6 6 5 Notker Labeo: 6 6 5 - 6 6 8 Nouvelle Théologie: 6 6 8 - 6 7 5 Novalis (Friedrich v. Hardenberg): 675 - 6 7 8 ; Naturphilosophie 128,55 Novatian/Novatianer: 6 7 8 - 6 8 2 ; Nicäa 436,17 Nubien: 6 8 2 - 6 9 8 Nürnberg: 6 9 8 - 7 0 7 Nürnberger Anstand: 7 0 7 - 7 0 8 Nyberg, Henrick Samuel: 7 0 9 - 7 1 1 Nygren, Anders: 7 1 1 - 7 1 5 Obadja/Obadjabuch: 7 1 5 - 7 2 0 Oberlin, Johann Friedrich: 7 2 0 - 7 2 3 Obrigkeit: 7 2 3 - 7 5 9 Ockham, Wilhelm v./Ockhamismus: Naturalistische Ethik 115,32; Naturrecht 146,7; Neuzeit 403,47; Nominalismus 590,18ff; 591,17; Obrigkeit 7 2 6 , 9 f Ökonomie: Nominalismus 600,24

776

Namen/Orte/Sachen

Ökumene: Nationalsozialismus und Kirchen 69,51; Niemöller 505,3; Nygren 712,10 ökumenischer Rat der Kirchen: Nestorianische Kirche 271,27 Österreich: Napoleonische Epoche 5,44 Offenbarung: Nationalsozialismus und Kirchen 48,14; Naturphilosophie 125,4; Naturrecht 143,4; Neuluthertum 332,4; Neuzeit 405,44; Niebuhr, Helmut Richard 469,43; Niebuhr, Karl Paul Reinhold 472,31; Nitzsch 579,3 f.26 f; Obrigkeit 727,9 Oldenburg: Nationalsozialismus und Kirchen 57,5 Oldendorp, Johann: Naturrecht 158,52 Olivi, Petrus Johannes: Nominalismus 599,1 Ontologie: Neuzeit 404,15; Nominalismus 598,51 Opfer: Nasiräer 11,46 Oranien: Nassau 13,1 Oratorium/Oratorianer: Neri 260,32; 262,46 ff; Newman 418,26 Orden: Nationalsozialismus und Kirchen 62,27; Neri 263,29; Nürnberg 699,20 Ordination: Nicäa 436,6; Nitzsch 579,53 Ordnung: Obrigkeit 724,15; 726,5 ff Ordo: Naturphilosophie 125,42 Origenes: Natürliche Religion 79,51; Naturrecht 140,27 Orthodoxe Kirchen: Nubien 691,13 Orthodoxie, altlutherische: Naturrecht 158,48 f; Neuprotestantismus 369,28; Obrigkeit 735,37 Orthodoxie, altreformierte: Naturrecht 161,17 f Osiander, Andreas: Neuluthertum 333,28; Nürnberg 701,16.49; 702,32.46 Osiander, Johann Adam: Naturrecht 159,39 Ossius v. Cordoba: Nicäa 430,2 ff Ostern/Osterfest: Nicäa 434,32 f Ostervald, Jean-Frédéric: Neuchâtel 296,44 Osteuropa: Nationalismus 26,30 Overbeck, Franz: Nietzsche 507,39 Overbeck, Johann Friedrich: Nazarener 235,43 f Oxford: Newman 417,7 Oxfordbewegung: Newman 419,7 Pacelli, Eugenio: s. Päpste: Pius XII. Pädagogik: N a u m a n n 227,35; Oberlin 721,26 Päpste: Alexander II.: Nikolaus II. 541,52; Norwegen 644,2 Benedikt X.: Nikolaus II. 540,45 Benedikt XIII.: Nikolaus von Clémanges 546,16 Calixt II.: Norbert von Xanten 609,21 Clemens VIII.: Neri 261,16 Coelestin I.: Nestorius/Nestorianischer Streit 278,43; 281,50f Coelestin III.: Norwegen 644,50 Cornelius: Novatian/Novatianer 678,49 Eugen IV.: Nikolaus von Kues 555,52 Fabian: Novatian/Novatianer 678,35 Felix V.: Nikolaus von Kues 556,21 Gregor VII.: Nikolaus II. 540,49; Obrigkeit 725,24 Gregor XIII.: Neri 261,1; Nikolaus von Kues 558,19; Norbert von Xanten 611,1 Gregor XV.: Norbert von Xanten 611,4

Hadrian I.: Nicäa 443,15 Hadrian IV.: Norwegen 644,16 Innozenz II.: Norbert von Xanten 610,6.41 Innozenz III.: Norwegen 644,52 Innozenz IV.: Norwegen 645,9 Johannes Paul II.: Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 453,49 Leo I., d. Gr.: Nestorius/Nestorianischer Streit 280,13 Leo III.: Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 453,32 Leo IX.: Nikolaus II. 541,44 Leo XIII.: Naturrecht 147,49; 149,11; N e w m a n 419,31 Nikolaus I., der Große 5 3 5 - 5 4 0 Nikolaus II.: 5 4 0 - 5 4 3 Nikolaus V.: 543 - 5 4 5 Paul III.: Neri 260,10 Paul IV.: Neri 260,46 Paul VI.: Nationalismus 32,13; Naturrecht 150,11 Pius II.: Nikolaus von Kues 556,30; 557,18 Pius V.: Neri 260,46 Pius VII.: Napoleonische Epoche 3,20 Pius XII.: Nationalsozialismus und Kirchen 58,22; 62,44; 70,21; Nouvelle Theologie 671,12.40 Sixtus IV.: Nikolaus V. 544,50 Zosimus: Nestorius/Nestorianischer Streit 278,47 Päpstliche Bullen, Enzykliken und Breven: Aeterni Patris 1879: Naturrecht 147,49 Centesimus annus 1991: Obrigkeit 754,9 Christifidelium 1612: Neri 263,53 Copiosus in misericordia 1575: Neri 261,2; 263,33 Divino afflante Spiritu 1946: Nouvelle Theologie 669,20 H u m a n a e vitae 1968: Naturrecht 150,11 H u m a n i generis 1950: Nouvelle Theologie 671,40 Mater et magistra 1961: Obrigkeit 754,7 Mit brennender Sorge 1937: Nationalsozialismus und Kirchen 62,48 Populorum progressio 1967: Nationalismus 32,13; Obrigkeit 754,8 Quadragesimo anno 1931: Nell-Breuning 255,7.39.49; Obrigkeit 754,7 Rerum novarum 1891: Naturrecht 149,11; Obrigkeit 754,6 Sollicitudo rei socialis 1987: Obrigkeit 754,9 Ubi arcano 1922: Obrigkeit 754,7 Unam Sanctam 1302: Obrigkeit 725,40 Paine, Thomas: Nationalismus 25,14 Palcotti, Gabriele Kardinal: Neri 261,37 Pannenberg, Wolfhart: Neuzeit 400,26 Papen, Franz v.: Nationalsozialismus und Kirchen 58,20 Papsttum: Nikolaus I. 539,6; Nikolaus II. 540,39f; Nikolaus V. 543,24f; Nikolaus von Kues 556,4; Obrigkeit 725,12 Papstwahl: Nikolaus II. 540,42f Paris: Neuzeit 403,22 Parlamentarismus: Nationalsozialismus 37,43 f Parmenides: N a t u r 100,48; Naturrecht 133,38

