Theologische Realenzyklopädie: Band 8 Chlodwig - Dionysius Areopagita [Reprint 2020 ed.] 9783110864953, 9783110085624

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Theologische Realenzyklopädie: Band 8 Chlodwig - Dionysius Areopagita [Reprint 2020 ed.]
 9783110864953, 9783110085624

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Theologische Realenzyklopädie Band VIII

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Theologische Realenzyidopädie In Gemeinschaft mit Horst Robert Balz • Stuart G. Hall Richard Hentschke • Günter Lanczkowski Joachim Mehlhausen • Wolfgang Müller-Lauter Carl Heinz Ratschow • Knut Schäferdiek Henning Schröer • Gottfried Seebaß Clemens Thoma • Gustaf Wingren herausgegeben von Gerhard Krause und Gerhard Müller

Band VIII Chlodwig - Dionysius Areopagita

Walter de Gruyter • Berlin • NewYork 1981

Redaktion: Dr. Michael Wolter, Michael Schröter Lieferung 1 / 2 Chlodwig-Dänisch-hallische Mission ersch. Mai 1 9 8 1 Lieferung 3 Dänisch-hallische Mission — Demut ersch. August 1 9 8 1 Lieferung 4 / 5 Demut - Dionysius Areopagita ersch. November 1 9 8 1

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der Deutschen

Bibliothek

Theologische Realenzyklopädie / in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz . . . hrsg. von Gerhard Krause u. Gerhard Müller. Berlin, New York: de Gruyter. NE: Krause: Gerhard [Hrsg.] Bd. 8. Chlodwig-Dionysius Areopagita - l.Aufl. - 1981 ISBN 3-11-008-563-1

© 1981 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit Sc Comp., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Chlodwig Chlodwig (reg.

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482-Sil)

Die im folgenden vorausgesetzte herkömmliche Chronologie der Geschichte Chlodwigs ist gerade für das T a u f d a t u m verschiedentlich infragegestellt worden (dazu zuletzt Weiss; zu ihrer Beibehaltung s. Schäferdiek, Bild; Eugen Ewig: F M S t 8 [ 1 9 7 4 ] 3 6 - 3 8 ) .

Chlodwig gehört der fränkischen Königsfamilie der Merowinger an, deren Anspruch auf religiös begründete Herrscherqualifikation („Geblütsheiligkeit") in einer offenbar auch kultisch vergegenwärtigten mythischen Herleitung Ausdruck fand (Fredegar, Chron. 111,9). Er wurde ca. 4 6 6 geboren und folgt 4 8 2 seinem Vater Childerich I. ( 4 5 7 / 5 8 - 4 8 2 ) als Kleinkönig eines salfränkischen (—»Franken) Teilreichs im Raum von Tournai nach. Durch die Eroberung des einen Rest römischer Herrschaft verkörpernden Machtbereiches des Syagrius (Schlacht bei Soissons 4 8 6 / 8 7 ) gewinnt er mit dem Raum bis zur Loire eine über die Möglichkeiten fränkischen Kleinkönigtums hinausgehende Machtbasis. Nach der ostgotischen Festsetzung in Italien (seit 488) rückt er in die Interessensphäre der Bündnispolitik Theoderichs d. Gr. (471 — 526). Das schlägt sich nieder in Theoderichs Vermählung mit Chlodwigs Schwester Audofleda und dessen Verehelichung mit Chrodechildis, einer katholischen Angehörigen des an sich arianischen burgundischen Königshauses. Mit der Unterwerfung der —»Alamannen ( 4 9 6 / 9 7 ) und einem zur Annexion Aquitaniens und zu direkter Konfrontation mit Theoderich führenden Angriff auf das Westgotenreich (507) verfolgt er jedoch bald eigene politische Ziele. Dazu gehört nicht zuletzt die Umformung des fränkischen Stammesverbandes zum Frankenreich, indem er durch rücksichtslose Beseitigung aller fränkischen Kleinkönige, die man allerdings auch im Zusammenhang zeit- und milieugegebener Voraussetzungen wird sehen müssen, die gesamtfränkische Herrschaft an sich bringt. Dem Ausscheren Chlodwigs aus dem Bündnissystem Theoderichs entspricht seine Absage an ein (wohl west-)gotisches Bemühen, ihn für das gotische arianische Christentum zu gewinnen, dem sich immerhin eine seiner Schwestern vorübergehend anschloß (—»Germanenmission, arianische). Der von ihm dann mit dem Übertritt zum lateinischen katholischen Christentum beschrittene Weg ist das Ergebnis eines aus einheitlich religiös-politischem Denken sich vollziehenden Entscheidungsprozesses und darf nicht als bloße Folge zweckpolitischer Nützlichkeitserwägungen mißdeutet werden. Nachrichten darüber finden sich in einem Brief des Bischofs Avitus von Vienne(ca. 4 9 4 - 5 1 8 ) an Chlodwig, der Darstellung des —»Gregor von Tours (Hist. II, 29—31) und einem Schreiben des Bischofs Nicetius von Trier (561/65— nach 578) an Chlodoswinde, eine Enkelin Chlodwigs. Den sachlichen Zusammenhang dieser Quellen hat v. d. Steinen geklärt. Grundlegend ist der Einfluß, den Chrodechildis auf ihren Gemahl ausübte. Sie erreicht seine Zustimmung zur Taufe ihres ersten und trotz dessen Todes noch in der Taufwoche auch des zweiten Sohnes (Chlodomer, ca. 4 9 5 - 5 2 4 ) . Für Chlodwig selbst führt ihr Einfluß zu latenter Ubertrittsbereitschaft. Sie verdichtet sich in einer bedrohlichen Situation des Unterwerfungsfeldzuges gegen die —»Alamannen zum persönlichen Übertrittsgelöbnis. Verwirklicht wird es vorerst nur mit seiner heimlichen Aufnahme in den Katechumenenstand (—»Katechumenat) durch den ranghöchsten Bischof seines damaligen Machtbereichs, Remigius von Reims (ca. 459—533). Weiteren Schritten scheint zunächst das Problem der religiös-kultischen Legitimation des merowingischen —»Königtums entgegengestanden zu haben. Eine Begegnung mit dem Kult des —»Martin von Tours (vermutlich 4 9 8 ) ließ es aber durch Aufnahme des Martinspatroziniums als Ausdrucks christlicher Neulegitimation lösbar erscheinen, und nach Akklamation des gewiß entsprechend vorbereiteten Heerbannes erfolgt dann am Weihnachtstag wohl 4 9 9 die Taufe durch Remigius. Der von vornherein auf einen Vergleich mit -^»Konstantin d. Gr. abzielenden Uberlieferung davon ist bis spätestens zum 9. J h . der wunderhafte Zug zugewachsen, eine T a u b e habe eine Ampulle mit dem für die Taufliturgie erforderlichen Chrisma vom Himmel gebracht (Hinkmar, v. Remig. 1 5 ) . In dieser Ausformung ist sie dann später über eine schon von —»Hinkmar von Reims angebahnte Umdeutung der postbaptismalen —»Salbung in eine Königssalbung (Ann. Bert, ad a. 8 6 9 [ M G H . S R G 5 , 1 0 4 ] ) für die Herrscherideologie des französischen Königtums in Anspruch genommen worden.

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Chomjakow

Chlodwig selbst dürfte den Religionswechsel im wesentlichen als kultisch-rituelle Neuorientierung verstanden haben. Unmittelbare kirchliche R ü c k w i r k u n g e n zeigen sich in einer von ihm beanspruchten Verfügungsgewalt über Bistümer und andere kirchliche Stellen und der Ausübung königlicher Synodalhoheit. Es sind Begleiterscheinungen einer in gradliniger Konsequenz seines Übertritts liegenden Umgestaltung der Kirche seines M a c h t b e r e i c h s zur fränkischen Kirche, d. h. einer partikularkirchlichen Einheit im Sinne des sog. frühmittelalterlichen Landeskirchentums, als die sie sich auf dem ersten fränkischen Reichskonzil zu Orléans 5 1 1 darstellt. Zugleich bildet sein Ubertritt eine grundlegende Voraussetzung für eine allgemeine Christianisierung der Franken im Anschluß an die lateinische Kirche, auch wenn deren Durchführung für den gesamten fränkischen R a u m noch Generationen dauern sollte. Zwei M o m e n t e machen so in ihrem Miteinander die geschichtliche W i r k u n g Chlodwigs aus. Das eine ist die Begründung des fränkischen Reiches mit einer beherrschenden Stellung unter den Nachfolgereichen des weströmischen Imperiums, das zum Bindeglied zwischen dem provinzialrömischen Kulturraum Galliens und der W e l t Germaniens werden konnte, deren kontinentalen westgermanischen Siedlungsbereich es sich schließlich bis zum Beginn des 9. J h . ganz eingliederte. Und das zweite ist die von ihm vollzogene religiöse W e n d u n g mit den darin angelegten missionsgeschichtlichen Folgewirkungen für den gesamten mitteleuropäischen R a u m und darüber hinaus. Seine Regierungszeit wird so zu einem M a r k s t e i n auf dem W e g e der Entfaltung der geschichtlichen Eigengestalt Europas (—»Abendland) und der Heraufführung des ihr zugehörigen Zeitabschnittes, den man das —»Mittelalter nennt. Nicht o h n e Grund hat —»Karl d. Gr. einen seiner S ö h n e (dem dann allerdings das Geschick zufiel, glückloser Erbe seines Vaters zu werden) ihm n a c h b e n a n n t (Ludwig der F r o m m e , 814-840). Quellen Avitus v. Vienne, Ep. 4 6 , ed. R. Peiper: MGH.AA VI/1, 1 8 8 3 = 1961, 7 5 f. - Ep. austrasicae 1 - 3 (Remigius v. Reims) u. 8 (Nicetius v. Trier), ed. W. Gundlach: M G H . E p III, 1 8 9 2 , 1 1 2 - 1 1 4 . 1 1 9 - 1 2 2 . - Gregor v. Tours, Hist. II, 2 7 - 4 3 , ed. B. Krusch/W. Levison: M G H . S R M 1/1, 2 1 9 3 7 , 7 1 - 9 5 . M G H . C a p I, ed. A. Boretius, 1883, 1 f (Schreiben Chlodwigs an südgallische B i s c h ö f e ) . - M G H . C o n c I, ed. F. Maaßen, 1 8 9 3 , 1 - 1 4 (Konzil zu Orléans 5 1 1 ) .

Literatur Eugen Ewig/Knut Schäferdiek, Christi. Expansion im Merowingerreich, 1978 (KGMG II/l) 1 1 6 - 1 5 4 , bes. 1 1 9 - 1 2 7 . - A l b e r t Hauck, KG Deutschlands, Leipzig, 1 2 1 9 2 2 = Berlin/Leipzig'1958, 1 0 3 - 1 1 2 . 5 5 3 - 5 5 7 . - Karl Hauck, Lebensnormen u. Kultmythen in germ. Stammes- u. Herrschergenealogien: Saec. 6 ( 1 9 5 5 ) 1 8 6 - 2 2 3 . - W. Jungandreas/H.H. Anton, Art. Chlodwig: RGA 2 4 ( 1 9 8 0 ) 4 7 8 - 4 8 6 . - Godefroid Kurth, Clovis, Brüssel 3 1 9 2 3 . - Knut Schäferdiek, Ein neues Bild der Gesch. Chlodwigs?: ZKG 8 4 ( 1 9 7 3 ) 2 7 0 - 2 7 7 . - Kurt-Dietrich Schmidt, Die Bekehrung der Germanen zum Christentum, Göttingen, II, Lfg. 1 1940, 1 - 3 6 . - Wolfram v. d. Steinen, Chlodwigs Ubergang zum Christentum: MÖIG.E 12 ( 1 9 3 2 ) 4 1 7 - 5 0 1 , Darmstadt 2 1 9 6 3 (Libelli 103) (grundlegend). - Georges Tessier, Le Baptème de Clovis, Paris 1964. - Ders., La conversion de Clovis et la christianisation des Francs: SSAM 1 4 ( 1 9 6 7 ) 1 4 9 - 1 8 9 . - R o l f Weiss, Chlodwigs Taufe: Reims 5 0 8 , 1 9 7 1 ( G W Z 2 9 ) (Lit.). - Erich Zöllner, Gesch. der Franken, München 1 9 7 0 , 4 4 - 7 3 .

Knut Schäferdiek C h o m j a k o w , Alexei

Stepanovitsch

(1804-1860)

A. S. C h o m j a k o w wurde am 1 3 . 5 . 1 8 0 4 in M o s k a u geboren und gilt mit seinem Vetter I. Kirejewski als einer der bedeutendsten Vertreter der russischen —»Religionsphilosophie und Begründer der Gruppe der Slawophilen. N a c h einer unter dem Einfluß seiner hochgebildeten und tief f r o m m e n M u t t e r stehenden Kindheit und Jugend studierte C h o m j a k o w Theologie (ohne Priester zu werden), Philosophie, Geschichte, M a t h e m a t i k und Naturwissenschaften. Zwei Europareisen 1 8 2 5 / 2 6 und 1 8 4 7 vertieften Kenntnis und Kritik an Kultur und Kirchen des Westens. V o n Militärdienstzeiten unterbrochen, arbeitete er an der Niederschrift seiner G e d a n k e n und hinterließ, als er a m 5 . 1 0 . 1 8 6 0 in T e r n o w s k o e (Kasan) a n d e r Cholera starb, ein unvollendetes W e r k .

Chomjakow

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Persönlichkeit und Werk dieses typischen Vertreters der Adels-Intelligenzia des 19. Jh. ist charakterisiert durch ein tiefes Unbehagen an der intellektuellen Immobilität der orthodoxen Schultheologie, der Chomjakow mit laikaler Unbekümmertheit gegenüberstand. Obwohl von Theologen wie J. A. —»Möhler, J. H. —»Newman und C. —»Palmer beeinflußt, stand er in scharfem (wenn auch nicht immer überzeugendem) Gegensatz zum forensischen Denkmodell des Protestantismus und Katholizismus, das er für die autoritär-hierarchischen Strukturen und die deterministische Theologie der Westkirchen verantwortlich machte. Diesem Modell setzte er einen Entwurf entgegen, in dem der Glaube als Funktion nicht einer disparaten, sondern einer „ganzheitlichen Vernunft" (raison intégrale) einen transzendenten Seinswert der Menschheitsgeschichte und der Erscheinungswelt aufdeckt: ihre Integrität (•cel'nost'). Unter dem Einfluß —»Schellings entfaltete Chomjakow diesen Ansatz „historiosophisch" und ekklesiologisch. Innerhalb der Menschheitsgeschichte stellte er die einem negativen Determinismus unterworfenen „Kuschiten" den der Erbsünde nicht verfallenen, vielmehr mit absoluter Freiheit ausgestatteten „Iraniern" gegenüber. Der Kreuzestod Jesu trug in diesem Rahmen „irgendwie den Charakter historischer Gleichgültigkeit", sollte also nicht historisch, sondern eher metaphorisch verstanden werden (die Vorstellung von der historischen Kontingenz Jesu zeigt Ähnlichkeiten mit —»Kierkegaard). Die „Iranier" entwikkelten das Christentum zu einem alle Determinationen überwindenden, in einer universalen Freiheit begründeten Heil, das sie mit elitärem Selbstbewußtsein auch den „Kuschiten" mitzuteilen berufen sind. Wie Chomjakow das russische Volk dazu ausersehen weiß, in der Nachfolge der „Iranier" alle Völker diesem Ziel der Geschichte zuzuführen, so sieht er die russische Orthodoxie (kaum die offizielle Kirche) im Hinblick auf die anderen Kirchen vor die entsprechende Aufgabe gestellt. Sie muß sich allerdings von einem „patristischen" (Kirejewski) zu einem durch keinerlei konfessionelle Determinationen eingeschränkten, dafür aber „katholischen Bewußtsein" fortentwickeln. Dazu ist sie in der Lage, weil sie nach Auffassung der Slawophilen das „ganzheitliche", „katholische" ekklesiologische Denken der alten Christenheit bewahrt hat. Nicht autoritär-hierarchische, terminologisch fixierte oder juridisch determinierte Eingrenzungen bestimmen den ontologischen Sinn und Wert einer solchen Sozietät, sondern das religiöse Grunderlebnis der „gegenseitigen Liebe" (amour mutuel), was als Abkehr von der monologischen zur dialogischen Struktur der Kirche bezeichnet werden könnte. Eine Art universaler, „konziliärer Konzilianz", ein neues ekklesiologisches Bewußtsein, für das erst Anfang des 20. Jh. in der russischen Religionsphilosophie der Begriff der sobornost' eingeführt wurde. Der Aufbau einer solchen, sich ungebrochen als orthodox verstehenden Sozietät ist alles andere als amorph, erfolgt nach Chomjakow jedoch nicht mehr in einer vertikalen Hierarchie, sondern auf der Horizontalen partnerschaftlicher Beziehungen. Das sozietäre Gefüge der Kirche wird nicht durch starre Strukturen zusammengehalten, sondern durch das ständige Wechselspiel von Freiheit und Notwendigkeit, wie es sich aus der ethischen Forderung des amour mutuel ergibt. Eine solche Wesensbestimmung tritt an die Stelle der notae ecclesiae klassischer Ekklesiologie, deren Determinismus durch ein schöpferisches —»Geist-Verständnis in Richtung auf einen orthodox zu interpretierenden Universalismus ersetzt werden kann. Die Problematik der Gedankenwelt Chomjakows ist vielschichtig. Ihrer Bedeutung im Zeitalter der ökumenischen Zusammenarbeit der Kirchen wird man nicht ohne Kritik z. B. an dem Mythos vom „Iraniertum", dem Abbau der Geschichtlichkeit Jesu, dem Ausfall einer expliziten Soteriologie oder der Auflösung historisch gewachsener Kirchen in eine elitär-kosmopolitische Universalsozietät und seinem ekklesiologischen Utopismus gerecht werden können. — Von beträchtlicher sachlicher Relevanz ist seine Betonung der Bedeutung der Ganzheit des Humanums für eine ökumenische Ekklesiologie und Ethik, der Abbau der vertikalen zugunsten einer horizontalen Hierarchie natürlich-religiöser Werte und Repräsentationen sowie sein Neudurchdenken von Dogmatik und ökumenischer Praxis. Der von Chomjakow behauptete Gegensatz zwischen dem Rechtfertigungsgedanken der West- und der ontologisch begründeten Metamorphose der Ostkirchen weist gerade in seiner von ihm

Choral/Choralgesang

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vorgetragenen Fragwürdigkeit auf die noch zu lösende Kernfrage einer ökumenischen Lehre von der Kirche. Quellen GA: Polnoe Sobranie Socinenii, 8 Bde., 1 9 0 0 - 1 9 1 4 . - Dt. Übers.: östliches Christentum, hg. v. Hans Ehrenberg/Nikolai v. Bubnoff, München, I o. J., 1 3 9 - 2 1 4 ; II 1925, 1 - 2 7 .

Literatur R. Gal'ceva/I. Rodnjanskaja, Chomjakow, Filosofskaja enciklopedija, Moskau, V 1970, 443 f (Lit.). - Ludolf Müller, Russ. Geist u. ev. Christentum, Witten o. J., 3 8 - 5 3 . - B e r n h a r d Schultze, Russ. Denker. Ihre Stellung zu Christus, Kirche u. Papsttum, Wien 1950, 8 9 - 9 9 . -Reinhard Slenczka, Ostkirche u. Ökumene, 1962(FSÖTh 9) 6 1 - 7 9 . - E r n s t Christoph Suttner, Offenbarung, Gnade u. Kirche bei A. S. Chomjakov, 1967 (OstKSt 20) (Lit.). - Vasilij V. Zenkowskij, Istorija russkoj filosofii, Paris, I 1948, 1 8 8 - 2 1 2 ; engl.: A History of Russian Philosophy, London 1953, 1 8 0 - 2 0 5 .

Konrad Onasch Chor —»Kirchenbau, -^Kirchenmusik Choral/Choralgesang 1. Begriff 2. Der Begriff Choral in der evangelischen Kirche 1800 (Quellen/Literatur S. 9)

3. Die Wortbedeutung seit etwa

I.Begriff Der von chorus abgeleitete Begriff kam im späten Mittelalter in Deutschland zunächst als das Adjektiv choralis (musica choralis, cantus choralis) auf und wurde vorerst nur hier, in Italien und Frankreich gebräuchlich. Gemeint ist damit ursprünglich allein der einstimmige Gesang des liturgischen Chores, nach dem auch der Teil des gottesdienstlichen Raumes, in dem dieser seinen Dienst verrichtete, benannt wurde. Nachgewiesen ist das Wort choralis zuerst bei dem Musiktheoretiker Conrad von Zabern im Jahre 1474, sachlich übereinstimmend mit den älteren Bezeichnungen cantus planus oder gregorianus. Vordem gab es wahrscheinlich schon den substantivischen Plural chorales für die den Klerikerchor ergänzenden Sängerknaben, der den älteren Namen schola cantorum mehr und mehr ablöste. Da es sich bei den chorales in der Regel um arme Knaben handelte, nannte man sie auch panistae ([Brotjungen], vonpanis; vgl. Smits van Waesberghe) oder iuvenes panenses. Aus dem Jahre 1438 ist folgende Anordnung aus Speyer überliefert: Ut divinus cultus eo diligentius et decentius praesertim in cantu peragatur, statuimus, quod deinceps esse debent perpetuis temporibus octo iuvenes panenses sive chorales nuncupati bene vociferati, disciplinati et in cantu sufficienter instructi, chorum cotidie tempore divinorum respicientes [Damit der göttliche Kultus zumal beim Gesang um so gewissenhafter und ordentlicher verrichtet wird, bestimmen wir, daß fortan in den immerwährenden gottesdienstlichen Zeiten acht arme Jünglinge, auch chorales genannt, die einen guten Ruf haben, diszipliniert und im Gesang genügend unterwiesen sind, zur Verfügung stehen und im täglichen Gottesdienst den Chor bilden] (Niemöller 586). Zahlreiche Stiftskirchen hatten chorales, die in einer Lebensgemeinschaft zusammen wohnten. In der katholischen Kirche blieb der Begriff chorales allerdings nicht auf die Knaben beschränkt; in späterer Zeit, vor allem im 17. Jh., werden die stets einstimmig singenden chorales von der die mehrstimmige Kirchenmusik aufführenden capella unterschieden. Neben dem Substantiv chorales behielt der adjektivische Singular choralis in der Musiktheorie noch weit bis in das 16. Jh., ja gelegentlich noch darüber hinaus Gültigkeit. Beispielhaft zeigt dies das Enchiridion utriusque musicae practicae des bekannten Wittenberger Druckers Georg Rhau, dessen erste Auflage 1517 in Wittenberg, die zweite und dritte 1518 bzw. 1520 in Leipzig- dort wurde Rhau im August dieses Jahres Thomaskantor und im September Assessor im Universitätslehrkörper - sowie danach von 1 5 3 0 - 1 5 5 3 zahlreiche weitere Auflagen mit einem Vorwort von J. —»Bugenhagen wiederum in Wittenberg erschienen. In diesem

Choral/Choralgesang

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Werk vermittelte Rhau der Reformation die spätmittelalterliche Musiklehre und gab damit neben Martin Agricola, dem ersten lutherischen Kantor von Magdeburg, zugleich das Vorbild für weitere derartige Lehrbücher. Rhaus Titel deutet darauf, daß es neben der musica theorica zwei Arten der musica practica gibt, die musica instrumentalis und die musica vocalis. Die letztere aber ist gegliedert in musica cboralis, quae et plana et Gregoriana seu vetus dicitur und musica figuralis (Kap. De divisione musicae). Der Begriff musica bzw. cantus cboralis ist also gleichbedeutend mit der unmensurierten liturgischen Einstimmigkeit des chorus cboralis, im Unterschied zur mensurierten Figuralmusik, der Mehrstimmigkeit, des cborus figuralis (das einstimmige weltliche und auch volkssprachige geistliche Lied gehörten zur musica vulgaris). Demzufolge gab es sowohl eine Choral- wie eine Mensuralnotation, und man sprach von choraliter- bzw. figuraliter-Singen. Agricola benannte 1533 sein entsprechendes Lehrbuch Musica cboralis deutsch, und sein Magdeburger Nachfolger Gallus Dressler teilte in seiner Schrift Musicae Practicae elementa (1571) die Musik vereinfachend in musica cboralis und musica figuralis ein. Diese Klassifizierung besagt, daß die musica cboralis den gesamten Bereich der aus dem Mittelalter überlieferten gregorianischen Gesänge (—»Gregorianik), also sowohl die des (heute im Graduale Romanum zusammengefaßten) Ordinarium und Proprium Missae wie auch die des (im Antiphonale stehenden) Officium der Hören, umfaßt. Cantus cboralis ist also ein universaler Sammelbegriff für den einstimmigen liturgischen Gesang gregorianischer Herkunft. Dabei ergab sich ein allmählicher Ubergang vom adjektivischen Gebrauch des Wortes cboralis zum subjektivischen und damit auch zum deutschen Wort Choral. Dieser Wandel mag sich bereits um 1 5 0 0 angebahnt haben, während daneben das Adjektiv cboralis weiterhin gebraucht wurde. Nicht zu übersehen ist, daß der Begriff cboralis bzw. Choral noch im Zeitalter der Reformation völlig einheitlich verwendet und das volkssprachige Kirchenlied keineswegs in ihn mit einbezogen wurde; dieses nannte man Geistliches Lied oder Psalm, auch wenn es sich nicht um ein ausgesprochenes Psalmlied handelte. Noch die Psalmodia cboralis, continens antiphonas cum intonationibus, psalmos, responsoria, bymnos, introitus et caeteras cantiones missae .. . des lutherischen Kantors Bartholomaeus Gesius (Frankfurt, O. 1601) enthält ausschließlich lateinische liturgische Gesänge, und Michael Praetorius beginnt im 1. Band seines Syntagma musicum (Wittenberg 1 6 1 4 / 1 5 ) den ersten Teil De Musica chorali folgendermaßen: Plana et vetus alias dicta, quae in suis notis aequalem servat mensuram . .., Choralis scilicet Musica a Choris, ubi plurimum exercetur, denominationem habet et publicam in Ecclesia Psalmos et hymnos decantandi consuetudinem indicat... [Der ebenmäßige, auch sog. alte Choral, der in seinen Noten ein (stets) gleiches Zeitmaß hat, bzw. die Choralmusik, hat seine Bezeichnung von den Chören, in denen er zumeist ausgeführt wird, und zeigt die öffentliche Gewohnheit, in der Kirche Psalmen und Hymnen zu singen, an] (1). Der substantivische Gebrauch von cboralis ist um 1 6 0 0 allerdings offenbar bereits die Regel. Sogar die Bezeichnung „Choralbuch" für eine Sammlung gregorianischer Gesänge kam in jener Zeit gelegentlich vor, so in zwei Musikalienverzeichnissen der Leipziger Thomaskirche von 1551 und 1 5 6 4 („2 neue Choralbücher sonst genannt psalmodia"; s. Musikhss. der Thomaskirche 171.174). In der katholischen Kirche ist das Begriffsverständnis in dem dargestellten Sinne bis zur Gegenwart unverändert geblieben. Eine Erläuterung aus jüngster Zeit hat folgenden Wortlaut: „Der Choral, eine Musik liturgischer Gesänge, entstammt dem Musikgut der alten Mittelmeerländer und erreichte schon vor dem 7. Jahrhundert jenen klassischen Höhepunkt, bei dem die sammelnde, ordnende Tätigkeit Papst Gregors (+ 604) begann. . . . Heute zählen wir zur Gregorianik jene für die katholische Liturgie bestimmten Solo- und Chorgesänge, deren melodisches Material der sogenannten Diatonik entnommen ist, deren rhythmische Schwerpunkte frei, also nicht taktmäßig folgen, deren Einzeltöne keine Eigenrhythmik aufweisen, also notationsmäßig alle gleich lang sind" (Gindele 17). Die völlige Konstanz von dem, was Choral ist, hat im Laufe der Jahrhunderte Choralreformen in der katholischen Kirche freilich nicht ausgeschlossen, so z.B. die um 1600, der 1903 die Enzyklika Motu proprio Pius' X . den Cantus traditionalis entgegenstellt.

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Choral/Choralgesang 2. Der Begriff Choral in der evangelischen

Kirche

Gegenüber dem katholischen Sprachgebrauch hat das Wort ,Choral' in der evangelischen Kirche im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel erfahren; er ergab sich dadurch, daß das deutsche —»Kirchenlied in ihr liturgischen Rang erhielt und gleichberechtigt neben lateinische oder auch eingedeutschte gregorianische Gesänge trat, ja diese mit der Zeit sogar weithin oder gar völlig verdrängte (—»Liturgie). In Heinrich Isaacs berühmtem, für die Stadt Konstanz geschaffenen Choralis Constantinus, der erst lange nach seinem 1517 erfolgten Tod in den Jahren 1550 und 1555 im Druck erschien, steht das Substantiv Choralis als pars pro toto für die dort mehrstimmig bearbeiteten Gesänge, also für mensurierte Musik. Wenn dies sogar im katholischen Bereich möglich war, wieviel näher lag dann die Übertragung des deutschen Wortes ,Choral' auf das mensurierte Kirchenlied in der evangelischen Kirche. Wann dies zum ersten Mal geschah, ist bisher nicht ermittelt worden, wahrscheinlich aber in Johann Walters zweitem Lehrgedicht Lob und Treis der himmlischen Kunst Musica (Wittenberg 1564). Dort lauten die 25. und der Anfang der 26. Strophe: „Music ist ein gewunden Kranz/Und ein himmelischer Tanz:/Süßiglich jede Stimme singt/In Freuden zu der andern springt,/Concordia und Caritas/Aus Freud sich herzen, halten Maß.//Aus diesem Tanz sich hören läßt:/Choral mit Fugen ist das B e s t . . . " An das Lehrgedicht schließen sich mit neuer Uberschrift „Von den IX Musis" sieben Strophen an, in denen die menschlichen Stimmlagen besungen werden, dabei der Tenor folgendermaßen: „Mittelstimme, Tenor ich heiß,/Vorzug für andern hab im Kreis./Steh fest und halt die andern an,/Im Gesang hört man meinen Ton./Choral, mein Richtschnur, ist das Ziel,/Auf welchs sieht, wer nicht irren will" (VI, 158.160). Hier ist das Wort,Choral' gleichbedeutend mit cantus firmus; denn der Tenor ist in der älteren Mehrstimmigkeit die cantus firmus-Stimme, und da der cantus firmus in der Regel eine gregorianische Weise ist, konnte sich (wie bei H. Isaac schon) eine solche Gleichsetzung beider Begriffe ergeben. J. Walter aber war es freilich auch, der in seinem Geystlichen gesangk Buchleyn (Wittenberg 1524 u.ö.) mit dem deutschen geistlichen Tenor-Liedsatz die eigenständige Geschichte der evangelischen Kirchenmusik begründete, so daß er in seinem Lehrgedicht von 1564 beim Wort Choral auch an das deutsche Kirchenlied gedacht haben muß. Danach vollzog dann der brandenburg-preußische Kapellmeister Johannes Eccard in seinem fünfstimmigen Werk Geistliche Lieder auff den Choral oder gemeine Kirchen Melodey . . . (2 T., 1597), in dem ausschließlich der Kernbestand der lutherischen Kirchenlieder bearbeitet ist, offenbar als erster die Gleichsetzung der Begriffe,Choral' und Kirchenlied'. Das betraf freilich nur die Melodien und nicht zugleich die Dichtungen, und obendrein wurde damit die alte Lehre von der musica choralis, wie das mitgeteilte Zitat von M. Praetorius zeigt, nicht aufgegeben. Noch im Jahre 1664 spricht Heinrich —»Schütz in der „kurtzen Nachrichtung" zu seiner Weihnachtshistorie zur Unterscheidung von der neuartigen Monodie seiner Zeit von dem „alten choraliter redenden stylus (worinnen die Evangelisten in der Passion oder auch anderen geistlichen Geschichten bißher in unsern Kirchen ohne Orgel pflegen abgesungen zu werden)" (I, neben S. 1). Damit meinte er den an die gregorianische Überlieferung anknüpfenden liturgischen Gesang von Luthers Deutscher Messe (1525/26). Im gleichen Sinne wird der Begriff choraliter sogar noch im Titel des Neu Leipziger Gesangbuches (hg. v. G. Vopelius, Leipzig 1682), das J.S. —»Bach noch benutzt hat, verwendet, und in Johann Gottfried Walthers Musikalischem Lexikon (Leipzig 1732) gibt es nur einen Artikel Musica Chorale ( „ . . . in welcher alle Tact-Zeiten und Noten einander gleich sind"), während erstaunlicherweise das Stichwort Choral fehlt. Gleichzeitig aber hatte während des ganzen 17. Jh. das Wort,Choral' schon die Bedeutung von cantus firmus und daher von Kirchenliedweise, so z.B. wenn Samuel Scheidt in seinem berühmten Orgelwerk, der Tabulatura nova (Hamburg 1624), bei seinen Kirchenlied-Variationen ebenso wie in seinen Magnificat-Bearbeitungen Angaben wie coral in cantu, coral in alto usw. macht (vgl. auch das Vorwort „An die Organisten" in Band VII). Schon seit dem frühen 17. Jh. kommt in kirchenmusikalischen Werken die Angabe „auff imitation des Chorals" vor, was die motivische Verarbeitung einer Kirchenliedweise besagt (Mahrenholz). Besonders be-

Choral/Choralgesang

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merkenswert ist H. Schütz' Satz in der Vorrede „An den guthertzigen Leser" zur ersten Auflage der Psalmen Davids... in Teutsche Reimen durch D. Cornelium Beckern (Freiberg 1628): , , . . . Fürs Andere/hab ich an statt der Pausen mich der Strichlein zu ende eines jeglichen Verßleins darumb gebrauchen sollen/weil doch in derogleichen genere compositionis die Pausen nicht eigentlich observiret werden/Ja solche Arien und Melodeyen ohne Tact auch viel anmutiger nach anleitung der Wort gesungen werden können. Wolten aber jemand etliche dieser Melodeyen zu weltlich fürkommen/oder aber wann einem Componisten oder Organisten einen Choral darüber zuführen belieben möchte/der setze jhm den Discant (welcher die . . . Hauptstimme führet) mit langsamen Noten und interponirten Pausen abe . . (VII, VIII). Schütz stellt hier also frei, die cantus firmus-Noten choralmäßig zu verbreitern und zwischen den Zeilen Pausen einzulegen; daraus geht hervor, daß sich mit dem Begriff ,Choral' im 17. Jh. bereits eine bestimmte, d. h. getragene Art des gottesdienstlichen Singens verband. Das, was sich in der Umgangssprache nach und nach durchgesetzt hat und womit zugleich die Vorstellung von gravitätischem Gesang hervorgerufen wurde, das wurde gleichsam sanktioniert durch den Begriff ,Choralbuch' für das Orgel-Begleitbuch beim Gemeindegesang (—»Gesangbuch). Er wurde zum ersten Mal bei dem Choral/Gesang-Buch/auff das Clavir oder Orgel... von Daniel Speer (Stuttgart 1692) in diesem Sinne verwendet. Im Titel der Musicalischen Kirch- und Haußergötzlichkeit des Leipziger Nicolai-Organisten Daniel Vetter (nach 1708) heißt es: „ . . . daß allemahl der Choral eines jedweden Liedes auff der Orgel/nachgehends eine gebrochene Variation auff dem Spinett oder Clavicordio zu tractiren folget." Mit Choral ist hier also nicht nur eine Kirchenliedweise, sondern zugleich der vierstimmig auszusetzende bezifferte Baß und damit die unentbehrlich erscheinende Harmonisierung gemeint; obendrein aber wird der gravitätische Choralsatz durch Zeilenzwischenspielen unterbrochen. Erst von 1718 an vermehren sich seit Johann Michael Müllers Neu=aufgesetztem/vollständigen ... Psalm- und Choral-Buch (Frankfurt 1718; bei den Psalmen handelt es sich um die reformierten Genfer Psalmweisen) die Choralbücher, von denen das Neu-vermehrte Darmstädtische Choral-Buch von Christoph Graupner (Darmstadt 1728) besondere Bedeutung hatte. Georg Philipp Telemann nannte seine entsprechende Veröffentlichung zwar Fast allgemeines Evangelisches-Musicalisches Lieder-Buch (Hamburg 1730), vermerkt aber im Untertitel u. a. „ w e l c h e s . . . sehr viele alte Chorale nach ihren Uhr-Melodien und Modis wiederhergestellt..." Die Geschichte des Choralbuches ist bis gegen Mitte des 20. Jh. in zwei Phasen verlaufen. In der ersten, bis gegen Ende des 18. Jh. reichenden sind darin lediglich Melodie und bezifferte Baßstimme zu jedem Lied wiedergegeben, während sich in der zweiten seit Johann Friedrich Doles' Vierstimmigem Choralbuch oder harmonischer Melodiensammlung (Leipzig 1785) die Ausgaben mit vierstimmig ausgesetzten Begleitungen in kurzer Zeit die Regel wurden. Die Unsitte der Zeilenzwischenspiele, eine Folge allzu großer Verlangsamung des gottesdienstlichen Gemeindegesanges, überbrückte beide Phasen; sie wurde erst um die Mitte des 19. Jh. aufgegeben. Seit etwa 1950 bemüht man sich, die ausschließliche Anwendung des vierstimmig-harmonischen Satzes, vor allem bei kirchentonalen Melodien, in der Gestaltung der Choralbücher zu überwinden. Beispielhaft ist das Choralbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch (Ausg. für die Ev. Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1953 u.ö.). Daß jedoch um 1700 nicht nur die Gleichsetzung von Choral und Kirchenliedweise, sondern nun auch die von Choral und Kirchenlied überhaupt erfolgte, zeigt der Gebrauch des Wortes in den kirchenmusikalischen Werken der Zeit, vor allem in —»Kantate, der gottesdienstlichen „ H a u p t m u s i k " , und —»Oratorium. Der gleicherweise in den zumeist handschriftlich überlieferten Kompositionen wie in den in großer Anzahl gedruckten Textbüchern als solcher bezeichnete Choral (Abb. s. Bach, ed. Neumann) gehörte, insonderheit als vierstimmig-homophon gesetzter Schlußchoral in den Kantaten, zum festen Bestandteil beider Werkgattungen. Daneben aber gebrauchte z.B. J.S. Bach das W o r t , C h o r a l ' auch für Orgelchoral, so im Titel der gegen Ende seines Lebens gedruckten Sammlung Sechs Chorale von verschiedener Art auf einer Orgel mit 2 Ciavieren und Pedal vorzuspielen, der nach dem

Choral/Choralgesang

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Verleger benannten Schübler-Choräle. ,Orgelchoral' und ,Choralvorspiel'. 3. Die Wortbedeutung

seit etwa

Gebräuchlicher wurden freilich die Bezeichnungen 1800

Im Zeitalter des —Nationalismus erhielt das Choralbuch mit den nicht wegzudenkenden vierstimmigen Harmonisierungen der Kirchenliedmelodien eine eigene gottesdienstliche Funktion als „Erweckungs- und Bewegungsmittel religiöser Gefühle" (Kl. W. Franz im Halberstädter Choralbuch von 1811). Bereits in dem von Christmann und Knecht bearbeiteten Württembergischen Choralbuch (Stuttgart 1799) heißt es in der „Anleitung": „Der Choral ist der einfachste und langsamste Gesang, der nur gedacht werden kann. Diese Einfachheit und Langsamkeit aber gibt ihm nicht nur die höchste Feierlichkeit und Würde, sondern auch die anerkannteste Tauglichkeit, von einer sehr zahlreichen Menge Volks, wenn es gleich im eigentlichen Verstände nicht musikalisch ist, abgesungen zu werden" (Leit. IV, 602f).,Choral' wird zum Inbegriff des Getragenen, Feierlichen, eine Entwicklung, die sich allerdings seit langem vorbereitet hatte. Jetzt konnte folgerichtig der Ausdruck ,choralmäßig' sogar die Satzart und das Zeitmaß nichtgottesdienstlicher Instrumentalmusik kennzeichnen. Im französischen Sprachbereich wird daher bis zur Gegenwart das Wort Choral in dreifachem Sinn verwendet: „1. le choral luthérien ou chant d'assemblée monodique des églises protestantes de langue allemande . . .; 2. le type de l'harmonisation vocale, note contre note, des chants luthériens et toute composition vocale ou instrumentale utilisant d'une manière ou d'une autre le choral luthérien; 3. par extensión, une composition religieuse ou profane (ou un fragment de cette composition) caractérisée soit par la verticalità de l'écriture et le respect plus ou moins strict de la disposition des voix d'un choeur, soit par la mise en valeur d'une mélodie proche de l'hymne" (Dictionnaire de la Musique 194 f). Für den dritten Typus wird auf die Trois Chorals von César Franck (1890), bei denen es sich nicht um cantus firmus-gebundene, sondern um freie Orgelwerke handelt, ausdrücklich hingewiesen. Man darf freilich in dem protestantischen, weithin sogar allgemeinen Choral-Verständnis und der entsprechenden Praxis der nachbachschen Zeit, vor allem des 19. Jh., nicht durchweg eine psychologistische Entartung sehen. Für manch bedeutende Gestalt der Zeit war vielmehr der isometrisch-ebenmäßig ausgeglichene, getragene Choral das Symbol für Transzendenz. So formulierte Wilhelm Schlegel: „Im Choral ist aller Wechsel irdischer Leidenschaften abgelegt. Die Andacht bleibt übrig, und in den reinsten gleichförmigen Sukzessionen einer ihr gewidmeten Musik liegt in jedem Moment eine Ahnung der harmonischen Vollendung, die Einheit alles Daseins, welche die Christen sich unter dem Bilde der heiligen Seligkeit denken" (zit. nach Wiora 39). Und wenn beispielsweise Max Reger in der Motette O Tod, wie bitter bist du (op. 110) gegen Ende zu den Worten „O Tod, wie wohl tust du" der vorangegangenen Realistik einen quasi-Choralsatz entgegenstellt, dann kommt dabei weit mehr als die Absicht, religiöses Gefühl anzusprechen, zum Ausdruck. - Soweit der Begriff,Choral' im Englischen überhaupt gebraucht wird, geschieht dies im Sinn von Kirchenmusik aller Art, wie die American Choral Review zeigt. Das 20. Jh. hat seit etwa 1930 allgemein, insonderheit aber auch in der evangelischen Kirche, zu einem neuen Verständnis der Gregorianik und zu entsprechender gottesdienstlicher Praxis, ausgehend vor allem von der liturgischen Bewegung, geführt. Zwangsläufig ergab sich dabei eine begriffliche Unterscheidung von Choral im ursprünglichen Sinne und Kirchenlied. So befaßt sich Otto Broddes Choralkunde ausschließlich mit dem „gregorianischen Choral im evangelischen Gottesdienst" (Leit. IV, 3 4 3 ; s. auch 347). Auch die wichtige Arbeit Werner Brauns betrifft nicht das Kirchenlied, sondern jenen Typ von Passionskompositionen, denen der mittelalterliche gregorianische „Passionston", d.h. ein bestimmter Lektionston zugrunde liegt. Hugo Distler hatte freilich noch 1932 bei seiner Choralpassion (op. 7) den Titel im Hinblick auf die eingestreuten Kirchenliedsätze gewählt. Die neuerliche begriffliche Trennung von Choral und Kirchenlied hat sich inzwischen zwar weitgehend, jedoch nicht völlig durchgesetzt, vor allem deshalb nicht, weil für die Bezeichnung,Choral' im Sinne von Kirchenlied bei einer Anzahl von Wortverbindungen wie Choralbuch, Orgelcho-

Choral/Choralgesang

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ral, C h o r a l v o r - u n d C h o r a l n a c h s p i e l , C h o r a l f a n t a s i e , C h o r a l m o t e t t e , C h o r a l k a n t a t e , C h o r a l k o n z e r t u s w . b i s h e r k e i n E r s a t z g e f u n d e n w u r d e u n d a u c h in Z u k u n f t s c h w e r l i c h g e f u n d e n w e r d e n k a n n ; d e n n m i t all d i e s e n W o r t e n v e r b i n d e n sich k o n k r e t e g e s c h i c h t l i c h e V o r s t e l l u n g e n . Es sollte j e d o c h w e n i g s t e n s bei d e n G e s a n g b u c h t e x t e n u n d d e r e n W e i s e n f o r t a n nur noch von Kirchenliedern und Kirchenliedmelodien bzw. -weisen gesprochen werden u n d d e r b l o ß e Begriff , C h o r a l ' allein d e n l i t u r g i s c h e n G e s ä n g e n g r e g o r i a n i s c h e r H e r k u n f t v o r b e h a l t e n b l e i b e n . N i c h t in d e m e i n e n o d e r a n d e r e n B e r e i c h , s o n d e r n in d e m N e b e n e i n a n d e r b e i d e r b e s t e h t d i e B e d e u t u n g des g o t t e s d i e n s t l i c h e n S i n g e n s in d e r a b e n d l ä n d i s c h e n C h r i s t e n h e i t . D a s a b e r s o l l t e a u c h im S p r a c h g e b r a u c h z u m A u s d r u c k k o m m e n . Quellen American Choral Review. Journal of the American Choral Foundation, Inc., N e w York 1959 ff. Sämtliche v. J. S. Bach vertonte Texte, hg. v. Werner N e u m a n n , Leipzig 1974. — Johann Eccard, Geistliche Lieder zu fünf Stimmen, hg. v. Friedrich von Baußnern, 2 T., Wolfenbüttel 1928/63. - Die Musikhss. Thomaskirche Ms. 4 9 / 5 0 u. Ms. 5 1 in der UB Leipzig. Kommentiert u. bibliogr. erschlossen v. W o l f g a n g O r f , Leipzig 1 9 7 7 . - M i c h a e l Praetorius,Syntagma Musicum. I. Musicae artis Analecta, Wittenberg 1614/15, Faks.-Nachdr., hg. v. Wilibald Gurlitt, Kassel 1959. - Georg Rhnu. Fnchiridion utriusque musicae practicae (musica plana), Faks.-Nachdr. hg. v. H a n s Albrecht, Kassel 195 1. - RISM. B/VIII/1. Das dt. Kirchenlied. Krit. GA der Melodien, hg. v. Konrad Ameln/Markus Jenny/Walther Lipphardt. 1/1. Verz. der Drucke, Kassel 1 9 7 5 . - S a m u e l Scheidt, Werke Bd. VI u. VII. T a b u l a t u r a n o v a , hg. v. Christhard Mahrenholz, H a m b u r g 1953/54. - Heinrich Schütz, Neue Ausg. sämtlicher Werke, hg. v. im Auftrag der Neuen Schütz-Gesellschaft. I. Historia der Geburt Jesu Christi, Kassel 1955; VI. Der Psalter nach Cornelius Beckers Dichtungen, ebd. 1957. - Johann Walter, SW, Kassel, VI 1970. Johann Gottfried Walther, Musikalisches Lexikon . . . (1732), Faks.-Nachdr., hg. v. Richard Schaal, Kassel 1953. Literatur Walter Blankenburg, Der gottesdienstliche Liedgesang der Gemeinde: Leit. IV, 1961, 5 5 9 - 6 6 1 . Ders., Romantische Kirchenmusik heute: M u K 49 (1979) 5—13. - Martin Blindow, Die Choralbegleitung des 18. Jh. in der ev. Kirche, Regensburg 1957. - Werner Braun, Die mitteldt. Choralpassion im 18. Jh., Berlin 1960. - Otto Brodde, Ev. Choralkunde. Der gregorianische Choral im ev. Gottesdienst: Leit. IV, 1961, 3 4 3 - 5 5 7 . - Ders., Ev. Choralkunde: Die ev. Kirchenmusik. Hb. für Studium u. Praxis, Regensburg 1968, 2 0 2 - 2 4 3 . - Friedrich Buchholz, Vom Wesen der Gregorianik, München 1948. Ders., Gregorianik heute: EvTh 10 (1950/51) 2 4 1 - 2 5 3 ( = ders., Liturgie u. Gemeinde. GAufs., 1971 [TB 45] 64—79). - Dictionnaire de la Musique. Science de la Musique, hg. v. M a r c Honegger. I (A-K), Paris 1976ff. - Karl Gustav Feilerer (Hg.), Gesch. der kath. Kirchenmusik, 2 Bde., Kassel 1 9 7 2 / 7 6 . Corbinian Gindele, Lebendiger Choral, Regensburg 1951. — Karlheinrich Hodes, Der Gregorianische Choral, Darmstadt 1979. - Ewald Jammers, Der ma. Choral, Mainz 1954. - Christhard Mahrenholz, Heinrich Schütz u. das erste Reformationsjubiläum 1617: M u K 3 (1931) 1 4 9 - 1 5 9 . - Klaus Wolfgang Niemöller, Unters, zu Musikpflege u. Musikunterricht an den dt. Lateinschulen vom ausgehenden M A bis um 1600, Regensburg 1 9 6 9 . - Joachim Petzold, Die gedruckten vierstimmigen Choralbücher für die Orgel der dt. ev. Kirche ( 1 7 8 5 - 1 9 3 3 ) , Halle 1935. - Georg Schünemann, Gesch. der dt. Schulmusik, 2 Bde., Leipzig 1928/32. - Joseph Smits van Waesberghe, Musikgesch. in Bildern. III/3. Musikerziehung. Lehre u. Theorie der Musik im MA, Leipzig 1969. - Peter Wagner, Elemente des gregorianischen Gesanges, Regensburg 2 1917. - Walter Wiora, Beitr. zur Gesch. der Musikanschauung im 19. Jh., Regensburg 1965. Walter Blankenburg C h o r b i s c h o f —>Bischof Chorherren — > A u g u s t i n e r - C h o r h e r r e n , — > P r a e m o n s t r a t e n s e r , —>Stift Chrisma —»Salbung

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Christengemeinschaft

Christengemeinschaft 1. Geschichte 2 . Struktur 3 . Linien der religiösen Orientierung 5 . Kontroversen (Literatur S. 13)

1.

4. Leben der Gemeinschaft

Geschichte

Im Juni 1921 sammelte sich ein Kreis von 18 jungen Deutschen — evangelische Theologen und suchende Künstler und Akademiker, erneuerungswillig wie keine andere Gruppe, Rückkehrer aus dem Ersten Weltkrieg und Generationsgenossen der Wandervogelbewegung — um Rudolf Steiner ( 1 8 6 1 - 1 9 2 5 ; —»Anthroposophie). Emil B o c k , der spätere „ E r z o b e r l e n k e r " der Christengemeinschaft berichtet: „Unser aller brennendes Verlangen zielte auf eine religiöse Wirksamkeit. Die Krise des Zeitalters hatte in uns die Überzeugung vertieft, daß der wesentlichste Beitrag zur menschlichen Erneuerung auf dem innersten, dem religiösen Felde zu leisten wäre. Aber in den Kirchen zu wirken, schien uns unmöglich. Die zünftige Theologie verschlug uns den Atem. Nun waren wir als Einzelne oder in kleinen Gruppen unabhängig voneinander auf die überragende G r ö ß e Rudolf Steiners aufmerksam geworden. Unsere staunende Bewunderung war insbesondere dadurch erregt, daß durch die Geistesforschung [Steiners], die den Bann des M a terialismus real durchbrach, die unerwartetsten Lichter auf die Mysterien des Christentums fielen" (Vom Werden der Christengemeinschaft, 1 9 4 7 ) .

Im September bot Steiner in 29 Vorträgen im Dachsaal des Goetheanums in Dornach die erbetene „Beratung und Unterweisung". Er sah das Gelingen einer religiösen Erneuerung an drei Voraussetzungen geknüpft: Verkündigung der Heilswahrheiten ohne Benutzung der überkommenen Begriffe der Kirche, Gründung freier Gemeinden außerhalb der hergebrachten Kirchenformen und Gemeinschaftsbildung durch Kultushandlungen im Gegensatz zum Insistieren auf der rechten Lehre. Steiner machte auch von der Mitarbeit Friedrich Rittelmeyers ( 1 8 7 2 - 1 9 3 8 ) , des damaligen evangelischen Pfarrers an der „Neuen Kirche" in Berlin, der durch die Vermittlung von Michael Bauer seit 1911 mit Steiner in Verbindung stand, seine weitere Hilfe abhängig. In Breitbrunn am Ammersee fand man sich zur Vorbereitung auf eine eigene Stiftung zusammen. Mit der Wahl des Namens „Christengemeinschaft", den Steiner schon 1902 yerwendet hatte, sollte ausgesprochen sein, „daß für unser Bewußtsein die alten Kirchen nicht mehr wirklich die Gemeinschaft der Christen seien. Uber Katholizismus und Protestantismus hinaus wollten wir die dritte Kirche bauen" (Sydow: Die Christengemeinschaft 1947, 5). In Dornach feierte Rittelmeyer am 16. September die erste „Menschenweihehandlung" — so nannte man hinfort das Abendmahl — nach einer von Steiner entworfenen (der römischen Messe nachgearbeiteten) Liturgie. Man hatte das Bewußtsein, „den für unsere Zeit neu geoffenbarten Sakramentalismus auf Erden" begründet zu haben. Die Teilnehmenden, ein „Kreis von Geprüften, in den sich die Figuren höherer hierarchischer Ordnungen einzeichneten", zogen nun zur Erfüllung eines „Priesterauftrags" in die deutschen Städte und sammelten im Bildungsmilieu esoterische Gruppen. Man erfuhr: „Uberall gab es Menschen, die auf uns warteten, als hätten sie bereits vor ihrer Geburt von der geistigen Welt auf die Erde herunterschauend mit uns den Beschluß zur Begründung der Christengemeinschaft gefaßt" (Bock, a.a.O.). Das Verbot der Christengemeinschaft im Juni 1941 bedeutete einen tiefen Einschnitt. Alle Verlagsbestände wurden eingestampft. Die Glieder der Gemeinden überstanden die Zeit des Verbots. Sie wußten: „Der Strom unseres sakramentalen Lebens [war] nicht überall unterbrochen" (E.Bock: Mitt. aus der Christengemeinschaft, Februar 1946 = Stählin 27). 2. Struktur Die Christengemeinschaft umfaßt in der Bundesrepublik ca. 70, in der DDR ca. 30 Gemeinden. Auch in anderen europäischen Ländern, in Amerika und in Südafrika sammeln sich Anhänger. — Ihr Zentrum hat die Christengemeinschaft in Stuttgart, dem Ort der größten Gemeinde. Hier hat der „Erzoberlenker", das höchste Leitungsamt, seinen Sitz. Der erste Erzoberlenker war Friedrich Rittelmeyer, der 1938 von Emil Bock ( 1 8 9 5 - 1 9 5 9 ) abgelöst

Christengemeinschaft

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w u r d e ; auf diesen folgte 1959 Rudolf Frieling (geb. 1901). 1933 wurde in Stuttgart das Priesterseminar gegründet, das nach der Zerstörung im Krieg 1953 wieder aufgebaut wurde. Auch die reiche Publikationsarbeit des Christengemeinschafts-Verlages ,Urachhaus' h a t hier ihren Ort. Die Zeitschrift Die Christengemeinschaft. Monatsschrift zur religiösen Erneuerung erscheint seit 1924. Die Hierarchie, an deren Spitze der Erzoberlenker steht, ist in „ O b e r l e n k e r " , „ L e n k e r " und „Priester" gegliedert, doch sind auch Laien in „Ältestenkreis e n " vertreten. Seit 1948 treten Vertreter der Ältestenkreise zu einer Delegiertenkonferenz zusammen. Die Pfarrer sammeln sich in einer „Pfarrersynode". 3. Linien der religiösen

Orientierung

Die Christengemeinschaft schloß sich frei an Rudolf Steiners Weltbild an, innerhalb dessen Raum f ü r „übersinnliche Wirklichkeiten" ist. Die kirchliche Theologie wird demgegenüber als ausgeliefert an eine vom Materialismus bestimmte Weltanschauungslandschaft beurteilt. R. Frieling spricht von einem „absoluten Gehör der Seele". Menschen, die dieses absolute Gehör besitzen, unterscheiden unfehlbar die echten und die falschen Töne. Ein solches Gehör ist aktiviert beim H ö r e n Christi, der „ k o n k r e t e n allerhöchsten Geistperson". Von hier aus ergibt sich eine ergebnisreiche Bibelexegese, die nicht auf historisch-philologische M e t h o d i k angewiesen ist. D a f ü r , d a ß die historisch-philologische M e t h o d i k jedoch nicht ignoriert wird, können als Beispiel R. Frielings Schriften Agape (Stuttgart 1967) und Die Verklärung auf dem Berge (ebd. 1969) dienen. Die Christengemeinschaft will das christliche Leben dogmenfrei halten. Rittelmeyer, der A.v. —»Harnacks Kritik am Dogmatismus ü b e r n o m m e n hatte, betont: „Wir haben in der Christengemeinschaft keine Dogmen mehr, wir sind fest verbunden im Kultus. Die Geistesheimat, die da auch uns gegeben ist, ist eine freilassende" (Theol. u. Anthroposophie, 1930). In liturgischem Gebrauch steht ein von Steiner formuliertes Credo, das zur umrißhaften Bezeichnung des geistigen Raums, innerhalb dessen sich das sakramentale Leben entfaltet, dient (vgl. Hb. 288). Der erste Artikel versteht Gott als „geistig-physisches Gotteswesen", als „Daseinsgrund der Himmel und der Erde". Die persönliche Anschauung des Gotteswesens, „das väterlich seinen Geschöpfen vorangeht", wird dabei keineswegs ausgeschlossen. Die Menschenweihehandlung überhaupt ist ein „Gemeindegebet, das G o t t den Vater und Christus unmittelbar mit betendem ,Du' und ,Dein' a n r e d e t " . Eine reiche trinitarische Spekulation wird entfaltet, nicht ohne U m d e u t u n g der kirchlichen Trinitätslehre. Die „ R a u meswelt" läßt in ihrer majestätischen Weltenruhe das alles Dasein tragende Wesen des Vaters ahnen. Der Werdestrom der Zeit offenbart den Sohn als die schöpferische Seite der Gottheit. Dem Geist ist das menschliche Bewußtsein davon zu verdanken (A.Schütze). Von ihrem bestimmten Gesichtspunkt aus sucht die Christengemeinschaft A n k n ü p f u n g an geschichtliche Traditionen, so schließt sie sich an die deutsche —»Mystik, an —»Paracelsus, Valentin —»Weigel und J a k o b —»Böhme an — Geächtete der Kirche, die Steiner „in die Gegenwart hereinrief", nicht an die „dogmatisch verhärtete" kirchliche Theologie. Die Menschen gelten der Christengemeinschaft als zu vollem Bewußtsein veranlagt, fähig, dem Gottes wort zu respondieren. Der Sündenfall ist ihr eine o f f e n b a r von Gott zugelassene Tatsache. Nachdem er geschehen ist, kann er durch die Erlösungstat Christi zum Guten gewendet und in den Dienst der immer bewußter verlaufenden Ich-Entwicklung gestellt werden. Dadurch, daß das fehlerhafte Verhalten des Menschen von seinem Wesen her gedeutet ist, der Mensch mit dem Gnadenimpuls dann aber arbeiten muß, damit der Prozeß der Vergeistigung seinen Fortgang nehme, ist nach kirchlichem Urteil das G r u n d p r o b l e m , um dessen Bewältigung es in der Heilsgeschichte geht, verschoben. 4. Leben der

Gemeinschaft

Mitten in einer liberalprotestantischen Umwelt, der das Sakramentsverständnis abhandengekommen war, fand die Christengemeinschaft in der Sakramentalität den H e r z p u n k t ihrer gläubigen Existenz. „Will man sagen, die Christengemeinschaft bringt einen neuen Sa-

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Christengemeinschaft

kramentalismus, so ist das richtig, wenn man unter Sakrament nicht das Intellektualistisch-Ausgedörrte versteht wie in der evangelischen Kirche und nicht das Magisch-Isolierte wie in der katholischen, wenn m a n versteht, daß Christus alles, was er berührte, was er nur anschaute, zum Sakrament machte, zum Erdenträger göttlicher Wesenserstrahlung, d a ß jedes Wort, das er sprach, Sakrament w a r " (Rittelmeyer). Christi Erdenleib gilt als Urhostie, als erstes wieder ganz transsubstantiiertes Stoffgebilde der Erde. Damit begann der Weltprozeß, der die Transsubstantiation der Erdenstofflichkeit in reine Geistleiblichkeit zum Ziel hat. Die Verwandlung geht von Christus auf den Menschen über. Mit den Kräften, die sakramental in den Menschen einströmen, wird er zum Priester im kosmischen R a u m . Der das Sakrament empfangende Mensch ist Umschlagplatz des Kosmos in der entscheidenden Weltperiode des Rückschwungs zur Geistigkeit. Die Taufe der Christengemeinschaft rechnet mit der Präexistenz der sich verkörpernden Seele — so wie auch der Kultus, der sich auf Sterbende und Verstorbene bezieht, auf die „Erkenntnis von einem Weiterleben der Seele nach dem T o d e " gegründet ist. K.B. Ritter fragt, o b sich in der Christengemeinschaft „eine genuin christliche Erneuerung des Sakraments" ankündige: „Die am Ausgang des Mittelalters festgelegte Siebenzahl wird zum Anlaß, ein System des sakramentalen H a n d e l n s zu begründen, das von dem U r a n f a n g des menschlichen Lebens und von den seinen natürlichen Ablauf bestimmenden Ereignissen ausgeht" (Stählin 85 f). Die Glieder u n d Freunde der Christengemeinschaft leben jedoch nicht n u r im liturgischen Geschehen, sondern auch von einer reichen Literatur u n d einem faszinierenden Vortragswesen. Alle, die für diese Gemeinschaft reden und schreiben, zeigen sprachliche Stileinheit. N a t u r b e z i e h u n g und Interpretation geistiger P h ä n o m e n e sind hier v e r w o b e n : So erfolgt die Reise nach D o r n a c h zur G r a b l e g u n g Steiners, des „ L e h r e r s " , unter einem M o n d , dessen „ d u n k l e Scheibe", von goldener Schale umschlossen, die sakramentale Wegzehrung für den T o t e n symbolisiert (R.Meyer). D a ß die J o r d a n t a u f e Christi 4 0 0 m unter dem Meeresspiegel an der tiefsten Stelle der Erdoberfläche s t a t t f a n d , drückt den Weg des Christusgeistes „zur E r d e " hin aus. G e b u r t s g r o t t e u n d G r a b g r o t t e Christi zeigen dieselbe Bewegungsrichtung an, die sich im U n t e r t a u c h e n der G e m e i n d e in K a t a k o m b e n u n d Krypten fortsetzt (K. v. Wistinghausen). Der „ d a m a l s seelisch noch nicht voll mit der Erde v e r b u n d e n e M e n s c h " w u r d e so „auf sein Ziel verwiesen, die Erde religiös ernst zu n e h m e n " .

5.

Kontroversen

In seiner evangelischen Frühperiode hatte sich Rittelmeyer zu dem Freundeskreis der von M a r t i n —>Rade herausgegebenen liberalen Zeitschrift Die Christliche Welt gezählt. In Beiträgen dieser Zeitschrift spiegelt sich die erste Auseinandersetzung zwischen der Christengemeinschaft und kirchlichen Theologen. Rittelmeyer selbst urteilt: „Damals dachte ich: Dort, w o man die Erde u m g r ä b t u n d das U n k r a u t ausrodet - also im Freundeskreis der Christlichen Welt — da würde auch a m ersten einmal das N e u e Wurzel schlagen können. Das erwies sich später als eine T ä u s c h u n g . " Erste evangelische Gegner waren F. —>Gogarten, der die „übersinnlichen Welten", mit denen die Christengemeinschaft in Verbindung stehen wollte, nicht akzeptierte (ChW 35 [ 1921 ] 19. 5 9 1 - 5 95. 725 - 7 2 9 ) , und Heinrich Frick, der Rittelmeyer vorwarf, seine persönliche E r f a h r u n g so anzusehen, als ob sie das Gesamtschicksal der Gegenwartstheologie widerspiegele. Der Rat der EKD beschloß am 3 1 . 5 . 1 9 4 9 , die in der Christengemeinschaft vollzogene Taufe nicht anzuerkennen, in der neben Wasser auch Salz und Asche als Elemente konstitutiv sind. Die Stirn des Kindes wird mit Wasser in Form eines Dreiecks benetzt, das Kinn mit Salz in Vierecksform berührt, die Brust mit Asche bekreuzigt. Ausdeutend sagt W. Salewski, das Salzkristall sei Sinnbild des väterlichen Daseinsgrundes, aus dessen Weltensubstanz die Erdenstoffe stammen. Im Wasser begegne die Seele dem Leib des Sohnes, der Ströme lebendigen Wassers aussendet. In der Asche begegne sie dem alles erneuernden Geistfeuer. Die Handbewegungen deutet Frieling so: „ D a s Strömen - Schöpferisches im Menschen — möge sich in dem göttlichen Dreitakt ergießen". Das Viereck sei altes Mysterien-Wahrbild, in dem sich das Bewahrende offenbart. Als A n t w o r t auf die Nichtanerkennung ihrer Taufe verschärfte eine Sommertagung von 2 0 0 0 Gliedern der Christengemeinschaft August 1950 in Stuttgart die Kritik am kirchlichen Christentum. Den V o r w u r f , die Christengemeinschaft

Christentum

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stelle e i n e n e u e G n o s i s d a r , n a h m e n k i r c h l i c h e T h e o l o g e n z u r ü c k , d a R . F r i e l i n g u n d E . S c h ü h l e 1 9 6 2 p r ä z i s i e r t h a t t e n , d a ß n a c h i h r e r G n o s i s d e u t u n g diese B e w e g u n g z w a r C h r i stus in s e i n e r k o s m i s c h e n G r ö ß e zu e r f a s s e n v e r s u c h e , a b e r n i c h t b e g r i f f e n h a b e , wie C h r i s t i g ö t t l i c h e s W e s e n aus k o s m i s c h e n H ö h e n d e n W e g z u r M e n s c h w e r d u n g u n d z u m K r e u z e s t o d f a n d . A u f den k i r c h l i c h e n V o r w u r f , die C h r i s t e n g e m e i n s c h a f t k e n n e zwei O f f e n b a r u n g s q u e l l e n , r e a g i e r t e die F ü h r u n g der C h r i s t e n g e m e i n s c h a f t m i t d e m A r g u m e n t , in der T a t h a b e S t e i n e r n e u e O f f e n b a r u n g e r s c h l o s s e n , a b e r d o c h n u r in d e m S i n n e , d a ß h i e r ein „ O r g a n für O f f e n b a r u n g " e r w e c k t w e r d e . M i t e r n e u t e n D i a l o g e n 1 9 6 2 u n d 1 9 6 9 b e k u n d e t e der R a t d e r E K D , d a ß er der C h r i s t e n g e m e i n s c h a f t die C h r i s t l i c h k e i t n i c h t a b s p r e c h e n , n o c h e i n e weitere B e s i n n u n g ü b e r das V e r h ä l t n i s K i r c h e — C h r i s t e n g e m e i n s c h a f t a b s c h n e i d e n w o l l e . D i e A u f n a h m e der C h r i s t e n g e m e i n s c h a f t in den W e l t r a t der K i r c h e n ist seit D e z e m b e r 1 9 5 0 infolge einer Ablehnung der E K D blockiert. Quellen Das umfangreiche Schrifttum der drei Erzoberlenker, Friedrich Rittelmeyer, Emil Bock, Rudolf Frieling, ist aufgeführt im Hb. rel. Gemeinschaften (s. u.), 2 9 7 - 2 9 9 . - Zs.: Die Christengemeinschaft. Monatsschr. zur rel. Erneuerung, Stuttgart 1 9 2 4 - 1 9 4 1 . 1 9 4 6 ff. - Vgl. auch das Verzeichnis des Verlages Urachhaus, Stuttgart. Literatur H. Frick, Anthroposophische Schau u. rel. Glaube, Stuttgart 1923. — Hb. rel. Gemeinschaften, Gütersloh 1 9 7 8 , 2 8 5 - 3 0 0 (Lit.). - Friedrich Heyer, Konfessionskunde, Berlin 1 9 7 7 , 7 3 5 - 7 4 2 (Lit.). Kurt Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, Stuttgart " 1 9 6 8 , 3 9 3 - 4 3 1 (Lit.). - Hans-Diether Reimer/O. Eggenberger, . . . neben den Kirchen, Konstanz 1 9 7 9 , 3 3 5 - 3 6 1 (Lit.). - Wilhelm Stählin (Hg.), Evangelium u. Christengemeinschaft. Aus der Arbeit einer Kommission „Ev. Kirche u. Anthroposophie", Kassel 1953. Friedrich Heyer Christenlehre —»Katechetik, —»Religionsunterricht Christentum I. Einheit und Vielfalt cfcs Christentums 2. Die hebräische Wurzel 3. Das Wesen des Christentums 4 . Gestaltwandel des Christentums 5. Christentum und Christenheit (Anmerkungen/Literatur S. 21) I. Einheit

und

Vielfalt

des

Christentums

D a s C h r i s t e n t u m (der A u s d r u c k X Q i O T i a v i O f i ö g f i n d e t sich z u e r s t bei —»Ignatius v o n A n tiochien [ M a g n 1 0 , 1 . 3 ; Phld 6 , 1 ; R o m 3,3]) hat i m V e r l a u f einer zweitausendjährigen Ges c h i c h t e viele G e s t a l t e n a n g e n o m m e n und viele S p a l t u n g e n h i n g e n o m m e n . D a s J a h r 1 0 5 4 b r i n g t die e n d g ü l t i g e E n t z w e i u n g z w i s c h e n d e m a b e n d l ä n d i s c h e n u n d d e m m o r g e n l ä n d i s c h e n C h r i s t e n t u m (—»Schisma). D a s 1 6 . J h . f ü h r t z u r T r e n n u n g z w i s c h e n der r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e n K i r c h e u n d d e n K i r c h e n der — » R e f o r m a t i o n in l u t h e r i s c h e r , r e f o r m i e r t e r u n d ang l i k a n i s c h e r A u s p r ä g u n g . W e i t e r e E n t f a l t u n g e n a u f d e m B o d e n d e r R e f o r m a t i o n w a r e n die —»Presbyterianer, der — » K o n g r e g a t i o n a l i s m u s , d e r — » M e t h o d i s m u s , die —»Baptisten, die —»Quäker,

die

Herrenhuter

Brüdergemeine

(—»Brüderunität/Brüdergemeine),

die

—»Heilsarmee. D e r F e u e r b r a n d , d e n J e s u s a u f die E r d e g e w o r f e n u n d d u r c h s e i n e n T o d b e siegelt h a t ( L k 1 2 , 4 9 ) , h a t in aller W e l t g e z ü n d e t . D a v o n z e u g e n die —»Jungen K i r c h e n i m a f r i k a n i s c h e n u n d a s i a t i s c h e n R a u m . D a s C h r i s t e n t u m stellt sich d a r in — » V o l k s k i r c h e n u n d F r e i w i l l i g k e i t s k i r c h e n . E s h a t s e i n e n N i e d e r s c h l a g g e f u n d e n in der F r ö m m i g k e i t der —»Mystik, in g r o ß a r t i g e n D e n k l e i s t u n g e n der — » S c h o l a s t i k , in —»Liturgie u n d — » K i r c h e n r e c h t , in v o r b i l d l i c h e n W e r k e n d e r - n > D i a k o n i e , in h e r r l i c h e n S c h ö p f u n g e n der - ^ M a l e r e i , d e r D i c h t u n g u n d der —»Musik. A u c h K e t z e r u n d —»Sekten s i n d d e m C h r i s t e n t u m z u z u z ä h l e n , m ö g e n sie i m m e r h i n d a s christliche W a h r h e i t s g u t durch eigenwillige Z u t a t e n oder Abstriche belastet h a b e n . So darf m a n als e i n e „ d r i t t e K r a f t "

i m C h r i s t e n t u m g e l t e n lassen die —»Zeugen J e h o v a s ,

die

— » N e u a p o s t o l i s c h e n G e m e i n d e n , die —»Adventisten, die ^ M o r m o n e n , die —»Pfingstbewe-

Christentum

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gung, die —»Christian Science, die Neue Kirche nach der Lehre —»Swedenborgs und die ^•Christengemeinschaft. Einen weiten R a u m nimmt in der Neuzeit das konfessionslose Christentum ein. In der Sprache von Paul —»Tillich zu reden: neben der „ m a n i f e s t e n " —»Kirche besteht eine weit verstreute „latente" Kirche anonymer Christen, die das extra ecclesiam nulla salus längst aufgegeben haben und deren christliche Gesinnung in W o r t und Wandel gleichwohl unbestreitbar ist. N i c h t mehr dem Christentum zuzuzählen sind trotz täuschender N a m e n s g e b u n g die sog. Jugendreligionen: „Die Kinder Gottes" oder „Die Vereinigungskirche", deren Führergestalten göttliche Verehrung für sich in Anspruch nehmen bei gleichzeitiger erbarmungsloser Ausbeutung ihrer Anhängerschaft (—»Religionen, Neue). M a n kann versuchen, die Vielfalt all dieser Erscheinungen positiv zu deuten. —»Zinzendorf hat die Überzeugung vertreten: Wie sich in der N a t u r Gottes Schöpferreichtum in mannigfaltiger Art zeigt, so wiederholt sich das gleiche Grundgesetz im Bereich der Gnade. Einheitlichkeit und Einförmigkeit wären langweilig. D a r u m soll man sich freuen, wenn sich der Leib Christi in vielen Konfessionen darstellt. Jede Kirche soll das ihr besonders anvertraute Gut sorgsam pflegen und sich gleichzeitig über alles freuen, was der Nachbarkonfession an Erkenntnis und Gestaltungskraft von Gott her zuteil geworden ist. 1 So wohlwollend das Bild von dem einen Baum mit den vielen Ästen und Zweigen gemeint ist, nüchtern betrachtet ist die Pluralität der christlichen Kirchen und Gemeinschaftsbildungen als eine Tragödie, ja als „ein erschreckender Widersinn" (Schütz) zu bezeichnen, w o r a n alle Beteiligten gemeinsam mit Schuld tragen. Gewiß wird das Christentum immer etwas annehmen von dem unterschiedlichen Boden, in den hinein es gepflanzt worden ist. Es gibt ein russisches, ein indisches, ein japanisches, ein germanisches Christentum. Eine Theologie der schwarzen Völker befindet sich im Werden. Aber diese Einfärbungen entschuldigen nicht die zahllosen Spaltungen, die im eindeutigen Widerspruch stehen zu Joh 17,21 ( „ d a ß sie alle eins seien, gleich wie du, Vater, in mir und ich in dir"). W e n n in der Weltchristenheit nach der Katastrophe der großen Kriege um die Wiederherstellung der verloren gegangenen Einheit angelegentlich gerungen wird (—»Unionsbestrebungen), dann tritt ganz von selbst die Frage in den Vordergrund: Was ist der ursprüngliche Kern? Gibt es einen unaufgebbaren Bestand, an dem festzuhalten ist, wenn das Christentum seine Zeit überdauernde Lebenskraft behalten soll? Die Antwort liegt in dem Hinweis auf die geschichtliche Gestalt Jesu. Diese aber kann n u r recht verstanden werden, wenn zuvor auf die Botschaft des Alten Testaments gehört worden ist. Das Alte Testament war die Bibel, in der Jesus gelebt hat. Die Urchristenheit hat diese Urkunden mit dem Neuen Testament zu einem Kanon vereinigt. Es hat Theologen gegeben (—»Marcion, -H>Schleiermacher, Adolf von —»Hamack), die diese Verbundenheit f ü r ein Unglück gehalten haben, die für ein Auseinanderreißen der beiden Testamente eingetreten sind. Immer aber wird das Evangelium verfälscht, wenn die Christenheit das Alte Testament fallen läßt. 2 2. Die hebräische

Wurzel

Der —»Gott des Alten Testaments (—»Jahwe), unter dessen Herrschaft sich Patriarchen und Propheten gestellt wissen, ist ein Gott, der spricht, unter dessen Anruf Herz und Gewissen des Menschen getroffen wird. Das W o r t ist das M e d i u m der Gemeinschaftsstiftung zwischen Himmel u n d Erde. Dem Wort Jahwes gegenüber k a n n man nur hören und gehorchen oder sich taub stellen und sich dadurch im Ungehorsam verhärten. Das Wort, das von Gottes lebendigem Reden ausgeht, offenbart sich in drei Realitäten, in —»Schöpfung, —»Gesetz und —»Geschichte. Schöpfung bedeutet für das hebräische Bewußtsein die völlige Abhängigkeit des Geschöpfes von seinem Schöpfer. Er kann die Kreatur jederzeit zu Staub zerfallen lassen, indem e r d e n Lebensodem wegnimmt (Ps 104,29). Schöpfung schließt zugleich in sich den Lobpreis auf den schaffenden Segen Gottes in allen sichtbaren Gütern der Erde. Das Alte Testament weiß u m die leidvolle G r u n d s t r u k t u r dieser Weltgestalt. Aber m a n sucht die Ursache für diesen J a m m e r nicht wie in der —»Gnosis in dem Pfusch werk eines Demiurgen. Die bittere Wur-

Christentum

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zel allen Übels liegt zuletzt allein in der s c h u l d h a f t e n A b k e h r des M e n s c h e n von dem, der die Quelle alles Lebens ist. Weil das Böse nicht aus der leiblichen N a t u r s t a m m t , wie der dualistisch interpretierende N e u p l a t o n i s m u s (—»Plato/Platonismus)meint, s o n d e r n in der Abw e n d u n g von G o t t , in der A u f l e h n u n g gegen G o t t seinen G r u n d hat, d a r u m h a t es keinen Sinn, die S c h ö p f u n g zu s c h m ä h e n u n d zu fliehen, w o h l aber gilt es zu bedenken, wie das M e n s c h e n h e r z zurecht g e b r a c h t w e r d e n k a n n . D a z u h a t G o t t selbst einen A n f a n g g e m a c h t in B u n d e s s c h l u ß u n d Gesetzgebung. D a n k dieser Initiative soll die v e r d o r b e n e S c h ö p f u n g wiederhergestellt u n d ihrem Vollendungsziel e n t g e g e n g e f ü h r t w e r d e n . D a r u m wird Israel aus d e m Gestein der Völkerwelt h e r a u s g e b r o chen u n d zum Volk der V e r h e i ß u n g b e r u f e n , nicht weil es f r ö m m e r w ä r e als Edom u n d M o a b , als Assur, Ägypten oder Babylon, s o n d e r n weil es G o t t in seiner Freiheit gefallen h a t , an diesem Volk den Ernst seiner Gerichte u n d den R e i c h t u m seiner G ü t e k u n d zu m a c h e n . An einer Stelle in der Welt wird ein Baustein „ m i t K o n z e n t r a t i o n der g r ö ß t e n K r a f t auf kleinstem R a u m " ( H e r m a n n —»Bezzel) zubereitet. V o n da aus soll das heilsame Beginnen fortschreiten, u m alle Völker als lebendige Bausteine in den g r o ß e n T e m p e l b a u Gottes einzufügen ( Z e p h 3,9). Die G e b o t e Gottes, die das Bundesvolk d u r c h M o s e e m p f a n g e n hat, sind ihrem Wesen n a c h „heilig, gerecht u n d g u t " ( R o m 7,12). Sie sind als W o h l t a t e n z u m Schutz des Lebens gemeint. W e r in ihrer Bahn läuft, h a t die V e r h e i ß u n g dieser u n d der z u k ü n f t i g e n Welt. In der A u f l e h n u n g gegen diese gültigen O r d n u n g e n e r f ä h r t der M e n s c h G o t t als den Richter, der seiner nicht spotten läßt. Der S c h u l d i g g e w o r d e n e aber f r a g t sich b a n g e n Herzens, w o m i t er G o t t versöhnen k ö n n e . Der alttestamentliche O p f e r k u l t h a t von dieser Gewissensnot her seinen Ausgang g e n o m m e n (Mi 6,6 f). Für das hebräische Daseinsverständnis ist das lineare Z e i t d e n k e n charakteristisch. „ D i e A u s n a h m e , die Israel in dieser H i n s i c h t im alten O r i e n t bildet, g e h ö r t zu den d e n k w ü r d i g sten P h ä n o m e n e n der alten Z e i t " ( M a a s 39). M a r t i n —>Buber h a t d a r a u f a u f m e r k s a m gem a c h t , d a ß für das jüdische Bewußtsein der Zeitsinn ungleich l e b h a f t e r ausgeprägt ist als der R a u m s i n n . D a r u m ist „ d i e a d ä q u a t e s t e künstlerische A u s d r u c k s f o r m der J u d e n die spezifische Z e i t k u n s t , die M u s i k " ( M . Buber, Reden über d a s J u d e n t u m , 1 9 2 3 , 57). Es gibt geschichtliche Stunden von einmaliger T r a g w e i t e . W e n n ein b e s t i m m t e s Ereignis geschehen ist (die B e r u f u n g - » A b r a h a m s , der Auszug aus Ägypten [—> E x o d u s m o t i v ] , das babylonische —>Exil, die H e i m k e h r aus der G e f a n g e n s c h a f t ) , d a n n ist alles anders als zuvor. Keiner k a n n d a h i n t e r zurück. Auch die N a c h g e b o r e n e n sind in die A u s w i r k u n g eines solchen Geschehens mit h i n e i n g e n o m m e n . Für das C h r i s t e n t u m ist diese A u f f a s s u n g v o m Wesen der Zeit gleic h e r m a ß e n bedeutsam. Wer sich zu der zyklischen Z e i t a u f f a s s u n g Ostasiens b e k e n n t , für die alles Vergängliche n u r ein Gleichnis ist, findet w e d e r z u m Alten noch z u m N e u e n T e s t a m e n t den Z u g a n g . Dem erwartungsvoll in die Z u k u n f t gerichteten Blick entspricht ein tiefes Verstehen f ü r den Z u s a m m e n h a n g der G e n e r a t i o n e n . M a n f ü h l t sich nicht als ein von a n d e r e n getrenntes I n d i v i d u u m , das einsam auf sich selbst gestellt ist. M a n e m p f i n d e t sich als „ V o l k s p e r s o n " , w o sich einer für den a n d e r e n ü b e r die Geschlechterfolge hin v e r a n t w o r t l i c h weiß in der Solidarität g e m e i n s a m e r Schuld u n d in der G e w i ß h e i t , d a ß des Vaters Segen den Kindern H ä u ser baut. D a s Ziel der Wege G o t t e s ist ein heiliges Volk u n d nicht n u r die Beseligung vereinzelter Seelen. Der persönliche G o t t , der seinen Willen in der Heiligkeit der Gesetzesforder u n g k u n d tut, der die S c h ö p f u n g segnend in seinen H ä n d e n hält, der d e n Stromlauf der Zeit d a r a u f h i n l e n k t , die abgefallene M e n s c h h e i t h e i m z u h o l e n , das alles sind wesentliche M e r k male für die Struktur, die J u d e n t u m u n d C h r i s t e n t u m m i t e i n a n d e r verbindet. 3. Das Wesen des

Christentums

Der G o t t Israels w a r auch der G o t t Jesu. Jesus steht G o t t g e g e n ü b e r in der H a l t u n g des G e h o r s a m s u n d des V e r t r a u e n s . Er weiß u m die Heiligkeit des Gesetzes. Er bestätigt das Geb o t der G o t t e s - u n d Nächstenliebe. Er bezeugt Gottes W a l t e n in N a t u r u n d Geschichte. Er lebt in der E r w a r t u n g des neuen Äons, der den alten ablösen w i r d .

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Christentum W o r i n besteht das N e u e in der V e r k ü n d i g u n g J e s u ? E r bezeugt sein K o m m e n in die W e l t

als den A n b r u c h einer Z e i t e n w e n d e , als den B e g i n n der K ö n i g s h e r r s c h a f t G o t t e s a u f Erden. Er deutet den Sinn seiner Sendung als die Erfüllung aller p r o p h e t i s c h e n H o f f n u n g und Erw a r t u n g (Lk 4 , 2 1 ) . 3 D i e J ü n g e r fasten nicht. Ihr M e i s t e r wird deswegen zur R e d e gestellt. Um die A n t w o r t , die die G e g n e r d a r a u f hin erhalten, voll zu ermessen, m u ß m a n wissen, d a ß die H o c h z e i t für das h e b r ä i s c h e B e w u ß t s e i n uraltes Sinnbild und Gleichnis für den A n b r u c h der messianischen Heilszeit ist. „ W i e k ö n n e n die H o c h z e i t s g ä s t e fasten, w ä h r e n d der B r ä u t i g a m bei ihnen i s t ? " ( M k 2 , 1 9 ) . Als A u f t a k t zu den Gleichnissen wird den H ö r e r n zugerufen: „Selig sind eure A u g e n , d a ß sie sehen, und eure O h r e n , d a ß sie h ö r e n . W a h r l i c h , ich sage e u c h , viele Propheten und G e r e c h t e h a b e n ersehnt, das zu sehen, was ihr seht, und h a b e n ' s nicht geseh e n , und das zu h ö r e n , was ihr h ö r t , und h a b e n ' s nicht g e h ö r t " . D i e H e i l u n g eines G e l ä h m ten in der Stadt K a p e r n a u m würde keinen W i d e r s p r u c h erregt h a b e n . A b e r Jesus spricht zu dem G i c h t b r ü c h i g e n : „ M e i n S o h n , deine Sünden sind dir v e r g e b e n " ( M k 2 , 5 ) ; diese Z u s a g e erregt alsbald F e i n d s c h a f t und E m p ö r u n g . D e n n wie k a n n ein M e n s c h , der n o c h dazu der alttestamentlichen B u n d e s g e m e i n d e a n g e h ö r t , es w a g e n , seinem M i t b r u d e r die Schuld zu vergeben, was doch allein der göttlichen M a j e s t ä t zusteht! W e r sich solche V o l l m a c h t anm a ß t , stellt sich d a m i t selbst an Gottes Statt. U n t e r dem E i n f l u ß iranischer Elemente h a t sich im nachexilischen J u d e n t u m die E r k e n n t n i s von der M a c h t h e r r s c h a f t widergöttlicher Verd e r b e n s m ä c h t e vertieft. J e s u s steht in seinem D e n k e n und H a n d e l n durchaus in dieser Uberlieferung. E r sieht die M e n s c h e n gefangen unter der T y r a n n e i gottfeindlicher G e w a l t e n . Er w e i ß sich dazu gesandt, die W e r k e des T e u f e l s zu zerstören. Als der S t ä r k e r e bricht er in das H a u s des S t a r k e n ein. E r n i m m t dem M ö r d e r und L ü g n e r von A n b e g i n n die B e u t e a b und führt die h a r t G e b u n d e n e n aus der K n e c h t s c h a f t in die Freiheit. U n t e r dem E i n d r u c k dieses R i n g e n s mit dem R e i c h der D ä m o n e n wird J e s u T o d und Auferstehung verkündigt als die g e w o n n e n e S c h l a c h t , als der W e l t e n w e n d e n d e T r i u m p h über alle widergöttlichen Elemente im H i m m e l und a u f Erden (Kol 2 , 1 5 ) . 4 J e s u s weiß, d a ß mit seinem Sieg über den V e r s u c h e r der K a m p f nicht abgeschlossen ist. D e r letzte Sieg steht n o c h aus. Er wird erst vollendet sein in der W i e d e r k u n f t des M e n s c h e n sohns. D i e Z w i s c h e n z e i t bis zu diesem T e l o s soll dazu d i e n e n , die F r o h b o t s c h a f t von dem W e l t v e r s ö h n e r und W e l t e r l ö s e r als das g r o ß e A n g e b o t der L i e b e G o t t e s in alle W e l t zu tragen. „ E s wird gepredigt werden das Evangelium vom R e i c h in der ganzen W e l t zum Z e u g n i s für alle V ö l k e r , und dann wird das E n d e k o m m e n " ( M t 2 4 , 1 4 ) . D a s S e n d u n g s b e w u ß t s e i n Jesu gipfelt in dem H o h e i t s a n s p r u c h , G o t t e s N a m e und W e sen a u f Erden k u n d z u m a c h e n : „ N i e m a n d k e n n t den V a t e r , denn nur der S o h n und w e m es der S o h n will o f f e n b a r e n " ( M t 1 1 , 2 7 ) . Im A n s c h l u ß an diese Enthüllung ergeht die Einladung, ihm n a c h z u f o l g e n und in seiner G e m e i n s c h a f t R u h e zu finden von der Plage der Tora-Lasten. M a n k a n n an diesen Selbstzeugnissen A n s t o ß n e h m e n . Psychiater h a b e n von einem pathologisch übersteigerten G e l t u n g s d r a n g g e s p r o c h e n , der in der Seele J e s u geglüht h a b e . N u r eines geht nicht a n : M a n k a n n diese Aussagen nicht bestreiten. W e r sie als P r o d u k t einer späteren G e m e i n d e t h e o l o g i e zu stilisieren s u c h t , m u ß sich die Frage stellen und ihr S t a n d h a l t e n : wie m u ß J e s u s a u f seine Z e i t g e w i r k t h a b e n , d a ß m a n ihm die W ü r d e n a m e n „ M e s s i a s " , „ D a v i d s S o h n " , „ S o h n G o t t e s " , „ K y r i o s " , „ R e t t e r " , „ E r l ö s e r " , und „fleischgewordener L o g o s " z u e r k a n n t h a t ? W a n n wurde jemals ein P r o p h e t aus Israel mit solchen Prädikaten geehrt! D e r Sittenprediger, der V o r k ä m p f e r für soziale Gerechtigkeit wäre niemals gekreuzigt w o r d e n . Ein solcher k o n n t e sich jederzeit a u f die G e r e c h t i g k e i t heischende Verkündigung eines —»Arnos und —>Jesaja b e r u f e n . A b e r der, der in der H a l t u n g wehrloser —>Demut mit dem A n s p r u c h a u f t r a t : Ich bringe euch in m e i n e m W o r t und W e r k Gottes grundloses, bedingungsloses E r b a r m e n , ich führe G o t t e s neue S c h ö p f u n g h e r a u f , w a r unt r a g b a r für das Leistungsdenken, das in der frühjüdischen F r ö m m i g k e i t ü b e r h a n d genommen hatte. Er m u ß t e verworfen werden und den W e g ans Kreuz gehen. Die —»Apostel haben sich verstanden als „ B o t s c h a f t e r an Christi S t a t t " . Sie h a b e n von

Christentum

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Palästina und Kleinasien aus nach Hellas und R o m die Nachricht getragen: Das Leben ist erschienen, es hat sich aus Liebe aufgeopfert, es hat sich als siegreich über Sünde und T o d erwiesen und wird in kommenden Zeiten die Welt vollenden. Wer bereit ist, sich diesem Angebot in glaubensvoller Zuversicht zu öffnen, erfährt im E m p f a n g des Heiligen Geistes die -^•Versöhnung mit Gott, die Gewißheit der Gotteskindschaft, die Befreiung von der M a c h t der Finsternis, die Fähigkeit zur Bruderliebe und die A n w a r t s c h a f t des ewigen Lebens. Die —»Taufe auf den N a m e n Jesu schloß in sich den Stellungswechsel vom alten zum neuen Menschen. Das —»Abendmahl war die Speise des w a n d e r n d e n Gottesvolkes auf dem Weg zum Ziel. Der Vollklang der urchristlichen Verkündigung ist in der Geschichte des Christentums nicht immer und überall w a h r g e n o m m e n worden. Es kam an vielen Orten und zu vielen Zeiten nur zur A u f n a h m e von Teilstücken der Wahrheit. W o aber die Botschaft mit der Urgewalt des Anfangs wieder aufbrach, da k a m es zu Erweckungsbewegungen und zu Lebensumwandlungen von weitreichender geschichtlicher Auswirkung. 4. Gestaltwandel

des

Christentums

Das Christentum ist auf seinem Gang durch die Geschichte zahlreichen Ausformungen und Umformungen unterworfen worden. Es geht nicht an, diesen Weg als einen fortschreitenden Abfall zu beklagen, wie —»Arnold dies tut. Es ist aber auch nicht möglich, von einer fortschreitenden Höherentwicklung zu reden, wie es dem religiösen —»Idealismus des 19. Jh. erscheinen wollte. Die Geschichte des Christentums zeigt in Verkündigung und Leben H ö hen und Tiefen, die zu wiederholten Malen einander ablösen. Es ist Aufgabe der —»Dogmengeschichtsschreibung aufzuzeigen, wie das Christentum den geistigen Strömungen der Zeit bald in Synthese, bald in Diastase begegnet ist. Von dem Zeitpunkt an, da das Evangelium den palästinensischen Boden verläßt und in den Bereich des Hellenismus eintritt, ergibt sich die Aufgabe der sprachlichen und gedanklichen Ubersetzung. So sind die Apologeten des 2. Jh. d a r u m bemüht, den Gebildeten ihrer Zeit die Bedeutung Christi mit Hilfe des Logosbegriffes deutlich zu machen (—»Apologetik). Die Ostkirche übernimmt und behält diese Spekulation bis hin zu den russischen Religionsphilosophen des 19. und 20. Jh. (—»Chomjakow, A. S.). Das von der alten Kirche ausgeformte Trinitätsdogma (—»Trinität) darf nicht als Dreigötterglaube mißverstanden werden. Der —»Monotheismus ist dem Christentum ebenso wesentlich wie dem —»Judentum und dem —»Islam. Der Glaube an den dreifaltigen G o t t bezeugt den Ursprung der —»Liebe (Gott der Vater), die sich schenkende Liebe, die das Verlorene sucht (Gott der Sohn),und die M a c h t der Liebe, die die zum Guten erstorbenen Herzen zu erwecken vermag (Gott der Heilige Geist). Drei selbständige Weisen zu sein und zu wirken (quod propie subsistit), und doch ein Herz, das in Liebe schlägt. Der Ausbau des altkirchlichen Dogmas ist von Adolf von H a r n a c k als eine akute Hellenisierung des Christentums charakterisiert und kritisiert worden. Gustav —»Aulen und Arnold Gilg haben mit Recht darauf a u f m e r k s a m gemacht: Mögen die dabei verwendeten Bausteine einer bibelfremden Vorstellungswelt e n t n o m m e n sein, auch das neue Sprachkleid h a t dazu gedient, das p a r a d o x e Mysterium sicherzustellen, d a ß in Jesus Christus G o t t der ganz Andere ganz der unsere geworden ist. s „Die klassischen Formulierungen der Christologie sind auch heute noch eine unersetzliche Fassung, die uns davor bewahrt, Jesus zu nivellieren auf das M a ß eines religiösen Genius. M a n kann das Geheimnis der Person Jesu auch auf diese Weise aussagen und b e w a h r e n " (K. Rahner, G o t t ist Mensch geworden, 1975, 6). Ernst zu nehmen dagegen ist der Einwand der japanischen Theologie, daß der Schmerz Gottes, von dem schon das Alte Testament zu künden weiß (Jer 31,20), in der Sprache der Ontologie nicht a u s d r ü c k b a r ist. 6 In der abendländischen Theologie des Mittelalters k o m m t es zu einer erneuten Begegn u n g von Christentum und Piatonismus bei —»Anselm von Canterbury, —»Alexander Halesius und —»Bonaventura. Bei —»Thomas von Aquin werden unter aristotelischem Einfluß Vernunft und O f f e n b a r u n g zu einem imponierendem Bau harmonisch zusammengefügt.