Namen/Orte/Sachen Pataria: Nikolaus II. 542,1 Patriotismus: Nationalismus 22,1 Paulinus v. Nola: Nicetas von Remesiana 460,42; 461,5 Paulus (Apostel): Nietzsche 514,43 f; Obrigkeit 724,2 Paulus, Julius: Naturrecht 140,12 Paulus d. Perser: Nisibis 575,23 Pazifismus: Niemöller 505,22 Peel, Robert: Newman 417,17 Pereis, Friedrich-Justus: Nationalsozialismus und Kirchen 68,39 Périer, Jean François: Napoleonische Epoche 4,30 Persönlichkeit: New Age 412,48 Pestalozzi, Johann Heinrich: New Age 415,40; Oberlin 721,28 Petri, Ludwig Adolf: Neuluthertum 330,5; 331,4 Petrus v. Ailly: Nominalismus 591,4; 596,2; 599,26 Petrus Aureoli: Nominalismus 595,2; 597,53 Petrus Damiani: Naturphilosophie 125,23; Nikolaus II. 540,47 Petrus Lombardus: Neuchalkedonismus 294,51 Petrus de Palude: Nominalismus 599,1 Petrus v. Tarantasia: Nominalismus 597,26 Pfalz: Nationalsozialismus und Kirchen 57,6 Pfarrer: Nationalsozialismus und Kirchen 70,45 Pfarrerbruderschaft: Nationalsozialismus und Kirchen 55,43 Pfarrernotbund: Nationalsozialismus und Kirchen 54,44 f; Niemöller 503,36.44 Pfleiderer, Otto: Neuprotestantismus 364,3; 367,47 f; Obrigkeit 747,29 Philipp II., König: Niederlande 479,24f Philippi, Friedrich Adolf: Neuluthertum 331,28 Philo v. Alexandrien: Naturrecht 140,19; Neuplatonismus 349,37 Philosophie: Neuzeit 401,54 ff Philosophie, griechische: Naturphilosophie 119,16f Philosophie und Theologie: Nygren 712,20 f; 713,30 Photius: Nikolaus I. 536,27 f Physik: Naturphilosophie 127,27 Physikotheologie: Natürliche Theologie 89,25; Naturwissenschaft 197,15; Newton 424,30 Pico della Mirandola, Giovanni: Neuplatonismus 361,30 Pietismus: Nassau 14,36; Neuprotestantismus 371,39; 376,21; Norwegen 648,46 f; Nürnberg 704.12 Pirckheimer, Caritas: Nürnberg 702,10 Pirckheimer, Willibald: Nürnberg 700,39; 701.13 Piscator-Bibel: Nassau 14,3 Placcius, David Vincenz: Naturrecht 161,3 Planck, M a x : Naturwissenschaft 201,36; 206,25 Plato: Natur 101,9; Natur und Ubernatur 107,27; Naturphilosophie 120,51 f; Naturrecht 134,19; 135,32ff; Neuplatonismus 341,54; Normen 633,8 Plotin: Neuplatonismus 341,57 f Pluralismus: Neuprotestantismus 372,9; Neuzeit 396,38

III

Pneumatomachen: Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 452,3 ff Polemik: Nicetas Stethatos 463,40 Polen: Napoleonische Epoche 7,15 Politik: Naturrecht 170,4; Naumann 227,42 Politische Ethik: Niemöller 505,46 Porcari, Stefano: Nikolaus V. 544,22 Porphyrius: Neuplatonismus 353,40 f Portalis, Jean: Napoleonische Epoche 3,50 Prämonstratenser: Norbert von Xanten 609,51; 610,36 Praepositus, Jacobus: Niederlande 478,18 Praktische Theologie: Niebergall 465,7 ff; Nitzsch 580,10ff Prasch, Johann Ludwig: Naturrecht 160,48 Predigt: Neri 263,12; Niebergall 465,35; 466,28 f Preußen: Napoleonische Epoche 5,39; Nassau 15,9; 16,5; Nationalsozialismus und Kirchen 51,20; 55,31; Neuluthertum 337,51; Nitzsch 577,21 f Preysing, Konrad Kardinal v.: Nationalsozialismus und Kirchen 63,24; 65,12; 67,11 Priester: Nationalsozialismus und Kirchen 62,27; Neri 262,34 Priesterschrift: Nasiräer 11,35 Primat: Nikolaus II. 541,51 Privatrecht: Naturrecht 140,1 Proclus der Philosoph: Neuplatonismus 357,21 f Propheten/Prophetie: Nasiräer 11,11; Nathan 18,5ff; Neuseeland 386,9 f; Newton 427,12 Protagoras: Naturrecht 134,35 Protestantenverein: Neuprotestantismus 367,13 Protestantismus: Nationalismus 27,31 f; Neuprotestantismus 364,6 ff Prozeßbegriff: Naturphilosophie 119,44 Pseudoisidor: Nikolaus I. 537,56 Psychologie: Naturphilosophie 127,57 Pufendorf, Samuel: Naturrecht 165,28; Obrigkeit 737,36 f Puritanismus: Nationalismus 24,37.51; Niederlande 483,41 Qualität: Nominalismus 598,35 f Quantität: Nominalismus 598,57 Quenstedt, Johann Andreas: Naturrecht 159,43 Rabaut-Dupui, Pierre: Napoleonische Epoche 4,34 Rachel, Samuel: Naturrecht 160,44 Radbruch, Gustav: Naturrecht 172,44 Raimund v. Sabunde: Natürliche Theologie 87,10; 89,12 Rassismus: Nationalismus 23,8; Nationalsozialismus 40,12 Ravenna: Nikolaus I. 5 3 6 , 5 0 f Realismus: Nominalismus 589,50 Recht: Obrigkeit 730,17ff; 731,37; 734,34 Rechtfertigung: Naturrecht 155,9 Rechtsordnung: Obrigkeit 738,51; 742,19 Rechtspositivismus: Naturrecht 172,4; 175,10 Rechtstheologie: Naturrecht 160,3 Reformation: Nassau 13,15; Nationalismus 24,34; Naturrecht 154,27 ff; Neuprotestantismus 364,50ff; 368,54ff; Neuzeit 393,41; 399,38; Nicäa 438,5; Niederlande 477,32ff; Norwegen 646,15 f;

778

Namen/Orte/Sachen

Nürnberg 701,1 f; Nürnberger Anstand 707,10 ff; Obrigkeit 727,1 ff Reformierte Kirchen: Napoleonische Epoche 3,45; Nassau 13,44; Nationalsozialismus und Kirchen 50,7; Neuchatel 297,44 f Regensburg: Nothelfer, Vierzehn 661,23 f Reichsbischof: Nationalsozialismus und Kirchen 50,22; 53,46 ff Reichsbruderrat: Nationalsozialismus und Kirchen 57,33 Reichsdeputationshauptschluß: Napoleonische Epoche 5,18; Nassau 14,40 Reichskirche: Nationalsozialismus und Kirchen 48,3; 50,12; 53,46 ff; 59,37; Nikolaus V. 543,32 Reichskirchenausschuß: Nationalsozialismus und Kirchen 60,37 Reichsreform: Nikolaus von Kues 557,50 Reichsstände: Obrigkeit 736,32 Reichstag: Obrigkeit 736,44 Reichstage der Reformationszeit: Nürnberg 1524: Nausea 231,29 Speyer 1529: Nürnberg 702,38 Reinkingk, Dietrich: Obrigkeit 736,51 Relativismus: Neuprotestantismus 373,1 Religion: Nationalismus 27,12f; Neuprotestantismus 370,32 Religionsfreiheit: Napoleonische Epoche 6,17 Religionsgespräche: Hagenau 1540: Nausea 232,21 Nürnberg 1525: Nürnberg 701,45 Religionskritik: Nietzsche 513,28 f Religionspädagogik: Niebergall 465,21 Religionspsychologie: Niebergall 465,36 Religionssoziologie: Neuprotestantismus 379,45 Religionstheorie: Neuprotestantismus 378,26 Religiöse Sozialisten: Nationalsozialismus und Kirchen 47,46 Reliquien: Nikolaus von Myra 568,1 f Remonstrantcn: Niederlande 482,46 Renaissance: Nationalismus 24,30; Neuzeit 393,41 Restauration: Napoleonische Epoche 1,15 Revolution: Neuzeit 396,15 f Rheinbundstaaten: Napoleonische Epoche 5,29 Rheinland: Nationalsozialismus und Kirchen 55,42; Nitzsch 577,21 Rhetorik: Naturrecht 138,29 Richterbuch: Nasiräer 10,44 Ritsehl, Albrecht: Natürliche Theologie 91,32; Naturwissenschaft 198,22; Nietzsche 507,17; Obrigkeit 747,5 Rittelmeyer, Friedrich: Nürnberg 705,21 Ritter, Karl Bernhard: Nationalsozialismus und Kirchen 50,50 Rock, Johann Friedrich: Nürnberg 704,23 Röhm, Emst: Nationalsozialismus 36,11 Römisch-katholische Kirche: Napoleonische Epoche 2,29; Nationalismus 31,35; Nationalsozialismus und Kirchen 47,17f; 57,45ff; 62,24f; 65,6f; Neuprotestantismus 370,18; Newman 418,17 Rösch, Augustin: Nationalsozialismus und Kirchen 68,24 Rohden, L. v.: Nommensen 606,27 Rollo: Normannen 619,30 Rom: Neri 259,46 f; Nicäa 435,54; 442,3;

Nikolaus V. 544,21 f Romantik: Nationalismus 22,40; 24,24; 25,19f; 29,42; Naturphilosophie 128,44; Nürnberg 705,4 Rosa, Persiano: Neri 260,13 Rosenberg, Alfred: Nationalsozialismus und Kirchen 46,37; 59,7 Rosh HaShana: Neujahrsfest 322,14 Roth, Karl Johann Friedrich v.: Neuluthertum 331,9 Rothad v. Soissons: Nikolaus I. 537,47 Rothe, Richard: Neuprotestantismus 366,47; 380,14; Obrigkeit 745,21 Rousseau, Jean-Jacques: Nationalismus 22,26; 24,46; Natürliche Religion 80,15; 83,48; Natur 104,19; Naturrecht 166,29; Neid 262,17; Obrigkeit 741,49 Royce, Josiah: Niebuhr, Helmut Richard 470,4 Rudelbach, Andreas Gottlob: Neuluthertum 329,28 Rupert v. Deutz: Norbert von Xanten 609,7 Russell, Bertrand: Naturwissenschaft 214,12 Rust, Bernhard: Nationalsozialismus und Kirchen 51,25 Sabbat: Nehemia/Nehemiabuch 244,39 Sachs, Hans: Nürnberg 700,50; 701,18 Sachsen: Nationalsozialismus und Kirchen 55,32; Neuluthertum 330,47 Sachverhalt: Nominalismus 593,21 f Säkularisierung: Napoleonische Epoche 5,22 f; 50; Neuzeit 400,2 Salomo: Nathan 18,7.44 Samuel: Nasiräer 11,5 Sapper, Karl: Neuprotestantismus 376,4 Sarcerius, Erasmus: Nassau 13,21.37 Sasse, Hermann: Nationalsozialismus und Kirchen 56,24; Neuluthertum 338,41 Saubert, Johannes: Nürnberg 703,24 f Savigny, Friedrich Carl v.: Naturrecht 171,30 Schamanismus: Neue Religionen 306 f Scheibel, Johann Gottfried: Neuluthertum 328,51; 329,14 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Naturphilosophie 128,49; 129,17; Neuzeit 402,50; 408,44; 409,47; 410,20 Schieder, Julius: Nürnberg 705,39 Schlegel, Friedrich: Nihilismus 526,12; Novalis 675,46 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Nationalismus 25,36; 27,36; Natürliche Religion 84,9; Natur 1051,21; Naturrecht 176,22; Neuluthertum 338,32; Neuprotestantismus 366,27; Nitzsch 578,41; Normen 640,26; Obrigkeit 745,32 Schlesien: Neuluthertum 328,35 f; 329,47; 330,12 Schleswig: Nommensen 606,25; Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche 614,8 Schleswig-Holstein: Nationalsozialismus und Kirchen 55,32; Nordelbische EvangelischLutherische Kirche 612,46 Schleupner, Dominicus: Nürnberg 701,15 Schmalkaldischer Bund: Nürnberger Anstand 707,17 f Schmidt, Kurt Dietrich: Nationalsozialismus und Kirchen 44,34

Namen/Orte/Sachen Schmitt, Carl: Naturrecht 177,10 Schnepf, Erhard: Nassau 13,19 Schöberlein, Ludwig Friedrich: Neuluthertum 337,13 Schöffel, Simon: Nationalsozialismus und Kirchen 53,50 Schöpfer/Schöpfung: Nationalismus 27,44; Naturphilosophie 124,3 f; 127,2; Newton 425,15; Obrigkeit 724,9; 727,17; 749,30; 750,21 Schöpfungsmythos: Naturphilosophie 121,20 Schöpfungsordnung: Nationalsozialismus und Kirchen 48,13 Scholastik: Naturphilosophie 128,4; Naturrecht 146,43 Scholder, Klaus: Nationalsozialismus und Kirchen 45,27 Schopenhauer, Arthur: Naturrecht 171,45; Nietzsche 507,23 Schriftauslegung: Newton 426,26; Niebergall 466,9; Nikolaus von Lyra 564,12 Schriftsinn, Vierfacher: Naturphilosophie 125,18 f; Nikolaus von Lyra 564,25 Schule: Nürnberg 702,17 Schultz, Waither: Nationalsozialismus und Kirchen 64,25 Schwarz, Karl: Neuluthertum 327,39 Schweden: Neuluthertum 337,23; Normannen 619,33; Nygren 712,4 Schweitzer, Albert: Naturwissenschaft 219,2 Schweitzer, Wolfgang: Nationalismus 29,27 f Schweiz: Napoleonische Epoche 7,27 f; Neuchâtel 296,45 Scientology Church: Neue Religionen 303,42 Seckendorf, Veit Ludwig v.: Naturrecht 160,24; Obrigkeit 737,20 Seele: Naturrecht 136,lOf; Neupiatonismus 350,7 f Seelsorge: Neue Religionen 308,40 f Sein: Naturphilosophie 124,12; 125,45; Nominalismus 593,51 f Seil, Karl: Neuprotestantismus 375,54 Severus v. Antiochien: Neuchalkedonismus 291,12 Simon Kimbangu: Neue Religionen 306,53 Simonie: Nicäa 442,16; Nikolaus II. 541,32 Simson: Nasiräer 10,43 Sinn/Sinnfrage: Naturwissenschaft 198,39 Sinti und Roma: Nationalsozialismus und Kirchen 66,45 Sirach/Sirachbuch: Nathan 18,24 Sitte/Sittlichkeit: Naturrecht 138,50; 142,3; 168,52; Nominalismus 597,53 f; Normen 628,40; Obrigkeit 745,3 Sittengesetz: Nominalismus 597,53 f Situation: Normen 639,13 Situationsethik: Normen 636,6 Sklaverei: Naturrecht 137,25 Snell, Willebrord: Naturwissenschaft 193,32 Sokrates: Naturrecht 135,1.18 Sommer, Margarethe: Nationalsozialismus und Kirchen 67,28 Sophokles: Naturrecht 134,3 Soto, Domingo de: Naturrecht 146,46; Obrigkeit 731,13 South, Robert: Natürliche Religion 81,49