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Christentum

Durch den Nominalismus von —»Ockham und —»Gerson vorbereitet, erscheint bei —»Luther die christliche Offenbarung im schroffen Gegensatz zur Vernunft, während der ältere —»Melanchthon und die ihm folgenden altprotestantischen Väter zu einer friedlichen Zuordnung von —»Glaube und Denken zurückkehren. Die Reformation nimmt ihren Ausgang von einer Neuentdeckung des Römerbriefs. Die Theologie —»Luthers bricht radikal mit der Verdienstfrömmigkeit, sie macht die —»Rechtfertigung des Sünders, allein um Christi willen im Glauben ergriffen, zum articulus stantis et cadentis ecclesiae. Sie ermöglicht eine neue Berufsethik auf der Grundlage des —»Priestertums aller Gläubigen. Die —»Orthodoxie des 17. und 18. Jh. hält in lutherischer und reformierter Ausprägung an den altkirchlichen Symbolen und den —»Bekenntnisschriften der Reformation fest. Sie vollzieht aber diese Treue in einer so lehrhaft trockenen und oft auch streitsüchtigen Art, daß sich der —»Pietismus, der die persönliche Herzenserfahrung und die praktische Frömmigkeit betont, als Korrektur nötig erweist und ein lebhaftes Echo findet. Die —»Aufklärung, die sich im Blick auf das überlieferte —»Dogma nicht mehr gebunden fühlt, erbringt hervorragende Leistungen im naturwissenschaftlichen und historischen Erkennen. Während sich der größte Teil des Katholizismus der neuen Geistesbewegung gegenüber zurückhaltend zeigt, öffnet sich die Majorität des Protestantismus bereitwillig dem kulturellen Aufbruch. Jesus wird jetzt hochverehrt als sittliche Persönlichkeit, als Weisheitslehrer und Tugendvorbild, aber er ist nicht mehr das ewige Wort, das vom Vater ausgeht und der Welt Sünde getragen hat. Mit seiner „Philosophie der praktischen Vernunft" hat —»Kant nachhaltig auf das christliche Bewußtsein eingewirkt. Mag der spekulativen Vernunft der Himmel verschlossen bleiben, im Tun des sittlichen Guten kann der menschliche Geist der Wirklichkeit Gottes inne werden. Fromm sein heißt jetzt: seine —»Pflicht erfüllen, ohne nach Lohn und Erfolg zu fragen, was jede gute Tat alsbald wieder verunreinigen würde. In der einflußreichen Schule von Albrecht —»Ritsehl hat das Leben des Glaubens ebenso gediegene wie praktisch nüchterne Züge bekommen. Preußentum und Protestantismus haben unter diesem Vorzeichen zueinander gefunden und die Geschichte des deutschen Volkes nachhaltig geprägt. So gewiß die Reden von —»Schleiermacher noch pantheistisch gefärbte Züge aufweisen, es wird bereits hier ein neues Verständnis für das Wesen des Christentums sichtbar. Unter dem Einfluß von —»Lessing hatten die geschichtlichen Stifterreligionen ihre Bedeutsamkeit verloren. Es wurde ihnen nur ein illustrativer Wert zur Erhellung überzeitlich gültiger Vernunftwahrheiten zuerkannt. Dem gegenüber betont die 5. Rede bei Schleiermacher, daß alle echte Religion einem geschichtlichen Boden entspringt. Der abstrakte Religionsbegriff ist ein Phantom. Nicht das Allgemeine ist Träger der Wahrheit, sondern das kontingente Geschehen. In der Glaubenslehre ist Schleiermacher noch einen Schritt weitergegangen. Hier wird das Christentum bestimmt als die Glaubensweise, in der alles „bezogen wird auf die durch Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung". Von Christus wird gerühmt, er habe unter allen Menschenkindern das kräftigste Gottesbewußtsein gehabt. Wer sich davon ergreifen läßt, dessen Leben wird gewandelt zu einem neuen Sein. Die imponierenden Leistungen der vergleichenden Religionswissenschaft und der —»Bibelwissenschaft haben zu einer tiefgreifenden Erschütterung des altgläubigen Christentums geführt. Der Absolutheitsanspruch des Christentums, der die vom Pietismus getragene —»Mission geprägt und zu unerhörten Opfern beflügelt hatte, drohte auf dem Hintergrund der allgemeinen Religionsgeschichte ins Wanken zu geraten. Ernst —»Troeltsch sprach den Verdacht aus, das christliche Überlegenheitsgefühl könnte am Ende nur „ein naiver Lokalpatriotismus" von gutherzigen Seelen sein, die nie über den eigenen Kirchturm hinausgeblickt haben. Wohl gab man sich in der Religionsgeschichtlichen Schule große Mühe, dem Christentum den höchsten Ehrenplatz unter allen Religionen einzuräumen. Doch kann diese Vorzugsstellung immer nur vorläufig zuerkannt werden, da in der Geschichte alles ständig im Fluß ist. Der Fortgang der vergleichenden Forschung hat gleichwohl über diesen Relativismus hinausgeführt. Es hat sich gezeigt: Das Christentum läßt sich weder bei den Gesetzesreligionen einordnen noch kann es der ostasiatischen Erlösungsmystik zugezählt werden. Es

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hat seinen unverwechselbar eigenen Charakter, der schon in der Zeit der Entstehung dem Synkretismus Widerstand geleistet hat. Die historisch-kritische Bibelwissenschaft des 19. und 2 0 . Jh., war keineswegs so ehrfurchtslos, wie sie im Urteil konservativer Gegner abgewertet wird. Im Zeitalter der Orthodoxie haben die biblischen Texte im Grund nur dazu gedient, die Autorität des Dogmas zu begründen. Jetzt gewinnt die —»Geschichte Israels und des -^Urchristentums auf dem Hintergrund von Umwelt und Weltgeschichte eine bis dahin nie erlangte Farbigkeit und Durchleuchtung. Bei aller Ehrfurcht vor dem biblischen Wort hatte schon Luther erkannt, daß der Schatz des göttlichen Wortes in irdenen Gefäßen liegt und darum Teil hat an der Knechtsgestalt der Offenbarung. Das Christentum tut darum gut daran, den Doketismus nicht nur in der Christologie, sondern auch in der Lehre von der Schrift abzulehnen. Im Rückblick freilich ist festzustellen, daß sich die historisch-kritische Bibelwissenschaft von den Einflüssen des Zeitgeistes längst nicht immer freigehalten hat. So erscheint bei Adolf von Harnack das Christentum „als die Grundlage aller sittlichen Kultur". Paulus und Goethe schließen einen Bund miteinander. Das Vertrauen auf die Vatergüte Gottes, das Bewußtsein von dem unendlichen Wert der Menschenseele und die liebende Verantwortung gegenüber dem Bruder sollten recht eigentlich den Inhalt des Evangeliums ausmachen. Gegen die Verherrlichung des Christentums als kulturfördernde Macht hat seinerzeit Franz —»Overbeck leidenschaftlichen Protest erhoben, ohne jedoch Gehör zu finden. Die —»Dialektische Theologie zerbrach unter den Erschütterungen des ersten Weltkriegs die Denkformen und das Lebensgefühl des —»Neuprotestantismus. Jetzt heißt es: das Entscheidende, worauf der Glaube sich gründet, ist nicht die gute Tat, nicht die fromme Erfahrung, nicht die Weisheit der Vernunft. Das Christentum lebt allein von dem Deus dixit im Zeugnis der Apostel und Propheten, mag dieses Wort noch so fremdartig für unsere Ohren klingen. Allein aus diesem Material kann das Haus Gottes gebaut werden. Dank dieser Rückkehr ad fontes war es der Bekennenden Kirche möglich, im —»Kirchenkampf dem pseudoreligiösen Ansturm der nationalsozialistischen Weltanschauung Widerstand zu leisten. In den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg hat die Philosophie des —»Existentialismus nachhaltig auf das Christentum eingewirkt. Martin —»Heidegger hatte darauf aufmerksam gemacht, daß der Mensch ständig in der Gefahr steht, dem Prozeß der Vermassung zu erliegen, unter der Herrschaft des „ M a n " sein Selbstsein, seine Personwürde zu verlieren. R. —»Bultmann hat diesen Ansatz aufgegriffen, doch geht er einen entscheidenden Schritt über Heidegger hinaus, indem er keinen Zweifel darüber läßt, daß der Verzicht auf das menschliche Sicherungsbedürfnis nicht aus eigener Kraft gelingt. Der Durchbruch in die Freiheit wird allein dem Glaubenden in der Verbundenheit mit Jesus Christus zuteil. Kreuz und Auferstehung bleiben Mittelpunkt der christlichen Verkündigung, aber sie sind existential zu interpretieren als das Absterben des alten Menschen, als das Hindurchbrechen zu einem neuen Sein. Dagegen kann alles entmythologisiert werden, was dem Christentum von antiken Weltbildvorstellungen her anhängt. Es gibt Einsichten der reformatorischen Theologie, die sich sehr wohl von daher beleuchten lassen, daß der Mensch im Glauben als Einzelner vor Gott gestellt ist, daß er allein durch den Anruf des Wortes zur neuen Kreatur wird. Doch kommt es auf Grund des philosophischen Vorverständnisses zu einer einseitig anthropozentrischen Engführung. Der Reichtum der Schöpfung bleibt ausgeklammert. Dem Schicksal des Kosmos in Gegenwart und Zukunft wird keine Beachtung geschenkt. Der lebensvolle Realismus des Alten und Neuen Testaments verblaßt. Das freundliche Jesusbild der Neuzeit wurde von Grund auf in Frage gestellt durch Albert —»Schweitzer, der mit seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung nachwies, daß die Botschaft Jesu von Anfang bis zum Ende apokalyptisch-eschatologisch ausgerichtet war. Von daher wird die Reichserwartung zum Prüfstein der Kirchengeschichte. —»Origenes muß sich den Vorwurf gefallen lassen, die Reichshoffnung im Sinn eines christlich gefärbten Platonismus umgeformt zu haben. —»Augustin sieht den Sieg des Gottesreiches bereits verwirklicht im Triumph der Kirche über die heidnische Umwelt. Aus einer universalen Hoffnung

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war ein kirchengeschichtliches Ereignis geworden. Doch die horizontal gerichtete Glut läßt sich auf die Dauer nicht unterdrücken. Sie bricht abermals hervor um die Jahrtausendwende, sie meldet sich bei —»Joachim von Fiore, der auf das Zeitalter des Vaters in der alttestamentlichen Bundesgemeinde das Zeitalter des Sohnes folgen läßt, das wiederum abgelöst werden wird von dem „dritten R e i c h " des heiligen Geistes. Im Reformationsjahrhundert verbindet sich die Reichserwartung bei T h o m a s —»Müntzer mit Sozialrevolutionären Forderungen und Verheißungen. Die Frömmigkeit im Zeitalter der Aufklärung und des Pietismus behält wohl „das fromme Mittelstück" (Karl —»Heim), das Gottvertrauen, die Ergebung im Leid, die sittliche Bewährung im Halten der Gebote, aber das alles ist nicht mehr eingebaut in die Dynamik der Wege Gottes, die auf eine neue Schöpfung hinzielen. J e mehr die Großkirchen die Reichshoffnung fahren lassen zugunsten einer individuellen Beseligung, um so vehementer nehmen sich die Sekten der vernachlässigten Erwartung an, wobei freilich zügellose Berechnung der Wiederkunft Christi und üppige Ausmalungen der Weltvollendung die Glaubwürdigkeit der Botschaft entstellen. Nach dem Zeugnis des ersten Korintherbriefes war die Urchristenheit reich an außerordentlichen Geistesgaben. Dieser Strom ist im Verlauf der Kirchengeschichte mehr und mehr versandet. Um so bedeutsamer ist, daß seit einigen Jahrzehnten ein charismatischer Aufbruch von interkonfessionellem Ausmaß festzustellen ist. Es finden sich charismatische Gruppen in Amerika, England und Deutschland, im katholischen und anglikanischen Bereich, ja selbst in das sonst so nüchterne amerikanische Luthertum ist die Glossolalie eingebrochen (—»Zungenrede). Es sind vor allem jugendliche Gruppen, die von dem neuerwachten Geistfeuer ergriffen werden. Enttäuscht und abgestoßen von der Sex- und Drogenwelle erfahren Menschen aller Altersstufen erstaunliche Befreiungen von einstmaligen Bindungen. Ekstatisches Beten in Zungen und Heilung von Krankheiten begleiten den pfingstlichen Frühling. Noch ist in diesem Aufbruch alles im Fluß, und es bleibt abzuwarten, ob Fieber oder Heil dabei die Oberhand gewinnen werden. Nicht alle Begeisterung stammt aus dem Heiligen Geist. Es gilt bei allem seelischen Überschwang die eigene Armut nicht zu vergessen, die der göttlichen Vergebung bedürftig bleibt. 5. Christentum

und

Christenheit

Die Liebe Jesu zu den Armen und Kranken, zu den Elenden und Erniedrigten hat in der Geschichte des Christentums Ströme barmherziger Hilfsbereitschaft aufbrechen lassen(—»Diakonie). Als exempla caritatis seien genannt: -^Franciscus von Assisi, —»Vinzenz von Paul, Don Bosco, Mutter Theresa in den Elendsvierteln von Calcutta, —»Oberlin und —»Bodelschwingh, —»Wichern und Albert Schweitzer, Mathilda Wrede und Florence Nightingale. Zu diesen leuchtenden Vorbildern gesellt sich ein namenloses Heer von Gleichgesinnten im Ordens- und Laienstand, die sich aufgeopfert haben im Kampf gegen Armut, Schmutz und Verwahrlosung. Die Welt würde um vieles kälter und grausamer geblieben sein, wenn dieser heilende Dienst nicht stattgefunden hätte. Freilich, der Vorwurf kann der christlichen Liebestätigkeit nicht erspart bleiben: Man hat sich nahezu ausschließlich darauf beschränkt, die Wunden zu lindern und zu heilen, die durch das harte Leben geschlagen worden sind, aber man ging nicht so weit, die verdorbenen Zustände anzugreifen und zu ändern, die immer neue Sturzwellen des Elends hervorbringen. Die Wende von der personalen Betreuung zu einem christlichen —»Sozialismus wurde sichtbar auf der Weltkirchenkonferenz von Uppsala 1 9 6 8 , die unter der Parole stand: „Siehe, ich mache alles neu." Seitdem rücken Christentum und Marxismus zusehends enger zusammen in der gemeinsamen Verpflichtung, für eine bessere Zukunft auf Erden zu kämpfen. Doch kann bei aller Annäherung nicht übersehen werden, daß es sich im einen Fall um Hoffnung für das Heil der Welt aus den Kraftquellen der göttlichen Liebe handelt, im anderen um eine Zukunftsverwirklichung ohne Gott, ja gegen Gott. Zu den verheißungsvollen Zeichen in der gegenwärtigen Christenheit gehört die kritische Selbstbesinnung des römischen Katholizismus seit dem zweiten Vatikanischen Konzil (—»Vatikanum II), die Annäherung der

Christentum

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Konfessionen (—»Ökumene/ökumenisch), das versöhnlich g e f ü h r t e G e s p r ä c h zwischen C h r i s t e n t u m und J u d e n t u m 7 , die Bereitschaft, in totalitär geprägten Staaten u m des Glaubens willen Benachteiligungen aller Art auf sich zu n e h m e n . N e b e n diese Lichtseiten k o m m t ein Schuldregister der Christenheit von e r d r ü c k e n d e r Last zu stehen. Die Geschichte der —»Kreuzzüge, die V e r f o l g u n g u n d A u s r o t t u n g der Ketzer u n d der J u d e n , —»Inquisition u n d H e x e n p r o z e s s e (—»Hexen) sind düstere Kapitel in der C h r o n i k der Kirchengeschichte. Die kolonisatorischen U n t e r n e h m u n g e n der a b e n d l ä n d i schen N a t i o n e n f ü h r t e n zu einer gierigen A u s b e u t u n g der u n t e r w o r f e n e n Völker. „ D i e W u n d e n , die d a d u r c h geschlagen w u r d e n , sind längst noch nicht verheilt" (Mildenberger 19f). Die christliche Mission geriet dabei in den zwielichtigen V e r d a c h t , ein Kind u n d Ins t r u m e n t des weißen Imperialismus zu sein. M i t d e m Siegeszug des industrietechnischen Zeitalters (—»Industrialisierung) wuchs im 19. Jh. die soziale N o t l a g e des Arbeiterstandes. Die Kirchen aber v e r h a r r t e n bei dem gottgewollten Unterschied von reich u n d a r m . In heißen K ä m p f e n m u ß t e sich das Proletariat gegen den W i d e r s t a n d von Staat u n d Kirche eine Lebenserleichterung nach der a n d e r e n erk ä m p f e n . D a d u r c h ging d e m C h r i s t e n t u m ein ganzer Stand verloren, der bis h e u t e noch nicht w i e d e r g e w o n n e n werden k o n n t e . Als einsamer R u f e r im Streit f a n d Soren —»Kierkeg a a r d kein G e h ö r mit dem V o r w u r f , die verbürgerlichte Christenheit sei zu einer arglistigen A b s c h a f f u n g des C h r i s t e n t u m s g e w o r d e n . D a ß sich die e u r o p ä i s c h e n N a t i o n e n , die in den A u g e n der außerchristlichen V ö l k e r w e l t noch i m m e r als R e p r ä s e n t a n t e n des C h r i s t e n t u m s galten, in diesem J a h r h u n d e r t in zwei m ö r d e r i s c h e n Kriegen zerfleischt h a b e n , h a t ein übriges dazu beigetragen, das C h r i s t e n t u m in den Augen der Fremdreligionen u n g l a u b w ü r d i g erscheinen zu lassen. Ein missionarischer G e g e n v o r s t o ß aus d e m Osten nach dem Westen hin h a t seitdem eingesetzt. Der nie ganz ü b e r w u n d e n e Einfluß der Gnosis h a t in der Christenheit zu einer ängstlich-mißtrauischen Beurteilung u n d Verurteilung aller e r o s h a f t e n Ä u ß e r u n g e n des Lebens g e f ü h r t . Die vitalen, musischen N a t u r e n sind d a d u r c h d e m C h r i s t e n t u m weithin e n t f r e m d e t w o r d e n . J. W. v. —»Goethe u n d F. - ^ N i e t z s c h e , L. Klages u n d G. Benn m ö g e n d a f ü r als Beispiel stehen. Die Verurteilung von G. —»Galilei u n d G. —•Bruno f ü h r t e zu einem heillosen Z w i e s p a l t von G l a u b e u n d D e n k e n . Die Christenheit verlor neben d e m Arbeiter die Berufss t ä n d e der Künstler u n d der N a t u r w i s s e n s c h a f t l e r . So erscheint die M i n u s b i l a n z der Christenheit im Urteil des W e l t b e w u ß t s e i n s h e u t e größ e r als die positiven Werte, eine Situation, die es illusionslos zu sehen gilt. Und d o c h , m a g die empirische Christenheit von h e u t e weit hinter d e m Ziel z u r ü c k b l e i b e n , wozu sie nach d e m Willen ihres Stifters berufen ist, Licht u n d Salz der Erde zu sein, die H o h e i t der Erscheinung Jesu Christi wird d a d u r c h nicht angetastet. Die Christenheit xarä oägxa befindet sich am A u s g a n g des 20. Jh. in einer s c h w e r e n Krise. Das C h r i s t e n t u m xarä nvev/xa w i r d d e n n o c h leben. Anmerkungen 1

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W e n n ER sich in der G n a d e n z e i t bald hier bald dort verklärt, s o freu' dich der Barmherzigkeit, die andern widerfährt. W e n n ER dich aber brauchen will, s o steig' in Kraft e m p o r ( G e s a n g b u c h der ev. Brüdergemeine, G n a d a u 1 9 2 7 , N r . 6 2 1 ) . S. Emil Brunner, D i e B e d e u t u n g des A T für unseren Glauben, 1 9 3 0 ( Z Z 8 / 1 ) . S. Ethelbert Stauffer, Jesus ist g a n z anders, H a m b u r g 1 9 6 7 , 147: „Kein Z w e i f e l , damit meint e r s i e h selbst. W o er da ist, da ist Reich Gottes". „Es dürfte völlig u n m ö g l i c h sein, die B o t s c h a f t der Schrift für irgendein Geschlecht in irgendeinem Jahrhundert erneut lebendig zu m a c h e n , w e n n m a n sich dabei zuerst v o n dem W u n s c h leiten läßt, den G l a u b e n an den K a m p f , an die D ä m o n i e und an den Sieg als allzu primitiv und abergläubisch abzutun" (Gustav Wingren, D i e Predigt, G ö t t i n g e n 1 9 5 5 , 2 1 2 ) . Gustav A u l e n , D a s christl. Gottesbild, Gütersloh 1 9 3 0 ; A r n o l d Gilg, W e g u. D e u t u n g der altkirchl. Christologie, M ü n c h e n 1 9 5 5 . S. Kazoli Kitamori, Theol. des Schmerzes Gottes, G ö t t i n g e n 1 9 7 2 . S c h a l o m Ben-Chorin, Bruder Jesus, der N a z a r e n e r in jüd. Sicht, M ü n c h e n 1 9 7 8 ; H a n s K ü n g / P i n c h a s Lapide, Jesus im Widerstreit. Ein jüd.-christl. D i a l o g , M ü n c h e n 1 9 7 6 .

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Christenverfolgungen

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Reich

1.1. Bis z u m T o l e r a n z e d i k t des G a l e r i u s 3 1 1 w u r d e n d i e C h r i s t e n i n n e r h a l b des R ö m i schen Reiches v o n Staats w e g e n verfolgt. Diese Verfolgung hat wie keine andere T h e o l o g i e u n d S t r u k t u r d e s w e r d e n d e n C h r i s t e n t u m s g e p r ä g t , o b w o h l sie trotz ihrer l a n g e n D a u e r w e n i g e O p f e r f o r d e r t e (vgl. d a z u G r é g o i r e 1 6 1 ff; Barnes, T e r t u l l i a n 1 6 2 f ; —»Martyrium). Im G e g e n s a t z z u d e n m e i s t e n s p ä t e r e n V e r f o l g u n g e n e r k a n n t e der r ö m i s c h e S t a a t d i e s c h o n s e h r früh recht straff u n d e i n h e i t l i c h v e r f a ß t e K i r c h e lange n i c h t als zu v e r f o l g e n d e G e g n e r i n , ges c h w e i g e d e n n als G e s p r ä c h s - b z w . V e r h a n d l u n g s p a r t n e r i n an. Erst d a s erste E d i k t Kaiser V a l e r i a n s v o m A u g u s t 2 5 7 g a l t d e m Klerus der c h r i s t l i c h e n Kirche, deren u n i v e r s a l e Struktur u n d V e r f a s s u n g d a m i t z u m ersten M a l e s t a a t l i c h e r s e i t s a n e r k a n n t w u r d e (vgl. M o l t h a g e n 8 7 f f ) . Bis d a h i n w u r d e d a s C h r i s t s e i n , d a s nometi chen behandelt.

Christianum,

als i n d i v i d u e l l e s V e r b r e -

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1.2. Die Tradition kennt zehn jeweils mit der Herrschaft eines Kaisers verbundene Verfolgungen. Trotz des Einspruchs —»Augustins (De civ. Dei 18,52) setzt sich diese Einteilung jedenfalls im Westen mit -^Orosius (hist. 7,27) und —>Sulpicius Severus (Chron. 2,33) durch. Aber bereits Commodian (Apol. 808) kennt bis Decius sieben Verfolgungen, während —»Eusebius von Cäsarea nur vier Verfolgerkaiser kennt und —»Lactantius sogar nur zwei (Grégoire 94 f). Die Quelle dieser Zuteilung der Verfolgungen auf einzelne Kaiser ist die apologetische Geschichtstheologie —»Melitos von Sardes (Eusebius, hist. eccl. 4,26,9 f; vgl. Speigl 2 1 4 f f ) und —»Tertullians (Nat. 1,7,8 f; Apol. 5,3 f; s. Barnes, Legislation 3 4 f). In Wirklichkeit scheint jedoch die Rechtslage der Christen bis zu den Edikten des Decius ziemlich gleich geblieben zu sein.

1.3. Mindestens bis 249 galt die confessio nominis, das Geständnis des einzelnen Christen, er sei Christ, als strafbarer Tatbestand, der die Kapitalstrafe verwirkte. Diese Rechtslage belegen vor allem die Anfrage des jüngeren Plinius an Trajan und dessen Antwort (Plinius, Ep. 10,96,2 f; 97,1) und die Polemik Tertullians (bes. Apol. 2 , 1 0 - 2 0 ; vgl. dazu grundsätzlich: Freudenberger, Verhalten 73ff; Barnes, Legislation 36f; Speigl 64ff; Molthagen 20 f. 33 ff; Kunkel 21). Daß keine flagitia cohaerentia nomini, Verbrechen, die mit dem Christsein gegeben waren, vorlagen, hatte Plinius im Jahre 112 im Verlauf seiner richterlichen Beschäftigung mit den als Christen angeklagten Bewohnern des Pontus erfahren (Ep. 10,96,7f). Der Kaiser akzeptierte dieses Ergebnis stillschweigend. Damit fallen alle Versuche hin, den straferheblichen Tatbestand, der die Kapitalstrafe des geständigen Christen forderte, in einem eigenen, nichtreligiösen oder religiösen, Verbrechen, etwa der maiestas oder dem Religionsfrevel bzw. der Gottlosigkeit, zu fixieren (gegen Mommsen, Religionsfrevel 417f; ders., Strafrecht 569 ff), denn superstitio prava, immodica, die Plinius als einzigen Vorworf gegen die Christen bestätigt fand (Ep. 10,96,8) und die auch seine Zeitgenossen Tacitus (An. 15,44,3: exitiabilis superstitio) und Sueton (Nero 19,3: superstitio nova etmalefica) übernahmen, war kein strafbarer Tatbestand. Aber auch die neuere Hypothese, die Christen seien ob meram contumaciam, wegen Auflehnung gegen die Autorität des Statthalters, verurteilt worden (Sherwin-White: JThS NS 3,210ff; PaP 27,23ff), scheitert daran, daß bei geständigen Christen kein eigentliches Gerichtsverfahren mehr notwendig war (Freudenberger, Verhalten 95 ff; de Sainte Croix: PaP 26,18 f; Kunkel 273 ff). Daß die geständigen Christen lediglich der reinen Polizeigewalt des zuständigen Beamten zum Opfer fielen, ist für die geordnete Rechtsprechung der Kaiserzeit auch in den Provinzen ausgeschlossen (vgl. Kunkel 28ff.416ff; Jones 94.113f). 1.4. Plinius hat das rechtmäßige Ermittlungsverfahren befolgt (Ep. 10,97,1). Damit ist sichergestellt, daß das Christsein als solches schon vor 112 als rechtserheblicher Tatbestand galt. Gelegentlich wird vermutet, daß diese Rechtslage auf die Regierungszeit Domitians zurückgehe (Mayer-Maly 314ff; Freudenberger, Verhalten 152f). Die genaue Analyse Speigls (5 ff) läßt diese Annahme jedoch höchst problematisch erscheinen. Aufgrund des Tacitusberichts über die neronische Christenverfolgung (An. 15,44,2-5) nimmt Molthagen (21 ff. 136 ff) nach vielen anderen erneut Neros Vorgehen als den Ursprung dieser von Plinius vorausgesetzten Rechtslage an. 1.5. Bereits vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr. gab es Verfolgungsmaßnahmen gegen markante Vertreter des neuen christlichen Glaubens (vgl. Act 6 , 8 - 8 , 3 ; dazu M. Hengel: ZThK 72 [1975] 172ff). Insgesamt aber genoß das junge Christentum die Privilegien, die Rom den Juden zugestanden hatte, d.h. vor allem die Nichtteilnahme an der römischen Staatsreligion und an den jeweiligen Lokalkulten sowie die Befreiung vom Militärdienst (vgl. Applebaum). Erst nach 70 n. Chr. kam es zur eindeutigen Trennung zwischen Judentum und Christentum. Es ist wahrscheinlich, daß die Praxis, die Zugehörigkeit zum nomen Christianum als Beweis für die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung anzusehen und als todeswürdiges Verbrechen zu ahnden, sich von Antiochien nach dem Ende des Jüdischen Krieges zunächst im Orient durchgesetzt hat, bevor sie durch Trajans Reskript für die statthalterliche Rechtsprechung im ganzen Reich verbindlich wurde. Stellen wie I Petr 4,14ff und Apk 2,12 ff, aber auch die Verurteilung des —»Ignatius von Antiochien zur Kapitalstrafe in der

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Form eines summum supplicium in Rom machen deutlich, daß Plinius vor seiner bithynischen Mission den cognitiones de Christanis tatsächlich nicht beigewohnt haben kann, weil diese bisher nur in den orientalischen Provinzen stattgefunden hatten. 1.6. Aufgrund des in die kaiserlichen Mandate übernommenen trajanischen Reskripts wurden Christen um ihres Namens willen bei den magistratischen Gerichten, d.h. in den Provinzen vor dem Statthalter, in Rom vor dem Kaiser bzw. vor dem Stadtpräfekten und seit Commodus vor dem Prätorianerpräfekten, angeklagt. Diese Verfahren waren bis zur Mitte des 2. Jh. in aller Regel öffentlich, sie fanden auf dem Forum des jeweiligen Gerichtsortes statt. Normalerweise stand dem Beschuldigten ein privater Ankläger gegenüber (vgl. Trajan Ep. 10,97). Hadrians Reskript an Minicius Fundanus, den Prokonsul der Provinz Asien, vom Jahr 1 2 4 / 1 2 5 (Euseb, hist. eccl. 4,8,6 und im Anhang der Justincodices I Ap. 68), verbot Petitionen und Akklamationen als Einleitungen eines Christenverfahrens, ja es bedrohte böswillige Denunzianten, die ihre Anklage nicht erhärten konnten, mit der Verurteilung wegen wissentlich falscher Anklageerhebung. Falls das Euseb hist. eccl. 4 , 1 3 , 1 - 7 überlieferte Reskript des Antoninus Pius an den Landtag von Asien überhaupt einen historischen Kern besitzt, hat es wohl diese Rechtslage nochmals bekräftigt. Als ordnungsgemäße Anklage vor dem Tribunal des Statthalters galt jedoch nicht nur die Anzeige eines Privatmannes, sondern auch die Uberweisung durch einen städtischen Magistrat oder lokale Sicherheitsorgane. Gegen den in der Voruntersuchung geständigen Christen wurde kein Urteilsspruch mehr gefällt, da dieser nur die Schuld des Angeklagten festzustellen hatte und nicht das Strafmaß festlegte (Kunkel 16 £.87). Die Kapitalstrafe konnte von Anfang an gegen Peregrine und Sklaven als summum supplicium vollstreckt werden, also etwa durch Verbrennen (MPol 15) oder durch den Tod in der Arena (Euseb, hist. eccl. 5 , 1 , 3 6 ; Pass.Perp. 6,6 u. ö.). Auch Christen, die zu den honestiores gehörten, wurden mit dieser schwersten Form der Kapitalstrafe hingerichtet (Euseb, hist. eccl. 5 , 1 , 5 1 ff; Pass.Perp. 20ff). 2.7. Trajan ging auf die Frage nach der Berücksichtigung der tätigen Reue, die Plinius lebhaft empfohlen hatte (Ep. 10,96,10), ausführlich ein: Kaiserliche Strafaussetzung soll für den reuigen Christen die Folgen seiner verbrecherischen Zugehörigkeit zum nomen Christianum nicht eintreten lassen, falls er tätige Reue geübt, d.h. sich von seinem Christentum nachweislich losgesagt hat. Von den beiden durch Plinius eingesetzten Nachweismöglichkeiten bestätigt Trajan nur das Bittopfer mit Weihrauch und Wein vor der kapitolinischen Trias, wobei er das von Plinius ebenfalls hergeholte Kaiserbild stillschweigend übergeht (Ep. 10,97,1). Die demonstrative Weglassung des von Plinius in diesem Opfertest einbezogenen Kaiserbildes im trajanischen Reskript macht alle Versuche, im verweigerten Kaiserkult den eigentlichen Grund für die Christenverfolgungen zu finden, gegenstandslos (Miliar, Cult 145 ff). 1.8. Die Nachrichten über eine besondere Christenverfolgung Domitians gegen Ende seiner Regierungszeit sind spärlich, unzuverlässig und deutlich apologetisch gefärbt (vgl. Speigl 13 ff). Aus der Zeit Mark Aurels sind verhältnismäßig viele konkrete Verfolgungsmaßnahmen und Martyrien bekannt (Berwig 24ff). Sie werden durchweg mit dem doppelten Druck, den seit 1 6 6 die aus dem Osten eingeschleppte Pest und die gleichzeitigen Germanenkriege auf das gesamte Reich ausübten, erklärt. Dieser Druck habe Dekrete erzeugt, die in brutaler Weise gegen die Christen angewandt würden (Melito von Sardes bei Euseb, hist. eccl. 4 , 2 6 , 5 f). Es ist jedoch nicht sicher, ob diese Dekrete kaiserliche Konstitutionen darstellen oder - wahrscheinlicher - sich auf statthalterliche Erlasse beziehen (Barnes, Legislation 3 9 ) . Eine besondere oder gar grundlegend neue Phase der Christenverfolgungen unter M a r k Aurel läßt sich nicht aus den Quellen erheben (Berwig 9 9 f, gegen Grégoire).

Vita Severi 17,1 spricht von einem allgemeinen Verbot des Septimius Severus von Konversionen zum Juden- bzw. Christentum (vgl. Euseb, hist. eccl. 6,1,1). Obwohl gerade aus der Zeit dieses Kaisers zahlreiche Nachrichten über Verfolgungen und Martyrien vorliegen, ist diese Notiz wohl als tendenziöse Fälschung des ausgehenden 4. Jh. anzusehen (Schwarte). Die Verfolgung durch Maximinus Thrax im Jahr 2 3 5 (Euseb, hist. eccl. 6,28) läßt sich hoch-

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stens aus dem Zusammentreffen mehrerer örtlicher Verfolgungen mit dem politischen Umsturz und dem Ubergang der Herrschaft vom synkretistischen Severerhaus auf den rauhen Soldaten vom Balkan erklären (Clarke). So bleibt als einzige unmittelbar auf das persönliche Eingreifen eines Kaisers zurückgehende Christenverfolgung das Vorgehen Neros gegen die Christen in Rom im Zusammenhang mit dem Brand der Hauptstadt vom Jahre 64, von dem wir durch den tendenziösen Bericht des Tacitus (An. 1 5 , 4 4 , 2 - 5 ) und durch die kurze Notiz Suetons (Nero 16,2), aber wohl auch durch die Anspielung I Clem 6 , l f , Kenntnis haben. Aus den einigermaßen authentischen Martyrien vor Decius geht hervor, daß bis Decius für die Aufnahme eines Verfahrens gegen einen Christen oder - zumeist - eine christliche Gruppe die Einstellung des jeweils für die Kapitalgerichtsbarkeit zuständigen römischen Beamten viel wichtiger als die des Kaisers war (vgl. Barnes, Legislation 48 ff). 1.9. Die Krise des römischen Reiches um die Mitte des 3. Jh. wurde nicht nur von den Volksmassen, sondern auch von der Senatspartei als Frucht des Zornes der Götter empfunden, für den besonders die Weigerung der Christen, die römischen Staatsgötter zu verehren, verantwortlich gemacht wurde (Belege: Freudenberger, Auswirkungen 137 Anm. 30; vgl. Alföldi 326 ff). Der erste Illyrer auf dem Kaiserthron, C.Messius Q.Traianus Decius (249—251), ordnete deshalb noch im Herbst 249 für alle Reichsbewohner eine allgemeine Bittsupplikation zu den di publici populi Romani an (vgl. Molthagen 62ff). Die bisher entdeckten 43 Opferbescheinigungen aus Mittelägypten machen eindeutig klar, daß sich das Opferedikt nicht nur auf die Christen, sondern auf die gesamte Reichsbevölkerung bezog (ebd. 63). Die Wirkung dieses Opferedikts auf die Christen war verheerend: Vor den überall eingesetzten Opferkommissionen drängten sich Christen mit ihren ganzen Familien, noch ehe sie zum Opfer aufgefordert wurden, daneben waren Flucht, wie bei —»Dionysius von Alexandrien und —»Cyprian, Bestechung der die Opferbescheinigung ausstellenden Beamten der Opferkommission bzw. sonstige Täuschungsmanöver häufige Antworten der verwirrten Gläubigen. Nur wenige der vorgeladenen Christen verweigerten den Vollzug der geforderten supplicatio, sie wurden in die Gefängnisse geworfen, wo einige der älteren Bischöfe bedeutender Metropolen wie Alexander von Jerusalem, Babylas von Antiochien und wohl auch Fabian von Rom schon um die Jahreswende 249/50 starben. Die Einkerkerung wurde wohl zunächst als eine Art Beugehaft angewendet, die den Verweigerer zum Opfern bringen sollte. Erst dann kam es zum Prozeß, der den Standhaften wegen Zugehörigkeit zum Christentum mit dem Tode bestrafte. Aufgrund der eigentlichen Absicht des Ediktes, aber auch der kurzen Regierungszeit des Decius, kam es nur zu verhältnismäßig wenigen Hinrichtungen. 1.10. Wesentlich gezielter war die Verfolgung, die vier Jahre nach seiner Erhebung zum Kaiser im August 257 P. Licinius Valerianus gegen die Christen entfesselte. Wahrscheinlich war Valerian bereits an der decischen Verfolgung beteiligt (vgl. Zonaras 12, 26; Molthagen 96). Der Inhalt des ersten Edikts vom August 257 läßt sich aus den protokollarischen Uberlieferungen von den Verhören gegen Dionysius und Cyprian erschließen, wie sie im Brief des Dionysius an Germanus (Euseb, hist. eccl. 7,11,6 ff) bzw. im 1. Teil der Acta proconsularia Cyprians erhalten sind. Unter Strafe der Relegation wurde für den Klerus der Opfervollzug angeordnet; das Abhalten religiöser Versammlungen und der Besuch der christlichen Friedhöfe wurden bei Androhung der Kapitalstrafe verboten, der Besitz der christlichen Gemeinden konfisziert. Das Edikt sollte also weniger den einzelnen Christen treffen, sondern das kirchliche Leben unterbinden. Allerdings hatten die zum Opfern aufgerufenen Kleriker die Möglichkeit, nach dem Opfervollzug für die Staatsgötter den Christengott weiterzuverehren (Euseb, hist. eccl. 7,11,7.9; vgl. Pass.Cypr 1,1; Freudenberger: FS D.Daube). Dieses Mal hielt sich die Kirche besser als beim Opferedikt des Decius; die vorhergehenden Provinzialsynoden über die Behandlung der Folgen des decischen Edikts hatten sie offenbar für diesen zweiten Ansturm gerüstet. Das zweite Edikt, ein Reskript Valerians an den Senat (Cyprian, Ep. 80,1 f), beendete

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diese Bedenkzeit rigoros: Alle Kleriker, die dem ersten Edikt nicht Folge geleistet hatten, werden sofort hingerichtet, christliche Senatoren, höhere Beamte und Ritter verlieren Rang, Amt und Vermögen, bei Beharren im christlichen Glauben erleiden sie ebenfalls die Kapitalstrafe, christliche Frauen aus der Schicht der bonestiores werden mit Entzug des Vermögens und Relegation bestraft, untergeordnete kaiserliche Beamte werden zur Zwangsarbeit verurteilt. In Rom, Nordafrika, Spanien und Palästina starben Bischöfe wie Xystus von Rom, Cyprian, Fructuosus von Tarragona, aber auch einfache Kleriker und Christen. Dionys von Alexandrien dagegen überlebte an seinem ägyptischen Verbannungsort, wahrscheinlich aufgrund der Katastrophe Valerians im Krieg gegen den Sassaniden Schapur I., die im Juni 260 mit seiner Gefangenschaft beim Fall Edessas endete. Valerians Sohn, Mitregent und Nachfolger, Gallienus, schloß sofort Frieden mit der Kirche, den er in einem Reskript an die Bischöfe Ägyptens, voran den mächtigen Dionys, publizierte (Euseb, hist. eccl. 7,13). In diesem Reskript wurde „dem christlichen Kult und seinen Dienern Freiheit und Sicherheit" wohl zum ersten Male - gegeben, die beschlagnahmten Kultstätten und Friedhöfe wurden den Gemeinden zurückerstattet. 1.11. Von 260 bis 303 genoß die Kirche praktisch Frieden und konnte ihre Organisation ausbauen sowie wenigstens in ihren Kerngebieten —»Syrien, —»Palästina, —»Kleinasien, —»Ägypten und Nordafrika (—»Afrika) auch große Anteile der Landbevölkerung gewinnen. Erst gegen Ende der Herrschaft Diokletians ( 2 8 4 - 3 0 5 ) kam es zur heftigsten, gründlichsten Christenverfolgung. Laktanz und viele moderne Historiker sehen nicht in Diokletian selbst, sondern in seinem orientalischen Caesar und Schwiegersohn Galerius den eigentlichen Anstifter dieser Verfolgung (Laktanz, Mort. pers. 9—11; Grégoire 77ff; Frend, Martyrdom 4 8 9 f ; dagegen: de Sainte Croix, Aspects 109 f; Molthagen 117 Anm.87). Konstantin scheint die Verfolgung hauptsächlich dem persönlichen Aberglauben Diokletians zugeschrieben zu haben (Euseb, V . C . 2,51; Konstantin, Or. 24f). Sicherlich war Galerius ein Christenfeind, aber Diokletians restaurative Politik hatte wohl von Anfang an auch ein Vorgehen gegen die Christen als die bedeutendste Religionsgemeinschaft, die die überlieferte römische Staatsreligion ablehnte, notwendig gemacht. Aus dem Toleranzedikt des Galerius vom Jahre 311 wird deutlich, daß es das erklärte Ziel der Tetrarchie war, „alles nach den alten Gesetzen und der staatlichen Disziplin der Römer zu reformieren" (Laktanz, Mort. pers. 34,1; Euseb, hist. eccl. 8,17,6). Selbstverständlich wurden von Anfang an in der Armee keine christlich begründeten Insubordinationen geduldet (Frend, Martyrdom 487). Kurz nach 300 wurden alle Palastangehörigen zum Opfern aufgefordert, die Truppenkommandeure angewiesen, die Soldaten zum Opfern zu zwingen oder sie aus dem Heer zu entlassen (Laktanz, Mort.pers. 10,4; Euseb, hist. eccl. 8,4). Am 23. Februar 303 wurde in Nikomedien das erste Verfolgungsedikt erlassen und spätestens nach einigen Wochen in allen Provinzen veröffentlicht. Danach sollten die christlichen Kirchen zerstört, die christlichen Schriften verbrannt werden; christliche Versammlungen wurden verboten. Christen sollten alle Ämter und Würden sowie alle damit verbundenen Privilegien verlieren, die Rechtsfähigkeit wurde ihnen aberkannt, kaiserliche Freigelassene sollten bei Festhalten am Christentum ihre Freiheit verlieren. Diokletian nahm also die christenfeindlichen M a ß n a h m e n des ersten valerianischen Ediktes in verschärftem M a ß e auf. Die Todesstrafe wurde allerdings noch nicht angedroht, einige trotzdem bereits nach dem ersten Edikt erfolgte Martyrien lassen sich als Folgen von Provokationen der Behörden durch radikale Christen erklären. Im Verlauf des Jahres 303 wurden zwei weitere Edikte erlassen, nach denen der christliche Klerus zunächst verhaftet und dann zum Opfern überredet oder durch Foltern gezwungen, danach entlassen werden sollte. Im Osten scheinen die meisten Kleriker gehorcht zu haben, im Westen sind diese beiden Edikte wohl schon nicht mehr veröffentlicht worden. Im Frühjahr 304 erging schließlich das vierte Edikt, der allgemeine Opferbefehl für die gesamte Reichsbevölkerung (Euseb, M a r t . Pal. 3 1 ; Laktanz, M o r t . pers. 15,4). Dieses vierte Edikt wurde allerdings nur im Osten, nicht im Westen des Reiches veröffentlicht und angewandt (dazu: de Sainte Croix, Aspects 84ff).

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Christenverfolgungen

1.12. Mit der A b d a n k u n g Diokletians und M a x i m i a n s am l . M a i 305 endete die Verfolgung im Westen; denn Constantius Chlorus, der neue Augustus des Westens, der schon als Caesar das erste Edikt nur sehr zurückhaltend in seinem Gebiet Gallien und Britannien durchgeführt hatte, stellte wohl noch vor seinem Tod am 2 5 . 7 . 3 0 6 alle Verfolgungen ein. Die westlichen Usurpatoren —»Konstantin und Maxentius hatten noch weniger Anlaß, die christenfeindliche Politik der Tetrarchie fortzusetzen. Aber auch im Osten stellten Galerius und der neue Caesar für die Diözese Oriens, M a x i m i n u s Daia, wenigstens bis zum April 306 die D u r c h f ü h r u n g des vierten Edikts ein (Thomas). Im April 3 0 6 w u r d e dann das vierte Edikt auch in Caesarea veröffentlicht, unter dem bis zum August 3 0 9 viele Christen in der Diözese Oriens, vor allem in Ägypten und Palästina, den Tod fanden bzw. in die Bergwerke Oberägyptens zur Zwangsarbeit verschickt w u r d e n . Trotz Galerius' Toleranzediktes von 311 verfolgte M a x i m i n seit O k t o b e r 3 0 9 in Kleinasien eine konsequente Politik des Ausbaus einer heidnischen religiösen Organisation, die noch im Jahre 311 zu Einschränkungen der gerade erst erlaubten christlichen Gottesdienste und zu Martyrien einiger Bischöfe, vor allem des Petrus von Alexandrien, führte. Ziel dieser Politik war die Vertreibung des Christentums aus den Städten. Im N o v e m b e r 312 kam es sogar zu einem Grenzkrieg mit dem inzwischen christlich gewordenen Vasallenkönigreich Armenien (vgl. Frend, M a r t y r d o m 505 ff; T h o m a s 178 ff). Inzwischen war Maxentius gegen Konstantin in der Schlacht an der Milvischen Brücke am 28. Okt. 3 1 2 unterlegen. Seine christenfreundlichen M a ß n a h m e n wurden vom Sieger sogar noch überboten: Im Winter 3 1 2 wurden von Konstantin die letzten christenfeindlichen M a ß n a h m e n aufgehoben, was im Februar 313 auf dem Treffen von Mailand zwischen ihm und Licinius zur endgültigen Duldung der Kirche und völligen Wiederherstellung ihres Eigentums und ihrer Organisation führte; dieses A b k o m m e n machte Licinius nach dem Sieg über M a x i m i n für seinen Bereich im Edikt von Nikomedien vom 1 3 . 6 . 3 1 3 (Laktanz, M o r t . pers. 4 8 , 2 - 1 2 ; Euseb, hist. eccl. 1 0 , 5 , 2 - 1 4 ) verbindlich. Am 3 0 . 4 . 3 1 3 war es nämlich zur Entscheidungsschlacht um den Osten zwischen Licinius u n d Maximin bei Adrianopel gekommen, die deutlich als Religionskampf gesehen w u r d e und die Licinius und damit das Christentum für sich entschied (Grégoire 87ff). M a x i m i n m u ß t e sich in die alte Diözese Oriens zurückziehen und seinerseits ein Toleranzedikt erlassen (Euseb, hist. eccl. 9 , 1 0 , 7 - 1 1 ) . D a m i t endete die Verfolgung des Christentums; den Weg zur Staatskirche (—»Kirche und Staat; —»Byzanz) konnten auch gelegentliche Rückschläge wie 3 2 2 / 2 3 im Osten unter Licinius oder unter dem Apostaten Julian 3 6 2 / 6 3 bis zum Sieg des Islam nicht aufhalten.

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Christenverfolgungen

29

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2 . Spätantike 2.1.

Verfolgungen

außerhalb

des Römischen

Reiches

Gotien

N ö r d l i c h d e r u n t e r e n D o n a u , z w i s c h e n A l t u n d D n j e s t r , s t a b i l i s i e r t sich i m a u s g e h e n d e n 3 . Jh. der Siedlungs- und Herrschaftsbereich der terwingischen G o t e n , die 3 3 2 der r ö m i s c h e n O b e r h e r r s c h a f t u n t e r w o r f e n w e r d e n . H i e r e x i s t i e r t b e r e i t s in k o n s t a n t i n i s c h e r Z e i t kirchlich organisiertes Christentum unter einem Bischof von Gotien (—»Germanenmission, a r i a n i s c h e ) . E s e r l e b t in den v i e r z i g e r J a h r e n des 4 . J h . eine o r g a n i s i e r t e C h r i s t e n v e r f o l g u n g , d i e w o h l i m Z u s a m m e n h a n g eines V e r s u c h s zu s e h e n ist, die r ö m i s c h e O b e r h e r r s c h a f t a b z u s c h ü t t e l n . Sie z w i n g t —»Wulfila m i t einer g r ö ß e r e n G e m e i n s c h a f t g o t i s c h e r C h r i s t e n z u r A u s w a n d e r u n g in d a s R ö m i s c h e R e i c h . E i n e z w e i t e a n t i r ö m i s c h m o t i v i e r t e V e r f o l g u n g u n t e r d e r F o r d e r u n g , die ü b e r l i e f e r t e R e l i g i o n als A u s d r u c k n a t i o n a l g o t i s c h e r L o y a l i t ä t zu w a h r e n , s e t z t 3 6 9 ein u n d d a u e r t bis m i n d e s t e n s 3 7 2 , als d e r M ä r t y r e r S a b a s seinen T o d d u r c h E r t r ä n k e n f i n d e t . Ihr H a u p t m o t o r ist d e r E x p o n e n t d e r z e i t g e n ö s s i s c h e n a n t i r ö m i s c h o r i e n t i e r t e n g o t i s c h e n K r ä f t e , d e r R i c h t e r ( F ü h r e r des G e s a m t v e r b a n d e s ) A t h a n a r i c h . B e i d e V e r f o l g u n g e n h a b e n e r h e b l i c h e s E c h o i n n e r h a l b der r e i c h s r ö m i s c h e n C h r i s t e n h e i t g e f u n den. 2.2. 2.2.1.

Sassanidenreich I m G e g e n s a t z zu s e i n e m N a c h f o l g e s t a a t s c h e i n t sich die P a r t h e r h e r r s c h a f t d e r A r -

s a k i d e n t o l e r a n t g e g e n die A n f ä n g e d e r c h r i s t l i c h e n G e m e i n d e n i m W e s t e n ihres R e i c h e s verhalten zu h a b e n . Eine neue E p o c h e setzte im J a h r e 2 2 4 mit der endgültigen M a c h t ü b e r n a h m e des S a s s a n i d e n A r d a s i r I. ein, d e r , w o h l u n t e r d e r A n l e i t u n g seines r e l i g i ö s e n B e r a t e r s

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Christenverfolgungen

T o s a r / T a n s a r , den zoroastrischen M a z d a i s m u s (—»Iranische Religionen) zur Staatsreligion erhoben und eine hierarchisch gegliederte zoroastrische Staatskirche eingeführt h a t (Frye, Notes). Diese mazdaistische Staatskirche war außerhalb der iranischen B e v ö l k e r u n g wohl k a u m tätig, wachte aber eifersüchtig darüber, daß sich kein Iranier von ihr ab- und einer anderen Religionsausübung zuwandte. Dem höheren zoroastrischen Klerus k a m g r o ß e r politischer Einfluß und vor allem auch weitgehend die Gerichtsbarkeit zu. 2 . 2 . 2 . Der N a c h f o l g e r Ardasirs I., Sapor I. ( 2 4 1 - 2 7 2 ) , knüpfte in seiner Religionspolitik noch weitgehend an die T o l e r a n z der Arsakiden an. Ein ausgesprochenes Toleranzedikt (Elisa Vardapet, hist. eccl. 3 , 1 5 - 1 8 ; J o h a n n e s von Ephesus, hist. eccl. 2 , 2 0 ) scheint aber eine tendenziöse Erfindung späterer J a h r h u n d e r t e armenischer Herkunft zu sein. T r o t z seines offenen Wohlwollens gegenüber M a n i blieb S a p o r I. stets der königliche Schutzherr der zoroastrischen Staatsreligion (Christensen 1 5 4 ff). Erst unter seinen schwachen Nachfolgern wurde diese relative T o l e r a n z von der militanten O t h o d o x i e der zoroastrischen Staatsreligion abgelöst. 2.2.3. Zunächst wandte sich die erstarkte zoroastrische Staatskirche gegen ihren gefährlichsten Konkurrenten Mani (—>Manichäismus). Neben den Manichäern (zandik) wurden aber auch die Anhänger anderer Religionen und Sekten verfolgt: „Juden, Schamanen (wohl buddhistische Wandermönche), Brahmanen, Nazarener, Christen, maktak, zandik wurden im ganzen Reich bekämpft", so lautet das Eigenlob des Hauptes der zoroastrischen Priesterschaft Kartir (Selbstzeugnis Kartirs in der Inschrift von Naqsh-i-Rustam, ed. M.-L. Chaumont: JA 2 4 8 [1960] 347; Blum 18 ff). Die Ausdehnung der Verfolgung von den Anhängern Manis auf die anderen missionarischen Religionen und Sekten scheint Kartir aber erst unter Bahram II. gelungen zu sein. Ob diese Verfolgung bei den Christen allerdings außer Qandira aus dem Harem Bahrams II. und einem christlichen Laien Qariba bar Hananja weitere Opfer gefordert hat, ist ungewiß (Chaumont, Sassanides 196; Fiey 55). Während Narses sogar gegenüber den Manichäern zur Toleranz seines Vaters Sapor I. zurückfand und wohl auch den Einfluß des zoroastrischen Klerus auf die Reichsregierung zurückdrängte, unterwarf sich sein Sohn Hormizd II. ( 3 0 2 - 3 0 5 ) wieder der Leitung der Magier und begann erneut mit der Verfolgung der Manichäer. 2.2.4. Erst unter S a p o r II. ( 3 0 9 - 3 7 9 ) k a m es zur wohl blutigsten und konsequentesten Christenverfolgung des Altertums. Der offene K o n f l i k t mit R o m um die Reversion des von Diokletian und Galerius dem besiegten Sassaniden Narses aufgezwungenen Vertrages von 2 9 8 bewirkte diese neue Politik Sapors II. Das R ö m e r r e i c h war unter K o n s t a n t i n I. zur Schutzmacht der Christen auch außerhalb der Reichsgrenzen geworden, an der sich nicht nur das bereits christlich gewordene Armenien und die vielen Christen in den 2 9 8 an R o m abgetretenen 5 Provinzen östlich des Tigris mit dem H a u p t o r t Nisibis ausrichteten, sondern auch viele Christen im Sassanidenreich selbst (vgl. Afraat, Horn. 5 ; Blum 2 7 f f ) . Konstantin beanspruchte die Rolle des Beschützers der persischen Christenheit in seinem B r i e f an S a p o r II. (Euseb, V . C . 4 , 8 f). Auch Konstantins N a c h f o l g e r , Konstantius II., blieb im O r i e n t Schutzpatron der Christen außerhalb der Reichsgrenzen. Dadurch sah sich wohl Sapor II. in seinen Plänen zur Wiedergewinnung der Adiabene und der Hegemonie über Armenien und Iberien erheblich behindert. Jedenfalls gaben wahrscheinlich politische Erwägungen den Ausschlag für den Ausbruch der Christenverfolgung. Das M a r t y r i u m des Bischofs der Reichshauptstadt Seleucia-Ktesiphon, Simon bar S a b b a j e , am Karfreitag ( 1 7 . April) 3 4 1 (so Peeters, Date u. a.) eröffnete und entfesselte die allgemeine Verfolgung der Christen im ganzen Reich. An Hand von literarkritischen Untersuchungen konnte Wiessner aus den ältesten Passionen des Simon-Kreises den geschichtlichen Verlauf eines Christenprozesses unter Sapor II. herausarbeiten (166 ff). Zunächst unterscheiden sich zwei Arten des Prozeßablaufs: Hohe Würdenträger und Beamte wurden unmittelbar vom Großkönig selbst verhört, das betraf etwa Simon bar Sabbaje, den Obereunuchen Guhistazad und den Vorsteher der königlichen Werkleute, Pusai. In Prozessen gegen weniger hochgestellte Persönlichkeiten wird die Verhandlung jeweils von einem Beauftragten des Königs geführt. Die Urteile aber sprach in beiden Prozeßarten der König selbst. Dieses Bild wird auch durch die dürftigen und sehr allgemein gehaltenen Prozeßschilderungen der adiabenischen Akten nicht gestört. Allerdings wurden diese Prozesse erst durch die Stationierung der königlichen Truppen in der Adiabene durch die Römerkriege Sapors II. ausgelöst. Der rechtserhebliche Tatbestand, der in den Verhören er-

Christenverfolgungen

31

fragt w u r d e und den U r t e i l e n z u g r u n d e l a g , w a r das F e s t h a l t e n a m c h r i s t l i c h e n B e k e n n t n i s , d . h . d o c h w o h l d a s C h r i s t s e i n als s o l c h e s .

Über den Beginn dieser großen Verfolgung berichtet das Martyrium des Großen Schlachtens in der Provinz Chuzistan mit ihrer Hauptstadt Karaka de Ladan, dem alten Susa. Opfer dieser Prozesse wurden am Ostermontag des Jahres 3 4 1 zunächst Kleriker und asketisch lebende Christen aus allen Provinzen des Reiches, die auf Befehl des Königs nach Susa gebracht worden waren. Nach dem Todesurteil entwickelte sich aus ihrer Hinrichtung ein allgemeines Christenmorden, das von der fanatischen zoroastrischen Priesterschaft angeführt wurde und erst am Sonntag nach Ostern durch die Proklamation eines neuen königlichen Ediktes endete. Dieses Gesetz bestimmte, daß den angeklagten Christen ein ordnungsgemäßes Verhör bereitet, der Versuch, die Christen zur zoroastrischen Staatsreligion zu bekehren, angestellt, der König vom Ergebnis der Untersuchung benachrichtigt und das königliche Urteil abgewartet werden müsse. Die Opfer dieser fast 4 0 Jahre andauernden Verfolgung scheinen sehr zahlreich gewesen zu sein; sie hat die christliche Kirche und ihr Wachstum im Perserreich empfindlich getroffen und zugleich den Einfluß des westlichen Christentums durch die Zurückdrängung der autochthonen Formen verstärkt. Sozomenos (hist. eccl. 2 , 1 4 ) nennt 1 6 0 0 0 Opfer, spätere arabische Chroniken noch viel mehr (Fiey 8 9 A n m . 2 8 ; vgl. Afraat, Horn. 2 1 Ende). Viele Bischofsstühle blieben bis in die Regierungszeit Bahrams IV. ( 3 8 8 - 3 9 9 ) verwaist. 2.2.5. Unter den drei schwachen Nachfolgern Sapors II. konnten die Christen allmählich aufatmen. Eine grundlegende Neuregelung des Verhältnisses der ostsyrischen Kirche zum Sassanidenreich fand aber erst unter Jezdegerd I. ( 3 9 9 - 4 2 1 ) statt. Diese Neuordnung war auch durch den Versuch dieses Königs, den Einfluß des übermächtig gewordenen zoroastrischen Klerus einzudämmen, notwendig geworden. Der Mittelsmann dieser Neuordnung war der Gesandte des oströmischen Kaisers am Sassanidenhof, der Bischof Marutha von Maipherkat (Martyropolis) im nördlichen Mesopotamien. Er war wohl schon im Jahre 3 9 9 in der persischen Hauptstadt und nahm an der Thronbesteigung des neuen Königs sowie an der Wahl Isaaks von Kaskar zum neuen Bischof der Reichshauptstadt Seleucia-Ktesiphon teil. Seit 4 0 8 ist er wieder im Perserreich, um die zerstrittene christliche Kirche mit Unterstützung des Königs zu reorganisieren (—>Nestorianische Kirche). Kurz zuvor hatte Jezdegerd I. ein Toleranzedikt für die bisher verfolgten Christen erlassen (vgl. dazu Labourt 93). Damit wurde das gottesdienstliche Leben der Christen offiziell anerkannt und geschützt, ihre allgemeine strafrechtliche Verfolgung beendet und dem christlichen Klerus Freizügigkeit und damit wohl auch missionarische Tätigkeit im ganzen Reiche zugestanden. Sicherlich aber galten Angriffe auf die zoroastrische Staatsreligion und auf ihren Kult sowie der Übertritt vom Zoroastrismus zum Christentum weiterhin als todeswürdige Verbrechen (Vööbus 2 6 1 ff gegen Sachau 7 4 f f ) . Daraus, und nicht nur aus dem erneuerten Konflikt mit Ostrom um das christianisierte Armenien, lassen sich auch die Martyrien gegen Ende der Regierungszeit Jezdegerds I. erklären (Theodoret, hist. eccl. 5 , 3 9 ) . 2 . 2 . 6 . Der Friedensvertrag von 4 2 2 zwischen Perser- und Römerreich beinhaltete jedoch auch die gegenseitige Duldung der beiden Staatsreligionen, Mazdaismus bzw. Christentum (Christensen 2 7 6 ; Neusner: StPB 1 5 , 3 8 . 4 3 ) . Allerdings löste sich die Kirche des Sassanidenreiches im J a h r 4 2 4 nach schweren inneren Streitigkeiten unter ihrem umstrittenen Katholikos Dadiso organisatorisch vom Einfluß der ,westlichen Kirche', der Kirche des römischen Reiches. Bahrams V . S o h n Jezdegerd II. ( 4 3 9 — 4 5 7 ) verfolgte zwar von seinem zweiten Regierungsjahr an die Christen Armeniens und versuchte, mindestens den armenischen Adel zum Mazdaismus zu bekehren. Natürlich hatten auch die ostsyrischen Christen unter diesen Maßnahmen zu leiden. In den Wirren nach dem T o d e Jezdegerds II. erwies sich sein jüngerer Sohn Peroz ( 4 5 9 — 4 8 4 ) mit der Unterstützung des zoroastrischen Klerus als Sieger. Er begünstigte unter den Christen den Leiter der neugegründeten nestorianischen Schule von Nisibis, Barsauma, und dessen Bemühungen, die lehrmäßige Trennung der persischen Kirche von Ostrom zu erreichen. Unter den Königen Balas ( 4 8 4 - 4 8 8 ) und Kavad I. ( 4 8 8 - 5 3 1 )

32

Christenverfolgungen

wurde das Wachstum dieser nestorianischen Kirche des Sassanidenreiches mehr durch innere Streitigkeiten um die Besetzung des Katholikates von Seleucia-Ktesiphon und durch Kämpfe gegen das Vordringen des Monophysitismus (Jakobiten) gestört als durch christenfeindliche Maßnahmen des Staates. 2.2.7. Die historisch durchweg zuverlässige Geschichte des Katholikos Mar Aba ( 5 4 0 - 5 5 2 ) zeigt, daß trotz des großen Einflusses dieses geachteten Oberhauptes der nestorianischen Kirche die Anklage der Konversion vom Mazdaismus her immer noch lebensgefährlich war. Von den 4 Anklagepunkten des mobadhan mobadh Dadhormizd gegen Mar Aba im Jahre 541: erfolgreiche Mission unter den Mazdaisten, antizoroastrische Einschärfung des christlichen Verbotes von Vielweiberei und Verwandtenehe, Forcierung der Inanspruchnahme der innerkirchlichen Gerichtsbarkeit und die eigene Konversion vom Mazdaismus zum Christentum (Leben Mar Abas 28 [BKV 22, 211]), nahm der Großkönig nur die vierte, erst im Verlauf der Nachstellungen des zoroastrischen Klerus offenbar gewordene, Anklage (ebd. 19 [203]) auf und verlangte darüber Rechenschaft. Offenbar verstieß die Konversion eines adeligen Iraniers vom Mazdaismus zum Christentum auch unter dem toleranten Khusro I. immer noch gegen ein grundlegendes Verbot des Sassanidenreiches. Die letzten Jahre dieses Reiches bis zur arabischen Eroberung und zum Ende des letzten regierenden Sassaniden Jezdegerd III. 651 waren für die persischen Christen eine Zeit erbitterter Kämpfe und Hofintrigen zwischen den Nestorianern und den aufstrebenden Jakobiten (—»Jakobitische Kirche), denen die versteinerte Orthodoxie der Mazdaisten kaum noch Widerstand entgegenbrachte; eine wirkliche Christenverfolgung fand aber trotz einiger Martyrien nicht mehr statt. 2.3. Armenien und Georgien

bis zur arabischen

Eroberung

2.3.1. In Erez, dem Ort des durch Tiridates III. intensivierten Anahitkultes, weigert sich Gregor, der seit dem römischen Exil vertraute Gefolgsmann des jungen Königs, die Opfergaben seines Herrn zum Tempel der Anahit hinaufzubringen, und gibt sich als überzeugter Christ zu erkennen. Der König versucht ihn daraufhin vergeblich durch Drohungen und Foltern zum Opfern zu bewegen und läßt ihn schließlich in eine Schlucht bei der alten Landeshauptstadt Artaxat werfen, damit er dort den Tod fände (Agathangelos, armen. 4 8 - 1 2 2 ; griech. 2 1 - 5 4 ) . Die Folge dieses Zusammenstoßes waren zwei christenfeindliche Erlasse des erzürnten Königs. Im ersten fordert Tiridates III. nach der Anrufung der iranisch-armenischen Göttertrias Aramazd (Zeus), Anahit (Artemis) und Vahagn (Herakles) besonders die Großen seines Reiches auf, für den reibungslosen Kult der einheimischen Götter zu sorgen und alle Feinde der Götter vor das königliche Gericht zu bringen. Deren ganzes Vermögen soll dem jeweiligen Denunzianten zufallen (Agathangelos, armen. 1 2 6 - 1 3 1 ) . Das zweite Edikt wendet sich dagegen ausdrücklich gegen die Christen. Der Zorn der Götter habe sich über das Land gesenkt, vor allem wegen der Verbreitung des christlichen Glaubens. Wer Christen kennt, soll sie anzeigen (vgl. Agathangelos, armen. 135 f; griech. 57b—58). Wahrscheinlich waren diese beiden Erlasse nur die Auswirkung der diokletianischen Verfolgung auf den armenischen Vasallenstaat des Tiridates III. (Peeters, Intervention 237 ff). Denn inzwischen war Tiridates III. nach der Katastrophe des zum Herrscher des iranischen Reiches aufgestiegenen Narses durch den großen Sieg des Galerius im römisch-persischen Vertrag von Nisibis im Jahre 298 zum alleinigen Herrscher über das gesamte —»Armenien geworden, mußte seine Politik aber wohl ganz nach dem römischen Vorbild ausrichten. Die dadurch ausgelöste Verfolgung der Christen bis hin zur Bekehrung des Königs und seiner Großen durch Gregor ,den Erleuchter' dauerte etwa eine Dekade. Dieser ersten armenischen Verfolgung sind wohl auch die armenischen Protomärtyrerinnen Rhipsime, Gaine und ihre 33 Gefährtinnen zum Opfer gefallen (Agathangelos, armen. 1 4 7 - 2 1 0 ; griech. 5 9 - 8 9 ; vgl. Weber 117ff). 2.3.2. Dieses zunächst nur oberflächlich christianisierte Armenien neigte im Kampf der beiden vorderorientalischen Großmächte Iran und Rom bzw. Ostrom mehr zum christlichen Nachbarn als zur mazdaistischen Macht. Daher versuchte das Sassanidenreich immer

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wieder, seine Staatsreligion auch in A r m e n i e n d u r c h z u s e t z e n , Armenien kulturell u n d religiös zu iranisieren, meist mit Hilfe adeliger a r m e n i s c h e r A p o s t a t e n . Im V e r t r a g von 3 6 3 nach d e m T o d e Kaiser Julians überließ dessen N a c h f o l g e r J o v i a n den Persern unter Sapor II. auch G r o ß a r m e n i e n als Einflußbereich Irans ( A m m i a n u s Marcellinus 25,7,9—12; Faustus v. Byzanz 4,21). Da sich aber die Armenier mit allen Mitteln erfolgreich gegen die völlige Eingliederung ihres Landes in den Sassanidenstaat w e h r t e n , k a m es u n t e r Sapor II. in Armenien noch nicht zu einem systematischen V o r g e h e n gegen die Christen. W o h l im J a h r e 4 4 9 forderte Jezdegerd II. die armenischen G r o ß e n auf, ihre bisherige falsche Religion a u f z u g e b e n u n d den M a z d a i s m u s zu ü b e r n e h m e n (Lazar v. Pharbi 2 0 ; vgl. Elisa V a r d a p e t ; zur historischen G l a u b w ü r d i g k e i t dieser Uberlieferung vgl. v . a . P. Peeters: AnBoll 4 4 [ 1 9 2 6 ] 1 7 1 - 1 7 4 ) . Auf dieses R u n d s c h r e i b e n hin versammelten sich die Bischöfe u n d G r o ß e n Armeniens u n d verfaßten eine scharfe A n t w o r t . Sie b e t o n t e n z w a r ihre politische Loyalität gegenüber dem Sassanidenreich, lehnten aber jeden Übergriff auf ihren christlichen G l a u b e n ab. Jezdegerd II. ließ d a r a u f h i n die armenischen G r o ß e n sowie einige b e n a c h b a r t e k a u k a s i s c h e Fürsten an seinen H o f k o m m e n u n d z w a n g sie, den mazdaistischen Kult a u s z u ü b e n . Bei ihrer R ü c k k e h r nach Armenien w u r d e n sie von über 7 0 0 mazdaistischen Priestern ( m o g h a n ) u n d O b e r p r i e stern (mobadhan) begleitet, welche die B e k e h r u n g A r m e n i e n s z u m M a z d a i s m u s d u r c h f ü h ren sollten. N a c h ihrer A n k u n f t errichteten sie an den wichtigsten O r t e n des Landes Pyreen, ja verwandelten selbst christliche Kirchen in solche Feuerheiligtümer. Die übrigen Kirchen w u r d e n geschlossen, die christlichen Gottesdienste v e r b o t e n , der christliche Klerus m u ß t e Laienkleidung tragen, die f ü r die Christen besonders a b s t o ß e n d e n mazdaistischen Bräuche wie die W a s c h u n g e n mit R i n d e r h a r n oder die Geschwisterehe w u r d e n ausdrücklich gefördert (Lazar v. Pharbi 2 8 ; Elisa V a r d a p e t ) . N a c h Elisa V a r d a p e t b e g a n n der christliche Wid e r s t a n d im Klerus, ergriff das Volk u n d auch Teile des Adels. Im zentralen H o c h l a n d bei D w i n k a m es z u m offenen A u f r u h r u n d z u r L i q u i d a t i o n der M a g i e r u n d einiger iranischer G a r n i s o n e n . Schließlich k o n n t e der vermittelnde Statthalter Vasak von Siunik den eigentlichen G r u n d des A u f s t a n d e s beseitigen, indem er von Jezdegerd II. ein T o l e r a n z e d i k t f ü r die A u s ü b u n g der christlichen G o t t e s d i e n s t e sowie eine Amnestie f ü r die Rebellen erlangte (Lazar v. Pharbi 3 2 ; vgl. Elisa V a r d a p e t ) . Im folgenden J a h r erlitten die aufständischen Armenier z w a r eine entscheidende Niederlage bei Avarair ( 2 . 6 . 4 5 1 ) , d a sich der armenische Aufr u h r aber als Guerillakrieg fortsetzte, k a m es u n t e r einem neuen, diesmal iranischen, Statthalter z u m endgültigen T o l e r a n z e r l a ß (Lazar v. Pharbi 36). Allerdings w u r d e n die gefangenen armenischen Priester in den folgenden J a h r e n auf Befehl des G r o ß k ö n i g s vom obersten M a g a z i n v e r w a l t e r des iranischen Reiches (Erart-amberaghbadh) V e h d e n - S a p o r im Dorf R e v a n d bei N i c h a p u r hingerichtet (Grousset 2 1 1 ff bietet eine Liste dieser M ä r t y r e r ) . Gegen Jezdegerds II. N a c h f o l g e r Peroz schloß sich 4 8 2 A r m e n i e n u n t e r V a h a n M a m i k o n i a n e r n e u t einer antimazdaistischen E r h e b u n g des iberischen Königs W a c h t a n g I. G u r g a s l a n an u n d erlangte nach der K a t a s t r o p h e des G r o ß k ö n i g s im Osten Irans von dessen N a c h f o l g e r Balas 4 8 5 die Z u s i c h e r u n g der u n g e s t ö r t e n A u s ü b u n g seiner christlichen Religion u n d des V e r b o tes zoroastrischer Mission in Armenien. 2.3.3. Im A b w e h r k a m p f gegen den A n s t u r m der innerasiatischen N o m a d e n v ö l k e r u n d in der ständigen A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit O s t r o m w u r d e n den Sassaniden des 5. J h . vor allem Iberien u n d Albanien, das heutige Ostgeorgien, m i t den K a u k a s u s p ä s s e n i m m e r wichtiger (—»Georgien). D a h e r versuchten sie, wenigstens den m ä c h t i g e n Feudaladel dieses Gebietes auch religiös zu iranisieren. In diesem Z u s a m m e n h a n g ist das M a r t y r i u m der hl. Susanik, d e r T o c h t e r des Armeniers V a r d a n M a m i k o n i a n u n d G a t t i n des M a r k g r a f e n der iberischen G o g a r e n e , ü b e r 6 J a h r e h i n w e g von 4 6 9 bis 4 7 5 zu sehen (Daten n a c h Tarchnisvili 85 f; gegen Peeters: AnBoll 53,5). D u r c h eine aktive christenfeindliche mazdaistische Bekehrungspolitik in Iberien suchten K a v a d h I. nach 4 9 8 / 9 9 u n d später auch sein S o h n K h u s r a u I. Iberien zu einem sicheren n o r d w e s t l i c h e n Eckpfeiler des sassanidischen Reiches auszugestalten u n d sich d a d u r c h zugleich das W o h l w o l l e n des nach wie vor einflußreichen z o r o a s t r i s c h e n

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Christenverfolgungen

Klerus im Iran zu sichern (Christensen 3 5 2 f ; T o u m a n o f f 6 0 2 f ) . In diese Zeit fällt auch das M a r t y r i u m des Eustathius in der iberischen Hauptstadt M z k h e t a . Dieser in Iberien vom M a z d a i s m u s zum Christentum bekehrte Iranier wurde 5 4 0 / 4 1 der Apostasie von der sassanidischen Staatsreligion angeklagt und 5 4 4 / 4 5 hingerichtet ( D s c h a w a c h o f f / H a r n a c k 8 7 5 f f ; Lang 9 4 f f ) . 2.4.

Vorislamisches

Südarabien

Im 6. J h . versuchten die jeweiligen angrenzenden Verbündeten und Vasallen F u ß in diesem für den Osthandel außerordentlich wichtigen Gebiet zu fassen: Die mächtigen sassanidischen Vasallen, die arabischen L a k h m i d e n von Hira unter M u n d i r III. ( 5 0 3 - 5 5 4 ) und Yus u f = D u - N u w a s (arab., = D i m i o n [syr.] = D u n a a s [griech.]), der auch den syrischen Beinamen M a s r u q erhielt, einem zum J u d e n t u m bekehrten Himyaritenkönig, vertraten die Interessen Irans, die Ghassaniden unter ihrem Herrscher, dem byzantinischen Phylarchen und M o n o p h y s i t e n J a b a l a (bis 5 2 8 ) , u n d vor allem der äthiopische Herrscher C a l e b = E l e s boas/Elesbaan griffen auf W u n s c h und im Auftrag des christlichen Römerreiches ein. Zentrum der Auseinandersetzungen war die bedeutende südarabische Weberstadt N a g r a n . Sie war offensichtlich der H a u p t o r t der mit dem monophysitischen —»Äthiopien verbündeten südarabischen —»Monophysiten. N a c h einem w o h l erfolglosen ersten Feldzug der Äthiopier nach Südarabien versuchte der Himyaritenherrscher mit iranischem und lakhmidischem Einverständnis seinen südarabischen M a c h t b e r e i c h von unzuverlässigen monophysitischen Parteigängern Äthiopiens zu säubern. W e r sich dem Heidentum bzw. dem J u d e n t u m anschloß, war der Strafverfolgung entzogen, standfeste monophysitische Christen wurden dagegen vor allem nach der Eroberung N a g r a n s zunächst durch trügerische Versprechungen in die Falle gelockt und gefangen, danach hingerichtet, nachdem die Kirchengebäude und die Gebeine der M ä r t y r e r (wohl aus der Z e i t des ersten äthiopischen Feldzuges) schon vorher verbrannt worden waren, wie das der genaue Bericht im neuentdeckten Brief des Simeon von Beth-Arsham über die südarabischen M ä r t y r e r aufzeigt (dazu: Shahîd, bes. 3 1 ff). Diese 5 1 8 - 5 2 0 erfolgte (Shahid 2 5 3 ff), viele O p f e r fordernde Verfolgung wurde durch die zweite äthiopische Expedition und durch den T o d des fanatischen Himyaritenkönigs Y u s u f beendet. Ihr Widerhall erreichte die ganze östliche Christenheit und führte zu einer beachtlichen hagiographischen Produktion, die vor allem von der monophysitischen und auch von der neu-chalcedonensischen M i s s i o n s p r o p a g a n d a der justinianischen Epoche aufgegriffen wurde. Quellen Zu 2.1.:

Hippolyte Delehaye, Saints de Thrace et de Mésie: AnBoll 31 (1912) 1 6 1 - 3 0 0 .

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Zu 2.2.: Georg Günter Blum, Zur religionspolitischen Situation der persischen Kirche im 3. u. 4. Jh.: ZKG 91 (1980) 1 1 - 3 2 . - Marie-Louise Chaumont, Les Sassanides et la Christianisation de l'Empire Iranien au IIIesiècle de notre ère: RHR 165 (1964) 1 6 5 - 2 0 2 . - A r t h u r Christensen, L'Iran sous les Sassanides, Kopenhagen 1936. - Paul Devos, Notes d'Hagiographie Perse: AnBoll 84 (1966) 2 2 9 - 2 4 8 . - J e a n Maurice Fiey, Jalons pour une histoire de l'Eglise en Iraq, 1970 (CSCO.Sub. 3 6 ) . - R i -

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3. Islamische Länder 3.1. Für sein Verhalten gegenüber anderen Religionen entwickelte der —»Islam aus Sure 9,29 des Koran die Konzeption der dhimma (lat. Äquivalent: fides), d.h. eines Vertrags zwischen dem islamischen Staat und einer bestimmten Religionsgruppe. Diese verzichtet auf ihre äußere und auch zum großen Teil auf ihre innere Souveränität und erkennt die ausschließliche Autorität des islamischen Staates an. Dafür schützt sie dieser gegen jeden äußeren und auch inneren Angriff. Der Vertrag wird ohne zeitliche Begrenzung geschlossen und kann nicht gekündigt werden. Nur die Konversion zum Islam entläßt das einzelne Glied der durch die dhimma gebundenen Religionsgemeinschaft, den dhimmi, aus seiner Rechtsverpflichtung. Die dhimma garantiert dem dhimmi die persönliche Rechtsfähigkeit, das Recht des dauernden Aufenthaltes im islamischen Land und die Ausübung seiner subjektiv öffentlichen Rechte wie Religionsfreiheit, Kultfreiheit u. ä. Eigentlich politische Rechte, etwa das Recht, ein staatliches Amt zu bekleiden, hat der dhimmi dagegen nicht. Die geistlichen Oberhäupter der jeweiligen nichtislamischen Religionsgemeinschaft wurden von den islamischen Machthabern zugleich als die weltlichen Repräsentanten und die höchsten rechtlichen Instanzen ihrer Religionsgenossen angesehen und behandelt. Sie hatten die religiösen, rechtlichen und politischen Verhältnisse ihrer Gemeinschaften zu regeln und gegenüber der muslimischen Regierung zu verantworten (vgl. dazu Fattal 214ff.344). Der einzelne dhimmi war also zunächst der Gerichtsbarkeit seines eigenen religiösen Oberhauptes unterworfen. - Diese Rechte wurden dem dhimmi unter der Bedingung gewährt, daß er eine besondere Steuer, die gizya, entrichtet und sich der islamischen Staatsgewalt unterordnet (vgl. Fattal 71 ff).

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3.2. Diese Kopfsteuer für die nichtislamischen Einwohner des dar-al-islam w u r d e als diskriminierend e m p f u n d e n und war auch so gemeint (Fattal 2 8 6 f f ) . Dies führte vor allem vom 8. Jh. an zu einer rasch wachsenden Zahl von Bekehrungen zum Islam. Den bekehrten nichtarabischen Untertanen der Kalifen wurde aber zunächst die rechtliche Gleichstellung mit den genuinen, meist arabischen Muslimen verweigert, sie wurden so in die Opposition zur herrschenden Omajaden-Dynastie getrieben (vgl. dazu L. V. Vaglieri: Cambridge History of the Islam 1,89ff; Spuler, Chalifenzeit 4 3 f ; M a n t r a n 2 5 8 f f ; Cahen 37ff). O m a r II. ( 7 1 7 - 7 2 0 ) versuchte, die Unzufriedenheit der Neubekehrten zu stillen, indem er ihnen u. a. die Kopfsteuer erließ. Das bedeutete aber die verschärfte Diskriminierung der anderen, vor allem der starken christlichen Untertanengruppen. Die bisherigen diskriminierenden Bestimmungen, wie das Verbot, neue Kirchen oder Synagogen zu bauen, wurden bekräftigt und besser überwacht, die öffentliche Kultausübung wurde eingeschränkt (Fattal 1 7 4 f f . 2 0 3 f f ) , diskriminierende Kleiderordnungen wurden erlassen. Diese Bestimmungen wurden später nur unter christenfeindlichen Kalifen und Herrschern wie H a r u n al-Raschid ( 7 8 6 - 8 0 9 ) oder al-Mutawakkil ( 8 4 7 - 8 6 1 ) bzw. H a k i m ( 9 9 6 - 1 0 2 1 ) wieder eingeschärft. Sonst herrschte im Islam des Früh- und Hochmittelalters weitgehende Toleranz (vgl. Hitti 3 5 2 ff; Levi-Proven^al 1,77 f). Es kam jedoch auch in der Frühzeit des Islam zu unmittelbaren Bedrückungen und Verfolgungen christlicher Untertanen, die vor allem im abbasidischen Ägypten christliche Aufstände hervorriefen. So kennen wir zwischen 7 2 5 / 7 2 6 und 7 7 3 insgesamt sechs koptische Aufstände, die unterdrückt wurden und eine deutliche Verschlechterung der Lage der —»koptischen Kirche zur Folge hatten (Spuler, Koptische Kirche 288 f). 3.3. Die relative Toleranz des Islam gegenüber den sog. Schriftreligionen hatte ihre eindeutige Grenze gegenüber den Apostaten vom Islam. Die überwiegende Mehrzahl christlicher Martyrien in islamischen Gebieten und Staaten betraf solche Apostaten, d. h. Christen, die vorher entweder Muslime gewesen waren oder als solche gegolten hatten (Beispiele aus dem Mittelalter bei Fattal 165 ff). Die arabische Halbinsel soll bereits durch O m a r I. (634—644) gegen Ende seiner Regierungszeit von Christen und Juden gesäubert worden sein. Jedenfalls wurden die christlichen Bewohner von N a g r a n und die jüdischen Bewohner von Chaibar, Fadah und anderen jüdischen Kolonien von O m a r I. mehrheitlich aus Arabien vertrieben, während der christlich-arabische Stamm der Taghlibiten in seinen alten W o h n gebieten bleiben durfte (Fattal 3 4 f f ) . 3.4. Diese eingeschränkte Duldung christlicher Untertanengruppen unter dem Statut der dhimma wurde auch von den türkischen Seldschuken ü b e r n o m m e n , die seit 1040 bzw. 1055 die Schutzherrschaft über das eigentliche Z e n t r u m des Abbasidenreiches (Iran und Irak) an sich gerissen hatten (A. K. S. Lambton 2 0 3 ff). Dieselbe Religionspolitik galt grundsätzlich auch für Anatolien. Allerdings sahen sich gerade die turkmenischen N o m a d e n als Gazik ä m p f e r für den Islam und veränderten die religiöse und ethnische Struktur der vorher durchwegs christlichen griechischen bzw. im Osten der Halbinsel auch armenischen und syrischen Bevölkerung Kleinasiens (vgl. Vryonis, bes. 143 ff; Dagron). Etwa dieselbe Zeit sah auch den Niedergang und das Ende des bis dahin stark von Byzanz beeinflußten Christentums in Nubien durch eindringende islamische Araberstämme; auch hier ist aber eine systematische Verfolgung und Vernichtung des vorher blühenden Christentums nicht nachweisbar (vgl. Frend: J E H 26,218 ff). 3.5. Diese rasche Islamisierung des Orients wurde zu Beginn des 13. Jh. durch den M o n golensturm unterbrochen. Die M o n g o l e n waren gegenüber fremden Religionen duldsam. Als sich jedoch im Ilchanenreich der gläubige Schiit Gazan am Ende des 13. Jh. durchsetzte, führte er schon am Tage seiner Thronbesteigung die Kopfsteuer für Christen und Juden wieder ein, leitete eine Zerstörungswelle gegen christliche, jüdische und buddhistische Kultstätten ein und duldete zunächst blutige Ausschreitungen gegen die Christen durch die islamische Bevölkerung. Erst ab 1297 traten wieder Erleichterungen für die Christen ein, jedenfalls wurden die schlimmsten Übergriffe der M o h a m m e d a n e r u n t e r b u n d e n (Spuler, M o n g o l e n

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227 f). Der endgültige Niedergang des Christentums im Zweistromland und im Iran war damit jedoch eingeleitet. 3.6. Im 13. J h . w a r auch die allmähliche türkische Eroberung und Durchdringung Anatoliens zum Stillstand gekommen. Das änderte sich im 14. und 1 5 . J h . , als die ottomanische Herrschaft auf das ganze Kleinasien und die gesamte Balkanhalbinsel ausgedehnt wurde. Allerdings bedeutete die endgültige Eroberung Konstantinopels 1 4 5 3 auch den Beginn der Stabilisierung der kirchlichen Organisation im reduzierten Rahmen und damit die Sicherung des verbliebenen Bestandes des christlichen Glaubens im Osmanenreich. Denn durch die Einführung des millet-Systems für die Griechen ( = O r t h o d o x e , dazu zählten auch die nicht-griechischen christlichen V ö l k e r des Balkans) unter dem griechischen Patriarchen von Konstantinopel im J a h r 1 4 5 4 (Hering 2 3 1 ff) und seit 1 4 6 1 auch für die Armenier ( = alle nichtorthodoxen christlichen Untertanen der Osmanen) waren die Christen wieder als dem Schutze des Sultans unterstehende, offiziell anerkannte Untertanengruppen registriert und dem Statut der dhimma mit der Verpflichtung zur Entrichtung der gizya unterworfen (vgl. H . Inalcik: EI 2 , 2 , 5 6 2 - 5 6 6 ; Shaw 1 5 1 . 3 1 5 ff: Lit.). Die W i r k u n g dieser rechtlichen Einordnung der christlichen Kirchen in den ottomanischen Staat war sowohl für Anatolien wie für den Balkan durchweg die Stabilisierung, ja sogar ein leichtes Wachstum des christlichen Bevölkerungsanteils (vgl. dazu Vryonis 4 4 4 f f ; F. Taeschner: EI 2 1 , 4 6 9 ff).

3.7. Erst im 19. Jh. kam es durch die nationalen Befreiungsbewegungen der christlichen Balkanvölker und durch entsprechende Ansätze bei christlichen Minderheiten in den asiatischen, vor allem in den mesopotamischen und syrischen, Provinzen zu islamisch-türkischen Reaktionen. Der erwachende Panislamismus und türkische Nationalismus trafen besonders die christlichen Armenier, gleichgültig welchem christlichen Bekenntnis (gregorianisch, uniert oder protestantisch) sie auch angehörten. Nach dem Aufruf zum bewaffneten Kampf gegen die Türken im Jahre 1892 kam es vom 12. August 1894 an zu den ersten Armeniermassakern in den Bergen des Sassun südlich des Van-Sees. Auf das an sich mäßigende Eingreifen der europäischen Großmächte hin (20. Okt. 1895) ereigneten sich in allen Großstädten des türkischen Reiches blutige Ubergriffe der islamischen Massen gegen die armenische Minderheit, bes. im Armenierviertel Kas-Kevi der Hauptstadt Istanbul. Aber auch in den übrigen Städten mit größerem armenischen Bevölkerungsanteil (Erzerum, Bitlis, Malatia, Siwas, Tokat, Tarsus) starben damals etwa 1 0 0 0 0 0 Armenier, nur die armenischen Mehrheiten in Van und in dem Städtchen Zeitun im Taurusgebirge konnten sich verteidigen. Im Frühjahr 1909 kam es zu erneuten Massakern an der armenischen Minderheit, vor allem in Kilikien im Bereich der Stadt Adana, denen etwa 2 0 - 3 0 0 0 0 Christen zum Opfer fielen. Bereits vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges war wohl eine Art,Endlösung' der Armenierfrage konzipiert worden (Lepsius, Todesgang 173 ff). Modellhaft waren im 3. Balkankrieg vom Herbst 1912 die Armenier im türkischen Thrakien planmäßig deportiert, die Männer zumeist getötet, Frauen und Kinder durch Einweisung in türkische Harems und Waisenhäuser islamisiert worden. 3.8. Die Armeniermassaker des 1. Weltkrieges waren wohl nur der schreckliche Beginn einer geplanten allgemeinen Säuberung der —»Türkei von allen nichtislamischen, ja u . U . nichttürkischen Bevölkerungsgruppen. Das gleichzeitige Vorgehen gegen die griechische Bevölkerung um Smyrna von 1 9 1 4 und gegen die syrische Bevölkerung des persischen Aserbeidschan nach der Besetzung durch die türkische Armee, ebenfalls 1 9 1 4 , sowie gegen die Nestorianer (Assyrer) im oberen Z a b - T a l bestätigt diese geplante Islamisierung und Turkifizierung des gesamten verbliebenen bzw. angestrebten asiatischen Reichsgebietes (vgl. Atiya 2 8 4 f).