779

Souveränität: Obrigkeit 734,48 Sozialdemokratie: N a u m a n n 228,19 Soziale Frage: Niebergall 465,44 Sozialethik: Nationalismus 27,25 ff Sozialismus: Nationalismus 23,20 f; 33,25; Nell-Breuning 255,43; Neuzeit 396,35 Soziallehre: Obrigkeit 729,49 Soziallehre, Katholische: Nationalismus 31,35 f; Nell-Breuning 255,27 f.48; Obrigkeit 754,5 f Sozialwissenschaften: Obrigkeit 725,48 Soziologie: Neuprotestantismus 368,49 Spanien: Naturrecht 146,43 Spekulative Theologie: Nitzsch 578,48 Spener, Philipp Jakob: Nürnberg 704,14; Obrigkeit 736,12 Spengler, Lazarus: Nürnberg 701,6 Spinoza, Baruch/Spinozismus: Natur 104,3; Natur und Übernatur 112,1; Naturphilosophie 129,12; Naturrecht 164,49; Niederlande 482,44; Obrigkeit 740,33 Spiritualismus: Neuprotestantismus 371,37 Spiritualität: Neri 261,28f Sprache/Sprachwissenschaft: Nationalismus 23,48; Naturrecht 137,51 Sprachphilosophie: Nominalismus 590,29 Staat: Nationalismus 21,66; Naturrecht 135,23; Neuprotestantismus 371,28; Obrigkeit 745,32; 751,19 Staatskirche: Nassau 15,41; Nationalsozialismus und Kirchen 61,8 Stählin, Wilhelm: Nationalsozialismus und Kirchen 50,51 Ständelehre: Obrigkeit 735,43 Stahl, Friedrich Julius: Obrigkeit 746,4 Staritz, Katharina: Nationalsozialismus und Kirchen 67,27 Stauffenberg, Claus Schenk Graf v.: Nationalsozialismus und Kirchen 68,32 Staupitz, Johannes v.: Nürnberg 701,3 Steffens, Henrik: Neuluthertum 329,7 Steiner, Rudolf: Nietzsche 521,6 Steintal: Oberlin 720,51; 721,24 Stephan, Horst: Neuprotestantismus 376,16 Stoa: Naturrecht 138,36f; 140,19f Stoecker, Adolf: N a u m a n n 226,9 Stoltenhoff, Ernst: Nationalsozialismus und Kirchen 51,23 Stoß, Andreas: Nürnberg 702,13 Strafe/Strafrecht: Normen 634,50 Strauß, David Friedrich: Naturwissenschaft 198,2; Neander 239,39; Neuluthertum 335,12; Neuprotestantismus 366,6; Nietzsche 510,1 Strimesius, Samuel: Naturrecht 162,2 Stuckart, Wilhelm: Nationalsozialismus und Kirchen 59,50; 60,7 Stuttgarter Schulderklärung (1945): Nationalsozialismus und Kirchen 69,50 Suârez, Francisco: Naturrecht 146,44; Obrigkeit 731,15; 735,24 Substanz: Nominalismus 598,35 f Sünde: Nietzsche 516,4; Nominalismus 594,22; Obrigkeit 727,45; 729,41 Swedenborg, Emanuel/Swedenborgianer: Oberlin 721,45 Sylvestris, Francisco de: Naturrecht 146,44

780

Namen/Orte/Sachen

Symeon der neue Theologe: Nicetas Stethatos 463,26 Synkretismus: Neue Religionen 309,12 f Synoden: Antiochien: 324/325: Nicäa 430,5 Antiochien 379: Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 449,37; 450,32 Arles 314: Nicäa 434,42 Bad Oeynhausen 1936: Nationalsozialismus und Kirchen 60,49 Barmen 1933: Nationalsozialismus und Kirchen 55,47 Barmen 1934: Nationalsozialismus und Kirchen 56,12ff Basel 1431-37: Nikolaus V. 543,28; Nikolaus von Kues 555,26ff; Norwegen 645,38 Berlin 1846: Nitzsch 577,29; 579,51 Berlin-Dahlem 1934: Nationalsozialismus und Kirchen 57,23; Niemöller 503,51 Chalcedon 451: Nestorius/Nestorianischer Streit 277,34; Neuchalkedonismus 290,29; Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 454,16 Dordrecht 1618/19: Niederlande 481,39f Elvira (ca. 3 0 0 - c a . 313): Noachitische Gebote 584,41 Ephesus 431: Nestorianische Kirche 266,19; 271,31; Nestorius/Nestorianischer Streit 280,31; Neuchalkedonismus 293,36 Frankfurt 794: Nicäa 443,14 Fritzlar 1118: Norbert von Xanten 609,15 Hiereia 754: Nicäa 441,28 Konstantinopel 381: Nestorius/Nestorianischer Streit 277,31; Nicäa 437,47; NicänoKonstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 444,42 Konstantinopel 553: Neuchalkedonismus 290,23 Lateran 649: Neuchalkedonismus 294,43 Lateran 1215: Neuzeit 403,14 Lateran 1512-17: Neuzeit 403,43 Lyon 1274: Norwegen 645,17 Nicäa 325: 429-441; Newton 426,50; Nikolaus von Myra 566,37; Novatian/ Novatianer 681,22 Nicäa 787: 441-444; Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 453,23 Oxford 1222: Nikolaus von Myra 566,27 Pisa 1409: Nikolaus von Clemanges 547,27 Rom 1059: Nikolaus II. 540,37; 541,7 f Rom 1060/61: Nikolaus II. 541,32 Seleukia-Ktesiphon 410: Nestorianische Kirche 266,1 Seleukia-Ktesiphon 424: Nestorianische Kirche 266,13 Toledo 589: Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 453,15 Toledo 636: Neujahrsfest 325,23 Tours 567: Neujahrsfest 325,21 Treysa 1945: Nationalsozialismus und Kirchen 69,31 Tridentinum 1545-63: Nausea 233,36; Neri 262,14; N e w m a n 418,1; NicänoKonstantinopolitanisches

Glaubensbekenntnis 454,40; Nikolaus von Clémanges 548,19 Vatikanum I 1869/70: Natürliche Theologie 91,21; N e w m a n 419,20 Vatikanum II 1962-65: Nationalismus 32,1; Natürliche Theologie 93,12; Naturrecht 150,5; N e w m a n 419,26; Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 454,44; Niederlande 493,19; Nouvelle Théologie 673,43 System: Naturphilosophie 121,38 Systematische Theologie: Nygren 714,20 f Tabaraud, Mathieu: Napoleonische Epoche 4,28 Täufer: Niederlande 477,49; 478,31 f; 479,4 f; 480,37; 482,26 f; Nürnberg 701,41 Taparelli, Luigi: Naturrecht 148,2; 149,25 Tatian: Naturrecht 140,27; Nestorianische Kirche 265,17 Taufe: Nestorianische Kirche 271,47; Nikolaus Kabasilas 552,11 Technik: Naturphilosophie 130,4.17ff Teilhard de Chardin, Pierre: New Age 413,7; Nouvelle Théologie 671,26; 673,17 Tempel (Jerusalem): Nehemia/Nehemiabuch 244,39; Nathan 18,20 Tempier, Stephan: Neuzeit 403,29 Tenison, Thomas: Newton 424,36 Tennhardt, Johann: Nürnberg 704,23 Tertullian: Natürliche Religion 79,28; Natürliche Theologie 86,12; Naturrecht 140,23; Novatian/ Novatianer 680,31 Textgeschichte/Textkritik: Nyberg 709,38 Theodizeeproblem: Nietzsche 516,26 Theodor v. Mopsuestia: Nestorius/ Nestorianischer Streit 276,40 Theodoret v. Kyros: Nestorius/Nestorianischer Streit 276,34; 280,43 Theodorus II. Laskaris: Nicephorus Blemmydes 457,50; 458,11.20 Theodosius I., d. Gr.: Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis 448,27; Obrigkeit 724,43 Theodosius II., Kaiser: Nestorius/ Nestorianischer Streit 277,2 Theologie, Philosophische: Nikolaus von Kues 559,1 ff Theosophie: Neuluthertum 336,51; N e w Age 411,46; Nikolaus von Kues 561,12; Oberlin 721,34 Thielicke, Helmut: Nationalismus 28,10; Naturrecht 178,23; Normen 641,5 Thietgaud v. Trier: Nikolaus I. 537,13 Tholuck, Friedrich August Gottreu: Nommensen 606,30 T h o m a s (Apostel): Nestorianische Kirche 264,38 T h o m a s v. Aquino: Natürliche Theologie 86,46; N a t u r und Ubernatur 109,24; Naturrecht 142,51 f; Neid 251,18; Neuchalkedonismus 294,51; Neuplatonismus 361,20; Nikolaus von Lyra 564,26; Nominalismus 591,15; 600,27; Normen 629,1 f; 631,34; 633,20; Nouvelle Théologie 669,6; Obrigkeit 725,49 T h o m a s v. Bradwardine: Nominalismus 599,34 Thomaschristen: Nestorianische Kirche 270,23

Namen/Orte/Sachen T h o m a s i u s , Christian: Naturrecht 166,15; Obrigkeit 738,30 f T h o m a s i u s , Gottfried: Neuluthertum 331,47; 333,2 T h r a s y m a c h o s : Naturrecht 134,21 Thüringen: Nationalsozialismus und Kirchen 55,32 Tiefenpsychologie: N e w Age 412,22 Tillich, Paul: Nationalsozialismus und Kirchen 47,16; Natürliche Theologie 92,41; Naturrecht 179,38; Neuprotestantismus 380,16; Niebuhr, Helmut Richard 469,45; Normen 641,49 Timotheus I., ostsyr. Patriarch: Nestorianische Kirche 267,27 Tingstadius, J o h a n A d a m : N y b e r g 710,5 Toleranz: Napoleonische Epoche 4,27 Traktarianismus: N e w m a n 417,39 Transzendentalphilosophie: Neuzeit 409,19 Trier (Bistum): N i k o l a u s von Kues 555,21 Trillhaas, Wolfgang: Obrigkeit 753,42 Troeltsch, Ernst: Naturrecht 176,39; Neuprotestantismus 363,55ff; 368,42ff; Neuzeit 398,41; 399,8 f; Niebuhr, Helmut Richard 469,40; Obrigkeit 749,17 Tübinger Schule: Naturrecht 149,39; Neuluthertum 333,9 Tugend: Naturrecht 139,40; Neuplatonismus 353,1 Uhlhorn, Gerhard: Neuluthertum 331,5 Ulmer Erklärung (1934): Nationalsozialismus und Kirchen 56,2 Ulpian: Naturrecht 140,1 Ultramontanismus: Niederlande 492,12 Unendlichkeit: Naturphilosophie 126,4 Unionen, Kirchliche: Napoleonische Epoche 4,24; N a s s a u 15,21; Neuluthertum 327,43; 337,52; Neuprotestantismus 368,25; Nitzsch 577,33; 579,42 Universalicnstreit: Neuzeit 404,9; N o m i n a l i s m u s 592,33 f Universitäten: Altdorf: Nürnberg 703,24 Berlin: Neander 239,31; Nitzsch 577,26 Bonn: Nitzsch 577,10 Cambridge: N e w t o n 423,13 Dorpat: Neuluthertum 331,29 Dublin: N e w m a n 418,36 Erlangen: Nationalsozialismus und Kirchen 54,49; Neuluthertum 329,27; 331,8 Franeker: Niederlande 483,25 Groningen: Niederlande 483,25 Heidelberg: Neander 239,24 Herborn: N a s s a u 13,48 Köln: Niederlande 477,10 Leiden: Niederlande 483,24 Leipzig: Neuluthertum 330,48 Löwen: Napoleonische Epoche 8,24; Niederlande 477,10 Lund: Nygren 711,30ff; 714,29 M a r b u r g : Nationalsozialismus und Kirchen 54,49 Neuchatel: 2 9 6 - 2 9 9 Oslo: N o r w e g e n 651,25 O x f o r d : N o m i n a l i s m u s 590,25

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Paris: Niederlande 477,10; N o m i n a l i s m u s 590,37 R o s t o c k : Neuluthertum 331,26 U p p s a l a : N y b e r g 709,13; 710,29 Utrecht: Niederlande 483,25 Urrecht: Naturrecht 169,38 Ursprünglichkeit: Neuzeit 408,18 Utrecht: Niederlande 474,20 ff Utrechter Schisma: Niederlande 485,18 Utrechter Union: Niederlande 474,47 Valier, A g o s t i n o Kardinal: Neri 261,37 Van der O s , Antonius: Niederlande 486,53 f Van Erkel, J o a n Christiaan: Niederlande 485,14 Varnhagen v. Ense, Karl August: N e a n d e r 238,51 Varro, M a r c u s : Natürliche Religion 79,2 Vatikan: Nationalsozialismus und Kirchen 57,48 Vatikanische Bibliothek: N i k o l a u s V. 544,49 Väzquez, Gabriel: Naturrecht 146,47; 147,34 Veillodter, Valentin Karl: N ü r n b e r g 704,44 Venatorius, T h o m a s : N ü r n b e r g 701,16 Verantwortungsethik: Neuprotestantismus 374,51 Verein: Neuprotestantismus 375,20 Vereinigte Staaten von Amerika: N a t i o n a l i s m u s 25,10; Naturrecht 167,9; Neuluthertum 336,9; Niebuhr, Helmut Richard 468, l l f ; Niebuhr, Karl Paul Reinhold 471,9f Vereinigungskirche: N e u e Religionen 303,25 Verfassung: Naturrecht 138,16; Obrigkeit 730,54; 744,29 Vermittlungstheologie: Neuprotestantismus 366,24; 379,47; Nitzsch 577,29; 578,41; Obrigkeit 745,37 Vernunft: Naturrecht 139,8f; 143,11; 144,18; 159,2; Neuzeit 404,44; N e w m a n 419,48; Obrigkeit 731,23 f Vernunftrecht: Naturrecht 163,3 f; 166,31ff Versöhnung: Neuluthertum 332,2 Vesta: N e w t o n 427,8 Vilmar, August Friedrich Christian: Neuluthertum 328,31; 331,30; 334,1 f; Obrigkeit 746,31 Visitation: N a s s a u 13,20; N ü r n b e r g 702,27; 703,17 Vitoria, Francisco: Naturrecht 146,46; Obrigkeit 731,10 Völkerrecht: Naturrecht 139,46 Völkerwanderung: Nicetas von R e m e s i a n a 461,22 Volckamer, Clemens: N ü r n b e r g 702,41 Volk: N a t i o n a l i s m u s 22,43; Naturrecht 171,34; 177,24; Obrigkeit 748,3 ff Volksgemeinschaft: Nationalsozialismus 40,7 Volkskirche: Neuprotestantismus 370,11 Volkskunde: Niebergall 465,15 Volkssouveränität: Obrigkeit 731,5; 733,29 Volta, Alessandro: Naturwissenschaft 194,18 Vorsehung: Naturrecht 160,46 Wagner, Leonhard: N a s s a u 13,33 Wagner, Richard: Nietzsche 507,41 Wahrheit: Neuzeit 402,24f; 407,26 f; Niebuhr, H e l m u t Richard 468,38 Wake, William: N e w t o n 424,35 Walther, Carl Ferdinand Wilhelm: Neuluthertum 336,24