Mit der teilweisen Ausnahme der Provinzen (wilayets) von Istanbul, Edirne, Smyrna, Damaskus, Jerusalem und Bagdad, sowie - aus anderen Gründen - der ostanatolischen wilayets Erzerum, Van und Bitlis, aus denen größeren armenischen Gruppen die Flucht auf das russische Territorium gelang, führten die angeordneten Deportationen der auf türkischem Gebiet lebenden Armenier, angeblich zwecks Ansiedlung in Mesopotamien, zur Vernichtung dieses christlichen Volkes in der Türkei. Fast 1 4 0 0 0 0 0 Armenier wurden deportiert (vgl. die Statistik bei Lepsius, Todesgang 3 0 4 ff), von denen wohl mindestens 1 Million getötet wurde (ebd. 297, Nachtrag). Andere Schätzungen der Zahl der Getöteten belaufen sich auf ca. 6 0 0 0 0 0 bei einer doppelten Zahl von Deportationen (F. Tournebize: DHGE 4 , 3 4 9 f). Daß diese geplante und rigoros durchgesetzte Vernichtungsaktion eindeutig als

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C h r i s t e n v e r f o l g u n g g e d a c h t w a r , zeigt v o r allem a u c h die d u r c h w e g g e w ä h r t e , ja a n g e b o tene M ö g l i c h k e i t , d a ß A r m e n i e r , v o r allem F r a u e n u n d Kinder, z u m Islam ü b e r t r e t e n . Solches D r ä n g e n der türkischen B e h ö r d e n a u f K o n v e r s i o n z u m Islam, das alle V e r f o l g u n g s m a ß n a h m e n beendete, k e n n z e i c h n e t die M a s s a k e r v o n 1 8 9 4 / 9 6 , 1 9 0 9 u n d 1 9 1 5 / 1 6 in gleic h e m M a ß e (Lepsius, a . a . O . 2 5 2 f f ; T o u r n e b i z e , a . a . O . 3 4 9 f ) . N o c h h e u t e b e k e n n e n sich sog. t ü r k i s c h e G a s t a r b e i t e r aus O s t a n a t o l i e n erst in d e r B R D zu i h r e m a n g e s t a m m t e n a r m e nischen C h r i s t e n t u m , n a c h d e m ihre Eltern und G r o ß e l t e r n 1 9 1 5 / 1 6 sich d u r c h A p o s t a s i e z u m Islam g e r e t t e t h a t t e n (vgl. e p d - D o k u m e n t a t i o n 2 7 - 2 8 [ 1 9 8 0 ] 4 6 f ) . Die armenische Geistlichkeit aller Konfessionen gab bei dieser Verfolgung häufig ein leuchtendes Beispiel christlichen Bekennertums (Batanian 8 ff). Viele Armenier konnten sich auch durch Flucht retten (vgl. Baronigian 3 5 ff). Die Kirchen, Klöster und religiösen Gebäude der deportierten, geflohenen oder getöteten armenischen und übrigen christlichen Untertanen wurden zunächst meistens in M o scheen umgewandelt bzw. anderen, oft militärischen Zwecken zugeführt (Tournebize, a . a . O . 3 5 1 f). 3 . 9 . Im O s t e n des zerfallenden t ü r k i s c h e n R e i c h e s , im z u n ä c h s t u n t e r britischem P r o t e k t o r a t s t e h e n d e n I r a k , k a m es u n m i t t e l b a r n a c h d e m E r l ö s c h e n des britischen M a n d a t e s zur D e z i m i e r u n g der seit d e m 1. W e l t k r i e g u n d seinen C h r i s t e n v e r f o l g u n g e n h e i m a t l o s e n N e s t o r i a n e r aus d e m o b e r e n Z a b - T a l d u r c h die i r a k i s c h e A r m e e , u n d z w a r im S o m m e r 1 9 3 3 a m mittleren E u p h r a t . A u c h in der G e g e n w a r t sehen sich die R e s t e d e r christlichen M i n d e r heiten in der m o d e r n e n T ü r k e i w i e d e r steigender D i s k r i m i n i e r u n g a u s g e s e t z t , v o r allem die j a k o b i t i s c h e n Syrer im n ö r d l i c h e n M e s o p o t a m i e n u m M a r d i n und M i d y a t , die leicht w i e d e r in blutige V e r f o l g u n g e n u m s c h l a g e n k a n n (vgl. bes. M i s s i r 1 0 9 ff; d e r s . : P O C 2 0 , 1 ff; epdDokumentation 2 7 - 2 8 [ 1 9 8 0 ] 22ff). Literatur Aziz Suryal Atiya, The Armenian Church: ders., A History of Eastern Christianity, London 1 9 6 8 , 3 0 3 - 3 5 6 . — Armenag S. Baronigian, Am Ziel! Ein Beitr. zur Gesch. der armenischen Kirche, Lössnitzgrund 2 1 9 2 9 . - Ignace Pierre Batanian, Une page de la tragédie arménienne, Bourj Hammoud 1 9 6 6 . Karl Heinrich Becker, Islamstudien, 2 Bde., Leipzig 1924/32. - Burchard Brentjes, Drei Jt. Armenien, Leipzig 1 9 7 3 . - Leone Caetani, Annali dell'Islam, 10 Bde., Mailand 1 9 0 5 - 1 9 2 6 . - Claude Cahen, L'Islam. I. Des origines au début de l'empire ottoman, Paris 1 9 7 0 . - The Cambridge History of Islam, 2 Bde., Cambridge 1 9 7 0 , 1 , 7 3 7 - 7 5 0 ; 1 1 , 8 9 1 - 9 0 5 . - M . 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4. Ostasien Bald nach den großen Entdeckungen kamen im 16. J h . Missionare nach Ostasien (—»Mission). In keinem Missionsgebiet kostete die Konfrontation so viele Opfer wie dort während der letzten drei Jahr-

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h u n d e r t e . N a c h a n f ä n g l i c h e n E r f o l g e n der M i s s i o n s t ä t i g k e i t w u r d e n die christlichen Ideen als A u s d r u c k einer fremden K u l t u r a b g e l e h n t und b e k ä m p f t . D e r P r o z e n t s a t z der Christen in diesen L ä n d e r n heute ist v e r s c h w i n d e n d gering, a u c h w e n n völlige Religionsfreiheit wie in J a p a n h e r r s c h t . In k o m m u n i stisch regierten L ä n d e r n teilt d a s C h r i s t e n t u m das Schicksal der a n d e r e n Religionen und ist fast ganz verschwunden.

4.1. —»China 4.1.1. Im Jahre 635 wurde im China der T'ang-Dynastie (618-906) die erste Nestorianergemeinde (—»Nestorianische Kirche) gegründet. 845 wurden auch die Nestorianer von den gegen den —»Buddhismus erlassenen Gesetzen empfindlich getroffen. Ein zweiter Missionierungsversuch wurde während der Mongolenherrschaft von den Franziskanern und Dominikanern unternommen, nach deren Ende 1368 aus Haß auf alles Fremde auch die christlichen Missionen zerstört wurden. 4.1.2. Seit dem 16. Jh. begann erneut eine rege christliche Missionstätigkeit. Die —»Jesuiten, denen die Missionierung Chinas übertragen worden war, leisteten durch ihr besonnenes Auftreten Hervorragendes. Ihre Erfolge riefen aber auch den Neid ihrer Gegner hervor. Ein Verbot ihrer Tätigkeit wurde durch den in China üblichen Weg über offizielle Throneingaben und Edikte versucht, bis sie zum Erfolg führten. In den Eingaben von 1616 und 1617 wurden die Christen beschuldigt, mit den Ausländern in Macao in engem Kontakt zu stehen und so eine politische Gefahr darzustellen, und Sektierertum zu betreiben, zwei Anklagepunkte, die im Verlauf der Auseinandersetzungen immer wiederkehrten (Kelly 35). 1617 wurde ein Edikt erlassen, das die Ausweisung der christlichen Missionare zum Inhalt hatte (übers, bei Kelly 3 0 6 - 3 0 8 ) . 1622 wurde die Ausweisung in einem neuen Edikt bekräftigt, da sie in den einzelnen Provinzen mit unterschiedlichem Eifer betrieben wurde. Die Kirche von Nanking wurde zerstört, die vier anderen Missionsstationen in China, nämlich in Peking, Hangchow, Nanchang und Nanhsiung wurden geschlossen und jede Missionstätigkeit eingestellt. 4.1.3. Nach den Jesuiten, deren Tätigkeit offiziell untersagt war, kamen verstärkt andere Orden wie die —»Franziskaner und —»Dominikaner nach China. Sie übten im Gegensatz zu den Jesuiten eine direkte Verkündigungsmethode. 1637 wurde von den Behörden von Fuchow das Verbot des Christentums in der Provinz Fukien ausgesprochen. Die ausländischen Missionare, die sich meistens versteckt hielten, wurden aufgespürt und ausgewiesen. Viele chinesische Christen wurden durch Auspeitschung bestraft, christliche Beamte wurden ihrer Ämter und Titel entkleidet (Dünne 318 ff). 4.1.4. Im allgemeinen hatten die chinesischen Behörden die trotz aller Verbote arbeitenden Missionare unter Kontrolle, doch am Hof von Peking konnte man auf ihre Tätigkeit im Kalenderamt nicht verzichten, was ein gänzliches Verbot aller Fremden unmöglich machte. Johann Adam Schall, seit 1630 als hoher Beamter am Kaiserhof tätig, fiel einer Verschwörung eines ehrgeizigen Kollegen zum Opfer (Dünne 434ff). Er und drei in Peking stationierte Jesuiten wurden inhaftiert. Ein gewaltiges Erdbeben führte zu ihrer Befreiung aus der Haft, während fünf christliche Kollegen Schalls hingerichtet wurden. Im Zusammenhang mit den Vorgängen in Peking wurden wieder einmal alle christlichen Missionare 1665 nach Kanton verbannt, wo sie bis 1671 inhaftiert blieben. Sämtliche Kirchen wurden geschlossen, den Chinesen wurde verboten, die christliche Religion anzunehmen (De Groot 2 7 1 - 2 7 6 ) . 4.1.5. Zu Verfolgungen kam es wieder unter dem Kaiser Yung Cheng (1723-1736); so wurden z.B. 1732 etwa 30 Missionare von Kanton nach Macao abgeschoben. Auch unter Kaiser Ch'ien-lung (1736—1796) stand Todesstrafe auf Verbreitung des christlichen Glaubens. 1747/48 wurden fünf Dominikaner und viele chinesische Christen hingerichtet. In Nanking, wo wieder eine christliche Gemeinde gewachsen war, fand 1748 eine drastische Verfolgung statt. 1784 entdeckte man vier franziskanische Missionare auf ihrem Weg von Kanton nach Shensi, was wiederum eine umfassende Verfolgung auslöste (vgl. Willeke 50ff). Nach 1785 gab es praktisch keine Möglichkeit mehr, in China unentdeckt das Christentum zu verbreiten. Nur in der Hauptstadt blieb eine kleine christliche Gemeinde am

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Leben. Aber 1805 wurden auch hier die Christen verhaftet, gefoltert und gezwungen, ihrem Glauben abzuschwören oder ins Exil zu gehen, nachdem man entdeckt hatte, daß eine Landkarte von China nach Rom geschickt werden sollte, die man dort für die Planung der Kirchenverwaltung zu Rate ziehen wollte. 1811 wurde noch einmal ein generelles Verbot des Christentums erlassen. Trotz aller Verbote wurden immer wieder einzelne Christen, Ausländer und Chinesen, ausfindig gemacht und oftmals mit dem Tode bestraft. Im sog. Heiligen Edikt wurde das Christentum den häretischen Sekten gleichgestellt. Nach 1838 lebte kein ausländischer Priester mehr in der Hauptstadt. 4.1.6. Im 19. Jh. verstärkten die westlichen Mächte die Handelsbeziehungen mit China. Im Vertrag von Nanking 1842 wurde China gezwungen, Hongkong abzutreten und einige andere Häfen für den Handel zu öffnen. Ähnliche Verträge folgten 1844. Bis 1860 durften sich Missionare nur in den Vertragshäfen aufhalten. Danach mußte sich die chinesische Regierung verpflichten, Missionstätigkeit im ganzen Land zuzulassen und den Schutz der ausländischen Missionare und der chinesischen Christen zu gewährleisten. Das hatte eine rasche Ausbreitung der verschiedenen katholischen Missionsorden und vor allem der protestantischen Missionsgesellschaften zur Folge. Die Feindseligkeiten gegen die Christen begannen nun nicht mehr von offizieller Seite, sondern entstanden aus dem Argwohn und den alltäglichen Reibereien im Zusammenleben mit den Nicht-Christen. Im T'ai-p'ing-Aufstand ( 1 8 5 0 - 1 8 6 4 ) hatten viele, vor allem katholische Christen, zu leiden. Es gab überall Zwischenfälle, denen einzelne Christen oder ganze Gemeinden zum Opfer fielen. Der sog. Boxer-Aufstand brach 1900 in Shantun als Volksbewegung gegen die Mandschu und ihre Bürokratie aus. Es gelang der Regierung, ihn zur Verfolgung der Christen und Vertreibung der Ausländer umzufunktionieren. Der Aufstand richtete sich nun gegen die Ausländer allgemein, in zweiter Linie erst gegen die chinesischen Christen, die als deren Werkzeug galten. Diese litten aber am meisten. Auch nach diesem Blutbad gingen in der allgemeinen politischen und sozialen Unordnung die Verfolgungen gegen einzelne Christen weiter. 4.1.7. Nach der Machtübernahme durch die chinesischen Kommunisten 1949 wurde die Verfolgung der Christen systematisiert und zentral gelenkt. Den Religionsgemeinschaften wurde jede Betätigung in der Öffentlichkeit untersagt, nur der private Glaube wurde geduldet. Während der Agrarreform mußten die Kirchen geschlossen bleiben - und wurden danach auch nicht wieder geöffnet. Reisebeschränkungen machten es den Christen auf dem Land unmöglich, zu religiösen Feiern zusammenzukommen. Genehmigungspflicht für den Besuch von Gottesdiensten in den Städten und Kontrollen am Kirchenportal verhinderten, daß die Gläubigen, vor allem wenn sie Ämter oder andere einflußreiche Stellungen besaßen, sich regelmäßig treffen konnten. Lehrer an öffentlichen Schulen und Angestellte in staatlichen Betrieben verloren ihre Stellung, wenn sie sich zu ihrem Glauben bekannten. Eine einschneidende Maßnahme war die Verstaatlichung aller kirchlichen Einrichtungen wie Schulen, Klöster, Hospitäler, Heime, Waisenhäuser, Druckereien und Verlage. Missionare, die nicht rechtzeitig das Land verließen, wurden verfolgt, eingekerkert, gefoltert, oft zu Tode gequält oder erschossen (vgl. Teilkamp 1 8 6 - 1 9 5 ) . Ein weiteres Mittel der Verfolgung, das sich gegen die chinesischen Christen richtete, waren die „christlichen Anklageversammlungen" seit Mai 1951. Ähnlich wie andere „Konterrevolutionäre" wurden auch die Christen gezwungen, vor großen Menschenmassen sich selbst der Vergehen zu bezichtigen, deren sie angeklagt wurden, wie Unterstützung des amerikanischen Imperialismus, Spionage für ausländische Mächte (Bush 187 f). Jeder Kontakt mit den Kirchen des Auslandes sollte durch die „Drei-Selbst-Bewegung" (s. T R E 7, 757) der nunmehr nationalisierten Reform-Kirche ausgeschlossen werden. Diese Reform-Kirche wurde im April 1951 auf einer Konferenz der Kirchenführer beschlossen. Die Reform-Bewegung war ein Mittel der kommunistischen Regierung im Kampf gegen die protestantischen Kirchen und zielte auf deren Vernichtung hin (Maclnnis 97). Der besondere Angriff galt dem Papst und dessen Internuntius Erzbischof Riberi, dessen Ausweisung 1951 mit

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großem propagandistischem Aufwand betrieben wurde, und der Legio Mariae (Schütte 2 7 6 - 3 2 0 ) , einer „konterrevolutionären Geheimorganisation". Der letzte und schwerste Schlag gegen die christlichen Kirchen wurde 1960 in der Kulturrevolution geführt. Alle Kirchen wurden geschlossen, auch die Kirchen der Reform-Christen. Viele von ihnen kamen in Gefängnisse oder Arbeitslager. Jede Ausübung von religiösen Kulten ist seither noch mehr erschwert. Literatur T h e Anti-Christian M o v e m e n t , Schanghai 1 9 2 4 . - Frederick William W . Baller, The Sacred Edict with a Transl. of the Colloquial Rendering, Schanghai 1 9 0 7 . - Richard C . Bush, Religion in Communist China, New Y o r k 1 9 7 0 . - J . J . M . De G r o o t , Sectarianism and Religious Persecution in China, Amsterdam 1 9 0 3 . - George H . Dünne, Das große Exempel. Die Chinamission der Jesuiten, Stuttgart 1 9 6 5 . Edward T h o m a s Kelly, T h e Anti-Christian Persecution of 1 6 1 6 - 1 6 1 7 in Nanking, Diss. Columbia Univ. 1 9 7 1 . - J . Kuepers, China u. die kath. Mission in Süd-Shantung 1 8 8 2 - 1 9 0 0 , Steyl 1 9 7 4 . - Kenneth Scott Latourette, A History of Christian Mission in China, New Y o r k / L o n d o n 1 9 2 9 . - J a m e s Legge, Christianity in China, London 1 8 8 8 . - Donald E. M a c l n n i s , Religious Policy and Practice in Communist China, London 1 9 7 2 . - Niels-Peter Moritzen/Bernward H. Willeke (Hg.), China - Herausforderung an die Kirchen, Erlangen 1 9 7 4 . - Sacrae Congregationis de Propaganda Fide memoria rerum, 3 5 0 J a h r e im Dienste der Weltmission 1 6 2 2 - 1 9 7 2 , R o m u. a. 1 9 7 2 ff. - P. Y o s h i o Saeki, T h e Nestorian M o n u m e n t in China, London 1 9 1 6 . - Johannes Schütte, Die kath. Chinamission im Spiegel der rotchinesischen Presse, 1 9 5 7 ( M W A T 2 1 ) . - Augustin Tellkamp, H a m m e r u. Sichel über China, Siegburg 1 9 4 9 . - Gustav Weth, Chinas rote Sonne. Unsere Welt zw. M a o u. Jesus, Wuppertal 1 9 7 2 . - Bernward H . Willeke, Imperial Government and Catholic Missions in China Düring the Years 1 7 8 4 — 1 7 8 5 , St. Bonaventure, N . Y . 1 9 4 8 .

4.2. —>Japan Die Geschichte der christlichen Mission in Japan begann mit der Ankunft des Jesuiten F. —»Xavier 1549. Durch ihre Anpassungsmethode stießen die Jesuiten auf wenig Widerstand. Doch je mehr sie Einfluß bei den oberen Gesellschaftsschichten fanden, um so größer wurde das Mißtrauen der ihnen feindlich gesonnenen buddhistischen Kreise. 4.2.1. Toyotomi Hideyoshi, Militärdiktator (1536-1598), gewann die Überzeugung, das Christentum könne ähnlich wie manche buddhistischen Sekten eine politische Gefahr werden. Deswegen erließ er am 2 5 . 7 . 1 5 8 7 ein Verbannungsedikt (Jennes 57f). Christliche Symbole auf Kleidern und Waffen sollten entfernt werden. Alle zum Christentum übergetretenen Japaner mußten ihren Glauben widerrufen, andernfalls ihnen die Todesstrafe drohe. Offenbar aber legte Hideyoshi selbst nicht allzu großen Nachdruck auf die strikte Ausführung der Anti-Christen-Gesetze. Von den 250 Missionsstationen der Jesuiten wurden etwa 60 zerstört. Aus ökonomischen Gründen zeigte er eine gewisse Toleranz gegenüber den Christen, die sich unauffällig benahmen. Hatte bisher der Grundsatz gegolten, daß nur Jesuiten in Japan missionieren durften, so kamen nach ihrer Verbannung andere Orden nach Japan. Die Franziskaner schickten einige Gesandte zu Hideyoshi, die dann im Land blieben, um trotz aller Verbote die christliche Botschaft offen zu verkünden, zu taufen und Niederlassungen zu gründen (Jennes 71). 4.2.2. Als sich die Befürchtungen Hideyoshis, daß die westlichen Mächte mit Hilfe der Missionare eine Unterwerfung Japans betrieben, zu bestätigen schienen, wurden die Franziskaner wegen Mißachtung des Predigtverbots zum Tode verurteilt. 26 Märtyrer, unter ihnen 6 Franziskaner, 17 junge japanische Christen und 3 japanische Jesuiten, wurden am 5. Febr. 1597 in Nagasaki gekreuzigt. Bald darauf wurden alle christlichen Missionare ausgewiesen, mit Ausnahme einiger weniger für die Seelsorge der Portugiesen in Nagasaki erforderlicher Priester. Nur der Tod Hideyoshis 1598 brachte ein vorläufiges Ende der Verfolgungen. Nach einer anfänglichen Blüte Anfang des 17. Jh. erfolgte eine immer entschlossenere Verfolgung der ausländischen Missionare und ihrer Anhänger und schließlich die völlige Abschließung Japans nach außen. Am 27. Jan. 1614 wurde das Verfolgungsedikt erlassen, „das den Beginn der grausamsten und längsten Verfolgung bedeutet, die je die Welt erlebt hat" (Laures 131). Das Edikt erklärt, das Christentum stelle eine Gefahr für die Landes-

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religionen, für die Unabhängigkeit Japans und die moralische Ordnung dar, alle Missionare müßten das Land verlassen, die japanischen Christen zu ihrer einheimischen Religion zurückkehren (Text: Jennes 116-118). Im Herbst 1614 verließen fast alle Missionare Japan. Nur wenigen gelang es, sich zu verstecken. Alles Eigentum der Kirche wurde konfisziert, alle Kirchen entweder zerstört, profanisiert oder geschlossen. Auch besonders eifrige japanische Christen wurden deportiert. Die Ausführung des Edikts wurde den einzelnen Landesherren übertragen. Als bekannt wurde, daß trotz aller Verbote heimlich neue Missionare eingeschmuggelt worden waren, wurden die Anti-Christen-Gesetze verschärft. Auch alle, die den Fremden Unterschlupf gewährten, wurden mit der Todesstrafe bedroht. Am 22. Sept. 1622 wurden in Nagasaki wieder 7 Missionare, einige Brüder, sowie deren japanische Freunde gekreuzigt. Viele Christen flüchteten in Gegenden, in denen es noch ruhig war. Ab 1623 wurde der Vernichtungskampf verschärft. In der Regierungsstadt Edo (Tokyo) wurden am 4. Dez. 1623 vor den Augen der versammelten Fürsten 2 Missionare und 48 Christen auf einem Scheiterhaufen verbrannt (Cieslik, Martyrdom). Das war das Signal zu einer umfassenden Christenverfolgung, auch in den bisher verschont gebliebenen Provinzen. Die Verfolgungsmethoden wurden immer mehr verschärft. Zwischen 1627 und 1634 starben mehr als 1200 Christen den Märtyrertod. 4.2.3. Nach 1638 wurde eine Zentralstelle, das „Inquisitionsamt für Christenangelegenheiten", in Edo eingerichtet. Auf öffentlich angebrachten Tafeln in allen Ortschaften wurden Belohnungen für das Aufspüren von Christen bekanntgegeben. Verhöre und Folter brachten immer wieder Christen ans Licht. Zur besseren gegenseitigen Kontrolle wurde die Bevölkerung in Fünferschaften eingeteilt. Ein wirksames Mittel war das „Bildtreten" (efumi), d. h. ein Bild des Gekreuzigten oder der Muttergottes mußte mit Füßen getreten werden zum Zeichen, daß der Betreffende kein Christ ist oder hiermit der christlichen Religion entsagt. Diese Übung gehörte bald zu den japanischen Neujahrsbräuchen, so allgemein verbreitet war sie. Auch alle Fremden mußten sich bis 1857 beim Betreten japanischen Bodens dieser Maßnahme unterziehen (Kämpfer 35). Jede Familie mußte in einem buddhistischen Tempel registriert sein und ein Tempelzertifikat einlösen. Um die allgemeine Christenfeindlichkeit in der Bevölkerung zu unterstützen, wurden antichristliche Erzählungen gedruckt und verbreitet (Cieslik, Namban-ji Romane). 4.2.4. Über zwei Jahrhunderte war für japanische Christen jeder Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten und ein Festhalten am Glauben durch ein ausgeklügeltes System unmöglich gemacht worden. Um so erstaunter horchte die Weltöffentlichkeit auf, als nach der Wiederöffnung des Landes durch den Amerikaner Matthew Perry 1854 die ersten wieder zugelassenen Missionare von etwa 15 000 im Untergrund lebenden Christen erfuhren. Doch da noch die Anti-Christen-Gesetze in Kraft waren, kam es auch bald zu Verfolgungen, vor allem, da sich nun die Christen weigerten, die Begräbnisriten weiterhin durch buddhistische Priester vornehmen zu lassen. 64 Christen in Urakami wurden von der Polizei ergriffen und verhaftet und nach ihrem Abfall vom Glauben wieder freigelassen. In Omura starben von den 110 verhafteten Christen über 60 im Gefängnis. Drastische Maßnahmen gegen die Christen wurden jetzt unter der Begründung durchgeführt, daß alle Japaner ihrer nationalen Religion, dem Shintoismus, anzugehören hätten. Die Christen von Urakami wurden offiziell aufgefordert, ihren Glauben aufzugeben. Als sie ablehnten, wurden 4 0 0 0 aus der Gegend von Nagasaki deportiert (Jennes 215f). Erst 1873 wurde von der Regierung unter dem Druck der westlichen Mächte Religionsfreiheit zugesichert. Aber 1931 beim Ausbruch des Mandschurischen Krieges und vor allem seit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden Kaiserverehrung und Shinto-Kult auch von den Christen verlangt. 1939 stellte das Religionsgesetz alle Religionen unter staatliche Kontrolle. Alle kirchlichen Ämter wurden mit einheimischen Kräften besetzt. Die meisten ausländischen Missionsangehörigen wurden repatriiert, viele Schulen, Kirchen und Konvente zerstört. 1946 wurde in der neuen Verfassung Religionsfreiheit gewährt (—»Asien, Christliche Kirchen in). Verfolgungen von Christen gibt es seitdem nicht mehr.

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Literatur Charles Ralph Boxer, The Christian Century in Japan 1 5 4 9 - 1 6 5 0 , London 1 9 5 1 . - Hubert Cieslik, Das Christenverbot in Japan unter dem Tokugawa-Regime: N Z M 6 ( 1 9 5 0 ) 1 7 5 - 1 9 2 ; 7 ( 1 9 5 1 ) 2 4 - 3 6 . - Ders., The Great Martyrdom of Edo 1 6 2 3 : M N 1 9 5 4 , 1—44. - Ders., Namban-ji Romane der Tokugawa-Zeit: M N 1 9 4 3 , 1 3 - 5 1 . - Arai Hakuseki, Seiyo kibun (Record of Things Heard about the West), hg. u. mit einer Einf. v. Miyazaki Michio, Tokyo 1 9 6 8 . - Joseph Jennes, A History of the Catholic Church in Japan from its Beginnings to the Early Meji Era ( 1 5 4 9 — 1 8 7 3 ) , T o k y o 1 9 7 3 . - Engelbert Kämpfer, Gesch. u. Beschreibung v. Japan, hg. v. Chr. W . Dolm, Lemgo 1 7 7 9 . - Johannes Laures, Gesch. der kath. Kirche in Japan, T o k y o 1 9 5 6 . - Ders., Krit. Unters, des berühmten Lotsenwortes der San Felipe: N Z M 7 ( 1 9 5 1 ) 1 8 4 - 2 0 3 . - Aneseki Masaharu, A Concordarne to the History of Kirishitan Missions, Tokyo 1 9 3 0 . — Hans Müller, Hai-Yaso — Hayashi Razan's antichristl. Disputation aus dem Jahr 1 6 0 1 : M N 1 9 3 9 , 2 6 8 - 2 7 5 . - Gustav Voß/Hubert Cieslik, Kirishito-ki u. Sayoyo-roku. Japanische Dokumente zur Missionsgesch. des 17. Jh., 1 9 4 0 ( M N M 1).

4.3.

—»Korea

Das Christentum fand in Korea durch chinesische Priester Eingang. 1 7 9 4 kam der erste christliche Missionar nach Korea. Die Regierung verfolgte damals eine Politik der „geschlossenen T ü r " und verhinderte jeden Kontakt mit dem Ausland. Verfolgungen fanden 1 8 0 0 (Sinyu-Massaker), 1 8 3 9 (Kihae-Massaker) und 1 8 6 5 (Pyongin-Massaker) statt, die über 8 0 0 0 Christen das Leben kosteten, etwa die Hälfte der damals in Korea lebenden Christen. 1 8 7 2 wurde ähnlich wie in China unter dem Druck der ausländischen Mächte Religionsfreiheit gewährt. Nach der Annexion durch die Japaner 1 9 1 0 begannen auch für die koreanischen Christen Repressalien. Kirchen wurden als Militärlager benutzt, Seminaristen zum Kriegsdienst in die japanische Armee eingezogen, ausländische Missionare ausgewiesen. 7 9 koreanische Christen starben den Märtyrertod. Nach der Teilung des Landes in Nord- und Südkorea 1 9 4 5 gab es wenig Informationen aus dem nördlichen Teil. Unter der kommunistischen Regierung wurden die Religionsgemeinschaften in der Ausübung ihres Glaubens gehindert, obwohl formell Religionsfreiheit besteht. In Südkorea entfalten die verschiedensten christlichen Kirchen und Sekten eine reiche Tätigkeit. Literatur F. Demange, Les bienheureux martyrs de la Corée: RHMiss 2 ( 1 9 2 5 ) 4 8 1 - 5 0 6 . - Korea, Its Land, People and Culture of All Ages, Seoul 1 9 6 0 , 3 3 7 . - Adrien M . E. Launday, Die koreanischen Märtyrer 1 8 3 8 - 1 8 4 6 , St. Ottilien 1 9 2 9 . - Spencer J. Palmer, Korea and Christianity, Seoul 1 9 6 7 .

4.4. Vietnam

(—*Indochina)

4.4.1. In Vietnam betrachtete man das Christentum als gesellschaftlich bedrohend, weil es die alten religiösen und familiären Beziehungen und Abhängigkeiten auflöste. Bereits im 17. Jh. setzten die ersten Christenverfolgungen ein, die ausländischen Missionare wurden ausgewiesen. Im Verlauf des 18. J h . waren die verschiedenen Verfolgungen, z.B. 1 7 1 3 , 1 7 2 1 , 1 7 3 6 , 1 7 7 3 , 1 7 7 8 , mehr oder weniger heftig, je nach der persönlichen Haltung der einzelnen Herrscher gegenüber dem Christentum, das ein Fremdkörper im Zusammenspiel der vielen Kulturen und Religionen, die sich gerade in diesem Raum begegneten, blieb. Argwohn und Mißtrauen gegen die Christen nahmen zu, da sie nicht mehr am Ahnenkult teilnahmen. Der Kampf gegen die Christen wütete über ein halbes Jahrhundert in so heftigem Ausmaß wie nirgendwo sonst in östlichen Missionsgebieten. Die Erlasse des Herrschers von Tongking M i n h - M a n g von 1 8 2 5 und 1 8 3 3 gegen das Christentum boten die rechtlichen Voraussetzungen für ungehemmte Verfolgungen der Missionare und einheimischen Christen. Als der als Christenverfolger bekannte König von Tongking Tu-Duc 1 8 4 7 eine Verschwörung seines Sohnes gegen sich aufdeckte, vermutete er auch Christen unter den Verschwörern, und eine neue Verfolgungswelle setzte ein. In Mittel-Tongking gab es in wenigen Jahren etwa 1 6 0 0 0 Opfer (Jb. der Verbreitung des Glaubens 3 [ 1 8 6 3 ] 4 7 . 6 9 ) . Zwischen 1 8 3 2 und 1 8 8 3 erlitten ungefähr 3 0 0 0 0 0 Menschen den T o d oder schwerste Not durch den Verlust ihrer

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Dörfer. 1 8 6 2 mußte Tu-Duc eine französische Besetzung in 3 Provinzen Cochinchinas anerkennen und Toleranz gegenüber der christlichen Religion zugestehen, bis 1885 ganz Vietnam nach und nach unter französische Herrschaft kam. Bis dahin wurden die Christen in den noch unbesetzten Gebieten als Verbündete Frankreichs und Verräter des Vaterlandes verfolgt. Ungefähr 1 3 0 0 0 0 Märtyrer forderte der Versuch einer Missionierung bis zu diesem Zeitpunkt (Gheddo 14). 4.4.2. Durch die Bindung an Frankreich genossen die christlichen Kirchen zwar einen gewissen Schutz, wurden aber andererseits diskreditiert, so daß sie in der oberen Gesellschaftsschicht wenig Resonanz fanden. Nach 1 9 4 5 steuerten die vietnamesischen christlichen Kirchen einen bewußt nationalen, anti-kolonialen Kurs. Der Krieg zwischen Frankreich und den Viet Minh endete 1 9 5 4 mit der Teilung des Landes am 17. Breitengrad in Nord- und Süd-Vietnam. Im Norden (Tongking und N-Annam) wohnten die meisten vietnamesischen Christen. Von den ca. 1 Million Nordvietnamesen, die von dem in den Verträgen garantierten, auf 3 0 0 Tage befristeten Optionsrecht Gebrauch machten, in den Süden des Landes zu ziehen, waren zwei Drittel Katholiken. In Nord-Vietnam verfuhr man nach dem Muster Chinas (s.o. Abschn. 4.1). Zunächst mußten alle Verbindungen nach dem Ausland aufgegeben werden. Die Missionare und Ordensfrauen wurden ausgewiesen, um eine „Patriotische Kirche" aufzubauen. Repressalien gegen die Priester nahmen zu wie Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Inhaftierung, Anklagen wegen Mord, Vergiftung von Dorfbrunnen u. ä. Man verbot die Verbreitung von religiösen Schriften, schloß die Druckerei der Hl. Theresia in Hanoi, verstaatlichte den Unterricht an den Schulen, ideologisierte die theologischen Seminare, um das Fortbestehen der christlichen Kirchen zu verhindern. In Süd-Vietnam wurde unter der Regierung Diem die Kirche zur mitbestimmenden antikommunistischen Kraft, was nach der Ermordung Diems eine christenfeindliche Welle auslöste. Eine schwere Gefahr ging von den Vietcong aus, die durch Attentate alle einflußreichen Personen wie Dorfvorsteher, Lehrer, Ärzte und katholische Laienführer zu beseitigen suchten. Ein großes Blutbad wurde in Hué angerichtet, wo die Katholiken besonders hohe Verluste erlitten (Gheddo 3 2 4 ) . 4.4.3. Der Sieg der kommunistischen Truppen 1975 führte zu einer Isolierung der Religionsgemeinschaften. Das in der Verfassung garantierte Recht auf Glaubensfreiheit wurde zugunsten des Atheismus interpretiert. Die propagandistisch hochgespielte „Vinh-Son-Affäre", die zur Aushebung eines stark bewaffneten katholischen Widerstandnestes in einer Kirche führte (vgl. HerKorr 3 0 [ 1 9 7 6 ] 2 6 7 ) , hatte 1976 eine neue Verhaftungswelle unter Priestern und Ordensfrauen zur Folge. Die Vorwürfe, die man ihnen machte, waren imperialistische und antirevolutionäre Agitation. Man beschränkte ihre Bewegungsfreiheit, führte besondere Genehmigungen für Weihen ein und suchte ihre Aktivitäten zu behindern. Der letzte ausländische Missionar verließ 1976 das Land. Vom einheimischen Klerus waren 1978 etwa 2 0 0 Priester im Gefängnis, 7 0 in Umerziehungslagern. Krankenhäuser, Leprosorien und die letzten Schulen wurden verstaatlicht, christliche Jugendbewegungen aufgelöst. Benachteiligung der Gläubigen im Berufsleben und Überwachung im Privatleben wurden allgemein üblich. Unter besonderer Unterdrückung haben die christlichen Bergstämme im zentralen Hochland zu leiden. Literatur Joseph Buttinger, Vietnam. A Dragon Embattled, London 1 9 6 7 . - Peter Drews, Konfliktherd Indochina: HerKorr 3 3 ( 1 9 7 9 ) 1 0 2 - 1 0 7 . - Pierro Gheddo, Katholiken u. Buddhisten in Vietnam, München 1 9 7 0 . - L o u i s - E u g è n e Louvet, La Cochinchine Religieuse, Paris 1 8 8 5 . - Otto Maas, Die Christenverfolgung in Tongking unter König Tu Duc in den Jahren 1 8 5 6 - 1 8 6 2 : Z M R 1 9 3 9 , 1 4 2 - 1 5 3 . - Tran Minh Tiet, Histoire des Persécutions au Vietnam, Paris 1 9 5 5 . - N o r b e r t Sommer, Das kommunistische Nachkriegsvietnam: HerKorr 3 2 ( 1 9 7 8 ) 8 7 - 9 5 . - Theophanus Venard, Käfigbriefe. Bekenntnisse vor seiner Hinrichtung zu Hanoi in Tongking, 2. Febr. 1 8 6 1 , Freiburg 1 9 5 3 . - Hermann Wegener, Kampf u. Krone. Lebensbilder v. sechs Märtyrer-Missionaren in Kochinchina u. Ozeanien, Steyl 1 9 2 4 .

Christenverfolgungen 5. —»Französische

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Revolution

5 . 1 . Am 4 . 8 . 1 7 8 9 wurde von der im Juni 1 7 8 9 neugebildeten französischen Nationalversammlung die ersatzlose Streichung aller kirchlichen Zahlungen und Gebühren beschlossen. Der Pfarrklerus sollte von jetzt an aus der öffentlichen H a n d besoldet werden. Knapp drei M o n a t e später folgte die Entscheidung, das gesamte Kirchengut - einschließlich der Gotteshäuser - öffentlich zu versteigern. Das bedeutete auch das Ende der Klöster und Ordensgemeinschaften. Im Februar 1 7 9 0 wurde allen monastischen Gelübden die rechtliche Anerkennung entzogen und die Klostertüren für alle Insassen geöffnet, die ihre Freiheit zurückgewinnen wollten. Alle beschaulichen und bettelnden Orden sollten unterdrückt werden, nur karitative und pädagogische Gemeinschaften durften vorerst bestehen bleiben. V o n jetzt ab durften keine Gelübde mehr abgelegt werden ( M c M a n n e r s , Revolution 3 1 ff). Damit war die alte gallikanische Kirche (—»Frankreich) im Prinzip beseitigt. 5 . 2 . D e n Beginn der eigentlichen Auseinandersetzung im Verlauf der französischen R e volution markiert die Verabschiedung der Zivilkonstitution des Klerus am 1 2 . 7 . 1 7 9 0 durch die Nationalversammlung (Lefebvre, Paysans 7 8 0 ff). N e b e n der Neueinteilung der Diözesen nach den neugeschaffenen revolutionären Verwaltungseinheiten der Departements und der Reduzierung der Pfarreien (vgl. M c M a n n e r s , Society 2 6 l f ) sowie der Regelung der staatlichen Gehaltszahlungen an Bischöfe und Pfarrer enthielt die Zivilkonstitution auch die Bestimmung, daß der Bischof durch eine V e r s a m m l u n g von W a h l m ä n n e r n , die von den wahlberechtigten Bürgern des jeweiligen Wahlbezirks bestimmt wurden, der Pfarrer von den wahlberechtigten Bürgern des zuständigen Wahlbezirks gewählt wird — wahlberechtigt aber waren auch Nichtkatholiken wie Protestanten und Juden (ebd.) ! Die W a h l des Pfarrers mußte zwar vom zuständigen B i s c h o f bestätigt werden, der neugewählte Bischof sollte von seinem Metropoliten geweiht, seine Ernennung aber sollte dem Papst lediglich zusammen mit einer Bezeugung der Einheit im Glauben angezeigt werden. Am 2 7 . 1 1 . 1 7 9 0 beschloß die Nationalversammlung, von allen beamteten Priestern den —»Eid auf die neue Verfassung des Königreiches Frankreich und damit auch auf die Zivilkonstitution zu verlangen. Im Weigerungsfall sollte der Geistliche entlassen werden. Bis zum 4 . 1 . 1 7 9 1 hatten 7 Bischöfe sowie 107 weitere geistliche Abgeordnete der Nationalversammlung, etwa ein Drittel der Aufgeforderten, den Eid geleistet. Im Lande hielten sich die eidleistenden (constitutionels bzw. assermentés) und die eidverweigernden Priester (réfractaires, insermentés) zahlenmäßig in etwa die Waage, wobei es allerdings große regionale Unterschiede gab (vgl. Tackett 271 ff; Reuss 1,79 ff; Vovelle 63). Dieser Bruch weitete sich zu einem Konflikt für die ganze Nation aus, der durch die vielen schon vor dem 2 7 . 1 1 . emigrierten adeligen Bischöfe und übrigen Priester noch vertieft und oft auch von außen geschürt wurde. Die Ablehnung der revolutionären Verfassung durch Pius VI. m a c h t e den Bruch unüberb r ü c k b a r . T r o t z anfangs anderslautender Anweisung zur gegenseitigen Duldung wurden die Eidverweigerer zumeist aus den Kirchen verjagt und vom revolutionären V o l k und seinen unteren Behörden als Feinde und Verräter der Revolution angegriffen. Dabei ist anzumerken, daß die Priester tatsächlich weithin illoyal zur französischen Revolution standen und d a ß der Klerus wohl auch Verbindungen zu den auswärtigen Feinden der Revolution hatte. D a r a n änderte auch das Dekret v o m 7 . 5 . 1 7 9 1 nichts mehr, wonach die Religion Privatsache sein sollte, die der Staat nicht kontrollieren wolle - zu tief saß die Uberzeugung von der Notwendigkeit einer gemeinsamen nationalen Religion im Bewußtsein der Revolutionäre (Leflon 9 3 ) . 5 . 3 . Die neugewählte Nationalversammlung verfügte am 1 4 . 8 . 1 7 9 2 die Deportation eines Eidverweigerers schon auf Anzeige von 6 Bürgern hin. Am selben T a g wurde ein neuer Eid verlangt, diesmal von allen Priestern (Leflon 9 7 ) . Ein weiteres Gesetz vom 2 3 . 5 . 1 7 9 3 verfügte die Deportation aller Priester, die diesen neuen Eid verweigert hatten, schließlich ohne jede vorangehende Anzeige dritter. Diese Gesetzgebung führte zu strengen Verfolgungsmaßnahmen gegen eidverweigernde Priester im ganzen Land. Einen Tag nach dem Fall von Verdun, der letzten Festung zwischen der französischen Hauptstadt und der vorrückenden preußischen Armee, kam es vom 2. bis 7 . 9 . 1 7 9 2 zu den Septembermorden in einigen der großen Ge-

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fängnisse von Paris. Unter den etwa 1400 Opfern waren rund 4 0 0 politische Gefangene, davon 223 Priester und Bischöfe (vgl. Caron 147ff). Dieser Ausbruch des revolutionären Hasses veranlaßte in den folgenden Monaten noch einmal viele eidverweigernde Priester, aus Frankreich zu fliehen (Greer). Auch in anderen Städten waren inzwischen eidverweigernde Priester interniert worden, sie wurden zur Deportation bereitgehalten. So trafen am 1. September 1792 144 gefangene Priester aus Le Mans in Angers ein; sie wurden 11 Tage später zusammen mit 264 Insassen des Seminargefängnisses unter Bewachung nach Nantes weitergeleitet. Am 2. Oktober verließen zwei Schiffe die Hafenstadt, um die Deportierten an der spanischen Nordostküste abzusetzen. Nur alte und kranke Gefangene blieben in den Gefängnissen des Westens und des Zentrums zurück; sie gingen einem schlimmeren Schicksal entgegen. Seit März 1793 wurden sie ebenfalls nach Nantes gebracht, wo sie im Frimaire des Jahres II (Nov.-Dez. 1793) den berüchtigten noyades, brutalen Massenertränkungen, zum Opfer fielen. Allein diesen Terrorakten erlagen einige hundert Priester, Mönche, Nonnen und Sympathisanten der Eidverweigerer aus der Bevölkerung (vgl. Cobb II, 576 ff). Auch im Seminar von Straßburg waren Anfang Juli 1793 etwa 5 0 Eidverweigererund Helfershelfer aus der Bevölkerung eingekerkert (Reuss II, 203 ff). In Colmar kam es vom Spätherbst 1793 an zur blutigen Unterdrückung der réfractaires und ihrer Sympathisanten (Belege bei Reuss II, 251 ff). Im Unterelsaß wurde das Wüten der Guillotine gegen die alte Kirche und ihre Anhänger auch durch den plötzlichen Sturz des berüchtigten öffentlichen Anklägers Eulogius Schneider, eines ehemaligen Priesters und Theologieprofessors in Bonn und Straßburg, am 1 5 . 1 2 . 1 7 9 3 (Hinrichtung am 1 0 . 4 . 1 7 9 4 in Paris) bis zum Sturz Robespierres am 10. Thermidor des Jahres II ( 2 8 . 7 . 1 7 9 4 ) und dem Ende des Terrors nicht unterbrochen. Diese Verfolgung richtete sich im letzten Jahr auch gegen konstitutionelle Priester sowie gegen lutherische und reformierte Pastoren (Reuss II, 267 ff. 279 f. 300 ff). Während des Terrors unter der Herrschaft der .Convention' (20. 9 . 1 7 9 3 - 2 8 . 7 . 1 7 9 4 ) wurden in ganz Frankreich eidverweigernde Priester, Mönche, Nonnen und Sympathisanten verfolgt und hingerichtet. Allein in Angers wurden nach dem 4 . 1 2 . 1 7 9 3 1123 Todesurteile vollstreckt; unter den Opfern waren 83 Priester. Im wiedereroberten, ehemals föderalistischen Bordeaux wurden im Juni 1794 2 5 eidverweigernde Priester, 17 Nonnen und 28 Frauen, die einen geächteten Priester verborgen hatten, hingerichtet (Forrest 240f). Im November 1793 wurden nach der Einnahme des aufständischen föderalistischen Lyon u.a. 135 Priester und Männer im Rahmen der allgemeinen Exekutionen hingerichtet (Cobb II, 536ff; Cole 48 ff). Auch den revolutionären Gerichtshöfen in Paris und einigen Provinzstädten fielen viele Priester und ganze Frauenkonvente, z. B. die Karmelitinnen von Compiègne, die Ursulinen von Valenciennes, die ,Filles de Charité' von Arras, die Sakramentinerinnen und Ursulinen von Orange, zum Opfer. Im Südosten machten diese Hinrichtungen auch vor den protestantischen Pfarrern der alten Hugenottenhochburgen nicht halt. Insgesamt erlitt die romtreue Kirche Frankreichs durch den Terror schwere Einbußen, die den späteren K o m p r o m i ß mit der konstitutionellen Kirche erst möglich machten. Die vielen Märtyrer dieser Verfolgungszeit aber bewiesen zugleich die innere Stärke der romtreuen Kirche und boten den Ansatz zu einem religiösen Neubeginn. 5.4. Die Entsakramentalisierung und Säkularisierung des alltäglichen Lebens trat mit der Beseitigung des kirchlichen Vollzuges und der kirchlichen Kontrolle des Zivilstandes — Registrierung von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen - seit 1 7 9 2 in ein neues Stadium (vgl. Plongeron 1 8 3 ff). Das Erziehungswesen war der kirchlichen Aufsicht bereits durch Gesetze vom Dezember 1 7 8 9 und Januar 1 7 9 0 entzogen worden. Wohl die deutlichste Absage des revolutionären Regimes an die christliche Vergangenheit Frankreichs war am 5 . 1 0 . 1 7 9 3 die Einführung des neuen, auf dem Dezimalsystem beruhenden Kalenders, der von Anfang an die Einführung bürgerlicher Feste vorsah und somit die Einführung eines allgemeinverbindlichen nationalen und patriotischen Kultes verlangte. Bereits die rückwirkende Einführung dieses Kalenders am T a g der Gründung der französischen Republik, am 2 2 . 9 . 1 7 9 2 , an dem das J a h r I der neuen Zeitrechnung beginnen sollte, machte die ideologisch-religiöse Bedeutung dieses Kalenders deutlich (vgl. dazu v . a . Walsh 1 4 7 . 6 9 1 f). Die déchristianisation förderte vor allem der ehemalige Oratorianer und spätere Polizeiminister Napoleons Joseph Fouché, der seit Juni 1 7 9 3 Abgesandter des Wohlfahrtsausschusses in vier mittelfranzösischen Departements war. Am 2 2 . 9 . 1 7 9 3 verordnete er, „alle Religionsdiener . . . , die im Departement Nièvre wohnten, sollten innerhalb eines Monats . . . heiraten, ein Kind adoptieren oder einen alten Menschen beherbergen und ernähren", sonst sollten sie „angesehen werden, als hätten sie auf die Ausübung ihrer Aufgabe-n

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verzichtet und würden daher ihrer entkleidet, ebenso wie ihrer Gehälter". Im Oktober begann Fouché, die Kirchen seines Gebietes ihrer Schätze zu berauben. Am 9 . 1 0 . 1 7 9 3 verbot er jede religiöse Zeremonie außerhalb der Gotteshäuser sowie jedes kirchliche Ritual bei den Beerdigungen. Die bisher kirchlichen Friedhöfe wurden der jeweiligen Munizipalverwaltung unterstellt, die Friedhofstore sollten die Inschrift tragen: ,Der Tod ist ein ewiger Schlaf (vgl. Madelin; Aulard, Gesch. 382). Durch Pierre-Gaspard Chaumette geriet auch Paris in den Sog der déchristianisation: An Stelle des bisherigen katholischen Kultes sollte ,der Kult der Republik und der natürlichen Moral' eingesetzt und offiziell gepflegt werden. Das Ritual sollte gleich bleiben, nur die Symbole ausgetauscht werden.

Fouchés Vorgehen fand zunächst in den Provinzen begeisterte Nachahmung. Der Höhepunkt jeder Feier des neuen Kultes war die Abdankung von Priestern, protestantischen Pfarrern (Belege bei Wolff 258 f) und Rabbinern. Am 10. November fand das Fest der Vernunft in der Kathedrale Notre-Dame statt, die in einen Tempel der ,Vernunft' umgewandelt wurde. In fast allen Städten wurden ähnliche Feiern veranstaltet, wenn sie nicht schon, wie etwa in Clermont oder Le Havre, vorausgegangen waren (Belege bei McManners, Revolution 100 ff). In diesen Vorgängen spiegelt sich wohl der auf eine lange Vorgeschichte zurückblikkende Antikatholizismus und Antiklerikalismus weiter Bevölkerungsschichten des vorrevolutionären Frankreichs wieder, der vor allem im städtischen Kleinbürgertum und beim ländlichen Proletariat verbreitet war (vgl. dazu Cobb 11,636 ff; Ory 411 ff). All diese Vorgänge, die nur 10 Monate dauerten (Nov. 1793 bis Juli 1794), haben auf der religiösen Landkarte Frankreichs tiefe Spuren hinterlassen, vor allem die große Zahl der freiwilligen, erzwungenen oder wenigstens vorgeheuchelten Abdankungen von Priestern, deren Zahl auf etwa 2 0 0 0 0 geschätzt wird (McManners, Revolution 108 f). Trotzdem fuhren überall im Lande Priester, réfractaires und auch conventionnels, großenteils im Untergrund, manchmal aber auch in aller Öffentlichkeit fort, Gottesdienste zu halten und Sakramente zu spenden (vgl. McManners, Revolution 116f; Leflon 112 ff ; Vovelle 2 6 9 ff). Die neue republikanische Regierung vollzog ab Ende Juli 1794 die endgültige Trennung von Staat und Kirche. Bereits im September 1794 wurde offiziell die Besoldung der Geistlichen der konventionellen Kirche beendet, nachdem die Gehälter schon lange vorher nicht mehr ausgezahlt worden waren. Am 21. Febr. 1795 wurde bestimmt: Alle äußeren Zeichen der Religionsausübung (Glockengeläute, Prozessionen, geistliche Gewänder außerhalb der Kirchengebäude) sind untersagt, jede Zahlung des Staates für die Religionsausübung wird eingestellt, aber gemäß Artikel 7 der Erklärung der Menschenrechte wird jeder Religionsgemeinschaft die freie Religionsausübung in ihren Kultgebäuden zugesichert, die Eltern sollen über die Erziehung ihrer Kinder entscheiden. Die wiederentstehenden kirchlichen Schulen wurden von einer lokalen jury d'instruction sehr genau überwacht (vgl. dazu McManners, Revolution 118 ff).

S.S. Die Jahre nach 1795 sehen zunächst den Wiederaufbau der konstitutionellen Kirche. Aber 1797 wird allen Priestern, die öffentlich Gottesdienst halten, ein verschärfter Eid abverlangt. Er erwies sich für viele Priester als unvollziehbar, und so wurden von 1792 bis 1797 einige tausend Priester interniert und entweder nach Guyana deportiert oder an der Atlantikküste, auf den Inseln Ré und Oléron bzw. in den Gefängnissen von Rochefort, interniert. Weite Gebiete waren ohne Priester und Gottesdienste. Besonders hart trafen die Verfolgungsmaßnahmen die seit 1794 annektierten und seit 1795 neugeordneten belgischen Departements (—»Belgien). Dort verweigerten fast alle Priester den Eid, die Landbevölkerung begann sich zusammenzurotten, was im Herbst 1798 zur Anordnung der Deportation von 7478 Priestern führte, von denen allerdings nur etwa 1000 wirklich festgenommen wurden (vgl. Latreille III, 129ff). Erst die Machtergreifung Napoleon Bonapartes öffnete den Weg zu einem beiderseits akzeptablen Verhältnis (—»Napoleonische Epoche). Mit der endgültigen Trennung von Staat und Kirche durch das Gesetz vom 9 . 1 2 . 1 8 0 5 konnte sich in Frankreich das Verhältnis von Kirche und Staat allmählich im Geiste gegenseitiger Duldung, ja Achtung neu entwikkeln (v. Campenhausen 3 ff).

Christenverfolgungen

48 Literatur

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6. Nationalsozialismus

(—*Kirchenkampf}

6.1. Die weltanschauliche Unvereinbarkeit von Christentum und —»Nationalsozialismus hatten vor 1933 Vertreter beider Konfessionen deutlich ausgesprochen. Knapp zwei Jahre nationalsozialistischer Herrschaftspraxis ließen auch für nationalkonservative Christen die Kluft zwischen Christentum und Nationalsozialismus erkennen. Wenn auch von maßgeblicher nationalsozialistischer Seite dies klar erkannt worden war, so lag es dennoch in ihrem politischen Interesse, während der Phase der Machtergreifung und -konsolidierung den weltanschaulichen Gegensatz propagandistisch zu verhüllen. 6.2. Als formalrechtliche Grundlage der Willkürakte, auch der Christenverfolgung, diente die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und S t a a t " vom 2 8 . 2 . 3 3 , die die Grundrechte aller Staatsbürger aufhob und sich nicht nur gegen Kommunisten, sondern auch gegen deren ,mittelbare Helfer im weitesten Sinne' richtete. Im Z u s a m menhang mit dem Prozeß gegen die —»Zeugen Jehovas (vgl. Zipfel 1 7 5 — 1 8 0 ) bestätigte 1 9 3 5 das Reichsgericht diese Auslegung und stellte es zudem dem Ermessen der Behörden anheim, entsprechende M a ß n a h m e n zur ,Abwehr' und ,Vorbeugung' zu treffen. Auf dieser ,Rechtsbasis' entstand eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen, die den Behörden genügend Vorwände lieferten, auch Christen und deren Institutionen zu bedrängen, zu verfolgen und z . T . ,auszumerzen'. Neben den speziell die christlichen Aktivitäten langsam strangulierenden Verfügungen, angefangen bei den Kollektenregelungen bis hin zu den ,Auflösungs'-Anordnungen christlicher Organisationen (v.a. im 2.Halbjahr 1938; vgl. Boberach 8 7 Anm. 7; Meier, Derev. Kirchenkampf 11,174 [Kollekten]. 173 [Namensnennung, Kirchenaustritte]; zur Zerschlagung der christlichen Organisationen vgl. ders., Kirchenkampf 131 f; Boberach 138 Anm. 1. 276. 311. 335), gehörte es zur Strategie des ,Abfaulen-Lassens' (vgl. Zipfel 8 f.32), die Verfolgung bekenntnistreuer Christen nicht weltanschaulich zu begründen, sondérn ihnen ,Vergehen' und ,Verbrechen' gegen allgemeingültige Rechtsnormen zur Last zu legen (v.a.,Heimtückegesetz', Sexual- und Wirtschaftsstrafrecht). Während des Krieges kamen neue Verfolgungsbegründungen hinzu, wie vor allem Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung, Abhören ausländischer Rundfunksender (vgl. Kempner 12).

Christenverfolgungen

49

6.3. Die Verfolgungsbehörden beschäftigten ein Heer von freiwilligen und unfreiwilligen Informanten (vgl. Boberach XXXVIIIf) und Provokateuren (vgl. z.B. Kempner 368 ff), die z.T. nach detaillierten Arbeitsanweisungen (Boberach 917f. 920f) das gewünschte ,Belastungsmaterial' lieferten. Die Prozesse und Willkürmaßnahmen (u.a. Schutz- und Nachhaft, d.h. Haft nach Verbüßung des richterlich festgesetzten Strafmaßes) gegen einzelne Christen dienten zugleich der Verunsicherung anderer und der öffentlichen Diffamierung des Christentums. Den gleichen Zweck hatten Propagandakampagnen, angefangen von Hetzartikeln gegen Pfarrer jüdischer Abstammung (vgl. Zipfel 119), über pseudoreligiöse Agitation, z. B. der „Deutschen Glaubensbewegung" (—»Deutschgläubige Bewegungen), bis hin zur weltanschaulichen Verwirrung durch scheinwissenschaftliche Schulungen mit amtlichem Anstrich. Demgegenüber konnten sich die Christen immer weniger durch die eigene Versammlungs-, Presse- und Literaturarbeit Gehör verschaffen. Ab 1935/36 wurde schrittweise der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen und die Ausbildung an Konfessionsschulen abgebaut, ebenso sollte der theologische Nachwuchs vermindert werden durch die materielle Benachteiligung von Theologiestudenten (vgl. Zipfel 76 f. 115 f. 244), die Aufhebung theologischer Fakultäten (vgl. Boberach 405 Anm. 1; Zipfel 249ff) und eine rigorose Einberufungspraxis 1 9 3 9 - 1 9 4 5 . Während des Krieges diente die Heranziehung von Ordensgeistlichen und kirchlichen Gemeindearbeitern zur außerkirchlichen Arbeit der weiteren Reduzierung des personellen Bestandes engagierter Christen. Auf die Schwächung der ökonomischen Basis der Kirchen zielten finanz- und steuerpolitische Maßnahmen, direkte wirtschaftliche Einflußnahmen, z.B. die Kontrolle evangelischen Vermögens durch die dem Staat unterstehenden „Finanzabteilungen", die Kriegspflichtbeiträge beider Konfessionen in Millionenhöhe (vgl. Meier, Derev. Kirchenkampf II, 6 7 . 1 5 6 ; Boberach 380), die Beschlagnahme beträchtlicher kirchlicher Vermögenswerte (vgl. Zipfel 232; Boberach 540 Anm. 6.324). Darüber hinaus nutzte das Regime seine wirtschaftliche Position als Druckmittel gegen Laien, um auf diesem Weg die christlichen Organisationen zu schwächen.

6.4. Bereits 1934 wurden evangelische Pastoren mit Gefängnis- und Geldstrafen belegt (Niemöller, Pfarrernotbund 153). Neben weiteren Verhaftungen und KZ-Einweisungen 1935 in kleinerem Umfang, z.B. in Nassau-Hessen (vgl. Meier, Der ev. Kirchenkampf 11,304), setzte der Staat am 17.3.1935 zu einer Verhaftungswelle gegen 735 Pfarrer an, deren Anlaß eine Kanzelabkündigung der Bekennenden Kirche gegen das „Neuheidentum" war (vgl. Zipfel 122f). Eine gegen den Willen der Verfasser publik gewordene, für Hitler bestimmte Denkschrift der 2. Vorläufigen Leitung der „Deutschen Evangelischen Kirche" vom 2 8 . 5 . 3 6 , die sich kritisch über die Menschenrechtsverletzungen und zur Lage der Christen im NS-Staat äußerte, büßten Ernst Tillich und Werner Koch mit KZ-Haft, Friedrich Weißler nach KZ-Torturen mit dem Leben ( 1 9 . 2 . 3 7 ; vgl. Meier, Kirchenkampf 250). Nach dem 15.2.1937 wurden 805 Pfarrer verhaftet. Die meisten waren bis Ende 1937 zwar wieder entlassen worden - im September 1937 verzeichnen die BK-Fürbittlisten noch 120 Inhaftierte (vgl. Boberach 277 Anm.3.316 Anm. 1) doch Einzelschicksale, wie z.B. das des Pfarrers Paul Schneider, verweisen auf die ständige Gefahr, die über den bekenntnistreuen Pfarrern schwebte. Nachdem schon im Juni 1937 etwa 40 führende bekenntnistreue Christen Preußens verhaftet worden waren, nahm die Gestapo am 2 3 . 7 . 3 7 acht Mitglieder des Reichsbruderrates und am 1.7.37 den Vorsitzenden des Pfarrernotbundes Martin Niemöller (vgl. Boberach 277 Anm. 3; Niemöller, Pfarrernotbund 115; Meier, Der ev. Kirchenkampf II, 173; Zipfel 9 9 - 1 0 4 ) in Haft. In Niemöllers Verfahren sollte das Gericht, wie auch im Prozeß gegen Otto —»Dibelius (vgl. Zipfel 98 f), dem nationalsozialistischen Bestrafungsbegehren nicht nachgeben; doch verhängte die Gestapo über den unbequemen Christen sofort KZ-,Nachhaft' (bis 1945). Das Regime verfolgte unnachsichtig Proteste gegen diesen Willkürakt und Fürbitten für Betroffene (vgl. Niemöller, Pfarrernotbund 155 f Anm.5). Der ostpreußische Schriftsteller Ernst Wiechert z.B. erklärte, solange Niemöller nicht frei und dessen Frau ohne Unterstützung sei, wolle er den nationalsozia-

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Christenverfolgungen

listischen Hilfsorganisationen nichts spenden. Wiechert wurde daraufhin am 6 . 5 . 3 8 verhaftet und kam im Juli und August 1938 ins KZ Buchenwald (vgl. Boberach 349 Anm. 2). Ein Verleger, der Niemöllers Predigten hatte drucken lassen, wurde zu 6 Jahren KZ-Haft verurteilt (vgl. Niemöller, Pfarrernotbund 156 Anm.3). Kurz vor Kriegsbeginn, am 8 . 8 . 3 9 , verzeichnen die Fürbittlisten der BK 3 evangelische Pfarrerais KZ-Sträflinge, 6 als Verhaftete, 44 hatten Redeverbot, 121 waren im Amt behindert und 106 aus ihren Gemeinden ausgewiesen (vgl. Boberach 351 Anm. 4).

6.5. Die geistige und organisatorische Ausgangslage der katholischen Kirche in Deutschland unterschied sich 1 9 3 3 wesentlich von der inneren Zerrissenheit der Protestanten (zur Problematik des 1933 geschlossenen „Reichskonkordats" vgl. K . R e p g e n : V Z G 1978, 4 9 9 f f ; K. Scholder: ebd. 5 3 5 f f ) . Aufgrund ihrer organisatorischen Kraft standen vor allem die katholischen Verbände der nationalsozialistischen Gleichschaltung im Wege: 1933 zählte allein der „Katholische Jungmännerverband Deutschlands" 3 6 5 0 0 0 Mitglieder (vgl. Boberach 119). Der Reichsleiter der „Deutschen Jugendkraft" wurde am 3 0 . 6 . 3 4 „auf der Flucht" erschossen (vgl. Zipfel 6 4 Anm. 37). Verhaftet wegen angeblicher Zusammenarbeit mit Kommunisten wurden im Februar 1936 der Generalpräses Ludwig Wolker, der Generalsekretär J a k o b Clemens und weitere Führer des Jungmännerverbandes; Wolker wurde im Mai 1936 ohne Verfahren entlassen, Clemens im April 1 9 3 7 freigesprochen (Boberach 119 Anm.3). Den „Sturmschar"-Reichsführer von 1935, Hans Niermann, hingegen verurteilte der Volksgerichtshof 1937 zu fünf Jahren Zuchthaus (ebd. 128 Anm. 2). Auf der unteren Ebene fand der Kampf gegen die katholische Jugendbewegung seine Ergänzung in zahlreichen brutalen Handgreiflichkeiten und Übergriffen (vgl. Zipfel 69); administrativ fand er seinen Niederschlag in Polizeiverordnungen, insbesondere der vom 2 3 . 7 . 3 5 , die vom Uniform- und Abzeichentragen bis zum gemeinsamen Wandern, Zelten und Sport all das verbot, was einen Jugendverband als solchen auszeichnet (ebd. 70). Das Zusammenwirken von terroristischer Aktion gegen Einzelne und administrativen Maßnahmen gegen Organisationen, das die katholischen Vereine bis 1 9 3 8 insgesamt handlungsunfähig machte (ebd. 6 7 f ) , ist auch beim Vorgehen gegen die —»Katholische Aktion zu beobachten, die noch 1 9 3 3 / 3 4 zehntausende katholische Christen zu mobilisieren verstand. Sie wurde als „Sammelbecken des politischen Katholizismus" verfolgt (vgl. Boberach 956). Nach einer Serie von Devisenschieber'-Prozessen ab 1 9 3 5 gegen Ordensangehörige (vgl. Zipfel 78 f), versuchte man insbesondere 1 9 3 6 / 3 7 das Ansehen der katholischen Kirche durch ,Sittlichkeits'-Prozesse zu untergraben (vgl. Zipfel 80). Die Behinderungen und Verfolgungen der Katholiken veranlaßten Mitte 1936 in Rom und Fulda (Bischofskonferenz) Vorüberlegungen zu einem öffentlichen Hervortreten des Hl. Stuhles, die Anfang 1 9 3 7 zu der Enzyklika Mit brennender Sorge führten (Volk: S t Z 183,29). Nach deren Verlesung von allen Kanzeln in Deutschland am 2 1 . 3 . 3 7 entlud sich „Hitlers Vergeltungsdrang . . . in der Anweisung an die Justizbehörden, eine neue Serie von Sittlichkeitsprozessen aufzulegen" (Volk: StZ 1 7 8 , 2 4 1 ) . Erneut protestierte der Episkopat, diesmal in einer Denkschrift an die Reichsregierung (ebd. 2 4 2 ) — ohne Erfolg. 6.6. Der vom NS-Regime entfachte Krieg lieferte neue Vorwände für allgemeine S t r a f tatbestände*. Zudem läßt sich bis 1945 ein ständig wachsendes Auseinanderklaffen von R e likt' und .Strafmaß' erkennen (vgl. Boberach 5 6 0 ) . Erzbischof Gröber hatte schon im Juni 1941 die Gewißheit, „daß man die Kriegszeit dazu verwenden will, möglichst radikal mit dem kirchlichen und christlichen Leben aufzuräumen" (Volk: StZ 1 7 8 , 2 5 1 ) . 6.7. Eine theologisch begründete Theorie für den politischen Widerstand fehlte zwar beiden großen Konfessionen, und stille Eingaben, selbst gemeinsame von evangelischen und katholischen Kirchenführern ( 9 . / 1 0 . 1 2 . 4 1 ) , blieben ungehört (vgl. Zipfel 2 4 3 f; Volk: StZ 178, 254). Dennoch beruhte auch der Widerstand des 2 0 . Juli 1944 auf den Fundamenten christlicher Werte und Traditionen. An diese Hemmschwellen stieß das NS-Regime bei der planmäßigen Ermordung Kranker, die den offen artikulierten Protest führender Christen und die Ablehnung weiter Bevölkerungskreise (vgl. Morsey II, 43 f; Zipfel 225) provozierte. Das Regime antwortete auch hier mit Verfolgungen (vgl. Morsey 11,43; Boberach 564. 580 u.ö.).

Chris ten verfolgu ng en

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Das christliche Miteinander von Deutschen und Polen, Russen (u. a.) versuchte die Gestapo gewaltsam zu unterbinden: Laien gerieten in Haft, weil sie einem polnisch-katholischen Gottesdienst beigewohnt hatten (Boberach 564. 581); ebenso Geistliche, die polnischen und russischen Zivilarbeitern die Teilnahme am Gottesdienst, an Beichte und Kommunion gestattet hatten (ebd. 566 u.ö.); zwei und drei Monate Haft kostete es zwei Ordensangehörigen, weil sie Kriegsgefangene „zu freundlich" behandelt hatten (ebd. 822 u. Anm.2). 6.8. Die katholische Kirche und die bekenntnistreuen Protestanten organisierten Auswanderungshilfen für eine Vielzahl verfolgter Juden. N a c h dem Auswanderungsverbot 1 9 4 1 wurde Propst Heinrich Grüber, der Leiter der evangelischen Hilfsstelle, bis 1 9 4 5 K Z inhaftiert und sein engster Mitarbeiter, Pfarrer Sylten, dort ermordet (Zipfel 2 1 7 f f ) . D o m propst Bernhard Lichtenberg, der das bischöfliche Hilfswerk für,nicht-arische' Christen geleitet hatte und jeden Abend öffentlich für die Verfolgten des Nationalsozialismus betete, fand 1 9 4 3 nach zwei Jahren Haft ebenfalls den T o d (vgl. Kempner 2 3 6 f; auch Boberach 5 9 7 u. A n m . 3 ) . Die individuelle Hilfe der Christen nach 1 9 4 1 quittierte das NS-Regime mit Haftstrafen (Boberach 6 5 1 u. ö.). Mit härtesten Strafen mußten die Christen in den besetzten Gebieten rechnen (vgl. Kempner 10). Dort wurden den Kirchen alle bisherigen Rechte genommen - vor allem im Warthegau was nach einem Kriegssieg zweifellos für das gesamte Herrschaftsgebiet der Nationalsozialisten Gültigkeit erlangt hätte. Insgesamt wurden 4 0 0 0 meist katholische Geistliche ermordet (vgl. Kempner 8 . 3 0 ) , 3 0 0 0 Pfarrer der evangelischen Bekennenden Kirche waren inhaftiert (vgl. Niemöller, Pfarrernotbund 2 5 5 ) . Die Zahl jener Christen, die — ohne Hirtenamt - verfolgt wurden, in äußere oder innere Drangsal gerieten, ist kaum festzustellen, zumal bei vielen noch ein berufliches (z. B. bei Rechtsanwälten, die bekenntnistreue Pfarrer und jüdische Mitbürger vor Gericht vertreten hatten; vgl. z . B . Niemöller, Pfarrernotbund 9 3 f ) , soziales oder politisches Engagement hinzukam. Quellen und

Literatur

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Staaten

Osteuropas

(—*Rußland)

7.1.1. A m 2 3 . 1 . 1 9 1 8 trat das Dekret über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche in Kraft ( T e x t in dt. Übers.: Luchterhandt 3 3 f). Ihm waren wichtige Einzelmaßnahmen des neuen Regimes vorausgegangen: Am 2 6 . 1 0 . 1 9 1 7 , unmittelbar nach

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Christenverfolgungen

d e m B e g i n n der O k t o b e r r e v o l u t i o n , h a t t e d e r 2 . R ä t e k o n g r e ß m i t d e m D e k r e t „ U b e r den B o d e n " das P r i v a t e i g e n t u m an G r u n d u n d B o d e n b e s e i t i g t u n d a u c h den k i r c h l i c h e n und k l ö s t e r l i c h e n G r u n d b e s i t z e n t s c h ä d i g u n g s l o s e n t e i g n e t . D u r c h § 3 der „ D e k l a r a t i o n

der

R e c h t e d e r V ö l k e r R u ß l a n d s " v o m 2 . 1 1 . 1 9 1 7 h a t t e die r u s s i s c h - o r t h o d o x e K i r c h e (—»Ort h o d o x e K i r c h e n ) ihre S t e l l u n g als S t a a t s k i r c h e e i n g e b ü ß t . D a s D e k r e t v o m

11.12.1917

h a t t e die V e r s t a a t l i c h u n g des k i r c h l i c h e n S c h u l w e s e n s e i n s c h l i e ß l i c h der g e i s t l i c h e n L e h r a n s t a l t e n v e r f ü g t ; D e k r e t e v o m 1 8 . und 1 9 . 1 2 . 1 9 1 7 h a t t e n die F ü h r u n g k o m m u n a l e r Zivils t a n d s r e g i s t e r s o w i e ein rein s t a a t l i c h e s E h e s c h e i d u n g s r e c h t e i n g e f ü h r t . A m 2 0 . 1 . 1 9 1 8 waren alle ö f f e n t l i c h e n Z a h l u n g e n an die K i r c h e n e i n g e s t e l l t w o r d e n , k i r c h l i c h e T ä t i g k e i t w u r d e n u r e r l a u b t , w e n n ein , K o l l e k t i v d e r G l ä u b i g e n ' ein e n t s p r e c h e n d e s G e s u c h e i n r e i c h t e u n d sich a u c h für alle b e n ö t i g t e n f i n a n z i e l l e n A u f w e n d u n g e n v e r b ü r g t e (vgl. L u c h t e r h a n d t 3 1 f). 7.1.2. Für die Folgezeit wurden einige Artikel dieses Dekrets besonders wichtig. Art. 5: „Die Ausübung religiöser Riten wird gewährleistet, sofern sie die öffentliche Ordnung nicht stören." Die Interpretation dieser Bestimmung blieb bis zur Anweisung des V C I K (Allrussisches Zentralexekutivkomitee, s.u.) vom 1 5 . 4 . 1 9 2 9 der Willkür der verschiedenen örtlichen Behörden überlassen (Luchterhandt 85 ff.218 ff). Art. 9: „Die Schule wird von der Kirche getrennt. In allen staatlichen und öffentlichen, aber ebenso auch in den privaten Lehranstalten, wird der Religionsunterricht nicht zugelassen." Diese M a ß nahme traf wieder vor allem die russisch-orthodoxe Kirche. Art. 10: „Alle Kirchen und Religionsgemeinschaften unterliegen den allgemeinen Bestimmungen über private Gesellschaften und Vereinigungen und genießen keinerlei Vorrechte und Subventionen." Die Kirchen finanzieren sich seitdem durch Sammlungen in den Gottesdiensten und Gotteshäusern (bis zum 1 9 . 1 0 . 1 9 6 2 waren solche Sammlungen nach vorher eingeholter Erlaubnis bei Mitgliedern auch außerhalb der Kirchenräume gestattet, vgl. Luchterhandt 189), durch die Produktion und den Verkauf von Kerzen sowie durch Gebühren für die Amtshandlungen der Geistlichen (vgl. Kolarz 9 3 f; Struve75 f; Luchterhandt 189 ff). Allerdings gab erst die Einführung der „Neuen ö k o n o m i s c h e n Politik" im März 1 9 2 1 ein Vereinsrecht in Auftrag, das dann im Laufe des Jahres 1 9 2 2 durch mehrere Dekrete und Instruktionen für die R S F S R und etwas später für die Ukraine in Kraft trat (Luchterhandt 4 7 ff.54 ff). Bis dahin hing die Realisierung dieses Artikels rechtlich in der Luft. Art. 11: „Die Zwangsbeitreibung von Abgaben und Steuern zugunsten von Kirchen- oder Religionsgemeinschaften sowie Zwangs- oder Strafmaßnahmen von Seiten der Gesellschaften gegen ihre Mitglieder sind unzulässig." Dieser Artikel ist durch die Strafrechtsentwicklung der UdSSR bis ins kleinste Detail in einem äußerst restriktiven Sinne geregelt worden (Luchterhandt 189). Art. 12: „Keine Kirchen- und Religionsgemeinschaften haben das Recht, Eigentum zu besitzen. Sie haben nicht die Rechte einer juristischen Person." Damit war den Kirchen die Rechtsfähigkeit entzogen, ihre bisherigen Verfassungen waren rechtswidrig, ihre Organisationen zerfielen in eine Unzahl zusammenhangloser Einzelgemeinden und Gruppen. Im Zusammenhang mit Art. 13: „Das gesamte Vermögen der in Rußland bestehenden Kirchen und Religionsgemeinschaften wird zum Volkseigentum erklärt", war damit den Kirchen auch für die Zukunft die Möglichkeit genommen, wirtschaftlich und vor allem sozial tätig zu werden. Erst eine Verordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 2 2 . 8 . 1 9 4 5 gab den Gemeinden und den Exekutivorganen der Kirchen auf regionaler wie auf gesamtsowjetischer Ebene wieder einige Rechte einer juristischen Person, vor allem das Recht der Eigentumsfähigkeit, aber auch die begrenzte Geschäftsfähigkeit, zurück (vgl. Kolarz 5 3 ; Ruppert 1 8 f ; Luchterhandt 1 0 8 f f . 1 6 9 f ) . Die Klausel des Art. 13, in der die Nutzung der Kultgebäude und -gegenstände durch die jeweiligen religiösen Gesellschaften ganz in das Belieben der örtlichen bzw. der zentralen Staatsbehörden gestellt wurde, eröffnete der Willkür vor allem der örtlichen Behörden Tür und T o r . Erst durch die Ordnung des neugeschaffenen „Rates für die Angelegenheiten der Russisch-Orthodoxen Kirche beim SNK ( = Rat der Volkskommissare) der U d S S R " vom 1 4 . 9 . 1 9 4 5 wurden diese lokalen Willkürakte wenigstens für die russisch-orthodoxe Kirche eingeschränkt (vgl. Luchterhandt 1 0 2 f f ) . 7.1.3.

D e m von T r o t z k i j ausgerufenen und von Lenin gebilligten ,roten T e r r o r ' der Bür-

g e r k r i e g s j a h r e 1 9 1 8 - 1 9 2 1 fielen n e b e n vielen M i t g l i e d e r n der b ü r g e r l i c h e n K l a s s e n u n d d e s Adels u n d t a t s ä c h l i c h e n o d e r a u c h n u r v e r m u t l i c h e n K o n t e r r e v o l u t i o n ä r e n a u c h viele Priester u n d M ö n c h e z u m O p f e r ( C a r r , R e v o l u t i o n 1 , 1 5 1 ff). Als e i n e s t a a t l i c h g e p l a n t e C h r i s t e n v e r f o l g u n g k a n n die B ü r g e r k r i e g s z e i t t r o t z d e m n i c h t a n g e s e h e n w e r d e n , zu o f f e n w a r vielerorts die Z u s a m m e n a r b e i t der o r t h o d o x e n G e i s t l i c h k e i t m i t d e m , w e i ß e n ' G e g e n t e r r o r (Carr, Socialism 1,38ff). 7.1.4.

Z u e i n e r s o l c h e n g e p l a n t e n V e r f o l g u n g der r u s s i s c h - o r t h o d o x e n K i r c h e k a m es

erst in der H u n g e r s n o t v o n 1 9 2 1 / 2 2 . B e r e i t s im J u l i 1 9 2 1 , als sich das k a t a s t r o p h a l e A u s -

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maß der Mißernte abzeichnete, wurde eine „Zentrale Kommission für die Hungerhilfe beim VCIK (Pomgol)" gegründet, die im Winter sogar den ,religiösen Verwaltungen', u.a. auch dem Patriarchat, die D u r c h f ü h r u n g von Hilfssammlungen gestattete. Doch zugleich begann eine von Regierung und Partei geförderte öffentliche Diskussion über den Verkauf der Kirchenschätze, die bereits seit dem Trennungsdekret de iure, wenn auch nicht de facto, dem Staat gehörten; mit dem Erlös sollten Lebensmittel und vor allem Saatgut im Ausland eingekauft werden. Zunächst wartete die Regierung auf ein positives Angebot des Patriarchates, das sich damals aber dazu nicht in der Lage sah. Im Februar 1922 kam es zum Streit. Nach anfänglich guter Zusammenarbeit bei der Registrierung der Wertgegenstände provozierte das Dekret des VCIK vom 2 3 . 3 . 1 9 2 2 den Protest des Patriarchen Tichon. Dieser warnte die Geistlichkeit und die Gläubigen, sich an der geplanten D u r c h f ü h r u n g der angeordneten Inventarisierung der kirchlichen Wertgegenstände zu beteiligen. Zuwiderhandelnden Laien wurde die Exkommunikation, Geistlichen die Degradierung angedroht (Chrysostomus l,370ff). Es kam nun an vielen Orten zu blutigen Z u s a m m e n s t ö ß e n zwischen den roten Milizen, aufgehetzten hungrigen Arbeitern und Bauern auf der einen Seite und Gläubigen auf der anderen Seite, die mit ihren Priestern die heiligen Geräte vor diesem Zugriff schützen wollten. N a c h Pravda Nr. 110 von 1922 gab es insgesamt 1414 solcher Zusammenstöße (Struve 32). Am 9 . 5 . 1 9 2 2 wurde der Patriarch angeklagt und in seiner W o h n u n g unter Hausarrest gestellt. Am 16.5. hatte er gegen den Widerstand der neuen, dem Staat genehmen „Obersten Kirchenverwaltung" (VCU) den ihm ergebenen Metropoliten Agathangel von Jaroslavl zu seinem Vertreter in M o s k a u eingesetzt; ihm sollten die leitenden M ä n n e r des VCU das Patriarchatsbüro übergeben. Der Metropolit aber erhielt keine Aufenthaltsgenehmigung für M o s k a u . Daraufhin verweigerte er der selbsternannten Kirchenleitung die Anerkennung, wurde verhaftet und in den Norden deportiert — das Zusammenspiel zwischen der neuen ,Lebendigen Kirche' und der Staatsmacht klappte hervorragend (Struve 33). Am 2 4 . 4 . 1 9 2 3 sollte der langerwartete und gut vorbereitete Prozeß gegen den abgesetzten und inhaftierten Patriarchen beginnen, kurzfristig aber sollte dann doch das am 2 9 . 4 . 1 9 2 3 einberufene Konzil der ,Lebendigen Kirche' abgewartet werden. Inzwischen hatte sich die Kirchenpolitik der Partei auf dem 12. Kongreß der KPdSU vom 1 7 . - 2 5 . 4 . 1 9 2 3 geändert, so daß der vom Konzil erwartete und unterstützte Prozeß gegen Tichon nicht mehr stattfand; vielmehr wurde der Patriarch am 1 6 . 6 . 1 9 2 3 freigelassen und sein Prozeß ausgesetzt, nachdem am 27. Juni eine von ihm unterzeichnete Reueerklärung in der Iswestija abgedruckt worden war, in der er seiner bisherigen Opposition zum Sowjetregime abschwor. Hintergrund dieser überraschenden Entwicklung war wohl das Bestreben der Sowjetregierung, jeden Anschein eines Bündnisses mit einer christlichen G r u p p e zu vermeiden. Darüber hinaus sollte wohl auch in den Beziehungen zu den Gläubigen insgesamt eine Art Waffenstillstand im Rahmen der Neuen ö k o n o m i s c h e n Politik eingehalten werden (Carr, Socialism 1,41 f). Zur deutlichen Distanzierung der Partei von jeder Art kirchlicher Parteinahme gehörte auch der allmähliche Aufbau der Gottlosenbewegung (vgl. Ziegler 15ff). Nach dem Ausbruch des Schismas zwischen den Anhängern des Patriarchen Tichon und der ,Lebendigen Kirche' kam es in den Jahren 1 9 2 2 / 2 3 zu einer Reihe spektakulärer Prozesse und gewaltsamer Übergriffe gegen die Anhänger der Patriarchatskirche. Besonderes Aufsehen erregte der Prozeß gegen den Metropoliten Benjamin von Petersburg, der der neuen Kirchenverwaltung die Anerkennung verweigert und die ursprünglich zu seiner Diözese gehörenden führenden ,Erneuerer' Vvedenskij und Krasnickij exkommuniziert hatte; dieser Prozeß wurde gegen ihn zusammen mit 86 Mitangeklagten im Sommer 1922 geführt. Dabei traten die beiden exkommunizierten Priester als Zeugen der Anklage auf (Chrysostomus 1,221 f), 10 Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, 4 von ihnen, darunter auch der Metropolit, wurden in der N a c h t vom 12./13. August 1922 in der N ä h e von Petersburg erschossen. In M o s k a u fand bereits Ende April/Anfang M a i 1922 der ,Prozeß der Vierundfünfzig' gegen die Distriktspfarrer der M o s k a u e r Diözese statt, die den Widerstand der Gläubigen gegen die Beschlagnahme der Kirchenschätze organisiert haben sollten. Der Patriarch selbst wurde als Anstifter des Widerstandes als Zeuge vor Gericht geladen. Bei dieser

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Verfolgungswelle 1922 sollen 2691 Weltpriester, 1962 Mönche und 3447 Nonnen umgekommen sein; nach Ende 1923 lebten 66 orthodoxe Bischöfe, darunter auch der künftige Patriarch Bischof Alexej (Sergej Simanskij), in Haft oder in der Verbannung (Belege bei Struve 34). Der Tod des Patriarchen Tichon am 7 . 4 . 1 9 2 5 sowie sein eine Woche später in der Iswestija veröffentlichtes, wahrscheinlich prosowjetisch verfälschtes ,Vermächtnis' beendeten für kurze Zeit diese Verfolgungsperiode. Tichon wurde durch seinen Tod zu einer in allen Gruppen der russischen Orthodoxie verehrten Bekenner- und Märtyrergestalt (Felmy 31 ff). 7.1.5. Die Entspannung erwies sich als sehr kurzlebig. Bereits im November 1925 wurde Metropolit Peter von Kruticy, den Tichon vor seinem Tod als Patriarchatsverweser eingesetzt hatte, auf Betreiben der Führung der,Lebendigen Kirche' als Komplize der Konterrevolution verhaftet und nach Sibirien verbannt (Chrysostomus 11,53 ff). Sein Nachfolger als Patriarchatsverweser wurde der Metropolit Sergej (Stragorodskij) von Niznij-Novgorod (heute Gorkij), der sich in einem öffentlichen Bußakt im Januar 1924 von der ,Lebendigen Kirche' abgewendet und wieder der Patriarchatskirche unterworfen hatte (Chrysostomus 11,65 ff). Wegen seiner Haltung zum Staat kam es zum Schisma zwischen seinen Anhängern und einigen regimekritischeren Hierarchen, vor allem um den neu ernannten Metropoliten Josif von Leningrad und um den Metropoliten Agathangel von Jaroslavl, die aber allesamt massiven staatlichen Verfolgungsaktionen der folgenden Jahre zum Opfer fielen. Ihre letzten kompromißlosen Gläubigen bildeten um die Mitte der 30er Jahre die im Westen wohl etwas hochgespielte,Katakombenkirche' (vgl. Gustafson 152 ff); aus ihrem radikalen Flügel entwickelte sich in den 30er und 40er Jahren die „Wahre orthodoxe Kirche", rigorose, regimefeindliche Splittergruppen in Zentralrußland und jenseits des Ural, die immer wieder verfolgt, verurteilt und als besonders verwerfliche Beispiele des religiösen Fanatismus angeprangert wurden (vgl. Struve 214ff). 7.1.6. Trotz der weitgehenden Anpassung der Patriarchatskirche kam es in der Folgezeit zu den bis dahin schwersten Verfolgungen. Stalin erklärte in einem Interview am 1 5 . 9 . 1 9 2 7 die antireligiöse Propaganda als besonders wichtige Aufgabe der Partei, um die Reaktionäre Geistlichkeit' zu unterdrücken und zu vernichten (Chrysostomus 11,247f). Dem „Bund der kämpfenden Gottlosen" wurde die Aufgabe gesetzt, mit aller Kraft an der Ausrottung der Religion in der Sowjetunion zu arbeiten, vor allem durch intensive atheistische Propaganda und Indoktrination von Kindern und Jugendlichen. Rechtliche Grundlage dieser neuen Verfolgungswelle wurde eine veränderte staatliche Gesetzgebung. Sie setzte ein mit dem bis heute gültigen Verbot jeder Art von außergottesdienstlichem Gemeindeleben sowie aller religiöser Vereine (etwa des CVJM) durch eine Verordnung vom 1 0 . 6 . 1 9 2 8 ; sie wurde fortgeführt durch die wichtige Verordnung Über die religiösen Vereinigungen vom 8 . 4 . 1 9 2 9 , welche Zulassung, Reglementierung und staatliche Kontrolle der religiösen Gemeinschaften vereinheitlichte und verschärfte sowie die Registrierung der Kultdiener nur noch unter erschwerten Bedingungen erlaubte. In der Instruktion vom 1 6 . 1 . 1 9 3 1 sind die Regelungen im Hinblick auf die Vertragsauflösung mit der Zwanzigergemeinschaft, die zur Registrierung einer religiösen Gemeinschaft erforderlich ist, sowie die Liquidation des Kultgebäudes und seines Inventars enthalten. Religiöse Betätigung ist auf die reine Kultausübung beschränkt, jede darüber hinausgehende missionarische, religiöse oder katechetische Tätigkeit fällt unter die Verbote des Strafgesetzes (Luchterhandt 89 f; Struve 41; Barberini u.a. 59; Glaube in der 2. Welt 5,92). 7.1.7. Mit den Verfolgungsmaßnahmen wurden vor allem die orthodoxen Geistlichen getroffen. Eine Reihe von Sonderverordnungen und -gesetzen der Jahre 1927—1932 reihten sie in die Gruppe der Bürger minderen Rechtes ein. Ihnen war etwa das aktive und passive Wahlrecht entzogen, ihre Kinder durften weder weiterführende Schulen noch Hochschulen besuchen, sie wurden in die höchste Steuerklasse eingestuft, das Anrecht auf kommunale Wohnungen, Lebensmittelkarten, medizinische Versorgung und andere lebenswichtige Zuteilungen wurden ihnen vorenthalten, 1930 und endgültig 1932 wurde ihnen das Wohn-

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und Aufenthaltsrecht in den Städten entzogen. Im weiteren Sinn gehörte auch die Abschaffung des Sonntags (und jedes anderen Wochentages!) als gesetzlichen Ruhetages durch ein Dekret vom 2 6 . 8 . 1 9 2 9 zu diesen antireligiösen Maßnahmen, ebenso die starke Erhöhung der verschiedenen Steuern und Zwangsabgaben für die Gemeinden und andere Bestimmungen. 1932 stellte der Gottlosenverband einen Plan auf, der bis 1937 die völlige Ausrottung der Religion in der Sowjetunion vorsah (Luchterhandt 96 f). Die Hauptergebnisse dieser ersten scharfen stalinistischen Verfolgungswelle waren zahlreiche Kirchenschließungen. Viele Geistliche und Gläubige wurden liquidiert oder in die unwirtlichen Gebiete des Nordens, Sibiriens oder des Fernen Ostens zu Zwangsarbeit deportiert. Die blutige Abrechnung Stalins mit der Gesamtheit seiner Gegner, die,Große Säuberung' 1 9 3 5 - 1 9 3 8 , traf auch die christlichen Kirchen mit brutaler Härte, die zur fast vollständigen Vernichtung jedes religiösen Lebens führte. 1939 schien die orthodoxe Kirche als Institution vor ihrer Auflösung zu stehen, in der ganzen Sowjetunion gab es nur noch wenige hundert Geistliche und geöffnete Kirchen, nur noch 7 Bischöfe waren im Amt, und alle Eparchialverwaltungen, außer der in Moskau und Leningrad, hatten ihre Tätigkeit einstellen müssen. Unter teilweise absurden Beschuldigungen wurden die meisten Bischöfe, Priester und viele Gläubige inhaftiert und verurteilt, dann deportiert bzw. hingerichtet (vgl. Struve 356ff; Chrysostomus 11,309ff). Erst der ,Große Vaterländische Krieg' brachte vom 2 2 . 6 . 1 9 4 1 an einen allmählichen, aber gründlichen Umschwung. 7.1.8. Die übrigen christlichen Kirchen, Konfessionen und Glaubensgemeinschaften auf dem Territorium der Sowjetunion waren zunächst sehr unterschiedlich behandelt worden. Im März 1924 wurde der georgische Katholikos Ambrosius Chelaja mit acht weiteren hohen Geistlichen zunächst zum Tode, dann zu acht Jahren Haft verurteilt, deren Ablauf er nicht mehr erlebte. Von 1928/29 an trafen die Verfolgungen die orthodoxe Kirche —»Georgiens sehr hart (vgl. Hauptmann 28 ff). - In der Sowjetrepublik —»Ukraine wurde 1920 die sowjetische Religionsgesetzgebung mit geringfügigen Abweichungen übernommen (vgl. Heyer 70 ff). Die Häupter des Widerstandes der Patriarchatskirche, der Exarch der Ukraine Michail (Jermakow) und einige andere Bischöfe, die sich der neuen Politik widersetzten, wurden verhaftet und verbannt und erst 1927 wieder in ihre Ämter eingesetzt (Bociurkiw 38 ff). Jedoch löste sich bereits 1930 die erst 1921 gebildete Ukrainische Autokephale Kirche auf staatlichen Druck auf, alle ihre Bischöfe, viele ihrer Priester und Laienführer wurden verhaftet und deportiert (Heyer 108 ff). In den 30er Jahren wurde die allein noch verbliebene russische Patriarchatskirche auch in der Ukraine von der Verfolgungswelle getroffen. Besonders unversöhnlich waren von Anfang an Organisation und Anhänger der römisch-katholischen Kirche in der Sowjetunion verfolgt worden. In den Grenzen von 1921 besaß die Sowjetunion nur eine verhältnismäßig kleine Zahl römisch-katholischer Einwohner, deren geistliche Leitung zumeist in den Händen einer Hierarchie polnischer Abstammung lag, die mit dem Prozeß gegen den römisch-katholischen Erzbischof von Mogilew, Johann Cieplak, und weitere 16 Angeklagte im März 1923 vernichtet wurde. Die Situation des römischen Katholizismus änderte sich grundlegend, als 1939/40 durch den deutsch-sowjetischen Vertrag und vor allem von 1944 an durch das sowjetische Vordringen nach Westen weite Gebiete Ostmitteleuropas und des Baltikums in die Sowjetunion eingegliedert wurden; die römisch-katholische Kirche wurde damit nach der Orthodoxie und dem Islam zur drittgrößten religiösen Gruppe der Sowjetunion. Bei der ersten Angliederung des —»Baltikums, Ostpolens und Ostbessarabiens wurde zwar sofort die sowjetische Religionsgesetzgebung auf die neugewonnenen Gebiete angewendet, der rasche deutsche Einmarsch verhinderte jedoch eine systematische Durchführung der Verfolgungsmaßnahmen. Die katholische Hierarchie blieb vor allem in Litauen und Lettland intakt; allerdings liquidierte die zurückweichende Rote Armee eine Reihe einfacher Priester und Gläubigen (Galter 59ff.73ff; Kolarz 204ff). Nach der Wiedereroberung wurde die katholische Hierarchie in Litauen, Lettland, im westlichen Weißrußland und in Ostgalizien um Lemberg weitgehend vernichtet, die Bischöfe verhaftet und deportiert (Galter 68 ff.84ff).