782

Namen/Orte/Sachen

Wangemann, Hermann Theodor: Neuluthertum 328,19; 329,8 Ward, William George: N e w m a n 419,16 Wartenburg, Peter Graf Yorck v.: Nationalsozialismus und Kirchen 68,20 Warthegau: Nationalsozialismus und Kirchen 64,38 Weber, Max: Naturrecht 172,32; Neuzeit 399,1 Weber, Otto: Nationalsozialismus und Kirchen 53,50; 64,26 Wehrung, Georg: Niemöller 503,7 Weigel, Valentin: Nürnberg 703,32 Weilburg: Nassau 13,19 Weißler, Friedrich: Nationalsozialismus und Kirchen 61,44 Weizsäcker, Ernst: Naturwissenschaft 223,6 Welt: Naturphilosophie 121,60; Obrigkeit 724,10 Weltanschauung: Naturrecht 171,49; Neuprotestantismus 372,44 Weltbild: Nikolaus von Kues 559,14 Wendland, Heinz-Dietrich: Nationalismus 28,17 f; Naturrecht 178,37 Werner, Friedrich: Nationalsozialismus und Kirchen 53,53 Wert: Naturalistische Ethik 113,42 Wertethik: Naturrecht 173,48 Wesley, John: Natürliche Religion 83,28 Westfalen: Nationalsozialismus und Kirchen 55,43 Westminster Confession (1647): Naturrecht 161,34 Wettstein, Johann Jakob: Niederlande 486,25 Whiston, William: Newton 424,28.51 Whitehead, Alfred North: Naturwissenschaft 214,12 Widerstand: Nationalsozialismus und Kirchen 67,40 f Widerstandsrecht: Nationalsozialismus und Kirchen 68,45; Obrigkeit 730,43; 732,2 Wiedergeburt: Nikolaus Kabasilas 552,12 Wien: Nausea 232,19 Wikinger: Normannen 617,2.30ff; 619,25 Wilber, Ken: New Age 412,12 Wilhelm v. Oranien: Niederlande 479,28 Will, Georg Andreas: Nürnberg 704,27 Wille Gottes: Naturrecht 145,33; 156,34 f; 161,54; Nominalismus 597,2 f; Obrigkeit 738,44; 746,lOf; 751,28 Wille/Willensfreiheit: Natur 99,43; Naturrecht 161,22; 170,32; Obrigkeit 738,37; 740,35 Willibrord: Niederlande 474,19; Normannen 617,5 Wissenschaft: Naturphilosophie 130,35; Nominalismus 591,14f Wissenschaftstheorie: Naturphilosophie 131,33; Neuprotestantismus 379,11 Witschel, Johann Heinrich Wilhelm: Nürnberg 704,42 Wittenberg: Nitzsch 576,45 Wodeham, Adam: Nominalismus 590,30; 593,21.34; 597,61 Wolff, Christian: Naturphilosophie 118,35; Nihilismus 525,25; Obrigkeit 741,16f Wormser Edikt: Nausea 233,10 Wormser Kolloquium 1540/41: Nausea 232,22

Wormser Konkordat 1122: Niederlande 475,20 Wünsch, Georg: Naturrecht 176,49; Obrigkeit 749,13 Wunder: Naturphilosophie 125,49 Wurm, Theophil: Nationalsozialismus und Kirchen 55,6; 56,1; 57,9; 62,13; 64,49; 66,9; 67,9 Württemberg: Nationalsozialismus und Kirchen 54,6; 55,37 Wyneken, Friedrich Konrad Dietrich: Neuluthertum 330,2 Xenophanes: Naturrecht 133,36 Xenophon: Naturrecht 134,49 York: Normannen 619,12 Zabarella, Jacob: Naturphilosophie 128,10 Zadok/Zadokiden: Nathan 18,50 Zarathustra/Zoroastrismus: Nyberg 710,9 Zeitgeschichte: Neuzeit 396,50ff Zeitgeschichte, Kirchliche: Nationalsozialismus und Kirchen 44,3 Zeitrechnung: Newton 426,39 Zentgrav, Johann Joachim: Naturrecht 161,7 Zentrumspartei: Nationalsozialismus und Kirchen 46,54; 58,10 Zeugen Jehovas: Nationalsozialismus und Kirchen 66,49 Ziegler, Caspar: Naturrecht 159,37 Zins: Nikolaus Kabasilas 551,27 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf v.: Nürnberg 704,19 Zölibat: Norwegen 644,24 Zoellner, Wilhelm: Nationalsozialismus und Kirchen 60,38; 61,12 Zoologie: Naturphilosophie 118,27 Zürich: Obrigkeit 728,50 Zwangsrecht: Naturrecht 169,45 Zweireichelehre: Nationalismus 29,30; Naturrecht 154,39 f; Neuprotestantismus 370,4; Obrigkeit 752,29 Zwingli, Ulrich: Nikolaus von Flüe 550,37; Obrigkeit 728,23 f

Mitarbeiter

783

2. Mitarbeiter 2.1. Autoren Dr. James S. Alexander, St. Andrews/Großbritannien (Novatian/Novatianer) Prof. Dr. Cornelis Augustijn, Amsterdam/Niederlande (Niederlande) Dr. Rosemarie Aulinger, Wien/Österreich (Nürnberger Anstand) Prof. Dr. Karl-Heinz Bernhardt, Berlin (Nasiräer) Dr. Hans-Otto Binder, Tübingen (Napoleonische Epoche) Prof. Dr. Hanns Christof Brennecke, Erlangen (Nicäa, ökumenische Synoden I; Nicetas von Remesiana) Dr. Annemarie Brückner, Würzburg (Nikolaus von Myra) Prof. Dr. Christoph Peter Michael Bürger, Amsterdam/Niederlande (Nikolaus von Clemanges) Prof. Dr. Torsten Capelle, Münster (Normannen) Prof. Dr. Karl Dienst, Darmstadt (Nassau) Prof. Dr. Walter Dietrich, Wabern/Schweiz (Nathan; Obadja/Obadjabuch) PDoz. Dr. Irene Dingel, Heidelberg (Naumann, Friedrich) Prof. Dr. Volker Drehsen, Tübingen (Neuprotestantismus) Prof. Dr. Hendrik J.W. Drijvers, Groningen/Niederlande (Nisibis) Prof. Dr. Kaspar Elm, Berlin (Norbert von Xanten) Prof. Dr. Margot Fleischer, Siegen (Nietzsche, Friedrich) Prof. Dr. David Flusser, Luzern/Schweiz (Noachitische Gebote I) Dr. Norbert Frei, München (Nationalsozialismus) Prof. Dr. Christofer Frey, Dortmund (Natur und Übernatur) Prof. Dr. Johannes Fried, Frankfurt/M. (Nikolaus I.) Prof. Dr. Dr. Franz Furger, Münster (Nell-Breuning, Oswald von) Prof. Dr. R. Furness, St. Andrews/Großbritannien (Novalis) PDoz. Dr. Dr. Peter Gerlitz, Bremerhaven (Neue Religionen) Dr. Sheridan Gilley, Durham/Großbritannien (Newman, John Henry) Prof. Dr. Karen Gloy, Luzern/Schweiz (Naturphilosophie) Prof. Dr. Patrick T.R. Gray, North York/Kanada (Neuchalkedonismus) Prof. Dr. Carl-Henric Grenholm, Uppsala/Schweden (Nationalismus) Prof. Dr. Hans-Jürgen Greschat, Marburg (Naturreligionen; Neuseeland I) Dr. Roland Gröbli, Oberdorf/Schweiz (Nikolaus von Flüe) Prof. Dr. James M. Gustafson, Atlanta/USA (Niebuhr, H . Richard; Niebuhr, K.P. Reinhold) Prof. Dr. Klaus Guth, Bamberg (Nothelfer, Vierzehn) Prof. Dr. Dieter Hägermann, Bremen (Nikolaus II.) Prof. Dr. Wolfgang Hage, Marburg (Nestorianische Kirche) Prof. Dr. Fritz-Peter Hager, Zollikon/Schweiz (Neuplatonismus) Prof. Dr. Gottfried Hammann, Neuchätel/Schweiz (Neuchätel) Propst Dr. Niels Hasselmann, Lübeck (Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche) Prof. Dr. Wolf-Dieter Hauschild, Münster (Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis) Prof. Dr. Roman Heiligenthal, Landau (Noachitische Gebote II) Prof. Dr. Erich Heintel, Wien/Österreich (Neuzeit II) Prof. Dr. Ernst Hellgardt, München (Notker Labeo) Prof. Dr. Eilert Herms, Mainz (Obrigkeit) Dr. Otmar Hesse, Goslar (Nilus von Ancyra) Prof. Dr. Karl Hoheisel, Bonn (New Age) Prof. Dr. Jürgen Hübner, Heidelberg (Naturwissenschaft III) Prof. Dr. Herbert Immenkötter, Augsburg (Nausea, Friedrich) Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Saarbrücken (Neuluthertum)