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Noch wesentlich schwerer war das Los der griechisch-unierten Christen des byzantinoslawischen Ritus in den 1945 neugewonnenen Gebieten Ostgalizien (um Lemberg) und Transkarpathien (um Uschgorod). Bereits im Cieplak-Prozeß 1923 war der 1917 ernannte Exarch Fedorov der kleinen mit Rom unierten Kirche in der Sowjetunion, die besonders in Weißrußland Anhänger hatte, zu 10 Jahren Haft verurteilt worden - bis zu seinem Tode im Jahre 1935 konnte er seinen Dienst nicht mehr ausüben; neben ihm fielen auch die übrigen aktiven Vertreter dieser Union sehr bald den staatlichen Verfolgungsmaßnahmen zum Opfer (Kolarz217ff). Die sowjetische Besetzung der Westukraine im Jahr 1939 unterwarf auch dieses Gebiet der Geltung der sowjetischen Religionsgesetzgebung, ließ aber die Macht des unierten Metropoliten von Lemberg (Lwow), Andreas Szeptycki, weitgehend unangetastet. Während der deutschen Besetzung der Ukraine versuchte Szeptycki erneut, das Ukrainertum in der unierten Kirche zu sammeln (Heyer 178 ff), was nach der sowjetischen Wiederbesetzung der Ukraine und der Angliederung Transkarpathiens zur Vernichtung der unierten Kirche in diesen Gebieten führte. Bereits im Frühjahr 1945 wurden der Nachfolger Szeptyckis, Metropolit Slipyi, und vier weitere unierte ukrainische Bischöfe und einige besonders aktive Priester verhaftet und deportiert; der Protest von ca. 5 0 0 unierten Priestern wurde am Palmsonntag 1945 in der Georgskathedrale von Lemberg mit Gewalt beendet. Gegen die nun entstehende krypto-katholische Bewegung in der Orthodoxie ging der sowjetische Staat immer wieder und mit der vollen Unterstützung der orthodoxen Hierarchie vor (Marcus: Bociurkiw/Strong 101 ff). Seit 1945 hat dieser Kampf viele Opfer gefordert. Trotzdem ist sie wohl bis heute nicht erloschen, wie eine neue Verhaftungswelle in der Westukraine 1 9 6 8 / 6 9 zeigt (Marcus: ebd. 110 ff). - In —»Armenien konnte sich eine nach dem Vorbild der l e b e n digen Kirche' in Rußland gegründete Reformierte Kirche' 1924/25 nicht durchsetzen. Die armenisch-gregorianische Kirche genießt seitdem dort (nicht aber in anderen Republiken der Sowjetunion) eine erstaunliche Freiheit. Als weitere Nationalkirchen gelten auch die lutherischen Kirchen der deutschen und finnischen Siedlungsgebiete und, seit 1940 bzw. 1945, auch die lutherischen Kirchen in den Republiken Estland und Lettland. Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft geriet das Luthertum, das seinen Rückhalt in der wohlhabenden Bauern- und Handwerkerschaft hatte, in die antireligiöse Schußlinie. 1937 wurden die beiden letzten lutherischen Pastoren ausgeschaltet; der eine wurde in ein Arbeitslager eingeliefert, der andere mußte als finnischer Staatsbürger die Sowjetunion verlassen. 1939 wurden die finnischen und ingermanländischen Lutheraner im Nordwesten und 1940 die deutschen Gemeinden, besonders die Wolgadeutschen, nach Sibirien und ins sowjetische Mittelasien verbannt. Erst seit dem Ende der 50er Jahre bestehen in diesem Gebiet einige registrierte deutsche lutherische Gemeinden (vgl. Roemmich 138 ff). Die baltischen Lutheraner waren schon 1918/19 in schwerer Bedrängnis gewesen (Schabert 76ff). Ab 1940 wurde die sowjetische Religionsgesetzgebung übernommen. Zu eigentlichen Verfolgungsmaßnahmen reichte die Zeit bis zur deutschen Besetzung im Sommer 1941 nicht; zuvor wurde allerdings eine Reihe lutherischer Theologen und Pastoren verhaftet und deportiert. Vor der erneuten Besetzung durch die Sowjets 1944/45 flohen viele Pastoren, darunter die beiden Bischöfe, ins westliche Ausland. - Ähnlich erging es auch der aus ungarischen Gemeinden bestehenden Reformierten Kirche Transkarpathiens (Struve 233). Besonders wechselvoll ist das Schicksal der verschiedenen Freikirchen und Sekten. Ab 1927 ist eine wachsende Polemik gegen diese Gruppen durch den Gottlosenverband zu beobachten. Von 1929 an wurden Prediger und aktive Gemeindeglieder in großer Zahl verurteilt, so daß in den 30er Jahren das reiche freikirchliche Leben in der Sowjetunion vernichtet zu sein schien (zu den Evangeliumschristen und Baptisten vgl. Kolarz 299 f). Erst das Ende des 2. Weltkrieges zeigte, daß dieses religiöse Leben trotz aller Verfolgungen in erstaunlichem Ausmaß überlebt hatte (vgl. Simon, Kirchen 126ff). 7.1.9. Der 2. Weltkrieg zwang den sowjetischen Staat zur Einstellung der Verfolgungen. Nach seinem Ende erhielten die kirchlichen Organe durch die Verordnung vom 2 2 . 8 . 1 9 4 5

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das Recht einer juristischen Person zurück, vor allem die Eigentumsfähigkeit für Gemeinden und kirchliche Verwaltungen, zumeist wirtschaftliche Vergünstigungen (vgl. Luchterhandt 104ff). Von dieser friedlichen Koexistenz' profitierten alle christlichen Gruppen mit Ausnahme der römisch-katholischen und der unierten Christen (Galter 68ff). Eine neue antireligiöse Kampagne begann im Juli 1954; sie wurde aber schon im N o vember desselben Jahres offiziell wieder beendet (Luchterhandt 120 f). 1958 jedoch setzte eine neue Religionsverfolgung ein. Am 1 5 . 1 0 . 1 9 5 8 erging eine Verordnung des Ministerrates zur wirtschaftlichen Beschränkung der Klöster, die schwere Folgen f ü r diese Zentren orthodoxen Lebens und russischer Frömmigkeit hatte: Innerhalb von vier Jahren waren von den 69 Klöstern, die 1958 dem Patriarchat unterstanden, nur noch weniger als zehn tätig. Patriarch Alexej wurde „bis zu seinem Tode am 1 7 . 4 . 1 9 7 0 kaltgestellt und zu einer sorgfältig abgeschirmten Symbolfigur" (Luchterhandt 125). Der Kampf gegen das vielerorts blühende Gemeindeleben wurde vor allem durch Schließung, Entzug bzw. Zerstörung von Kirchengebäuden betrieben. Zwischen 1959 und 1962 sank nach sowjetischen Angaben die Zahl der orthodoxen Kirchen von etwa 22 0 0 0 auf 1 1 5 0 0 und bis 1966 sogar auf 7 500. Die Lage der Geistlichen wurde durch ihre Einreihung in die höchste Steuerklasse bedeutend erschwert; dadurch fiel es leicht, vielen Priestern den Prozeß wegen Steuerhinterziehung zu machen (Struve 268). In diesen Jahren wurde vielen Geistlichen verschiedener Kirchen überhaupt die Registrierung entzogen und damit der weitere Dienst an ihren Gemeinden verhindert (Simon, Kirchen 78f). Der o r t h o d o x e Priesternachwuchs wurde durch die Schließung von fünf der bisher acht Seminare sowie durch Druck auf die Kandidaten stark reduziert (vgl. Struve 2 6 7 f ; Simon, Kirchen 7 4 f ) . Seit 1965 wurden die meisten dieser Repressalien wieder eingestellt; die rechtliche Diskriminierung der Gläubigen und die verstärkte atheistische Propaganda und Beeinflussung der Jugend wurde jedoch beibehalten (Belege bei Simon, ebd. 84ff). Der sowjetische Staat hat sich bis heute „uneingeschränkt das Recht zur Reglementierung der Tätigkeit aller Religionsgemeinschaften" vorbehalten (Simon: OE 27,9). Weiterhin wird das nach wie vor gültige Ziel des allmählichen Absterbens der Religion verfolgt. Die Behörden wollen das religiöse Leben lückenlos kontrollieren, wogegen sich vor allem die —»Baptisten gewehrt haben, die d a f ü r Verfolgungen auf sich nehmen mußten. Insgesamt bleibt die Situation der Gläubigen aller Religionsgemeinschaften, vor allem aber der verschiedenen christlichen Kirchen, in der Sowjetunion prekär und ständigen Pressionen ausgesetzt, wie immer wieder neue Verhaftungen, Prozesse und Verurteilungen zeigen (vgl. bes. Beeson 48 ff). 7.2. Übrige

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7.2.1. In —*Albanien verlief der Vernichtungskampf gegen die Religionsgemeinschaften und Kirchen in drei Etappen: a) Von 1945 bis 1950 wurde die rigorose Trennung von Staat und Kirche und Kirche und Schule mit Gewalt durchgeführt. Aller kirchlicher Besitz wurde enteignet, die religiösen Hierarchien, bes. die im N o r d e n des Landes verwurzelte römischkatholische, unter großen Blutopfern gleichgeschaltet und m u n d t o t gemacht (Galter 225 ff). b) Die Verfassung von 1950 gewährte in Art. 18 trotzdem noch Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie freie Kultausübung. Aber bereits seit dem Dekret Über die Religionsgemeinschaften vom 1 1 . 1 1 . 1 9 4 9 waren die Religionsgemeinschaften verpflichtet, unter ihren Mitgliedern ein Gefühl der Loyalität gegenüber d e r , V o l k s m a c h t ' zu entwickeln. 1 9 5 0 / 5 1 legten sie dann gezwungenerweise Statuten vor, die die Gleichschaltung festschrieben, als letzte die Römisch-Katholische Kirche, c) Vor allem seit 1966 wütete eine von oben entfachte und gesteuerte ,kulturelle Revolution' immer schärfer gegen ,alle rückständigen Gewohnheiten', die man seit 1967 für überwunden hielt. Zeichen einer auch nur ansatzweisen Liberalisierung lassen sich bis heute nicht erkennen. 7.2.2. In —>Rumänien wurde den Kirchen durch ein Organisationsdekret vom Februar 1948 ein Rahmen für ihre jeweilige Organisationsform vorgegeben. Die Unierte Kirche konnte diese Neuregelung nicht annehmen. Deshalb w u r d e sie durch das Regierungsdekret

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vom 1 . 1 2 . 1 9 4 8 aufgehoben, ihre bisherigen Glieder (ca. 1,5 Millionen) galten von jetzt an als Glieder der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, die unierten Bischöfe, ihre engsten Mitarbeiter und die Ausbilder ihres Klerus sowie viele Priester wurden bis zum 2 9 . 1 0 . 1 9 4 8 verhaftet, jeder Widerstand gegen die Eingliederung gebrochen (Suttner 55 ff); die unmittelbar danach vom päpstlichen N u n t i u s heimlich geweihten unierten Bischöfe wurden ebenfalls bald verhaftet (Barbis 3 4 9 f ) . Auch die katholische Kirche des lateinischen Ritus mit 1,7 Mill. Gläubigen meist ungarischer A b s t a m m u n g konnte die neue Organisationsauflage nicht erfüllen. In den Jahren 1 9 4 9 / 5 0 wurden deshalb scharfe Verfolgungsmaßnahmen gegen die katholische Hierarchie eingeleitet; bis heute besitzt die katholische Kirche in Rumänien kein staatlich anerkanntes Statut (vgl. Suttner 185 ff). Dagegen konnte die O r t h o d o x e Kirche mit ihrer am 2 3 . 2 . 1 9 4 9 vom Staat gebilligten Verfassung zunächst ziemlich unbehindert leben. Erst 1957/58 kam es zum Konflikt mit dem Staat, der vor allem das blühende Klosterwesen traf (Hitchins: Bociurkiw/Strong 3 1 9 f ) . Inzwischen hat sich das Verhältnis des Staates zur O r t h o d o x e n wie zu den übrigen Kirchen normalisiert (Suttner 73 ff. 189 ff). N u r für die neuprotestantischen Gemeinschaften entstehen immer wieder Konflikte, die oft durch G e w a l t m a ß n a h m e n der Behörden ,gelöst' werden (vgl. Suttner 197 ff; Simon, Kirchen 153 ff). 7.2.3. In -^Bulgarien wurde von 1944 bis 1947 die T r e n n u n g von Staat und Kirche und Kirche und Schule durchgeführt (Stupperich, Kirche u. Staat 5). 1 9 4 8 - 1 9 5 3 folgte eine Periode von staatlichen Repressalien, durch die die Kirche zum Werkzeug des Staates gemacht wurde. Die Bulgarische O r t h o d o x e Kirche wurde fest unter die Aufsicht des Außenministeriums gestellt, jede Sozial- und Jugendarbeit ist ihr untersagt (Stupperich, ebd.). Die übrigen Kirchen wurden in diesen Jahren ebenfalls durch harte Verfolgungsmaßnahmen gleichgeschaltet: zunächst die protestantischen Gemeinschaften durch den Prozeß gegen 15 führende Pastoren Anfang 1949 und dann die Römisch-Katholische Kirche durch die Verhaftung und Prozesse gegen mehrere Bischöfe, Priester und Laien, von denen Bischof Bosilkov von Nikopol mit drei anderen Angeklagten am 3 . 1 0 . 1 9 5 2 zum Tode verurteilt wurde (Galter 251 ff). Seit 1953 ist aus Bulgarien k a u m mehr etwas über antikirchliche M a ß n a h m e n laut geworden. 7.2.4. Im Ende 1944/Anfang 1945 von der Roten Armee besetzten und Anfang 1946 in eine Volksrepublik umgewandelten —»Ungarn kam es sofort zu einem schweren Konflikt zwischen der stalinistischen Parteiführung und der Römisch-Katholischen Kirche unter ihrem Primas, Jozsef Kardinal Mindszenty, dem Erzbischof von Esztergom, der noch 1947 etwa 7 0 % des ungarischen Volkes vertrat. W ä h r e n d sich die beiden protestantischen Kirchen, die Reformierte und die Lutherische Kirche, der 2 2 % bzw. 6 % der Bevölkerung angehörten, schon im Herbst 1948, also ziemlich bald nach der Enteignung des bedeutenden kirchlichen Grundbesitzes (1945) und der Verstaatlichung des kirchlichen Schulwesens (1948), zu A b k o m m e n bereit fanden, die das Verhältnis des Staates zur jeweiligen Kirche neu und verhältnismäßig schonend regelten (vgl. Beeson 2 3 9 ff), führte Mindszenty die katholische Kirche in einen offenen Kampf mit dem neuen Regime. Bereits am 2 6 . 1 2 . 1 9 4 8 wurde er verhaftet und nach Verhören und Folterungen und einem Schauprozeß a m 8 . 2 . 1 9 4 9 zu lebenslänglicher H a f t wegen Hochverrats verurteilt (vgl. Galter 3 3 4 f f ) . Trotz der Atempause nach diesem Urteil wurde die Lage der Bischöfe und vor allem der O r d e n immer schwieriger. 1950 wurden alle O r d e n , außer den vier in den acht noch zugelassenen katholischen Schulen tätigen, aufgehoben, nachdem schon vorher viele Ordensleute deportiert worden waren; etwa 1 0 0 0 0 N o n n e n und M ö n c h e mußten ins bürgerliche Leben zurückkehren. Der Religionsunterricht in den Schulen war schon 1949 aufgehoben worden, nach der Unterdrückung des ungarischen Aufstandes 1956 wurde diese Verordnung neu eingeschärft. 1951 wurden die noch amtierenden regimekritischen Bischöfe verhaftet, voran der Vorsitzende der ungarischen Bischofskonferenz, Erzbischof Grösz, der a m 2 1 . 7 . 1 9 5 1 i n einem Schauprozeß wegen Hochverrats und Devisenschmuggels zu 15 Jahren Z u c h t h a u s verurteilt wurde. Im Mai 1956 wurde er amnestiert, die ebenfalls verhafteten reformierten

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und lutherischen Bischöfe kamen kurze Zeit später frei, nur Kardinal Mindszenty wurde erst am 3 0 . 1 0 . 1 9 5 6 befreit, mußte aber schon vier Tage danach in der amerikanischen Gesandtschaft Asyl suchen, wo er als das große Hindernis einer endgültigen Normalisierung bis zum 28.9.1971, seiner Ausreise nach Rom, lebte. Inzwischen hat sich das kirchliche Leben der drei wichtigsten Konfessionen in Ungarn im Rahmen eines sozialistisch-atheistisch ausgerichteten Staates erstaunlich normalisiert (Beeson 251 ff). 7.2.5. Besonders verwirrend war die Situation der Kirchen und Religionsgemeinschaften in —'Jugoslawien. Da katholische Christen im 2. Weltkrieg mit den Faschisten kollaboriert hatten, kam es zur blutigen Abrechnung der kommunistischen Sieger mit der Römisch-Katholischen Kirche. Einige der Hauptbetroffenen, Erzbischof Saric von Sarajevo, Bischof Garic von Banja Luka und Bischof Rozman von Ljubljana, waren 1945 geflohen, aber eine Reihe katholischer Bischöfe und Priester wurde zum Tode bzw. zu längeren Haftstrafen verurteilt (Alexander 61 ff). Erzbischof Stepinac von Zagreb wandte sich in einem scharfen Hirtenbrief, den die Bischofskonferenz am 2 0 . 9 . 1 9 4 5 in allen katholischen Kirchen verlesen ließ, gegen die Bedrückung der katholischen Kirche durch das neue Regime (vgl. Alexander 69 ff). Die Parteinahme des lokalen katholischen Episkopats für Italien in beiden Zonen des strittigen Territoriums von Triest steigerte die Animosität gegen die katholische Hierarchie (Alexander 81 ff). So kam es im September 1946 zur Verhaftung und zum Prozeß gegen Erzbischof Stepinac und einige Mitangeklagte. Am 13. Okt. wurde der Erzbischof zu 16 Jahren Zwangsarbeit und weiteren 10 Jahren Verlust der bürgerlichen Rechte verurteilt (Alexander 95 ff). Er wurde nach 5 Jahren freigelassen, durfte aber sein Heimatdorf Krasic bis zu seinem Tode am 1 0 . 2 . 1 9 6 0 nicht verlassen. Alseram 2 9 . 1 1 . 1 9 5 2 von —»Pius XII. zum Kardinal ernannt wurde, war das der Auftakt zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen Jugoslawiens zum Vatikan. Trotz des 1948 erfolgten Ausschlusses Jugoslawiens aus dem Kominform ging die allgemeine Bedrückung der katholischen Kirche und ihres Klerus noch bis 1953 weiter (Belege bei Galter 395 ff; Alexander 131 ff). Einige Prozesse gegen aktive Geistliche und oft recht harte staatliche Repressalien gab es aber auch danach noch einige Jahre lang (Alexander 226 ff). Trotz ihrer im Krieg erlittenen Leiden und Verluste und ihrer engen Zusammenarbeit mit der Partisanenbewegung blieb die Serbisch-Orthodoxe Kirche in der Nachkriegszeit auch nicht ganz von Verfolgungsmaßnahmen verschont. Sie entzündeten sich besonders am Kampf um den öffentlichen Religionsunterricht (abgeschafft 1952) und um die Einführung der Ziviltrauung und fanden ihren Höhepunkt im Prozeß gegen Vikar-Bischof Varnava von Dabar (Bosnien) im Februar 1948 in Sarajevo, wo er wegen antijugoslawischer Tätigkeit und feindlicher Propaganda zu 11 Jahren Haft verurteilt wurde; 1964 starb er in Beocin in der Vojvodina, immer noch unter Zwangsaufsicht (Alexander 159ff). Heute sind die Kirchen in Jugoslawien, vor allem die Serbisch-Orthodoxe Kirche, stärker durch die allgemeine Säkularisierung als durch den Staat bedroht (vgl. Denitch: Bociurkiw/Strong 275f). 7.2.6. Die —»Tschechoslowakei wurde erst 1948 eine Sozialistische Republik, ist aber heute nach Albanien und neben der UdSSR das Land des Ostblocks, in dem die Kirchen den schwersten Stand haben. Während die Römisch-Katholische Kirche zwischen 1945 und 1948 ziemlich unbehelligt blieb und im 1946 neu ernannten Erzbischof von Prag, Josef Beran, einen anerkannten Widerstandskämpfer zum Primas hatte, war die innerlich viel stärkere katholische Kirche der Slowakei durch ihre tragende Rolle im deutschen Vasallenstaat der Slowakischen Republik unter Msgr. Josef Tiso im neuen Staat zutiefst kompromittiert (vgl. Toma/Reban: Bociurkiw/Strong 275 f). Es kam neben den Exekutionen und Verhaftungen vieler wirklicher oder auch nur angeblicher Kollaborateure aus dem katholischen Klerus schon 1946 zur Verstaatlichung des ausgedehnten und ausgebauten katholischen Schulwesens und zur Ausschaltung der politischen Vertretung des slowakischen Katholizismus (vgl. Galter 167ff). Gleich nach der kommunistischen Machtübernahme verweigerte der katholische Episkopat der ganzen Tschechoslowakei dem neuen Regime jegliche Unterstützung (Frei

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IV,7f). Umgekehrt enteignete und vernichtete die neue Regierung noch im Frühjahr und Sommer 1948 das reiche katholische Pressewesen sowie auch in Böhmen und Mähren das katholische Schulwesen; der Religionsunterricht an den staatlichen Schulen wurde stark eingeschränkt und staatlicher Kontrolle unterworfen, nachdem die Maiverfassung die Trennung von Staat und Kirche verfügt hatte (Frei IV,18f). Zum offenen Kampf zwischen kommunistischem Staat und katholischer Kirche kam es bei dem staatlichen Versuch, eine von Rom unabhängige, regimehörige katholische Nationalkirche zu schaffen bzw. sie an die 1919 abgespaltene Tschechoslowakische Kirche anzuschließen, die sich nach dem Februarputsch 1948 regimehörig gab (vgl. Urban 158 ff). Vor allem durch die Schaffung der „Katholischen Aktion" als Sammelbecken für diese geplante schismatische Kirche kam es zum scharfen Konflikt; denn der katholische Episkopat verurteilte diese kommunistische Schöpfung von Anfang an, und ihr Scheitern war durch die römische Verurteilung vom 2 0 . 6 . 1 9 4 9 besiegelt (Frei 100ff. 144f; vgl. Toma/Reban: a. a. O. 276ff). Das Gesetz zur Kontrolle der Kirchen und zur Deckung von deren Ausgaben durch den Staat vom 15.7.1949 gab die Kirchen völlig in die Hand des Staates, der im Oktober 1949 die Errichtung von Zentralbehörden zur Kontrolle und Lenkung der Kirchen in Angriff nahm. Im April 1950 wurden die Männerklöster aufgelöst, im September folgte die Besetzung der Frauenklöster und -konvente. Die am Klosterleben festhaltenden sowie die arbeitsunfähigen Mönche und Nonnen wurden in sog. Konzentrationsklöstern zur Umschulung und Zwangsarbeit interniert (vgl. Galter 202ff). Die bisherigen Seminarien und Ausbildungsstätten aller Kirchen wurden ebenfalls 1950 in 6 staatliche, genau reglementierte Fakultäten in Prag bzw. Leitmeritz und Preßburg umgewandelt. Der immer noch widerstrebende katholische Episkopat wurde von der 2. Hälfte des Jahres 1950 an systematisch bekämpft, nachdem vorher schon die angesehensten oppositionellen Priester verhaftet worden waren. Es kam zu einer Reihe spektakulärer Schauprozesse gegen Bischöfe und Priester, die mit hohen Haftstrafen für die Angeklagten endeten; in die verwaisten Diözesen wurden regimetreue Geistliche als Generalvikare und Domherren installiert (Galter 207ff). Der Höhepunkt dieser Verfolgungsmaßnahmen war der Prozeß gegen Beran im März 1951, der wegen Verweigerung des Treueeides zur Tschechoslowakischen Republik zu einer Geldstrafe von 5 0 0 0 0 Kronen und zum Zwangsaufenthalt an einem zugewiesenen Ort verurteilt wurde. Nach einer Phase der Entspannung kehrte die Regierung nach dem Scheitern des ,Präger Frühlings' 1968 zu einer harten Kirchenpolitik zurück, die diesmal auch die kleineren Kirchen, vor allem die 1968 stark engagierte Kirche der —»Böhmischen Brüder, traf. Es kam seit 1970 wieder zur Beschränkung der kirchlich-religiösen Aktivitäten auf den Kult, der Religionsunterricht wurde immer stärker eingeschränkt, der 1968 bitter vermerkte Andrang an die Theologischen Fakultäten wurde 1971 durch die Schaffung eines für die pastorale Versorgung aller Kirchen völlig ungenügenden Numerus clausus weitgehend unterbunden, zur Disziplinierung des katholischen Klerus wurde an Stelle der 1968 aufgelösten „Katholischen Aktion" die Priesterorganisation „Pacem in Terris" gegründet; widerstrebende Geistliche aller Kirchen werden durch willkürliche Versetzungen oder mit Entzug ihrer Predigterlaubnis oder ihrer Amtsbefugnisse gefügig gemacht, der Zwangsatheismus in Schule und Öffentlichkeit wird bewußt verstärkt, besonders in der Slowakei werden auch direkte Zwangsmaßnahmen gegen ,unverbesserliche' Gläubige eingeleitet.

7.2.7. Als wesentlich stärker erwies sich die Römisch-Katholische Kirche in der am 2 8 . 6 . 1 9 4 5 proklamierten Volksrepublik —>Polen. Zu heftigen Konflikten kam es lediglich zwischen 1950 und 1956, nachdem Pius XII. sein Exkommunikationsdekret vom 1 . 7 . 1 9 4 9 gegen alle Kommunisten erlassen hatte und der Vatikan die neue polnische Westgrenze unter Einschluß der ehemaligen deutschen Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße nicht anerkannte, ja einem entsprechenden Abkommen zwischen den polnischen Bischöfen und der Regierung die Zustimmung versagte (Stasiewski 356 ff). 1953 wurde der polnische Primas, Stefan Kardinal Wyszinski, unter Hausarrest gestellt, bis 1955 wurden insgesamt mehrere tausend Katholiken, Bischöfe, Priester und einflußreiche katholische Laien inhaftiert (Galter

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147 ff). Erst am 7 . 1 2 . 1 9 5 6 wurde ein vorläufiges Übereinkommen zwischen Staat und Kirche geschlossen (Stasiewski 3 6 3 ff), nachdem vorher der Hausarrest des Kardinals aufgehoben und alle Inhaftierten entlassen worden waren (Beeson 1 4 6 f f ) . Zu einem entspannten Verhältnis kam es nach der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1 9 7 0 . Seitdem haben Kirche und Staat einen Modus vivendi gefunden, der der Römisch-Katholischen Kirche mehr Freiheiten und Einflußmöglichkeiten als in jedem anderen Land des Ostblocks zubilligt. Die kleinen protestantischen Kirchen erfreuen sich in Polen ebenfalls eines relativ ungestörten Lebensraumes (Wreczionko: K O 1 4 , 1 7 2 f f ) . 7.2.8. Mit der Gründung der DDR (^»Deutschland) am 7 . 1 0 . 1 9 4 9 begann der Kampf des neuen Regimes gegen die Verbindungen der christlichen Kirchen - vor allem der evangelischen — mit dem Westen (—»Evangelische Kirche in Deutschland). Gleichzeitig versuchte der Staat, die Erziehung der jungen Generation vollständig in die Hand zu bekommen und jeden kirchlich-religiösen Einfluß auszuschalten. Diese doppelte Zielsetzung führte immer wieder zu offenen Auseinandersetzungen, aber auch zur heimlichen Diskriminierung gegenüber den Kirchen und ihren Gliedern, ja gelegentlich sogar zu unmittelbaren Verfolgungen. Der Kampf um die Jugend entwickelte sich in drei Etappen: 1 9 5 2 / 5 3 kam es zum offenen Versuch, jeden christlichen Einfluß auf den akademischen Nachwuchs auszuschalten. 1 9 5 2 erfolgten massive Einschränkungen der Jugendarbeit in den evangelischen Gemeinden. 1 9 5 3 begannen die eigentlichen Verfolgungen: a) Das Ausschalten der Jungen Gemeinde an den Oberschulen; bis Mai 1 9 5 3 waren 3 0 0 0 Oberschüler von ihren Schulen verwiesen worden, b) Die evangelischen theologischen Fakultäten sollten von den sechs alten Universitäten ausgegliedert und in eigene kirchliche Hochschulen überführt, die evangelischen —»Studentengemeinden aufgelöst und in die Ortsgemeinden zurückgegliedert werden. c) Markante Jugendseelsorger wurden seit Anfang 1 9 5 3 verhaftet, angeklagt und verurteilt (Wild 9 2 f ) . Nach einer Unterbrechung ab Mitte 1 9 5 3 wurde bereits 1 9 5 4 die antireligiöse Propaganda im großen M a ß s t a b in der „Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse" nach sowjetischem Vorbild organisiert. Ihr Hauptziel war die Vorbereitung der materialistischen Jugendweihe, zu der erstmals am 1 4 . 1 1 . 1 9 5 4 durch die gesamte Presse der D D R aufgerufen wurde. Die —»Jugendweihe sollte die Konfirmation ersetzen, was bis 1 9 6 0 auch in hohem M a ß e gelang (ca. 9 0 % ! ) . Das kirchlicherseits geforderte EntwederOder' hatte, von einigen Landstrichen wie dem Erzgebirge abgesehen, nur geringen Erfolg (Köhler 1 3 4 f f ) . Gleichzeitig wurde auch die religiöse Unterweisung der Jugend durch schrittweise Verdrängung des Religionsunterrichts aus den Schulen sowie die bis 1 9 7 8 immer stärker werdende Diskriminierung der christlichen Kinder und Jugendlichen im Bildungs- und Berufsausbildungswesen der D D R eingeschränkt. Dieser Prozeß scheint erst durch das Gespräch zwischen Erich Honecker und den evangelischen Bischöfen der D D R vom 6 . 3 . 1 9 7 8 wenigstens zum Stillstand gekommen zu sein (Henkys: EK 11). Die evangelischen Kirchen in der D D R bemühen sich um einen Standort als ,Kirche im Sozialismus'. Auch die wesentlich kleinere Römisch-Katholische Kirche zog hier, allerdings weniger deutlich, nach (Prauß 5 8 2 f ) . Literatur Stella A l e x a n d e r , C h u r c h a n d S t a t e in Y u g o s l a v i a since 1 9 4 5 , C a m b r i d g e 1 9 7 9 . - O s k a r A n w e i l e r / K a r l H e i n z R u f f m a n n , Kulturpolitik der S o w j e t u n i o n , S t u t t g a r t 1 9 7 3 . - Peter J . B a b r i s , S i l e n t C h u r c h e s , A r l i n g t o n Heights 1 9 7 8 . - G i o v a n n i B a r b e r i n i / M a r t i n S t ö h r / E r i c h W e i n g ä r t n e r , K i r c h e n im S o zialismus, F r a n k f u r t , M . 1 9 7 7 . - T r e v o r R a n d a l l B e e s o n , M i t Klugheit u. M u t . 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Gesellschaft für M e n s c h e n r e c h t e , F r a n k f u r t 1 9 7 9 . — J o h a n n e s C h r y s o s t o m u s , K G R u ß l a n d s der neuesten Z e i t , 3 B d e . , M ü n c h e n / S a l z b u r g 1 9 6 5 - 1 9 6 8 . - J o h n Shelton C u r t i s s , C h u r c h a n d S t a t e in R u s s i a , 1 9 0 0 - 1 9 1 7 , N e w Y o r k 1 9 4 0 . - Ders., Die K i r c h e in der S o w j e t u n i o n ( 1 9 1 7 - 1 9 5 6 ) , M ü n c h e n 1 9 5 7 . - S a m D a h l g r e n , D a s V e r h ä l t n i s v. S t a a t u. Kirche in der D D R w ä h r e n d der J a h r e 1 9 4 9 - 1 9 5 8 , 1 9 7 2 ( B T P 2 6 ) . - K a r l - C h r i s t i a n

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In historischer Sicht ist diese spirituelle Heilungsbewegung eine typische Frucht Amerikas des 19. Jh. Versucht man, das geistesgeschichtliche Umfeld abzustecken, so findet man im liberalen —>Kongregationalismus, im philosophischen —»Idealismus, wie er sich vor allem in dem populären New-England-Transcenderttalism darstellte, in einem (naiven) Dualismus von Geist und Materie, in einer starken Wissenschaftsgläubigkeit und dem Trend zu einer ausgesprochen individualistischen Frömmigkeit Elemente bzw. Strömungen, die aufgenommen wurden. Gegenpositionen, gegen die man sich absetzte, waren enger Konfessionalismus und Dogmatismus (vor allem calvinistischer Prägung), ein vulgär-biblizistisches Erweckungschristentum, in erster Linie aber die materialistische, kausal-mechanische Denkweise der Zeit. Entgegen der offiziellen Darstellung der „Scientisten" ist Christian Science Teil einer umfassenden Bewegung: mental bzw. spiritual healing movement; New Thought, in Deutschland: Neugeist. Diese geht zurück auf den „mental healer" Phineas Parkhurst Quimby ( 1 8 0 2 - 1 8 6 6 ) in Portland, Me. Der ehemalige Uhrmacher war mit dem Mesmerismus in Berührung gekommen (Beeinflussung von Mensch zu Mensch durch „animalischen Magnetismus"), und er hatte ihn mit größtem Erfolg öffentlich demonstriert. Dabei hatte er Beobachtungen gemacht, die ihn dann über den Mesmerismus wieder hinausführten, z. B. die maßgebliche Rolle der Vorstellung im Leben jedes Menschen, eine weitreichende allgemeine Suggestibilität, die Relativität von R a u m und Zeit bei Fernfühlen und Clairvoyance u . a . m . In den 5 0 e r Jahren begann Quimby mit einer rein mentalen Heilweise, die er mit idealistisch-spiritualistischen Gedankengängen verband. Er war überzeugt, damit eine gänzlich neue „Wissenschaft" entdeckt zu haben: die Wissenschaft vom mentalen Ursprung aller Krankheit und von deren Heilung durch „Erkenntnis der W a h r h e i t " .

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Zu ihm kam im Oktober 1862 Mary Baker (verw. Glover, spätere Eddy; 1 8 2 1 - 1 9 1 0 ) . Von Kind auf war sie zart und sensibel und litt an nervösen Störungen. Seit dem Tod ihres ersten Mannes und der Geburt eines Sohnes war sie zunehmend kränker geworden, schließlich fast ganz ans Bett gefesselt (Rückgratsleiden, Krampfanfälle etc.). Dabei war sie geistig sehr rege, phantasiebegabt und hatte ein hohes Selbstwertgefühl. So stand sie lebenslang in einer starken Spannung zwischen Ideal und Realität und war erfüllt von einer großen Sehnsucht nach Heilung und Harmonie. Als „kein Arzt mehr helfen konnte", war „Doktor" Quimby ihr letzter Ausweg. Die Heilung, die sie durch ihn erfuhr, bedeutete nicht nur eine weitgehende Wiederherstellung ihrer Gesundheit; vor allem gewann ihr Leben nun Ziel und profilierte Gestalt; die neue „Wissenschaft" Quimbys zu erlernen, um sie selbst praktizieren und lehren zu können, war seitdem ihr einziger Lebensinhalt. Im Februar 1866, nur vierzehn Tage nach dem Tod P. P. Quimbys, stürzte M. Baker auf vereister Straße auf den Rücken. Sie hatte starke Schmerzen und sah alle ihre früheren Leiden wieder auf sich zurückkommen. Da raffte sie sich auf und demonstrierte die neue „Wissenschaft" an sich selbst. Dieses Ereignis wird nicht zu Unrecht als die Geburtsstunde der „Christian Science" im engeren Sinn gewertet. In der Folgezeit führte Mary Baker Eddy die Lehre und Praxis Quimbys in derselben Richtung, die der Meister eingeschlagen hatte, weiter; sie fügte vor allem religiöse Elemente hinzu. Dabei löste sie sich persönlich immer stärker von Quimby und erhob bald für „ihre" Wissenschaft das Urheberrecht, d.h. sie nannte sich nun selbst Discoverer and Founder of Christian Science. Ja, sie trat in einen inneren Gegensatz zu Quimby, der für sie nun zum Repräsentanten eines „menschlichen" Heilens mittels „mindpower" (materielle oder suggestive Ausstrahlung) wurde, während sie selbst das „göttliche", d.h. „rein geistige Heilen" (spiritual healing) zu vertreten behauptete. 1875 veröffentlichte sie ihr Hauptwerk Science and Health, das, von ihr selbst noch oftmals revidiert, zum maßgeblichen „textbook" ihrer Bewegung wurde. In der Form meditativer Kreise wiederholt sie hier immer wieder die Grundgedanken ihrer „ Wissenschaft vom wahren Sein": „Gott ist Alles-in-allem" und er ist Geist, das Prinzip des Lebens und alles Guten. Der wahre Mensch ist „sein Bild und Gleichnis". Beide zusammen, „Gott und seine Widerspiegelung, der Mensch", stellen die einzige Wirklichkeit im streng metaphysischen Sinn dar. Alles Böse, Begrenzende und Unvollkommene dagegen gehört dieser Wirklichkeit nicht an; „Gott kennt es nicht". Es ist „menschlicher Irrtum", dessen Ursprung freilich völlig unklar bleibt. „Das sterbliche Dasein ist ein Traum von Sünde, Krankheit und Tod", der vor unseren Sinnen als scheinbar real erscheint. Wir können uns von diesem Traum befreien, indem wir die „Wahrheit" erkennen, d.h. indem wir ein „unbedingtes Bewußtsein von (Gottes) Harmonie und von nichts anderem" gewinnen. Dann „zergeht der Irrtum in sein natürliches Nichts", und die Vollkommenheit erscheint als das, was sie immer war: als ewige Wirklichkeit. — M.B. Eddy und die Scientisten vertreten kein „Gesundbeten", sondern eher ein Gesund-Denken. Es geht auch nicht nur um eine Heilungsmethode im engeren Sinn; vielmehr sollen durch rechtes Erkennen, d.h. durch meditatives Vergegenwärtigen ( a f f i r m a t i o n ) des Guten und Abweisen (negation) des Bösen alle menschlichen Probleme gelöst, nicht nur körperliche Leiden überwunden werden. Für M. B. Eddy, die in biblischen Gedankengängen aufgewachsen war, und für ihre Anhänger, die sich einem „wahren Christentum" verpflichtet wissen, stimmt die neue Wissenschaft mit der alten Wahrheit der Bibel überein. Die Uberzeugung, die einer kritischen Nachprüfung nicht standhält (weder der Ansatz noch die einzelnen Elemente der Christian Science sind biblisch), wird gestützt mit Hilfe einer symbolischen, z.T. allegorischen Bibelauslegung — was den zutiefst synkretistischen Charakter der Christian Science offenbart. Im Laufe der Jahre konnte M. B. Eddy einen beachtlichen Anhängerkreis um sich sammeln. Ein Massachusetts Metaphysical College wurde eröffnet und erhielt sogar eine staatliche Lizenz. 1879 gründete man eine Church, die dann 1882 von M.B. Eddy neuorganisiert wurde zur Church of Christ, Scientist: Kirche Christi, Wissenschafter (das letzte Wort bezieht sich auf Jesus Christus, der der erste Christliche Wissenschafter gewesen sein soll.) In

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B o s t o n wurde Die Mutterkirche als überörtliche Institution errichtet. Ihr sind relativ selbständige Zweigkirchen in aller Welt angeschlossen. D a m i t ist Christian Science eine Religionsgemeinschaft, die durch ein von M . B . Eddy verfaßtes Kirchenhandbuch allein auf sie als ihre Führerin (Leader) festgelegt wurde. Es gibt weder freie Predigt noch eine offizielle Weiterentwicklung der Lehre. Die Schriften M . B . Eddys haben quasi kanonische Geltung erlangt. In jedem Gottesdienst werden von zwei „ L e s e r n " besonders zusammengestellte Abschnitte (Lektionen) aus der Bibel und aus Science and Health verlesen. Die Geistlichen heißen Practitioners; sie haben im seelsorgerlichen Dienst die „Wissenschaft vom geistigen H e i l e n " zu demonstrieren. Dabei werden sie nicht von ihrer Kirche bezahlt, sondern von jenen Personen, die sie in Anspruch nehmen. D a r ü b e r hinaus gibt es Lecturers, die öffentliche V o r t r ä g e halten, und Teachers, die die Practitioners in einem vierzehntägigen Kurs ausbilden. Statistik (Stand 1978): Zweigkirchen und Vereinigungen (kleinere Ortsgruppen): BRD 110, weltweit 3000 (Höchststand 1970: 3300); Practitioners: BRD 137, weltweit über 5000 (Höchststand 1936: 11000). Die Zahl der Mitglieder wird nicht bekanntgegeben. In mehreren Bundesländern ist Christian Science Körperschaft des öffentlichen Rechts. Quellen Mary Baker Eddy, Science and Health with Key to the Scriptures, 1875, maßgebl. Ausg. Boston 1910ff; dt.: Wiss. u. Gesundheit mit Schlüssel zur Hl. Schrift, ebd. 1 9 1 2 f f . - D i e s . , Prose Works, Other than Science and Health . . ., Boston 1925. - Dies., Unity of Good, Boston 1891; dt.: Die Einheit des Guten, Boston 1 9 6 3 . - D i e s . , Miscellaneous Writings 1 8 8 3 - 1 8 9 6 , Boston 1897; dt.: Vermischte Sehr., ebd. 1 9 5 7 . - D i e s . , Retrospection and Introspection; dt.: Rückblick u. Einblick, Boston 1934 (autobiographische Skizzen). - K.-D. Förster, Die Christi. Wiss.: Was glauben die andern?, hg. v. K. Eberhardt, Gütersloh 1977, 4 9 - 5 6 . - Edward A. Kimball, Lectures and Articles on Christian Science, 1921 = Chesterton, Ind. 1976. - Thomas L. Leishman, Why I am a Christian Scientist, New York 1958; dt.: Warum ich ein Christi. Wissenschafter bin, Rheinfelden/Baden 1969. - Christian Science Publication Society, A Century of Christian Science Healing, Boston 1966; dt.: Ein Jahrhundert christl.-wiss. Heilens, ebd. 1969. - Robert Peel, Mary Baker Eddy, 3 Bde., New York 1 9 6 6 - 1 9 7 7 . - John De Witt, Die Lebenseinstellung des Christi. Wissenschafters, Boston 1974. Zeitschriften: Christian Science Journal, Boston 1883 ff. - Christian Science Sentinel, Boston 1898 ff. - Der Herold der Christi. Wiss., Boston 1903 ff. - The Christian Science Monitor, Boston 1908 ff. Literatur Ernest S. Bates/John V. Dittemore, Mary Baker Eddy. The Truth and the Tradition, London 1933. - Edwin F. Dakin, Mrs. Eddy, New York 1929. - Horatio W. Dresser, The Quimby Manuscripts, New York 1921 "1929. - Kurt Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, Stuttgart u 1 9 6 8 , 2 5 0 - 2 8 8 . - HansDiether Reimer, Die Quellen der Christian Science, Diss. Theol. Erlangen 1959. - Ders., Metaphysisches Heilen, Stuttgart 1966. - Verz. der Christian Science Sammlung an der UB Erlangen, Erlangen 1975. H a n s - D i e t h e r Reimer Christianisierung —»Mission Christliche Sozialbewegung und Soziallehren —»Sozialismus Christliche Welt/Freunde der Christlichen Welt —»Kulturprotestantismus Christlicher Verein Junger Männer —»Jugend, —>Vereinswesen

Christlich-jüdische Zusammenarbeit 1. Vorstufen christlich-jüdischer Zusammenarbeit 2. Zusammenarbeit in der NS-Verfolgung 3. Christlich-jüdische Organisationen 4. Zusammenarbeit für katechetische und kerygmatische Erneuerungen 5. Politische und praktische Zusammenarbeit 6. Wertung (Literatur S. 67)

Christlich-jüdische Zusammenarbeit 1. Vorstufen

christlich-jüdischer

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Zusammenarbeit

Von christlich-jüdischer Zusammenarbeit im strengen Sinn des Wortes kann man erst in unserem Jahrhundert sprechen. Vereinzelte Ansätze dazu gab es in allen Epochen der christlich-jüdischen Geschichte. H. J. Schoeps bezeichnet den Philosemitismus (—»Antisemitismus) des 17. Jh. als Vorläufer der christlich-jüdischen Verständigung (7). W. P. Eckert berichtet vom mißlungenen Versuch einer Unparteiischen Universal-Kirchenzeitung für die Geistlichkeit und die gebildete Weltklasse des protestantischen, katholischen und israelitischen Deutschlands im Jahre 1837 (268). Die Begegnungen von Franz —»Rosenzweig und Eugen Rosenstock (1913) sowie von Martin -^»Buber und Karl Ludwig —»Schmidt (1933) können als echte Gespräche zwischen Juden und Christen angesehen werden. 2. Zusammenarbeit

in der

NS-Verfolgung

Die Not der Juden in der nationalsozialistischen Zeit (—»Nationalsozialismus) erweckte das Verantwortungsbewußtsein mancher Christen. Der Auswanderungshilfe für „nichtarische Christen" dienten das Büro Grüber in Berlin (1937—1940) und die Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken in Wien ( 1 9 4 0 - 1 9 4 1 ) . Die —»Quäker stellten gemeinsam mit anderen Organisationen Kindertransporte zusammen. Die Schwedische Israelmission in Wien ( 1 9 3 8 - 1 9 4 1 ) und Gertrud Luckner in Freiburg i. Br. (ab 1933) bemühten sich, ausreisewilligen Juden und Christen jüdischer Abstammung die nötigen Papiere zu beschaffen. Die Solidarität eines Teils der Evangelischen Kirche Deutschlands mit seinen nichtarischen Pfarrern drückte sich in der Gründung des Pfarrernotbunds und später der Bekennenden Kirche (—»Kirchenkampf) aus. In der Schweiz gründeten Pfarrer Paul Vogt, Karl -^Barth und einige andere 1937 das Schweizerische Evangelische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland. Nach der „Reichskristallnacht" (1938) wurde diesem ein Flüchtlingsdienst für verfolgte Juden und Judenchristen angegliedert. In Genf wirkte der Ökumenische Flüchtlingsdienst des vorläufigen ökumenischen Rats in enger Zusammenarbeit mit den Helfern in Südfrankreich. 1943 erarbeiteten der Flüchtlingssekretär und der Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses (WJC) ein gemeinsames Memorandum, um führende Persönlichkeiten in Amerika, England und der Schweiz um ihre Unterstützung für Flüchtlinge zu bitten. George Bell, der Bischof von Chichester, gründete in London ein Internationales Christliches Flüchtlingskomitee. Sowohl der Vatikan als auch verschiedene katholische Institutionen bemühten sich, den Verfolgten zu helfen. 3. Christlich-jüdische

Organisationen

Die Zusammenarbeit während der Zeit der Verfolgung führte nach 1945 zur Gründung von Gesellschaften, die gemeinsam gegen den Antisemitismus kämpfen und um gegenseitiges Verständnis zwischen Christen und Juden werben wollten. Die Christlich-jüdische Arbeitsgemeinschaft der Schweiz (CJA) entstand aus der Flüchtlingsarbeit. Die Anfänge des englischen Council of Christians and Jews gehen auf das Jahr 1927 zurück. 1941 wurden darin mehrere Organisationen zusammengefaßt mit dem Ziel, religiöse und rassische Intoleranz zu bekämpfen sowie das wechselseitige Verständnis zwischen Christen und Juden zu fördern. Die österreichische Aktion gegen den Antisemitismus entstand 1955 mit dem Ziel, gemeinsam gegen den neuaufflammenden Antisemitismus zu kämpfen. Eines ihrer bedeutendsten Anliegen war das Bestreben, die Entfernung der noch in Österreich befindlichen Ritualmorddarstellungen (—»Ritualmord) zu bewirken. Die Wurzeln der Amitié judéo-chrétienne de France reichen in die Zeit des 2. Weltkrieges zurück, als 1 9 4 2 - 1 9 4 4 eine Gruppe von Christen um den Bischof von Lyon Juden vor der Deportation und der Ermordung retteten. Die während der Verfolgung entstandenen Verbindungen führten 1948 zur Gründung der Amitié. Die älteste christlich-jüdische Gesellschaft ist jene der USA. Schon 1924 wurde seitens der Föderation Evangelischer Christen ein „Good-Will"-Komitee zwischen Juden und Christen gegründet, um gegen den Rassenhaß des Ku Klux Klan zu kämpfen und „eine öffentliche... Meinung zu schaffen, die die Vaterschaft Gottes und die Bruderschaft der Menschen anerkennt" (Pitt 13). 1926 bildete sich eine von den Kirchen unabhängige Grup-

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Christlich-jüdische Zusammenarbeit

pe, der spätere National Council of Christians and Jews (NCCJ). Diese Organisation war auch Patin der ersten christlich-jüdischen Gesellschaften in Deutschland, die auf Initiative der amerikanischen Besatzungsmacht und des NCCJ gegründet wurden. Ziel war der Kampf gegen den Antisemitismus und die „Umerziehung" der Deutschen. Die genannten Organisationen sowie christlich-jüdische Gesellschaften aus Brasilien, Holland, Israel, Italien, Kanada und Luxemburg sind heute im International Council of Christians and Jews (ICCJ) zusammengeschlossen. Der ICCJ veranstaltet internationale Zusammenkünfte, um Christen und Juden ihre spezifischen Bande klarer erkennen zu lassen und um auf dieser Basis für Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung zu arbeiten. Durch Beiziehung von Moslems, bzw. di t Standing Conference ofjews, Christians and Moslems (JCM), ist der Wirkungs- und Aktionsradius (seit 1967) erweitert worden. Unabhängig von dieser internationalen Koordination widmet sich eine Reihe von Organisationen auf nationaler und regionaler Ebene ähnlichen Zielen. Etwa 1930 entstand im Rahmen des Weltkirchenrats die Beratungsgruppe für die Kirche und das jüdische Volk, und zwar als Ausschuß des Missionsrates (—>Judenmission). Später arbeitete der Weltkirchenrat mit dem WJC in der Flüchtlingsbetreuung zusammen. Seit 1968 pflegt der christlich-jüdische Verbindungsausschui? des Weltkirchenrats ständige Kontakte mit dem International Jewisk Committee for Interreligious Consultations. Im letzteren, das 1970 gegründet wurde, sind der WJC, der Synagogue Council of America, das American Jewish Committee, die B'nai B'rith, die Anti Defamation League und das israelische Jewish Committee for Interreligious Contacts vertreten. Im Jahr 1974 wurden Verbindungen zwischen dem International Jewish Committee for Interreligious Consultations und der Orthodoxen Kirche hergestellt. Kontaktperson war der Leiter des in Chambesy bei Genf beheimateten Orthodoxen Zentrums des ökumenischen Patriarchats in der Schweiz, Metropolit Damaskinos Papandreou. Im März 1977 wurde bei einer Tagung in Luzern beschlossen, die theologische und praktische Zusammenarbeit zwischen christlicher Orthodoxie und Judentum zu intensivieren und ihr einen regelmäßigen Status zu geben. Die Möglichkeit dazu hatte die 1976 in Chambesy tagende „vorbereitende Synode" (für die geplante panorthodoxe Synode) geschaffen (Croner). Im Jahre 1974 konstituierte sich innerhalb des Vatikanischen Einheitssekretariats die Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum. Sie hat religiös-ökumenische, nicht politisch-diplomatische Zielsetzungen. Das International Jewish Committee for Interreligious Consultations wird als offizieller Partner der Vatikanischen Kommission gewertet. 4. Zusammenarbeit

für katechetische

und kerygmatische

Erneuerungen

In Seelisberg (Schweiz) wurden 1947 von 60 jüdischen, protestantischen und katholischen Teilnehmern einer Konferenz zehn Thesen für die christliche Unterweisung über das Judentum erarbeitet. In der Folge wurden die Religionsbücher verschiedener Länder auf ihre Ubereinstimmung mit ihnen untersucht und Vorschläge für eine von Zerrbildern freie Darstellung des Judentums in der Katechese gemacht. Besonders seit 1958 (Theologengespräch in Basel) wurden an verschiedenen Orten Tagungen, Konferenzen und Symposia über das Judentumsbild in der christlichen Predigt und Katechese veranstaltet, wobei Wert auf Verbindungen mit den örtlichen Kirchenleitungen gelegt werden mußte. Katholischerseits erfuhren diese Bemühungen durch die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils (—>Vatikanum II) über die christliche Haltung dem Judentum gegenüber (Nostra aetate IV; Österreicher) und durch die Vatikanischen Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung ,Nostra aetate IV' vom 3. 1. 1975 (Text und Kommentar: FrRu 26 [1974] 3—7) eine Bestätigung und Ermunterung. In verschiedenen Diözesansynoden und Bischofserklärungen wurden diese Impulse weitergeführt. Weltweites Aufsehen erregte eine Erklärung der französischen bischöflichen Kommission für die Beziehungen zum Judentum vom 16. April 1973. Darin wurde u. a. eine vorsichtige christliche Stellungnahme zu Zionismus, Staat —>Israel und Frieden im Nahen Osten entworfen (Text und Kommentare: FrRu 25 [1973] 1 4 - 3 8 ) . In Deutschland werden die Themen Antisemitismus, christlich-

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Christlich-jüdische Z u s a m m e n a r b e i t

jüdische Solidarität und S t a a t Israel i m m e r wieder an den evangelischen und k a t h o l i s c h e n Kirchentagen behandelt. I m Z e n t r a l k o m i t e e der deutschen K a t h o l i k e n g i b t es seit 1 9 7 0 einen G e s p r ä c h s k r e i s Juden

und

Christen-,

im R a t der Evangelischen K i r c h e in Deutsch-

land seit 1 9 6 7 eine entsprechende S t u d i e n k o m m i s s i o n . An der G e s a m t h o c h s c h u l e D u i s b u r g werden seit 1 9 7 2 „Interdisziplinäre f a c h w i s s e n s c h a f t l i c h e und f a c h d i d a k t i s c h e F o r s c h u n gen zur G e s c h i c h t e und Religion des J u d e n t u m s " b e t r i e b e n . V o n b e s o n d e r e r B e d e u t u n g für geschichtliche und theologische Fundierungen der christlich-jüdischen

Zusammenarbeit

sind im europäischen Bereich die Lehrstühle für J u d a i s t i k und die wissenschaftlichen Institute, die an T h e o l o g i s c h e n ( z . B . Berlin, L ö w e n , L u z e r n , M ü n s t e r , Paris, T ü b i n g e n ) und Philosophischen ( z . B . Berlin, F r a n k f u r t , K ö l n , M ü n c h e n , W i e n ) F a k u l t ä t e n errichtet sind.

5. Politische

und praktische

Zusammenarbeit

N a c h dem Z w e i t e n W e l t k r i e g m u ß t e z u n ä c h s t für j ü d i s c h e U b e r l e b e n d e der K o n z e n t r a tionslager gesorgt werden. T e i l w e i s e a b 1 9 5 2 , in g r ö ß e r e m U m f a n g ab 1 9 6 0 , wurden seitens der Bundesrepublik D e u t s c h l a n d W i e d e r g u t m a c h u n g s z a h l u n g e n an die G e s c h ä d i g t e n und den Staat Israel geleistet (Shinnar). M i t der G r ü n d u n g des S t a a t e s Israel e r g a b e n sich neue Betätigungsfelder für die Z u s a m m e n a r b e i t . S c h o n 1 9 5 1 h a t t e die Aktion

Friede

mit Israel

zu

einem entscheidenden Schritt in der A n n ä h e r u n g z w i s c h e n D e u t s c h l a n d und Israel verholfen. D i e Aktion

Sühnezeichen

läßt j u n g e M e n s c h e n durch ihren Einsatz in Israel Z u s a m -

menarbeit im Geiste der V e r s ö h n u n g erleben. W e i t e r e F o r m e n der Z u s a m m e n a r b e i t und Unterstützung sind das schweizerische K i n d e r d o r f K i r y a t Y e a r i m in Israel (für debile Kinder) sowie die Initiative holländischer C h r i s t e n , in Israel das interreligiöse und internationale D o r f N e s Amin zu gründen. N o c h in den A n f ä n g e n s t e c k t das ebenfalls h a u p t s ä c h l i c h von europäischen Christen getragene D o r f N e v e S c h a l o m (bei L a t r u n ) , dessen S t r u k t u r und Z u s a m m e n s e t z u n g dem religiösen Frieden zwischen Christen und J u d e n dienen soll.

6. Wertung V o n A u s n a h m e n abgesehen h a b e n die vielen christlich-jüdischen O r g a n i s a t i o n e n und Einzelinitiativen bis heute nicht sehr viel E i n f l u ß in die zünftige christliche T h e o l o g i e und in innerjüdische E n t w i c k l u n g e n hinein g e w i n n e n k ö n n e n . Ihr A u ß e n s e i t e r t u m ist teilweise durch den christlichen und jüdischen T r a d i t i o n a l i s m u s bedingt, teilweise h ä n g t er auch mit psychologischen F a k t o r e n ( V e r d r ä n g u n g der belastenden christlich-jüdischen Vergangenheit) z u s a m m e n . D i e christlich-jüdischen K o m i t e e s und O r g a n i s a t i o n e n sind insofern m i t v e r a n t w o r t l i c h , als sie sich gelegentlich zu sehr mit E r k l ä r u n g e n , K u n d g e b u n g e n und selektiver Kritik a m C h r i s t e n t u m befassen und sich zu wenig um ganzheitliche historische und theologische Fundierungen der christlich-jüdischen Z u s a m m e n a r b e i t b e m ü h e n . Auch kirchliche und jüdische S t r u k t u r e n wirken sich o f t negativ aus. D a s G e n e r a l s e k r e t a r i a t des ö k u m e n i s c h e n R a t s der K i r c h e n wird in seinen christlich-jüdischen Initiativen dadurch behindert, d a ß die M i t g l i e d s k i r c h e n nicht an seine W e i s u n g e n g e b u n d e n sind. A u f k a t h o l i scher Seite liegt eine S c h w ä c h e im Lavieren zentraler v a t i k a n i s c h e r B e h ö r d e n zwischen der D i p l o m a t i e und dem B e k e n n t n i s t h e o l o g i s c h e r G e m e i n s a m k e i t e n . D i e jüdischen P a r t n e r sind den Christen gegenüber vor allem dadurch im N a c h t e i l , d a ß sie (aufgrund des nicht hierarchischen J u d e n t u m s und der nur losen o r g a n i s a t o r i s c h e n V e r b i n d u n g e n zwischen den verschiedenen jüdischen G r u p p i e r u n g e n ) keinen g e n ü g e n d e n R ü c k h a l t seitens des J u d e n tums vorweisen k ö n n e n . D i e o r g a n i s a t o r i s c h e n und t h e o l o g i s c h e n U n e b e n h e i t e n und M ä n gel dürfen a b e r nicht als V o r w a n d g e n o m m e n w e r d e n , u m die christlich-jüdische Z u s a m menarbeit einzuschränken o d e r a u f z u g e b e n (—»Judentum und C h r i s t e n t u m ) . Literatur Einschlägig ist hier v o r allem die u n t e r —»Antisemitismus I. VII u n d VIII a n g e g e b e n e L i t e r a t u r . — Berichte über G r ü n d u n g und T ä t i g k e i t e n christlich-jüdischer G e m e i n s c h a f t e n und A u s s c h ü s s e finden sich verstreut in christlich-jüdischen Zeitschriften, bes. in: C h r i s t i a n A t t i t u d e s on J e w s a n d J u d a i s m , L o n d o n . - Christian N e w s f r o m Israel, J e r u s a l e m . - Christi.-jüd. F o r u m , Basel. - F r R u . - H ö r . - I m m a n u e l , J e r u s a l e m . - J u d d . - R e n c o n t r e , Paris. - Service d ' I n f o r m a t i o n , h g . v. V a t i k a n i s c h e n S e k r e t a r i a t für

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Christoph von Württemberg

die Einheit der Christen, Vatikanstaat. - Service intern, de documentation judéo-chrétienne, Rom. Ferner: Christen u. Juden. Eine Studie des Rates der EKiD, Gütersloh 1 9 7 5 . - H e l g a Croner, Orthodoxe Christen u. Juden trafen sich: Vaterland, Luzern, 25. 3. 1977.-Paul Démann, La Catéchèse Chrétienne et le peuple de la Bible, Paris 1952. - Willehad Paul Eckert, Katholizismus zw. 1580 u. 1848: KuS II, 1970, 2 2 2 - 2 7 9 . - Juden, Christen, Deutsche. Hg. v. Hans Jürgen Schultz, Stuttgart 1961. - Les Juifs dans la Catéchèse. Etude des manuels de catéchèse de langue française. Centre de recherches socio-religieuses, Louvain 1969. - Memorandum über die Darstellung des Judentums in der christl. Katechese: Christi.-pädagogische Bl. 81 (1968) 3 5 - 4 5 . - Johannes Österreicher, Kommentierende Einl. zur Erkl. über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristl. Religionen: LThK.E 2 (1967) 4 0 6 - 4 7 8 . - James E. Pitt, Adventures in Brotherhood, New York 1955. - Hans-Joachim Schoeps, Barocke Juden, Christen, Judenchristen, Bern 1965. - Felix F. Shinnar, Bericht eines Beauftragten. Die dt.-israelischen Beziehungen 1 9 5 1 - 1 9 6 6 , Tübingen 1967. - Der Ungekündigte Bund. Neue Begegnung v. Juden und christl. Gemeinde. Hg. v. Dietrich Goldschmidt/Hans-Joachim Kraus, Stuttgart 1962. - Versuche des Verstehens. Dokumente jüd.-christl. Begegnung aus den Jahren 1 9 1 8 - 1 9 3 3 . Hg. v. Robert Raphael Geis/Hans-Joachim Kraus, 1966. - Ubersicht zur Lehre der Wiss. vom Judentum an den dt. Univ. u. Hochschulen. Hg. v. Dt. Koordinierungsrat der Gesellschaften für christl.-jüd. Zusammenarbeit, Frankfurt (ab 1970). — Von Vorurteilen zum Verständnis. Dokumente zum jüd.-christl. Dialog. Hg. v. Franz v. Hammerstein, Frankfurt 1976. - Hedwig Wahle, Die christl.-jüd. Zusammenarbeit in Europa: LebZeug 32 (1977) 3 0 - 4 3 . - World Jewish Congress, Forty Years in Action ( 1 9 3 6 - 1 9 7 6 ) , Genf 1976. Hedwig Wahle Christologie —»Jesus Christus Christoph von W ü r t t e m b e r g

(1515-1568)

N a c h der Vertreibung seines Vaters, Herzog Ulrichs von W ü r t t e m b e r g , aus seinem Lande ( 1 5 1 9 ) wuchs Christoph in Österreich auf und lebte zeitweilig am H o f e —»Karls V . Ulrich n a h m nach seiner Wiedereinsetzung 1 5 3 4 seinen Sohn nicht zu sich, sondern sandte ihn an den H o f —»Franz' I. von Frankreich, da er ihn - sicher zu Unrecht - für einen von der bayerischen V e r w a n d t s c h a f t geförderten Prätendenten hielt. Die Einstellung Ulrichs zu seinem Sohn versuchte vor allem L a n d g r a f —»Philipp von Hessen zu verbessern, u. a. mit dem Hinweis darauf, d a ß der bislang noch katholische Christoph nach seinem Regierungsantritt die 1 5 3 4 begonnene R e f o r m a t i o n —»Württembergs in Frage stellen könnte. Ein 1 5 4 2 geschlossener Vertrag sicherte Christoph die alleinige Erbfolge, während er selber die Erhaltung der evangelischen Konfession im Lande garantierte. Christoph wurde nun württembergischer Statthalter der burgundischen Grafschaft M ö m p e l g a r d ( M o n t b é l i a r d ) , w o er sich mit theologischen Fragen auseinandergesetzt und sich endgültig dem Luthertum zugewandt hat. Bei seinem T o d e 1 5 5 0 hinterließ Herzog Ulrich seinem Sohn ein schweres Erbe: dieNiederlage im —»Schmalkaldischen Krieg hatte dem Lande schwere Belastungen auferlegt. D e m Kaiser war eine Kriegsentschädigung zu zahlen gewesen, in den strategisch wichtigsten Plätzen des Landes lag spanische Besatzung, und der Felonieprozeß, den König Ferdinand gegen Herzog Ulrich a u f G r u n d der im Kadener V e r t r a g 1 5 3 4 festgelegten Afterlehenschaft Württembergs vom H a u s e Österreich angestrengt hatte, stand noch vor einem ungewissen Ausgang. Der Kaiser hatte die Einführung des —»Interims durchgesetzt, w o r a u f die meisten Pfarrer im Land ihr A m t niedergelegt h a t t e n , so d a ß die kirchliche Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet war. Ferner hatten die Klöster wieder den Orden e i n g e r ä u m t w e r den müssen. Herzog Christoph schlug alle Anträge aus, durch R ü c k k e h r zum Katholizismus diese Schwierigkeiten aus der W e l t zu schaffen. Seine dezidiert evangelische Haltung m u ß auch auf die Z u s a m m e n a r b e i t mit J o h a n n e s —»Brenz zurückgeführt werden, der seit 1 5 5 3 Pioptst an der Stuttgarter Stiftskirche war. Im L a n d e selber waren weltliche und kirchliche Angelegenheiten gleichermaßen zu ordnen. Die Abschaffung des Interims und das V e r b o t des M e ß gottesdienstes im J u n i 1 5 5 2 waren nach der V o r l a g e des Württembergischen Bekenntrisses auf dem —»Tridentinum möglich. 1 5 5 3 wurde eine Kirchenordnung erlassen. Die gleichzeitige Visitationsordnung legte die Organisation der Kirche im L a n d e fest. Anknüpfend an d e n

Christoph von Württemberg

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mit Einführung des Interims ernannten R a t zur Verrichtung der Kirchendienste wurde nun als oberste Kirchenbehörde der Kirchenrat eingerichtet, der aus weltlichen und geistlichen Mitgliedern bestand. Bereits 1551 waren in Weiterentwicklung der Synodalordnung von 1547 die Ämter der General- und Spezialsuperintendenten eingerichtet w o r d e n . Ein viertel-, später halbjährlicher Synodus, eine Z u s a m m e n k u n f t des Kirchenrats mit den vier Generalsuperintendenten, war für die Beratung der anstehenden Fragen und der Visitationsergebnisse der Speziale bestimmt. Neben der geistlichen Aufsicht oblag dem Kirchenrat auch die Verwaltung des kirchlichen Vermögens und der Einkünfte. Neben dem System der weltlichen Finanzverwaltung gab es geistliche Verwaltungen, die die P f r ü n d e i n k ü n f t e einzogen und die Besoldungen der kirchlichen Bediensteten verabreichten. Die Überschüsse wurden in eine Zentralkasse (Gemeiner Kirchenkasten) abgeführt, aus der spezifisch kirchliche Ausgaben, besonders auch auf dem Gebiet des Schul- und Armen wesens, finanziert wurden. Die Bestimmung, daß der Kirchenkasten auch in besonderen Notfällen des Landes einspringen sollte, führte schon unter Herzog Christoph zu Ausgaben, die der eigentlichen Zweckbestimmung des Kirchenguts zuwiderliefen. Die Klosterreformation wurde überaus vorsichtig angegangen. Erst 1556 wurde eine Klosterordnung erlassen, in der die staatsrechtliche und wirtschaftliche Stellung der Prälaten, der Äbte der 13 württembergischen Mannsklöster, weitgehend unangetastet und auch die Klöster als Vermögenskomplexe und Verwaltungseinheiten bestehen blieben. Die katholischen Äbte wurden erst nach ihrem Ableben durch evangelische ersetzt. Die Zweckbestimmung der Klöster war n u n m e h r die Sorge für den geistlichen N a c h w u c h s . Die Absolventen der Klosterschulen kamen ins Stift nach —»Tübingen, um von dort aus an der Universität zu studieren. Dieser kostenlose Bildungsgang, den gleichzeitig 2 0 0 Schüler an den Klosterschulen und 150 Studenten im Stift genossen, ermöglichte in der Folgezeit die Versorgung des Landes und darüber hinaus auch der umliegenden kleineren Territorien mit Geistlichen. Die Anfänge dieser Bildungspolitik fielen zwar noch in die Zeit Herzog Ulrichs, es blieb aber seinem Sohn vorbehalten, sie zu einem Bildungssystem zu entwickeln. In den Dörfern wurden Volksschulen (deutsche Schulen) errichtet, in den zahlreichen Amtsstädten Lateinschulen (Partikularschulen), die über die Pädagogien in Stuttgart und Tübingen zur Universitätsreife führten. Z u s a m m e n g e f a ß t sind Kirchen- und Schulordnungen in der Großen Kirchenordnung von 1559, die dazu noch eine Anzahl weiterer O r d n u n g e n enthält. Die gesetzgeberische Tätigkeit Christophs brachte weitere maßgebende Kodifikationen wie die Landesordnung (1567) und das Landrecht (1555, 1567) hervor. Daneben steht eine große Anzahl von Einzelordnungen, wie die Universitätsordnung von 1557. In Analogie zu der aus der —»Visitation erwachsenen straffen Kirchenverwaltung richtete Christoph auch eine politische Visitation ein, durch die alle lokalen Verwaltungsstellen und ihre Beamten, ebenso die Gemeindeverwaltungen ü b e r p r ü f t wurden. Ziel dieser intensiven Überwachung war die Abstellung aller Laster zur Vermeidung der Strafen Gottes. Gleichzeitig mit dem Kirchenrat waren auch die beiden anderen Zentralbehörden des Landes geschaffen worden, der O b e r r a t f ü r die Innenverwaltung und die R e n t k a m m e r für die Finanzverwaltung. Waren diese Behörden für die Erledigung der laufenden Verwaltungsgeschäfte gedacht, so gingen die wichtigen Entscheidungen und die politischen Initiativen von der herzoglichen Kammer, d. h. von Christoph selbst aus. Neben der Kirchenverfassung ist die ständische Verfassung, wie sie sich in der Regierungszeit Herzog Christophs herausgebildet hat, ein weiteres Charakteristikum Altwürttembergs. Die Landstände hatten zwar Herzog Ulrich 1514 den Tübinger Vertrag mit seinen weitgehenden Konzessionen abgerungen, waren aber von ihm in der Folgezeit nur selten zu Rate gezogen worden. Die Situation Christophs erlaubte es ihm nicht, ohne oder gegen die Stände zu regieren, da sie allein das Recht der Steuerbewilligung besaßen u n d die herzoglichen Einkünfte bei weitem nicht ausreichten, den laufenden Bedarf zu decken. Die Stände wurden gebildet von der Landschaft, den Vertretern der Städte und Ämter u n d den Prälaten. Die Prälaturen waren deshalb zu einem Drittel am Steueraufkommen des Landes beteiligt. In den beiden Landtagsausschüssen waren Landschaft und Prälaten vertreten, wobei der

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Christoph von Württemberg

kleine Ausschuß als wichtigstes Organ der Landstände das eigentliche Gegengewicht zur herzoglichen Regierung und Verwaltung bildete. Von den unter Christoph abgehaltenen Landtagen ist der große Landtag von 1565 für die Kirchengeschichte Württembergs von besonderer Bedeutung. Gegen die Übernahme der herzoglichen Schulden verlangten die Stände eine unbeschränkte Garantie der unter Christoph ausgebildeten Kirchen- und Ständeverfassung. Darüber hinaus mußte der Herzog noch für sich und seine Nachfolger auf jede künftige Religionsänderung und damit auf das ius reformandi verzichten. Der Landtagsabschied von 1565 wurde somit zur zweiten Säule der altwürttembergischen Verfassung neben dem Tübinger Vertrag. Die Lage Württembergs bei Christophs Regierungsantritt erforderte eine enge Anlehnung an den Kaiser, dem die letztliche Entscheidung des Felonieprozesses zustand. Es wurde somit auch notwendig, daß das Trienter Konzil - wie in den vorhergegangenen Reichsabschieden vorgesehen - von Württemberg besucht wurde, um dort die Religionsbeschwerden vorzutragen. Die württembergischen Gesandtschaften kamen in Trient zwar nicht zu Gehör, dennoch bleibt die von Brenz verfaßte, von den namhaftesten württembergischen und sächsischen Theologen anerkannte Confessio Virtembergica ein wichtiges Dokument für die Absicht Christophs und seines Theologen Brenz, mit der anderen Seite die Verbindung zu suchen. Der Verständigungsversuch in Trient blieb auch deswegen ergebnislos, weil sich das Konzil nach der Erhebung —»Moritz' von Sachsen auflöste. In dieser Fürstenrevolution gegen Karl V. bewahrte Christoph strikte Neutralität; seine Warnungen, die er dem Kaiser hatte zukommen lassen, waren jedoch unbeachtet geblieben. Von der veränderten allgemeinen Lage und dem Passauer Vertrag (—»Augsburger Religionsfriede) zog freilich auch das neutrale Württemberg seinen Nutzen: das Interim, das schon vorher durch passiven Widerstand unterlaufen worden war, konnte vollends abgeschafft werden. Die sich schnell verbessernde Stellung Christophs im Reich zeigte sich bei seinen Bemühungen um einen Zusammenschluß der neutralen Kräfte, die sich 1553 im Heidelberger Bund sammelten. Die spanische Besatzung verließ das Land. Der Felonieprozeß wurde 1553 gegen eine größere Zahlung an König —»Ferdinand niedergeschlagen, wenngleich auch die Afterlehenschaft aufrechterhalten blieb. Im ersten Angang war es Christoph gelungen, sein Land von den drükkendsten Beschwerungen zu befreien und sich selber eine angesehene Stellung im Reich zu verschaffen. Den Augsburger Reichstag 1555 — wie andere Reichs- und Fürstentage — besuchte er persönlich, wo er eine führende Rolle unter den evangelischen Ständen einnahm. Der Grundzug aller Bemühungen Herzog Christophs und seiner Theologen war, durch Teilnahme an Reichstagen und Religionsgesprächen die Einheit der Kirche-selbstverständlich in evangelischem Sinne — herbeizuführen. Diesem Ziel diente auch die bereitwillig geleistete Hilfestellung bei der Reformierung anderer Territorien wie der Pfalz, Baden-Pforzheim, Jülich-Cleve, Braunschweig-Wolfenbüttel u.a.m. Das Bedürfnis, zwischen den Gegensätzen zu vermitteln, zeigt sich auch in den Bemühungen um die Beilegung des Osiandrischen Streits in Preußen (—»Albrecht von Preußen, —»Osiander) und in dem Versuch, den Übertritt der Kurpfalz zum Calvinismus rückgängig zu machen. Das hierfür veranstaltete Maulbronner Gespräch (1564) zwischen württembergischen und pfälzischen Theologen brachte freilich nur erneute Streitigkeiten. Die Anfänge der Bemühungen um die —»Konkordienformel hat Christoph nachhaltig gefördert. Die angesehene Stellung Christophs im Reich mußte selbstverständlich auch darüber hinaus wirken. Er verfolgte die Fortschritte der Reformation in —»Frankreich mit besonderem Interesse, wobei beide Parteien versuchten, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Das Religionsgespräch von Poissy (1561) wurde von württembergischen Theologen besucht (—»Reformationsgespräche), eine Konferenz mit den Guisen in Zabern im Elsaß (1562) ließ eine Verständigung erhoffen, die aber durch das Blutbad von Vassy im selben Jahr wieder zunichte gemacht wurde. Über die Grenzen des Reichs hinaus wirkte Christoph für das Evangelium auch durch Pietro Paolo —»Vergerio, der seit 1553 der kirchenpolitische Gesandte Württembergs in -^Preußen, —»Polen und Graubünden war. Der von Christoph ermöglichte sla-

Chrodegang von Metz

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wische Bibeldruck in Urach für die Mission in den habsburgischen Landen stellt für seine Zeit ein einzigartiges Unternehmen dar (—»Bibelübersetzungen). Der aktiven Förderung der Reformation in anderen Ländern entspricht seine Freigebigkeit gebenüber den Glaubensflüchtlingen. Bestimmend für Christophs Persönlichkeit ist sein Glaube an das Evangelium in seiner reformatorischen Auslegung. Dieses Bekenntnis wurde jeglicher Staatsraison vorgeordnet und zeigt sich auch darin, daß Christoph versuchte, Fürsten in- und außerhalb des Reichs mit Büchersendungen für die Reformation zu gewinnen. In Christophs Glaube ist es wohl auch begründet, daß er die Lösung politischer Konflikte durch Waffengewalt ablehnte, obwohl die Landesverteidigung während seiner Zeit in bestem Stande war. Christoph war davon überzeugt, daß ein Fürst persönlich regieren müsse und hat deshalb alle wichtigen Fragen — nach Vorbereitung durch die Beamten und Theologen — selbst entschieden. Es darf deshalb von der christophinischen Ordnung gesprochen werden, die allenthalben zum Vorbild genommen wurde und dem Land — wie sonst zu kaum einer Periode seiner Geschichte eine große Ausstrahlungskraft gab und Württemberg selber bis zum Ende des Alten Reichs seine Gestalt gegeben hat. Quellen Briefwechsel des Herzogs Christoph von Wirtemberg, hg. v. Viktor Ernst, 4 Bde., Stuttgart 1 8 9 9 - 1 9 0 7 . - Confessio Virtembergica. Das württembergische Bekenntnis v. 1551, hg. v. E. Bizer, Stuttgart 1 9 5 2 . Literatur BBKL 1, l O l l f . - B D G Nr. 3 3 9 0 6 - 3 3 9 3 6 . 6 1 9 8 3 - 6 1 9 8 5 . 6 1 9 8 8 - 6 1 9 9 0 . 6 2 0 1 8 . - Bibliogr. der Württembergischen Gesch. Begr. v. Wilhelm Heyd, 9 Bde., Stuttgart 1 8 9 5 - 1 9 7 4 . Martin Brecht, Abgrenzung oder Verständigung. Was wollten die Protestanten in Trient?: BWKG 7 0 ( 1 9 7 0 ) 1 4 8 - 1 7 5 . - Hermann Ehmer, Bildungsideale des 16. Jh. u. die Bildungspolitik v. Herzog Christoph in Württemberg: BWKG 7 7 ( 1 9 7 7 ) 5 - 2 4 . - Walter Grube, Der Stuttgarter Landtag 1 4 5 7 - 1 9 5 7 , Stuttgart 1 9 5 7 . - Bernhard Kugler, Christoph, Herzog zu Wirtemberg. Stuttgart 1 8 6 8 - 1 8 7 2 . - Hans-Martin Maurer, Herzog Christoph als Landesherr: BWKG 6 8 / 6 9 ( 1 9 6 8 / 1 9 6 9 ) 1 1 2 — 1 3 8 . - Klaus Schreiner, Württembergisches Buch- u. Bibliothekswesen unter Herzog Christoph: Z W L G 31 ( 1 9 7 2 ) 1 2 1 - 1 9 3 .

Hermann Ehmer Christus —»Jesus Christus, —»Messias/Messianische Bewegungen Christusdarstellungen —»Bilder, —»Jesus Christus Christusfrömmigkeit —»Jesus Christus Christusmystik —»Jesus Christus, —»Mystik Christusprädikate —»Jesus Christus Chrodegang von Metz (um

712/715-766)

Chrodegang v. Metz wird um 7 1 2 / 7 1 5 im Hasbengau geboren sein, als Sproß der verzweigten Adelssippe der Rupertiner zur vornehmsten Schicht der fränkischen Aristokratie zählend. Im Gegensatz zu seinen mittelrheinischen Verwandten taten sich die nächsten Sippengenossen als Karl Martells Parteigänger hervor. Sie hielten dessen politische Gegner in Saint-Trond in Gewahrsam, das, der Metzer Kirche gehörend, Chrodegang wohl einige Jahre lang die nötige Ausbildung vermittelte. Damit war die Verbindung geknüpft zu Karl Martell, dessen zweiter Gemahlin und beider Sohn Grifo. Des Hausmeiers von beiden bezeugte letzte Schenkungsurkunde vom 17. 9. 741 unterfertigte Chrodegang als referendarius. Vielleicht war er damals schon Kleriker, verfügte doch Karl Martell nicht mehr über die von laikalen referendarii besetzte „Kanzlei" der Merowingerkönige. Auch ohne daß es die Quellen andeuten, dürfte die Zeit zwischen dem Oktober 741 und

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Chrodegang von Metz

dem September 7 4 2 entscheidend für Chrodegangs Lebensweg gewesen sein: Karl Martells Söhne aus erster Ehe stießen die vom Vater entworfene Ordnung der Herrschaftsnachfolge um und teilten unter Ausschluß Grifos Karl Martells Machtbereich unter sich. In Metz war seit dem 26. 10. 741 (?) die bischöfliche cathedra vakant. Karl Martells zweiter Sohn —»Pippin, dem Metz bei der Herrschaftsteilung zugefallen war, vertraute sie Chrodegang an, der demnach rechtzeitig den „Dienstherrn" gewechselt hatte. Die Bischofsweihe empfing er am 30. 9. 742; die erste urkundliche Bezeugung datiert erst von 748. Solange noch —»Bonifatius die fränkische Kirchenreform leitete, fand sich Chrodegang offenbar nicht beim Erzbischof und päpstlichen Legaten ein. Bonifatius' Resignation vor den Widerständen gegen die Reform, seine Beschränkung auf die Grenzgebiete gegen Sachsen, seine friesische Missions- und Visitationsreise, die das Martyrium am 5. 6. 7 5 4 krönte, ließen Pippin III. an Chrodegang denken als flexibleren Führer der Kirchenreform, zugleich als Repräsentanten des fränkischen Adels. Chrodegang und seine Gleichgesinnten ebneten denn auch Pippins Aufstieg zum Königtum. Sie und nicht der in späteren Quellen genannte Bonifatius dürften 7 5 1 / 7 5 2 an ihrem „senior" die Königssalbung und die erste Krönung eines fränkischen Königs vollzogen haben. 7 5 3 / 7 5 4 entsandte Pippin III. Chrodegang nach Rom, um mit dem Papste die umstrittene Italienpolitik zu koordinieren und den römischen Bischof ins Frankenreich zu geleiten. Noch 754 erhob der Papst Chrodegang zum Erzbischof, erteilte ihm jurisdiktioneile Vollmachten im Frankenreich und verlieh ihm das Pallium. Mit Metropolitenfunktionen ausgestattet, weihte Chrodegang in verschiedenen Diözesen Bischöfe, Priester und Diakone. Er nahm die Appellationen fränkischer Bischöfe an. 755 setzte die Serie der Reformsynoden wieder ein, deren Vorsitz Chrodegang innehatte und deren Beschlüsse von 7 5 5 , 756, 757 und 7 6 2 das Werk des Bonifatius weiterführten. Wie erhaltene Teilnehmerlisten zeigen, vermochte Chrodegang allmählich das ganze von Pippin III. beherrschte Frankenreich der Kirchenreform zu erschließen, besonders das Gebiet zwischen Seine und Loire und Alemannien; nur autonome, für die Karolinger noch unantastbare Gewalten standen abseits. Dank Chrodegangs Initiative verfügte die kirchliche Erneuerung im Frankenreich über die notwendigen, im Gottesdienst verwandten Gebete und musikalisch vorgetragenen liturgischen Texte, traf die Auswahl der Lesungen, kannte die Aussagen und Formeln des sakramentalen Vollzugs, dessen Riten gleichfalls als authentisch angesehen wurden. Den Inhalt jener Bücher entnahm man römischen Vorlagen, die Ergänzungen lieferten die fränkischen Kirchen, und die Handschriften des Sacramentarium Gelasianum saec. VIII, des Antiphonars, der Perikopenliste, römischer Ordines schufen fränkische Skriptorien. Chrodegang, den Quellen zufolge ein mitreißender Prediger, intim mit der Hl. Schrift, den Vätern und dem kirchlichen Recht vertraut, applizierte die vom Königtum getragene Erneuerung der fränkischen Kirche beispielhaft in seiner eigenen Diözese. Strikt zwischen dem ordo der Mönche und dem der Kanoniker scheidend, gründete er um 750 das Kloster —»Gorze, dessen auf der „römischen" —»Benediktusregel beruhende Ordnung er durch Gewohnheiten der römischen Basilika-Klöster ergänzte. Bewußt lenkte er dabei vom sich von der jurisdiktionellen und temporalen Gewalt des Bischofs emanzipierenden monasterium zum bischöflichen Kloster zurück — unter Wahrung der überkommenen Rechtsformen der Privilegierung. Chrodegangs fortdauernden Ruhm begründete die 755/757 erlassene Ordnung, die die bischöflichen Kleriker in Metz zu einer um den Bischof zentrierten Gemeinschaft zusammenfügte und den Klerus der vorstädtischen Basiliken ihr zuordnete. Die Grundlinien der vita communis dieser Gemeinschaft zeichnete die Benediktusregel, eingebettet in die Autorität der Väter, der geltenden römischen Ordines, des kirchlichen Rechtes. Sollten die Mönche von Gorze sich zur monastischen Armut des Individuums verpflichten, so gaben die Chrodegangs institutiuncula unterworfenen Kleriker ihre Rechte am Eigen auf, durften aber persönlich darüber verfügen und es lebenszeitlich nutzen. Das einer Regel unterworfene Gemeinschaftsleben der bischöflichen Kleriker verlangte gewisse bauliche Veränderungen, denen Chrodegang die Metzer Kathedrale und benach-

Chrodegang von Metz

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barte, für die Entfaltung der römisch geprägten Liturgiefeier benötigte Kirchen unterzog, bauliche Veränderungen und künstlerische Gestaltungen, die teils in Schriftquellen belegt, teils archäologisch nachzuweisen, vereinzelt sogar auf uns gekommen sind. Aufbauend auf einem älteren Metzer Reglement redigierte wohl Chrodegang selbst eine uns für die Fasten- und Osterzeit überlieferte Liste der Stationskirchen. Gerade im „bischöflichen Wandergottesdienst" rückte er die essentielle Aufgabe des Klerus, das opus Dei in Unterstützung des Bischofs, aufs neue in den Mittelpunkt. Entgegen der des öfteren geäußerten Meinung der Forschung ließ sich die auf Metzer Verhältnisse zugeschnittene Ordnung der vita communis et liturgica des bischöflichen Klerus nicht auf andere fränkische Bistümer übertragen. Die Lebensordnung des Gorzer Konvents aber verpflanzte der Bischof. 761 entsandte er „seine Mönche" nach Gengenbach und löste dort die von —»Pirmin zuvor begründete Formung ab, 764 übertrugen seine eigenen Verwandten Chrodegang ihre Stiftung Lorsch. Gerade das Kloster an der Bergstraße band er enger an schon bestehende klösterliche Niederlassungen im Metzer Sprengel, denen er gleicherweise Reliquien aus Rom vermittelte. Chrodegang kommt eine Schlüsselstellung innerhalb der karolingischen Kirchenreform zu. Als Franke, ja als Vertrauter des Hausmeiers und Königs Pippin III., übernahm er die Führungsrolle in der fränkischen Erneuerungsbewegung, die bis dahin bei den Angelsachsen lag. In der Rezeption römischer Normen des liturgischen Vollzugs, der kirchlichen Organisation, in ihrer Anwendung auf Metzer Verhältnisse, wobei lokale Uberlieferungen der Kirche von Metz und solche des gallischen Kirchenwesens - gleichsam wiederentdeckt - integriert wurden, ordnete Chrodegang sein Bistum vorbildlich nach den Richtlinien, die die bonifatianische und die königliche Gesetzgebung für die kirchliche Reform erarbeitet hatten. Einziger Bischof mit metropolitanen Befugnissen zwischen 754 und 766, darf er als einer der Baumeister der karolingischen Reichskirche betrachtet werden, deren wesentliche Strukturelemente (enge Bindung an den Herrscher, Ausrichtung des gottesdienstlichen Vollzugs auf Rom hin, Ausformung der vita communis unter Berufung auf „Rom" bei ausgewogenem Ausgleich zwischen gemeinschaftlichem Ethos, Ziel der Heiligung des Einzelnen und innerkirchlicher Funktion in als soziale Aufgabe begriffenem Gebetsdienst, Seelsorge und Gotteslob) wenigstens in der liturgischen Ordnung, der Trennung der vita monastica von der Lebensform des Kanonikers in Chrodegangs Pontifikat, der am 6. 4. 766 endete, in der Metzer Diözese schon erkennbar ausgeprägt waren. Die monastische Formung von Metz ergriff zwei Klöster rechts des Rheins dank Chrodegangs Verbindungen zu den dortigen Fundatoren. Als Ausbildungsstätte fränkischer Kleriker im „richtigen", d.h. an Rom angelehnten liturgischen Dienst, wetteiferte Metz mit der karolingischen Hofkapelle im 8. und im 9. Jh. Quellen Werke: Regula canonicorum: W. Schmitz, S. Chrodegangi episcopi Metensis régula canonicorum, H a n n o v e r 1889 (nach Cod. Leiden, Voss. lat. 95, 9. Jh.); J.-B. Pelt, Études sur la cathédrale de Metz. I I I / l . La liturgie, M e t z 1937, 7 - 2 8 (nach Bern, Burgerbibliothek, lat. 2 8 9 , 8. Jh. ex. u. Leiden, Voss, lat. 95). - Rezension des Bischofs Angilram (gest. 791): PL 8 9 , 1 0 5 7 - 1 0 8 2 , u. A. Prost, La cathédrale de Metz, Paris 1885, 2 9 9 - 3 0 7 (aufgrund v. Leiden, Voss. lat. 81, 9. Jh., nach Labbé, Paris, VII 1671, 1444). - Rezension des 9. Jh.: PL 8 9 , 1 0 5 5 ff (nach L. d'Achéry, Spic., Paris, I 1 6 5 5 , 2 0 5 ) . - M e t z e r Stationsliste: T. Klauser/R. S. Bour, N o t e s sur l'ancienne liturgie de M e t z et sur ses églises antérieures à l'an mil: A S H L 3 8 (1929) 4 9 9 f = D A C L 11 (1933) 8 3 3 f . - S o n s t i g e s : P a u l u s D i a c o n u s , G e s t a e p i s c o p o r u m Mettensium: M G H . S S II, 2 6 7 f . - Vita Chrodegangi episcopi Mettensis (10. Jh.): M G H . S S X, 5 5 2 - 5 7 2 . - M G H . C a p , I 1883. - M G H . C o n c , I I / l 1906. Literatur Die ältere Literatur ist erfaßt bei Semmler, C h r o d e g a n g (s. u.). - Letzte lexikographische Aufarbeitung: Michel Parisse, Art. C r o d e g a n g o (santo): Dizionario degli istituti di perfezione 3 (Rom 1976) 3 1 4 - 3 1 9 (Lit.). - Z u Einzelproblemen u n d R a n d f r a g e n nehmen d a r ü b e r hinaus Stellung: M a n f r e d Gockel, Karolingische Königshöfe a m Mittelrhein: Veröff. des Max-Planck-Instituts f ü r Gesch. 3 1 (Göttingen 1970) 2 9 8 - 3 0 1 . - Angelus Albert H ä u ß l i n g , M ö n c h s k o n v e n t u. Eucharistiefeier. Eine Studie über die Messe in der abendländischen Klosterliturgie des f r ü h e n M A u. zur Gesch. der M e ß h ä u f i g -

74

Chronistische Theologie/Chronistisches

Geschichtswerk

keit, 1 9 7 3 ( L W Q F 5 8 ) . - Kassius Hallinger, Zur Rechtsgeschichte der Abtei Gorze bei M e t z (vor 7 5 0 - 1 5 7 2 ) : Z K G 8 3 ( 1 9 7 2 ) 3 2 5 - 3 5 0 . - Carol Heitz, Le chancel de Saint-Pierre-aux-Nonnains à M e t z : B S H A F 1 9 7 5 , 9 5 - 1 1 4 . - J e a n Hubert, Les prémisses de la Renaissance carolingienne au temps de Pépin III: Francia 2 ( 1 9 7 4 ) 4 9 - 5 8 . - Kurt-Ulrich J ä s c h k e , Bonifatius u. die Königssaibung Pippins d. Jüngeren: ADipl 2 3 ( 1 9 7 7 ) 2 5 - 5 4 . - Bernard M o r e t o n , T h e eighth-century Gelasian sacramentary, O x f o r d 1 9 7 6 . - F e r m i n i o Poggiaspalla, La vita c o m m u n e del clero dalle origini alla riformagregoriana: Uomini e dottrine 14 ( R o m 1 9 6 8 ) 7 1 - 9 9 . - R u d o l f Schieffer, Die Entstehung v. Domkapiteln in Deutschland, 1 9 7 6 ( B H F 4 3 ) . - Karl S c h m i d / O t t o Gerhard O e x l e , Voraussetzungen u. Wirkung des Gebetsbundes v. Attigny: Francia 2 ( 1 9 7 4 ) 4 9 - 5 8 . - J o s e f Semmler, Chrodegang, Bischof v. M e t z : Die Reichsabtei Lorsch. FS zum Gedenken an ihre Stiftung 7 6 4 , Darmstadt, 1 1 9 7 3 , 2 2 7 - 2 4 5 . - D e r s . , Pippin III. u. die fränkischen Klöster: Francia 3 ( 1 9 7 5 ) 8 8 - 1 4 6 . - Ders., Zur pipinidisch-karolingischen Sukzessionskrise 7 1 4 - 7 2 3 : D A 3 3 ( 1 9 7 7 ) 1 - 3 6 . - Ders., M ö n c h e u. Kanoniker im Frankenreiche Pippins III. u. Karls d . G r . : StGS 14 ( 1 9 8 0 ) 7 8 - 1 1 1 . - Henri T r i b o u t de M o r e m b e r t , A propos d'une pseudo-concélébration. La cathédrale de M e t z et la liturgie au temps de saint Chrodegang: R S R 5 6 ( 1 9 6 8 ) 9 6 - 1 0 9 . - K a r l Ferdinand Werner, La date de naissance de Charlemagne: B S N A F 1 9 7 2 , 139 f Anm. 1; dt.: Das Geburtsdatum Karls d . G r . : Francia 1 ( 1 9 7 3 ) 1 5 5 f. - Ulla Ziegler, Das Sacramentarium Gelasianum (Bibl. Vat. lat. 3 1 6 ) u. die Schule v. Chelles: Archiv für die Gesch. des Buchwesens 16 (1976) 1 - 1 4 2 . Josef Semmler C h r o n i k b ü c h e r —»Chronistische Theologie/Chronistisches

Geschichtswerk

C h r o n i k e n —»Formgeschichte/Formenkritik, -^»Geschichte, —»Kirchengeschichtsschreibung Chronistische Theologie/Chronistisches

Geschichtswerk

1. Vorbemerkung 2. Die Chronikbücher 3. Das chronistische Geschichtswerk stische Theologie (Anmerkungen/Literatur S. 85) 1.

4. Die chroni-

Vorbemerkung

Eine Darstellung der chronistischen Theologie hängt davon a b , wen man unter dem Chronisten versteht und wie man den Umfang seines Werks bestimmt. Die literarische Verbindung des Chronisten mit den Chronikbüchern ist auf jeden Fall unbestreitbar; darum werden sie zunächst zu behandeln sein. Der Chronist ist aber darüber hinaus oft auch als Verfasser der Bücher —»Esra und —»Nehemia aufgefaßt worden, und zwar entweder so, daß er ein einheitliches, aus I/II Chr, Esr und Neh bestehendes Chronistisches Geschichtswerk geschaffen habe, oder aber so, daß er einerseits I/II Chr und andererseits Esr/Neh als zwei zusammengehörige, zeitlich jedoch etwas auseinanderliegende W e r k e verfaßt haben soll. Die Annahme eines solchen über die Chronikbücher hinausgehenden Chronistischen Geschichtswerks wird daher gesondert erörtert werden müssen. Erst auf dem Hintergrund dieser Erörterungen läßt sich dann die Frage der chronistischen Theologie behandeln. 2 . Die

Chronikbücher

2.1.

und

Inhalt

Aufbau.

D i e C h r o n i k b ü c h e r , die i m h e b r ä i s c h e n K a n o n n u r ein B u c h

bilden, sind — seit H i e r o n y m u s — o f t s i n g u l a r i s c h als die Chronik

bezeichnet w o r d e n (s.u.

A b s c h n . 2 . 5 . ) - i m B l i c k a u f i h r e E i n h e i t g e w i ß m i t R e c h t , d e n n es h a n d e l t sich i m g r o ß e n u n d g a n z e n u m ein z u s a m m e n h ä n g e n d e s u n d r e c h t ü b e r s i c h t l i c h e s W e r k . Sein G e g e n s t a n d ist die G e s c h i c h t e Israels, die a b e r in e i n e r e i g e n w i l l i g e n W e i s e d a r g e s t e l l t w i r d . B e r i c h t e t w i r d n u r die G e s c h i c h t e d e r K ö n i g s z e i t , u n d a u c h sie n u r in b e z u g a u f d a s S ü d r e i c h . Sie w i r d a b e r in d o p p e l t e r W e i s e e r w e i t e r t : A m A n f a n g ist sie in die M e n s c h h e i t s g e s c h i c h t e e i n g e b e t tet, i n d e m d a s I s r a e l d e r K ö n i g s z e i t ü b e r seine S t ä m m e m i t d e m ersten M e n s c h e n g e n e a l o g i s c h v e r b u n d e n w i r d (I C h r 1 — 9 ) . A m E n d e ist sie in d e m Sinn — a b e r a u c h s o n s t ( N o t h , S t u dien 1 7 9 ) - a u f die n a c h e x i l i s c h e Z e i t h i n o f f e n , d a ß sie ü b e r d e n s t a a t l i c h e n Z u s a m m e n b r u c h u n d d a s —»Exil h i n a u s m i t d e m E r l a ß des K y r o s z u r R ü c k k e h r u n d z u r n e u e n E x i s t e n z i m L a n d e b e e n d e t w i r d (II C h r 3 6 , 2 2 f ) . I m Z e n t r u m s t e h t —»Israel als d a s v o n G o t t e r w ä h l t e u n d m i t b e s o n d e r e n V e r h e i ß u n g e n b e g ü n s t i g t e V o l k ( W i l l i a m s o n , Israel 8 7 ff). D i e H a u p t g e s t a l t d e r G e s c h i c h t e des V o l k e s ist —»David; ihr g r ö ß t e r u n d z e n t r a l e r T e i l h a t d a s — » K ö n i g t u m des einen b z w . v e r e i n t e n R e i c h e s z u m G e g e n s t a n d (I C h r 1 0 - 2 9 ; I l C h r 1 - 9 ) . D a s K ö n i g t u m des V o l k e s h a t t e m i t d e m t r a g i s c h e n d e n d e n —»Saul b e g o n n e n (I C h r

Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk

75

1 0 ) , w u r d e aber v o r allem d u r c h die K ö n i g e D a v i d (I C h r 11 — 2 9 ) u n d —»Salomo (II C h r 1 — 9) im G r o ß r e i c h realisiert. D u r c h die D a v i d i d e n in J e r u s a l e m w u r d e es in gewisser R e duktion 10-36).

o h n e die nordisraelitischen K ö n i g e Neben

dem

Thema

des

Königtums

bis z u m Exil n o c h f o r t g e f ü h r t (II C h r nimmt

ferner

das

Thema

der

Leviten

(—>Levi/Leviten) n o c h einen b e a c h t l i c h e n Platz ein. Z u d e m treffen sich d a s t h e o l o g i s c h e Interesse an D a v i d (und S a l o m o ) und das an den L e v i t e n in der zentralen B e d e u t u n g , die nun der L a d e —in einer ladelosen Z e i t — s o w i e v o r allem d e m —>Tempel beigemessen wird. Dieses sehr k o m p l e x e , t h e o l o g i s c h e Interesse h a t sich im A u f b a u des W e r k s deutlich a u s g e w i r k t . 2.1.1. Die genealogische Vorhalle I Chr 1 - 9 , die mehr als nur Genealogien enthält (so etwa Aufzählung der Levitenstädte, 6 , 3 9 - 6 6 ; vgl. J o s 2 1 , 1 - 4 2 , dazu Auld; oder etwa Notizen zu Kriegen und Stämmewanderungen wie in 2 , 2 3 ; 4 , 3 8 — 4 3 ; oder auch erzählende Angaben wie in 2 , 3 . 7 ; 5 , 2 5 f), beginnt universalistisch (von Adam bis Abraham, 1 , 1 - 2 7 ; danach vornehmlich die außer-israelitischen Nachkommen Abrahams, 1 , 2 8 - 4 2 , wozu noch eine Liste edomitischer Könige, 1 , 4 3 - 5 0 , und Häuptlinge, 1,51 — 5 4 , tritt), steuert aber dann rasch auf Israel zu (vgl. die wichtige Folge: Abraham-Isaak-/srael schon in 1 , 2 8 . 3 4 ) . Nach einer kurzen Präsentation Gesamtisraels anhand einer sonst nicht belegten Reihenfolge der 12 Stämme ( 2 , 1 - 2 ; vgl. Gen 3 5 , 2 3 ff; 4 6 , 8 ff; Ex 1,2 ff) folgen - wieder in anderer Reihenfolge (vgl. 5,1 f) - Genealogien und andere Aufzählungen der einzelnen Stämme, wobei allerdings Sebulon und Gad zu fehlen scheinen (s. Noth, Studien 117 ff; anders Williamson, Israel 7 2 ff) und Benjamin doppelt bzw. dreimal angeführt ist (7,6— 11[12]; 8 , 1 - 4 0 , darunter das Geschlecht Sauls, 8 , 3 3 - 4 0 , wobei 8 , 2 9 - 3 8 in 9 , 3 5 - 4 4 noch einmal wiederholt wird, um so auf den Bericht über Saul überzuleiten). M i t dieser bruchstückhaften Benjamin-Genealogie, die auf Saul hinführt, am Ende und mit der dominierenden Genealogie Judas an der Spitze ( 2 , 3 - 4 , 2 3 ) , deren Kernstück die David-Genealogie (3) bildet, sowie mit dem durch spätere Zutaten komplexen Leviten-Abschnitt ( 5 , 2 7 - 6 , 6 6 ) in der Mitte, während die übrigen Stämme dazwischen und zumeist nur kurz erwähnt sind, kommt somit in I Chr 2 - 8 die judäisch-zentralistische Darbietung der älteren Geschichte deutlich zum Ausdruck. Daß das judäische Zentrum wiederum in Jerusalem und im Tempel seinen innersten Kreis hat, wird durch die nach dem Abschluß 9,1a (vgl. 2,1a) folgende Aufzählung der Einwohnerschaft Jerusalems ( 9 , l b - 3 4 ; vgl. Neh 1 1 , 3 - 1 9 ) noch anschaulicher, weil darunter die Aufmerksamkeit namentlich den am Tempel Amtierenden (Priestern, Leviten und Torhütern, 9,10—34) zugewandt ist. 2.1.2. Mit Kap. 10, das über einen vernichtenden Angriff der Philister und über den Fall Sauls berichtet (10,1 — 12; vgl. I Sam 3 1 ) , beginnt der nächste Hauptabschnitt, I Chr 10—29, der wie keiner der übrigen Teile der Chronik auf eine Gestalt, die des Königs David, konzentriert ist (vgl. Botterweck) und der für die chronistische Theologie von grundlegender Bedeutung ist. Das Interesse an David greift schon auf das Saul-Kapitel zurück ( 1 0 , 1 3 f; vgl. I Sam 1 5 , 1 0 ff; 2 8 , 7 ff), das somit kompositorisch einen vorbereitenden Charakter erhält und dem kaum eine wirkliche Eigenständigkeit zugesprochen werden darf (gegen Mosis 17ff), zumal Saul eine klare Kontrastfigur zu David bildet (doch ist er kaum „nur noch die dunkle Folie, von der sich die Lichtgestalt seines Nachfolgers um so strahlender abhebt" [v. Rad, Gesch.bild 79]). Es geht letzten Endes nicht um diesen negativen Kontrast der beiden Könige, sondern positiv um das Volk in seiner Gesamtheit und staatlichen Selbständigkeit (Willi 9 - 1 2 ) . Zur Realisierung seiner Einheit und Selbständigkeit stehen das Königtum und die Siege Davids sowie der Tempel markant im Vordergrund. So beginnt auch die eigentliche Davidgeschichte bei seiner Inthronisation in Hebron, wo „ganz Israel" und „alle Ältesten Israels" zu ihm gekommen waren ( 1 1 , 1 - 3; vgl. II Sam 5 , 1 - 3 ) . Gleich darauf wird berichtet, daß „ganz Israel" mit ihm Jerusalem einnimmt; damit wird das G r o ß werden seines gottgefälligen Königtums eingeleitet ( 1 1 , 4 - 9 ; vgl. II Sam 5 , 6 - 1 0 ) . Auch noch die dann vorgestellte „ M a n n s c h a f t " Davids ( 1 1 , 1 1 - 4 7 ; vgl. II Sam 2 3 , 8 - 3 9 ; dazu Noth, Studien 136), die sein Königtum stützt, wirkt „mit ganz Israel" zusammen ( 1 1 , 1 0 ; Rudolph, H A T 1 / 2 1 , 9 9 ; Mosis 4 8 ff). In einer Liste anderer an der Krönung Davids Beteiligter ( 1 2 , 2 4 . 2 5 - 3 8 ) , die von der Liste seiner „ H e l d e n " ( 1 1 , 1 0 f f ) durch eine älteren Stoff bringende Einlage ( 1 2 , 1 - 2 3 ) getrennt ist (Rudolph, ebd. 103 ff; anders Willi 2 2 4 ) und die durch ein an 1 1 , 1 - 3 anknüpfendes Rahmenstück ( 1 2 , 3 9 - 4 ^ . a b g e schlossen ist, haben die nordisraelitischen Stämme die weitaus größten „ M a n n s c h a f t e n " von diesem „ganz Israel", das s o m i t « ' « unter David vereintes Israel darstellt. Im nächsten Abschnitt, der Davids „erste" (13; vgl. II Sam 6 , 2 - 1 1 ) und seine endgültige Uberführung der Lade nach—»Jerusalem ( 1 5 - 1 6 ; vgl. II Sam 6, 1 2 b - 20a) und dazwischen u. a. seine für das Geschick der Lade wichtigen Siege über die Philister ( 1 4 ; vgl. II Sam 5 , 1 1 - 2 5 ; Botterweck 4 1 4 f f ) berichtet, ist ebenfalls „ganz Israel" mitwirkend bzw. mit berücksichtigt ( 1 3 , 2 . 5 f . 8 ; 1 4 , 8 ; 1 5 , 3 . 2 8 ; 1 6 , 3 . 3 6 . 4 3 ) . Sonst treten hier die Leviten in den Vordergrund, und zwar als Ladeträger und als kultische Sänger ( 1 5 , 2 . 1 1 —15.26 f; vgl. Dtn 10,8 f; und 1 5 , 1 6 - 2 1 ; 1 6 , 4 . 5 - 3 7 . 4 1 f; vgl. 6 , 1 6 - 3 2 ; dazu Gese); das geschieht zum Teil als nachträgliche Auffüllung dieses Abschnitts, dessen Rahmen von II Sam 6 bestimmt ist, zumal 16,5(b)—38 (mit v.a. dem komplexen Psalm in 1 6 , 8 - 3 6 ) den Zusammenhang von 16,4(5a) und 3 9 schon grammatisch unterbrechen (Botterweck 4 1 6 ff). Indem von der naheliegenden Frage eines Tempelbaus für die nach Jerusalem

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Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk

gebrachte Lade nun aber zur Frage der davidischen Thronfolge übergegangen wird (17, in relativ engem Anschluß an IlSam 7), bewegt sich die Darstellung wieder zum davidischen Königtum, dem eine besondere Beziehung zu Gott und eine sichere Zukunft prophetisch verheißen wird. Darauf werden Davids Kriege zur Grundlegung und Festigung seines Großreichs thematisch in einem Block behandelt (18 - 20; vgl. 1 4 , 8 - 1 6 ; dazu II Sam 8; 10; 11,1; 1 2 , 2 6 - 3 1 ; 2 1 , 1 8 - 2 2 ) ; hier bleibt aber die Mitwirkung von „ganz Israel" unerwähnt. Im letzten Teil der Davidgeschichte, der sehr von chronistischem Sondergut und späterem Zuwachs geprägt ist, sind kultische und politische Elemente eng verwoben; zunächst geht es um die Gewinnung des Tempelplatzes ( 2 1 - 2 2 , 1 ; vgl. II Sam 24), sodann um die Vorbereitungen Davids für den Tempelbau ( 2 2 , 2 - 5 ; vgl. 2 2 , 1 4 - 1 6 a ; 2 8 , 1 4 - 1 8 ; 2 9 , 2 - 5 . 6 - 9 ) sowie um seine Bestellung vonSalomoals Nachfolger und Tempelbauer ( 2 2 , 6 - 2 3 , 2 a ; 2 8 , 1 - 1 3 . 1 9 - 2 1 ; 29,1—25; vgl. Braun, Significance; ders., Solomon; Williamson, Accession); bei Salomos Krönung ist wieder „ganz Israel" anwesend und mitwirkend (29,23—25; vgl. 22,17; 28,1; 29,17b). Die kultische Prägung ist später durch die große Einschaltung 2 3 , ( 2 b ) 3 - 2 7 , 3 4 , die sich vor allem mit dem levitischen Tempelpersonal beschäftigt (vgl. Winter; Gese; Williamson, Origins), noch erheblich gesteigert (v. Rad, Gesch.bild 88 ff; Welch, Work 55 ff; bes. Noth, Studien 112ff; Willi 194f). In 2 9 , 2 6 - 3 0 erfolgt die Schlußbetrachtung zur Davidgeschichte, die mit Saul begann und nun mit Salomo „auf dem Thron des Königtums Jahwes über Israel" (28,5; vgl. 29,23) endet. 2.1.3. Der nächste Hauptabschnitt, II Chr 1 - 9 , die Salomogeschichte, ist mit dem vorangehenden eng verbunden: Nicht nur wurde hier die Installation Salomos schon berichtet, sondern auch die Art und Tendenz der Darstellung sind weitgehend dieselben. Das politische Bild des reichen und weisen Großkönigs bildet einen Rahmen ( 1 , 1 - 1 7 samt 8 - 9 ) , der sich um den größeren kultischen Kern ( 1 , 1 8 - 7 , [ 1 0 ] 2 2 ) herumschließt (vgl. I Reg 3 - 1 0 ) . Im Kern geht es um die Vorbereitungen ( 1 , 1 8 - 2 , 1 7 ; vgl. I Reg 5 , 1 5 - 2 5 ) sowie um den Bau ( 3 , 1 - 5 , 1 ; vgl. I Reg 6f) und die Weihe des Jerusalemer Tempels ( 5 , 2 - 7 , 1 0 ; vgl. I Reg 8), der „ganz Israel" sammelte (vgl. 5,2.6; 7,8), obwohl auch das ältere Heiligtum in Gibeon noch eine Rolle spielte (1,3; vgl. I Chr 16,39 f; 21,29). Die Salomogeschichte wird dann mit 9,29—31 abgeschlossen. 2.1.4. Darauf folgt die Geschichte der judäischen Könige nach Salomo, II Chr 1 0 - 3 6 (vgl. I Reg 12 - II Reg 17; die israelitischen Könige sind jedoch übersprungen; aber auch nicht alle davidischen Könige werden mit gleicher Ausführlichkeit behandelt). Wichtig ist zunächst Rehabeam ( 1 0 - 1 2 ; vgl. I Reg 12; 1 4 , 2 1 - 3 1 ) aufgrund des Schismas des bisherigen „ganz Israel" (vgl. 10,16 f; 11,13 ff; 13,4 ff; dazu Williamson, Israel 87 f); noch wichtiger sind Könige, die für einen wahren Jahwe-Kult eingetreten sind, und zwar Asa (13,23 b - 1 6 , 1 4 ; vgl. I Reg 1 5 , 9 - 2 4 ) , -^Josaphat ( 1 7 , 1 - 2 1 , 1 ; vgl. I Reg 22), ->Hiskia ( 2 9 - 3 2 ; vgl. II Reg 1 8 - 2 0 ) und -^Josia ( 3 4 - 3 5 ; vgl. II Reg 22 f). Diese Könige- besonders die drei älteren - sind mit einer Ausführlichkeit behandelt, die den übrigen nicht zukommt und die über den für den Aufbau vorgegebenen Rahmen der Königsbücher noch hinausgeht; hier wie auch öfters sind chronistische Erweiterungen hinzugekommen; das betrifft auch den positiven Abschluß durch den KyrosErlaß (36,22 f). Die chronistische Geschichtsdarstellung ist durch und durch in den geschichtlichen und theologischen Überlieferungen Israels verwurzelt; sie steht ihnen aber nicht nur allgemein treu gegenüber, sondern führt sie öfter überraschend frei weiter. 2 . 2 . Sprache, Stil und älteste Textgeschichte. Sprachlich und stilistisch ist die Chronik „auffallend unausgeglichen und uneinheitlich und offenbar von sehr verschiedenen Quellen abhängig" (Noth, Studien 1 1 1 ) ; gleichzeitig lassen sich doch eine ihr eigentümliche Phraseologie (vgl. Driver 5 0 2 ff; Curtis/Madsen 2 7 f f ; dazu nun auch Japhet, Authorship) und Synt a x (Kropat) feststellen. Ihre Sprache, die offenbar zum jüngsten Stratum im Alten Testamentgehört, ist zum Teil schwerfällig und etwas gekünstelt (vgl. etwa I Chr 2 2 , 5 a mit 8mal l e ). Sie ist zudem noch vom Aramäischen stark geprägt, was aber nicht zu dem Schluß führen darf, die Chronik sei eigentlich aus dem Aramäischen übersetzt worden (so H o w o r t h ; Zimmermann; vgl. Rudolph, H A T 1 / 2 1 , XIII A n m . 2 ) . Für die Würdigung des Textes sind zunächst Vergleiche in zwei Richtungen von wesentlicher Bedeutung gewesen, einmal mit Paralleltexten in der älteren Literatur, vor allem in I Sam-II Reg (vgl. M o s i m a n ; Vannutelli; R e h m ; Willi 6 9 - 7 2 ) , und dann mit den alten Ubersetzungen (Klostermann 8 8 - 9 4 ; Goettsberger 1 7 - 2 1 ) , vor allem mit der Septuaginta, die hier aber mit besonderen inner-griechischen Problemen belastet ist (vgl. Torrey, Ezra-Studies 6 2 ff.208 ff; Gerleman; Allen, Chronicles), sowie mit der syrischen Übersetzung, die ursprünglich nicht mit zur Peschitta gehörte (—»Bibelübersetzungen). Inzwischen sind diese zwei Vergleichsrichtungen weitgehend zusammengefallen, denn beim Vergleich des Chroniktextes mit seinen masoretischen Paral-

Chronistische T h e o l o g i e / C h r o n i s t i s c h e s Geschichtswerk

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leitexten hat man den Befund der Septuaginta mit berücksichtigt, zumal nun Funde von Bibeltexten in —>Qumran - hier allerdings fast nichts zu C h r (vgl. C. Burchard, Bibliogr. zu den Hss. vom Toten M e e r , II 1 9 6 5 [ B Z A W 8 9 ] 3 2 8 ; o b das mit der Konzentration der C h r o n i k auf den Jerusalemer Tempel zusammenhängt?), aber dafür mehrere zu Sam - öfter Septuaginta-Varianten gegen den Masoretischen T e x t von S a m (und Reg) stützen 1 , so auch in Fällen, wo Chr gegen den parallelen masoretischen T e x t mit der Septuaginta zusammengeht (so etwa in I Chr 2 1 , 1 5 - 17; dazu L e m k e ; Shenkel; auch Ackroyd, History 5 0 3 . 5 0 7 f ) . Dies hat zur Erhellung der textgeschichtlichen Ortung der C h r o n i k , die auch für die Frage nach ihren Quellen wichtig ist, wesentlich beigetragen; die künftige Forschung wird wohl hier noch Weiteres hervorbringen können. Tradition und Redaktion. Die C h r o n i k ist also in den Ge2.3. Quellen und Sondergut; schichtsüberlieferungen Israels tief verwurzelt. W i e jede Geschichtsdarstellung fußt sie auf Quellen, die sie bearbeitend verwendet; die Frage nach ihren Quellen ist eine Kardinalfrage der neueren Chronik-Forschung gewesen, vor allem in der literarkritisch geprägten Forschung (vgl. etwa de Wette 1 0 f f ; Wellhausen 1 6 5 ff; Driver; Steuernagel; Eissfeldt; Curt i s / M a d s e n 1 7 f f ; R o t h s t e i n / H ä n e l X L I V - L X I X ; auch Myers I, X L V - L X I I I ) . Diese Frage hat ihren sachlichen Grund in den zahlreichen älteren Paralleltexten (s. o. Abschn. 2 . 1 ) ; darüber hinaus nennt die C h r o n i k öfter W e r k e mit N a m e n , wenn sie Hinweise auf weitere Nachrichten gibt. In I Chr 1 - 9 bildet hauptsächlich der —>Pentateuch den quellenmäßigen Hintergrund, doch ist auch viel anderes M a t e r i a l benutzt worden (zum näheren Nachweis s. etwa R o t h s t e i n / H ä n e l ; N o t h , Studien 1 1 7 f f ; Willi 1 9 5 ) . Die Frage, o b hier aufgrund der starken Listenprägung mit dem Einfluß der —»Priesterschrift „in ihrer selbständigen G e s t a l t " ( R o t h stein/'Hänei X L I V ) oder wohl eher mit dem des Pentateuchs „in seiner uns überlieferten Endgestalt" ( N o t h , Studien 1 3 2 ) zu rechnen sei, ist vielfach erwogen worden, dürfte aber n u n m e h r gegenüber neuen Einsichten in die besondere Art und Funktion der altorientalischen und isrealitischen Genealogien wohl etwas zurücktreten ( J o h n s o n 3—82; W i l s o n ; vgl. C. W e s t e r m a n n , Genesis, I 2 1 9 7 6 [ B K . A T 1 / 1 ] 8 - 2 3 . 4 3 6 f f . 4 6 8 ff). Hier wie sonst in I C h r 1 - 9 ist übrigens das Verhältnis von (chronistisch bearbeitetem) Traditionsstoff und chronistischem Sondergut sowie von späteren Zutaten ein überaus schwieriges Problem, das sehr unterschiedlich beurteilt worden ist. D o c h ist es gewiß abwegig, die ganze „ V o r h a l l e " dem Chronisten absprechen zu wollen ( W e l c h , J u d a i s m 1 8 5 ) ; auch wird die große M a s s e von I C h r 2—9 k a u m nur noch „ein Gewirr von sekundären wilden T e x t w u c h e r u n g e n " sein ( N o t h , Studien 1 2 2 ; vgl. R u d o l p h , H A T 1 / 2 1 , 1 f . 9 3 ) ; eher wäre davon auszugehen, daß in diesen Kapiteln mit einer chronistischen Darbietung älteren Traditionsstoffes zu rechnen ist, solange nicht schwerwiegende G r ü n d e dagegen sprechen (Williamson, Israel 71—82; ders. Sources; J a p h e t , Conquest 18), wobei sich einige Abschnitte, vor allem in 5—6, durchaus als spätere Erweiterungen erweisen können (s. etwa Willi 1 9 5 ) . In I Chr 10-11 Chr 3 6 ist die Beziehung zur V o r l a g e , den Paralleltexten i n i Sam 31—II R e g 2 4 , viel durchsichtiger; doch sind auch diese Bezüge viel diskutiert worden, wobei den Quellenverweisen in der Chronik selbst große A u f m e r k s a m k e i t gewidmet worden ist. Diese Quellenverweise, die in der Regel als Schlußnotizen zu einzelnen Königsgeschichten auftreten, lassen sich in zwei Hauptgruppen einteilen. Erstens handelt es sich um Hinweise auf Werke, die als „Buch (sepär) der Könige von Israel und Juda" (II Chr 27,7; 35,27; 36,8; zu I Chr 9,1 vgl. LXX) bzw. „. . . der Könige von Juda und Israel" (II Chr 25,26; 28,26; 32,32; vgl. 16,11) bzw. „. . . der Könige von Israel" (II Chr 20,34; auch I Chr 9,1) oder auch „Bericht/Geschichte (d'barim) der Könige von Israel" (II Chr 33,18) sowie „Midrasch des Buches der Könige" (II Chr 24,27) bezeichnet sind, die sich jedoch nur auf judäische Könige beziehen. Die einzelnen Werke, die vielleicht „nur formell verschieden sein" können (Goettsberger 6), scheinen den Charakter königlicher Annalen zu haben und sind somit ohne Angaben ihrer Verfasser. Die Werke der zweiten Gruppe dagegen werden eben durch ihre Urheber, Propheten, gekennzeichnet, und zwar als „Worte/Bericht/Geschichte" (debarim) von Samuel, Natan, Gad, Schemaja, Iddo, Jehu (I Chr 29,29; II Chr 9,29; 12,15; 20,34; zu 33,19 s. die Komm.) oder auch - offenbar sinngleich - als „Prophezeiung" (nebü'ä) von Achija (II Chr 9,29) oder „Gesicht/Schaubericht" (h"zöt bzw. hazön) von Jedo (II Chr

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Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk

9,29; vgl. Rudolph, HAT 1 / 2 1 , 2 2 4 f) bzw. Jesaja (II Chr 32,32) sowie als „Midrasch" von Iddo (II Chr 13,22). Die Werke, die alle als schriftliche Quellen verstanden sind (vgl. noch II Chr 26,22: Jesaja hat die Geschichte Ussiasgeschrieben), dürfen nicht allzu scharf von denen der ersten Gruppe getrennt werden, denn einmal sind die prophetischen „Berichte" und „Prophezeiungen" immer auf die Geschichte bestimmter Könige bezogen, sodann kann es etwa heißen, daß die Geschichte Josaphats im Bericht Jehus niedergeschrieben ist, der „in das Buch der Könige Israels aufgenommen" worden ist (II Chr 20,34; vgl. auch 32,32). - Zusätzlich sind noch andere Hinweise verschiedener Art zu erwähnen (I Chr 5,17; 2 7 , 2 4 ; 28,19; II Chr 35,4.25).

Nun läßt sich gewiß nicht viel Konkretes aus den Abschlußnotizen allein erschließen. Man hat sie aber öfter auf den umfassenden direkten Quellengebrauch des Chronisten, der ohne nähere Verweise oder Namensangaben geschieht, bezogen, zumal bei ihm viel Stoff vorliegt, der nicht von Paralleltexten in Sam-Reg gedeckt ist. Dabei sind sowohl die Quellenverweise wie auch die konkreten Quellenbezüge der Chronik sehr unterschiedlich eingeschätzt worden. Es dürfte aber kaum sachgemäß sein, hier bei extremen Positionen zu bleiben und etwa einerseits die Quellenverweise nur als „ausschmückende", literarische Nachbildungen der Verweise von I/II Reg zu betrachten (vgl. Torrey, Ezra-Studies 223: „they are a mere show") und gleichzeitig die Existenz jeder Quelle neben den vorliegenden Sam-Reg zu leugnen (vgl. Torrey a.a.O.; Noth, Studien 138f; Pfeiffer 579f), oder andererseits die Quellenverweise als Ausdrücke eines größeren - heute nicht mehr vorhandenen - Werks mit „Midraschcharakter" 2 zu sehen, das als „Midrasch zum Königsbuch (MReg)" (vgl. II Chr 24,27) die Hauptquelle des Chronisten neben Reg ausgemacht haben soll (so Steuernagel 387 f; vgl. noch Eissfeldt 722 ff). Diese Außenpunkte der modernen Forschung sind dem faktischen Befund, vor allem den prophetischen Verweisen, nicht gerecht geworden. Vielmehr dürften die wechselnden Hinweise - seien sie nun Ausdrücke eines einzigen, größeren Geschichtswerks (so etwa Goettsberger 6 ff) oder aber vereinzelter Werke - Anzeichen dafür sein, daß die umfassende Geschichtsüberlieferung Israels, die also hier in verschiedener, aber doch nicht allzu unterschiedlicher Weise — und zwar teils als „Annalen", teils als „Prophetenberichte", teils als „Midrasche" - einbezogen werden konnte, noch nicht zur Ruhe gekommen ist, weder als traditio noch als traditum, obwohl größere Geschichtswerke wie vor allem das -^Deuteronomistische Geschichts werk schon vorlagen. Der Chronist steht also in einer lebendigen, noch neu gestaltungsfähigen Tradition der Historiographie Israels, die zudem von besonderer prophetischer Autorität geprägt und getragen ist (s. vor allem Willi 204—241, bes. 229ff; vgl. auch C. Westermann, Grundformen prophetischer Rede, s 1978, 116ff; sonst Goldingay; Newsome; Braun, Chronicles 63 f; Porter 157ff). Dies relativiert das bisherige- etwas übertriebene - Beschäftigtsein mit den Quellen im Sinne von schriftlich festliegenden Größen (die Möglichkeit mündlicher Tradition sollte auch nicht ausgeschlossen sein, vgl. Mowinckel 4; ders.: ASTI2 [ 1963 ] 23). - Im Lichte dieser Umstände lasser. sich auch die sehr großen Schwierigkeiten einigermaßen erklären, das ursprüngliche oder echte „Chronistische" genau festzulegen sowie dabei den Stoff auf zwei (oder mehrere) „Hände" zu verteilen (vgl. etwa Rothstein/Hänel; Welch, Work; Galling; dagegen Mowinckel; bes. Welten, Gesch. 189ff). Durch die neuere Forschung ist allmählich deutlicher geworden, daß die uns vorliegenden Sam-Reg — wenn auch gelegentlich in textlich abweichender Form (s.o. Abschn. 2 2 ) — die normierende Vorlage und den kompositorischen Rahmen von I Chr 10-11 Chr 36 hergegeben haben und somit die „Hauptquelle" der Chronik darstellen (vgl. Noth, Studien 153 ff; Rudolph, HAT 1/21, Xff; Willi 229 ff). Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Sicht brache v. Rad (Gesch.bild), als er gegenüber der früheren Betonung des Einflusses von P (bes. Wellhausen, Prolegomena 175 ff; so noch Pfeiffer 573ff) nun die Nähe der Chronik zu Dtnund der deuteronomistischen Theologie herausstellte (vgl. auch v. Rad, Predigt; Welch, Work 122ff). In derselben Richtung hat neuerdings Willi die Chronik als Auslegung der älteren, prophetisch-autoritativen Geschichtsschreibung Israels, dann vor allem des Deuteronsmistischen Geschichtswerkes, näher gekennzeichnet (so weiterführend auch Childs 645-f53'). Demgegenüber haben Ackroyd, Mosis und Welten stärker den Gegenwartsbezug der Chronik dargestellt.

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Als neu interpretierendes Geschichtswerk, das dem Deuteronomistischen Geschichtswerk sehr nahe steht, ist die Chronik zunächst grundsätzlich überlieferungsgeschichtlich zu verstehen, und zwar in der Perspektive der prophetisch geprägten historiographischen Traditionen Israels. Doch ist die besondere Art ihrer Neuinterpretation — deren theologischem Profil unten näher nachzugehen sein wird -wesentlich durch die geistige Situation ihrer Gegenwart bedingt. Darüber hinaus ist der Gegenwartsbezug redaktionsgeschichtlich aufschlußreich. Denn unter den Erweiterungen und „sukzessiven N a c h t r ä g e n " (Rudolph, H A T 1/21, 93; vgl. etwa Myers, AncB 12, LXIIf), die sehr unterschiedlich eingeschätzt worden sind, aber doch auf eine längere und komplizierte Entstehungsgeschichte der Chronik schließen lassen, heben sich insbesondere einige größere Einschübe und Nachträge kultischer Art hervor, in welchen das Interesse besonders dem Tempelpersonal, vor allem aber den Leviten gewidmet ist, und zwar in I Chr durch Blöcke wie etwa 5 , 3 0 f f ; 6,16ff; 9,2ff, wesentliche Teile von 1 5 - 1 6 , vor allem durch 23—27 (vgl. aber Williamson, Origins), in II Chr durch eine Reihe von kleineren Zusätzen (Nachweis bei Willi 194—204, der sich vielfach auf die Analysen von N o t h und Rudolph stützt). Dies sich nun als jünger erweisende Interesse an den Leviten - das auch den älteren Teilen gewiß nicht fremd war - unterscheidet sich doch bemerkenswert von dem sonst dominierenden Interesse an der Geschichte des Volkes, die besonders durch den einen Thron und Tempel in Jerusalem bestimmt war. So scheint denn im Redaktionsprozeß der Chronik allmählich ein Drehen des Interesses w a h r n e h m b a r zu sein, und zwar von einem prophetisch-historiographischen, das sich besonders mit dem Deuteronomistischen Geschichtswerk verband, zu einem kultischen (bzw. priesterlichen), das sich vor allem auf das levitische Tempelpersonal konzentrierte. 2.4. Verfasser, Milieu und Zeit. Die stark abweichenden Datierungen der Chronik, die von der frühnachexilischen (Freedman 4 4 1 ; N e w s o m e 2 1 5 f f , die um 515 v.Chr. datieren) bis in die makkabäische Zeit hinein reichen (Ubersicht bei Botterweck 4 0 2 f), spiegeln unterschiedliche Feststellungen kompositorischer und inhaltlicher Art wider. In der neueren Forschung hat sich aber vieles geändert. So h a t etwa die Herleitung des Chronisten aus Ievitischen Kreisen (vgl. noch Eissfeldt) sehr an Wahrscheinlichkeit verloren, nachdem wesentliche Leviten-Abschnitte sich als spätere Erweiterungen erwiesen haben (s.o. Abschn. 2.3). N o c h wirksamer scheint jedoch der Wechsel zu sein, der seit den 30er Jahren von der älteren, literarkritischen Betonung des Einflusses der Priesterschrift (vgl. noch Eissfeldt; Pfeiffer; auch Plöger, Theokratie 5 0 f f ; dagegen Williamson, Eschatology 132 f) zu der neueren Herausstellung der Abhängigkeit der Chronik vom Deuteronomistischen Geschichtswerk (s.o. Abschn. 2.3) auf verschiedene Weise geschehen ist. Das h a t unter anderem dazu geführt, daß früher meistens vernachlässigte prophetische Aspekte in der Chronik nun stärker in den Vordergrund gerückt worden sind' 1 , was wiederum eine Datierung im 6. Jh. ermöglicht h a t (so, neben Freedman u. Newsome, auch Cross; Petersen 5 7 - 6 0 ) . Am wichtigsten mag sich aber die mehrfache Kritik erwiesen haben, die in jüngster Zeit gegen die als opinio communis geltende Annahme eines größeren Chronistischen Geschichtswerks vorgebracht worden ist (s.u. Abschn. 3.); denn wenn diese These ihre a n g e n o m m e n e Tragfähigkeit verlieren sollte, braucht der Chronist nicht notwendigerweise nach Esra-Nehemia datiert zu werden. Auch die dieser These nahestehende Bestimmung des Ziels der Chronik als anti-samaritanische Polemik (vgl. etwa N o t h , Studien 164—166; sonst Nachweise bei Willi 190—193) w ü r d e dann als weniger naheliegend erscheinen, zumal neuerdings noch versucht worden ist, das samaritanische Schisma in weit jüngere Zeit, etwa die hasmonäische, zu datieren, als es bisher üblich gewesen ist (so Purvis; Coggins; Welten, Gesch. 172f; Braun: VT.S 30, 56—59 mit weiteren Hinweisen). So sind mehrere Faktoren, die die Datierung bestimmen, in letzter Zeit unsicher geworden, und eine präzise Ansetzung ist entsprechend schwieriger geworden. Wenn aber nun Coggins (164) „die formative Periode des Samaritanismus" über eine längere Epoche hin ausdehnt (vom 3. Jh. bis zur christlichen Zeit), dann d ü r f t e dies der obigen Beobachtung einer längeren Entstehungsgeschichte der Chronik (s. o. Abschn. 2.3) entsprechen; denn in beiden Fällen geht es nicht so sehr um eine „punktuelle"

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als vielmehr um eine „durative" oder „epochale" Datierung. Her Anfang der chronistischen Geschichtsdeutung könnte wohl relativ früh in der nachexilischen Zeit anzusetzen sein, vielleicht um 500 oder kurz danach. Sofern eine längere Entstehungsgeschichte mit einem komplexen Redaktionsprozeß für die Chronik angenommen werden darf, relativiert sich auch das heikle Problem der Bestimmung des Verfassers, des „Chronisten", und zwar in dem Sinne, daß das Hauptgewicht nicht in erster Linie auf einer Einzelperson, was aber nicht ausgeschlossen zu werden braucht, sondern auf einem besonderen Kreis (so schon Kropat V; neuerdings Braun: VT.S 30,63; Porter 157; vgl. A.S. Kapelrud, The Quesdon of Authorship in the Ezra-Narrative, 1945 [SNVAO.HF 1944/1] 95-97) liegt. In einem solchen Kreis, für den die Chiffre „Chronist" stehen könnte und der u.a. mit der geistigen Strömung der deuteronomistischen Bewegung eine Verbindung gehabt zu haben scheint 4 , dürften mit der Zeit Interessenverschiebungen stattgefunden haben (s.o. Abschn. 2.3). Die meisten Forscher sehen aber in dem „Chronisten" eine einzelne Verfasserpersönlichkeit (vgl. etwa Noth, Studien 155; ähnlich auch in der rabbinischen Tradition, die hinter I Chr 1 - 9 Esra und dem Rest Nehemia als Verfasser sah [bBB 15a; vgl. Albright 120], was aber wohl als Ausdruck eines Bestrebens gelten kann, die Chronik unter kanonisch gesicherte Autoritäten zu bringen). 2.5. Name und kanonische Stellung. Der Name dibre häjjamim ist offenbar nach dem Vorbild der (königlichen) Annalen-Bezeichnungen gebildet worden (vgl. etwa I Reg 14,19.29; Est 10,2; I Chr 27,24), hat jedoch - auch anders als Jos-Jdc-Sam-Reg-keine Beziehung auf eine Person (vgl. Est 2,23; Neh 12,23, die aber diesem Namen wohl kaum vergleichbar sind). Der allgemeine Sinn des Namens, und zwar als „Bericht/Geschichte" (zu de~ barim s.o. Abschn. 2.3, sonst W.H. Schmidt: ThWAT 2,112f) „der Zeit" (zu diesem Gebrauch von jamim vgl. M. Sasbö: ThWAT 3, 575, mit Lit.), dürfte eben dem historiographischen Charakter des Werks gut entsprechen. Dagegen vertritt die L X X eine inhaltliche Deutung des Werks, die seiner Eigenständigkeit nicht gerecht wird (anders etwa Curtis/Madsen 1), wenn sie ihm - zweiteilend — den Namen nagaleiTiOfievov A-B'[Übergangenes/Ausgelassenes] (d. h. vor allem in Sam-Reg) gibt, der sodann in der Vulgata durch Paralipomenon fortgeführt wurde (Hieronymus jedoch hat im Prologus galeatus die Bezeichnung chronicon genannt, was später von Luther aufgenommen wird). Darüber hinaus avisiert die Bezeichnung der L X X ein kanonsgeschichtliches Problem, wie nämlich dieselbe Geschichte zweimal — und anders — im —>Kanon erzählt werden kann (ne bis in idem), weshalb sie die Stellung der Chronik im Kanon als Ergänzung (zu v.a. Sam-Reg) versteht oder verteidigt (dazu bes. Willi 50f; auch Childs 647f). Was die Reihenfolge betrifft, mag die Stellung der Chronik als letztes Buch (bzw. Bücher, seit 1448) im hebräischen Kanon vielleicht kanonsgeschichtlich zu erklären sein (vgl. Rudolph, HAT 1/21, III f), kann aber auch nur eine babylonische Tradition gegenüber einer palästinischen bedeuten (vgl. Klostermann 87f; Japhet, Book 518; der wiederum andersartige griechische Kanon fügt die zwei Par direkt an Regn I-IV [ = Sam-Reg] an; auf sie folgen dann Esr I—II [ = III Esr u. Esr-Neh, vgl. Rahlfs]) 5 . 2 . 6 . Hinweise zur Forschungsgeschichte. Neuerdings hat Willi die ältere sowie die neuere kritische — vor allem von —»De Wette und —>Wellhausen bestimmte - Geschichte der Forschung dargestellt ( 1 2 - 4 7 ) und selbst einen neuen bemerkenswerten Beitrag geliefert; dies gilt auch in den letzten Jahren für vor allem Ackroyd, Braun, Japhet, Mosis, Welten und Williamson (vgl. noch Childs). Ältere Darstellungen finden sich etwa bei Curtis/Madsen (44—48, mit Lit. 4 9 - 5 4 ) und Goettsberger ( 2 2 - 2 5 ; vgl. noch Bea), die neueste bei Porter ( 1 5 2 ff). Sonst fehlt es an ausführlicheren Darstellungen der Chronikforschung, in monographischer Form ist sie ein bleibendes Desiderat.

3. Das chronistische

Geschichtswerk

3.1. Die These und ihre Geschichte. Wenn die Chronik eine längere Entstehungsgeschichte und dabei ihren Anfang in relativ früher nachexilischer Zeit haben sollte, stellt sich die Frage nach der sachlichen und zeitlichen Grenze der Darstellung, ob sie etwa das - nun ebenfalls in zwei Bücher geteilte - Werk von Esra-Nehemia auch noch mit einschließt, zumal

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eine zeitliche und geistige Nähe zwischen Chr und Esr-Neh vorhanden ist (—>Esra/Esraschriften; —»Nehemia/Nehemiabuch). Diese Nähe hat schon die rabbinische Tradition als eine literarische Einheit verstanden (s.o.Abschn. 2.4). Die wissenschaftliche T h e s e eines besonderen C h r o n i s t i s c h e n G e s c h i c h t s w e r k s aber, das C h r u n d E s r - N e h u m f a s s e und dessen Verfasser der „ C h r o n i s t " sei, w u r d e erst 1 8 3 2 v o n L e o p o l d Z u n z d u r c h die Feststellung einiger G e m e i n s a m k e i t e n der g e n a n n t e n B ü c h e r v o r g e t r a g e n ( 2 2 ff; dazu 1 8 3 4 von M o v e r s und 1 8 4 3 von E w a l d ; vgl. Willi 3 6 ff; a u c h 2 2 . 2 6 ) . Sie g e w a n n in relativ kurzer Zeit Z u s t i m m u n g , a u c h wenn Z u n z ' A u s g a n g s p u n k t die inneren G e g e n s ä t z e in E s r a ( 2 0 ff) w a r e n . L a n g e Z e i t s c h o n h a t sie fast a x i o m a t i s c h e W ü r d e besessen, so d a ß sich eine eigentliche B e g r ü n d u n g weithin zu erübrigen schien; und selbst für N o t h (Studien 1 1 0 ) b r a u c h t e „in diesem F a l l e n i c h t erst wie bei D t r der N a c h w e i s der literarischen Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t geführt zu w e r d e n " . An dieser w u r d e festgehalten, auch w e n n m a n mit zwei o d e r m e h r e r e n „ H ä n d e n " r e c h n e t e (s. o. A b s c h n . 2 . 3 ) ; o d e r aber m a n hielt an d e m einen V e r f a s s e r fest, o b w o h l C h r und E s r - N e h als zwei getrennte W e r k e angesehen w u r d e n (Willi 1 8 0 ; W e l t e n , G e s c h . 4), w o m i t sich im G r u n d e eine A u f l ö s u n g der T h e s e a n b a h n t . G e w ö h n l i c h h a t m a n seit Z u n z r e c h t einseitig das A u g e n m e r k a u f die G e m e i n s a m k e i t e n v o n C h r u n d E s r - N e h g e r i c h t e t (vgl. e t w a die Listen bei Driver 5 0 2 ff; C u r t i s / M a d s e n 2 7 ff). W e n n aber in letzter Z e i t den A r g u m e n t e n und diesen Listen kritisch n a c h g e g a n g e n w o r d e n ist (v. a. J a p h e t , A u t h o r s h i p , und W i l l i a m s o n , Israel 5 - 8 6 ; vgl. n o c h Willi; B r a u n u . a . ) , traten die U n t e r s c h i e d e von C h r und E s r - N e h g e g e n ü b e r den G e m e i n s a m k e i t e n s t a r k hervor, s o d a ß die T h e s e eines g r ö ß e r e n C h r o n i s t i s c h e n G e s c h i c h t s W e r k e s z . T . aufgegeben w u r d e (Freedm a n ; J a p h e t ; B r a u n ; N e w s o m e ; W i l l i a m s o n ; zu älteren G e g n e r n der T h e s e s. W i l l i a m s o n , Israel 5 A n m . 3). D a b e i h a b e n J a p h e t ( A u t h o r s h i p 3 3 1 f) u n d W i l l i a m s o n (Israel 5 f) die A r g u m e n t e in vier G r u p p e n geordnet:

3.2. Die Argumente für ein Chronistisches Geschichtswerk, die seit Zunz im großen und ganzen bemerkenswerterweise dieselben geblieben sind, sind teils formaler und teils ideologischer bzw. theologischer Art. In der älteren Forschung traten besonders erstere hervor, in der neueren Forschung vor allem letztere. 3.2.1. Die fast wörtliche Ubereinstimmung zwischen dem Ausgang von II Chr in 36,22f und dem Anfang von Esra in l , l - 3 a gibt die chronistisch wichtige „Schnittstelle" des Gesamtwerkes an (so Eissfeldt 719; vgl. schon Zunz 21 f; sonst Willi 22.26 mit Hinweisen auf ältere Ansätze); ihr Beweiswert für die chronistische Zusammengehörigkeit der Bücher ist gelegentlich hoch veranschlagt worden (vgl. etwa Noth, Studien 2; Rudolph, Esra u. Nehemia, 1949 [HAT 1/20] XXII). Doch sind die wenigen Differenzen der beiden Texte in sich bemerkenswert (vgl. Japhet, Authorship 340 f). Wenn die Texte nicht „Stichzeile" zur Verbindung zweier Werke, etwa nach akkadischem Vorbild, sein sollten (vgl. Williamson 8), nehmen doch alle beide — II Chr 36 kürzer als Esr 1 — auf ein grundlegendes Geschichtsdatum, und zwar den Kyroserlaß, Bezug, der zudem — wiederum in anderer Form - in Esr 6,3—5 angeführt wird und der sowohl als positiver Abschluß der in der Katastrophe endenden älteren Geschichte (II Chr 36,21.22f, der nicht abrupt endet, gegen Williamson 9f, sondern mit dem neuen exodus) wie auch als Eingang der Gegenwartsgeschichte der aus dem Exil Heimgekehrten sehr geeignet ist. Die Annahme einer notwendigen literarischen Einheit dieser Texte (und Bücher) oder etwa ein Beweis für die Abhängigkeit der Stelle II Chr 36,22 f von Esr 1,1—3a (so Williamson 9f) erübrigen sich aber, besonders wenn man die Sache nicht vom strikten Standpunkt einer schriftlichen Verfasserschaft (im modernen Sinne), sondern traditionsgeschichtlich flexibler betrachtet (vgl. auch Welch, Judaism 186 f). Darüber hinaus wird das kanonsgeschichtliche Argument Willis (180 ff) positiv einzuschätzen sein (vgl. dazu Anm. 5). 3.2.2. Ferner hat man den Befund von III Esr, der von einigen Abweichungen und Sonderstücken abgesehen II Chr 3 5 - 3 6 (jedoch ohne 36,22f) direkt mit Esr 1 (samt 4; 2 , 1 - 4 , 5 ; 5,1—10,44 und Neh 7,72—8,13a) verbindet, als Ausdruck einer ursprünglichen Zusammengehörigkeit der Texte verstanden (so Zunz 30 f; dagegen hat Rudolph, ebd. I V - X I X , diesen Sachverhalt für das Chronistische Geschichtswerk nicht fruchtbar gemacht; anders Pohlmann). Schon die Reihenfolge der Esr-Neh-Texte in III Esr läßt erkennen, daß die Beziehung von III Esr zu Esr-Neh sehr kompliziert ist; dabei scheint nun Williamson (Israel 1 2 - 3 6 , in Auseinandersetzung mit v. a. Pohlmann) zutreffend nachgewiesen zu haben, daß der Befund

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von III Esr nicht zur Erhärtung der These eines Chronistischen Geschichtswerkes herbeigezogen werden darf. Im übrigen wären auch hier traditionsgeschichtliche Gesichtspunkte zu erwägen (—>Esra/Esraschriften). 3.2.3. Am wichtigsten waren lange die Hinweise auf grammatische, phraseologische und stilistische Gemeinsamkeiten von Chr und Esr-Neh. Doch abgesehen von einigen wenigen ins einzelne gehenden Zusammenstellungen, insbesondere bei Driver und Curtis/Madsen (s. o. Abschn. 3 . 1 , sonst Williamson, Israel 37), sind die Aussagen der Forscher in diesem Punkt meistens sehr allgemein gewesen (vgl. etwa Rudolph, H A T 1 / 2 1 , III, und Pohlmann 9 Anm. 2, ihm folgend). In jüngster Zeit sind die angeführten Gemeinsamkeiten mehrfach kritisch überprüft worden, und zwar zunächst von Japhet (Authorship), die vor allem das grammatische und phraseologische Material eingehend analysiert hat, und von Williamson (Israel 3 7 - 5 9 ) . Bei seiner kritischen Analyse der Listen von Driver und Curtis/Madsen ist Williamson nicht nur den einzelnen Angaben, sondern auch — und so über die Arbeit von Japhet hinausführend - den methodischen Fragen nachgegangen; dabei hat er die Tragfähigkeit des gängigen Materials erheblich eingeschränkt. Wie Japhet ist er zu dem Ergebnis gelangt, daß eine einheitliche Verfasserschaft von Chr und Esr-Neh auf der Basis von Phraseologie und Stil nicht begründet werden kann, denn im Rahmen der Spätstadien althebräischer Sprachgeschichte überwiegen die Unterschiede zwischen Chr und Esr-Neh zu stark gegenüber den Gemeinsamkeiten. Zudem hat Willi, der auch dem Phraseologischen und Stilistischen mehrfach nachgegangen ist (etwa 78 ff), die „theologische Sprachgeschichte" in ein neues Licht gerückt, indem er - ebenfalls methodenkritisch - die Auslegungsweisen des Chronisten gegenüber dem ihm überlieferten Material, vor allem dem Deuteronomistischen Geschichtswerk, untersucht hat. Dabei hat er nicht nur die Eigenständigkeit der Chronik dem Esr-Neh-Werk gegenüber, sondern auch dem Deuteronomistischen Geschichtswerk gegenüber herausgestellt (etwa 1 8 2 f f . 2 1 6 f f ) , ist doch andererseits die Nähe der Chronik zum Deuteronomistischen Geschichtswerk seit v. Rad (Gesch.bild) immer deutlicher geworden. Das kommt auf mehrfache Weise zum Ausdruck, etwa formal durch die „levitischen" Reden und Gebete, die — anders als in Esr-Neh — der Chronik eigen sind (v. Rad, Predigt; Plöger, Reden; nun aber Newsome 2 0 3 f . 2 1 0 f f ) , oder durch die besonders wichtige Rolle der Propheten in der Chronik (s.o. Abschn. 2.3). 3.2.4. Ubereinstimmende theologische Interessen sind immer wieder in wechselnder, oft allgemeiner Form als Indiz für die Existenz eines Chronistischen Geschichtswerkes betrachtet worden (Zunz 2 2 . 3 2 ; Myers, AncB 12 XVIII), was jedoch nicht zu überraschen braucht, zumal es sich bei Chr und Esr-Neh auf alle Fälle um zwei einander nahestehende Werke handelt. Doch ist im allgemeinen übersehen worden, daß eben bei der zeitlichen und geistigen Nähe dieser Werke ihre Unterschiede um so beachtenswerter erscheinen. Hat Zunz, und zwar von seinem Esra-Standort her, den Chronisten noch „um eine geraume Strecke von der Zeit des Prophetenthums" entfernt gesehen (33), so haben jetzt die neuerdings herausgearbeiteten prophetischen Aspekte sich für die Erfassung der theologischen Eigenart der Chronik—im Unterschied zu Esr-Neh — als sehr bedeutsam erwiesen. Dies gilt z. B. für die chronistische Geschichtsschreibung, die ganz anders als die von Esr-Neh ist (s. bes. Willi; Williamson, Israel 6 8 ; dazu Myers, AncB 12, L X X V ff), oder die Beurteilung des (davidischen) Königtums, die fürdieChronik gegenüber Esr-Neh charakteristisch ist (Braun: V T . S 3 0 , 5 9 f f ; Newsome 2 0 3 ff), oder aber für die strittigen Fragen von —»Eschatologie und (davidischem) Messianismus, die z . T . nur in der Chronik zur Sprache kommen (nähere Nachweise bei Ssebo). Darüberhinaus zeichnet sich die Chronik durch eine gewisse Offenheit, wenn nicht gar Universalismus, gegenüber anderen Völkern aus (trotz der Auslassung des Nordreichs), was so in Esr-Neh nicht der Fall ist (vgl. etwa Braun: V T . S 3 0 , 5 6 ff; Newsome 2 0 5 ff; Williamson, Israel 6 6 f); in Esr-Neh tritt hingegen die völkisch-religiöse Absonderung stärker hervor, wie es etwa am Problem der Mischehen, die die Reinheit „des heiligen Samens" (zärä' häqqodäs; Esr 9 , 2 ; vgl. Neh 13, 23 ff) bedrohen, oder an der rechten Sabbatheiligung (etwa Neh 1 3 , 1 5 - 2 2 ) deutlich wird. Wurde oben (Abschn. 2.3) in einigen späteren Ab-

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schnitten der Chronik eine gewisse W e n d u n g des Interesses in levitische Richtung festgestellt, ist auch in Esr-Neh das levitische Anliegen vorherrschend (vgl. etwa I Chr 9 , 2 - 1 8 par. Neh 1 1 , 3 - 1 9 ; dazu Japhet, Authorship 2 5 2 f f ; sonst v. Rad. Gesch.bild 8 0 - 1 1 9 ; Braun: VT.S 3 0 , 6 3 f). 3.3. Zusammenfassung. So kann in diesen und anderen Punkten ein beträchtlicher Abstand zwischen den älteren Teilen von Chr und Esr-Neh wahrgenommen werden; ein chronistisches Geschichtswerk im Sinne (relativ) einheitlicher Verfasserschaft läßt sich damit schwerlich postulieren. Die neuere Forschung h a t in mehrfacher Weise erhebliche zeitliche und geistige Differenzen innerhalb der Bücher der Chr und Esr-Neh feststellen können; doch ist dabei nicht zu übersehen, daß diese Werke sowohl Gemeinsamkeiten wie wesentliche Unterschiede aufweisen. Das Problem eines „chronistischen Geschichtswerks" ist darum vor allem ein Problem des Gleichgewichts beider Seiten, wobei die frühere These eines literarisch abgeschlossenen, größeren Geschichtswerks nicht in dem M a ß e der Sache gerecht werden kann wie die A n n a h m e einer längeren Entstehungsgeschichte und eines komplexen Redaktionsprozesses (s.o. Abschn. 2 . 3 - 4 ; sonst Porter 154ff). 4. Die chronistische

Theologie

4.1. Rahmen und Voraussetzungen. Die chronistische Theologie ist öfter — auch ausführlich — beschrieben worden (vgl. etwa Rothstein/Hänel IX—XLIV; v. Rad, Gesch.bild; N o t h , Studien 1 7 1 - 1 8 0 ; R u d o l p h , H A T 1 / 2 1 , X I I I - X X I V ; N o r t h ; Myers, AncB 12, LXIV —LXXXV; neuere Arbeiten wie diejenigen von Ackroyd, Braun, Japhet, Mosis, Welten, Willi und Williamson). Doch sind die Darstellungen recht unterschiedlich, was wohl darin gründet, daß sowohl die Bestimmung des Ausgangsmaterials als auch des im Material intendierten Zieles stark wechseln. Im Blick auf Obiges dürfte es nun k a u m zweckmäßig sein, das ganze, aus einer langen Entstehungsgeschichte hervorgegangene Material der Bücher Chr und Esr-Neh als „chronistisch" zu bezeichnen. Diese Bezeichnung gilt nur für den charakteristischen Anfang dieser Geschichte, so wie er im Material der Chronik - mag es auch einige Differenzen a u f w e i s e n Ausdruck gefunden hat. Als chronistische Theologie darf also - wenigstens in erster Linie nur die Theologie der Chronik gelten. Sodann ist es schwierig, die Schwerpunkte der chronistischen Theologie und vor allem die Intention der Chronik zu bestimmen, weil hier mit einer Vielfalt zu rechnen ist (vgl. Japhet: EJ 5,529; Childs 630f.643—645). Denn das Material der Chronik, das sich in der Spannung zweier unterschiedlichen Bezüge befindet, und zwar einerseits eines Uberlieferungsbezugs (dazu v.a. Willi) und andererseits eines Gegenwartsbezugs (dazu v.a. Ackroyd; Mosis), hat zudem selbst eine (umformende) Geschichte durchgemacht. Zunächst wird man umfassend feststellen können, d a ß die Chronik offenbar Geschichte erzählen will; bei einer näheren Charakterisierung ihrer Geschichtserzählung gehen die Meinungen aber gleich auseinander. Gegenüber älteren Deutungen wie etwa der eines Midrasch (Wellhausen, Prolegomena 228) wird sie jedoch heute allgemeiner als Geschichtswerk verstanden (so etwa mit Recht N o t h , Studien 172; Willi 10, gegen v. Rad, Gesch.bild 121.133) und ihr Geschichtswert höher eingeschätzt als früher (vgl. etwa Albright, Date; Richardson). Sehr beachtenswert ist die schon erwähnte Deutung Willis, der die Chronik als Auslegung der älteren, autoritativen Geschichtsüberlieferung kennzeichnet (s.o.Abschn. 2.3), aber ihren Gegenwartsbezug zu wenig berücksichtigt hat (vgl. sonst Childs 6 4 7 f f ) . Als neuinterpretierendes Geschichtswerk ist aber die Chronik eben Theologie; sie stellt eine in der Form der Historiographie gestaltete Theologie dar, die von den Problemen und Ansprüchen der (relativ) frühen nach exilischen Zeit bestimmt zu sein scheint. Ihre theologische Geschichtsschreibung ist zugleich eint Abrechnung mit der noch jungen, tragischen Geschichte des Falles des Königtums und der staatlichen Selbständigkeit, des Exils des Gottesvolkes — und nun der „ausgebliebenen E n d t h e o p h a n i e " Gottes (vgl. H.-J. Kraus: Z A W 78 [1966] 317—332). Darstellungen der chronistischen Theologie erörtern im allgemeinen wesentliche theologische Themen wie Volk und Königtum, Geschichte und Vergeltungsdog-

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ma, Kultus u. a.; zu wenig scheint aber die Gottesfrage in den Blick gekommen zu sein; in ihr, der eigentlichen Theologie, vereinen sich die wesentlichen theologischen Einzelthemen. M a n k ö n n t e sogar versucht sein, die theologische Geschichtserzählung des Chronisten als eine Theodizee zu bezeichnen. 4.2. Kernpunkte der chronistischen Theologie. Die Theologie im engeren Sinne, die Gotteslehre (sie ist gelegentlich auch ausführlich erörtert worden, vgl. bes. Rothstein/Hänel XI—XXV; v. Rad, Gesch.bild 3 - 1 8 ; Japhet, 'mwnwt Kap. I [Engl. Abstr. VII-XIX]; vgl. sonst o. Abschn. 2) kann auch als Prisma der Theologie im weiteren Sinne dienen. 4.2.1. Gott - häufig wird J a h w e ' durch ,Elohim' ersetzt, was „von einer deutlichen Transzendentalisierung J a h w e s " zeugt (so v. Rad, ebd. 5) - ist nicht nur „der Gott Israels" oder „ G o t t der Väter", wie es öfter heißt, sondern auch der Gott der Völker (I Chr 1; vgl. 5,26), deren Götter „ N i c h t s e " sind (I C h r 10,9; 16,26). Er ist der Schöpfer (II Chr 2,11). Ein gewisser Universalismus ist vorhanden (s.o.Abschn. 3.2.4), einschließlich einer positiven Haltung dem Nordreich gegenüber (vgl. Mosis 1 6 9 f f ; Braun: JBL 96). Er ist der erhabene und ewige Herr über alles (I Chr 2 9 , 1 0 f ) . 4.2.2. Der allmächtige Herr ist zugleich ein G o t t der Geschichte, der in den Gang der Dinge ständig eingreift, sei es in Kriegen (etwa II Chr 20) oder durch plötzliche Krankheit (etwa II Chr 16 ff). Seine Geschichtslenkung h a t aber eine heilige Mitte, in der Israel lebt, von seinen Vätern - insonderheit J a k o b , dem Vater des Zwölfstämmevolkes - her (so geht in I Chr 1—9 die „Urgeschichte" des Chronisten in eine Stämme- und Volksgeschichte über); es ist ein „erwähltes" Volk (bhr [erwählen] ist häufig, wie im Deuteronomistischen Geschichtswerk); auserkoren in besonderer Weise ist aber David als König des Volkes, sowie seine Söhne nach ihm, denen unvergleichliche Verheißungen gegeben worden sind (Nachweise bei Sxbo). Sie haben teil an Jahwes Herrschaft (I Chr 28,5; 29,23 f; II Chr 13,5). Seinen Willen aber gibt G o t t vor allem durch die Propheten k u n d (vgl. vor allem Willi 216 ff; sonst o. Abschn. 2.3); sogar David k a n n prophetische Züge tragen (Newsome 203 ff), denn ihm wird das „ W o r t J a h w e s " direkt o f f e n b a r t (I Chr 22,8; vgl. 28,19). 4.2.3. Gott ist ein Gott, der sich in besonderer Weise offenbart; so ist auch nicht die Geschichte direkt oder „als solche" ein Reflex seiner Herrschaft, denn dem Menschen ist große Wahlfreiheit gegeben. Doch waltet G o t t als ein „gerechter" G o t t (vgl. II Chr 12,1 f.5f; sonst H . H . Schmid, Gerechtigkeit als Weltordnung, 1968 [BHTh 40], bes. 139f), straft die Sünder und segnet auf vielerlei Weise die Gesetzestreuen (Nachweise bei Braun: VT.S 30, 53 ff), was gemeinhin als „Vergeltungsgedanke/dogma" bezeichnet wird (vgl. u.a. N o t h , Studien 172f), was aber sachgerechter als Ausdruck einer bestimmten Ordnungstheologie betrachtet werden darf (vgl. K. Koch: Z T h K 5 2 [1955] 1 - 4 2 ) ; doch herrscht hier keine „mechanische" „Eigengesetzlichkeit" (vgl. Willi 208 f, gegen Koch), denn der Sünder kann „sich demütigen" und so sich vor dem „ Z o r n G o t t e s " retten (vgl. etwa II Chr 32,26; 33,12f). Nicht zuletzt in dieser Perspektive hat der Chronist die vergangene Geschichte mit ihren hellen und dunklen Epochen gesehen und erklärt; dabei ist er positiver, hoffnungsvoller als der Deuteronomist — wohl weil die Sache hier im höheren Grad in Gottes H a n d liegt (vgl. u. Abschn. 4.2.5). 4.2.4. Gott offenbart sich nicht nur, sondern er ist auch noch Gott der heiligen Präsenz im Kult, vor allem im Tempelkult auf dem Zion (was öfter ausführlich dargestellt worden ist, vgl. neuerdings Welten, Lade); d a r u m w u r d e unter anderem noch in einer ladelosen Zeit der Lade Gottes und in einer königlosen Zeit dem Königtum so große Bedeutung verliehen, weil die vom König herbeigeholte Lade und der vom König erbaute Tempel in besonderer Weise die gnädige Gegenwart Gottes gewähren. 4.2.5. Wie oben (Abschn. 2.3) zum Ausdruck gekommen ist, mag sich der kultgeschichtliche Aspekt der Chronik im Laufe ihrer Entstehungsgeschichte etwas verstärkt haben. Demgegenüber dürfte die chronistische Theologie in ihren Anfängen, an den davidischen Verheißungen orientiert, stärker eschatologisch und messianisch ausgerichtet gewesen sein (Näheres bei Ssebo). Mit der Zeit aber — vielleicht nach einer allmählich stärker empfunde-

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nen „Parusieverzögerung" Gottes und einer Nichterfüllung davidisch-messianischer Erwartungen — mögen das Prophetische und das Priesterlich/Levitische sozusagen in einer höheren Einheit aufgegangen sein, indem das Funktionieren des Willens Gottes durch W o r t und Gesetz vor allem im Gottesdienst herausgestellt wird, wo im Gebet und im Lobgesang der Ausblick in die Zukunft nicht fehlt. 4.3. So ist der Gott Israels ein ewiger und mächtiger, ein gerechter und zuverlässiger Gott, der nicht nur sein Volk ins Leben gerufen und ihm Heilsordnungen geschaffen hat, sondern der ihm auch eine Zukunft des Heils sichern wird. Wenn dies nun als die mögliche Quintessenz der chronistischen Theologie angesehen werden darf, läßt sie sich auch — wie es vor allem in der älteren literarkritischen Forschung öfter betont worden ist (vgl. etwa Klostermann 9 5 ) — als eine tief religiöse Trostbotschaft bezeichnen, an die Gemeinde der Gegenwart gerichtet und durch die F o r m einer einmaligen Erzählung der wunderhaften Geschichte Gottes mit seinem Volk vermittelt - in majorem Dei gloriam. Anmerkungen S. bes. F. M. Cross, The Ancient Library of Qumran and Modern Biblical Studies, New York 1961, 40 ff. 188 ff; Qumran and the History of the Biblical Text, ed. F. M. Cross/S. Talmon, Cambridge, Mass. 1975; neuerdings E. Ch. Ulrich, The Qumran Text of Samuel and Josephus, 1978 (HSM 19). 2 Das Wort midras kommt im Alten Testament nur in II Chr 13,22; 24,27 vor. Schon die prophetische Verwendung in 13,22 (vgl. noch das entsprechende dibre . . . 'iddö in II Chr 12,15) macht deutlich, daß es hier nicht den späteren Sinn (wie im Judentum) hat; vgl. Rudolph, HAT 1/21, 238 (gegen älteres Verständnis, bei etwa Wellhausen 2 3 4 f ; K. Budde, Vermutungen zum „Midrasch des Buches der Könige": ZAW 12 [1892] 3 7 - 5 1 ; W.E. Barnes, The Midrashic Element in Chronicles: Exp. 4/4 [1896] 4 2 6 - 4 3 9 ; Steuernagel, a.a.O.); sonst S. Zeitlin, Midrash. A Historical Study: J Q R 44 (1953) 2 1 - 3 6 ; auch Willi 66.236f. 3 Vgl. noch W. A.M. Beuken, Haggai-Sacharja 1 - 8 , 1967 (SSN 10), der versucht hat, Verbindungslinien von der frühnachexilischen Prophetie zur Chronik zu ziehen; sonst Westermann, a. a. O. Zu der für die Leviten-Frage wichtigen Stelle Ez 44,6 ff als Brücke zwischen Dtn und Chr s. North 375; vgl. sonst Zimmerli, Ezechiel, 1969 [BK.AT 13/2] 1117ff, bes. 1 1 2 8 - 1 1 3 3 . 4 S . Anm. 3; vgl. Steck 450ff; dazu ders., Israel u. das gewaltsame Geschick der Propheten, 1967 (WMANT 23) (bes. 354); die Arbeiten von Ackroyd, bes. Age; auch ders., Exile and Restoration. A Study of Hebrew Thought of the Sixth Century BC, London 1968, bes. 138 ff. Eine Weiterführung der traditionsgeschichtlichen Untersuchung der Theologie dieser Periode ist sehr wünschenswert. 5 Zu II Chr 3 6,22 f als möglichst positivem Abschluß des Werks - und später des Kanons - vgl. F. Delitzsch, Bibl. Comm. über den Propheten Jesaia, 3 1 8 7 9 (BC 3/1) 687 Anm. 1, in bezug auf den ähnlichen Sachverhalt in Jes, Dodekapropheton/Mal, Thr und Koh; vgl. auch C. H. Gordon, Gesch. Grundlagen des AT, Zürich/Köln 2 1 9 6 1 , 289.333. 1

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Chronistische Theologie/Chronistisches

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Geschichtswerk

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Magne Ssbo

C h r o n o l o g i e —>Africanus, Julius, —»Geschichte, —>Mauriner, —»Urchristentum, rechnung

-^Zeit-

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Chyträus

Chrysostomus —»Johannes Chrysostomus Chrysostomus-Gebet -^»Gottesdienst, —^Liturgie Chrysostomus-Liturgie —»Agende, —»Gottesdienst, -^Liturgik Chyträus, David

(1531-1600)

D. Chyträus war der letzte „Vater der lutherischen Kirche". Persönlich konziliant, sachlich entschiedener—>Gnesiolutheraner (kein „Vermittlungstheologe" [Mecenseffy 5 2 ; Loesche 113]), wurde er als Organisator wie als vielseitiger akademischer Lehrer zu einer Leitfigur der Spätreformation (zum Begriff: Barton 7 f f ) . 1. Leben Unter dem N a m e n David Kochhafe (später Gräzisierung unter humanistischem Einfluß) am 2 6 . 2 . 1 5 3 1 in Ingelfingen (bei Schwäbisch-Hall) als Sohn des dortigen, —>Brenz nahestehenden, evangelischen Pfarrers geboren, wird Chyträus als frühreifer Knabe bereits 1539 in —>Tübingen inskribiert, im Stift aufgenommen. Schüler des Humanisten Joachim Camerarius und des E. —»Schnepf, geht er 1544 als Magister nach —> Wittenberg, wird H ö r e r Luthers, Ebers, Reinholds und vertrauter Hausgenosse —»Melanchthons. Der potentielle Philippist weicht nach der Niederlage des —»Schmalkaldischen Bunds nach Heidelberg u n d Tübingen aus, kehrt 1548 nach Wittenberg zurück, liest hier über Melanchthons Loci, über Rhetorik wie über Astronomie. Nach einer italienischen Reise 1550 an das „ P ä d a g o g i u m " zu —»Rostock berufen (Einführungsvorlesungen, klassische, seit 1553 auch biblische Exegese), schließt er sich eng an den 1556 an die Universität berufenen gnesiolutherischen Theologen T. —»Heshusius an. Nach dessen Abgang 1557 bleibt er mit ihm in Briefwechsel und wird durch ihn vom philippistischen ins gnesiolutheranische Lager geholt (Barton 124ff 126f Anm. 5 1 - 5 3 ) . Seine Verehrung für Heshusius hält zeitlebens an. Chyträus findet in der anfangs noch sehr zerrütteten Universität Rostock bleibende Heimat, wird mehr und mehr die „Säule" dieser H o h e n Schule und lehnt (auch aus einem nahen Verhältnis zu den mecklenburgischen Herzögen J o h a n n Albrecht I. und Ulrich III. heraus) gut 10 ehrenvolle Berufungen (u. a. nach —»Kopenhagen, Wittenberg, —»Helmstedt), aber auch das A m t des Inspektors der Universität aus Bescheidenheit ab. Er setzt aber die Verpflichtung ihrer Glieder auf die altkirchlichen Symbole, die Confessio Augustana Invariata und die Articuli Smalcaldici durch, nimmt maßgeblichen Einfluß auf die Errichtung eines Konsistoriums und die Ausarbeitung einer Superintendentialordnung (1571), wendet sich gegen den F r a n k f u r t e r Rezeß, gegen die philippistische Partei auf dem N a u m b u r g e r Fürstentag, dem Braunschweiger Konvent (1561), dem philippistischen Lüneburger Kongreß (1562) und billigt die antisynergistische Weimarsche Konfutation. Nomine Facultatis verwarf er 1571 den Wittenberger —>Kryptocalvinismus. Er engagierte sich bei der Vorbereitung der —»Konkordienformel und befürwortete sogar 1586 die Ubiquitätslehre. Als profiliertester mecklenburgischer Theologe von —»Maximilian II. und den Ständen nach (Nieder-)Österreich berufen, arbeitete er 1 5 6 9 - 7 2 mit Christoph Reutter Agende, Konsistorial-, Superintendentialordnung, Auslegung der Confessio Augustana und ein Examen Ordinandorum für Niederösterreich aus (Lisch). 1574 organisierte er erfolgreicher v. a. durch Gestaltung einer eigenen Kirchenordnung das Kirchenwesen in Innerösterreich (Steiermark, Kärnten, Krain, Görz). Hierdurch und durch die Kontakte zu Antwerpen, Skandinavien und der von ihm für den deutschen Protestantismus „neu entdeckten" Ostkirche (Engels; Holtz) wurde er nicht zuletzt von Seiten der —»Jesuiten bekämpft. An der Ausweisung der Flacianer m u ß t e er mitwirken, den Ubergang seines Bruders, des Poeten N a t h a n , zum Calvinismus konnte er trotz aller Bemühungen nicht verhindern. 1553 heiratete er M a r g a r e t a Smedes (sie starb wie 7 Kinder vor ihm), 1572 in zweiter Ehe Margareta Pegel. Bedeutender als seine Söhne Ulrich und David wurden die Schwiegersöhne J o h a n n Freder und J o h a n n Godelmann. Chyträus starb nach längerer Krankheit am 2 5 . 6 . 1 6 0 0 .

Chyträus 2.

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Werk

Sein literarisches O e u v r e ist ü b e r a u s vielseitig ( u m f a n g r e i c h s t e Bibliographie, sehr unvollständig: Schütz III, 4 7 1 ff). N e b e n zahlreichen Orationes u n d K o m m e n t a r e n zu biblischen Büchern w u r d e n f ü r die O r t h o d o x i e b e s o n d e r s wichtig: Seine Catechesis (zahlreiche N a c h d r u c k e ) , D e studio theologiae, D e morte et vita aeterna (melanchthonisch beeinflußte Eschatologiedarstellung), Onomasticum Theologicum (Enzyklopädie), Regulae vitae (von M e l a n c h t h o n beeinflußter Tugendspiegel). N o c h b e d e u t e n d e r w a r C h y t r ä u s als Historiker. Vielbeachtet w u r d e neben D e lectione historiarum (Geschichte der Historiographie) v. a. die erste quellenmäßige Spezialstudie Historia Augustanae Confessionis und - europaweit — sein Cbronicon Saxoniae. Als A u t o r i t ä t bei allen E i n i g u n g s v e r h a n d l u n g e n w i r k t e der milde „ L i n k s m e l a n c h t h o n i a n e r " entschieden, aber ausgleichend. O r g a n i s a t o r i s c h w u r d e er v. a. im Ostseegebiet u n d in Österreich z u m Gestalter lutherischen K i r c h e n t u m s (De Judiciis ecclesiasticis: Der Staat h a t mit der Kirche H a n d in H a n d zu gehen; Konsistorien sind einzurichten). Die innerösterreichische K i r c h e n o r d n u n g ermöglichte den A u f b a u eines U n i k u m s , der von den Ständen kontrollierten lutherischen L a n d e s k i r c h e Innerösterreichs unter d e m g e g e n r e f o r m a t o r i s c h e n H e r r s c h e r Karl II. Der - zu wenig katholisierende — E n t w u r f der österreichischen Agende, der nicht die Z u s t i m m u n g M a x i m i l i a n s II. f a n d , löste heftige Kontroversen aus u n d f ü h r t e zu einer u m f a s s e n d e n N e u b e a r b e i t u n g . G e r a d e weil C h y t r ä u s kein wirklich eigenständiger D e n k e r w a r , w u r d e er als A n r e g e r zur Zeit der in die lutherische Orthodoxie übergehenden Frühorthodoxie unentbehrlich. 3.

Nachwirkung

C h y t r ä u s ' Schriften w u r d e n m e h r als ein J a h r h u n d e r t lang eifrig gelesen, das Chronicon Saxoniae, die Catechesis u n d D e studio theologiae blieben bis ins beginnende 19. Jh. ausgewertet. Der Aufstieg der Universität R o s t o c k aus wenig beachtetem Winkeldasein ist nicht zuletzt sein Verdienst (Krabbe): Er p r ä g t e sie im Geiste eines entschiedenen, aber konziliant-gemäßigten L u t h e r t u m s (Schmaltz; Schnell). Die Existenz eines b l ü h e n d e n lutherischen Kirchentums in Innerösterreich bis zu dessen V e r n i c h t u n g d u r c h F e r d i n a n d II. 1 5 9 8 / 1 6 0 0 w a r mit sein W e r k . Z w a r w a r a u c h seinem O r g a n i s a t i o n s t a l e n t die Einigung des P r o t e s t a n t i s m u s in —»Österreich (ob u. u n t e r der Enns) nicht geglückt; aber sein Einsatz ermöglichte die Religionsassekuration von 1 5 7 1 ( O t t o 4 3 ff), d u r c h die der Kaiser der lutherischen M a j o r i t ä t dieser seiner E r b l ä n d e r eine — e i n g e s c h r ä n k t e — G l a u b e n s f r e i h e i t g e m ä ß d e m A u g s b u r g e r Bekenntnis zugestand u n d die bis in die A n f a n g s p h a s e des —»Dreißigjährigen Krieges hier mit die R e c h t s g r u n d l a g e des P r o t e s t a n t i s m u s bildete. M e c k l e n b u r g u n d z u m a l Rostock w u r d e d u r c h seine W i r k s a m k e i t H e i m a t eines vielseitig offenen (nicht aber „ s t r e n g e n " [Pressel 1 9 . 2 6 u. ö.]) L u t h e r t u m s . Quellen Bibliogr.: Schütz (s.u.), III, 4 7 1 ff (unvollständig). Catechesis recens recognita . . ., Wittenberg 1556. - Chronicon Saxoniae, Rostock 1 5 9 0 - 1 5 9 4 . - De morte et vita aeterna, Rostock 1581. - De studio Theologiae. . . commonefactiones, Rostock 1572, NA hg. v. Constantinus Schütz, Leipzig 1781. — Epistolae, hg. v. D. Chyträus jun., Hannover 1614. — Das Kraichgau u. seine Bewohner zur Zeit der Reformation, hg./tr. v. O t t o Becher, Karlsruhe 1908. - O r a t i o de statu ecclesiarum in hoc tempore in Graecia, Asia, Africa, Ungaria, Boemia, Wittenberg 1580. — Orationes, hg. v. D. Chyträus jun., H a n n o ver 1614. - Historia Augustanae Confessionis . . ., Frankfurt 1578. - Regulae vitae, Wittenberg 1555, Jena 1571 u. ö.

Literatur Peter F. Barton, Um Luthers Erbe. Studien u. Texte zur Spätreformation, 1972 (UKG 6). - Viktor Bibl, Die Organisation des ev. Kirchenwesens im Erzherzogtum Österreich unter der Enns: A Ö G 87 (1899) 1 1 3 - 2 2 8 . - Paul Dedic, Der Protestantismus in Steiermark im Zeitalter der Reformation u. Gegenreformation, 1930 (SVRG 149). - E.A. Doleschall, Die Kirchenordnung Innerösterreichs im 16. Jh.: J G P r ö 5 (1884) 1 6 3 - 1 8 3 . - W. Engels, Die Wiederentdeckung u. erste Beschreibung der östlich-orth. Kirche in Deutschland durch D. Chyträus (1569): Kyrios 4 (1940) 2 6 2 - 2 8 5 . - Gottfried Holtz, D. Chyträus u. die Wiederentdeckung der Ostkirche: WZ(R). GS 2 (1952/53) 9 3 - 1 0 4 . - Detleff

90

Clarke

Klatt, C h y t r ä u s als Gesch.lehrer u. Gesch.Schreiber, Rostock 1911 (Beitr. zur Gesch. der Stadt Rostock 5). — G. Kohfeldt, Der akademische Gesch.Unterricht im Reformationszeitalter mit bes. Rücksicht auf D. Chyträus: Mitt. der Gesellschaft für dt. Erziehungs- u. Schulgesch. 12 (1902) 2 0 1 - 2 2 8 . - O t t o Krabbe, D. Chyträus, Rostock 1870. - H e r b e r t Krimm, Die Agende der niederösterr. Stände vom Jahre 1571: J G P r ö 55 (1934) 3 - 6 4 ; 5 6 (1935) 5 2 - 8 7 ; 5 7 (1936) 5 1 - 7 0 . - G . C . F. Lisch, Beitr. zu der Gesch. der ev. Kirchen-Reformation in Oesterreich durch die Herzoge v. M e c k l e n b u r g u. die Univ. Rostock, namentlich durch D. Chyträus: Jahrbücher für mecklenburgische Gesch. u. Altertumskunde 2 4 (1859) 7 0 - 1 3 9 . - Georg Loesche, Art. Chyträus, David: R E 3 4 (1898) 1 1 2 - 1 1 6 ; 23 (1914) 310. - Grete Mecenseffy, Gesch. des Protestantismus in Österreich, Graz 1956. — Karl v. O t t o , Gesch. der R e f o r m a t i o n im Erzherzogtum Oesterreich unter Maximilian II.: J G P r ö 10 (1889) 1 - 6 0 . - Peter Paulsen, D. Chyträus als Historiker. Ein Beitr. zur Kenntnis der dt. Historiographie im R e f o r m a t i o n s j a h r h u n d e r t , Diss. Rostock 1897. - T h e o d o r Pressel, D. Chyträus. N a c h gleichzeitigen Quellen, 1862 (LASLK 8). - Karl Schmaltz, KG Mecklenburgs. II. Reformation u. Gegenreformation, Schwerin 1936. - Heinrich Schnell, M e c k l e n b u r g im Zeitalter der R e f o r m a t i o n 1 5 0 3 - 1 6 0 3 , Berlin 1900. - D e r s . , Ein Zeugnis des Rostocker Theologen D . C h y t r ä u s über den Abendmahlsstreit: N K Z 11 (1900) 1 7 5 - 1 8 0 . - O t t o F. Schütz, De vita Davidis Chytraei c o m m e n t a r i o r u m libri q u a t u o r , H a m b u r g 1 7 2 0 - 1 7 2 8 . - Julius Wiggers, KG Mecklenburgs, Parchim 1840.

Peter F. Barton Ciborium —»Altar, ^ G e r ä t e , Liturgische Circumcellionen —»Afrika Cîteaux —»Zisterzienser Ciarenbach, Adolf ^ R h e i n l a n d Claretiner —»Orden, Neuere katholische Clarke, Samuel

(1675-1729)

1. Leben Als Sohn eines Alderman und Parlamentsmitglieds am 11. 10. 1675 in Norwich geboren, erhielt Clarke seine Erziehung auf dem Caius College in Cambridge, w o er 1696 Junior Fellow wurde. Er zeichnete sich zunächst durch Arbeiten zu -^.Newtons naturwissenschaftlichen Theorien aus. 1697 veröffentlichte er eine lateinische Übersetzung von Jacques Rohaults Traité de Physique (1671) mit eigenen Anmerkungen; 1706 übersetzte er N e w t o n s Optics ins Lateinische. Zugleich war Clarke ein tüchtiger klassischer Gelehrter, w o f ü r seine hochgelobten Ausgaben von Caesars Commentarii (1712) und der ersten 12 Bücher der llias (1729) zeugen. Clarke wurde 1698 ordiniert. Durch Vermittlung von William Whiston ( 1 6 6 7 - 1 7 5 2 ) berief ihn John M o o r e , Bischof von Norwich, zu seinem Kaplan. N a c h d e m ihm M o o r e s umfangreiche Bibliothek zugänglich geworden war, begann er theologische Werke zu studieren und zu veröffentlichen. 1699 erschienen Three Practical Essays on Baptism, Confirmation and Repentance, in denen er in großen Linien sein Verständnis des christlichen Glaubens darstellt. Ebenfalls 1699 ließ er eine a n o n y m e Polemik gegen John Toland ( 1 6 7 0 - 1 7 2 2 ; —»Deismus) erscheinen (Some Reflections on that Part of a Book called Amyntor, or, The Defence of Milton's Life . . .), in der er die Bedeutung einiger nachapostolischer Schriften und die oberste Autorität des neutestamentlichen Kanons verteidigte. 1701 publizierte er seine Paraphrase of St. Matthew's Gospel und im folgenden Jahr Paraphrasen zu den anderen Evangelien ( n 1 7 7 1 ) . 1 7 0 4 / 1 7 0 5 hielt Clarke die Boyle Lectures (—»Boyle), die seinen Ruf als Philosoph und Theologe begründeten. Ihr Rationalismus weckte bei o r t h o d o x e n Kirchenmännern den Verdacht, Clarke vertrete einen verdeckten Deismus, o b w o h l er sich in dem W e r k gegen Deisten wendet. 1706 veröffentlichte er einen Letter to Mr. Dodwell, dem er in den beiden folgenden Jahren vier Defences nachschickte. Ziel dieser Schriften war die Verteidigung der Unsterblichkeit der Seele gegen H e n r y Dodwells ( 1 6 4 1 - 1 7 1 1 ) A r g u m e n t , d a ß diese nicht von N a t u r g e g e b e n , sondern eine Folge der T a u f e sei, und gegen die Beweisführung A n t h o n y Collins' ( 1 6 7 6 - 1 7 2 9 ) für die Materialität und somit Sterblichkeit d e r Seele.