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Mitarbeiter

Prof. Dr. Theo Kobusch, Bochum (Nominalismus) Prof. Dr. Wilhelm Korff, München (Normen II) Prof. Dr. Hartmut Kreß, Kiel (Normen III) Prof. Dr. Niels Peter Lemche, Kvistgaard/Dänemark (Nomadentum im Alten Testament) Prof. Dr. Pierre Lenhardt N . D . S . , Jerusalem/Israel (Neujahrsfest III) Prof. Dr. Peter Matheson, Dunedin/Neuseeland (Neuseeland II) Prof. Dr. Joachim Mehlhausen, Tübingen (Nationalsozialismus und Kirchen; Neander, August; Neuluthertum; Neuzeit I) Prof. Dr. Ingun Montgomery, Oslo/Norwegen (Norwegen) The Rev. Dr. Joseph Anthony Munitiz SJ, Oxford/Großbritannien (Nicephorus Blemmydes) Akad. Dir. Dr. Carsten Nicolaisen, München (Niemöller, Martin) Prof. Dr. Karl-Heinz Nusser, München (Neid) Prof. Dr. Helmut Obst, Halle (Neuapostolische Kirche) Dr. David A. Pailin, Manchester/Großbritannien (Natürliche Religion II) Prof. Dr. Michael John Petry, Rotterdam/Niederlande (Newton, Isaak) Prof. Dr. Gerhard Podskalsky SJ, Frankfurt/M. (Nikolaus Kabasilas) Prof. Dr. Klaus Prange, Tübingen (Neuhumanismus) t Prof. Dr. Horst Dietrich Preuß (Neujahrsfest II) Prof. Dr. Paolo Prodi, Martignano/Italien (Neri, Filippo) Prof. Dr. Dr. Friedo Ricken S J , München (Naturrecht I) Prof. Dr. Gerhard Ringshausen, Lüneburg (Nazarener) PDoz. Dr. Hartmut Rosenau, Wuppertal (Natur) Prof. Dr. Martin Anton Schmidt, Basel/Schweiz (Nikolaus von Lyra) Dr. Piotr O. Scholz, Bonn (Nubien) Prof. Dr. Wolfgang H. Schräder, Siegen (Normen I) Prof. Dr. Lothar Schreiner, Wuppertal (Nommensen, Ludwig Ingwer) Prof. Dr. Henning Schröer, Bonn (Neujahrsfest IV) Dr. Hans Gerhard Senger, Heidelberg (Nikolaus von Kues) Prof. Dr. Rudolf Smend D D , Göttingen (Noth, Martin) Prof. Dr. Walter Sparn, Bayreuth (Natürliche Theologie) Michael Stausberg, Bonn (Nyberg, Samuel) Prof. Dr. Fritz Stolz, Zürich/Schweiz (Neujahrsfest I) Prof. Dr. Alfred A. Strnad, Innsbruck/Österreich (Nikolaus V.) Prof. Dr. Claudius Strube, Wuppertal (Nihilismus) Dr. Arvid Tängberg, Oslo/Norwegen (Nehemia/Nehemiabuch) Dr. Henning Theurich, Bonn (Nitzsch, Carl Immanuel) Prof. Dr. Dr. Hans Georg Thümmel, Greifswald (Nicäa, ökumenische Synoden II) Prof. Dr. Franz Tinnefeid, München (Nicetas Stethatos) Prof. Dr. Falk Wagner, Wien/Österreich (Naturrecht II) Prof. Dr. Horst Weigelt, Erlangen (Nürnberg) The Rev. Dr. Lionel R. Wickham, Cambridge/Großbritannien (Nestorius/ Nestorianischer Streit) Prof. Dr. Gustaf Wingren D D , Lund/Schweden (Nygren, Anders) Prof. Dr. Raymond Winling, Straßburg/Frankreich (Nouvelle Theologie) Prof. Dr. Friedrich Wintzer, Bonn (Niebergall, Friedrich) Prof. Dr. Hans Wißmann, Mainz (Natürliche Religion I) Prof. Dr. Eberhard Wölfel, Raisdorf (Naturwissenschaft I; II) Prof. Dr. Werner Wolbert, Salzburg/Österreich (Naturalistische Ethik) Prof. Dr. Frances M . Young, Birmingham/Großbritannien (Nemesius v. Emesa) Dr. Eberhard Zwink, Stuttgart (Oberlin, Johann Friedrich)

Artikel und Verweisstichwörter

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2.2. Übersetzer Aus dem Englischen: Dr. Gertrud Grünkorn, Berlin (Nemesius von Emesa; Nestorius/Nestorianischer Streit; Niebuhr, H. Richard; Niebuhr, K.P. Reinhold) Tilman Kiersch, Greifswald/Neuwied (Novatian/Novatianer) PDoz. Dr. Wolfram Kinzig, Mannheim (Neuchalkedonismus) Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Newman; Nicephorus Blemmydes) Rüdiger Thurm, Münster (Natürliche Religion II; Neuseeland II) Aus dem Französischen: Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Neuchätel) Prof. Dr. Eckehart Stove, Duisburg (Nouvelle Theologie) Aus dem Italienischen: Prof. Dr. Eckehart Stove, Duisburg (Neri) Aus dem Niederländischen: Dr. Jörg Haustein, Bensheim (Niederlande) Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Nisibis) Aus dem Schwedischen: Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Nationalismus) 2.3.

Registerbearbeiter

Dr. Klaus Breuer, Heidelberg (Namen, Orte, Sachen) Pfarrerin Hannelore Hollstein, Unna (Bibelstellen) Dr. David Trobisch, Heidelberg (Namen, Orte, Sachen) 3. Artikel und Verweisstichwörter Napoleonische Epoche (H.-O. Binder) Nasiräer (K.-H. Bernhardt) Nassau (K. Dienst) Nathan (W. Dietrich) Nationalismus (C.-H. Grenholm) Nationalsozialismus (N. Frei) Nationalsozialismus und Kirchen (J. Mehlhausen) Natürliche Religion (H. Wißmann/D. A. Pailin) Natürliche Theologie (W. Spam) Natur (H. Rosenau) Natur und Ubernatur (C. Frey) Naturalistische Ethik (W. Wolbert) Naturgesetz -»Naturwissenschaft, -»Weltbild Naturphilosophie (K. Gloy) Naturrecht (F. Ricken/F. Wagner) Naturreligionen (H.-J. Greschat) Naturwissenschaft (E. Wölfel/J. Hübner) Naumann, Friedrich (I. Dingel) Nausea, Friedrich (H. Immenkötter) Nazarener (G. Ringshausen) Neander, August (J. Mehlhausen) Nehemia/Nehemiabuch (A. Tängberg) Neid (K.-H. Nusser) Nell-Breuning, Oswald von (F. Furger) Nemesius v. Emesa (F.M. Young)

1 10 12 18 21 34 43 78 85 98 107 113 118 133 185 189 225 230 235 238 242 246 254 256

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Artikel und Verweisstichwörter