Clarke

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Clarke wurde 1706 zum Rektor von St. Bennet's sowie zum Kaplan der Königin bestellt. Drei Jahre später wurde er Rektor von St. James's, Westminster. Bei seinem Wechsel nach St. James's erwarb er den theologischen D o k t o r g r a d in Cambridge mit einer Verteidigung der These, daß kein in der Bibel vorgetragener Satz des christlichen Glaubens der Vernunft zuwiderlaufe und daß keine Religion ohne die Freiheit menschlichen Handelns bestehen könne. 1712 erschien — gegen den ausdrücklichen Wunsch der Regierung — The Scripture-Doctrine ofTrinity. Das Werk löste eine erhebliche Kontroverse aus, die noch nach Clarkes T o d andauerte. Abgesehen von dem Vorwurf des Arianismus richtete sich die Kritik vor allem gegen Bemerkungen, die den Geistlichen der —>Kirche von England bei der obligatorischen Unterzeichnung der Neununddreißig Artikel einen weiten Interpretationsspielraum zusprachen. Die Erregung, die das Buch hervorrief, hatte zur Folge, d a ß Clarke aus seinem A m t als Kaplan der Königin entlassen wurde. —»Voltaire berichtet, E d m u n d Gibson ( 1 6 6 9 - 1 7 4 8 ) habe, als Königin Anne Clarke zum Erzbischof von Canterbury machen wollte, entgegnet, dieser sei z w a r der weiseste und aufrichtigste M a n n im ganzen Königreich, habe aber einen Fehler — er sei kein Christ! Die Anekdote ist in dieser Form fast sicher unhistorisch, m a g aber mit dem erfolglosen Vorschlag seiner Berufung zum Bischof von Bangor 1727 z u s a m m e n h ä n g e n . Dennoch wurde Clarke 1718 zum M a s t e r von Wigston's Hospital in Leicester ernannt und hätte, was er aber ausschlug, nach N e w t o n s T o d 1727 dessen Nachfolger als Obermünzmeister werden können.

In den Jahren 1 7 1 5 / 1 7 1 6 trat Clarke auf Ersuchen der Princess of Wales, Caroline, in eine berühmte Debatte mit -n>Leibniz ein, in der er einige Lehren N e w t o n s verteidigte. Diese Korrespondenz wurde 1717 veröffentlicht, zusammen mit einer Apologie der menschlichen Freiheit gegen Collins' deterministische Auffassung des menschlichen Handelns. 1725 sah sich Clarke erneut in einen Konflikt mit Collins verwickelt. Er schrieb einen Discourse on ihe Connexion of Prophecies in Erwiderung auf den Angriff gegen den Weissagungsbeweis in Collins' Grounds and Reasons (1724). Für seine Gemeindeglieder veröffentlichte Clarke 1718 ein Bändchen mit Psalmen und Hymnen. Einige Exemplare wurden von der Society for Promoting Christian Knowledge gekauft und verbreitet und fanden so die Aufmerksamkeit des Bischofs von London, der ihren Gebrauch in seiner Diözese verbot. Nach kurzer Krankheit starb Clarke am 17. Mai 1729 in London. Sein jüngerer Bruder brachte posthum zehn Predigtbände (1730/1731) und eine Exposition of the Church Catechism (1729) zum Druck. Die letztere beruhte auf wöchentlichen Vorlesungen Clarkes in seiner Gemeinde und wurde von Waterland wegen angeblicher arianischer Irrtümer angegriffen. Sein Exemplar des Book of Common Prayer mit zahlreichen Ergänzungsvorschlägen wurde 1768 von seinem Sohn dem Britischen M u s e u m überreicht. 2. Werk Wie die biographische Skizze zeigt, war Clarkes Leben bestimmt von seinen Veröffentlichungen und den Auseinandersetzungen, die sie auslösten. Drei seiner Werke verdienen besondere Beachtung. Seine Boyle-Vorlesungen über The Being and Attributes of God, the Obligation of Natural Religion and the Truth and Certainty of the Christian Revelation (1705; W o r k s II, 513—733) enthalten eine umfassende, wenn auch nicht sehr originelle, apriorische Begründung des theistischen Glaubens, einen Argumentationsgang f ü r die Autonomie der M o r a l und die alleinige Ableitung der moralischen Verpflichtung aus der inneren Zweckmäßigkeit der Dinge, eine Verteidigung der Notwendigkeit der O f f e n b a r u n g und einen Beweis der göttlichen Autorität der christlichen Offenbarung. The Scripture-Doctrine ofTrinity (1712; W o r k s IV, i-xiv. 1 - 2 2 2 ) analysiert 1251 Stellen des N e u e n Testaments. Aus ihnen wird gefolgert, d a ß „die W o r t e Gott und der Vater - nicht Gott und die drei Personen - in der Schrift stets als Synonyma g e b r a u c h t w e r d e n " (ebd. 121). Im zweiten Teil des Werkes entwickelt Clarke in 55 Lehrsätzen sein Verständnis der neutestamentlichen Trinitätslehre. Seine H a u p t a u s s a g e ist, daß n u r der Vater aus sich selbst heraus existiert und die Quelle aller Autorität ist. Von dem Vater beziehen der Sohn u n d der Heilige Geist, trotz ihrer uranfänglichen Koexistenz mit d e m Vater, ihr Wesen und ihre Eigenschaften. A n b e t u n g g e b ü h r t daher letztlich nur dem Vater. Der

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dritte Teil des Werkes enthält Vorschläge, wie die Liturgie der Kirche mit dieser Trinitätslehre in Einklang gebracht werden kann. Das ganze Werk spiegelt Clarkes Anerkennung der Schriftautorität und seine Entschlossenheit wider, sich möglichst eng an die Schrift zu halten. Der Aufruhr, den es erregte, war zu einem nicht geringen Teil dadurch bedingt, daß es den Finger auf eine Divergenz zwischen Bibelwort und orthodoxer Lehre legte. Die K o r r e s p o n d e n z m i t Leibniz, zu der beide je fünf Briefe beisteuerten, w u r d e durch Leibniz' Kritik an den p h i l o s o p h i s c h e n u n d t h e o l o g i s c h e n I m p l i k a t i o n e n v o n N e w t o n s Arbeit ausgelöst. In seinen E r w i d e r u n g e n m a c h t C l a r k e gegen Leibniz geltend, d a ß N e w t o n s A n s c h a u u n g e n eine n a t ü r l i c h e T h e o l o g i e , die seines Kritikers j e d o c h einen atheistischen M a t e r i a l i s m u s und F a t a l i s m u s begünstigten. 3.

Nachwirkung

C l a r k e ist eine führende G e s t a l t u n t e r denjenigen englischen T h e o l o g e n des J a h r h u n derts n a c h —»Locke, die die V e r n ü n f t i g k e i t des christlichen G l a u b e n s zu e r h ä r t e n suchten (—»Rationalismus). Seine Boyle

Lectures

w u r d e n weithin als M a ß s t a b für den Beweis der

E x i s t e n z G o t t e s und der W a h r h e i t d e r christlichen O f f e n b a r u n g a n g e s e h e n . T r o t z seines s t ä n d i g e n R ü c k g r i f f s a u f die A u t o r i t ä t der Heiligen Schrift b e s t ä r k t e er d u r c h seine rationalistische A u s r i c h t u n g die A n s i c h t , d a ß die V e r n u n f t die letzte Instanz in G l a u b e n s d i n g e n sei. Seine a p r i o r i s c h e n a t ü r l i c h e T h e o l o g i e gilt - u n g e a c h t e t erheblicher v o r h a n d e n e r Unterschiede - als das V o r b i l d für D e m e a in —»Humes Dialogues

Concerning

Natural

Religion

( 1 7 7 9 ) . G r o ß e n Einfluß h a t t e n seine A u s s a g e n über die A u t o n o m i e d e r M o r a l . Sein B u c h ü b e r die T r i n i t ä t s l e h r e leistete einen w i c h t i g e n B e i t r a g z u r Diskussion des 1 8 . J h . , indem es die P r o b l e m a t i k einer k o n s e q u e n t e n B e r u f u n g a u f den biblischen T e x t deutlich m a c h t e . C l a r k e s G e d a n k e n w a r e n nicht b e s o n d e r s originell, d o c h trug er seine Verteidigung d e r V e r n ü n f t i g k e i t des christlichen G l a u b e n s m i t g r o ß e m Scharfsinn und l o b e n s w e r t e r Klarheit v o r . Es m a g freilich m e h r als ein K ö r n c h e n W a h r h e i t in C o l l i n s ' B e m e r k u n g liegen, daß niem a n d die E x i s t e n z G o t t e s bezweifelte, bis C l a r k e sie zu beweisen suchte. Quellen Samuel Clarke, Works, 4 Bde., London 1 7 3 8 - 1 7 4 2 (mit einer Biographie v. B. Hoadley in Bd. I) = New York 1 9 7 6 . - Ders., A Demonstration of the Being and Attributes of God, 1705 = Stuttgart-Bad Cannstatt 1 9 6 4 . - Ders., A Discourse Concerning the Unchangeable Obligations of Natural Religion, 1 7 0 6 = Stuttgart-Bad Cannstatt 1964. - Die Schrift-Lehre v. der Dreyeinigkeit, worinn jede Stelle des N T , die diese Lehre angeht, besonders betrachtet, u. die Gottheit unsers Hochgelobten Heilands nach den Schriften bewiesen u. erklärt wird, v. Samuel Clarke. Mit einer Vorrede D. Johann Salomo Semlers, Frankfurt/Leipzig 1 7 7 4 . - William Whiston, Historical Memoirs of the Life of Dr. Samuel Clarke, London 1 7 3 0 ; die 3. Aufl., ebd. 1 7 4 8 , enthält zusätzlich: T . Emlyn, Memoirs o f . . . the Reverend Dr. Samuel Clarke; A . A . Sykes, Eulogium o f . . . Samuel Clarke. - The Leibniz-Clarke-Correspondence, ed. H. G. Alexander, Manchester 1 9 5 6 . Literatur James Paterson Ferguson, Dr. Samuel Clarke. An 18 th Century Heretic, Kineton 1 9 7 6 (Lit.). Emanuel Hirsch, Gesch. der neuern ev. Theol., Gütersloh, I 5 1 9 7 5 , 3 5 2 - 3 5 5 . - J . E . Rossignol, The Ethical Philosophy of Samuel Clarke, Diss. Leipzig 1 8 9 2 . - Leslie Stephen, Art. Clarke, Samuel: D N B 10 ( 1 8 8 7 ) 4 4 3 - 4 4 6 . - Robert Zimmermann, Samuel Clarkes Leben u. Lehre, 1 8 7 0 (DAWW.PH 19). D a v i d A. Pailin

C l a u d e l , Paul 1.

(1868-1955)

Leben

Geb. am 6. 8. 1 8 6 8 als Sohn eines Beamten in Villeneuve-sur-Fere (Aisne), studiert Claudel in Paris Staatswissenschaft und lernt an der Hochschule für Orientalische Sprachen Japanisch und Chinesisch. August 1 8 8 6 erste Gedichtveröffentlichung; 2 5 . 12. 1 8 8 6 Bekehrungserlebnis in Notre-Dame; Beginn einer vierjährigen geistigen Krise; Lektüre von -H>Pascal, —»Bossuet, —»Dante, -H.Dostojewskij, Anna Katharina Emmerick und antiken Klassikern; 1 8 9 0 Eintritt in den diplomatischen Dienst; 1 8 9 3 Vizekonsul in New York, dann in Boston, 1895 in Schanghai; 1898 Konsul inFutschou; Weihnachten 1 8 9 9

Claudel

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in B e t h l e h e m ; 1 9 0 0 U r l a u b in der Benediktinerabtei Solesmes und im B e n e d i k t i n e r k l o s t e r Ligugé mit der Absicht, die d i p l o m a t i s c h e L a u f b a h n und die D i c h t u n g a u f z u g e b e n u n d M ö n c h zu w e r d e n ; R ü c k kehr nach C h i n a ; Liebe zur F r a u eines a n d e r e n , von der er ein Kind b e k o m m t ; 1 9 0 5 als Pilger in L o u r des; 1 9 0 6 H e i r a t (aus der E h e gehen 5 Kinder h e r v o r ) ; P o s t e n in Peking und T i e n t s i n ; 1 9 0 9 Generalkonsul in P r a g , 1 9 1 1 in F r a n k f u r t a . M . , 1 9 1 3 in H a m b u r g ; 1 9 1 4 mit J a m m e s in L o u r d e s ; T ä t i g k e i t im Kriegsministerium in Paris; 1 9 1 5 H a n d e l s m i s s i o n in R o m ; 1 9 1 7 G e s a n d t e r in R i o de J a n e i r o ; 1 9 1 8 R e i s e n a c h N e w Y o r k , 1 9 1 9 b e v o l l m ä c h t i g t e r M i n i s t e r in K o p e n h a g e n ; 1 9 2 0 französischer K o m m i s s a r für S c h l e s w i g - H o l s t e i n ; 1 9 2 1 B o t s c h a f t e r in T o k y o , 1 9 2 7 in W a s h i n g t o n , 1 9 3 3 in B r ü s s e l ; seit 1 9 3 5 im R u h e s t a n d ; gest. a m 2 3 . 2 . 1 9 5 5 in Paris.

2. Werk Die Interpretation der Dramen Claudels wird dadurch erschwert, daß sie in mehreren Fassungen vorliegen und daß die deutenden Worte, mit denen der Dichter selbst ihren Sinn zu erhellen sucht, sich oft widersprechen. Die Grundlinien indes sind klar. Tête d'Or ist das Drama des Eroberers, der ein Reich ohne Gott errichtet. La ville und Le repos du septième jour behandeln Fragen der Gesellschaftsordnung: Ohne die göttlichen Gesetze kann kein Gemeinwesen gedeihen. Die Trilogie L'otage; Le pain dur; Le père humilié stellt den ungläubigen Materialismus des 19. Jh. dar. Das Ehebruchsdrama L'échange zeigt Macht und Ohnmacht des Geldes und der Sünde. Partage de midi verknüpft das Thema des Ehebruchs mit dem der religiösen Berufung. Das Mysterienspiel L'annonce faite à Marie handelt von Opfer und Sühne. In Christophe Colomb geht es um die höhere Vereinigung der Menschheit, in Jeanne d'Arc au bûcher um die Sendung der Heiligen. Das Riesenwerk Le soulier de satin faßt alle Themen Claudels zusammen. Neben dem dramatischen Werk steht, gleich hohen Rangs, die meist geistliche Lyrik. Cinq Grandes Odes enthalten zugleich Poetik, Kosmologie und Konfession persönlicher Erfahrungen und spiegeln Claudels Ringen um seine Existenz als Mensch, Dichter und Christ. Auch als Prosaiker beweist Claudel höchste Meisterschaft. Unter Claudels Quellen stehen die kirchlichen obenan. Das Erlebnis der lateinischen Liturgie führte ihn zur Bekehrung, ihre andächtige Mitfeier ist fortan eine Quelle seiner Inspiration. Die Hymnen und Sequenzen wirken weniger auf den Sprachstil, mehr auf die Motivik und Symbolik seiner Poesie. Nicht zuletzt bestimmen sie Claudels Absicht, Dichtung zum Gebet zu erheben (Corona benignitatis anni Dei; La Messe là-bas; Feuilles de Saints). Die Liturgie mit ihren meist biblischen Texten wies ihn auf die Heilige Schrift. Ab 1929 wird das Bibelstudium seine Hauptbeschäftigung. „Nichts hält uns nun länger a u f , . . . die eine Hand auf dem Buch der Bücher, die andere auf dem Weltgebäude, die große symbolische Erkundung fortzusetzen, die zwölf Jahrhunderte lang das Anliegen der Glaubensväter und der Kunst bildete" (GW IV, 153). In den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens bringt Claudel seine exegetischen Schriften heraus, die ein Drittel seines Gesamtwerks ausmachen. Dichterische Früchte von Claudels Bibelarbeit sind seine Psalmenübersetzung (1945) und sein Spiel L'histoire de Tobie et de Sara (1942). Bei diesen Schriften zur Bibel handelt es sich nicht um wissenschaftliche Arbeiten eines Theologen oder Philologen, sondern um Meditationen eines Gläubigen, der zugleich Dichter ist. Für ihn ist die Bibel als Gottes Wort ein Ganzes. Textkritische und historische Fragen interessieren ihn nicht. Er sieht das Alte Testament auf Christus ausgerichtet und legt es deshalb typologisch aus, wofür er sich außer auf Paulus und die Kirchenväter auch auf Pascal und Bloy beruft. Er hätte auch auf —»Luthers frühe Psalmenvorlesung hinweisen können, wäre sie ihm bekannt gewesen. Wenn der Dichter dem „tieferen Sinn" des Textes mit Etymologie, Wortanalogie, Metaphorik und Zahlensymbolik beizukommen sucht, verrennt er sich oft in Deutungen, die man schwerlich nachvollziehen kann. Sein Widerstand gegen jede rein philologische Bemühung um das Wort verwickelte ihn 1949 in eine Polemik mit Fachleuten. Neben Liturgie und Bibel sind Patristik und Scholastik Quellen für sein literarisches Schaffen. In China studiert er 5 Jahre lang —»Thomas von Aquin, in dessen beiden Summen er eine Art Grammatik findet, mit deren Hilfe er Struktur und Sinn des Universums erkennen kann. Das thomasische Denken beeinflußt seinen Geist. Gleichwohl ist Claudel kein Tho-

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Claudel

misi. „Die Grundhaltung seines Denkens und seines geistigen Weges ist die der Existenzphilosophie" (Espiau de La Maèstre 349). In Claudels Weltschau besteht kein Geschöpf für sich selbst, sondern in Zusammenhang mit allen anderen Wesen, die alle aus Gott und für Gott sind. Da wir „mit sind" mit der ganzen Natur, erkennen wir sie und uns selbst. Connaissance ist co-naissatice. Das Kunstwerk ist „Mitvollzug des Hervorgangs der Welt aus G o t t " , Lobgesang und Liturgie. Claudels Poetik (Ars Poetica mundi) enthält zugleich seine Kosmologie und Theologie. Obwohl seine Dichtung oft genug voll Freude und Heiterkeit, voll visionärer Bilder von der Harmonie des unter Gottes Herrschaft geeinten Kosmos ist, hat sie auch andere Töne. Claudel kannte die dämonischen Abgründe und die erbsündliche Verstörtheit. Immer wieder mußte er sich fragen: Warum das Böse und das Leiden in der Welt? Etliche Male in Claudels Werk ist es nicht der Mensch, der sich vor Gott verantworten muß, sondern umgekehrt Gott, der sich als Angeklagter vor dem Menschen rechtfertigt und entschuldigt (z. B. G W I, 5 1 0 f ) . Hier ist der Dichter Anwalt des schuldlos leidenden Menschen. Claudel glaubt, schon vor Adams Fall sei die Schöpfung durch die abgefallenen Engel gestört worden. Eine merkwürdige Ambivalenz haftet deshalb an allem Geschöpflichen, die sich denn auch in Claudels Dichtung zeigt. Die Frau ist bald Figur der menschlichen Seele, der ewigen Weisheit, der Kirche, der Mutter Gottes, bald verführerisches Fleisch, ein Köder, der Nahrung verspricht, aber Wunden und Tod bringt. Entsprechend zwiespältig ist Claudels Haltung zu Liebe und Ehe. Manche Stellen könnten von einem Neuplatoniker oder Manichäer sein; aber Claudel war dies nicht, wie aus vielen anderen Stellen hervorgeht. Bald ist die Liebe das Höchste, bald etwas, das dem Vaterland (Fausta in La Cantate à trois voix) oder der Kirche (L'otage) geopfert werden muß. Die Welt ist bald herrliche Schöpfung, die den Schöpfer offenbart und lobpreist, bald vanitas und totus in maligno positus, schon vor Adams Fall dem Schmerz, der Vergänglichkeit und dem Tod unterworfen; bald voll Jubel und Freude, bald voll Schwermut, Angst, Langeweile und Verzweiflung. Geschichte ist bald ein Triumph Gottes und des Menschen, bald eine Kette von Niederlagen und Katastrophen, voller Absurdität. Gott ist bald Vater, der auch auf krummen Zeilen gerade schreibt und alles, auch die Sünden, zum Guten lenkt, bald Tyrann, Geizhals und Erpresser, der sein Geschöpf ausbeutet und es des Glücks beraubt. Claudel ist keineswegs eine monolithische, sondern eine polymorphe Dichterpersönlichkeit. Espiau de La Maèstre zeigt ihn als einen Rebellen gegen die Kontingenz der condition humaine. Claudels Dichtung enthält leuchtende Intuitionen in die Geheimnisse von Schöpfung, Inkarnation, Gnade, Freiheit, Erlösung, Eucharistie und in das Schicksal Israels. Seine Ausfälle gegen Luther und die Reformation beruhen auf Unkenntnis. Humorvoll vergleicht sich Claudel mit dem draufgängerischen Petrus, der Malchus das Ohr abs c h l u g - „ein Symbol des unmäßigen Eifers" - und fügt hinzu: „Wohl, wenn das milde Dazwischentreten des Heilands die Verheerung, die wir angerichtet haben, rückgängig macht und ganz sachte wieder festklebt und zurechtrückt!" (GW VI, 604). 3.

Nachwirkung

Claudels Werk hat viele zum Glauben geführt oder im Glauben bestärkt. Einige Menschen, darunter Schriftsteller wie Jammes und Rivière, hat er durch Briefe und Gespräche bekehrt. Beachtlich ist sein Einfluß auf Philosophen wie Hans André und Peter Wust; auch Jacques Maritain, Josef Pieper und Simone Weil schenkten ihm ihre Aufmerksamkeit. Andererseits hat er manche Katholiken verärgert. G. Bernanos, G. —»Marcel und P.A. Lesort empörten sich über die Rolle des Pfarrers Badilon in L'otage und verwarfen Claudels hier dargestellte Auffassung von Gott, Ehe, Opfer und Gehorsam als unchristlich. Marcel nannte es eine Anmaßung, daß Claudel im Soulier de satin sich den göttlichen Blickpunkt zu eigen macht. Stark beachtet wurde Claudels Schaffen von katholischen Theologen. Manche, wie Turnell, lehnten es aus dogmatischen oder moralischen Gründen ab, andere, wie Tonquédec, Varillon, Becher, Przywara und Pfleger, stimmten ihm zu. Der Theologe Grosche schrieb das erste deutsche Buch über Claudel, der Theologe Balthasar schuf die erste deutsche Übersetzung des Seidenen Schuhs und der Fünf Großen Oden, mit wichtigen Nachwor-

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ten. Congar, Lubac, Karl Rahner (Sehr, zur Theol., Einsiedeln, VI 1965, 31) und J. Ratzinger brachten den theologischen Gehalt seiner Dichtung zur Geltung. Auch von evangelischer Seite beschäftigte man sich mit Claudel, z. B. K. -n>Barth (KD 111/4,246) - eine kritische Notiz zu L'otage — und H . J . B a d e n . Quellen Œuvres complètes, bisher 28 Bde., Paris 1 9 5 0 - 1978. - T h é â t r e , 2 Bde., Paris 1 9 5 6 / 1 9 6 7 (Bibliothèque de la Pléiade 72.73). - Œ u v r e poétique, Paris 1 9 6 7 (ebd. 125). - Œ u v r e en prose, Paris 1965 (ebd. 179). - Journal, 2 Bde., Paris 1 9 6 8 / 1 9 6 9 (ebd. 2 0 5 . 2 1 3 ) . - Jean A m r o u c h e , M é m o i r e s improvisés, Paris 1954; dt.: Gespräche mit Paul Claudel, Heidelberg 1 9 5 8 . - D i . Übers.: G W , 6 Bde., Heidelberg u . a . 1 9 5 8 - 1 9 6 3 . -Briefwechsel: Paul Claudel - A n d r é Gide, Paris 1949; dt.: Stuttgart 1952. Paul Claudel - Jacques Rivière, Paris 1969; dt.: M ü n c h e n 2 1 9 5 5 . Literatur Bibliographien: Centre international de recherches Claudéliennes Université de Zurich, D o n a t i o n Edwin Maria L a n d a u , Catalogue complet établi par Jacqueline J u n g / E d w i n M a r i a Landau/Sven Siegrist, Paris 1977 (Annales littéraires de l'Université de Besançon 201). — Bibliogr. des œvres de Paul Claudel, Paris 1973 (Centre de rech, de litt, franç, 10). Jacques Andrieu, La foi dans l ' œ u v r e de Paul Claudel, Paris 1955. — H a n s Jürgen Baden, Der Uberfall. Paul Claudel: ders., Literatur u. Bekehrung, Stuttgart 1968, 7 0 - 8 5 . - H a n s Urs v. Balthasar, N a c h w . : Paul Claudel, Der seidene Schuh, Salzburg 1 9 3 9 , 4 2 5 - 4 6 5 . - Jean-Bertrand Barrère, Claudel, Paris 1979. - H u b e r t Becher, Der seidene Schuh, Speyer 1 9 5 2 . - A i m é Becker,,L'inexorable appel' ou le d r a m a de la vocation de Claudel: RevSR 45 (1971) 1 - 4 4 . - Ders., Claudel et l'Interlocuteur invisible, Paris 1974. - A n d r é Blanc, Claudel, Paris 1973. - Isabelle B o u c h a r d , L'expérience apostolique de Paul Claudel d'après sa correspondance, M o n t r é a l 1969. - Georges Cesbron, Paul Claudel. Cosmos et c o m m u n i o n : T r a v a u x de linguistique et de littérature 10 (1972) 1 4 9 - 1 7 0 . - Louis Chaigne, Paul Claudel. Leben u. Werk, Heidelberg 1963. - Paul Claudel zu seinem hundertsten Geburtstag, hg. v. Dt.-Franz. Institut Ludwigsburg, Stuttgart 1970. - Agnès Du Sarment, Claudel et la liturgie, Brügge 1946. - Stanislas Fumet, Claudel, Paris 1958. - Wallace Fowlie, Paul Claudel, London 1957. - Pierre G a n n e , Die Freude ist die W a h r h e i t , Einsiedeln 1 9 6 8 . - R o b e r t Grosche, Paul Claudel, Hellerau/Leipzig 1928. - Henri Guillemin, Le converti Paul Claudel, Paris 1968. - Kurt Ihlenfeld, Zeitgesicht, Witten/Berlin 1961. - Volker Kapp, Poesie u. Eros. Z u m Dichtungsbegriff der Fünf Großen O d e n v. Paul Claudel, M ü n c h e n 1972. - A n d r é Espiau de La Maëstre, Das göttliche Abenteuer. Paul Claudel u. sein W e r k , Salzburg 1 9 6 8 . - Edwin M a r i a L a n d a u , Paul Claudel, H a n n o v e r 1966. - Ders., Das Credo Paul Claudels: EuA 4 4 (1968) 3 8 0 - 3 9 6 . - Paul-André Lesort, Paul Claudel in Selbstzeugnissen u n d Bilddok u m e n t e n , 1964 ( R o M o 95). - Henri d e L u b a c / J e a n Bastaire, Claudel et Péguy, Paris 1974. - Karl Pfleger, Paul Claudel: ders., Kundschafter der Existenztiefe, F r a n k f u r t a. M . 1 9 5 2 , 1 1 5 - 1 7 6 . - Erich Przyw a r a , Weltbild Claudels im „Seiden-Schuh": ders., In u. gegen, N ü r n b e r g 1955, 1 4 5 - 1 5 1 . - Studi claudeliani, hg. v. Ida Rampolla, Palermo 1972. - Bernhard R a n g , Paul Claudel: Christi. Dichter im 20. Jh., hg. v. O. M a n n , B e r n / M ü n c h e n 2 1 9 6 8 , 8 4 - 1 0 8 . - R. Reichelberg, Étude sur le thème de l'exil d'Israël dans le théâtre et l'œuvre de Paul Claudel, Nizet 1976. - Paul-Emile Roy, Claudel, poète mystique de la Bible, M o n t r é a l / P a r i s 1957. - Pascal Rywalski, Claudel et la Bible, Porrentruy 1948. - Georgia H o o k s Shurr, Claudel's Religion. The Critics and Some Conclusions: Claudel Studies, 11/1 1975, 5 0 - 6 3 . - Joseph de Tonquédec, L ' œ u v r e de Paul Claudel, Paris 1917. - M a r t i n Turnell, M o d e m Liter a t u r e and Christian Faith, London 1961. - François Varillon, Claudel, Paris 1967. - Ludger Zinke, Paul Claudel, Ansätze indirekter Verkündigung, W ü r z b u r g 1968 .-Zeitschriften u. Buchreihen: Archives Paul Claudel, Paris 1958 ff. - Le Bulletin de la Société Paul Claudel, 1958 ff. - Cahiers Paul Claudel, Paris 1959 ff. - Cahiers canadiens Claudel, L'Université d ' O t t a w a , O t t a w a 1963 ff. - Paul Claudel, cahiers annuels de la Revue des lettres modernes, Paris 1 9 6 4 f f (laufende Claudel-Bibliogr.). - Claudel Newsletter, Univ. of R h o d e Island, Kingston 1968 ff. - C l a u d e l - s t u d i e s , D e p a r t m e n t of French, Univ. of Dallas, Irving, T e x . 1972 ff. - Revue d'études claudeliennes, T o k y o 1 9 7 7 f f .

Gisbert Kranz Clemens V., Papst

(5.6.1305-20.4.1314)

Nach dem Tod Benedikts XI. ( 7 . 7 . 1 3 0 4 ) gestaltete sich die Papstwahl an seinem Sterbeo r t Perugia durch Parteiungen innerhalb des Kardinalskollegiums (Anhänger und Gegner —»Bonifaz' VIII., jeweils geführt von einem Orsini) und namentlich wegen des offenstehenden Problems der Teilnahme von zwei durch Bonifaz abgesetzten, durch Benedikt nur teilweise restituierten Colonna-Kardinälen überaus schwierig. Aus dem elfmonatigen, intrigen-

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Clemens V.

reichen Konklave ging am 5 . 6 . 1 3 0 5 ein K o m p r o m i ß k a n d i d a t und Außenseiter als neuer Papst hervor, der selbst kein Mitglied des Wählerkreises w a r : Bertrand de Got, Erzbischof von Bordeaux. Der neue Papst entstammte einem Adelsgeschlecht der Gascogne aus Villandraut bei Bordeaux. Sein älterer Bruder Bernard, Erzbischof von Lyon und seit 1294 Kardinalbischof von Albano (gest. 1297), hatte den Aufstieg des zeitweiligen kapetingischen Kanzleischreibers in der Hierarchie in die Wege geleitet, Bonifaz VIII. ihm 1295 durch Postulation das Bistum Comminges (Kirchenprovinz Auch, am N o r d r a n d der Pyrenäen) verschafft und 1299 die Translation nach Bordeaux genehmigt. Bertrand n a h m den Pontifikatsnamen Clemens V. an, sicherlich in Erinnerung an den gleichnamigen südfranzösischen Vorgänger ( 1 2 6 5 - 1 2 6 8 ) . Statt sich nach Italien zu verfügen, beschied er die Kardinäle zum Amtsantritt nach Vienne. Mit Rücksicht auf einen Wunsch des französischen Königshofes fand die Feier am 14.11. in Lyon statt, wobei es zu einigen Unglücksfällen kam, die Zeitgenossen und Biographen als böse Vorzeichen deuteten. Enge Z u s a m m e n a r b e i t mit der französischen Krone, die freilich nicht ganz so weit ging, wie es die ältere Historiographie a n n a h m , und eine nicht zuletzt aus andauernder Kränklichkeit und persönlicher Überforderung resultierende Entscheidungsschwäche, namentlich aber eine ungewöhnliche Familienanhänglichkeit kennzeichnen seinen Pontifikat. Sein Nepotismus erregte Anstoß. —»Dante nannte ihn einen pastor senza legge (Inf. 19,83). D a ß die schärfsten moralischen Verurteilungen von Italienern geäußert wurden (vgl. Giovanni Villani, Cron. IX,58), hängt mit ihrer (teilweise auch wirtschaftlich motivierten) Enttäuschung zusammen, als Clemens in Südfrankreich blieb. Mit seinem Pontifikat beginnt die Epoche des Avignonesischen —»Papsttums, wenngleich er selbst erst 1309 und nur für kurze Zeit Avignon besuchte. Die Kritik an der „selbstverschuldeten Gefangenschaft der Kirche" trifft ihn in besonderem M a ß e . Französische Gelehrte haben zwar betont, daß die Kurie schon zuvor öfters jahrelang von R o m abwesend war, also 1305 kein prinzipiell neuer Zustand eintrat. Doch ist der Aufenthalt in Orten des Patrimonium Petri (—»Kirchenstaat) nicht mit dem in der Gascogne, Languedoc und Provence auf eine Linie zu stellen. Wichtig f ü r ein adäquates Verständnis des Sachverhaltes ist, d a ß in Clemens' Ekklesiologie die nachdrückliche Betonung der weltweiten Zuständigkeit des Papstes seine Aufgabe als Bischof von R o m stark in den Hintergrund treten ließ. Clemens stand damit in Ubereinstimmung mit Theologie und Kanonistik der Zeit. In gleicher Richtung wirkten seine private Furcht, in R o m ein ähnliches Schicksal wie Bonifaz VIII. zu erleiden, persönliche Vorliebe für den heimatlichen R a u m und — trotz erheblicher Spannungen namentlich mit den Räten Philipps des Schönen — politische Abhängigkeit vom französischen Königshof. Bei dem kurialen Machtverfall in Mittelitalien, wie ihn das Attentat von 1303 offenbart hatte, schien es Clemens geboten, „vorerst" die Alpen nicht zu überqueren und statt dessen von der Peripherie aus die Verhältnisse im zerrütteten Patrimonium Petri militärisch zu sanieren. Bis zu zwei Dritteln der Regeleinnahmen des Apostolischen Stuhles verwendete er für diese (nahezu erfolglosen) Kriege. Durch ihn veränderten sich die Mehrheitsverhältnisse im Kardinalskollegium (im Konklave 1 3 0 4 / 0 5 15 Kardinäle: 13 Italiener, 1 Franzose, 1 Spanier) in folgenschwerer Weise: V o n den 20 Kardinälen, die Clemens erhob, waren 19 Franzosen (darunter 4 Neffen des Papstes), einer Engländer, keiner Italiener. Kirchenpolitischen und fiskalischen Ansinnen Philipps des Schönen gegenüber erwies sich Clemens erschreckend willfährig, geängstigt durch die D r o h u n g eines postumen Ketzergerichtes über Bonifaz VIII. Die Colonna-Kardinäle wurden nunmehr voll rehabilitiert, die Attentäter von Anagni von den Kirchenstrafen gelöst, die gegen Frankreich gerichteten Bullen Bonifaz' VIII. im päpstlichen Register getilgt. Das kirchenpolitische Verhalten Clemens' V. stimmte nicht mit seinen Anschauungen über das Verhältnis von geistlicher und weltlicher M a c h t überein. In den Äußerungen über die gottgewollte Relation zwischen gladius spiritualis und gladius materialis stand er den Verfechtern einer päpstlichen —>potestas directa in temporalibus nahe. Als 1308 der deutsche Königsthron durch die E r m o r d u n g Albrechts I. frei wurde, arbeitete der französische

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Herrscher auf die Wahl seines Bruders Karl von Valois hin. Clemens, zur Unterstützung des Projekts aufgefordert, das die politischen Verhältnisse Europas tiefgreifend umgestaltet hätte, zeigte in der Öffentlichkeit Sympathie für den Plan und hintertrieb ihn zugleich insgeheim: Ein drittes Königtum der Kapetinger neben Frankreich und Neapel mußte für die Handlungsfreiheit der Kirche schlechthin erdrückend werden. Der gewählte Luxemburger Heinrich VII. mußte freilich anerkennen, daß zur Amtsübernahme derjenige, den die Kurfürsten zum rex Romanorum in imperatorem promovendus wählten, der kurialen Approbation bedürftig sei. In der Kiementin tRomani principes (De iureiurando 11,9 in Clem.) wurde der Anspruch rechtlich verbindlich formuliert und mit der Forderung einer Eidesleistung des Neuerwählten gegenüber dem Papst verbunden: abschließende und zugleich am weitesten gehende Festlegung des Verhältnisses der mittelalterlichen Universalgewalten! Die erbetene Kaiserkrönung wurde am 2 9 . 6 . 1 3 1 2 nicht durch den Papst, sondern durch beauftragte Kardinäle vorgenommen. Weil Robert von Neapel den Zugang zur Peterskirche versperrte, mußte man sich mit der Lateransbasilika begnügen. Als Heinrich VII. daraufhin den unteritalienischen König als Reichsfeind ächtete, verbot der Papst die Bestrafung. Der drohende Konflikt zwischen Kaiser und Kurie, die nunmehr wieder ganz zur französischen Seite umschwenkte, brach nur deshalb nicht aus, weil der Luxemburger am Fieber starb ( 2 4 . 8 . 1 3 1 3 ) . Clemens ernannte daraufhin Robert von Neapel zum Reichsvikar in Italien, auch dies aufgrund eines neuerhobenen Rechtsanspruchs, der in der Folge lebhaft umstritten war. Nichts nährte das harte Urteil der Nachwelt über Clemens V. stärker als sein Verhalten bei der Aufhebung des Templer-Ordens (—»Ritterorden, geistliche), der durch Bank- und Grundstücksgeschäfte im Abendland sehr reich geworden war. Auf Grund unglaubwürdiger Anschuldigungen schweren sittlich-dogmatischen Fehlverhaltens geziehen, wurden die Tempelritter 1 3 0 7 in ganz Frankreich auf königliche Anordnung hin inhaftiert und der Folter unterworfen. Unter dem Vorwand verantwortungsbewußten Glaubenseifers suchte sich die Krone am Ordensvermögen zu bereichern. Clemens V. protestierte gegen die eklatante Verletzung des Privilegium fori (—»Privilegien, kirchliche) der Kleriker, als welche die Mitglieder geistlicher Ritterorden galten, und zog das Verfahren an sich, konnte jedoch die Auslieferung der gefangengesetzten Templer nicht erreichen. Durch Ausstreuung des Verdachtes, der Papst begünstige Häresien, wußte die Krone ihn zu schwächlicher Zusammenarbeit zu nötigen; so wurde die Zusammensetzung der Untersuchungskommissionen durch den Königshof bestimmt. Die Templer-Frage war Hauptverhandlungsgegenstand des Konzils von —»Vienne 1 3 1 1 / 1 2 . Als die Mehrheit der Teilnehmer sich dahingehend äußerte, den Tempelrittern die Möglichkeit der Verteidigung einzuräumen, griff Clemens mit Rücksicht auf den „starken Ingrimm" des französischen Königs in das Verfahren ein und hob den Orden auf dem Verwaltungswege auf. Der Besitz wurde den Johannitern und den spanischen Ritterorden zugewiesen, blieb aber in Frankreich fast vollständig in königlicher Hand. Kirchenreform, die kaum gefördert wurde, Armutsstreit im Minoriten-Orden (—»Franziskaner, —»Olivi), der nicht abschließend geregelt wurde, und Kreuzzugsproblematik waren neben der Templer-Frage Verhandlungsgegenstände des Konzils. Clemens hatte Gutachten über den Kreuzzug eingefordert, aus denen dasjenige des Raymundus —»Lullus hervorragt. Ein Gemeinschaftsunternehmen der Christenheit gegen den Islam wurde vertagt; statt eines passagium generale empfahl man passagia particularia, deren Durchführung man Johannitern und weltlichen Mächten überließ. So bedeutet der Pontifikat Clemens' V. eine Epoche im Auslaufen des Kreuzzugsgedankens (—»Kreuzzüge); die Idee pervertierte zudem zum Vorwand für die königliche Besteuerung des Klerus. Die rechtlich relevanten Beschlüsse des Konzils von Vienne und die Erlasse Clemens' V. sind in den Klementinen gesammelt, die durch den Nachfolger —»Johannes X X I I . als letzter Teil des Corpus iuris canonici (—»Kirchenrechtsquellen) publiziert wurden. Clemens V. starb am 2 0 . 4 . 1 3 1 4 in Roquemaure nahe Carpentras. In seinem Testament vermachte er den größten Teil des päpstlichen Schatzes seinen Verwandten, was Anlaß für einen Prozeß seines Nachfolgers gegen dieselben bot.

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C l e m e n s VII. Quellen

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und

(1523-1534) Werk

G i u l i o d e ' M e d i c i w u r d e a m 2 6 . 5 . 1 4 7 8 als a u ß e r e h e l i c h e r S o h n d e s ( k u r z z u v o r e r m o r deten) Giuliano de' Medici u n d der Fioretta d ' A n t o n i o geboren. Dies wird aus der T a t s a c h e e r s i c h t l i c h , d a ß e r als K l e r i k e r v o m defectus

natalium

d i s p e n s i e r t w u r d e . Sein V e t t e r G i o -

v a n n i ließ j e d o c h a l s — » L e o X . a m 2 0 . 9 . 1 5 1 3 f e s t s t e l l e n , G i u l i o s E l t e r n s e i e n h e i m l i c h v e r heiratet gewesen. Bereits a m 9 . 5 . 1 5 1 3 w a r Giulio Erzbischof von Florenz g e w o r d e n , a m 2 3 . 9 . 1 5 1 3 folgte d e r K a r d i n a l a t , u n d 1 5 1 7 w u r d e er V i z e k a n z l e r des P a p s t e s u n d dessen wichtigster Mitarbeiter. Für Fragen der K i r c h e n r e f o r m w a r er aufgeschlossen, wie das v o n i h m 1 5 1 7 in F l o r e n z d u r c h g e f ü h r t e P r o v i n z i a l k o n z i l b e w e i s t . Als P a r t e i g ä n g e r —»Karls V . angesehen, u n t e r s t ü t z t e er n a c h L e o s T o d 1 5 2 1 die K a n d i d a t u r H a d r i a n s v o n U t r e c h t , verm o c h t e a b e r u n t e r d e s s e n P o n t i f i k a t ( — » H a d r i a n VI.) t r o t z d e m d e n b i s h e r i g e n E i n f l u ß n i c h t a u f r e c h t z u e r h a l t e n . N a c h d e s s e n A b l e b e n g a b es h a u p t s ä c h l i c h z w e i K a n d i d a t e n : G i u l i o d e ' M e d i c i u n d A l e s s a n d r o F a r n e s e ( - » P a u l III.). D a G i u l i o b e r e i t s 1 5 2 2 d u r c h s e i n e n S e k r e t ä r

Clemens VII.

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—»Giberti Kontakt mit Frankreich geknüpft hatte, war es vor allem die Gegnerschaft des Kardinals Pompeo Colonna, die ihm den Weg zur cathedra Petri versperrte. Am Ende eines siebenwöchigen Konklaves hatte er sein Ziel aber doch erreicht. Seine Wähler erhielten seine bisherigen Benefizien, die jährlich 6 0 0 0 0 Dukaten einbrachten, Colonna zusätzlich „den Palast Riarios, die Cancellaria und das Vizekanzleramt" (Pastor 170) - es verwundert nicht, daß bald Simonieverdacht wegen dieser Wahl geäußert wurde, zumal auch der kaiserlichen Seite finanzielles Engagement zugetraut wurde. Zunächst aber wurde der neue Papst freudig begrüßt. Die Römer erwarteten nach den spartanischen Monaten unter Hadrian ein Wiederaufleben des fröhlichen, der Kunst förderlichen Treibens, wie es unter Leo geherrscht hatte. Clemens VII. war auch durchaus für Kunst und Wissenschaft aufgeschlossen, nahm Männer wie —»Sadoleto oder —»Aleandro in seinen Dienst und vergaß darüber anfangs nicht die evangelische Bewegung. Nach Deutschland machte sich noch Ende 1523 ein Nuntius auf den Weg, dem im Januar 1524 L. —»Campeggio folgte. Auch die Kurienreform nahm Clemens in Angriff und kündigte für 1525 ein Jubeljahr an, das helfen sollte, kirchliche Mißstände zu beseitigen. Aber die -^Reformation in Deutschland erwies sich als antirömisch, und der Papst konnte über das in Aussicht genommene Nationalkonzil in Speyer nur entsetzt sein, weil ihm hier das Gesetz des Handelns in der Kirche aus der Hand genommen zu werden drohte. Karl V. hat auf Clemens' Bitte hin diese Zusammenkunft verboten und sich für ein Generalkonzil (—»Tridentinum) ausgesprochen - aber sein Gesandter in Rom wagte nicht, diesen Plan vorzutragen, weil die päpstliche Aversion dagegen bekannt war: Die Furcht vor einem neuen —»Konziliarismus und die Angst, von einem Konzil wegen seiner Herkunft und Wahl abgesetzt zu werden, waren beim Papst zu groß. Aus dem einflußreichen Vizekanzler Leos X, wurde rasch der furchtsame, unentschlossene und opportunistische Clemens. Denn was für das Konzil gilt, das gilt auch für die —»Katholische Reform, die Bekämpfung der Reformation und die Politik: Meist wurden nur halbherzige Entschlüsse gefaßt, eigene Mittel nach Möglichkeit nicht eingesetzt, Taten durch Worte ersetzt oder überkluge Entscheidungen getroffen, deren Fatalität nicht lange verborgen blieb. So erneuerte er zwar nicht das Bündnis, das Hadrian mit dem Kaiser geschlossen hatte, zahlte aber gleichwohl zunächst heimlich die Gelder weiter, die nach dieser Ubereinkunft auf Rom entfielen. In erster Linie war Clemens Mediceer. Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn sich Spanier und Franzosen aus Italien hätten zurückziehen müssen. Da das nicht erreichbar war, unterstützte er Frankreich, um ein Ubergewicht Habsburgs zu verhindern. Ende 1524 schloß er ein Bündnis mit —»Franz I., weil er annahm, dieser werde Karl V. militärisch überwinden. Das Gegenteil war der Fall: Franz I. wurde geschlagen und mußte in einen ihn demütigenden Friedensvertrag einwilligen. Clemens konzentrierte sich daraufhin nicht etwa auf die Kirchenreform und die Abwehr der Reformation, obwohl Nachrichten über deren Ausbreitung nach Rom drangen, sondern schloß mit dem Unterlegenen, mit Venedig, Mailand und Florenz im Mai 1526 ein neues Bündnis, das ganz auf die Schwächung bzw. Beendigung des habsburgischen Einflusses in Italien zielte. Fast zur gleichen Zeit tagten die deutschen Stände in Speyer (—»Reichstage der Reformationszeit); sie beschlossen, sich in den Glaubensfragen so zu verhalten, wie sie meinten, dies vor Gott und dem Kaiser verantworten zu können — vom Papst war nicht die Rede. Karl V. lehnte es ab, jetzt gegen die Reformation vorzugehen, forderte vielmehr erneut die Einberufung eines allgemeinen Konzils, aber vergeblich. Seine Truppen errangen auch jetzt Erfolge in Italien, stießen nach Süden vor, und es kam im Mai 1527 zum Sacco di Roma, der die Stadt so schwer schädigte, daß viele Zeitgenossen dies nur als eine Strafe Gottes und als ein Zeichen des Endes der Zeit zu deuten vermochten. Clemens konnte sich nur durch Zahlung von erheblichen Geldern von den kaiserlichen Söldnern loskaufen. Er verließ Rom im Dezember und kehrte erst im Oktober 1528 wieder zurück. Jetzt arrangierte er sich mit dem mächtigen Kaiser: Im Vertrag von Barcelona vom Juni 1529 versprach Karl V., dem Papst bei der Wiedererlangung von Teilen des Kirchenstaates zu helfen und gegen die Reformation vorzugehen. Beide wollten gemeinsam die 1527 besei-

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Clemens VII.

tigte Herrschaft der Medici in Florenz wiederherstellen, Karl wurde mit Neapel belehnt und sollte zum Kaiser gekrönt werden. Clemens' Neffe Alessandro de' Medici sollte mit Karls außerehelicher Tochter Margarete verheiratet werden, so daß Florenz dann dynastisch mit Habsburg verbunden sein würde. Bei einem Treffen in Bologna im Winter 1 5 2 9 / 3 0 hatten die Monarchen Gelegenheit, sich über weitere Probleme zu verständigen: das seit 1 5 2 7 geäußerte Verlangen —»Heinrichs VIII. von England, daß seine Ehe mit Karls Tante Margarete als ungültig erklärt werde, oder die Abwehr derTürken (—»Türkenkriege). Nach der Kaiserkrönung am 2 4 . 2 . 1 5 3 0 beschäftigte Clemens sich mehr mit dem Krieg gegen Florenz als mit dem Augsburger Reichstag. Dem Wunsch Karls, ihn in einem Krieg gegen die Reformation zu unterstützen, kam er faktisch nicht nach, berief aber auch das Konzil nicht ein, sondern ging auf das Werben Franz' I. von neuem ein, der eine Verehelichung seines zweiten Sohnes mit Clemens' Nichte Caterina de' Medici vorschlug. Von dieser Politik ließ sich der Papst auch nicht durch ein zweites Treffen mit Karl im Winter 1 5 3 2 / 3 3 in Bologna und durch Verträge mit ihm abbringen, die im Februar 1533 abgeschlossen wurden. Wegen des habsburgischen Übergewichts reiste er vielmehr nach Marseille, vollzog die verabredete Verheiratung und ordnete „die kirchlichen Anliegen den politischen Wünschen Franz' I. unter" (Müller, Kurie 253). So konnte es geschehen, daß der Sieg der Altkirchlichen über Zürich 1 5 3 1 nicht ausgenutzt wurde und daß —»Philipp von Hessen mit Franz' Billigung—»Ferdinand I. aus —»Württemberg vertrieb, was zur baldigen Einführung der Reformation in diesem Herzogtum führte. Clemens zögerte den Urteilsspruch über die Ehe Heinrichs VIII. hinaus, weil er zunächst von Karl die Zusage wünschte, gegen den König von England vorzugehen, wenn dieser die Entscheidung nicht akzeptiere. Als er trotz fehlender Zusage das Urteil fällte, führte dies zur Loslösung Englands von der römischen Kirche. Wenn Clemens dies auch nicht mehr erlebte, so konnte er am Ende seines Lebens doch auch auf anderen Gebieten nur Schwierigkeiten konstatieren. Vor allem gefährdete der Streit zwischen seinen Neffen Alessandro und Kardinal Ippolito de' Medici seinen Wunsch, seiner Familie bleibend gewichtigen Einfluß in Italien zu sichern. Der untadelig lebende Papst starb am 2 5 . 9 . 1 5 3 4 . Seine Gebeine, zunächst in St. Peter bestattet, fanden 1542 in Santa Maria sopra Minerva in Rom ihre letzte Ruhestätte. 2.

Nachwirkung

Bereits Clemens' Zeitgenossen haben seinen Pontifikat kritisiert. So hoch die Erwartungen gewesen waren, so groß war die Enttäuschung über seine furchtsame und unglückliche Politik. Weder die Kirchenreform brachte Clemens voran, noch gelang es ihm, den Einfluß ausländischer Mächte auf Italien zurückzudrängen. Seine Nachfolger mußten versuchen, mit den dringlicher und schwieriger gewordenen innerkirchlichen Aufgaben fertig zu werden. Nicht ohne Einfluß war, daß er die Theatiner (—>Orden, Neuere katholische) 1524 und die —»Kapuziner 1528 bestätigte und die Mission in Mittel- und Südamerika unterstützte. Auch seine Förderung der Kunst in Rom und Florenz ist trotz der politischen Wirren während seines Pontifikats beachtlich. Aber die europäischen Monarchen hat er weder zur Abwehr der Türken noch zur Unterdrückung der Reformation zu einigen vermocht. „Wohl der unheilvollste aller Päpste, die je auf dem römischen Stuhle gesessen" (Ranke 69). „Nur Unsegen ruhte auf allen rein politischen Bestrebungen des Mediceers, so daß man versucht sein könnte, darin einen Wink der Vorsehung zu erblicken, welche das Papsttum wiederum auf seine eigentliche Aufgabe zurückführen wollte" (Pastor 547). Es gibt zwar auch andere Urteile, wenn etwa M o n a c o meint, wir hätten hier einen „wirklich großartigen und zugleich unglücklichen Pontifikat" vor uns, an den Paul III. habe anknüpfen können, um nur das zu beendigen, was Clemens begann (Considerazioni 191 f). Aber die Mehrzahl der Urteile bleibt trotz der Berücksichtigung der schwierigen Lage negativ: „Wenn jemals, so greift man bei ihm mit Händen, daß der Charakter, nicht die Begabung den Erfolg des Lebens bestimmt" (Jedin 177). Sein Pontifikat war „unheilvoll vor allem, weil er keinen entscheidenden Schritt zur Erneuerung der Kirche tat, ja das lange fällige Konzil nicht wollte und meinte, die Einheit der Kirche lasse sich mit politischen Mitteln . . . sicherstellen" (Iser-

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Clemens von Alexandrien

loh: HKG[J]250). Im Tridentinum wurden neue Wege beschritten. Aber was inzwischen vergangen war, konnte nicht mehr eingeholt werden. Quellen BDG Nr. 28342 a. 2 8 3 4 3 a. 2 8 5 0 5 a. 28507. 28771. 2 9 9 6 3 / 4 . - Pietro Balan (Hg.), M o n u m e n t a reformationis Lutheranae . . . 1521—1525, Regensburg etc. 1884. - Ders. (Hg.), M o n u m e n t a saeculi XVI historiam illustrantia, Innsbruck 1885. - P. Berti, Alcuni documenti che servono ad illustrare il pontificato e la vita privata di Clemente VII: Giornale storico degli archivi toscani 2 (1858) 102—128. — Stephan Ehses (Hg.), Rom. Dokumente zur Gesch. der Ehescheidung Heinrichs VIII. v. England 1 5 2 7 - 1 5 3 4 , 1893 (QFG 2). - Felix Gilbert, Alcuni discorsi di uomini politici fiorentini e la politica di Clemente VII per la restaurazione medicea: ASI 9 3 / 3 5 3 (1935) 3—24. - Cesare Guasti, Una bolla del papa Clemente V I I . . . e rimasta in bozza: ASI, 4. Ser. 15 (1885) 1 - 1 4 . - Henry Heller, An unknown letter from Clement VII to Gérard Roussel: B H R 3 8 (1976) 4 8 9 - 4 9 4 . - H u g o Laemmer, M o n u m e n t a Vaticana historiam ecclesiasticam saeculi XVI illustrantia, Freiburg/Br. 1861. — Z u den Nuntiaturberichten vgl. Léon-E. Halkin, Les archives des nonciatures, 1968 (BilHBR 14). Literatur Biographie fehlt. - BDG Nr. 2 8 4 8 6 - 8 9 . 28506. 4 0 6 1 2 / 3 . - Pietro Balan, Clemente VII e l'Italia de' suoi tempi, Mailand 1887. - Pierre Crabites, Clement VII and Henry VIII, London 1936. - GiovannangeloDi Meglio, Carlo V e Clemente VII, Mailand 1 9 7 0 . - S t e p h a n Ehses, Clemens VII. u. Karl V. zu Bologna 1533: R Q 5 (1891) 2 9 9 - 3 0 7 . - J. Fraikin, La nonciature de France de la délivrance de Clément VII à sa mort: M A H 16 (1906) 5 1 3 - 5 6 3 . - HKG(J) IV. - Herbert Immenkötter, Reichstag u. Konzil. Zur Deutung der Religionsgespräche des Augsburger Reichstags 1530: Die Religionsgespräche der Reformationszeit, hg. v. Gerhard Müller, 1980 (SVRG 191) 7 - 1 9 . - Hubert Jedin, Gesch. des Konzils v. Trient, Freiburg/Br., I 1949 3 1977. - Roger Mols, Art. Clément VII: D H G E 12 (1953) 1 1 7 5 - 1 2 4 4 (Lit.). - Michele M o n a c o , Le finanze pontificie al tempo di Clemente VII: StRo 6 (1958) 2 7 8 - 2 9 6 . Ders., Considerazioni sul pontificato di Clemente VII: Archivi d'Italia e rassegna internazionale degli archivi, 2. Ser. 27 (1960) 1 8 4 - 2 2 3 . - D e r s . , La situazione della reverenda Camera Apostolica nell'anno 1525, Rom 1960. - Gerhard Müller, Z u r Vorgesch. des Tridentinums. Karl V. u. das Konzil während des Pontifikates Clemens' VII.: Z K G 74 (1963) 8 3 - 1 0 8 = Concilium Tridentinum, hg. v. Remigius Bäumer, 1979 (WdF 313) 7 4 - 1 1 2 . - Ders., Die röm. Kurie u. die Reformation 1 5 2 3 - 1 5 3 4 , 1969 (QFRG 38) (Lit.). - Ders., Z w . Konflikt u. Verständigung. Bemerkungen zu den Sonderverhandlungen während des Augsburger Reichstages 1530: Religionsgespräche (s.o.),21— 33. - Leopold v. Ranke, Die röm. Päpste in den letzten vier Jahrhunderten, München/Leipzig 1923. — Ludwig v. Pastor, Gesch. der Päpste, Freiburg/Br., IV/2 1907 1 3 1956. - Pio Pecchiai, Le angosciose perplessità di Clemente VII: Archivi d'Italia e rassegna internazionale degli archivi, 2. Ser. 18 (1951) 1 0 - 2 0 . - K u r t Dietrich Schmidt, Die kath. Reform u. die Gegenreformation, 1975 (KIG 3 L). - Franz X. Seppelt/Georg Schwaiger, Gesch. der Päpste, München, IV 2 1 9 5 7 , 4 3 7 - 4 5 3 . - J . N. Stephens, Pope Clement VII, a Fiorentine debtor: BIHR 49 (1976) 1 3 8 - 1 4 1 .

Gerhard Müller Clemens von Alexandrien 1. Leben 2. Werk 3. Geschichtlicher Hintergrund logie 6. Nachwirkung (Quellen/LiteraturS. 111)

4. Kontroversen und Apologetik

5. Theo-

1. Leben Über Titus Flavius Clemens ist nicht viel bekannt. Da er in str. I, 1 3 9 - 1 4 5 eine bis zum Tode des Commodus reichende Geschichtsdarstellung gibt, muß er das betreffende Werk unter Septimius Severus (192-211) verfaßt haben. Die Blütezeit von Clemens fällt nach der Chronik des Eusebius v. Caesarea in das Jahr 193, seine Bücher in das Jahr 203. - Clemens wurde (um 140—150?) entweder in —»Alexandrien oder in Athen geboren (Epiphanius, haer. 31,3). Eher für Athen spricht str. 1,11,2 (über seine „Lehrjahre"). Zu Lehrern hatte er nacheinander: in Griechenland einen Ionier (Athenagoras?), in Unteritalien einen Syrer und einen Ägypter, im Osten einen Assyrer (—»Tatian?), in Palästina einen Hebräer (einen bekehrten Juden? —>Hegesipp?) und in Ägypten schließlich eine „sizilische Biene", womit sicherlich Pantaenus gemeint ist, in dessen Nähe er sich denn auch niederließ (zwischen 180 und 190?). Höchstwahrscheinlich Heide von Geburt und Eingeweihter der Eleusinischen Mysterien (vgl. Picard), scheint sich Clemens bald nach seiner gründlichen klassischen und

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Clemens von Alexandrien

philosophischen Ausbildung recht jung zum Christentum bekehrt zu haben. N a c h seinen Reisen faßte er in Alexandrien Fuß. Die Stellung, die er innerhalb der alexandrinischen Kirche einnahm, ist unklar: Gehörte er dem presbyterium an (Quatember) oder nicht (Hugo K o c h : Z N W 2 1 [ 1 9 2 1 ] 4 3 ff)? Stand er an der Spitze der bischöflichen „ K a t e c h e t e n s c h u l e " (Eusebius v. Caesarea u . v . a . ) oder an der eines freien Schulkatechumenats (Knauber) ? W a r er ein weltlicher Prediger, der Privatvorlesungen hielt (v. H a r n a c k , Bardy u.a.), oder aber Katechet für einfache Leute und Redner für gebildete Kreise zugleich (Mehat) ? Origenes w a r möglicherweise sein Schüler (vgl. M u n c k ; für die D a t e n : Nautin, Lettres). Durch die Verfolgungen des J a h r e s 2 0 2 oder aus anderen Gründen (Feindschaft des Bischofs?) aus Alexandrien vertrieben, wurde Clemens später zum T h e o l o g e n und Vertrauten Alexanders, des Bischofs von —»Jerusalem (Eusebius, hist. eccl. V I , 1 1 ) . N a c h Ansicht Nautins ist ein Aufenthalt in Kappadokien nicht anzunehmen, und der Brief Alexanders, in dem Clemens als T o t e r beklagt wird, muß anstelle von 2 1 5 / 1 6 in das J a h r 2 2 1 datiert werden. 2.

Werk

D e r Protrepticus an die Heiden gehört zur Gattung der philosophischen „ M a h n r e d e " (vgl. den Protrepticus des —»Aristoteles) und in die urchristliche —»Apologetik. Sein Ziel ist die Bekehrung der Heiden zum Christentum. Die Fortsetzung des Protrepticus, der Paedagogus, ist ein paränetisches W e r k (—»Paränese). Derjiaidaycjyög ist eigentlich der Sklave, der den Kindern gutes Benehmen beibrachte; hier soll der Logos erst in die Rolle d e s j i a i d a y o j y o g schlüpfen, bevor er zum Lehrer ( 6 i ödoxaXog) wird, der die —»Gnosis lehrt. Im 1. Buch des Paedagogus ist die Vorstellung einer göttlichen „ P ä d a g o g i e " entwickelt. D a s 2 . und das 3. Buch bringen im Stil der Diatribe eine ganze Reihe praktischer Vorschriften bezüglich des Essens, Trinkens, Schlafens, der Kleidung, des Geschlechtslebens usw. D a s W e r k schließt mit einer H y m n e auf den L o g o s in der Rolle des Paedagogus. Die 7 Bücher umfassenden Stromata oder — r i c h t i g e r — S t r o m a t e i s stellen ein rätselhaftes W e r k dar. Die Bedeutung des Titels ist ungewiß ( „ T e p p i c h e " gäbe den Sinn von Stromata, nicht aber den von Stromateis wieder). D e r vollständige Titel heißt: Oixarä rfv äXrfQfjv Engel

und —»Dämonen

sieht C l e m e n s s o w o h l in der jüdischen als a u c h in

der griechischen T r a d i t i o n . Sie verfügen in u n t e r s c h i e d l i c h e m M a ß e ü b e r einen K ö r p e r . D i e h ö h e r e n M ä c h t e w e r d e n in drei H a u p t s t ä n d e ( r ä ^ e i g ) o d e r Stufen {nQoxonai)

eingeteilt. A n

der Spitze dieser H i e r a r c h i e stehen gleich h i n t e r d e m L o g o s u n d d e m Heiligen Geist die sieben erstgeschaffenen Engel (TIQOJZÖXTIOTOL), deren einzige A u f g a b e darin besteht, in u n e n d 30 licher H i n g a b e G o t t e s H e r r l i c h k e i t zu preisen (str. V , 3 5 , l ; e x c . T h d o t . 1 0 , 1 1 ; 2 7 , 3 — 5 ; ecl. 5 1 , 2 ; 5 2 , 1 ; 5 6 , 7 ) und den n ä c h s t h ö c h s t e n S t a n d , die E r z e n g e l , zu belehren; diese erfüllen dieselbe Pflicht bei den E n g e l n im e n g e r e n Sinne, die speziell für den M e n s c h e n zu s o r g e n haben. Die Schutzengel {enioxoiioi)

der M e n s c h e n k ö n n e n allerdings a u c h selbst „ G o t t s c h a u -

e n " (str. V , 9 1 , 3 ; vgl. M t 1 8 , 1 0 ) . F ü r jeden M e n s c h e n u n d für jedes V o l k ist ein eigener 35 Schutzengel z u s t ä n d i g ; die a u f D t n 3 2 , 8 ( L X X ) gestützte V o r s t e l l u n g , a u c h die V ö l k e r h ä t ten Schutzengel, s t a m m t a u s d e m J u d e n t u m (II H e n ; O r S y b ) ; C l e m e n s teilt sie mit J u s t i n (Dial. 1 3 1 , 1 ) und —»Irenaus ( h a e r . 111,12,9): D u r c h diese „ n i e d r i g e r stehenden E n g e l " soll den G r i e c h e n die P h i l o s o p h i e g e s c h e n k t w o r d e n sein (str. V I , 1 5 7 , 5 ; V I I , 6 , 4 ) . C l e m e n s erw ä h n t a u c h s o l c h e Engel, „ d i e den Aufstieg ü b e r w a c h e n " u n d „ d e n Z o l l e i n z u f o r d e r n h a 40 b e n " ; sie h a l t e n die n o c h n i c h t h i n r e i c h e n d gereinigten Seelen in i h r e m Aufstieg a u f (str. I V , 1 1 6 , 2 — 1 1 7 , 2 ) , bis sie ihren Z o l l b e z a h l t h a b e n ; a u s d e m T e x t g e h t nicht h e r v o r , o b es sich u m g u t e Engel handelt o d e r u m s c h l e c h t e , die a b e r v o n G o t t zu einem guten Z w e c k eingesetzt w e r d e n . M a n c h e Engel w u r d e n d u r c h die T ö c h t e r der M e n s c h e n v e r f ü h r t (vgl. G e n 6 , 2 ; ä t h H e n 6 , 2 ) und stürzten d a h e r v o m H i m m e l a u f die E r d e nieder (paed. 1 1 1 , 1 4 , 2 ; str. 45 111,59,2); sie h a b e n den g r i e c h i s c h e n P h i l o s o p h e n b e s t i m m t e G e h e i m n i s s e o f f e n b a r t (str. V , 1 0 , 2 f ) . W a h r s c h e i n l i c h sind sie m i t den „ a b t r ü n n i g e n E n g e l n " , d . h . den D ä m o n e n , identisch, zu denen a u c h der A p o s t a t s c h l e c h t h i n , der T e u f e l , g e h ö r t (str. 1 , 8 5 , 3 ;

111,31,3;

I V , 9 6 , 1 ; V , 1 2 7 , 4 ; V I I , 8 5 , 4 ; A d u m b r . in I Petr 1 , 1 2 ; in J d c 6 , 1 3 ; in I J o h 2 , 1 9 ) . W i e gefallene Sterne b e v ö l k e r n sie d a s D u n k e l ( A d u m b r . in J d c 6 ) . D e r T e u f e l — seinem N a m e n so

g e t r e u - v e r l e u m d e t (öiaßdXXeiv)

(diäßoXog)

die M e n s c h e n u n d klagt die S ü n d e r a n ; d u r c h H i n t e r l i s t

v e r s u c h t er, sie z u r Sünde zu verleiten. In den heidnischen G ö t z e n b i l d e r n w e r d e n s o l c h e D ä m o n e n a n g e b e t e t . D a s K o m m e n Christi h a t t e den Z w e c k , ihrer H e r r s c h a f t ein E n d e zu setzen.

108

Clemens von Alexandrien

5.1.8. Hit Heilsgeschichte h a t nach Ansicht von Clemens ihre dunklen und ungewissen Seiten und spielt sich möglicherweise - wie im Gnostizismus - auf mehreren Ebenen ab. „Er stellt sich Seelenwanderungen und mehrere Welten vor A d a m v o r " , sagt Photios (Cod. 109). In bezug auf den Sündenfall —»Adams ist Clemens' Lehre unklar: Danach sei der Mensch in seiner ursprünglichen Einfachheit der Lust erlegen (prot. 111,1)- Clemens d ü r f t e mit den Enkratiten (Cassianus?) darin übereingestimmt haben, daß Adams —»Sünde sexueller N a t u r war; die Sexualität an sich hält er zwar für nichts Schlechtes, der Mensch h a t jedoch den gottgewollten Z e i t p u n k t nicht abwarten können (str. 111,94,3). Er spricht wenig darüber, was vor der Vertreibung aus dem Paradies gewesen sei, und auch das ist widersprüchlich (vgl. jedoch prot. 25,3). Die Erlösung werde jedenfalls keine Rückkehr zu einem vorherigen Zustand bedeuten (anoxaräoraaig wird in einem anderen Sinne gebraucht; vgl. A. Mehat: VigChr 10 [1956] 1 9 6 - 2 1 4 ) , sondern den Z u g a n g zu einer höheren Stufe eröffnen (prot. 111,3). Die Menschheitsgeschichte sei die Geschichte der fortschreitenden Erziehung der Menschen durch Gott, und zwar mit Hilfe verschiedener, aus unterschiedlichen Zeiten stammender „Bündnisse" ( d i a d r j x a i ; vgl. H e b r 1,1); dazu zählen nicht nur die vier „Bündnisse" mit A d a m , N o a h , A b r a h a m und Moses (str. V,34,4; ecl. 51,1), sondern auch das besondere „ T e s t a m e n t " der Griechen, die Philosophie (str. VI, 67,1). Philosophie und mosaisches Gesetz bereiten als Erzieher auf die A u f n a h m e des Gotteswortes vor (str. 1,28,3). Das Eigentümliche des Christentums besteht darin, daß es Juden und Heiden in einem einzigen Volk und einem einzigen Glauben vereint (z.B. str. VI,1,2). Das zentrale Ereignis ist dabei nicht so sehr das —»Kreuz, die Erlösung und —»Auferstehung Christi, als vielmehr die Fleischwerdung des Logos. Neben dem Z w e c k des Anschaubarwerdens (str. V,16,5) wurde der Logos Fleisch, damit er den Menschen erziehen, von seinen Begierden befreien, die Wahrheit lehren und ihm —»Heil und Unsterblichkeit verschaffen könne (paed. 111,2,3), um ihn schließlich gottähnlich, ja sogar zu G o t t selbst zu machen (prot. 8,4; paed. 111,1,5). Clemens vertritt mit H e r m a s die Meinung, daß Christus in d i e - » H ö l l e hinabgestiegen sei und dort den nach dem alten Gesetz Gerechten gepredigt habe; selbst verstorbene Heiden hätten sich auf den Ruf der Apostel hin — sofern sie seiner würdig waren - bekehren können (str. 11,43,5; V I , 4 6 , 1 - 5 ) . In bezug auf die —»Eschatologie ist Clemens recht zurückhaltend, da ihn das Schicksal des einzelnen nach dem Tode weit mehr beschäftigt als das der ganze Menschheit und da er sich in bestimmten Punkten eine esoterische Schweigsamkeit auferlegt hat. In der geplanten Schrift Über die Auferstehung hätte er sicherlich neben der „geistigen Auferstehung" bzw. der moralischen Wiedergeburt (vgl. exc. T h d o t . 7,5; str. IV,100,3) auch die Auferstehung der Toten und Gläubigen am Ende der Zeit behandelt (str. 1,59,4; 111,48). Das „letzte Gericht" (str. 111,63,4; VII,12,5; 102,3) erwähnt er ebenso wie den „ L o h n " der Bösen und der Guten. O b er an eine Ewigkeit der Höllenqualen glaubte, ist noch umstritten. Er schloß sich jedenfalls der platonischen Theorie über die pädagogische Funktion der —»Strafe an. Dem ewigen Feuer schrieb er eine reinigende W i r k u n g zu - eine U r f o r m der Lehre vom —»Fegfeuer (vgl. G. Anrieh: F S H . J. H o l t z m a n n , 1902, 97 ff). Die nachdrückliche Betonung der drohenden Strafen etwa im Protrepticus k a n n sowohl von Seiten des Autors erzieherisch gemeint sein als auch einer pädagogischen Intention Gottes entsprechen. Die Hinweise auf die „vergebliche Reue" der Bösen und auf „ u n h e i l b a r e " Sünder (prot. 1,90,3; str. 1,171,4; VII,102,6) sind nicht entscheidend. Besonders betont werden hingegen die Unterschiede in der Belohnung und die künftige Reue all derer, die die höchsten Stufen (str. VI,109,4), das letzte Ziel, das als Ruhe, (himmlisches) Erbe oder äjioxaräaraoig bezeichnet wird, nicht erreichen konnten. Im Sinne einer von den „Presbytern" stammenden Auslegung des Gleichnisses vom Sämann, die auch bei Irenaus auftaucht, unterscheidet Clemens zwischen drei „ W o h n u n gen" (fiovai) innerhalb der himmlischen Glückseligkeit (str. VI,114). Nach ecl. 56—57 findet alle tausend Jahre ein Wechsel von einem Stand zum anderen statt, wobei jeder Stand zum Schüler des nächsthöheren wird und am Ende der jeweiligen Perioden an seine Stelle tritt. Diese von Origenes offenbar nicht ü b e r n o m m e n e Lehre wird von —»Evagrius Ponticus und dem späteren Origenismus erneut aufgegriffen.

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Clemens von Alexandrien

Die —»Kirche nimmt in der T h e o l o g i e des Clemens eine Stellung ein, die nicht immer richtig eingeschätzt wurde. Die irdische Kirche k o m m t als Abbild der himmlischen (str. I V , 6 6 , 1 ) fast nur in Z u s a m m e n h a n g mit letzterer zur Sprache. Dasselbe gilt für die kirchlichen Stände (Diakone, Älteste, Bischöfe, W i t w e n ) . In paed. 111,97,2 werden sie lediglich als ganz „bestimmte Personen" (TtQÖoama EXXEXTO.) bezeichnet, für die in der Bibel viele gutfe Lehren bestimmt seien und über die der Verfasser vieles zu sagen hätte, was er jedoch dann nicht tut. In str. V I , 1 0 7 und VII,3 beschreibt er sie als „ A b b i l d e r " der Herrlichkeit der Engel und der eschatologischen Heilsordnung. D e r G n o s t i k e r , der der Eschatologie vorgreift, gehört ganz zu Recht in diese Hierarchie; darin auch nur den Keim einer Auflehnung gegen das kirchliche Amt zu sehen, wäre voreilig. Der Episkopat im eigentlichen Sinne scheint lediglich den V o r r a n g eines Presbyters vor den anderen zu beinhalten. Die Kirche selbst ist der Wille (ßovXrjfia) Gottes zur Erlösung der M e n s c h e n ; ihr N a m e leitet sich von der Berufung (xXfjoig-, paed. 1,27,2) ab, die G o t t an den M e n s c h e n gerichtet hat. Die Bitte darum, „ d a ß der Wille Gottes auch auf der Erde wie im Himmel g e s c h e h e " ( M t 6 , 1 0 ) , bezieht sich auf diese Kirche, d. h. den Willen Gottes (str. I V , 6 6 , 1 ) , jene vom L o g o s gelenkte himmlische Stadt J e rusalem (str. IV, 1 7 2 , 2 ; V I , 1 0 8 , 1 ) . Die Kirche ist ein Heiligtum, das durch den Willen Gottes selbst zu einem Tempel gemacht und zur Ehre Gottes auf Grund voller Erkenntnis heilig geworden ist; sie ist kein O r t , sondern die Gemeinschaft der Auserwählten (str. V I I , 2 9 , 3 — 4 ) ; sie ist die von G o t t verheißene R u h e , in der der Gnostiker den Herrn „von Angesicht zu Angesicht" schauen darf (str. V I I , 6 8 , 4 — 5 ; vgl. I K o r 1 3 , 1 2 ) . Die wahre Kirche ist die wirklich alte Kirche, der die nach der V o r s e h u n g Gerechten schon vor der Weltschöpfung angehört haben (str. VII, 1 0 7 , 3 ) . D a es nur einen einzigen Herrn gibt, gibt es auch nur eine einzige Kirche; der Anfang ihres Entstehens ist etwas Einzigartiges (str. V I I , 1 0 7 , 6 ) . Nach Eph 4 , 1 2 f bleibt die Herstellung der Einheit der Kirche der eschatologischen Z u k u n f t vorbehalten. W i e später auch Origenes zitiert Clemens diese beiden Verse häufig in den letzten Büchern der Stromateis (vgl. Biblia Patristica, Paris, I 1 9 7 5 , 4 9 4 ) . 5 . 3 . 9 . Z u den „heiligen D i n g e n " g e h ö r e n schließlich auch die

Sakramente.

—>Taufe

bedeutet

gleichzeitig: G n a d e , die G a b e des G l a u b e n s und der G o t t e s e r k e n n t n i s , W i e d e r g e b u r t , V o l l e n d u n g , Erl e u c h t u n g , A n n a h m e d u r c h G o t t , R e i n i g u n g v o n d e n S ü n d e n , B e f r e i u n g s o w i e A u s g i e ß u n g des H e i l i g e n G e i s t e s ( p a e d . 1 , 2 6 - 2 8 ; vgl. A. O r b e : G r e g . 3 6 [ 1 9 5 5 ] 4 1 8 - 4 4 4 ) . D i e E u c h a r i s t i e ( - » A b e n d m a h l ) ist n i c h t n u r ein S y m b o l f ü r d i e A u f n a h m e d e s W o r t e s (str. V , 6 6 , 1 — 5 u . a . ) , s o n d e r n a u c h e i n e h e i l i g e „ M i s c h u n g " aus „ d e m G e t r ä n k und d e m W o r t " , durch die erst die V e r e i n i g u n g des M e n s c h e n mit G o t t möglich wird (paed. 1 1 , 1 9 - 2 0 ) . Z u r Praxis und T h e o r i e der—»Buße

ipierävoia)

bringt Clemens ganz offensichtlich widersprüchli-

c h e G e d a n k e n v o r , d i e in d e r F o r s c h u n g n o c h n i c h t v ö l l i g g e k l ä r t s i n d . E i n e r s e i t s k a n n d i e T a u f t h e o r i e ( H a r n a c k , W i n d i s c h ) in s e i n e m F a l l k e i n e A n w e n d u n g f i n d e n . I m

Paedagogus

b e t r a c h t e t e r es a l s g e g e -

b e n , d a ß die C h r i s t e n , deren S ü n d e n bei der T a u f e vergeben w u r d e n , weitersündigen und der B u ß e e b e n s o b e d ü r f e n w i e e i n e r E r z i e h u n g , d i e sie v o n d e r S ü n d e f e r n h ä l t ( p a e d . 1 , 4 , 3 ) . D i e S c h r i f t

ves salvetur ist

Quis di-

ein A u f r u f zur B u ß e , u n d die darin a b s c h l i e ß e n d erzählte G e s c h i c h t e über den zum R ä u -

b e r g e w o r d e n e n S c h ü l e r d e s A p o s t e l s J o h a n n e s , d e r v o n d i e s e m in d i e K i r c h e z u r ü c k g e f ü h r t w i r d , l ä ß t k e i n e n Z w e i f e l ü b e r d e r i m m e r v o r h a n d e n e n M ö g l i c h k e i t z u r B u ß e . In str. 1 1 , 5 7 , 2 h i n g e g e n s c h e i n t C l e m e n s H e b r 1 0 , 2 6 f g a n z w ö r t l i c h zu n e h m e n u n d e i n e z w e i t e B u ß e w i e H e r m a s , d e n e r z i t i e r t , a u s z u schließen. Letztlich g e s t e h t er d a n n die M ö g l i c h k e i t dieser zweiten - j e d o c h einmaligen - B u ß e zu, die zwar Verzeihung

(ovyyvw/it])

verschaffen k a n n , nicht a b e r eine Befreiung v o n der Sünde

(atpeaig) w i e

d i e T a u f e . D i e s e r R i g o r i s m u s ist teils a u f s e e l s o r g e r i s c h e u n d h o m i l e t i s c h e G r ü n d e ( P o s c h m a n n ) z u r ü c k z u f ü h r e n , teils a u f d i e U n t e r s c h e i d u n g ( K a r p p ) z w i s c h e n g e w ö h n l i c h e n

d.TäBeta

Christen u n d den zur

u n d z u r S ü n d l o s i g k e i t (str. 1 1 , 2 6 , 5 ) b e r u f e n e n G n o s t i k e r n .

5.2. Menschliche

Dinge

5.2.1. Die Anthropologie (—»Mensch) des Clemens hat im wesentlichen philosophischen Charakter. Als erster unter den Christen pflichtet er ohne Einschränkungen der Lehre Piatos von der Unsterblichkeit der —»Seele (str. V , 9 1 , l ) sowie der Unterscheidung zwischen Leib und Seele bei, allerdings mehr in einem moralischen als in einem metaphysischen Sinne. V o n Piaton übernimmt er auch die Dreiteilung der Seele in D e n k k r a f t (rö Xoyicmxov), Leidenschaft (TÖ dvßixov) und Begehrungsvermögen (ro emOvfirjTixov; vgl. paed. 111,1,2); das erstere setzt er mit dem principale mentis (rjyeßovtxöv) der Stoiker gleich. Die paulinische Tri-

110

Clemens von Alexandrien

chotomie (Leib, Seele, Geist; vgl. I Thess 5,23) wird zwar erwähnt (str. 111,68,5), jedoch zur Dichotomie Seele/Leib zurückgeführt (str. IV,163,2; V,61,3). In der Frage nach dem Ursprung der Seele schließt er sich dem Kreatianismus (Erschaffung jeder einzelnen Seele durch Gott bei der Geburt) und nicht dem Traduzianismus (Weitergabe der Seele bei der Zeugung) an (vgl. Karpp, Probleme). Die Leidenschaften werden durch unheilstiftende Mächte wachgerufen, die die „weiche" Seele mit verlockenden Vorstellungen beeindrucken (str. 11,110,1 ff). 5.2.2. Die erste Stufe des Fortschritts in der Gottesverehrung (str. 1,27,2) ist die —»Bekehrung, das Annehmen des —»Glaubens. In str. II wird mehrmals versucht, eine Definition des Glaubens zu geben. Clemens scheint folgende zu bevorzugen: „Der Glaube . . . ist eine Annahme {TtQÖXrjrpig) aus freiem Entschluß, eine zustimmende Anerkennung der Gottesverehrung" (str. 11,8,4). Er ist also eine aus freiem Entschluß erfolgte Anerkennung sowie ein Prinzip moralischen Handelns. Dieses Handeln hat einen praktischen Aspekt, der auf Einzelvorschriften basiert und im Paedägogus dargelegt ist, dem „Gesetzbuch" der guten Gesellschaft und der christlichen Moral. Gelenkt wird es allerdings durch philosophische Prinzipien: einerseits durch das System der in enger Wechselbeziehung stehenden Tugenden, andererseits durch die Definition des „Endziels" (str. II), d.h. durch die beiden Hauptelemente der Moraltheorie. Von den verschiedenen Definitionen des höchsten „Endziels" zieht Clemens diejenige vom „Gott Ähnlichwerden" vor, eine Formel, die sich zugleich von Piaton (Tht. 172 AB) und von der Bibel (Gen 1,26) herleiten läßt (-»Bild Gottes). Die Morallehre des Clemens umfaßt die klassischen Tugenden Besonnenheit, Gerechtigkeit, Ausdauer, Mäßigung, als eine Sonderform der Mäßigung die Enthaltsamkeit (str. III) sowie Standhaftigkeit (str. IV). 5.2.3. Die —>Ethik des Clemens gipfelt im Bild des vollkommenen Christen, des „wahren Gnostikers". Dieses Portrait entspricht dem Bild des Weisen im Stoizismus. Der christliche „Philosoph" zeichnet sich durch drei Merkmale aus: die „wissenschaftliche Betrachtung" (die Gnosis im eigentlichen Sinne), die Erfüllung der Gebote und die Heranbildung tüchtiger Männer (str. 11,46,1). Die —»Gnosis ist die „Vervollkommnung des Menschen als Menschen" (str. VII,55,1). Der Text unterscheidet sie deutlich vom Glauben und räumt ihr bereits in str. V einen höheren Stellenwert ein. In str. VII,57,4 wird der Übergang vom Glauben zur Erkenntnis als ebenso bedeutsam gewertet wie die Bekehrung vom Heidentum zum Glauben. Die Gnosis ist die Vollendung des Glaubens. Der Gnostiker besitzt alle Tugenden, vor allem aber die Nächsten- und die Gottesliebe. Stellt nun Clemens die Gnosis über die —»Liebe oder umgekehrt? Anhaltspunkte gibt es für beides: Gnosis und Liebe stehen wahrscheinlich in einer Wechselbeziehung zueinander. Hätte der Gnostiker aber zwischen Heil und Gotteserkenntnis zu wählen, so würde er sich sicherlich für die Gotteserkenntnis entscheiden; so unwahrscheinlich diese Hypothese auch ist, sie zeigt, daß für Clemens die Gnosis das höchste Gut ist (str. IV,136,2—5). Der Gnostiker betet nicht nur an bestimmten Tagen und zu bestimmten Stunden wie der gewöhnliche Christ; in ihm erfüllt sich das von Piaton stammende Ideal: Sein —»Gebet ist ein - mitunter stilles - Gespräch (ö[iiXia) mit Gott (str. VII,39,6). Das ganze Leben des Gnostikers ist Gebet; es gibt nichts Ungerechteres als etwa den Versuch heidnischer Philosophen, ihn als Atheisten darzustellen. Der Gnostiker greift bereits der eschatologischen Erfüllung vor. „Engelgleich" erklimmt er die Stufen des Aufstiegs in den Himmel, wird wirklich zum Sohn Gottes und erreicht vielleicht sogar die höchste Stufe, das Schauen Gottes „von Angesicht zu Angesicht" (str. VII,10,1—3; 12,3—13.56—57; 68,1—5). Der Zusammenhang zwischen Gnosis und Mystik ist noch umstritten (vgl. Camelot und Völker). 6. Nachwirkung In einem Brief an Origenes bezeichnet Alexander von Jerusalem um 220 Pantaenus und Clemens als seine Lehrer (Eusebius v. Caesarea, hist. eccl. VI,14,8). —»Origenes erwähnt Clemens zwar nie namentlich, scheint jedoch sein Werk fortsetzen und ergänzen zu wollen: So greift er in De Principiis ein Vorhaben von Clemens auf; zudem hat er ebenfalls Stro-

Clemens von Alexandrien

111

mateis verfaßt (die allerdings verloren sind). Clemens genießt in der alten Kirche als o ZTQWßaTevg hohes Ansehen: —»Eusebius von Caesarea, Epiphanius, —»Cyrillus von Jerusalem, —»Theodoret von Kyros, —»Hieronymus, Malalas und Photios rühmen gleichermaßen seine Heiligkeit und sein Wissen (Belege: O p . I [ G C S ] , I X - X V I ) . Er w u r d e jedoch mehr gelobt denn wirklich gelesen. Die Kommentare des Origenes trugen mit dazu bei, daß die Hypotyposeis in Vergessenheit gerieten. Arnobius und Firmicus M a t e r n u s benutzten beide den Protrepticus. Evagrius Ponticus und weitere Origenisten nach ihm hatten manche ihrer Lehren Clemens zu verdanken. Doch gerade dies sowie die Entwicklung der Theologie nach dem Konzil von Nizäa waren die Ursache d a f ü r , daß er von der O r t h o d o x i e ins Abseits gestelltwurde: Der Anstoß, den Photios im 8. Jh. bei der Wiederentdeckung der Hypotyposeis empfand, ist bezeichnend. Das Decretum Gelasianum (—»Gelasius I.) über verbotene Bücher (6. Jh.) erwähnt auch „ a p o k r y p h e Schriften" von Clemens, die nur schwer zu identifizieren sind; allein die Tatsache aber, daß er hier angeführt wird, zeugt von einem gewissen Mißtrauen. —»Cassiodor auf der anderen Seite trug trotz einiger Vorbehalte zur Erhaltung und Verbreitung der Adumbrationes bei. Clemens steht im Märtyrerverzeichnis des Usuard (9. Jh.) ; sein Fest wird in Paris am 4. Dezember begangen. Im Osten wird er von —»Maximus Confessor bei theologischen Auseinandersetzungen als Autorität zitiert; —»Johannes von Damaskus nimmt ihn in seine Sacra Parallela auf und eröffnet damit die Reihe der Clemenszitate in den byzantinischen —»Florilegien, zu denen dann in den Katenen auch exegetische Fragmente hinzukommen. Die erhaltenen Werke existieren allerdings nur in einer (Stromateis) oder zwei (Protrepticus, Paedagogus) Handschriften, wie das bei fast allen überkommenen vornizänischen Schriften der Fall ist. Mit der von Petrus Victorius besorgten Erstausgabe (1550) trat Clemens in das Blickfeld der modernen Gelehrsamkeit, Theologie und Philosophie. Vom 16. bis 18. Jh. war das evangelische, pietistische Deutschland an ihm interessiert (Magdeburger Zenturien [—»Kirchengeschichtsschreibung], Gottfried —»Arnold, J o h a n n Lorenz von —»Mosheim). —»Leibniz scheint sein Werk gekannt und Anregungen daraus geholt zu haben. In Frankreich wurde er von—»Fénelon in Le Gnostique de Saint Clément d'Alexandrie, einer aus dem Jahre 1694 stammenden, 1930 von P. D u d o n veröffentlichten kleinen Schrift zur Auseinandersetzung um den —»Quietismus, als Vorbereiter der mystischen, „reinen Liebe" beansprucht. In Rom erschien er bereits Baronius als suspekt und w u r d e später von Papst—»Benedikt XIV. (Postquam intelleximus, 1748) aus dem Märtyrerverzeichnis gestrichen, weil sein Leben zu wenig bekannt sei, er sich keiner öffentlich bezeugten Verehrung erfreue und eine zweifelhafte Lehre vertreten habe. Im 19. Jh. w a r das Interesse f ü r Clemens besonders bei denen lebhaft, die sich zur „alexandrinischen Schule" hingezogen fühlten, und blieb bei denen gering, deren Aufmerksamkeit durch Plotin und Origenes gefesselt w a r (Redepenning 1841 — 1846). Abgesehen von den historisch-kritischen Untersuchungen - die erste stammt von Theod o r von —»Zahn - , r u f t Clemens' Werk heute ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. Bei liberalen Historikern und Theologen (Overbeck, H a r n a c k , Tollinton) genießt er wegen seiner Offenheit und seiner Freude am Forschen große Sympathien; englischsprachige Wissenschaftler fühlen sich von seiner „ g e n t l e m a n h a f t e n " Art angesprochen, Künstler wiederum von seiner Subtilität. Bei den nach O r t h o d o x i e strebenden Theologen erregt er Unbehagen; systematische Denker werfen ihm eine gewisse Konfusion vor; manche Kirchen- und Dogmenhistoriker (Lebreton, Hausherr) können ihm nicht verzeihen, daß er der Volksfrömmigkeit eine fremde, wissenschaftliche Theologie übergestülpt und die Einfachen und die Vollkommenen so radikal voneinander getrennt hat. Die Fülle der Rätsel, die sein Werk aufgibt, m a g zwar die Liebhaber schnellgewonnener Erkenntnisse abschrecken, sie wird jedoch den Wißbegierigen faszinieren und hält vielleicht der Forschung auf dem Gebiet der christlichen Theologiegeschichte noch wichtige Entdeckungen bereit. Quellen GA: PG 8 - 9 . - Otto Stählin/Ludwig Früchtel/Ursula Treu, I 3 1 9 7 2 , II 3 1 9 6 0 , III 2 1 9 7 0 , IV 1936 (NB im Ersch.) (GCS).

112

Clemens von Alexandrien

Übersetzungen: Deutsch: O. Stählin, 5 Bde., 1 9 3 4 - 1 9 3 8 (BKV 7. 8. 17. 19. 20) (prot., q.d.s., paed., str.).-Englisch: W. Wilson,4 Bde., 1 8 6 7 - 7 2 (ANCL 4. 12. 22. 2 4 ) . - F ü r weitereTeileditionen, -Übersetzungen und Kommentare s. Altaner 8 190ff. 585 ff. Literatur 5

io

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60

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113

Clemens von R o m

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André M é h a t

Clemens von R o m 1. Erster Clemensbrief

1. Erster

2. Pseudo-Clementinen

3. Z u r Person (Quellen/Literatur S. 120)

Clemensbrief

1.1. Text. Griechischer Text in Cod. Alexandrinus (A, 5. Jh.) und Hs. 4 5 6 vom Heiligen G r a b (C, 11. Jh., Erstveröffentlichung 1875); syrische Version (S) in Add. Ms. 1700, 8. Jh. (?); lateinische Version (L, 11. Jh., entdeckt erst 1894); koptische Version Berlin Hs. Or. fol. 3 0 6 5 (Kb, 4. Jh.) und Straßburger Fragment (Ks, 5. Jh.). Zahlreiche Zitate in den Stromateis des —»Clemens von Alexandrien. Da A, C, S und L voneinander unabhängig sind, läßt sich durch Vergleich ein im allgemeinen zuverlässiger Text gewinnen. Die Fehler von A sind hauptsächlich solche des Schreibers; C neigt zur Revision, vor allem der alttestamentlichen Zitate; S gibt jedes Wort wieder, wenngleich häufig in Umstellung oder Paraphrase. Die Fassung L ist aufgrund sprachlicher Kriterien in das 2. Jh. zu datieren; da sie ebenso wörtlich wie nuancengenau übersetzt ( M o h r m a n n ) , ist sie sowohl für die Textkritik als auch für die Interpretation von Nutzen. 1.2. Zitate. Die oft recht umfangreichen alttestamentlichen Zitate machen ein Viertel des Briefes aus. Das Alte Testament, und zwar in einem noch unabgeschlossenen Kanon (vgl. die ähnlichen Formeln für —»Apokryphen und —»Pseudepigraphen 23,3; 46,2; 8,3), ist für den 1. Clemensbrief die große Autorität. Anders als in C sind die Zitate in A nicht an den rezipierten Text der Septuaginta (—»Bibelübersetzungen) angeglichen. Es besteht keine durchgehende N ä h e zu einer der Hauptrezensionen der Septuaginta, was darauf hindeutet, d a ß die griechischen Übersetzungen noch nicht in einer akzeptierten Standardform benutzt werden. Im Gegensatz dazu wird als einziges neutestamentliches Buch (ohne Zitat) nur „der Brief des seligen Apostels Paulus" e r w ä h n t (47,1). Z u den „ W o r t e n des Herrn Jesus" 13,2; 46,8 finden sich Parallelen in den Synoptikern, die aber nicht eng genug sind, um H e r k u n f t aus mündlicher Überlieferung auszuschließen. Aufgrund von Anspielungen ist Bekanntschaft mit R o m , vielleicht auch mit Gal, Eph u n d Phil zu vermuten. Kenntnis der Apostelgeschichte hat man aus 2,1 (vgl. Act 20,35) und 18,1 (vgl. Act 13,22) herausgelesen (obwohl die erstere Stelle aus einer Rede des Paulus, die letztere möglicherweise aus einer messianischen Sammlung stammt), eine solche der Apokalypse aus 34,3 (vgl. Apk 22,12 und die Verbindung von Jes 4 0 , 1 0 mit 62,11). Auch gibt es Ähnlichkeiten mit I Petr und Jak. Aber alle diese Entsprechungen mögen sich aus gemeinsamer Tradition und Thematik erklären.

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Die nächste Beziehung besteht zum —»Hebräerbrief, aber es wäre kühn anzunehmen, daß Hebr älter ist und daß I Clem ihn zitiert. In I Clem ist Christus der Hohepriester unserer O p f e r (36,1; vgl. I Petr 2,5; H e b r 13,15), nicht H o herpriester seines eigenen Opfers, u n d auf denselben Punkt läuft H e b r 8,3 hinaus. H e b r scheint demnach eine liturgische Tradition zu entfalten, die er mit I Clem teilt.

1.3. Form und Inhalt. Dieser Brief der römischen Gemeinde an die von Korinth über die Absetzung korinthischer Presbyter enthält viele Passagen, die für seine eigentliche Thematik belanglos erscheinen: über die kosmische O r d n u n g (20), die weltliche Gewalt (60 f), Gastfreundschaft (10-12), die Auferstehung (24—26) und über Krieg und Gefangenschaft, eine unwahrscheinliche Folge eines korinthischen Schismas (3,2). M a n hat vermutet, daß die Ereignisse in Korinth dem Verfasser n u r als Gelegenheit zu allgemeiner Apologetik dienten, um die Intervention der korinthischen Behörden abzuwehren (Mikat) oder die Beziehungen zwischen der römischen Gemeinde und dem Reich ins reine zu bringen (Dibelius); das Extrem in dieser Hinsicht ist die These, es handle sich um eine reine Apologie aus der Zeit H a drians, die den korinthischen Skandal aus einem verlorenen Clemensbrief entlehnt (Eggenberger). Aber der Schlüssel zur Form des Briefes sollte in den Zitaten aus dem Alten Testament gesucht werden, deren längste (in Kap. 16; 18; 39; 56; 57; 4; 35; 33; 8) um Sünde, Buße und Züchtigung kreisen. In diesem Licht erscheint er als Bußpredigt und seine Form als einsehbar, wenn auch abschweifend (da lange alttestamentliche Zitate zwar verwandtes, aber nicht unmittelbar zur Sache gehöriges Material einführen). Das Leitthema ist exponiert im Lob der korinthischen Gemeinde (1 f), deren Gehorsam gegenüber den Worten und Leiden Christi Frieden und damit die Ausgießung des Geistes und gegenseitige Langmut bewirkt. Die Rivalität (£rjÄos), die sie erschüttert, ist ein Streit zwischen Brüdern, der mit Kain und Abel beginnt, der zum M a r t y r i u m von Petrus und Paulus führte und allgemeine Unordnung schafft ( 4 - 6 ) . Z u ihrer Überwindung bedarf es der —>Buße (fxexä.voia)-, von ihr handeln nun die Kap. 7—20. Die Buße, die durch das Blut Christi in die Welt gebracht (7,4) und durch Gott mit einem Eid begründet w u r d e (8,2), verlangt einen umfassenden Sinneswandel, Glaubensgehorsam und die H i n w e n d u n g zu einem neuen Leben. Als Beispiele dieses Gehorsams werden H e n o c h , N o a h und Abraham vorgestellt (9 f), während A b r a h a m s Gastfreundschaft (10,7) zu Glauben und Gastfreundschaft von Lot und Rahab überleitet (11 f). Den immer noch Zögernden wird diese H a l t u n g als Quelle gegenseitiger Vergebung weiter eingeschärft (13 f). Sie sollen nicht den Hoffärtigen, sondern den Demütigen folgen (15-18). Um Frieden zu finden, m u ß Korinth zu seinem ursprünglichen Geist zurückkehren, da der Friede ein Geschenk Gottes ist (vgl. 2,1 f), der selbst den ganzen Kosmos in Frieden und Eintracht {¿fiovoia) ordnet (20,10). Der anschließende Teil ( 2 1 - 3 8 ) beschreibt unsere Reaktion in Übereinstimmung mit den Gaben Gottes: unseren Glauben an diese (22—27, darunter auch den Glauben an eine zukünftige Auferstehung) und unsere gehorsamen Werke. Ein Zitat aus Ps 50, endend mit dem „ O p f e r des Dankes" (35,12), leitet über zu dem „Hohepriester unserer O p f e r " (36,1); die „Feinde" a u s P s 2 (36,5) führen zu „unserem H e e r " (37,1—4) und seiner Einheit und somit zur Einheit eines Leibes (37,5) und „unseres Leibes" (38). Eine Zusammenfassung des ganzen Abschnitts gibt 38,4. Dieses eucharistische T h e m a wird in 39—45 weiter entfaltet. Friede und O r d n u n g kommen von Gott, nicht von der H o f f a r t der Menschen (39). Der H e r r hat im Alten Testament festgelegt, w o und durch wen unsere Opfer dargebracht werden sollen (40—44). Dieser O r d n u n g zuwiderzuhandeln, ist deshalb Sünde (44,4) und bedeutet, unter die Verfolger gerechnet zu werden (45). Zugleich ist das korinthische Schisma ein Verstoß gegen das Gemeinwohl ( 4 6 - 4 8 ) - daher der Lobpreis der Liebe (50) und Vergebung ( 5 1 - 5 3 ) . Die Unruhestifter sollen weggehen (54f) oder sich der Züchtigung unterwerfen (56 f). Es folgt eine Beschwörung im N a m e n des Herrn (vgl. I Kor 5,4f) sowohl der Bußfertigen (58) als auch der Verstockten (59,1 f), mit A n r u f u n g des N a mens ( 5 9 , 3 - 6 1 ) als der Quelle des Friedens für Kirche (60) und Staat (61). In Kap. 62 f wird der Brief summarisch als eine „Bitte um Frieden und Eintracht, geschrieben durch den Heiligen Geist" (63,2) bezeichnet, der, „ w a s sich für unsere Religion geziemt, genug behandelt"

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habe ( 6 2 , 1 ) - Ein Segen (64) und eine Nachschrift über die R ü c k k e h r der Boten (65) bilden den Schluß. Lemarchand sah Brüche im Text, die es erlauben, die Abschnitte 7 , 2 - 8 , 5 ; 1 1 - 1 2 ; 2 2 - 3 6 ; 4 8 , 5 - 5 0 , 7 ; 5 9 - 6 1 ; 64 als Einschübe aus einer anderen Homilie desselben Verfassers auszusondern; aber seine Argumente sind nicht überzeugend. 1.4. Die Ereignisse. Die Handschrift, aus der Bryennios 1 8 7 5 C veröffentlichte, enthielt außerdem die bis dahin u n b e k a n n t e —>Didache, die seinerzeit weithin als Hinweis auf den „ c h a r i s m a t i s c h e n " C h a r a k t e r des frühen Christentums aufgefaßt wurde. Ausgehend von der A n n a h m e , daß der Frühkatholizismus aus einem Konflikt zwischen —»Amt und —»Geist erwachsen sei, sah man in dem korinthischen Streit einen K a m p f zwischen Prinzipien - das Amt auf Lebenszeit, das die u n b e r e c h e n b a r e M a c h t des Geistes (Wrede), oder die bischöfliche Hauptversammlung, die die ursprünglichen „ c h a r i s m a t i s c h e n " Z u s a m m e n k ü n f t e von H a u s zu H a u s verdrängt (Sohm, a u f b a u e n d auf 4 1 , 2 ) - und somit einen M a r k s t e i n auf dem Weg des Christentums von einer Geistfrömmigkeit zur Institution. W o —»Harnacks Unterscheidung zwischen „ c h a r i s m a t i s c h e n " Kultämtern und Verwaltungsämtern akzeptiert wurde, galt I Clem als Beleg für die M o n o p o l i s i e r u n g des Gottesdienstes durch „Ersatzchar i s m a t i k e r " (Gerke); w o 5 4 , 2 als Schlüsselstelle verstanden wurde, vertrat der Brief, unter V e r k e h r u n g der Grundlage einer G e m e i n d e d e m o k r a t i e , die Sache des Geistes gegen M o n o polansprüche von „ C h a r i s m a t i k e r n " (Bultmann). Im T e x t selbst deutet jedoch nichts darauf hin, d a ß die Gegner „ C h a r i s m a t i k e r " waren. Eine solche T h e s e muß voraussetzen, daß er dasselbe Problem behandelt wie I K o r 1 2 — 1 4 (—»Korintherbriefe); aber weder läßt sich 4 7 , 1 — 4 für eine solche Interpretation anführen, noch findet sich irgendwo der paulinische Einwand, d a ß alle Ämter charismatisch seien. I Clem stellt christliche Amtsinhaber in eine Reihe, die mit Abel beginnt und M o s e s , Christus, die M ä r t y r e r und Apostel umfaßt. W e n n es ihm darauf angekommen wäre, hätte er zweifellos vorbringen k ö n n e n , daß diese M ä n n e r echte, keine Ersatzcharismatiker waren; da er jedoch auf dieses Argument verzichtet, dürfte der Gegenanspruch nicht erhoben worden sein. N i c h t weniger schwierig ist es, die Gegner als G n o s t i k e r anzusehen. Der G l a u b e an den Schöpfer und die geschaffene Ordnung ist Ausgangspunkt, nicht Ziel des G e d a n k e n g a n g s . Die Sprache der —»Gnosis wird für eine ethische Erkenntnis Christi und eine Fähigkeit zur Auslegung des Alten Testaments verwendet ( 3 6 , 2 ; 4 0 , 1 ; 4 8 , 5 ; 5 9 , 2 ) , o h n e die Spur einer Polemik gegen andere Auffassungen. D e r 1. Clemensbrief scheint sich, selbst in der D e u t u n g des Alten Testaments (vgl. dagegen B a r n ! ) , keinerlei Lehrstreitigkeiten bewußt zu sein. Wenn der Verfasser die ursprünglich stoische Vorstellung von der Erneuerung des Kosmos zugunsten der Auferstehung anführt ( 2 8 , 3 - 2 6 ) , so wird damit die Auferstehung des Leibes vorausgesetzt, nicht verteidigt. Seine Absicht ist lediglich, die Hoffnung auf die Zusagen Gottes (26,1) und „eine zuversichtliche Erkenntnis der Zukunft" (31,3) wiederherzustellen. W a s sich mit Sicherheit sagen läßt, ist nur, d a ß die Gegner niemals eines unsittlichen Lebenswandels bezichtigt werden, d a ß ihre Z a h l gering ist ( 4 7 , 6 ) , d a ß sie jünger ( 3 , 3 ) , h o c h fahrend und zornmütig sind ( 1 3 , 1 ; 1 4 , 1 ) , wenngleich von einem Edelsinn, der sie ansprechb a r m a c h t ( 5 4 , 1 ) . Alles dies muß nicht mehr besagen, als d a ß sie nach den führenden Stellungen strebten ( 5 7 , 2 ) . 1.5. Hintergrund. Vom —»Hellenismus beeinflußt sind die Einstellung zur weltlichen Regierung (61) und die Argumente für die —»Auferstehung ( 2 2 - 2 5 ) . Dibelius verweist auf die Verwendung nicht nur stoischer Terminologie (—»Stoa/Stoizismus), sondern auch konventioneller paränetischer Motive, wie sie bei Epiktet und Dion von Prusa vorkommen. Knoch meint, daß der 1. Clemensbrief, obwohl er die traditionelle —»Eschatologie rekapituliert (z.B. 2 3 , 3 - 5 ; 28,1; 42,3), dennoch die Erlösung einfach zur Erfüllung der Schöpfung gemacht und das Christentum durch eine moralisierende und kosmologische Deutung hellenistischer Prägung „verbürgerlicht" habe. Die moralisierende Tendenz ist nicht zu leugnen, auch wenn eine tropologische Interpretation unvermeidlich erscheint, wo es darum geht, Gläubige an die unmittelbaren Konsequenzen ihres Glaubens zu erinnern. Wenn wir von Paulus nur den mit ähnlichem Ziel geschriebenen 2. Korintherbrief hätten, könnte auch er der Nivellierung der Eschatologie beschuldigt werden. Der Gipfel des Hellenismus ist in der Kosmologie von Kap. 2 0 gesehen

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worden, deren wahrhaft hellenistischen Charakter jedoch van Unnik bestreitet: bei aller stoischen Begrifflichkeit liege doch der Hauptakzent nicht auf einer naturimmanenten Ordnung, sondern auf dem Machtwort Gottes, wie es für palästinisch-jüdische Quellen typisch ist. Beyschlag betont die jüdischchristlichen Haggada-Motive, besonders in 4 - 6 und 1 0 - 1 2 . Zu a r i U o i [Säulen] in 5 , 2 vgl. IV M a k k 1 7 , 3 ; Apk 3 , 1 2 ; zu „tiefer Friede" (2,2) vgl. IV M a k k 3 - 2 0 ; zu Krieg und Gefangenschaft als Folge von Schisma (3,2) vgl. TestDan 5. Er findet in I Clem die Reduktion einer ursprünglich dualistischen Tradition und nimmt unter Verweis auf die (viel spätere) Vita Adae et Evae an, daß I Clem 4 eine ursprüngliche Syzygie, den Teufel und Adam, ersetzt habe. Aber könnte es sich nicht um einen einfachen Midrasch zu Weish 2 handeln, der nichts von Adam weiß? Nach Jaubert ist das Heer von 3 7 nicht das römische Heer (in L fehlt „unser": 3 7 , 2 ) , das keine Führer von Fünfzigschaften kannte, sondern bezieht sich auf den Krieg der Christen, angelehnt an I M a k k 3 , 5 5 (vgl. 1 QS 2 , 2 1 f; 1 QSa 1 , 1 4 . 2 9 usw.). Sanders findet im 1. Clemensbrief unter der stoischen Ausdrucks weise eine durch und durch paulinische Theologie. Nicht nur gibt es Parallelen ( 2 4 : 1 Kor 15; 3 7 , 5 : I Kor 12; 4 9 : 1 Kor 13; 2,1: Gal 3,1; 10,6: Rom 4 , 3 ; 19,3: Eph 1,18 usw.; vgl. aber 4 0 , 1 f mit Gal 4 , 1 0 ) , sondern wir werden auch gerechtfertigt durch den Glauben (32,4), d . h . das Vertrauen in die Zusagen Gottes ( 9 - 1 2 ) im Blick auf das Blut Christi (7,4). Der Antagonismus in 3 0 , 3 besteht nicht zwischen Glauben und Werken (Rom 3 , 2 8 ) , sondern zwischen Taten und Worten, wozu nicht nur Jak 2 , 2 4 , sondern auch Rom 2 , 1 3 - 1 6 zu vergleichen ist. Die Einschätzung der weltlichen Regierung entfaltet den Gedankengang von R o m 1 3 , 1 - 7 . Die kosmische Ordnung von Kap. 2 0 mag in Gegensatz zur „Nichtigkeit" von R o m 8 , 2 0 - 2 2 stehen, fügt sich aber zu Rom 1 , 2 0 ; und selbst an der ersteren Stelle wird die Erlösung vor dem Hintergrund von Gottes Schöpfungswerk gesehen. Gewiß nimmt I Clem nur Aspekte des Paulinismus auf, aber man muß sich auch stets die begrenzte Intention der Schrift vor Augen halten. 1.6.

Kirchenverfassung.

W ä h r e n d in 4 4 , 4 f diejenigen, die die G a b e n der iniaxonrj

g e b r a c h t h a b e n ( L : munera

episcopatus),

dar-

als „ P r e s b y t e r " bezeichnet w e r d e n , e r w ä h n t 4 2 , 4 f

die E i n s e t z u n g v o n B i s c h ö f e n u n d D i a k o n e n , nicht einfach v o n B i s c h ö f e n . G e r k e folgert d a r a u s , d a ß n i c h t n u r B i s c h ö f e , s o n d e r n a u c h D i a k o n e zur emoxomj mit denxaOeota/tevoi

JCQEaßvreQOi

( L : constitutipresbiteri),

5 4 , 2 g e m e i n t sind. N e b e n den 7iQ£(jßvT£QOi r e r " (tfyovfievot,

praepositi

[Älteren] u n d den veoi

[ 1 , 3 ] ; JiQorjyovfievoi,

ten m i t d e n weltlichen r/yovfiEVOi

(principes,

qui pro 3 7 , 2 ; duces,

gerechnet werden und

den „bestellten Ä l t e s t e n " , v o n nobis

[Jungen] werden „Füh-

[ 2 1 , 6 ] ) g e n a n n t . Sie k ö n n -

6 0 , 3 ) identisch sein, e n t s p r e c h e n

a b e r eher den „bestellten Ä l t e s t e n " . D a ß n u r einige der P r e s b y t e r a b g e s e t z t w u r d e n ( 4 4 , 6 ) , w a s oft s o a u f g e f a ß t w o r d e n ist, als h a b e der Angriff P e r s o n e n , n i c h t Ä m t e r n gegolten, k ö n n t e einfach b e d e u t e n , d a ß der Kreis der Presbyter sich n i c h t a u f die bestellten B i s c h ö f e u n d D i a k o n e o d e r s o g a r nur einen

B i s c h o f und D i a k o n e b e s c h r ä n k t e . D i e u n g e z w u n g e n e

D e u t u n g d e r a l t t e s t a m e n t l i c h e n R e g e l in 4 0 , 5 legt einen B i s c h o f mit einer Liturgie, D i a k o n e m i t einem Dienst u n d P r e s b y t e r m i t lediglich einem röjiog,

einem E h r e n r a n g (vgl. A p k 4 , 4 ) ,

nahe. Diese Ordnung ist weder der alttestamentlichen Praxis nachgebildet, wo die liturgischen Funktionen normalerweise den Priestern zukommen, noch bloß ein allgemeines Beispiel, da der ganze Kontext von Kap. 4 0 f durch 4 0 , 3 bestimmt ist. Es handelt sich vielmehr um einen autoritativen Wahrspruch des Alten Testaments. In dieser K i r c h e n v e r f a s s u n g ( r ä £ i g , ordo)

fließen dieselben drei T r a d i t i o n s s t r ä n g e zu-

s a m m e n w i e in d e m Brief i n s g e s a m t . B l u m , der die s t o i s c h e V o r l i e b e des I C l e m für die W u r zel zay-

b e m e r k t , v e r s t e h t die d a m i t b e z e i c h n e t e O r d n u n g v o m hellenistischen T a g m a b e g r i f f

her als eine h a r m o n i s c h e A n o r d n u n g v o n Teilen. J a u b e r t findet e b e n s o eine K u l t o r d n u n g , in der alle ihren Platz h a b e n (vgl. II C h r 3 5 , 1 0 - 1 2 ; 1 QS 2 , 2 2 ; 1 Q S a 1 , 2 3 ) . W e i t e r steckt d a r i n a u c h eine judenchristliche S u k z e s s i o n s o r d n u n g : die bestellten Ältesten stehen in der N a c h folge der M ä r t y r e r a p o s t e l u n d Christi u n d sind so mit der M ä r t y r e r r e i h e v o n Abel an verknüpft. Die kirchliche Sukzession erfolgt qua Einsetzung durch den Vorgänger (42,3); denn wenn mit den „angesehenen M ä n n e r n " nicht „apostolische M ä n n e r " wie Timotheus und Titus gemeint sind, bliebe die Argumentation von 4 2 ohne Pointe. D e r dritte S t r a n g leitet sich v o n P a u l u s her: die Sukzession ist eine v o n E r s t l i n g s f r ü c h t e n ( 4 2 , 4 ; vgl. I K o r 1 6 , 1 5 f), u r s p r ü n g l i c h v o n E r s t b e k e h r t e n , „ Ä l t e s t e n in C h r i s t u s " , jetzt aber v o n M ä n n e r n , die u m der ihnen v o n G o t t verliehen F r u c h t b a r k e i t willen a u s g e w ä h l t w e r d e n

Clemens von R o m

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(so zu schließen aus 4 3 , 5 , wo A a r o n s Stab nicht nur Knospen, sondern Früchte treibt). Der Begriff der Erstlingsfrucht wird auch auf die Kirche als ganze angewandt: aus dem alten Israel, selbst ein Erstling, geht das äyia àyiayv, das Allerheiligste, hervor, Gottes besonderer Teil ( 2 9 , 3 ; vgl. J a k 1 , 1 8 ; I Chr 3 1 , 1 4 ; Ez 4 8 , 1 2 [ L X X ] ) . Die so verstandene Kirchenordnung umfaßt auch den Laien ( A a i x ò g ävdgconog, L: plebeius homo, 4 0 , 5 ; 4 1 , 1 ) . Zweifellos liegt hier eine Gemeindedemokratie vor (vgl. 5 4 , 2 ) , aber nicht eine D e m o k r a t i e von „ G l e i c h b e rechtigten", sondern eine nach Ehre und W ü r d e gestaffelte Hierarchie, in der jeder seinen entsprechenden Platz einnimmt (vgl. 1 Q S 5 ; 1 Q S a 2). Wie in —»Qumran ist die Kirchenordnung nicht administrativ, sondern eschatologisch geprägt, zielt aber im Einklang mit der Schöpfungs- und Erlösungslehre des I Clem weniger auf einen eschatologischen Krieg als auf eine eschatologische Ernte. „Ein jeglicher in seiner O r d n u n g " ( t v TÖ> ìòi(p zäyfiazi, 41,1) stammt nicht aus der H a r m o n i e der Ämter und charismatischen G a b e n in I Kor 1 2 , auch nicht aus I K o r 1 4 , w o von r ä ^ i g nicht die Rede ist, sondern aus der Auferstehungsernte von I Kor 1 5 , 2 3 (vgl. 2 1 , 1 ) . Die Autorität, mit der Rom in Korinth eingreift (in einem Text, der sich selbst als inspiriertes apostolisches Schreiben darstellt [59,1; 63,2], beginnend nach dem Muster von I Kor 1 , 1 - 3 und endend mit einer Beschwörung im Namen des Herrn), entspringt sicher einem Ehrenprimat als primus inter pares (Ziegler). Aber in der vornicänischen Kirche gab es keinen „bloßen" Ehrenprimat ohne Autorität-vgl. Cyprians „Ehre des Bischofs" (Ep. 33,1) mit can.7 von -»Nicäa, dem ersten Beleg für „bloße Ehre". 1.7. Verfasserschaft und Entstehungszeit. D e r G r u ß enthält keine N a m e n (vgl. dagegen I Kor 1 , 1 ; Polyk). N a c h Dionysius von Korinth wurde er „von C l e m e n s " verfaßt (óià KXfj^evTog: Eusebius, hist. eccl. I V , 2 3 , 1 1 ) ; —»Irenaeus m a c h t die genauere, aber angesichts seiner Auffassung vom Bischofsamt nicht widersprechende Angabe: „in der Zeit dieses Clemens . . . sandte die Kirche von R o m einen B r i e f " (haer. 111,3,3). Diese frühen Belege sind von den meisten K o m m e n t a t o r e n für ausreichend erachtet worden. Für Merrill, der die Existenz des Bischofs Clemens bestreitet, ist der Autor der Clemens von Herrn vis 11,4,3, ein Zeitgenosse von Pius und daher kein Bischof; seine These basiert auf der Annahme, daß dieser Teil des —>Hermas um 140 geschrieben und nicht bewußt vordatiert wurde und daß es ein ansonsten nicht bezeugtes Amt des Kirchensekretärs gab. Für Eggenberger, der den Brief aufgrund vermeintlicher Zitate aus Dion von Prusa in der Zeit Hadrians ansetzt, paßt die Beschreibung von Irenaeus nicht auf unseren Brief, der vielmehr an die Stelle eines verlorenen I Clem getreten sein muß. Er erwähne nirgendwo „den Teufel und seine Engel" (vgl. aber 51,1). Aber der 1 Clem ist Irenaeus' einziges Beispiel für apostolische Sukzession, und sein Resumé ist ohne Zweifel von seinem eigenen „Kanon der Wahrheit" geformt. Die früheren K o m m e n t a t o r e n identifizierten die Ereignisse von Kap. 5 f mit der Verfolgung unter N e r o (—»Christenverfolgungen), der einzigen bekannten Situation, die der „großen M e n g e " (JIOÀÌJ iiArjdog) von 6 , 1 Rechnung trägt (vgl. multitudo ingens-. T a c i t u s , an. 1 5 , 4 4 , 5 ) , und datierten deshalb den Brief auf das Ende von dessen Regierungszeit. Lightfoot jedoch bezieht „dieselbe Arena, derselbe K a m p f " ( 7 , 1 ) nicht auf den allgemeinen K a m p f gegen den t,fjkoGnosis (3,1) u n d eine d u r c h die T a u f e vermittelte Erleuchtung ( 1 , 4 - 6 ; 9 , 2 ; vgl. (pwziofiög: Justin, Apol. 1,61,12) berief. Die A u f f a s s u n g der Gegner von der —»Taufe, in der C h r i s t u s uns erlöst hat (Aorist eawaev. 1 , 1 - 7 ; dagegen später „wir w e r d e n erlöst w e r d e n " ) , wird akzeptiert, nicht aber ihre vermeintlichen Konseq u e n z e n : die A b l e h n u n g der f u t u r i s c h e n Eschatologie (11,2; vgl. II Petr 3,4; I Clem 23), der A u f e r s t e h u n g des Leibes (9,1; vgl. I Kor 15,12; II T i m 2 , 1 8 ; I Clem 2 4 - 2 6 ) u n d der N o t wendigkeit von W e r k e n (doch scheinen die Gegner w e d e r A n t i s o m a t i k e r noch Antikosmiker gewesen zu sein). Der Verfasser h e b t h e r v o r (vgl. Clem. H o r n . 11,26 f), d a ß unsere T a u f e rein gehalten w e r d e n m u ß (6,9; 7 , 6 ; 8,6), d u r c h einen G e h o r s a m (3,4) nicht n u r der Lippen, s o n d e r n des Lebens im Fleisch ( 9 , 2 f ) , d a m i t das Ä u ß e r e d e m Inneren gleiche (12,4). Seine Lehre ist nicht statisch: er redet nicht n u r von einem Wettlauf (7,3), s o n d e r n auch von einem Fortschritt (TiQOXOJtTEiv, 17,3). W e n n er s o w o h l die H o f f n u n g auf w a h r e u n d ewige Lust (rjöovrj, 15,5; das in der Regel pejorativ g e b r a u c h t e W o r t w i r d anscheinend ganz gezielt eingesetzt) als auch die Angst vor d e m Gericht (1,1; 8; 16,3; 1 7 , 4 - 7 ) ins Feld f ü h r t oder i m m e r wieder von¡iioQög u n d ävzifwjdia redet ( „ L o h n " u n d „ V e r g e l t u n g " , hier jedoch s y n o n y m v e r w e n d e t : 1,5), so m a g m a n d a h i n t e r (bei aller B e t o n u n g des vorausgesetzten G l a u b e n s : 20,4) eine Heilslehre des do ut des v e r m u t e n ; aber eine solche D e u t u n g w ü r d e seinem Denk e n nicht gerecht. T>\tavrifiia6Ca von 1,3 ist nicht ein u n a b h ä n g i g e r menschlicher A n s p r u c h n o c h eine G e n u g t u u n g f ü r Sünde, s o n d e r n eine Reaktion auf die G ü t e Gottes, ein D a n k oder eine Eucharistie (18,1) des Lobes (1,5; 9,10) u n d d e r ^ e r a v o t a (9,8), ja ausdrücklich eine F r u c h t (xaßjiog) unserer Erlösung d u r c h Christus (1,3; vgl. die volle F r u c h t b a r k e i t im H i m m e l 11,3; die B e t o n u n g der F r u c h t b a r k e i t in I Clem, Herrn). Dies h a t seine A u s w i r k u n g a u f die F o r m der E r m a h n u n g . Die W e n d u n g „ n a c h d e m der G o t t der W a h r h e i t geredet h a t . . , w a s geschrieben s t e h t " (19,1) d e u t e t d a r a u f hin, d a ß der T e x t nach einer Schriftle-

122

Clemensbrief, Zweiter

sung vorgetragen werden sollte. Knopf postuliert, daß diese mit Jes 54,1 begann (in 2,1 ohne Stellenangabe zitiert). Wenn man den Gedanken der „Unfruchtbaren, die gebiert" als Leitmotiv nimmt, gewinnt das Werk Kohärenz. Die merkwürdige Exegese in 2,2 könnte bedeuten, daß unsere ävTifiiadia oder xagnog nicht nur eine Mühe, sondern dankbare Antwort sein sollte — ein durchgehendes Hauptthema. „Unsere Kirche" (2,1) ist nicht nur die Kirche der Nichtjuden im Gegensatz zu den Juden (Gal 4,27) oder Judenchristen (Justin, Apol. I, 53), sondern erscheint in 14 als „die erste, die geistliche, vor Sonne und Mond geschaffene Kirche", die zuerst als das Fleisch und im Fleisch Christi hervorgetreten ist und Kinder erzeugt hat. 3. Herkunft

und

Datierung

Angesichts der Verbindungen zwischen dem Osten und der griechischsprechenden westlichen Kirche des 2. Jh. ist die „alexandrinische" Redeweise von 14 kein ausreichendes Argument für ägyptische Herkunft (gegen Bartlett; Harris); auch zitiert 12,2 nicht EvÄg, sondern stimmt vielmehr mit EvThom 23 in Form und Inhalt gegen EvÄg überein. Die Überlieferung mit I Clem als „an die Korinther" gerichtet, zusammen mit der Erwähnung einer Schiffsreise (xaranXeovaiv, 7,1) zu den (Isthmischen) Spielen, deutet daraufhin, daß das Werk zur Verlesung in Korinth gedacht war. Donfried meint, es sei dort auch geschrieben worden, und zwar von den durch I Clem wieder installierten Presbytern; er setzt darum die Entstehungszeit auf 9 8 - 1 0 0 an. Nach seiner These erfolgte die vorangegangene Lesung (19,1) aus I Clem, nicht aus dem Alten Testament. Spezielle Bezüge auf den korinthischen Streit sieht er in fiujdög (19,1): der „Vergeltung für einen unrecht behandelten Presbyter", und in a ßovXopiai (13,2): „was ich, der Presbyter, will".

Da wir sonst keine Zeugnisse für geschriebene Predigten aus dem 2. Jh. kennen, spricht mehr für eine anderweitige Herkunft. Harnack wollte in dem Werk „euren Brief" erkennen, von dem Dionysius von Korinth an Soter von Rom schreibt (Eusebius, hist. eccl. IV,23). Während das Fehlen der normalen Briefform kein durchschlagender Einwand ist—im 3. und wahrscheinlich auch im 2. Jh. war jede adlocutio transmissa ein „Brief" —, fällt es doch schwer, an eine Zuweisung an Soter in den 160er Jahren zu glauben. Die Zitate und Anspielungen deuten daraufhin, daß „II Clem noch weithin von einer mündlichen, im Gegensatz zu einer schriftlichen Evangelientradition abhängt" (Donfried); und ein orthodoxer Autor nach 130 hätte kaum so ungeschützt Begriffe und Vorstellungen verwandt, die durch die Häresie der Gnosis —»Valentins in Verruf geraten waren. Nachdem Soter als Autor des II Clem mit einiger Sicherheit ausscheidet, hat man in Hermas, dem Bruder des Pius, einen anderen römischen Verfasser finden wollen; aber die zweifellos vorhandenen Ähnlichkeiten mit dem Hirten sind dafür doch nicht eng genug. Es bleibt die Möglichkeit oder gar Wahrscheinlichkeit, daß es sich bei dem II Clem um eine zweite adlocutio transmissa von Rom handelt (nicht „dein", sondern „euer", d. h. ein römischer Brief) - ein früheres Beispiel jenes „erblichen Brauchs", den Soter selbst vielleicht nicht durch Briefe geübt hat, sondern „indem er die Brüder, die nach Rom kommen, ermahnte" (Eusebius, hist. eccl. IV,23,10). Quellen Karl Bihlmeyer, Die Apostolischen Väter, 1 1 9 2 4 2 1 9 5 6 = 3 1 9 7 0 (SQS 2 / 1 ) 7 1 - 8 1 . - Joseph Barber Lightfoot, The Apostolic Fathers, London, 1/2 2 1 8 9 0 , 1 9 1 - 2 6 1 . - Rudolf Knopf, Die Apostolischen Väter, 1920 (HNT Erg. Bd.) 1 5 1 - 1 8 4 (Übers, u. Komm).

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Clinical Pastoral Training

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Douglas Powell Clinical Pastoral Training 1. Unter diesem Stichwort bzw. unter seiner Abkürzung CPT wurde ein Modell integrierter praktisch-theologischer Ausbildung bekannt, das soziales Erfahrungslernen und konventionelles Textstudium im Sinne „empirischer Theologie" (Boisen, Gruehn u. a.) aufeinander zu beziehen versucht. Um dem Mißverständnis vorzubeugen, es handle sich um eine Art Methodentraining, hat man in den USA den Terminus Training durch Education ersetzt ( C P E ) , während sich in deutschsprachigen Ländern der Ausdruck „Klinische Seelsorgeausbildung" (KSA) eingebürgert hat. - Die Teilnehmer an einer dreimonatigen KSA (Grundeinheit) arbeiten täglich im kirchlichen Praxisfeld (ursprünglich in psychiatrischen Kliniken, dann auch im Strafvollzug und in Pfarrgemeinden) und reflektieren ihre Erfahrung unter Einzel- und Gruppensupervision. Über ihre Arbeit erstatten sie regelmäßig schriftlich Bericht. Alle zusätzlich gebotene Fachinformation (Referate aus theologischer, medizinischer, sozialwissenschaftlicher Sicht; Literatur) soll sich streng auf die tatsächlich während des Kurses erfahrbare Praxis beziehen. Die Supervisoren sind meist hauptamtliche Anstaltsseelsorger mit pastoralpsychologischer Zusatzausbildung. Im einzelnen variieren die Kursprogramme je nach theologischer und psychologischer Ausrichtung der KSA-Zentren und ihrer Supervisoren. Durchgängige Elemente eines jeden KSA-Kurses sind: Erfahrungslernen

im sozialen Praxisfeld durch trial and error sowie unter Supervision, systematische lung und Reflexion dieser Erfahrung einzeln und in der Gruppe, Erarbeitung eines

Darsteltheoreti-

schen Bezugsrahmens unter Zuhilfenahme von Fremdinformation. KSA beschränkt sich weder auf die Ausbildung von Krankenhauspfarrern - der Ausdruck „klinisch" bezieht sich zum einen auf den empirischen Kontext des Praxisfelds, zum anderen auf die Klinik als umfassendes Arbeitsgebiet für den Kursteilnehmer — noch auf die Einübung bestimmter Methoden oder Wahrnehmungseinstellungen seelsorgerlicher Beratung. Die exegetischen, homiletischen und katechetischen, aber auch die organisatorischen (Gemeindeaufbau) u.ä. Fähigkeiten des Kursteilnehmers werden mindestens ebenso herausgefordert wie seine poimenischen. Das Charakteristikum der KSA ist also die spezifische Zuordnung von theoretischem und Erfahrungslernen im Rahmen eines „klinischen" Ausbildungsmodells, dessen Grundeinheit die dreimonatige Klausur auf dem Praxisfeld darstellt. 2. Clinical Pastoral Training begann 1925, als in den USA die ersten vier Theologiestudenten am Worcester State Hospital unter der Supervision des Pfarrers Anton T . Boisen ( 1 8 7 6 - 1 9 6 5 ) ein klinisches Praktikum absolvierten. Nach Boisen, der als der Vater der Seelsorgebewegung (—>SeeIsorge) gilt, sollten die Teilnehmer anhand „lebender menschlicher Dokumente" Theologie studieren; denn er verstand besonders die Gemütskranken aufgrund eigener Krankheitserfahrung und unter Bezugnahme auf die beginnende tiefenpsychologisch fundierte Psychosomatik als Offenbarungsträger. Seine Schüler - unter ihnen international bekannt gewordene Pastoraltheologen wie S. Hiltner, Th. Klink und C . A . Wise — entwickelten aus Boisens Konzept und in schöpferischer Auseinandersetzung mit dem auf Russell L. Dicks u.a. zurückgehenden Modell seelsorgepraktischer Fallarbeit im Allgemeinkrankenhaus sowie unter Berücksichtigung neu aufkommender kommunikationspsychologischer Lebensberatungsmodelle (z.B. dem der Gesprächstherapie nach Carl

124

Clinical Pastoral Training

R. Rogers) pastoralpsychologische Seelsorgepraktika. Der Akzent verschob sich auf die Technik der Gesprächsführung, obwohl repräsentative Theoretiker wie S. Hiltner Boisens ursprünglichen Ansatz im Prinzip nie aufgegeben haben. Heute ist eine Abkehr von gesprächs- und kommunikationsmethodischer E n g f ü h r u n g zu beobachten, indem wieder stärkeres Gewicht auf ganzheitliche Reifungsvorgänge, seelsorgerliche Haltung, theologische Identität des einzelnen und der Gemeinschaft sowie auf die Integration von Person, Rolle und Funktion gelegt wird. 3. In den USA arbeiten heute ca. 3 0 0 KSA-Zentren, in der Bundesrepublik Deutschland sind es z. Zt. etwa 15. Letztere werden in aller Regel von den einzelnen Landeskirchen getragen, während an der Kirchlichen Hochschule Bethel ( ^ H o c h s c h u l e n , kirchliche) in Bielefeld in Z u s a m m e n a r b e i t mit der EKiD ein überregionales Seelsorge-Ausbildungsinstitut entstand, das die Möglichkeit bietet, Theologiestudium, diakonischen Dienst und Seelsorge in Theorie und Praxis aufeinander zu beziehen. Die Kooperation von gemeinsam lernenden studentischen Anfängern und erfahrenen Praktikern, die sich in Bethel fortbilden wollen, erweist sich dabei als besonders fruchtbar. Die KSA auf dem Kontinent wurde zum einen direkt durch ökumenische Stipendiaten, die aus den USA zurückkehrten, gefördert, zum anderen indirekt durch den starken pastoralpsychologischen Einfluß, den die Niederlande nicht nur auf die deutschsprachigen europäischen Kirchen n a h m e n : W. Zijlstra wurde Leiter des ersten KSA-Zentrums auf dem Kontinent, H. Faber schrieb den ersten deutschsprachigen ausführlicheren Bericht über die KSA in den Vereinigten Staaten. Faber leitete auch die erste internationale Z u s a m m e n k u n f t von Pastoralpsychologen 1966 in Driebergen, die wesentlich von Repräsentanten der KSA geprägt war und der eine Reihe weiterer internationaler Konferenzen für Pastoralpsychologie folgten (u.a. 1975 in Rüschlikon/Schweiz, 1981 Lublin/Polen). Das erste deutsche KSAZ e n t r u m wurde 1970 in Hannover als „Pastoralklinikum" an der Medizinischen H o c h schule von dem Zijlstra-Schüler H.-Chr. Piper eröffnet. Die KSA war von Anfang an überkonfessionell und ökumenisch orientiert, ja selbst Nichtchristen haben die Ausbildung durchlaufen und übernahmen das Lehr- bzw. Lernmodell in modifizierter Form für die Z u r ü s t u n g ihrer Seelsorger, Priester o.ä. 4. Die KSA hat unterschiedlichste Schulrichtungen und Institutionen hervorgebracht. Die Ausbildungsstandards variieren entsprechend. Fragen wie die, ob KSA gegenüber dem traditionellen Berufsbild des Pfarrers etwas radikal Neues anzubieten habe, ob KSA grundsätzlich in der Kirche und f ü r diese ausbilden müsse usw., sind bis heute nicht ausdiskutiert. — Aus der großen Zahl von Fachverbänden seien genannt: Association for Clinical Pastoral Education (ACPE), Sitz N e w York, N . Y . ; American Association of Pastoral Counselors (AAPC), ebd.; Raad voor Klinisch Pastorale Vorming in Soesterberg/Niederlande; Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP), Sektion Klinische Seelsorgeausbildung, Sitz H a n n o v e r , Geschäftsstelle: Brückenstr. 6, 7 4 0 0 Tübingen. 5. Die KSA hat sich seit Beginn als kritische Anfrage an die Schultheologie verstanden, verschiedene eigene theologische Positionen artikuliert, die sich alle in irgendeiner Weise auf den gemeinsamen Nenner „Erfahrungstheologie" bringen lassen, und unzählige theologische Rückfragen provoziert. Sie hat sich die Vorwürfe des Pragmatismus, der Theorie- und Theologielosigkeit gefallen lassen müssen, und w o man ihr Theologie zugestand, konnte man alsbald gegen die zweifellos in den Texten ihrer Autoren auffindbare „natürliche Theologie" zu Felde ziehen. Das theologische G r u n d p r o b l e m der Verhältnisbestimmung von Wort- und Tatzeugnis erweist sich wie f ü r die diakoniewissenschaftliche Debatte so auch für eine von der KSA beeinflußte Poimenik von erheblicher Tragweite. Die Frage nach dem Verhältnis von Schöpfung und Erlösung in der Konkretion der seelsorgerlichen Partnerschaft, die E. - ^ T h u r n e y s e n durch die berühmte „Bruchlinie" zu lösen versuchte, stellt sich nicht nur im Hinblick auf die Beziehung von Seelsorge und Psychotherapie im Grundsätzlichen wie im Praxisvollzug. O b die Unterscheidung zwischen Phänomen und Interpretation ausreicht, ist zweifelhaft. Aber eine rein dogmatische Beantwortung der in diesem Zusam-

Clinical Pastoral Training

s

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menhang bis zum Ü b e r d r u ß gestellten Frage nach dem Proprium befriedigt ebenso wenig. Wenn man der KSA unter bestimmten Bedingungen Theologiefeindlichkeit vorwerfen k a n n , dann deshalb, weil durch die KSA geschulte Praktiker regelmäßig die Erfahrung machen, daß angesichts akuter menschlicher N o t theologische Unterscheidungslehren scheinbar ihre Relevanz einbüßen und kooperativer ökumenischer Solidarität weichen. Eine Hauptaufgabe derzeitiger KSA besteht deshalb darin, den T e i l n e h m e r n die Erfahrung zu vermitteln, daß theologische Differenzierungen weniger dazu dienen, gemeinsames Handeln zu hindern, als dazu, dieses gerade zu ermöglichen. KSA hat heute stärker als früher die Funktion, kirchlichen Mitarbeitern aller Art zu helfen, ihre Identität als Christen und als Theologen präzise zu artikulieren, Angst vor Gesinnungsterror und Gleichgeschaltetwerden abzubauen und M u t zu individuellem Zeugnis - „persönlichkeitsspezifischem C r e d o " (K. Winkler) - zu entwickeln. Dabei ist erneut nach dem Stellenwert inhaltlich-theologisch bestimmbarer Aussagen und Voraussetzungen in derSeelsorge zu f r a g e n , d . h . es sinddie strukturellen und methodischen Konsequenzen einer T h e o l o g i e zu bedenken und in die T a t umzusetzen, die die Rechtfertigung des Sünders allein aus G n a d e n zum Z e n t r u m ihrer Aussagen macht, und es sind umgekehrt Folgerungen für die theologische T h e o r i e zu ziehen aus dem, was Zeugen des Evangeliums in der Praxis k o n k r e t erleben, damit aus der T h e o r i e Praxis und aus der T h e o l o g i e Leben wird. Denn was der KSA und der aus ihr hervorgegangenen Seelsorgebewegung fehlt, ist nicht T h e o r i e , ist auch nicht T h e o l o g i e , sondern ist — wenn ihr etwas fehlt - die adäquate Theologie, die als zirkuläre T h e o r i e p r a x i s zwischen der „ W e r k e r e i " des T a t - F o l g e - Z u s a m m e n h a n g s antiker und pharisäischer Psychosomatik (Krankheit als Folge von Sünde) einerseits und dem doketischen D o g m a t i s m u s platonischer Indirektheit (Seelsorgebeziehung nur — nicht: auch - Zeugnis der eigentlichen Beziehung) andererseits eine christologische, und d . h . theologisch und anthropologisch solide, Synthese findet. Es ist die Frage, o b sich eine solche nur von den einzelnen Kursteilnehmern für je ihre konkrete Situation finden läßt oder o b die KSA hier einen Beitrag zu einem überindividuellen Konsensus der Kirche leisten kann. Literatur

Bibliographie: Werner Becher, Deutschsprachige Bibliogr. „Klinische Seelsorgeausbildung": 30 WzM 27 (1975) 2 9 7 - 3 0 4 . - Dietrich Stollberg, Literaturberichte: WuPKG 1973, 1974, 1977, 1980.

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Cluny

Cluny 1. Das Kloster 2. Der Verband ( O r d o cluniacensis) 3. Cluny und die gregorianische Reform 4. Zur weiteren Geschichte des Ordo cluniacensis (Literatur S. 132). Benediktinerkloster in Burgund ( 9 1 0 - 1 7 9 0 ) . Der von ihm begründete Klosterverband ist einer der wichtigsten Träger der mittelalterlichen Klosterform. Trotz ausgedehnter Forschungsarbeit gilt auch heute noch das Urteil G. Schreibers von 1942, das „Problem Kluny sei bislang ohne Lösung geblieben". Andererseits sind in den vergangenen Jahrzehnten wichtige Ergebnisse erarbeitet worden (nach den grundlegenden Arbeiten zur neueren Cluny-Forschung von E. Sackur und E.Tomek). Als Konsens läßt sich erheben:

a) „Cluny" ist keine Sammelbezeichnung für alle Reformunternehmen nach dem Zusammenbruch des Karolingerreiches. Die im 10. Jh. auf allen Lebensbereichen einsetzende Erneuerung darf nicht einfachhin mit „cluniazensisch" etikettiert werden. b) Innerhalb der monastischen Reform ist Cluny ein wichtiges Zentrum, neben dem andere Zentren stehen (entscheidender Impuls für die Forschung: K. Hallinger, Gorze-Cluny). Außerdem ist „Cluny" auch in dieser Einschränkung nicht als unveränderliche Größe anzusehen (begründete Aufteilung in „Alt- und Jungcluniazenser"). c) Cluniazensische und gregorianische Refom sind auseinanderzuhalten, wenn sich auch unmittelbar Verbindungslinien aufzeigen lassen. 1. Das

Kloster

Mit Urkunde vom 11. September 910 stiftete Herzog Wilhelm III. von Aquitanien das Kloster Cluny. Der Stifter motivierte seine Gründung: Sicherung seines und seiner Gemahlin Ingelberga ewigen Heiles, ebenso das seiner Vorfahren, seiner ganzen Familie, seiner Untertanen und die Förderung des katholischen Glaubens. Die Stiftung sollte ein Kloster zu Ehren der Apostel Petrus und Paulus sein, in ihm sollten Mönche nach der —»Benediktusregel leben. Der Stifter verzichtete auf jede Gewalt über das Kloster; er benannte nur Berno als ersten Abt; dessen Nachfolger sollte die Klostergemeinschaft frei wählen können. Ebenso schloß er die Einmischung jeder anderen weltlichen und geistlichen Gewalt aus und übergab das Kloster dem Schutz des römischen Stuhles. Die Zusicherung der —»Immunität muß als Reaktion auf jenen Prozeß verstanden werden, der mit dem Ende der Karolingerzeit neben anderen Faktoren zur Krise des Mönchtums geführt hatte: Die Übertragung der Klöster an Laien. Dagegen wird dem Kloster die Freiheit (libertas) geschenkt. Trotzdem baute der —»Adel die Klosterreform bewußt in die Reorganisation des Landes ein. Mit Cluny setzte keineswegs ein völliger Neubeginn einer monastischen Reform ein. Abt Berno kam schon aus reformiertem Mönchtum: Noch im 9. Jh. war von St. Savin-sur-Gartemps bei Poitiers das Martinskloster in Autun reformiert worden. St. Savin hatte sich in Geist und Tradition —»Benedikts von Aniane lebendig erhalten. Im Jahre 886 sandte das Autuner Martinskloster seinen Mönch Berno zur Reform des alten Klosters Baume in Burgund aus. Als Abt von Baume gründete Berno 8 9 0 das Kloster Gigny im Jura und behielt die Leitung beider Klöster in seiner Hand. Zwei Jahrzehnte später übernahm er dazu die Leitung der Neugründung Cluny. Für die Entstehung Clunys ergibt sich aus der Vorgeschichte ein Doppeltes: a) Das neue Kloster will in der Tradition Benedikts von Aniane stehen. Wohl versteht sich die Gemeinschaft als Reformkloster; aber die Reform ist nicht innovatorisch, sie vertritt beste, bewährte Tradition, b) Das neue Kloster entsteht in einem bescheidenen Verband mit den beiden älteren Klöstern. In beiden Elementen zeigen sich gültig bleibende Strukturen einer monastischen Reform, die immer nur das Alte, in besserer Zeit Beachtete und Bewährte zu neuem Leben wecken will und die zu Wirkung und Einfluß gelangt, wenn sie sich in einem Verband eine breitere Basis schaffen kann. Berno konnte in den folgenden Jahren noch einige Klöster hinzufügen; in seinem Testament aus dem Jahr 926 nennt er bereits sechs Klöster mit einigen Zellen und Höfen. Der Zusammenhang bestand in der Unterordnung unter den einen Abt, womit das ausbaufähige Verfassungsmodell von Haupt- und Nebenkloster bestimmend wurde, in der Verpflichtung auf die gleiche Regula und die eine Consuetudo und dem Totenbund.

Cluny

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In seinem Testament bestimmte Berno seinen Neffen Wido zum Oberen der Klöster Gigny, Baume und Ethice (mit der Zelle St. Lothain) und Odo zum Oberen von Cluny, Massay und Deols. Die Brüder beschwor er zur unanimitas [Einmütigkeit] in allen Bereichen des klösterlichen Lebens unter den beiden Oberen. Die Aufteilung der Klöster unter zwei gleichberechtigte Obere verrät Spannungen in der Gründungsgeneration und läßt noch kein Programm eines größeren Verbandes erkennen. Das Doppelregiment verschwand allerdings aus der weiteren Geschichte Clunys. Odo regierte Cluny von 9 2 7 - 9 4 2 . Ihm, dem Sohn eines aquitanischen Adeligen, der mit Berno aus Baume nach Cluny gekommen war, gelang der materielle und ideelle Ausbau Clunys zum eigenen Reformzentrum; er konnte die von Anfang an Cluny entgegengebrachte privilegienrechtliche Absicherung weiter ausbauen (Johannes XI. ermächtigte Odo im Jahre 931, jedes Kloster, das seiner Reform folgen wollte, Cluny zu unterstellen). Als Reformer wirkt er weit über Burgund hinaus in Frankreich und bereits auch in Italien (Rom-St. Paul, Subiaco, Farfa). Von seinem reformatorischen Wollen geben seine monastischen Schriften Zeugnis (Collationes; Occupatio). Sie sind jedoch ganz von frühmonastischer Tradition getragen (—»Mönchtum als Verwirklichung der Pfingstkirche, Weltabgeschiedenheit, Rückkehr zum paradiesischen Urzustand und Vorwegnahme der endzeitlichen Herrlichkeit, engelgleiches Leben u.a.), was das „Neue" von Cluny wiederum relativiert. Auf Odo folgte in der Leitung Clunys Aymard ( 9 4 2 - 9 4 8 ) ; danach drei Äbte, die sich durch lange Regierungszeit und hervorragende Führungsqualität auszeichneten: Majolus ( 9 4 8 / 9 5 3 - 9 9 4 ) , Odilo ( 9 9 4 - 1 0 4 9 ) ; Hugo ( 1 0 4 9 - 1 1 0 9 ) ; das wenig glückliche Abbatiat des Pontius ( 1 1 0 9 - 1 1 2 2 ) wurde durch Petrus Venerabiiis (1122— 1156) abgelöst. Unter diesen Äbten erreichte Cluny seinen weitreichenden Einfluß, wurde zu jener monastischen Institution, die gewöhnlich unter „Cluny" verstanden wird. Diesen Äbten gelang die weitere rechtliche Absicherung der Gründung von 9 1 0 . Die Liberias von bischöflicher Aufsicht konnte durch die offiziell ausgesprochene —»Exemtion (seit Papst Gregor V. [ 9 9 6 - 9 9 9 ] gewährt) bestätigt und gefestigt werden. Das monastische Selbstverständnis schlug sich in der Redaktion der Consuetudines nieder. Die Grundlage war die schon von Abt Berno betriebene Bindung an die Interpretation des Benediktinischen durch Benedikt von Aniane. Auf die Zeit des Abtes Majolus dürfte die erste Fassung der eigentlichen „Cluniazensischen Gebräuche" zurückgehen (Antiquiores BB; J. Leclercq: 9 9 0 - 1 0 2 0 ) ; gegen Ende des 11. Jh. entstanden Neufassungen (Constitutiones des Bernhard und Ulrich von Cluny; vielleicht in der Redaktionsabfolge: Bernhard I - Ulrich - Bernhard II); die Zwischenstufe läßt sich aus den um 1043 niedergeschriebenen Constitutiones von Farfa belegen; eine letzte Bearbeitung geschah schließlich unter Petrus Venerabiiis (Antiquiores C, 1143 veröffentlicht; sie dürfen als echte „Reformstatuten" bezeichnet werden, weithin eine Reaktion auf die Angriffe —»Bernhards von Clairvaux auf das Leben der Cluniazenser). Die Consuetudines lassen die cluniazensische Lebensform erkennen. Ihre Aussagen wehren sich gegen eine starre Auffassung des „Mönchs von Cluny" (z. B. Bernhards Unterscheidung von olim - modo [einst jetzt]); sie zeigen durchaus Flexibilität und sind zu Zugeständnissen bereit, wenn Zeit, Ort, eigene Überlieferung in einem Kloster andere Wege zu gehen gebieten (qui voluerint. . ., quibus placuerit. . . [die wollen . . . , die für gut befinden . . .]). Sie wehren sich vor allem gegen manches Klischee: Der immer betende Cluniazenser, der von einer liturgischen Übung zur anderen getrieben wird und deshalb die Handarbeit und das Studium (Lesung) vernachlässigt. Denn die Consuetudines zeigen, daß es auch in der Liturgie Arbeitsteilung gab, daß nicht jeder zu jeder Zeit am gleichen Platz im Chor zu stehen hatte, daß es für bestimmte Aufgaben im Haus die selbstverständliche Dispens von Gemeinschaftsgebeten gab. Daß also, trotz der unleugbaren Dominanz des liturgischen Dienstes, Zeit für anderes Tun vorhanden war: So sehen die Consuetudines scriptores im Kloster vor, und Cluny selbst besaß ein hervorragendes Scriptorium; aus dem Mutterkloster und anderen Cluniazenserklöstern läßt sich eine lange Liste cluniazensischer Schriftsteller zusammenfügen. Bei den Gebetsforderungen ist zu unterscheiden zwischen dem gemeinsamen und privaten Gebet. Der Tagesablauf ließ also durchaus für individuelle Gestaltung Raum; er kannte selbst die den Cluniazensern so oft gänzlich abgesprochene Handarbeit (das opus manuum z.B. in Ulrichs Consuetudines I, 29; III, 28).

Das Leben in Cluny läßt sich danach schwer auf einen einheitlichen Nenner bringen und sträubt sich gegen jede starre Etikettierung, die in die Forschung eingebracht wurde, um

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Cluny

Cluny von anderen monastischen Reformzentren abzuheben. An Stelle der vielen hier behaupteten „Gegensätze" bleiben nach J. Leclercq oft nur „Nuancen" übrig. W ä h r e n d dieser Z e i t gelang C l u n y die U m s e t z u n g seiner L e b e n s f o r m in die „ g e b a u t e O r d n u n g " seiner g r o ß a r t i g e n K l o s t e r a r c h i t e k t u r . Die erste Kirche B e r n o s (Cluny I), in der der G r ü n d e r a b t sein G r a b gefunden h a t , w u r d e d u r c h den N e u b a u , mit dem bereits O d o b e g o n n e n und der u n t e r M a j o l u s vollendet w u r d e , ersetzt (Cluny II, W e i h e der Kirche 9 8 1 ) . D e r N e u b a u des Klosters — die U m w a n d l u n g „eines Klosters aus H o l z in ein solches a u s M a r m o r " ( O d i l o , V i t a M a j o l i : P L 1 4 2 , 9 0 8 ) - erfolgte u n t e r A b t Odilo. Eine v e r h ä l t n i s m ä ß i g zuverlässige R e k o n s t r u k t i o n dieser A n l a g e e r m ö g l i c h t C o n s t . Farfensis II, 1 in V e r b i n d u n g mit d e m G r a b u n g s b e f u n d . U n ter A b t H u g o wich die alte A n l a g e einem u m f a s s e n d e n N e u b a u ( C l u n y III, 1 0 8 8 - 1 1 0 9 ; E n t w u r f der neuen Kirche vielleicht v o n A b t G u n z o von B a u m e ) . Die neue K l o s t e r k i r c h e w a r die g r ö ß t e Kirche des A b e n d l a n d e s ( A u s g r a b u n g e n und R e k o n s t r u k t i o n vor allem d u r c h K. J . C o n a n t , 1 9 2 9 - 1 9 6 5 ) . Die epochalen K i r c h e n b a u t e n v o n C l u n y erlauben nicht, von einem cluniazensischen Stil zu s p r e c h e n . Ihre E n t stehung ist in die von N o r d i t a l i e n n a c h B u r g u n d ü b e r n o m m e n e r o m a n i s c h e B a u k u n s t e i n z u o r d n e n (—>Kirchenbau, —>Romanik). Die M o n u m e n t a l a r c h i t e k t u r Clunys d a r f a u c h nicht einfach a u f alle cluniazensischen Klöster ü b e r t r a g e n w e r d e n (die G r o ß b a u t e n wie P a r a y - l e - M o n i a l o d e r R o m a i n m o t i e r und P a y e r n e in der Schweiz bleiben a u c h im V e r b a n d von C l u n y A u s n a h m e n ) . Ihr Einfluß, besonders von C l u n y II, a u f den K i r c h e n - und K l o s t e r b a u der Z e i t ist jedoch nicht zu leugnen. M i t der V o l l e n d u n g v o n C l u n y III, dessen A u s m a ß e und künstlerische A u s s c h m ü c k u n g den P r o t e s t B e r n h a r d s von Clairv a u x h e r a u s f o r d e r t e n , ging die bedeutendste E p o c h e der G e s c h i c h t e des Klosters Cluny zu E n d e . „ A u c h für C l u n y gilt jenes b e r ü h m t e Gesetz, n a c h w e l c h e m die g r ö ß t e n B a u t e n erst vollendet w e r d e n , n a c h d e m die Blüte der Institutionen, die sie tragen, überschritten i s t " ( W . B r a u n f e l s , A b e n d l ä n d i s c h e K l o s t e r b a u kunst, Köln 2 1 9 7 6 , 7 2 ) .

Mit dem Tode seines letzten großen Abtes Petrus Venerabiiis 1156 war die Geschichte Clunys keineswegs zu Ende. Allerdings zeigte sich in seiner langen Regierungszeit ein deutlicher Wandel. In der Ausbreitung eine Stagnation (lediglich vier neue Klöster wurden Cluny angeschlossen), im Verband Verselbständigungstendenzen, in den einzelnen Klöstern Erlöschen anziehender Lebenskraft. Dazu war die Amtszeit Peters des Ehrwürdigen überschattet von den Kontroversen mit Bernhard von Clairvaux, vom unerquicklichen Streit zwischen cluniazensischem und zisterziensischem (—»Zisterzienser) Benediktinertum. Die Polemik war aktuell und griff in das tägliche Leben der Klöster ein; in ihr schlug sich dazu die je notwendige Auseinandersetzung von Tradition und Fortschritt im monastischen Leben nieder. Den Cluniazensern war dabei die schwächere Position des Bewahrens und Verteidigens zugewiesen. Im fortbestehenden Cluny läßt sich ein erster Abschnitt von 1157 ( 1 1 6 1 ) - 1 6 1 2 festlegen. Deutlich orientierte sich Cluny nun an national-französischer Politik. An die Stelle des päpstlichen Schutzes trat der des französischen Königs. Cluny verlor sein übernationales Ansehen, in enger Verbindung mit der französischen Monarchie wurde es zum französischen Kloster und teilte im späten Mittelalter die Geschicke aller französischen Klöster (wirtschaftlicher Niedergang, Bedrängnisse im 100jährigen Krieg, Vergabe als Kommende, Plünderung durch die —»Hugenotten in den Jahren 1 5 6 7 - 1 5 7 0 , —»Frankreich). Die spätmittelalterliche Reformbewegung erfaßte Cluny zaghaft unter Abt Johannes von Bourbon (1456—1485), ohne zu kraftvoller Observanzbewegung auszuwachsen. Der letzte Abschnitt der Geschichte von Cluny - 1612 bis 1790-setzte mit ernsthaftem Reformbemühen ein. Ludwig von Lothringen, Kardinal von Guise ( 1 6 1 2 - 1 6 2 1 ) , versuchte den Anschluß Clunys an die Maurinerkongregation (—»Mauriner). Der Erfolg blieb aus; auch dem noch mächtigeren Kommendatarabt Kardinal Richelieu ( 1 6 3 5 - 1 6 4 2 ) , der eine Union aller französischen Benediktinerklöster anstrebte, gelang der Unionsversuch Clunys mit der Kongregation von St. Vanne nicht. Dagegen brachte er eine kurzlebige Vereinigung mit den Maurinern zuwege: Congregatio St. Benedicti alias Cluniacensis et St. Mauri (1634—1642). Ebenso kurzlebig war der von Kardinal Mazarin (Kommendatarabt 1 6 5 4 - 1 6 6 1 ) diktierte Zusammenschluß mit St. Vanne ( 1 6 5 9 - 1 6 6 1 ) . Dem von außen her aufgezwungenen Anschluß an eine moderne, lebensfähigere Benediktinerkongregation antwortete Cluny daneben mit bescheidener Selbstreform. Im Jahre 1621 entschloß sich Cluny mit seinen Klöstern zu einer zeitgemäßen Reform, die allerdings nur von einem Teil

Cluny

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a n g e n o m m e n w u r d e u n d zu einer Aufteilung in zwei O b s e r v a n z e n f ü h r t e : Strenge Observanz = R e f o r m a t e n (étroite observance) u n d alte O b s e r v a n z (ancienne observance). Beide lebten — formell u n t e r dem A b t v o n Cluny stehend — bis z u m Ende Clunys u n d seiner Klostergemeinschaft n e b e n e i n a n d e r . Die —»Französische Revolution b r a c h t e das E n d e Clunys. I m J a h r e 1 7 9 0 w u r d e das Kloster säkularisiert, die M ö n c h e (damals 35) vertrieben, die Klosteranlage v e r k a u f t u n d in der Folgezeit z u m g r o ß e n Teil zerstört. V o m gewaltigen K i r c h e n b a u C l u n y III blieb ein Teil des rechten ersten Querschiffs mit seinem T u r m s t e h e n ; e b e n s o ein Teil des u m 1 7 5 0 erneuerten Konventsbaues. 2. Der Verband

(ordo

cluniacensis)

Die Geschichte des V e r b a n d e s (der Cluniazenser) steht in u n m i t t e l b a r e m Z u s a m m e n h a n g mit der des Klosters, o h n e einfach mit ihr identisch zu sein. Auch d ü r f e n die Verhältnisse im H a u p t - u n d M u t t e r k l o s t e r nicht auf alle von Cluny a b h ä n g i g e n Klöster ü b e r t r a g e n werden. Der W e g z u m V e r b a n d lag einmal im r e f o r m e r i s c h e n Wollen, das mit der G r ü n d u n g Clunys v e r b u n d e n w a r , u n d in dessen k o n k r e t e n A n f ä n g e n , die den G r ü n d e r a b t O b e r e r m e h r e r e r Klöster sein ließen. T r o t z d e m w a r der g r o ß e V e r b a n d von C l u n y nicht von vorneherein mit der G r ü n d u n g des b u r g u n d i s c h e n Klosters gegeben. Sein A u f b a u setzt mit A b t O d o ein, der 9 3 1 das päpstliche Privileg erhielt, Klöster zu r e f o r m i e r e n u n d der Leitung Clunys zu unterstellen. Seine R e f o r m t ä t i g k e i t (allerdings nicht immer mit Erfolg) e r f a ß t e zahlreiche Klöster W e s t e u r o p a s . Die N a c h f o l g e r O d o s trugen die cluniazensische L e b e n s f o r m in weitere Klöster; unter A b t H u g o erreichte der ordo cluniacensis (Petrus Vencrabilis sprach bevorzugt v o m corpus cluniacum) seinen H ö h e p u n k t (H. Jedin u . a . , Atlas z u r KG, Freiburg i.Br. 1970, Karte 47). W e n n schließlich etwa 1 2 0 0 Klöster, vor allem in Frankreich, Italien, Schweiz, Spanien u n d England, u n t e r d e m Einfluß Clunys s t a n d e n , d a n n k a n n diese weite M ö n c h s l a n d s c h a f t nicht einfach als einheitlicher cluniazensischer O r d e n angesehen w e r d e n . Es darf auch nicht von systematischem E r o b e r u n g s p l a n noch von g e w a l t s a m e m Eroberungswillen gesprochen w e r d e n , o b w o h l die E i n f ü h r u n g der C l u n i a z e n s e r o r d n u n g in m a n c h e n Klöstern unter D r u c k geschah. Der problemloseste u n d einfachste W e g der A u s b r e i t u n g w a r der Weg der N e u b e siedelung. Cluny selbst n a h m eine G r ü n d u n g s m ö g l i c h k e i t an u n d errichtete ein von ihm abhängiges Kloster (Priorat). H ä u f i g e r w a r der W e g der R e f o r m eines bestehenden Klosters: Die K o m m u n i t ä t s u c h t e selbst den A n s c h l u ß a n Cluny, u m d u r c h die A n n a h m e seiner Leb e n s f o r m A n s c h l u ß an die zeitgenössische R e f o r m des B e n e d i k t i n e r t u m s zu finden u n d a m Schutz der m ä c h t i g e n Abtei teilzuhaben. In gleicher Weise k o n n t e die Initiative v o n den Eig e n t ü m e r n oder Schirmherren eines Klosters a u s g e h e n : Sie ü b e r g a b e n ihr Klostereigentum (etwa u n t e r d e m Titel der „ R e s t i t u t i o n " ) der Abtei Cluny. So verschieden der W e g des Anschlusses a n Cluny, so unterschiedlich blieb auch das Verhältnis zur Abtei Cluny. Das M a ß der A b h ä n g i g k e i t ergab sich aus der traditio eines Klosters an Cluny. Im engsten A n s c h l u ß an das M u t t e r k l o s t e r s t a n d e n die Cluny u n m i t t e l b a r unterstellten H ä u s e r ; es w a r e n Priorate, deren einziger u n d letzter O b e r e r der A b t v o n Cluny w a r . Der von ihm eingesetzte Prior w a r n u r sein ihn a m einzelnen O r t ersetzendes Vollzugso r g a n . Auch der einzelne M ö n c h w a r letztlich U n t e r g e b e n e r des Abtes v o n Cluny, der über seine A u f n a h m e in d e n O r d e n u n d Z u l a s s u n g z u r P r o f e ß entschieden h a t , der ihn auch von einem Kloster in ein anderes versetzen k o n n t e . Eigentlich w a r d a m i t der M ö n c h , auch w e n n er in einem a b h ä n g i g e n Priorat lebte, M ö n c h der Abtei C l u n y . U n t e r diesen u n m i t t e l b a r C l u n y unterstellten Prioraten n a h m e n die fünf „ T o c h t e r k l ö s t e r C l u n y s " (Charité-sur-Loire, St. M a r t i n - d e s - C h a m p s in Paris, Souvigny, Sauxillanges u n d Lewes in England) eine Sonderstellung ein ( G r o ß p r i o r a t e ; ihre O b e r e n : G r o ß p r i o r e n ) . Ihnen w a r e n w i e d e r u m Klöster unmittelbar z u g e o r d n e t , die also in mittelbarer A b h ä n g i g k e i t z u r Abtei Cluny s t a n d e n . Die n ä c h s t e G r u p p e bildeten die i n k o r p o r i e r t e n Abteien (—»Inkorporationen). Sie w a r e n in gleicher Weise v o n Cluny a b h ä n g i g wie die Priorate, behielten jedoch als O b e r e n den ei-

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Cluny

genen Abt, der zum Abt von Cluny in gleicher Rechtsstellung stand wie die Prioren der ersten Gruppe. Das Belassen bestimmter Sonderrechte und Privilegien ergab sich aus ihrer Gründung und Geschichte. Ähnliche Motive bedingten die dritte Gruppe: Die abhängigen und von Cluny kontrollierten Abteien. In dieses Verhältnis der Abhängigkeit von Cluny kamen große Abteien mit selbständigem Machtbereich und intakter wirtschaftlicher Grundlage. Sie sollten ihre traditionelle weltliche Stellung bewahren können, auch nach Übernahme der cluniazensischen Lebensform. Die Sicherung der Zugehörigkeit zu Cluny geschah durch die Abtsernennung von Cluny oder wenigstens durch ein entscheidendes Mitspracherecht des Abtes von Cluny bei der Abtsbestellung. Diese Abteien (z.B. Vezelay, St. Gilles, Moissac, St. Germain in Auxerre u.a.) waren ursprünglich dem Papst unterstellt, der sie dann Cluny übergab und dabei in eigener Entscheidung das je eigene Rechtsverhältnis festlegte. Während die Klöster dieser drei Gruppen den eigentlichen Ordo cluniacensis bildeten, stand ein weiterer Kreis von Klöstern in unmittelbarem Einfluß Clunys durch die Annahme der Consuetudines Clunys (ganz oder teilweise), ohne formell eine traditio an Cluny zu vollziehen. Die Einheit des Verbandes beruhte auf der Beobachtung der gleichen monastischen Consuetudo und der Unterordnung unter den Abt von Cluny. In seiner hierarchisch abgestuften Verfassung lag seine Stärke und seine bedeutsame Neuerung in der abendländischen Mönchsgeschichte. Die cluniazensische Klosterhierarchie hatte sicher eine antifeudale Spitze, diente sie doch dem Ausschluß nichtklösterlicher Gewalten. Aber einmal darf die in der Gründungsurkunde von 910 gegebene Ideallösung des Verbotes jeder Einmischung der weltlichen Herren in das Leben und die Wirtschaft des Klosters nicht verallgemeinert werden (die Äbte von Cluny sahen sie nicht immer als unabdingbare Forderung an); zum anderen ist das System Clunys durchaus unmittelbar dem Feudalsystem (—»Lehnswesen) nachgebildet; es ist die Transponierung des politisch-wirtschaftlichen Systems auf die monastische Landschaft. Deutlich zeigte der im Großabt gipfelnde Verband Analogien zur Lehnspyramide (Th. Schieffer). Nicht umsonst sprach Bischof Adalbero von Laon von Abt Odilo als dem „König Odilo". Der häufig bemühte und behauptete „Antifeudalismus Clunys" ist eine Konstruktion (H.-E. Mager). Damit hängt zusammen, daß Cluny in seiner Ringbildung das traditionelle System des —»Eigenkirchenwesens in seinen Dienst nehmen mußte. Auch hier kann Cluny keine revolutionäre Neuerung zugeschrieben werden. Sicher ließen sich Cluny und die von ihm abhängigen Klöster Kirchen aus Laienhand schenken; Cluniazenser mögen solche Schenkungen auch unmittelbar veranlaßt haben. Aber Cluny hat sich keineswegs in bewußt angestrebter Ablösung laikaler Kirchenherrschaft hervorgetan. Eher neigte es zur de facto Anerkennung des Eigenkirchenwesens. Das zeigt sich auch in der Annahme von Teilschenkungen: Der weltliche Kirchenherr übergab nur ein Teil einer Kirche an das Kloster. Schließlich gebrauchte Cluny das Eigenkirchenwesen in seinem eigenen „Reich", hielt hier unverändert am traditionellen System fest. Es konnte Kirchen mit ihren Rechten und ihrem Besitz als Objekt von Kauf und Tausch annehmen oder sich Kirchen mit ihren Einkünften ad sustentationem fratrum [zum Unterhalt der Brüder] übertragen lassen. In seiner Verfassungsform und der daraufbauenden Ausbreitungspolitik gab sich Cluny konservativ. Es hielt sich an das System des Feudalismus und das damit verbundene Eigenkirchenwesen. Zu den neben Cluny oder in engem Gefolge mit ihm stehenden Reformverbänden —»Benediktiner, . —>Gorze, —»Hirsau.

3. Cluny und die gregorianische

Reform

Die konservative Grundhaltung Clunys sperrt sich gegen die bislang weithin vertretene Einheit von cluniazensischer und gregorianischer Reform, vom nahtlosen Ineinanderfließen des Cluniazensertums und des kämpferischen Gregorianismus (—»Papsttum). Die Aktivität Clunys zielte unmittelbar auf die monastische Form. Mittelbar natürlich auch auf Vervollkommnung und Heiligung der Welt, aber dieses doch im bestehenden gesellschaftlichen

Cluny

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Rahmen, in überkommener staatlicher und kirchlicher Ordnung. Unmittelbar in die Welt wirkten die Cluniazenser durch den von Abt Odilo propagierten „Gottesfrieden" {Treuga Dei), im liturgisch-religiösen Leben förderten sie die Marien- und Kreuzverehrung (—»Kreuz, —»Maria) und das Totengedenken. Dem Kreuzzugsunternehmen dagegen standen sie von Anfang an distanziert gegenüber. In ihrem M ü h e n um Heiligung der Welt wandten sie sich gegen Mißstände, aber sie wurden weder zu lauten Kämpfern gegen die —»Simonie noch zu streithaften Verteidigern des priesterlichen —»Zölibats. So sehr die Cluniazenser ihr Liberias-Privileg verteidigten (aber nicht kompromißlos, wie oben gezeigt), sie machten es nicht zu grundsätzlicher Kampfparole für die ganze mittelalterliche Welt. Die Reformideen der „Gregorianer" werden erstmals außerhalb Clunys und seines unmittelbaren Einflusses greifbar (Nordfrankreich, burgundisch-französisches Grenzland). Sie werden auch im Umfeld von Cluny faßbar: Wilhelm von Volpiano ( 9 6 2 - 1 0 3 1 ) , „der Überkluniazenser" (nach K. Hallinger) mit seinem Reformkreis, dem wohl auch —»Leo IX. nahestand. Sicher lieferten Clunys Klöster mit ihrer Grundidee von der Liberias ecclesiae einen wichtigen Vorentwurf für die gregorianische Reform und nicht weniger als Wegbereiter eines innerkirchlichen, römisch-päpstlichen Zentralismus. Ebenso stellte Cluny der päpstlichen Reform bedeutende Kräfte; auch wenn man Hildebrand-Gregor VII. nicht leichthin zum Cluniazenser machen sollte, so war es doch sicher - ^ U r b a n II. und möglicherweise sein Nachfolger Paschalis II. ( 1 0 9 9 - 1 1 1 8 ) . —»Gregor VII. griff bei seinen Reformplänen bewußt auf das MenschenReservoir" von Cluny zurück (vgl. Ep. IV, 1 [an Hugo von Cluny]: utsibi aliquos de monachis suis viros sapientes transmitteret [er möge ihm einige gescheite Leute von seinen Mönchen senden]). Trotz der Zusammenhänge zwischen cluniazensischer und gregorianischer Reform kann Cluny somit kein unmittelbarer, aktiver Part am päpstlichen Reformwerk zugeschrieben werden. Gregors VII. reformerisches Ziel der Aufrichtung einer hierokratischen Weltordnung war nicht das Ziel Clunys, das „ganz in der vorgregorianischen, von der geistlich-weltlichen Harmonie und Einheit bestimmten Ordnung wurzelte" (Th. Schieffer). Die Tragik Clunys, das damit ins Abseits rückte, läßt sich in seinem großen Abt H u g o personalisieren, der T a u f p a t e —»Heinrichs IV. war, der 1077 zwischen Papst und Kaiser zu vermitteln suchte (—»Kaisertum und Papsttum) und schließlich mit dem Kaiser brechen mußte, der dabei immer treu päpstlich sein wollte, aber doch kein linientreuer Gregorianer sein konnte. 4. Zur weiteren

Geschichte

des Ordo

cluniacensis

Die Geschichte des cluniazensischen Verbandes nach Abt Petrus Venerabiiis ist mit jener des Mutterklosters vorgezeichnet. Dem Zusammenhalt des Verbandes diente die Gliederung in Provinzen (oder „Kammern"), die gegen Ende des 12. Jh. einsetzte und geographisch zusammengehörende Klöster zu einer untergeordneten Verwaltungseinheit zusammenfaßte. Als Vertreter des Abtes von Cluny stand der camerarius an ihrer Spitze. Die Klöster einer Provinz versammelten sich auf dem Provinzialkapitel, der gesamte Verband auf dem Generalkapitel (jährlich, gewöhnlich in Cluny). Zu diesen übergeordneten Kontrollinstanzen fügte sich regelmäßige Visitation der Klöster. Papst —»Gregor IX. verpflichtete 1231 den Orden auf dieses Oberwachungssystem. Die straffe Organisation konnte die Ablösung vom Verband allerdings nicht aufhalten. Nationale Verselbständigungsbestrebungen lösten die nichtfranzösischen Provinzen aus dem Verband heraus (spanische, lombardische und englische Provinz). Die alemannische Provinz, eigentlich auf die Schweiz beschränkt, stand vom 14. Jh. an nur noch lose mit Cluny in Verbindung; sie ging in der Reformationszeit unter. Die einzigen auf rechtsrheinischem Gebiet gelegenen Klöster St. Ulrich/Breisgau (gegr. 1087 von Ulrich, dem Verfasser der Constitutiones Cluniacensis) und Sölden (Frauenkloster, gegr. um 1080) unterstellten sich einheimischen Benediktinerabteien. Von 1456 an umfaßte der Ordo cluniacensis nur noch die französischen Provinzen. Gegen Ende des 18. Jh. waren es in Frankreich sieben Provinzen. Darin gehörten zur „alten Observanz" 50 Klöster mit knapp 300 Mönchen, zur „strengen Observanz" 37 Klöster mit etwas mehr als 300 Mönchen.

Coccejus

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G e r i n g e n E i n f l u ß n a h m d e r c l u n i a z e n s i s c h e O r d e n a u f die F r a u e n k l ö s t e r . N u r 1 7 bis 1 8 K o n v e n t e u n t e r s t a n d e n C l u n y ; in i h r e m F a l l v e r t r a t den A b t v o n C l u n y ein v o n i h m f ü r jedes F r a u e n k l o s t e r b e s t e l l t e r P r o p s t . K e i n e s der c l u n i a z e n s i s c h e n F r a u e n k l ö s t e r e r r e i c h t e ein den g r o ß e n M ä n n e r k l ö s t e r n g l e i c h e n d e s A n s e h e n ; s c h o n im 1 4 . J h . glich i h r L e b e n s s t i l w e i t h i n d e m der freien, adeligen D a m e n s t i f t e . Literatur A Cluny. Congrès scientifique. Fêtes et cérémonies liturgiques en l'honneur des saints abbés Odon et Odilon, 9 - 1 1 juillet 1 9 4 9 , Dijon 1 9 5 0 . - Bruno Albers, Unters, zu den ältesten Mönchsgewohnheiten, München 1 9 0 5 . - Bernard Bligny, L'église et les ordres religieux dans le royaume de Bourgogne aux X I e et X I I e siècles, Grenoble 1 9 6 0 . - Albert Brackmann, Die politische Wirkung der cluniazensischen Bewegung, 1 9 2 9 = Darmstadt 1 9 5 5 . - Neithard Bulst, Unters, zu den Klosterreformen Wilhelms v. Dijon ( 9 6 2 — 1 0 3 1 ) , Bonn 1 9 7 3 . - C l u n y . Beitr. zu Gestalt u. Wirkung der cluniazensischen R e f o r m , h g . v. Helmut Richter, 1975 (WdF 2 4 1 ) (Lit.). - Cluniac Monasticism in the Central Middle Ages, hg. v. Noreen Hunt, London 1 9 7 1 . - Kenneth J . Conant, Cluny, les églises et la maison du chef d'ordre, M â c o n 1 9 6 8 . - Giles Constable, Médiéval Monasticism. A Select Bibliography, Toronto/Buffalo 1 9 7 6 . Ders./James Kritzek, Petrus Venerabilis, 1 1 5 6 - 1 9 5 6 , 1956 (StAns 40). - Neue Forschungen über Cluny u. die Cluniazenser, hg. v. Gerd Teilenbach, Freiburg 1959. - Kassius Hallinger, Gorze-Kluny. Studien zu den monastischen Lebensformen und Gegensätzen im H o c h M A , 2 Bde., 1 9 5 0 - 5 1 = Graz 1971 (StAns 2 2 - 2 5 ) . - Ders., Klunys Bräuche zur Zeit Hugos des Großen ( 1 0 4 9 bis 1 1 0 9 ) : Z S R G . K 4 5 ( 1 9 5 3 ) 9 9 - 1 4 0 . - D e r s . , Neue Fragen der reformgesch. Forschung: A M R h K G 9 ( 1 9 5 7 ) 9 - 3 2 . - H a r t mut Hoffmann, Gottesfriede u. Treuga Dei, 1 9 6 4 (SMGH 20). - Jacques Hourlier, Le monastère de saint Odilo: A n M o 6 ( 1 9 6 2 ) (StAns 5 0 ) 5 - 2 1 ; dt.: Cluny (s.o.), 1 - 2 1 . - Ders., Saint Odilon, abbé de Cluny, 1 9 6 4 ( B R H E 4 0 ) . - Heinrich J a k o b s , Die Hirsauer, 1968 (KHAB 4). - David Knowles, Cistercians and Cluniacs. The Controversy between St. Bernard and Peter the Venerable, O x f o r d 1 9 5 5 . - Jean Leclercq, Nouveaux aspects de la vie clunisienne à propos des monastères de Lombardie: S t M o n 2 2 (1980) 2 9 - 4 2 . - Ders., Le monachisme clunisien: Théologie de de la vie monastique, Paris 1 9 6 1 , 4 3 7 - 4 4 5 . - Ders., Aux sources de la spiritualité occidentale, Paris 1 9 6 4 . - Ders., Témoins de la spiritualité occidentale, Paris 1 9 6 5 . - Ders., Pour une histoire de la vie à Cluny: R H E 5 7 ( 1 9 6 2 ) 3 8 5 - 4 0 8 . 7 8 3 - 8 1 2 ; dt.: Cluny (s.o.), 2 5 4 - 3 1 8 . - Raphael Molitor, Aus der Rechtsgesch. benediktinischer Verbände, Münster, I 1 9 2 8 . — Ernst Sackur, Die Cluniazenser in ihrer kirchl. u. allgemeingesch. Wirksamkeit bis zur Mitte des 11. Jh., 2 Bde., Halle 1 8 9 2 - 9 4 . - Theodor Schieffer, Cluny u. der Investiturstreit: Cluny (s.o.), 2 2 6 - 2 5 3 . - Philibert Schmitz, Gesch. des Benediktinerordens, 4 Bde., Einsiedeln-Zürich 1 9 4 7 = Darmstadt 1 9 7 1 . - G e o r g S c h r e i b e r , Gemeinschaften des M A , Münster, I 1 9 4 8 . - G e r d Tellenbach, Libertas. Kirche u. Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites, Stuttgart 1 9 3 6 ( F K G G 7). Ernst Tomek, Studien zur Reform der dt. Klöster im 11. Jh., Wien 1 9 1 0 . - Guy de Valous, Le monachisme clunisien, 3 Bde., 1 9 3 6 = 1 9 7 0 (AFM 3 9 - 4 0 ) . - Ders., Art. Cluny: D H G E 13 ( 1 9 5 6 ) 3 5 — 174. - Cinzio Violante, II monachesimo Cluniacense di fronte al mondo politico ed ecclesiastico (secoliX e X I ) : Studiesulla Cristianità medievale, Mailand 1972, 3 - 6 7 ; dt.: Cluny (s.o.), 1 4 1 - 2 2 5 . Ernst Werner, Die gesellschaftlichen Grundlagen der Klosterreform im 11. Jh., Berlin 1 9 5 3 . - Joachim Wollasch, Ein cluniazensisches Totenbuch aus der Zeit Abt Hugos v. Cluny: F M S t 1 ( 1 9 6 7 ) 4 0 6 - 4 4 3 . - Ders., Cluny im 10. u. 11. Jh., Göttingen 1 9 6 7 (ausgew. Quellen). Karl Suso Frank

Coccejus, Johannes 1. Leben

(1603 — 1669)

2 . Werk

3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 140)

1. Leben Die Familie des Coccejus ist durch Generationen in —»Bremen verwurzelt, wo er am 3 0 . 7. 1 6 0 3 (9. 8. 1 6 0 3 neuen Stils) auch geboren wurde. Der Großvater Gerhard Coch/Cock ( 1 5 3 2 - 1 5 8 9 ) war Ratsherr; sein Vater Timann ( 1 5 7 3 - 1 6 3 7 ) war seit 1 5 9 1 Sekretär der Stadt. Seine Mutter Elisabeth (Elsche, Ilse, 1 5 8 2 - 1 6 2 8 ) ist eine Tochter des Bremer Ältermanns Johann Bake ( 1 5 4 9 - 1 6 1 6 ) und der Anna Kohte. M i t seinem älteren Bruder Gerhard ( 1 6 0 1 - 1 6 6 0 ) , Professor der Rechte in Bremen und Groningen, Diplomat in bremischen, ostfriesischen und kaiserlichen Diensten, ist er in einem auf Sittenstrenge achtenden frommen Elternhaus aufgewachsen. Die Brüder wurden von Lehrern und Mitschülern „ C o c c e j i " gerufen. Johannes Coccejus hat sich dieser Latinisierung des Familiennamens später fast ausnahmslos bedient. Verwandtschaftliche Beziehungen zur ebenfalls aus Bremen stammenden Familie des Heinrich von Cocceji ( 1 6 4 4 - 1 7 1 9 ) , dessen Sohn Samuel ( 1 6 7 9 - 1 7 5 5 ) Großkanzler Friedrichs d. Großen wurde, sind nicht nachgewiesen.

Coccejus

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Coccejus durchlief in Bremen das Pädagogium und das Gymnasium illustre. Seinen Lehrern Johannes Willius, Gerhard Hanewinckel, Matthias Martini und Ludwig Crocius verdankt er nicht nur eine frühzeitige Förderung seiner Vorliebe für die klassischen und semitischen Sprachen, sondern auch die ersten theologischen Grundkenntnisse, wie sie damals vornehmlich in den oberen Klassen der reformierten Hohen Schulen vermittelt wurden. An der Bremer Hohen Schule, die er vom Oktober 1620 an besuchte, herrschte damals weniger der scholastische Dogmatismus der —»Orthodoxie, sondern die biblisch orientierte föderaltheologische Lehrtradition eines —»Olevian (—»Föderaltheologie). Man vertrat in Bremen weder die konsequente supralapsaristische Prädestinationslehre der Gomaristen noch die strenge Präzisität der Voetianer (-^Prädestination, —»Voetius). Die Bremer Theologen versuchten eine der Schrift verpflichtete mittlere Linie zwischen den Anhängern der Dordrechter Orthodoxie (—»Dordrechter Synode) und den Remonstranten zu halten. Die moderata doctrina seiner Bremer Lehrer beeinflußte Coccejus. Seine ihm später aufgezwungenen theologischen Kämpfe zeigen ihn als Mäßigung bewahrenden, den kirchlichen Frieden höher als theologische Streitigkeiten erachtenden Gelehrten, der polemische Angriffe unbeantwortet lassen konnte. Im September 1626 nahm Coccejus das Theologiestudium in —»Franeker auf. Er besuchte die Lehrveranstaltungen von Meinardus Schotanus, Johannes Maccovius und Wilhelm Amesius (—»Arnes, William); sein eigentlicher Lehrmeister aber wurde Sixtinus Amama (1593 — 1629), einer der angesehensten Gräzisten und Hebraisten seiner Zeit. Zum Abschluß seiner Studien besuchte Coccejus kurzfristig im Jahr 1630 die Universitäten —»Leiden und —»Groningen; er lernte Franciscus Gomarus und Johannes Polyander ä Kerckhoven kennen. Wegen seiner ausgezeichneten Gelehrsamkeit den Bremern von seinen Lehrern in Franeker empfohlen, wurde ihm die Nachfolge des am 21. Juni 1630 verstorbenen Matthias Martini angetragen. So trat er am 30. September 1630 die Professur für biblische Philologie an der Hohen Schule seiner Vaterstadt an. Am 5 . August 1 6 3 5 heiratete Coccejus in Bremen Catharina Deichmann, T o c h t e r des wegen seiner evangelischen Glaubenshaltung aus M ü n s t e r i. W . vertriebenen Ratsherrn und Ältermannes der Kaufleute Heinrich Deichmann (gest. 1 6 3 3 ) . Seine Ehefrau gehörte einem weit verzweigten Familienverband an, zu dem der Diplomat und Professor Christoph Deichmann ( 1 5 7 5 — 1 6 4 8 ) , der Philosoph Clemens Timpler (ca. 1 5 6 7 - 1 6 2 4 ) und der Theologieprofessor M a r t i n Hundius ( 1 6 2 4 - 1 6 6 6 ) zählten. Aus der Ehe gingen ein Sohn und drei T ö c h t e r hervor. J o h a n n Heinrich Coccejus besorgte die Gesamtausgabe der W e r k e seines Vaters. Einer seiner Schwiegersöhne, Willem Anslaer ( 1 6 3 3 — 1 6 9 4 ) , wurde in den Niederlanden ein eifriger V o r k ä m p f e r des Coccejanismus.