Neocalvinismus -»Reformierte Kirchen Neologie -»Aufklärung Neomarxismus - » M a r x / M a r x i s m u s Neopositivismus —»Positivismus/Neopositivismus Neri, Filippo (P. Prodi) Nestle, Eberhard -»Textgeschichte, -»Textkritik Nestorianische Kirche (W. Hage) Nestorius/Nestorianischer Streit (L. R. Wickham) Neuapostolische Kirche (H. Obst) Neuchalkedonismus (P. Gray) Neuchätel (G. Hammann) Neue Religionen (P. Gerlitz) Neues Testament -»Bibel Neuendettelsau -»Hochschulen, Kirchliche Neuhumanismus (K. Prange) Neujahrsfest (F. Stolz/H. D . P r e u ß f / P . Lenhardt/H.Schröer) Neukantianismus -»Kant/Neukantianismus Neuluthertum (F.W. Kantzenbach/J. Mehlhausen) Neuplatonismus (F.-P. Hager) Neuprotestantismus (V. Drehsen) Neuscholastik -»Scholastik Neuseeland (H.-J. Greschat/P. Matheson) Neutestamentliche Zeitgeschichte -»Zeitgeschichte, Neutestamentliche Neuthomismus —»Thomas von Aquino/Thomismus/Neuthomismus Neuzeit (J. Mehlhausen/E. Heintel) New Age (K. Hoheisel) Newman, John Henry (S. Gilley) Newton, Isaak (M.J. Petry) Nicäa, ökumenische Synoden (H.C. Brennecke/H.G. Thümmel) Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis (W.-D. Hauschild) Nicephorus Blemmydes (J. A. Munitiz) Nicetas von Remesiana (H. C. Brennecke) Nicetas Stethatos (F. Tinnefeid) Nichtchalkedonensische Kirchen des Ostens -»Äthiopien, -»Armenien, -»Jakobitische Kirche, -»Koptische Kirche, -»Nestorianische Kirche, -»Orthodoxe Kirchen Niebergall, Friedrich (F. Wintzer) Niebuhr, H. Richard (J.M. Gustafson) Niebuhr, K.P. Reinhold (J.M. Gustafson) Niederlande (C. Augustijn) Niemöller, Martin (C. Nicolaisen) Nietzsche, Friedrich (M. Fleischer) Nihilismus (C. Strube) Nikephoros Blemmydes -»Nicephorus Blemmydes Niketas von Remesiana -»Nicetas von Remesiana Niketas Stethatos -»Nicetas Stethatos Nikolaus I. (J. Fried) Nikolaus II. (D. Hägermann) Nikolaus V. (A.A. Strnad) Nikolaus von Clemanges (C.P.M. Bürger) Nikolaus von Flüe (R. Gröbli) Nikolaus Kabasilas (G. Podskalsky) Nikolaus von Kues (H. G. Senger)

259 264 276 286 289 296 299

315 319 327 341 363 383

. . .

392 411 416 422 429 444 457 460 463

464 468 470 474 502 506 524

535 540 543 546 549 551 554

Karten, Diagramm/Bildquelle Nikolaus von Lyra (M. A. Schmidt) Nikolaus von Myra (A. Brückner) Nilus von Ancyra (O. Hesse) Nisibis (H.J.W. Drijvers) Nitzsch, Carl Immanuel (H. Theurich) Noachitische Gebote (D. FIusser/R. Heiligenthal) Nomadentum im Alten Testament (N.P. Lemche) Nominalismus (T. Kobusch) Nommensen, Ludwig Ingwer (L. Schreiner) Nomokanon -»Kirchenrechtsquellen Non-Jurors -»England, —»Hochkirchliche Bewegung Norbert von Xanten (K. Elm) Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche (N. Hasselmann) Normannen (T. Capelle) Normen (W.H. Schräder/W.Korff/H.Kreß) Norwegen (I. Montgomery) Noth, Martin (R. Smend) Nothelfer, Vierzehn (K. Guth) Notker Labeo (E. Hellgardt) Notwendigkeit -»Gottesbeweise; -»Kontingenz; -»Wille/Willensfreiheit Nouvelle Theologie (R. Winling) Novalis (R. Furness) Novatian/Novatianer (J.S. Alexander) Nubien (P.O. Scholz) Nürnberg (H. Weigelt) Nürnberger Anstand (R. Aulinger) Nürnberger Reichstage 1522-24, 1542/43 -»Reichstage der Reformationszeit Numeri -»Pentateuch Nunc dimittis -»Cantica Nuntien -»Gesandtschaftswesen, Päpstliches Nyberg, Samuel (M. Stausberg) Nygren, Anders (G. Wingren) Obadja/Obadjabuch (W. Dietrich) Oberlausitz, Ev. Kirche der Schlesischen -»Schlesien Oberlin, Johann Friedrich (E. Zwink) Oberursel -»Hochschulen, Kirchliche Oblaten -»Mönchtum Obrigkeit (E. Herms)

787 564 566 568 573 576 582 587 589 604

608 612 617 620 643 659 661 665 668 675 678 682 698 707

709 711 715 720

723

4. Karten, Diagramm Metropolien der Apostolischen Kirche des Ostens im Mittelalter (nach Entwurf von W. Hage) nach S. 268 Die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche. Sprengel und Kirchenkreise (aus: Das Verfassungsrecht der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Kiel '1991, S. 99) S. 613 Aufbau der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Diagramm (ebd. S. 100) S. 616 Die christlichen Königreiche in Nubien (nach: E. Dinkier [Hg.], Kunst und Geschichte Nubiens in christlicher Zeit, Recklinghausen 1970, Karte I) . . S. 689 5. Bildquelle Art. Normannen: Hochkreuz von Middleton, Yorkshire (S. 618): Umzeichnung nach Foto von T. Capelle.

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Corrigenda und Addenda

6. Corrigenda und Addenda Bd.23 S.232, 20f lies: ...anscheinend nicht groß; bestimmend sowohl für die monophysitischen wie d i e . . . Bd. 23 S. 429, 34 lies: Abraham Friesen, Reformation and Utopia. The Marxist Interpretation of the Reformation and its AnteBd.23 S.430, 29f lies: het woord 17 (1975) 39-50. - Manfred Bensing/Siegfried Hoyer, Der dt. Bauernkrieg 1524-1526, Berlin '1987. - Manfred Bensing, Thomas Müntzer u. der Thüringer Aufstand 1525, 1966 (LÜAMA R.B 3). - Ders., Bd. 23 S. 433,39 lies: v. Müntzers Liturgieübers.: Mühlhäuser Beitr. 5 (1982) 9 - 3 1 . - Ingo Warnke, Wb. zu Thomas Müntzers dt. Sehr. u. Briefen, Tübingen 1993 (Lexicographica Series Maior 50). - Zur Sprache Müntzers vgl. die Bd. 23 S. 434,6 lies: Lit!). - Hayo Gerdes, Thomas Müntzers Kampf gegen die Gottlosen: Luther 49 (1978) 7 1 - 8 4 . - Wolfgang Bd. 23 S. 434, 29 lies: chenkritik: MGB 46 (1989) 23-90. - Gottfried Maron, Thomas Müntzer als Theologe des Gerichts. Das „Urteil" - ein Schlüsselbegriff seines Denkens: ZKG 83 (1972) 195-225 = ders.: Abraham Friesen/Hans Jürgen Goertz (Hg.), Thomas Müntzer, 1978 (WdF 491) 339-382. - Peter Matheson, Thomas Müntzer's Marginal Comments Bd. 23 S. 434, 31 lies: A Language für the Common People?: SCJ 20 (1989) 603-615. - Rudolf Mau, Hl. Geist u. Hl. Schrift Bd.23 S.435.11 lies: seiner Theol.: Theol. Versuche 7 (1976) 1 2 5 - 1 4 0 . - G ü n t h e r Vogler, Thomas Müntzers Sicht der Gesellschaft Bd. 23 S. 435, 46 lies: 7 1 - 8 5 = ders., Die ganze Christenheit auf Erden. Martin Luther u. seine ökum. Bedeutung, Göttingen 1993, 81-94. - Erwin Mühlhaupt, Luther über Müntzer, Witten 1973. - Ders., Welche Sehr. Luthers