1636 nahm Coccejus den Ruf der Universität Franeker auf den Lehrstuhl für Hebräische Sprache an. Neben Johannes Cloppenburg übernahm er hier im Dezember 1643 eine theologische Professur. In diesem Zusammenhang verlieh ihm Maccovius am 2. Februar 1644 die theologische Doktorwürde. Der Ruf des ausgezeichneten Exegeten und Systematikers veranlaßte die Kuratoren der Universität Leiden auf Betreiben von Abraham Heidanus den seit dem Tod von Friedrich Spanheim (gest. 14. 5. 1649) vakanten theologischen Lehrstuhl Coccejus anzubieten. Am 4. Oktober 1650 trat er dieses neue Amt an. Bis zu seinem durch die Pest verursachten Tod wirkte er in Leiden. Er war mehrmals Dekan der Fakultät. In Franeker war er 1645/46 und in Leiden 1659/60 sowie 1668/69 Rektor der Universität. Sein ganz Europa umspannender Briefwechsel belegt sein internationales Ansehen wie seinen weiten Einfluß auf die Theologie und das Leben in den reformierten Kirchen insbesondere der Niederlande und Deutschlands. Sein unerwarteter Tod am 5. 11. 1669 fällt in die Zeit des Ubergangs vom orthodoxen Zeitalter zum Pietismus. 2. Werk Seine Bremer Lehrer veranlaßten die ersten wissenschaftlichen Arbeiten. Aus dem Jahr 1625 ist die Oratio de religione Turcarum erhalten, die das religionsgeschichtliche Interesse des Coccejus erstmals belegt. Im gleichen Jahr reiste er nach Hamburg, um sich durch jüdische Gelehrte in deren exegetische Methoden und in die rabbinische Literatur einweisen zu

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lassen. Auf Anregung von Amama führte er dann in der Abhandlung Duo tituli Talmudici Sanhedrin et Maccoth, cum versione et commentario (1629) den Nachweis, welch wichtige Bedeutung die Kenntnis des talmudischen Schrifttums für das Verständnis des Neuen Testaments hat. In den Stricturae in Sebastian Pfochenii diatriben de puritate linguae graecae NT (1629) widerlegte er die Behauptung, daß im Neuen Testament keine Hebraismen zu finden seien. Die Anerkennung dieser beiden philologisch brillanten Arbeiten nicht nur durch seine Lehrer in Franeker und Bremen, sondern auch seitens berühmter Gelehrter wie Constantin l'Empereur, Ludwig de Dieu, Claudius Salmasius und H. —»Grotius öffnete ihm den Weg ins akademische Lehramt. Seine zunächst wesentlich philologisch ausgerichtete Arbeit spiegelt sich in den Reden De philologia sacra (1630), De dono linguarum effuso in Apostolos (1636) und der Oratio commendans linguarum Studium (1638), in der er erklärt: „Voluit enim Spiritus sanctus intelligi; sed noluit omnia scripturarum a quibusvis quovis modo et sine studio, meditatione, inquisitione, communicatione, precibusque intelligi" [Der Heilige Geist wollte zwar verstanden werden; aber er wollte nicht, daß alles der Schriften von jedem Beliebigen auf jederlei Weise und ohne Studium, Meditation, Nachforschung, Anteilnahme und Gebete verstanden wird]. Zu hermeneutischen Problemen nahm Coccejus schon in der IjQodewQia de ratione interpretandi (ca. 1630) Stellung. Im Vordergrund der gesamten Lehrtätigkeit des Coccejus steht die Auslegung der Bibel (s.o. Bd. 6, 78). Er verfaßte u.a. Kommentare zu Koheleth (1631), Hiob (1644), den kleinen Propheten (1652), zum Hebräerbrief (1659), zu den Psalmen (1660), zum Römerbrief (1665), zum Galaterbrief (1665), zu Ezechiel (1668), zu Jeremia und den Klageliedern (1668) und zum Philipperbrief (1669). Die Kommentare umfassen ungefähr 75% der Gesamtausgaben der Werke des Coccejus. Als eine Art Summe seiner exegetischen Arbeiten ist das Lexicon et commentarius sermonis hebraici et chaldaici veteris testamenti (1669) zu betrachten, an dem er seit 1656 gearbeitet hat. Die in diesem Werk vorgenommene Übersetzung der Sprache des Alten Testaments ins Deutsche zielt wie alle seine exegetische Arbeit ab auf die Erbauung der Gemeinde wie die Herausbildung der Frömmigkeit; denn es ist nötig, „daß dasselbige Wort in allen Sprachen gelesen werde, so eigentlich, so einfältig, deutlich, verständlich, mit genügsamer Gewißheit, nicht nach menschlichem Gutdünken, sondern in solch einer Offenbarung, daß ein jegliches Gewissen bezeugen könne, daß das einmal der Sinn Gottes sein müsse, was man lieset, und daß man nicht zu wünschen habe, daß der Sinn in anderen Wörtern wäre fürgelegt worden". Coccejus grenzt sich entschieden gegen die nur philologisch-historische Exegese von Arminianern (—»Arminius/Arminianismus) und Sozinianern (—»Sozzini/Sozinianer) ab. Philologie führt bei ihm zu einem geistlichen Exerzitium. Daher hat er sich für die Einrichtung von Bibelstunden eingesetzt. Er will einen lebensnahen Umgang mit der Schrift. Das ist sein methodischer Weg, um den ganzen Menschen in seinem Denken und Handeln auf Gottes Willen auszurichten. Zwar ist die Arbeit des Coccejus von Anbeginn geistlich ausgerichtet, aber seine Entwicklung zum theologischen Lehrer setzt erst in Franeker ein. In der Illustrium locorum de Anti-Christo agentium repetitio (1641) und den Exercitationes hermeneuticae de principio epistolae ad Ephesios (1642) setzte er sich aufgrund exegetischer Nachprüfungen kritisch mit den Lehrmeinungen des führenden arminianischen Exegeten H. Grotius auseinander. Diese Arbeiten führten zur Übernahme eines theologischen Lehrstuhls in Franeker. Die aus diesem Anlaß gehaltene Rede De indole, radicibus et regno falsae, typoque verae religionis ac ministris ecclesiae (1643) belegt sowohl seine orthodoxe Einstellung als auch sein Bemühen, nicht vom Dogma seiner Kirche, sondern von der Schrift her zu argumentieren. Aus Disputationsveranstaltungen entstanden die Collationes de foedere et testamento Dei, die zusammen mit einer Brevis analysis temporum Novi Testamenti 1648 erschienen. In jeweils erweiterter Form gab Coccejus diese für das Verständnis seiner Theologie grundlegende Abhandlung in 2. Auflage 1654 und in 3. Auflage 1660 unter dem Titel Summa doctrinae de foedere et testamento Dei heraus. Das andere systematische Hauptwerk des Coccejus, die Summa theologiae ex scripturis repetita (1662, 2. Aufl. 1665), ebenfalls Ergebnis

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von Disputationsveranstaltungen in Leiden, läßt sich als Ergänzung der Monographie über den Bund und das Testament Gottes verstehen. Das Thema vom Bund Gottes mit den Menschen wird in diesem Werk durch alle Loci des überkommenen dogmatischen Lehrsystems verfolgt, jedoch in der für Coccejus typischen Weise als Repetition biblischer Lehre. In die Reihe weiterer dogmatischen wie ethischen Themen gewidmeten Disputationen, die in die Gesamtausgaben der Werke des Coccejus aufgenommen wurden, gehören die dort nicht berücksichtigten, aber interessanten Disputationes theologicae-practicae de via salutis (Franeker 1 6 4 8 ) , weil sie eindrücklich die praktische und nicht so sehr systematische Zielsetzung seiner Theologie verdeutlichen. Mit der Oratio de causis incredulitatis Judaeorum (1650) trat Coccejus sein Lehramt in Leiden an. Während seiner Studien in Hamburg hatte er den Rakower Katechismus (—»Antitrinitarier) kennengelernt; nun setzt er sich mit den häretischen Lehren eines F. Sozzini, G. Enjedin, V. Smalcius und J . Schlichting auseinander. In der Consideratio principii evangelii S. Johannis ( 1 6 5 4 ) verwirft er die sozinianische Christologie. Eine umfassende Auseinandersetzung mit sozinianischen Lehren liegt im Examen Apologiae equitis Poloni ( 1 6 5 6 ) vor, einer Schrift, die im Zusammenhang mit staatlichen M a ß nahmen gegen die Ausbreitung der Sozinianer in den Niederlanden steht. Coccejus, der für diese Schrift die Zustimmung der südholländischen Synode erhielt, hat in weiteren kleineren Arbeiten wie z.B. den Aphorismi contra Socinianos die Auseinandersetzung mit diesem Gegner gesucht, nicht nur zur Verteidigung der rechten Lehre, sondern weil ihm alle Häresie Anlaß zur Erprobung des Glaubens ist. Die aus Rotterdam stammenden Brüder Adrian und Peter van Walenburch hatten vornehmlich von Köln aus eine lebhafte Propaganda gegen Lutheraner wie Reformierte begonnen. In den Herzogtümern Jülich und Berg beunruhigten sie nachhaltig die evangelischen Gemeinden. Sie hatten u.a. Streitgespräche mit dem reformierten Hofprediger j . Hundius und dem lutherischen Pfarrer H. Hülshoff geführt und Schriften gegen bekannte Theologen wie Christoph Scheibler, Johann Konrad Dannhauer, Johann Hülsemann, Friedrich Spanheim und Johann Crocius in Druck gehen lassen. In den Kreis derer, die gegen die Brüder Walenburch schrieben, trat Coccejus mit dem Traktat Sacrae scripturae potentia demonstrata ( 1 6 5 5 ) und der Vorrede zu seinem Kommentar zum Epheserbrief ( 1 6 6 7 ) ein. Er verteidigt das protestantische Schriftprinzip gegen die von den Brüdern Walenburch im Anschluß an die französischen Jesuiten Gonterus und Veronius verfochtene Meinung, daß die bis in die Zeit von Augustin entwickelte katholische Kirchenlehre die allein verbindliche Grundlage des christlichen Glaubens sei, die in der römisch-katholischen Kirche in Geltung stehe. Sie waren der Ansicht, daß die Protestanten eine derartige, durch die Tradition der ersten Jahrhunderte der Christenheit autorisierte Auslegung der Schrift für ihre Lehre nicht vorweisen könnten. Gegen den in Düsseldorf wirkenden Jesuiten J a k o b Masenius ( 1 6 0 6 - 1 6 8 1 ) richtete Coccejus im Auftrag seiner Fakultät eine Responsio ad probationem

scripturariam

Masenii (1656) und die Admonitio

de principio fidei ecclesiae

reformatae

( 1 6 5 7 ) . Im Zusammenhang mit dem Aufsehen erregenden Übertritt des calvinistisch erzogenen Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels zur katholischen Kirche steht die Disquisitio de ecclesia et babylone ( 1 6 5 8 ) . Im Vorwort zum Psalmenkommentar ( 1 6 6 0 ) setzte er sich mit dem Jesuiten Hieronymus Mulmann auseinander. M i t den Animadversiones in Bellarmini controversias stellt er sich in die lange Reihe protestantischer Gegner des einflußreichsten Verfechters katholischer Theologie im Zeitalter der Glaubenskämpfe (—»Bellarmini). In diesen Schriften bezieht Coccejus zu allen damals kontroversen Lehrstücken im Einklang mit reformierter Lehrtradition Stellung. Bis in das Jahr 1 6 5 8 lebte Coccejus in Eintracht mit seinen Kollegen und den Synoden der reformierten Kirche in den Niederlanden. Seit diesem J a h r aber entstehen zunehmend scharfe Konflikte um bestimmte Aspekte seiner aus der Exegese gewonnenen theologischen Ansichten. Abraham Heidanus ließ am 11. Mai 1 6 5 8 in Leiden Thesen De Sabbato et Die dominica erörtern (—»Sonntag). Diese Thesen wurden als Angriff auf die puritanische Geisteshaltung und Kirchenpolitik eines Willem Teelinck, W. —»Ames und G. —»Voetius verstanden. Für die maßgeblich von Voetius geführte kirchliche Reformpartei, die in ihrem

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langjährigen Kampf um die Autonomie der Kirche alle kirchlichen Gruppen beherrschen wollte, war seit Jahren die strenge Einhaltung der Sonntagsruhe ein Kennzeichen des von ihr vertretenen ernsthaften Christentums. Ganz im Einklang mit Aussagen des Coccejus vertrat nun Heidanus u.a. die Ansicht, daß nicht nur ein Tag der Woche, sondern das gesamte Leben eines Christen zu heiligen sei. In Utrecht witterte man daraufhin eine Umgehung des 4. Gebotes; denn für Heidanus wie Coccejus war das Sabbatgebot ein Teil des Zeremonialgesetzes, das für Christen nicht gilt, weil es durch Christi Werk für sie abgeschafft ist. Andreas Essenius ( 1 6 1 8 - 1 6 7 7 ) trat zuerst gegen diese Meinung der beiden Leidener Theologen noch im Jahr 1658 auf. Coccejus antwortete sofort mit der Indagatio naturae sabbati et quietis novi testamenti (1658). Bei der Exegese von Hebr 4,9 ging er dann in seinem 1659 erschienenen Hebräerbriefkommentar ausführlich auf die Geltung des 4. Gebotes ein. Als er daraufhin in einer anonymen Schrift des Sozinianismus verdächtigt wurde, verteidigte er sich mit den beiden 1659 veröffentlichten, in versöhnlichem Ton abgefaßten Abhandlungen Indignatio adversus personatum Nathanaelem Johnsonum und Typus cortcordiae amicorum circa honorem dominicae. Auch Heidanus legte in diesem Jahr nochmals in einer Schrift seinen mit Coccejus übereinstimmenden Standpunkt dar. Nun tritt Johannes Hoornbeek ( 1 6 1 7 - 1 6 6 6 ) , Kollege von Heidanus und Coccejus in der Leidener Fakultät, als Gegner auf. Er hatte schon im Jahr 1655 in populärer Weise die Frage der Heyliging van Godts naam ende dag behandelt, im Jahr 1659 ließ er diese Schrift nochmals auflegen. Zugleich veröffentlichte er zwei weitere Traktate, die scharf die Meinungen der beiden Fakultätskollegen ablehnten. Der Streit zwischen den Theologen hatte zu diesem Zeitpunkt schon große Unruhe in der Kirche hervorgerufen. Daher hat die Synode von Gouda im Jahr 1659 Heidanus und Coccejus zum Frieden ermahnt; durch die Staaten von Holland und Westfriesland wurde es allen Beteiligten untersagt, sich weiterhin zur Sabbatfrage zu äußern. In voetianischen Kreisen sah man in Coccejus und Heidanus Sabbatschänder, deren Meinung unterdrückt werden sollte. Einige Zeit ruhte diese Streitfrage tatsächlich, bis sie ausgerechnet in Utrecht, der Wirkungsstätte von Voetius, durch Frans Burman ( 1 6 2 8 - 1 6 7 9 ) im Jahr 1665 wieder aufgenommen wurde. Ein Nebenschauplatz der von Coccejus in dieser Zeit durchzustehenden Auseinandersetzungen ist

in der Consideratio Judaicarum questionum et responsionum LXI (1661) und der Dcfensio altera autoritatis verbi divini veteris testamenti, quodestin hebraico codice et ejus lectione reeepta (1664) erkenn-

bar. In beiden Schriften verteidigt er gegen Isaak Vossius (1618 — 1689) den vorgeblich verderbten hebräischen textus reeeptus; auch wehrt er sich gegen eine göttliche Autorität der Septuaginta.

Am 9. September disputierte der Schüler des Coccejus Wilhelm Momma ( 1 6 4 2 - 1 6 7 7 ) in Leiden über das Thema De oeconomia temporum. Damit begann die zweite Phase einer theologischen Auseinandersetzung mit Coccejus. Die für seine Theologie typische Anschauung von der einen Ökonomie des Gnadenbundes wurde aufgrund dieser Disputation von Samuel Maresius ( 1 5 9 9 - 1 6 7 3 ) in 83 Fragen einer spitzfindigen Kritik unterzogen. Coccejus beantwortete diese Kritik im März 1663 mit den Animadversiones ad LXXXIII quaestiones de vetere testamento et lege Mosis. Maresius reagierte mit einer Epistola ad J. Coccejum (1665), in der sachliche Differenzen zu Coccejus nicht zu beobachten sind; aber er bezichtigt ihn gefährlicher Neuerungen und beschuldigt ihn des Sozinianismus, ohne dafür einen überzeugenden Nachweis führen zu können. Coccejus ließ diese unsachliche Schmähschrift unbeantwortet. Nun variierte Voetius die Angriffsthematik. Mit seinem Auftreten als Gegner des Coccejus beginnt die dritte Phase der Auseinandersetzungen, die über den Tod von Coccejus wie Voetius anhalten und zur Bildung der voetianischen wie der coccejanischen Parteiungen in der niederländischen reformierten Kirche führten. Voetius ließ vom Juni bis Oktober 1665 in einer Thesenreihe die von Coccejus z. B. im Anschluß an L. Crocius und J . Cloppenburg in seiner Monographie über den Bund und das Testament Gottes seit 1648 bis in den Anfang 1665 erschienenen Römerbriefkommentar vertretene Ansicht widerlegen, daß die Väter zur Zeit des Alten Testaments nur einen unvollkommenen Heilsstand erreicht hätten.

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Ging es schon im Streit um die fortdauernde Gültigkeit des Sabbatgebotes letztlich um die Frage der Geltung des alttestamentlichen —»Gesetzes, so hier nun aus der Sicht des Coccejus um die generelle Herausarbeitung des Unterschiedes zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. In diesem Zusammenhang entwickelte er die These, daß den Vätern zur Zeit der Geltung des Alten Testaments die Sünden nur übersehen (transmissio velpraetermissio peccatorum), nicht aber vergeben wurden (remissio peccatorum), wie es durch Gott seit Christi Werk geschieht. Voetius hat die solchermaßen begründete Differenzierung des Heilsstandes der von Gott Erwählten vor und seit Christi Werk auf Erden bestritten. Auf die Utrechter Disputationsveranstaltungen antwortete Coccejus mit der Abhandlung Moreh Nebochim. Vtilitas distinctionis duorum vocabulorum nagiaernq et acpzozwc, (1665). Als Entgegnung entwickelt er die Rechtfertigungslehre der reformierten Kirche in Abgrenzung gegen jüdische, sozinianischeund katholische Lehren. Den Namen des Voetius erwähnt er in dieser Schrift nicht; dennoch begriff dieser sich als der im Titel der Schrift angesprochene „Lehrer der Zweifler". Voetius antwortete mit der Thesenfolge Prollemata de justificatione. Auf die hierin enthaltenen Angriffe hat Coccejus nicht geantwortet. Die Erkenntnis des Glaubens aus der durch Christus eröffneten Schrift bildet die Grundlage aller theologischen Darlegungen des Coccejus, deren systematischer Ausgangspunkt die Gotteslehre ist. Diese hat bei ihm jedoch nicht entsprechend reformierter Lehrtradition in der Dekretenlehre ihren Schwerpunkt, sondern im Heilswerk Christi. Im Anschluß an die föderaltheologische Tradition in der reformierten Kirche entfaltet Coccejus in zuvor nicht erreichter Geschlossenheit unter dem Gesichtspunkt des Bundes eine —»Biblische Theologie, die alle Texte der Schrift, vielfach erst nach allegorischer Behandlung, für die er häufig gerügt wurde, einem zielbewußten Handeln Gottes zuordnet. Den genannten beiden Summen oder auch den Considerationes de ultimis Mosis (1650), dem Panegyricus de regno Dei (1660), der Oratio deviis Dei (1669) und der Explicatio catecheseos Heidelbergensis (1671) ist als Leitgedanke zu entnehmen, daß der trinitarische Gott seit Ewigkeit einen festen Plan hat, den Menschen ewiges Leben zu schenken. Dazu errichtete Gott zunächst im Paradies den Werkbund, um den mit freiem Willen ausgestatteten Menschen zu prüfen, ob er des ewigen Zieles würdig sei. Da der Mensch versuchte, Gottes Absicht durch die Sünde zu verhindern, führt Gott seither seinen Plan durch die etappenweise Inkraftsetzung des seit Ewigkeit festgelegten Gnadenbundes weiter. Die insgesamt fünf Etappen der Verwirklichung des Gnadenbundes (oder Abrogationen des Werkbundes) sind zugleich eine stufenweise Uberwindung der für den Menschen negativen Folgen des Bruches des Werkbundes. Dieses einheitliche Verständnis aller Stufen des Gnadenbundes ist nur aus der Perspektive der Providenz Gottes möglich. Bedenkt man die handelnden Subjekte, so ist es zunächst der Mensch, der durch den Sündenfall den Werkbund zerstört. Die weiteren vier Abrogationen bestimmt allein Gott. Er führt den Menschen durch diese Zeit, indem er sofort nach dem Sündenfall die Menschen zum Glauben an den Erlöser einlädt. Die Menschen leben ,,/'« exspectatione Christi". Dies ist die Zeit des Alten Testaments. Seit Christi Menschwerdung ist die dritte Abrogationszeit angebrochen. Die Menschen unterliegen dem Neuen Testament „in fide Christi revelati". Zur Zeit des Alten Testaments hatten die Väter die Verheißung Christi, aber sie sahen ihn nicht. Auch das Evangelium war ihnen unbekannt, daß ihre Sünde vergeben ist aufgrund des auf Erden durchgeführten Werkes Christi. Man lebte in der Zeit der Erwartung und nicht der Erfüllung des Heils. In den genannten Kontroversen des Coccejus kam diese Unterscheidung der Testamente als durch Christus bewirkte Zeitenwende bei gleichzeitiger Betonung des einheitlichen Gnadenhandelns Gottes zum Austrag. Der Tod des Leibes wird als vierte und die Auferstehung von den Toten als fünfte Abrogation beschrieben. In diesem aus Gottes Ewigkeit fließenden Heilsprozeß auf dieser Welt bis hin ins Eschaton (—»Eschatologie) ist Christi Werk die Grundlage, um Menschen in den Bund mit Gott zu ziehen. Mit dem Bundesgedanken ist die Vorstellung von einer Pädagogik Gottes verbunden. Der in den Werkbund hineingestellte Mensch besaß eine Gottesebenbildlichkeit, die als ,,praeparatio occasionis ad introducendum foedus gratiae" ausgelegt war. Nach dem Sündenfall ermöglicht Christus als Haupt der neuen Schöpfung die „receptio peccatoris in foedus gratiae", denn von sich aus vermag der Sünder den Weg in Gottes Gnadenbund nicht zu

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Coccejus

beschreiten. Der Glaube empfängt Christi Bundeswerk. Die von Gott in Christus Erwählten erhalten als in Gnaden angenommene Erben des ewigen Heilstestamentes jene unverlierbare Vollkommenheit, die schon Adam zugedacht war. Für den Ablauf dieses Heilsgeschehens ist der Bund die Form des Handelns Gottes zur Errichtung seines Reiches. Christus eröffnet dem Sünder eine —»Bekehrung und Wiedergeburt, um ihn in die bleibende geistliche Gemeinschaft mit Gott zurückzuführen. Die mit den Begriffen Dekret, ewiger Pakt, Bund, Testament, Reich Gottes und auch Kirche verbundenen herkömmlichen Lehraussagen dienen Coccejus dazu, die verschiedenen zeitlichen Aspekte und Verwirklichungsformen dieses in Gottes Barmherzigkeit gründenden Heilsgeschehens aus der Sicht des Gott in Christus erkennenden Glaubens auszusagen. Die Errichtung des Bundes ist daher stets auch Gründung des Reiches Gottes, Ratifizierung und Durchführung des ewigen Testamentes unter dem Gesetz und hernach unter dem Evangelium. Bundes- wie Reichsgenossen sind alle Erwählten; sie bilden Kirche und Gemeinden und nehmen dadurch in Christus allein gründend mit Gott wie untereinander die Gemeinschaftsbezüge von Bundesgenossen auf. So wird die persönliche Erfahrung der das Leben bestimmenden Gotteserkenntnis und deren Umsetzung in alle Lebensbereiche der Zielpunkt der Theologie des Coccejus. Durch das Studium der Schrift erfährt der Glaubende, welche Wege Gott beschreitet, um in der Geschichte dieser Welt sein in Christus auserwähltes Volk seinem ewigen Reich zuzuführen. Alles Geschehen wird bis in die Gegenwart als Handeln Gottes verstanden; die dabei unter anderem feststellbare Bewertung der Gegenwart als Endzeit erweist Coccejus als einen der für das 17. Jh. typischen apokalyptisch denkenden Theologen (—»Apokalyptik). Solche Deutung der eigenen Zeit will sowohl die Nähe und die Macht Gottes aufzeigen als auch die Christen zu einer ernsthaften christlichen Lebensgestaltung verpflichten. Der Mensch wird in die tägliche Verantwortung vor Gott gerufen. Zeit und Ewigkeit sind für den Glaubenden von dem einen Heilsplan umspannt, den jeder als Bundespartner Gottes in seinem Leben zu verwirklichen hat, indem er als Wiedergeborener Beständigkeit in seinem Glauben und Handeln erstrebt. Die Erkenntnis dieses Willens Gottes aus seinem Wort und seinen Taten vermittelt dem Glaubenden auch die Gewißheit, in der Nachfolge Christi durch den Beistand des Heiligen Geistes zur Vollkommenheit bei Gott zu gelangen. Gott aber ist es, der sich dann in seinen Heiligen verherrlicht hat. 3.

Nachwirkung

Obgleich Coccejus sich selbst dagegen gewehrt hat und führende Theologen wie G. Voetius, S. Maresius, Peter van Mastricht ( 1 6 3 0 - 1 7 0 6 ) oder F. Spanheim überaus heftig gegen die Philosophie —»Descartes' stritten, drang dessen neue Denkweise rasch in die reformierte Theologie ein. Abraham Heidanus ( 1 5 9 7 - 1 6 7 8 ) , Christoph Wittich ( 1 6 2 5 - 1 6 8 7 ) und auch Johann Christoph Clauberg ( 1 6 2 2 - 1 6 6 5 ) griffen den Cartesianismus auf, weil er einerseits auf unbedingte Evidenz und klare Begrifflichkeit bei der Ermittlung wahrer Lehre abzielte und andererseits zugleich eine Trennung von Vernunftwahrheiten und Glaubenswahrheiten ermöglichte. Die reformierten Cartesianer schlössen sich der Theologie des Coccejus an, weil diese sich als biblische Theologie von der vorherrschenden orthodoxen Theologie absetzte, da dort philosophische Denkstrukturen die bekenntnisgebundenen Lehraussagen unzulässig überlagerten. Die Theologie sollte frei sein von philosophischen Einflüssen — so forderte es Coccejus. Die cartesianisch geschulten Theologen wollten Glauben und Wissen auseinanderhalten, gerade vermittels der neuen Philosophie. Das wirkte bei den Gegnern des Coccejus überhaupt nicht überzeugend. Man sah im Gegenteil, daß die neue Philosophie grundsätzlich für die tradierte Lehre gefährlich war. Da die Theologie des Coccejus in einer Reihe von Punkten schon zu Konflikten geführt hatte, mußte das Zusammengehen von Coccejanismus und Cartesianismus zu weiterem Streit Anlaß geben. Heftige Auseinandersetzungen gab es nur in den Niederlanden. Nach dem Tode des Coccejus wurden sein Weggenosse, der hochbetagte A. Heidanus, und seine Schüler W. Momma und J. van der Waeyen auf Betreiben der Voetianer ihrer Ämter enthoben. Die rückhaltlose Anerkennung der Schrift des Ludwig Wolzogen De scripturarum interprete (1668) durch Coccejus bewies seinen Gegnern zur

Coccejus

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Geniige den r a t i o n a l e n Intellektualismus der F ö d e r a l t h e o l o g i e , der d u r c h die V e r b i n d u n g mit dem C a r tesianismus n u r n o c h deutlicher w u r d e . Die neue T h e o l o g i e wie Philosophie w u r d e n als Angriffe a u f die durch die D o r d r e c h t e r S y n o d e für s a n k t i o n i e r t e r a c h t e t e r e f o r m i e r t e S c h u l t h e o l o g i e v e r s t a n d e n . Diese negative Sicht der T h e o l o g i e des C o c c e j u s und die feindliche H a l t u n g g e g e n ü b e r seiner G e f o l g s c h a f t ist in den N i e d e r l a n d e n n u r l a n g s a m a b g e b a u t w o r d e n . A u f die P r o b l e m a t i k der V e r b i n d u n g von C o c c e j a nismus und C a r t e s i a n i s m u s weist der U m s t a n d , d a ß der v o n C o c c e j u s g e s c h ä t z t e C a r t e s i a n e r W o l z o g e n mit J. de —»Labadie in Streit geriet; darin k a n n m a n eine frühe pietistische R e a k t i o n a u f die unter anderem aus dem C a r t e s i a n i s m u s a u f k e i m e n d e A u f k l ä r u n g erblicken. D a s schließt jedoch keineswegs aus, d a ß g e r a d e L a b a d i s t e n w i e Pierre Y v o n und H e i n r i c h Schlüter d u r c h C o c c e j u s beeinflußt w a r e n .

Coccejus strebte eine Erneuerung von Theologie und Kirche an. Seine Föderaltheologie wollte als Ergebnis einer von aristotelischen, ramistischen wie cartesianischen Begriffen und Denkoperationen freien exegetischen Erforschung der Schrift ein weltoffenes, zeitgemäßes, aber aus dem Wort Gottes allein seine Gestaltungskräfte gewinnendes Christentum prägen helfen. Die Kirche als Form des Bundes Gottes, als Gestalt des Reiches Gottes beschrieb er in ihren Verwirklichungsphasen bis in die eigene Gegenwart hinein entsprechend dem im Bunde erkennbaren Heilsplan Gottes. Seine Schüler waren daher in der Heiligen Schrift wie in der Kirchengeschichte bewanderte, gelehrte Theologen, die in großer Zahl und rasch in Universitäten und Gemeinden der Föderaltheologie zum Durchbruch verhalfen. Aus der Bibel entnahm man die Weisung, das Leben im Bunde mit Gott zu gestalten. Diese Zielsetzung wurde identisch mit den Absichten des —>Pietismus in der reformierten Kirche; der Pietismus ist hier nachhaltig durch die Theologie des Coccejus geprägt wie gefördert worden. Die Bedeutung des —»Puritanismus für die Entwicklung des Coccejanismus ist ungeklärt; daß coccejanisch eingestellte Theologen puritanische Literatur verarbeitet haben, läßt sich jedoch häufig nachweisen. Entscheidend für die unmittelbare und lange Nachwirkung des Coccejus ist der Umstand, daß eine stattliche Zahl von Theologen wie Hermann Witsius ( 1 6 3 6 - 1 7 0 8 ) , Jodocus van Lodensteyn ( 1 6 2 0 - 1 6 7 7 ) , Theodor Undereyck ( 1 6 3 5 - 1 6 9 3 ) , Samuel Nethenus ( 1 6 2 8 - 1 7 0 7 ) oder Cornelius de Hase ( 1 6 5 3 - 1 7 1 0 ) in unterschiedlicher Ausprägung das Erbe von Voetius wie Coccejus zu einer Einheit verbinden konnten. Die „ernstigen oder feinen Coccejaner" wie Campegius Vitringa ( 1 6 5 9 - 1 7 2 2 ) , Johannes d'Outrein ( 1 6 6 2 - 1 7 2 2 ) , Johannes Braun ( 1 6 2 8 - 1 7 0 8 ) oder Friedrich Adolf Lampe ( 1 6 8 3 - 1 7 2 9 ) gestalteten den Coccejanismus und den reformierten Pietismus bis weit ins 18. Jh. Sie erreichten den Ausgleich mit den nicht-pietistischen „Leidener Coccejanern", deren Führer Henricus Groenewegen (ca. 1640—1692) war, wie mit der asketisch doktrinären Haltung der Voetianer. Die von allen Seiten erstrebte praxis pietatis wurde die Brücke, die sowohl von den Voetianern wie den Gruppierungen in der Gefolgschaft des Coccejus in der Hauptsache in den Pietismus führt. Das Interesse des Coccejus an der Auslegung der Apokalypse zur Ermittlung der Fortschritte der Heilsgeschichte wurde insbesondere im radikalen Pietismus aufgegriffen. Die typologische Exegese, der Einfluß der zeitgenössischen Hieroglyphik und Emblematik öffneten die Schrift als ein „systema propheticum" (Vitringa) zur Deutung der Geschichte, oder man fand das „Geheimnis des Gnadenbundes" (Lampe), die wahre Weisheit, die von oben ist, zur Auferbauung eines rechten Christenlebens als Bundespartner Gottes. — Im lutherischen Pietismus ist Coccejus, angefangen bei Ph. J. —>Spener, hoch geschätzt worden. Die vor wie neben Coccejus vorhandenen föderaltheologischen Entwürfe verbanden sich im Coccejanismus derart intensiv, daß die föderaltheologische Methode als die reformierte Lehrmethode bezeichnet werden konnte (Bohatec) und die orthodoxe reformierte Theologie im Uberblick quellenmäßig allein im Schema der Föderaltheologie dargestellt wird (Heppe/Bizer). Die Entwicklungen innerhalb der reformierten Theologie werden dabei ebenso übersehen wie die Verbindung des Coccejanismus mit dem Cartesianismus nicht als problembehafteter Ubergang zur —»Aufklärung erkannt wird, ganz zu schweigen von der Fernwirkung etwa auf heilsgeschichtliche Konzeptionen im 19. Jh., insbesondere auf den Reich-Gottes-Gedanken und die Missionsaufgabe der Kirche.

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Cochläus

Quellen Opera omnia, 8 Bde., Amsterdam 1 6 7 3 , Frankfurt a . M . 2 1 6 8 9 ; 10 Bde., Amsterdam 3 1 7 0 1 . Opera anecdota, 2 Bde., Amsterdam 1 7 0 6 (Bd. II auch mit einem weiteren Anhang von Briefen 1 7 0 6 erschienen). - Drei Bände nachgelassener, größtenteils ungedruckter Korrespondenz befinden sich in der Staatsbibliothek Bremen. Literatur Karl Barth, K D I V / 1 , 1 9 5 3 , 5 7 - 7 0 . - B B K L I, 1 0 7 2 . - Ernst Bizer, Art. Coccejus: R G G 3 1 ( 1 9 5 7 ) 1 8 4 1 f . - D e r s . , H i s t . Einl.: ders./Heinrich Heppe, D i e D o g m a t i k d e r ev.-ref. Kirche, Neukirchen 2 1 9 5 8 . - Ders., Die ref. O r t h o d o x i e u. der Cartesianismus: Z T h K 5 5 ( 1 9 5 8 ) 3 0 6 - 3 7 2 . - Josef B o h a t e c , Die cartesianische Scholastik, 1 9 1 2 = Hildesheim 1 9 6 6 . - E b e r h a r d Busch, D e r B e i t r . u. Ertrag der Föderaltheol. für ein gesch. Verständnis der Offenbarung: O i k o n o m i a . FS O. Cullmann, Hamburg-Bergstedt 1 9 6 7 , 1 7 1 - 1 9 0 . - H e i n e r Faulenbach, W e g u . Ziel der Erkenntnis Christi. Eine Unters, zur T h e o l . des J . Coccejus, 1 9 7 3 ( B G L R K 3 6 ) . - Ders., Die Beurteilung des Cartesianismus u. Coccejanismus durch J . Pitten: M E K G R 2 5 ( 1 9 7 6 ) 1 5 5 - 1 6 5 . - Ders., Die christl. Persönlichkeit bei J o h a n n e s C o c c e j u s : J . van den B e r g / J a n Pieter van D o o r e n , Pietismus u. Reveil, Leiden 1 9 7 8 , 1 3 0 - 1 4 0 . - Ders., Die Anfänge des Pietismus bei den Reformierten in Deutschland: Pietismus u. Neuzeit, Göttingen, IV 1 9 7 9 , 1 9 0 - 2 3 4 . Wilhelm Goeters, Die Vorbereitung des Pietismus in der ref. Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1 6 7 0 , Leipzig 1 9 1 1 . - Emanuel Hirsch, Gesch. der neuern ev. T h e o l . , Gütersloh, I s 1 9 7 5 , 2 3 7 - 2 4 4 . - Walter Hollweg, Art. Coccejus: N D B 3 ( 1 9 5 7 ) 3 0 2 f . - Rigobert Köper, Art. C o c c e j u s : L T h K 2 2 ( 1 9 5 8 ) 1 2 4 2 . - Hans J o a c h i m Kraus, Gesch. der hist.-krit. Erforschung des A T v. der Reformation bis zur Gegenwart, Neukirchen 2 1 9 6 9 . - Gottfried M a i , Die niederdt. Reformbewegung, 1 9 7 9 ( H o s E c 12). - Ch. S. M c C o y , T h e covenant theology o f J . Coccejus, Diss. Yale Univ. 1 9 5 7 . — Ders., J . Coccejus, federal theologian: S J T h 16 ( 1 9 6 3 ) 3 5 2 - 3 7 0 . - Jürgen M o l t m a n n , Art. C o c c e j u s : E K L 1 ( 1 9 5 6 ) 8 0 2 f. - Ders., Geschichtstheol. u. pietistisches Menschenbild bei J . Coccejus u. T h . Undereyck: EvTh 19 ( 1 9 5 9 ) 3 4 3 - 3 6 1 . - D e r s . , J a c o b Brocard als Vorläufer der Reich-Gottes-Theol. u. der prophetischen Schriftauslegung des J . Coccejus: Z K G 7 1 ( 1 9 6 0 ) 1 1 0 - 1 2 9 . - A l b r e c h t Ritsehl, Gesch. des Pietismus, Berlin, I 1 8 8 0 = 1 9 6 6 . - G o t t l o b Schrenk, Gottesreich u. Bund im älteren Protestantismus vornehmlich bei J . Coccejus, Gütersloh 1 9 2 3 . - Ernst Staehelin, Der Briefwechsel zw. J . B u x d o r f II. u. J . Coccejus: T h Z 4 ( 1 9 4 8 ) 3 7 2 - 3 9 1 . - F. Ernest Stoeffler, T h e rise of evangelical pietism, Leiden 1 9 6 5 . Ders., German pietism during the eighteenth Century, Leiden 1 9 7 3 . Heiner Faulenbach

C o c h l ä u s , Johannes 1. Leben I.

2 . Schriften

(1479-1552) 3 . Theologie

4 . Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 1 4 6 )

Leben

J . C o c h l ä u s , eigentlich D o b e n e c k , w u r d e 1 4 7 9 in R a u b e r s r i e d , P f a r r e i W e n d e l s t e i n ( d a h e r d e r N a m e C o c h l ä u s v o n l a t . cochlea

[ W e n d e l t r e p p e ] ) bei S c h w a b a c h , B i s t u m E i c h s t ä t t ,

g e b o r e n . E r s t a m m t e a u s e i n e r b ä u e r l i c h e n F a m i l i e . Sein G r o ß v a t e r s t a m m t e a u s N ü r n b e r g , w o er d a s B ü r g e r r e c h t b e s a ß . Sein V a t e r s t a r b f r ü h . Sein O n k e l , J o h a n n e s H i r s p e c k , P f a r r e r in P f a r r k i r c h e n , v e r m i t t e l t e i h m die E i n f ü h r u n g in die l a t e i n i s c h e S p r a c h e . U b e r seine w e i t e r e A u s b i l d u n g ist n i c h t s g e n a u e r e s b e k a n n t . A m 2 6 . A p r i l 1 5 0 4 w u r d e er a n d e r U n i v e r s i t ä t —»Köln i m m a t r i k u l i e r t . A m 3 . J u n i 1 5 0 5 e r w a r b er d a s B a k k a l a u r e a t , a m 2 2 . 3 . 1 5 0 7 die M a g i s t e r w ü r d e . I m g l e i c h e n J a h r v e r ö f f e n t l i c h t e er s e i n e e r s t e Schrift Musica.

Damals wan-

d e l t e D o b e n e c k seinen N a m e n in C o c h l ä u s u m . A n s c h l i e ß e n d s t u d i e r t e e r in K ö l n T h e o l o g i e , w o die Summa

theologica

des — » T h o m a s v o n A q u i n u. a. d u r c h K o n r a d K o e l l i n e r k l ä r t w u r -

de. A m 1 2 . 5 . 1 5 0 9 e r h i e l t er in K ö l n d e n T i t e l P r o f e s s o r . 1 5 1 0 w u r d e e r z u m L e i t e r d e r St. L o r e n z - S c h u l e in — » N ü r n b e r g b e r u f e n . H i e r v e r ö f f e n t l i c h t e er seit 1 5 1 1 m e h r e r e S c h u l b ü c h e r , eine l a t e i n i s c h e G r a m m a t i k , ein L e h r b u c h d e r M u sik, eine K o s m o g r a p h i e , die Germania,

das erste L e h r b u c h der G e o g r a p h i e über D e u t s c h -

l a n d , u n d g a b die e r s t e n drei B ü c h e r d e r Meteorologie

des —»Aristoteles h e r a u s . B e r e i t s 1 5 1 4

e r w ä h n t e J a k . W i m p f e l i n g C o c h l ä u s u n t e r den z u b e a c h t e n d e n G r a m m a t i k e r n . In N ü r n b e r g k n ü p f t e C o c h l ä u s e n g e V e r b i n d u n g e n z u m N ü r n b e r g e r H u m a n i s t e n k r e i s u n d ging 1 5 1 5 a u f W u n s c h v o n W i l l i b a l d P i r c k h e i m e r als B e g l e i t e r v o n dessen N e f f e n n a c h Italien. E r ließ sich in B o l o g n a i m m a t r i k u l i e r e n , w o er a m 1 2 . 7 . 1 5 1 5 Z e u g e d e r D i s p u t a t i o n

Cochläus

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J. —»Ecks über die Erlaubtheit des Zinsnehmens wurde. Er berichtete über den Verlauf der Disputation nach Nürnberg und verfaßte eine Schrift gegen die Thesen Ecks (handschriftlich vorhanden in der Freiburger UB). In die damalige Auseinandersetzung zwischen Eck und Cochläus griff Pirckheimer vermittelnd ein. 1 5 1 7 beendete Cochläus seine Schrift gegen —»Justinian, die Septem querela in )ustinianum imperatorem. Am 2 8 . 3 . 1 5 1 7 wurde er in Ferrara zum Doktor der Theologie promoviert. In Bologna fand er die Schrift des L. —»Valla, Donatio Constantini, von der U. v. —»Hutten eine Abschrift herstellte und später in Deutschland drucken ließ. Am 1 0 . 9 . 1 5 1 7 brach Cochläus mit den Neffen Pirckheimers nach Rom auf. Hier setzte er seine theologischen Studien fort, ließ sich in die hebräische Sprache einführen und studierte besonders die Heilige Schrift, die Kirchenväter und Geschichte. In Rom fand er auch Zugang zum Kreis des Oratoriums und empfing 1518 die Priesterweihe. Im gleichen Jahr wurde er zum Dekan des Frankfurter Liebfrauenstiftes ernannt. Im Sommer 1519 verließ er Rom und reiste über Nürnberg nach Frankfurt, wo er am 1 8 . 1 . 1 5 2 0 eintraf. Inzwischen edierte er die Werke des Maxentius und wandte sich an —»Luther mit der Bitte, den Wissenschaften, der Religion und dem Gemeinwesen die Ruhe wiederzugeben. In Frankfurt fand er u.a. in J.Dietenberger einen guten Freund. Ende 1 5 2 0 wandte er sich nach Lektüre von Luthers Schriften Über die Babylonische Gefangenschaft und An den christlichen Adel von Luther ab. Bestimmender Anlaß war für ihn die Leugnung des besonderen Priestertums durch Luther. Seine Entscheidung war das Ergebnis einer religiösen und theologischen Entwicklung, eine echte Gewissensentscheidung. Sie forderte persönliche Opfer, wie die Trennung von vielen humanistischen Freunden. Bereits 1521 erklärte Cochläus im Gespräch mit Luther auf dem Reichstag zu Worms (Colloquium cum Luthero Wormatiae olim habitum, 1540, fol. B i j b ) : Die schönen Wissenschaften habe ich immer hochgehalten, aber höher als sie steht mir der katholische Glaube. Seit 1521 ist sein Lebensweg bestimmt durch die Verteidigung des katholischen Glaubens. Er gehört seitdem zu den unermüdlichen Vorkämpfern der alten Kirche. In Frankfurt entfaltete Cochläus eine fruchtbare Wirksamkeit. 1521 wurde er von G. —»Aleandro, den er von Rom her kannte, zu einer Besprechung nach Worms berufen. Er führte am 2 4 . 4 . 1 5 2 1 auf dem Reichstag ein Gespräch mit Luther, das ergebnislos verlief (—»Reichstage der Reformationszeit). Seine Stellungnahme gegen Luther in Worms hatte für ihn negative Folgen. Eine Fülle von Verdächtigungen wurde gegen ihn ausgestreut. Trotzdem hat er unbeirrt an seiner Haltung festgehalten. Er veröffentlichte gegen Luther eine Reihe von Schriften, u.a. über die Gnade der Sakramente und die Kindertaufe. Luther beantwortete mit Spott und persönlicher Herabwürdigung des Cochläus in Wider den gewappneten Mann Cochlaeus (WA 11, 2 9 5 - 3 0 6 ) das Werk Über die Gnade der Sakramente. Er bezeichnete Cochläus in Anspielung auf dessen Namen als „Schnecke". In seiner Antwort Gegen den Wittenberger Minotaurus in der Mönchskutte ging Cochläus u.a. auf das Problem der —»Rechtfertigung ein. Am 1 9 . 6 . 1 5 2 1 bedauerte Cochläus in einem Brief an —»Leo X . die Untätigkeit der deutschen Bischöfe gegenüber der lutherischen Bewegung und die mangelhafte Reaktion aus Rom. Erst die Wahl —»Hadrians VI. gab Cochläus neuen Auftrieb. Am 2 1 . 9 . 1 5 2 3 brach er zu einem zweiten Romaufenthalt auf, ohne vom Tode Hadrians VI., der am 14.9. gestorben war, zu wissen. Der Plan, ein Reformprogramm für die Kirche in Deutschland zu erörtern, mußte unter diesen Umständen zunächst verschoben werden. Nach der Wahl —»Clemens' VII. beteiligte sich Cochläus an den Beratungen, wie Deutschland für den Katholizismus zurückgewonnen werden könne. Als Reformvorschläge machte er: die Förderung der Ausbildung der Geistlichen und der religiösen Unterweisung, die Verbreitung von Erbauungsbüchern. Clemens VII. bot damals Cochläus eine Stellung an der Poenitentiarie an, aber dieser lehnte ab, weil er seine Aufgabe in Deutschland sah. Er begleitete den Legaten —»Campeggio zum Nürnberger Reichstag 1524. Am 1 4 . 3 . 1 5 2 4 erreichten sie Nürnberg, wo Cochläus als Berater Campeggios wirkte. Am 2 6 . 4 . brach er nach Stuttgart auf, wo er einige Wochen an der Drucklegung seiner Schriften arbeiten konnte. Von dort reiste Cochläus nach Regensburg, wo er am 2 3 . 6 . eintraf und als Dolmetscher des Kardinallegaten und als sein Vertreter im Ausschuß für die Reform der Geistlichkeit tätig war. Im August 1524 kehrte er nach

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Cochläus

Frankfurt zurück. Hier bemühte sich der reformatorisch gesinnte Teil des Rates um die Einführung des Luthertums. Es kam zu einem Aufruhr, der Cochläus veranlaßte, die Stadt am 1 8 . 4 . 1 5 2 5 zu verlassen. Über Mainz reiste er nach Köln, wo er beim Kanonikus Georg Lauer Aufnahme fand. Im Ausbruch des —»Bauernkrieges sah Cochläus eine Bestätigung seiner Voraussagen über die Folgen der Reformation. Ihm galt Luther als der eigentlich Schuldige am Ausbruch der Unruhen, wie er in seiner Antwort auf Luthers Schrift Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern betonte. Im Frühjahr 1526 wurde Cochläus Stiftsherr von St. Viktor in Mainz und theologischer Berater des Erzbischofs —»Albrecht von Mainz, den er Ende Juni zum Speyerer Reichstag begleitete. Nach Frankfurt ist Cochläus nie wieder zurückgekehrt, wenn er auch mit seinen dortigen Freunden in Kontakt blieb. 1526 erstattete er ein Gutachten, in dem er sich gegen die Apologie der Frankfurter Prädikanten wandte. Nach dem Tode von H. —»Emser berief ihn —»Georg von Sachsen als seinen Hofkaplan. Am 7 . 1 . 1 5 2 8 verabschiedete sich Cochläus von Erzbischof Albrecht, der ihn ungern scheiden sah. In Dresden setzte Cochläus seine intensive schriftstellerische Tätigkeit gegen Luther fort. Zu den Schriften, die er damals abfaßte, gehörte der Siebenköpfige Luther, ein Werk, in dem er die Widersprüche Luthers aufzuzeigen suchte. Ende Juni 1529 erschien sein ebenfalls gegen Luther gerichteter Dialog über den Krieg gegen die Türken. 1530 antwortete er Lazarus Spengler, der einen anonymen Angriff auf die kirchlichen Rechtsbücher unternommen hatte, und zeigte auf, daß viele Zitate bei Spengler gefälscht waren. Auf dem Reichstag zu Augsburg bemühte sich Cochläus, die Einheit der Kirche zu retten. Es kam zu einem offenen Meinungsaustausch mit —»Melanchthon, der Cochläus zu der Überzeugung brachte, daß dieser lutherisch denke. In Augsburg war Cochläus neben Eck, —»Fabri und anderen mit der Abfassung einer Widerlegung des —»Augsburger Bekenntnisses beauftragt worden und hatte kritisch zu seinen ersten drei Artikeln Stellung zu nehmen. Der erste Entwurf der katholischen Theologen wurde vom Kaiser verworfen. Nach dem 16.7. verfaßten Cochläus u. a. die Confutatio Confessionis Augustanae (s. TRE 4, 6 2 8 - 6 3 2 ) . Die katholischen Auffassungen der Confessio Augustana wurden herausgestellt, die der Lehre der Kirche widersprechenden als Irrtum bezeichnet. Cochläus gehörte auch zu den Gesprächspartnern im Vierzehner-Ausschuß und verhandelte in der Zeit vom 16. bis 2 1 . 8 . um eine Einigung. Noch Ende August sprach er sich für ein Nachgeben gegenüber den Protestanten aus, weil ein Krieg mehr Unheil bringe als ein unbilliger Vertrag. Am 28.9. schrieb er bedauernd an F. Nausea, daß die Glaubensverhandlung ergebnislos verlaufen sei. Enttäuschtverließ Cochläus mit seinem Fürsten am 2 1 . 1 0 . 1 5 3 0 Augsburg. Im Dezember 1530 mahnte er nochmals zu Frieden und Einigkeit. Immer stärker wurde in ihm die Erkenntnis, daß Melanchthon für die Kirche verloren sei. Je länger der Abstand vom Augsburger Reichstag wurde, desto kritischer beurteilte er Melanchthon, den er als einen geschickten Heuchler ansah. Er setzte deshalb in den kommenden Jahren die Auseinandersetzung mit Melanchthon verstärkt fort. Am Reichstag in Regensburg 1532, wo er im April eintraf, nahm Cochläus aktiven Anteil und besprach u. a. die Lage der Kirche in Deutschland mit Aleandro und Campeggio. Mitte Juni verließ er Regensburg und war am 25.6. wieder in Dresden. Die Papstwahl des Jahres 1534 löste bei Cochläus große Hoffnungen aus. An —»Paul III. richtete er eine Gratulationsschrift, die das Ziel hatte, den Konzilseifer des Papstes anzuspornen. Im November 1534 traf er mit Nuntius P. P. —»Vergerio zusammen, der ihn für die Vorarbeiten des Konzils nach Rom zu ziehen suchte. Cochläus hoffte damals auf die baldige Einberufung eines Konzils und schrieb am 2 2 . 1 1 . an den Papst einen Brief, in dem er die Notwendigkeit der Einberufung eines Konzils herausstellte. Das Konzil sei zur Überwindung der Irrlehren erforderlich, zur Versöhnung der Fürsten und zur Besserung der Sitten aller Stände. Zugleich arbeitete Cochläus an seiner Hussiten-Geschichte und an seinen Lutherkommentaren, die im Dienst der Konzilsvorbereitungen standen, und verteidigte gegen die Wittenberger die Autorität der Konzilien. Im Juli-August 1535 siedelte Cochläus nach Meißen über, wo ihm Herzog Georg ein Kanonikat an der Domkirche verliehen hatte. Auch hier gewann Cochläus viele Freunde,

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u. a. Julius —»Pflug. 1536 richtete er in Leipzig eine Druckerei ein, um entsprechende Publikationsmöglichkeiten zu haben. Am 1 5 . 1 1 . 1 5 3 7 führte er den neuen Bischof von Meißen, J. von Maltitz, ein. Seit Sommer 1538 k n ü p f t e Cochläus Verbindungen zu —»Contarini und —»Sadoleto, den Führern der Reformpartei im Kardinalskollegium. Damals verteidigte Cochläus gegen Joh. —»Sturm das Kardinalsgutachten über die Reform der Kirche. Der Tod von Herzog Georg am 1 7 . 4 . 1 5 3 9 brachte für Cochläus eine bedrohliche Situation. Georgs Nachfolger, Herzog Heinrich, war lutherisch gesinnt. In dieser Situation bemühte sich Cochläus, den alten Glauben zu erhalten und war in der Frage der Priesterehe und des Laienkelches zu Konzessionen bereit. Er erstellte im Auftrag seines Bischofs ein entsprechendes Gutachten für die Kurie. Inzwischen vollzog sich die Protestantisierung des Herzogtums. So folgte Cochläus im September 1539 einem Ruf des Breslauer Domkapitels, das ihm August 1539 ein Kanonikat übertragen hatte. Cochläus traf gerade in den Tagen vor der Bischofswahl in Breslau ein und k o n n t e sich an der Wahl ( 1 8 . 9 . 1 5 3 9 ) von Bischof Balthasar von Promnitz beteiligen. Anschließend reiste Cochläus nach Wien, wo er die Bestätigung der Wahl erreichte. Am 1 1 . 5 . 1 5 4 0 erhielt er von —»Ferdinand I. die Aufforderung, am Religionsgespräch in Hagenau teilzunehmen (—»Reformationsgespräche), wo er am 10.6. eintraf. Am 17.6. hatte er eine Privataudienz bei Ferdinand, in der er ihm eine Lagebeurteilung vorlegte und entsprechende Konsequenzen forderte. Die Verhandlungen in H a g e n a u begannen am 25. Juni, verliefen aber ergebnislos. Am 16.7. schlug Ferdinand die Vertagung der Gespräche vor, die am 28.7. beendet wurden. Am 2 5 . 9 . mußte Cochläus wiederum das Breslauer Domkapitel um Urlaub bitten, weil er zur Teilnahme am Religionsgespräch in W o r m s berufen wurde. Die Verhandlungen begannen am 2 5 . N o v e m b e r 1540. Cochläus schlug damals als Ausgangsbasis f ü r das Gespräch die Confessio Augustana und die Augustbeschlüsse von 1530 vor und bat um Aufklärung über die verschiedenen Ausgaben des Augsburger Bekenntnisses. Am 1 2 . 1 . 1 5 4 1 einigte man sich über den Verhandlungsmodus, aber bereits am 18.1. wurde das Gespräch abgebrochen und nach Regensburg verlegt. Für Cochläus wurde dieser Wormser Aufenthalt bedeutsam, weil er hier bei P. Faber —»Exerzitien machte. Von W o r m s ging Cochläus über Mainz nach Regensburg, w o er am 5 . 3 . 1 5 4 1 eintraf und u.a. mit Contarini z u s a m m e n k a m , mit dem er bereits seit einigen Jahren in Briefwechsel stand. Die Ansichten des Contarini über die Rechtfertigung fanden seine Zustimmung. In Regensburg versuchte Kurfürst Joachim II. von Brandenburg, Cochläus am 2 7 . 5 . 1 5 4 1 für das Luthertum zu gewinnen. Cochläus reagierte mit der Feststellung, daß er von der Wahrheit nicht lassen könne. Nach der Beendigung des Reichstages n a h m er am 2 9 . 7 . von Contarini Abschied, der ihn u.a. darauf hinwies, daß das Gebet in der religiösen Auseinandersetzung die wichtigste Sache sei, und kehrte nach Breslau zurück. Aber die Lage des Katholizismus wurde dort immer bedrohlicher. Im Juni 1543 traf Cochläus Vorbereitungen, um als Vertreter des Bischofs von Breslau a m —»Tridentinum teilzunehmen. Auf der Reise erfuhr er in Kempten von der am 6.6. beschlossenen erneuten Vertagung des Konzils. Er folgte jetzt der Einladung des Bischofs M o ritz von H u t t e n nach Eichstätt, w o er seit 1542 Kanonikus von St. Willibald war und an der Domschule dozieren sollte. In Eichstätt w u r d e er vom Bischof auch zu kirchenpolitischen Aufgaben herangezogen. Die Zeit in Eichstätt war für Cochläus eine Periode fruchtbaren Schaffens. Er n a h m an der Salzburger Provinzialsynode von 1544 teil und trat hier als entschiedener Verteidiger des Papstes hervor. Bevor 1545 das Konzil von Trient zusammentrat, erhielt Cochläus den Auftrag, die Bischöfe von Eichstätt und Breslau in Trient zu vertreten. Auch Ferdinand teilte ihm mit, d a ß er sich für die von ihm beabsichtigte Konzilsbeschickung bereit halten möge. Er mußte jedoch in Eichstätt zurückbleiben, da er wegen körperlicher Schwäche nicht reiten konnte, s o n d e r n fahren mußte. Mittlerweile kam jedoch auf ihn eine neue Aufgabe zu: Die Teiln a h m e am zweiten Religionsgespräch in Regensburg, das der Eichstätter Bischof als Präsid e n t leitete. Kurz vor Weihnachten brach Cochläus nach Regensburg auf. In den Verhandlungen griff er wieder auf die Ergebnisse der Ausschußberatungen vom August 1530 zurück

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und erinnerte daran, daß die Lutheraner damals bei den Verhandlungen über die Rechtfertigung auf das Wort „allein durch den Glauben" verzichtet hätten. In Regensburg kam es zu keiner Einigung. Anfang März 1546 brachen die protestantischen Gesprächsteilnehmer die Diskussionen ab. In einem Bericht über das Religionsgespräch, den Veit Dietrich verfaßte, wurde Cochläus als der beste unter den katholischen Teilnehmern bezeichnet. Über die Vorgänge beim Religionsgespräch berichtete Cochläus eingehend an Kard. Cervini am 21.3. 1546. Nach dem Scheitern der Verhandlungen arbeitete Cochläus mit an einem vom Kaiser geforderten Gutachten über den jetzt einzuschlagenden Weg zur Wiederherstellung der religiösen Einheit Deutschlands, das am 1 4 . 4 . 1 5 4 6 von Cochläus, Malvenda, Billick und Hoffmeister erstellt wurde. Den Verlauf der Trienter Konzilsberatungen hat Cochläus mit Spannung verfolgt. Wenn er auch am Tridentinum nicht teilnehmen konnte, war er trotzdem für die Konzilsväter in Trient eine wichtige Quelle: Seine Schriften fanden bei den Beratungen starke Verwendung. Auf das Trienter Rechtfertigungsdekret reagierte Cochläus mit der Feststellung, das Studium dieser Konzilsentscheidung habe ihn von einer Sorge befreit, die durch zwei früher bekannt gewordene Entwürfe entstanden war: daß das Konzil den Protestanten zu weit entgegenkommen könnte. Jetzt aber sehe er, daß der Heilige Geist sein Werk getan und den Glauben rein bewahrt habe, schrieb er am 29. März 1547 an Cervini (ZKG 18 [1898] 620). 1547 vollendete Cochläus in Eichstätt seine Lutherkommentare, die er bereits 1533/34 begonnen hatte. Ostern 1549 konnte er dann seine Geschichte der Hussiten veröffentlichen, im Herbst 1549 erschienen die Lutherkommentare und mehrere Schriften gegen —»Calvin. Im Mai 1549 nahm Cochläus an der Mainzer Provinzialsynode teil und reiste von dort nach Breslau, wo er am 2 . 8 . 1549 eintraf. Seit Ende August 1550 mußte er aus Gesundheitsgründen alle anstrengenden Arbeiten einstellen, setzte jedoch seine umfangreiche Korrespondenz, unter anderem mit S. —»Hosius und P. —»Canisius, fort. Er konnte fortan für seine Kirche weithin nur noch beten. Bereits in Meißen hatte er es dankbar empfunden, daß das Gebet im Dom weder bei Tag noch bei Nacht verstummte. Täglich feierte er die hl. Messe. So war das Ende seines Lebens geprägt vom Geist der Versöhnung und der Verinnerlichung. Durch das Beispiel eines vorbildlichen christlichen Lebens und durch das Gebet versuchte er, für die Einheit der Kirche zu wirken. In der Nacht vom 10. auf den 1 1 . 1 . 1 5 5 2 starb Cochläus über seinen Büchern. Einige Tage später wurde er in der St. Barbara-Kapelle des Breslauer Doms bestattet. 1917 wurde sein Grab in den Chor des Domes verlegt. Cochläus hatte sich im Dienst für die Kirche verzehrt. Seit 1521 nahm er Jahr für Jahr an allen entscheidenden kirchlichen Ereignissen Anteil. In Worms 1521, Rom 1522/23, Regensburg 1524, Augsburg 1530, Hagenau 1540, Regensburg 1546 setzte er sich mit Eifer für die Interessen seiner Kirche ein. Sein umfangreicher Briefwechsel macht deutlich, welche Sorgen und Anliegen ihn bewegten, er zeigt aber auch, daß er mit den theologischen und kirchenpolitischen Größen seiner Zeit im steten Austausch stand. Seine Berichte nach Rom, seine Gutachten, seine Reformbemühungen, seine Teilnahme an den Religionsgesprächen, seine kirchenpolitischen Überlegungen, seine Kenntnis der erforderlichen Schritte für die Erhaltung des Glaubens, nicht zuletzt seine Kompromißbereitschaft, wie sie sich z.B. in Augsburg 1530, in Meißen 1539 und in Hagenau 1540 zeigen, haben entscheidend zur Rettung des deutschen Katholizismus beigetragen. Er ließ sich auch vom Geist der Exerzitien des Ignatius von —»Loyola bereichern und unterstützte die Arbeit der Gesellschaft Jesu (—»Jesuiten) in Deutschland, wo er nur konnte. Er bemühte sich in Briefen an Päpste und Kardinäle um die Einberufung des Konzils, er beeinflußte die deutschen Bischöfe, daß sie im Sinne der Reform tätig wurden, und sparte andererseits nicht mit kritischen Worten über ihre Nachlässigkeit. Seine erfolgreichen Bemühungen um den Ausbau katholischer Druckereien in Deutschland können nur angedeutet werden. 2. Schriften Cochläus zählt zu den produktivsten literarischen Verteidigern der alten Kirche. Ein Blick in sein Schriftenverzeichnis, das über 200 Nummern umfaßt, zeigt seine literarische

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Fruchtbarkeit. Er hat zu den zentralen kontroverstheologischen Fragen Stellung genommen und hat mit Scharfblick die entscheidenden Differenzpunkte zwischen dem alten Glauben und den Reformatoren erkannt. Eine Bibliographie seiner Schriften hat Cochläus 1548 selbst zusammengestellt. Bereits 1 5 2 0 verfaßte er seine Schrift gegen Luthers Konzilsappellation, verteidigte die römische Petrustradition, das Priestertum, die hl. Messe, die Sakramente der Kirche, die Willensfreiheit und die Kindertaufe. Er erörterte auch das Verhältnis von Gnade und freiem Willen, Schrift und Tradition, äußerte sich zur Rechtfertigungslehre, zum kirchlichen Lehramt, über den päpstlichen Primat, über Konzil und Kirchenreform. In seinem umfangreichen Schriftenkatalog nimmt die Konzilsfrage einen hervorragenden Platz ein. In mehreren Schriften hat er sich zur Confessio Augustana geäußert und die Einheit der Kirche verteidigt. Starke Nachwirkungen hatte seine Schrift Der siebenköpfige Luther, die er 1 5 2 9 veröffentlichte. Die größte Bedeutung haben jedoch seine historischen Schriften gefunden: die Hussitengeschichte und die Lutherkommentare. Die Historia Hussitarum ist die erste große Darstellung des Hussitentums aus katholischer Sicht, noch heute von der Forschung als beachtenswertes Werk gewürdigt. Sein Entschluß zur Abfassung des Lutherwerkes wurde entscheidend durch das erhoffte Konzil beeinflußt. Die Absicht des Cochläus war es, ein Bild vom Leben und Wirken Luthers zu zeichnen und besonders den ausländischen Konzilsvätern die Entwicklung Luthers vor Augen zu führen und ihnen die negativen Folgen der Reformation aufzuzeigen. Seine Arbeit konnte er 1535 abschließen, aber sein Wunsch nach einer baldigen Drucklegung erfüllte sich nicht, da er nicht in der Lage war, die Druckkosten für das umfangreiche Werk aufzubringen. Erst als er 1546 beim Reichstag in Regensburg die Nachricht vom Tode Luthers erhielt, wurde die Frage eines Druckes erneut aktuell. Er ergänzte die letzten Lebensjahre Luthers und schilderte die wichtigsten Ereignisse der jähre 1535—1545, ging besonders auf Luthers Tod, die Vorgänge auf dem Regensburger Reichstag 1546 und auf dem Regensburger Religionsgespräch ein. Bereits am 6. Juni 1546 konnte er seine Arbeit vollenden. Seine Freunde, denen er Einblick in sein Manuskript gewährte, sprachen ihm ihre Anerkennung aus und regten an, daß die Lutherkommentare auch in deutscher Sprache herausgegeben werden sollten. Im Herbst 1 5 4 9 erschien die lateinische Ausgabe der Commentaria in Mainz und wurde auf der Frankfurter Buchmesse angeboten. Sie sind mit ihren zahlreichen Originalberichten eine wertvolle zeitgeschichtliche Quelle und übertreffen an historischem Wert die Kommentare von —>Sleidanus, die im bewußten Gegensatz zu den Lutherkommentaren des Cochläus veröffentlicht wurden. Luther gilt für Cochläus als Zerstörer der Einheit der Kirche, der unendliches Leid über Deutschland und die Christenheit gebracht hat. In den Kommentaren finden sich auch anerkennende Urteile über den Reformator. In seinen zahlreichen Schriften befände sich neben Verwerflichem auch viel Gutes, sowohl in der Auslegung der Hl. Schrift als in seinen Ermahnungen und in seinem Tadel. Luther habe seine Anhänger gelehrt, die —»Bibel zu lesen und auswendig zu lernen. Durch die Verdeutschung des Neuen Testamentes habe er das religiöse Empfinden des Volkes aufgerüttelt und einen wahren Heißhunger nach dem Worte Gottes beim Volk wachgerufen. Unter den vielen hundert Zitaten aus Luthers Werken findet sich nicht ein einziges, in dem Cochläus ein Wort des Reformators bewußt verstümmelt oder etwa eine Äußerung erfunden hätte. Die Kommentare lassen die Erregung deutlich werden, die Deutschland in den Jahren von 1 5 2 0 bis 1 5 4 6 erfaßt hatte. Sie machen zum erstenmal den Versuch, eine eingehende Gesamtdarstellung vom Leben und Werk Luthers vorzulegen. 3.

Theologie

In seiner Theologie ist Cochläus beeinflußt vom Thomismus, der vorreformatorischen Theologie des 15. Jahrhunderts und vom —»Humanismus. Humanistische Einflüsse zeigten sich bereits in seinen ersten Editionen, u.a. der Ausgabe des Maxentius und des —»Rupert von Deutz; aber auch in seiner Germania. Seine Schriften dokumentieren die umfassende und gründliche theologische Bildung, die er bereits in Köln grundgelegt hatte. Sie zeigt sich in der häufigen Verwertung der Hl. Schrift und der Kirchenväter, aber auch des Thomas von Aquin, von —»Gerson, —»Petrus von Ailly und G. —»Biel. Sie wird bestätigt durch seine her-

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vorragende Kenntnis des Kirchenrechts. So ist theologisch Cochläus ein repräsentativer Zeuge für die Ansichten u . a . über Willensfreiheit, Ekklesiologie, Priestertum, Eucharistie, Rechtfertigung, Schrift und Kirche in der vortridentinischen T h e o l o g i e des 16. Jh. 4.

Nachwirkung

W e n n Cochläus auch in seinem Leben nicht viel D a n k geerntet hat, ist der Einsatz für seine Kirche dennoch nicht ohne Frucht geblieben. Er gehörte zu den intensivsten Informanten der Kurie in Deutschland und vermittelte R o m wertvolle Erkenntnisse. In seiner Liebe und Anhänglichkeit an das Papsttum hat Cochläus nie g e w a n k t und unerschütterlich die Autorität des Bischofs von R o m verteidigt. Sein großes Ziel, die Wiederherstellung der Einheit der Kirche, k o n n t e nicht erreicht werden. Sein Einfluß auf die Konzilsväter in Trient, nicht zuletzt auf —»Bellarmini und seine Kontroversen, machen seine Bedeutung deutlich. In seiner Treue zum alten G l a u b e n , seiner Opferbereitschaft und seinem Einsatz für die Kirche ist Cochläus vorbildlich. Sein theologiegeschichtlicher Einfluß wird nicht zuletzt sichtbar in den zahlreichen Nachdrucken seiner W e r k e . Den direkten und indirekten Einfluß des C o c h läus auf die katholische Lutherliteratur hat A. —»Herte aufgezeigt. E r w ä h n t sei noch seine Bedeutung für die Pädagogik, für die M u s i k und die Geographie. Literatur Bibliographie:

BDG I, 1 2 2 - 1 2 4 ; VII, 44f.

Remigius Bäumer, Johannes Cochlaeus. Leben und Werk, Münster 1980. - Ders., Johannes Cochlaeus u. die Reform der Kirche: Reformatio Ecclesiae. FG Erwin Iserloh, Paderborn 1980, 3 3 3 - 3 5 4 . Conradin Bonorand, Die Reaktion Bullingers, J. Vadians u. anderer ev. Schweizer auf die antireformatorische Tätigkeit des Johannes Cochläus: Heinrich Bullinger 1 5 0 4 - 1 5 7 5 , Zürich, II 1975, 2 1 5 - 2 3 0 . - Otto Clemen, Spottschriften auf Cochläus: ders., Beitr. zur Reformationsgesch., Berlin, III 1903, 7 5 - 8 5 . - Walter Friedensburg, Johannes Cochläus im Schmalkaldischen Kriege (1546): ZBKG 10 (1935) 1 5 1 - 1 5 6 . -Felician Gess, Johannes Cochläus der Gegner Luthers, Diss. Leipzig 1886. - Heinrich Grimm, Art. Cochlaeus, Johannes: NDB 3 (1957) 3 0 4 - 3 0 6 . - Adolf Herte, Die Lutherkomm, des Johannes Cochläus, 1935 (RGST 33). - Ders., Das kath. Lutherbild im Bann der Lutherkomm, des Cochläus, 3 Bde., Münster 1943. — Erwin Iserloh, Der Kampf um die Messe in den ersten Jahren der Auseinandersetzung mit Luther, 1952 (KLK 10) 3 1 - 3 9 . - Hubert Jedin, Des Johannes Cochlaeus Streitschrift ,De libero arbitrio hominis' (1525), 1927 (BSHT 9). - Ders., Johannes Cochläus: Schlesische Lebensbilder 4 (1,931) 1 8 - 2 8 . - Walter Kaliner, Johannes Cochläus in der Spannung zw. theoretischer u. realer, kollektiver Moral: Dienst der Vermittlung. FS zum 25jährigen Bestehen des phil.-theol. Studiums im Priesterseminar Erfurt, Leipzig 1977, 2 7 5 - 2 8 6 . - Karl Kastner, Cochläus u. das Priestertum: AS KG 10 (1952) 8 4 - 105. - Karl Langosch, Das erste Erdkundebuch für die dt. Schule. Die G e r mania' des Johannes Cochlaeus v. 1512: FG Friedrich Trost, Frankfurt 1961, 7 7 - 7 9 . - Ders., Zur Germania des Johannes Cochläus: Liber Floridus. Mittellat. Stud. Paul Lehmann gewidmet, St. Ottilien 1950, 3 7 3 - 3 8 4 . - Franz Machilek, Johannes Cochlaeus: Fränkische Lebensbilder 8 (1978) 5 1 - 6 9 . Carl Otto, Das Colloquium des Cochläus mit Luther zu Worms auf dem Reichstag 1521: ÖVKT 5 (1866) 8 3 - 1 1 4 . - Ders., Johannes Cochlaeus der Humanist, Breslau 1874. - Martin Spahn, Johannes Cochläus. Ein Lebensbild aus der Zeit der Kirchenspaltung, Berlin 1898 = Nieuwkoop 1964. - Hans Wolter, Cochläus u. die Frankfurter Prädikanten: Beitr. zur Mainzer KG in der Neuzeit. FS A.Ph. Brück, Mainz 1973, 3 1 - 5 4 . Remigius B ä u m e r C o d e x Alexandrinus, Bezae Cantabrigiensis etc. —>Bibelhandschriften Codex juris canonici —»Kirchenrechtsquellen

Coimbra,

Universität

Bei der Gründung der portugiesischen Universität 1 2 9 0 war die T h e o l o g i e in ihrem Stu-. dienplan nicht vorgesehen. Sie tritt in ihrem Lehrbetrieb urkundlich belegt erst 1 4 0 0 in Erscheinung; womöglich begann sie aber schon früher. 1 5 0 4 errichtete Emanuel I. ( 1 4 9 5 - 1 5 2 1 ) neben dem bestehenden, den Sentenzen des —»Petrus Lombardus gewidmeten „ P r i m " - L e h r s t u h l wahrscheinlich für die Schriftauslegung den „ V e s p e r " - L e h r s t u h l , der an-

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scheinend jedoch nicht regelmäßig besetzt war. Bei der endgültigen Etablierung der Universität in C o i m b r a 1 5 3 7 — bis dahin hatte sich der Lehrbetrieb teils in Lissabon, teils in Coimbra a b g e s p i e l t - verfügte die theologische F a k u l t ä t über drei Fachvertretungen, die der Prim, der Vesper und der Terz. Die beiden ersten waren den Sentenzen, die dritte der Bibelexegese gewidmet. Bald trat der D o m i n i k a n e r M a r t i n h o de Ledesma auf den Plan, der vom „ T e r z " Lehrstuhl auf den „ V e s p e r " - L e h r s t u h l überwechselte. D a m i t wollte der R e k t o r der Universität, der Dominikaner Bernardo da Cruz, der in —»Salamanca Schüler des Francisco de Vitoria gewesen war, eine tiefgreifende R e f o r m des theologischen Unterrichts im Sinne der thomistischen Konzeption und M e t h o d e (—»Thomas von Aquin) einführen. Nach einer gewissen Ablehnung entschied ein königliches Schreiben an den Kanzler der Universität vom 2 6 . 10. 1 5 4 1 die Angelegenheit dahin, daß Ledesma T h o m a s und nicht —»Durandus de S. Porciano lesen solle. Auch in der biblischen T h e o l o g i e drängte ein neuer, vom Reformwillen des —»Humanismus geprägter Geist zur Geltung. 1 5 4 5 wurde der biblische Lehrstuhl geteilt, indem der „ T e r z " - L e h r s t u h l dem Neuen und ein „ N o n " - L e h r s t u h l dem Alten T e s t a m e n t gewidmet wurde. D o c h kehrte man 1 5 6 2 zur alten Gliederung zurück, während andererseits ein —»Duns Scotus verschriebener Lehrstuhl eingerichtet wurde. Z w a r wurde seit dem Eintritt des Hieronymiten Heitor Pinto 1 5 7 6 die Exegese erneut in zwei Fächern unterrichtet, doch dauerte dies nicht lange an, da Pinto 1 5 8 0 genötigt wurde, die Universität zu verlassen. Die Statuten von 1 5 9 2 , 1 5 9 8 und 1 6 5 3 weisen wie die von 1 5 5 9 außer den großen Lehrstühlen (Prim, Vesper, Terz, Non) auch Lehraufträge für Durandus, die Heilige Schrift und T h o m a s (oder Gabriel —»Biel) aus. Außerdem begegnet in der theologischen Fakultät seit 1 5 4 5 eine Reihe von außerordentlichen Lehraufträgen und Ferienkursen. In diesem Z u s a m m e n h a n g m u ß die kulturelle Initiative J o h a n n s III. ( 1 5 3 1 - 1 5 5 7 ) hervorgehoben werden, die der Universität in h o h e m M a ß zugute k a m . „ E r gestaltete sie als Institution grundlegend um, gab ihr einen neuen Studienplan und einen neuen wissenschaftlichen Geist, er stellte sie in den Z u s a m m e n h a n g einer allgemeinen Reorganisation des Unterrichtswesens und machte sie zum entscheidenden Ansatzhebel für die geistige Prägung des Landes. M i t der Verlegung der Universität vollzog sich eine Wendung in der nationalen Kultur, deren Auswirkungen bis zur pombalschen R e f o r m a n h i e l t e n " (Silva Dias, Politica 1/2, 5 8 9 ) . Auch schon vor der R e f o r m J o h a n n s III. wurden im 16. J h . — namentlich im Kolleg S. Paulo in Braga, in £ v o r a sowie in den Hieronymitenkollegien von Penha Longa und Costa unter D i o g o de M u r j a (gest. 1 5 6 1 ) Versuche einer Unterrichtsreform unternommen, die aber nicht das erforderliche M a ß geistiger Zeitgemäßheit erreichten. Erst mit J o h a n n III. wurde dies möglich, und D i o g o de M u r ^ a als R e k t o r der Universität sowie Bräs de Braga (ca. 1 5 0 0 — 1 5 5 9 ) erwiesen sich als entscheidende T r i e b k r ä f t e des Erneuerungswerkes. Die klassischen Sprachen fanden n a m h a f t e Lehrer, und die Professoren der Theologie bewiesen eine gründliche humanistische Bildung. In der sachlichen Ausrichtung aber legten sie eine ausgeprägte Gegnerschaft gegen die Gedankenwelt des —»Erasmus, gegen den christlichen H u m a nismus und die evangelische Bewegung an den T a g . Ihre Bewunderung für Erasmus äußerte sich vornehmlich in der Ü b e r n a h m e formaler philologischer M e t h o d e n , und ihre beachtliche klassische Bildung kam vorwiegend in kontroverstheologischer und polemischer Schriftstellerei zum Zuge. Neben der Universität bestand wie in —»Paris und —»Oxford noch ein dichtes Netz von Kollegs. Alle wesentlichen Orden und Kongregationen waren darin vertreten. Sie bildeten eine Art ergänzender Schulen zum Unterricht der Universität, vor allem für die —»Artes liberales und die Theologie. Eine besondere Prägung wies das dem Sprach- und Philosophieunterricht gewidmete Colegio das Artes auf. 1547 begründet, verfügte es von Anfang an über hervorragende Lehrer, die teils in Bordeaux, teils in Paris, zum Teil aber auch in Portugal ausgebildet waren. Mangelnde geistige Ubereinstimmung innerhalb der Professorenschaft und ideologische Verdächtigungen ließen jedoch sein Ansehen beträchtlich sinken. Die —»Inquisition ging gegen einige seiner Professoren vor. 1555 wurde es den —»Jesuiten übertragen, die es bis 1759 führten. 1836 wurde es aufgelöst. - Auch das Kloster St. Cruz war ein bedeutendes Bildungszentrum im Bereich der Geisteswissenschaften und der Theologie und unterhielt enge Beziehungen zur Universität. Das erste Jahrhundert des Bestehens der Universität in Coimbra war zugleich ihr glanzvollstes. Eine

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Reihe ihrer damaligen Lehrer hat, gedruckt oder handschriftlich, bedeutsame Leistungen hinterlassen, die eine beträchtliche Wirkung auch über Portugal hinaus entfaltet haben. Unter anderen stechen hervor die Dominikaner Martinho de Ledesma (gest. 1 5 7 4 ) und Antonio de S. Domingos ( 1 5 3 1 - 1 5 9 7 ) , der Jesuit Francisco —>Suárez, Paulo de Palácios e Salazar (gest. 1 5 8 2 ) , der Dominikaner Luis de Sotomaior (ca. 1 5 2 6 - 1 6 1 0 ) und der Hieronymit Heitor Pinto (ca. 1 5 2 8 - 1 5 8 4 ) . Auch sonst war das 16. Jh. eine Blütezeit portugiesischer theologischer Bildung. An der 1 5 5 9 begründeten Universität Evora, in den verschiedenen Kollegs und Konventen der geistlichen Orden, nahezu allenthalben traten bedeutende Persönlichkeiten mit umfassender Bildung hervor. Einige zeichneten sich auch auf dem —»Tridentinumaus. Für Évora seien genannt: Luis de—»Molina, Cristóvào Gil ( 1 5 5 4 - 1 6 0 8 ) , Sebastiäo Barradas ( 1 5 4 3 - 1 6 1 5 ) und Brás Viegas ( 1 5 5 3 - 1 5 9 9 ) , alle Angehörige des Jesuitenordens. V o n 1 6 4 0 bis z u r p o m b a l s c h e n R e f o r m (seit 1 7 5 7 ) erlitt die t h e o l o g i s c h e F a k u l t ä t einen b e t r ä c h t l i c h e n N i e d e r g a n g . H e r v o r z u h e b e n ist für diese Z e i t lediglich die S c h a f f u n g eines Lehrstuhls für K o n t r o v e r s t h e o l o g i e , dessen erster I n h a b e r der A u g u s t i n e r I s i d o r o da L u z (gest. 1 6 7 0 ) w a r . D e r tiefen Krise der g e s a m t e n U n i v e r s i t ä t s u c h t e d a n n der v o m G e d a n k e n g u t des a u f g e k l ä r t e n A b s o l u t i s m u s (—»Aufklärung) d u r c h d r u n g e n e M a r q u é s de P o m b a i ( 1 6 9 9 — 1 7 8 2 ) als M i n i s t e r J o s e p h s I. ( 1 7 5 0 — 1 7 7 7 ) zu begegnen. Im Z u g e einer allgemeinen R e f o r m des B i l d u n g s w e s e n s v e r a n l a ß t e er die E r s t e l l u n g eines Compendio Estado

da Universidade,

Histórico

do

d a s als G r u n d l a g e der neuen S t a t u t e n v o n 1 7 7 2 diente. Z u v o r

s c h o n h a t t e Luís A n t o n i o V e r n e i m i t seiner Schrift Verdadeiro

Método

de Estudar

(1746)

eine S t u d i e n r e f o r m g e w ü n s c h t . E r verurteilte den S c h o l a s t i z i s m u s und legte W e r t a u f die p o sitive T h e o l o g i e u n d ihre H i l f s w i s s e n s c h a f t e n wie e t w a d a s S p r a c h s t u d i u m . D i e s e r Leitlinie folgten die S t a t u t e n d e P o m b a l s . D e r t h e o l o g i s c h e S t u d i e n g a n g w u r d e in fünf J a h r e geglied e r t , deren letztes der d u r c h je einen alt- u n d einen n e u t e s t a m e n t l i c h e n L e h r s t u h l vertretenen E x e g e s e galt. D o c h ließ sich die Krise n i c h t s o in den Griff b e k o m m e n . D a s v e r h i n d e r t e eine R e i h e v o n F a k t o r e n , wie das v o m —»Jansenismus u n d —»Gallikanismus beeinflußte geistige K l i m a , die V e r t r e i b u n g der Jesuiten ( 1 7 5 9 ) , die S c h l i e ß u n g der Universität É v o r a ( 1 7 5 9 ) , die A u f h e b u n g der geistlichen O r d e n ( 1 8 3 4 ) unter der Ä g i d e einer a n t i k i r c h l i c h e n liberalen (—»Liberalismus) Politik, die soziale Krise des 1 9 . J h . u n d anderes m e h r . D i e p o m b a l s c h e n U n i v e r s i t ä t s s t a t u t e n w u r d e n d u r c h königliche V e r f ü g u n g v o m 2 7 . 1 1 . 1 7 9 3 s o w i e d u r c h die E r l a s s e v o m 5 . 1 1 . 1 8 3 6 , 2 0 . 9. 1 8 4 4 , 2 7 . 2 . 1 8 6 1 u n d 2 4 . 1 2 . 1 9 0 1 unter S c h a f f u n g bzw. A u f h e b u n g einzelner L e h r s t ü h l e a b g e ä n d e r t , d o c h die G r u n d s t r u k t u r blieb im wesentlichen e r h a l t e n . N a c h der v o n einer Welle der Kirchenfeindlichkeit begleiteten E r r i c h t u n g der R e publik ( 1 9 1 0 ) a b e r w u r d e d a n n im gleichen J a h r n o c h die t h e o l o g i s c h e F a k u l t ä t aufgelöst. Das literarische Schaffen seit der pombalschen Reform bleibt recht spärlich. Lediglich die Namen Joaquim de St. Clara, Francisco Antonio Rodrigues de Azevedo ( 1 8 0 9 - 1 8 9 7 ) , Augusto Eduardo Nunes ( 1 8 4 9 - 1 9 2 0 ) und Bernardo Augusto de Madureira (geb. 1 8 4 2 ) sind hervorzuheben. Erwähnung verdient noch die Gründung einer Reihe von Akademien, so der kirchengeschichtlichen, liturgischen, marianischen und kirchlichen, sowie das Erscheinen einiger religiös-theologischer Zeitschriften in Coimbra, an denen Universitätslehrer mitwirkten, die auch der 1 8 8 1 nach der Enzyklika Aeterni patris —»Leos XIII. gegründeten Thomas-Akademie verbunden waren. Literatur Fortunato de Almeida, Historia da Igreja em Portugal, Barcelos 2 1 9 6 7 - 1 9 7 1 . - Manuel Lopes de Almeida/Mario Brandäo, A Universidade de Coimbra. Esboço da sua Historia, Coimbra 1 9 3 7 . - A n t o nio Alberto de Andrade, Vernei e a Cultura do seu tempo, ebd. 1 9 6 6 . - Teófilo Braga, Historia da Universidade de Coimbra, 4 Bde., Lissabon 1 8 9 2 - 1 9 0 2 . - Ders., D. Francisco de Lemos e a Reforma da Universidade de Coimbra, Lissabon 1 8 9 4 . - M a r i o Brandäo, O Colégio das Artes, 2 Bde., Coimbra 1 9 2 4 - 1 9 3 3 . - D e r s . , Alguns Documentos respeitantes à Universidade de Coimbra na época de D. J o ä o III, ebd. 1937. - D e r s . , Documentos de D. J o ä o III, 4 Bde., ebd. 1 9 3 7 - 1 9 4 1 . - Ders., Coimbra e D. Antonio de Portugal, 3 Bde., ebd. 1 9 3 9 - 1 9 4 7 . - Ders., Actas dos Conselhos da Universidade ( 1 5 0 5 - 1 5 5 7 ) , 5 Bde., ebd. 1 9 4 1 - 1 9 6 9 . - Ders., A Inquisiçâo e os Professores do Colégio das Artes, ebd. 1 9 4 8 . - J o a q u i m de Carvalho, Estudos sobre a Cultura Portuguesa, 4 Bde., Lissabon 1 9 4 7 - 1 9 5 5 . - José Sebastiäo da Silva Dias, Portugal e a Cultura Europeia (sécs. X V I a XVIII): Biblos 28 ( 1 9 5 2 ) 2 0 3 - 4 9 8 . - D e r s . , Correntes de Sentimento Religioso em Portugal (sécs. X V I a XVIII), Coimbra, 1/1.2 1 9 6 0 (Lit.). - Ders., A Politica Cultural da Época de D. J o ä o III, ebd., 1/1.2 1 9 6 9 (Lit.). - Francisco Leitäo Ferreira, Noticias Chronológicas da Universidade de Coimbra, 6 Bde., ebd. 1 9 3 7 - 1955. - Francisco Carneiro de Figueiroa, Memorias da Universidade de Coimbra, ed. organizada e prefaciada por

Coleridge

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Joaquim de Carvalho, ebd. 1 9 3 7 . - Diogo B a r b o s a M a c h a d o , Bibliotheca Lusitana, 4 Bde., ebd. 2 1 9 6 5 - 1 9 6 7 . - N L T C . - José Silvestre Ribeiro, Historia dos Estabelecimentos Scientíficos, Litterários e Artísticos de Portugal, 18 Bde., Lissabon 1 8 7 1 - 1 8 8 4 . - M a n u e l Augusto Rodrigues, A Cátedra de Sagrada Escritura na Universidade de C o i m b r a . PrimeiroSéculo ( 1 5 3 7 - 1 6 4 0 ) , C o i m b r a 1 9 7 4 , - D e r s . , Art. Portugal (História-Cultural-Teologia): Enciclopédia Luso-Brasileira de Cultura 15 ( 1 9 7 3 ) 7 5 8 - 7 6 2 . - D e r s . , A Cátedra de Sagrada Escritura na Universidade de C o i m b r a de 1 6 4 0 a 1 9 1 0 : Revista Portuguesa de Historia 15 ( 1 9 7 4 ) 8 9 - 1 4 1 . - Artur M o r e i r a de Sá, Chartularium Universitatis Portugalensis, 4 Bde., Lissabon 1 9 6 6 - 1 9 7 0 . - Inocencio Francisco da Silva, Dicionário Bibliográfico Portugués, 2 3 Bde., ebd. 1 8 5 8 - 1 9 7 2 . - Friedrich Stegmüller, Filosofía e Teología ñas Universidades de C o i m b r a e Évora n o s é c u l o X V I , Coimbra 1 9 5 9 . - A n t o n i o G a r c í a Ribeiro de Vasconcelos, Escritos Vários, 2 Bde., ebd. 1 9 3 8 - 1 9 4 8 . - M a n u e l Eduardo da M o t t a Veiga, Esbozo Histórico-Litterário da Faculdade de Teología da Universidade de C o i m b r a , ebd. 1 8 7 2 .

Manuel Augusto Rodrigues

Coleridge, Samuel

Taylor

(1772-1834)

Der Dichter und Theologe Samuel Taylor Coleridge wurde am 2 1 . 1 0 . 1 7 7 2 in Ottery St. Mary, Devonshire, geboren und starb am 2 5 . 7 . 1 8 3 4 in Highgate. Er war das jüngste von zehn Kindern des Predigers von Ottery St. Mary. Nach dem Tode seines Vaters kam der Zehnjährige in das Londoner Internat Christ's Hospital. 1 7 9 1 ging er nach Cambridge, wo er am Jesus College eine breite, aber unsystematische Lektüre pflegte. In Schulden geraten, ließ er sich aus Verzweiflung unter dem Namen Silas T o m k y n Comberbacke von der Armee anwerben, wurde jedoch von seinen Brüdern wieder ausgelöst und nach Cambridge zurückgebracht. 1 7 9 4 faßte er gemeinsam mit dem Dichter Robert Southey den Plan, an den Ufern des Susquehanna in Pennsylvania ein republikanisches Gemeinwesen zu errichten. Ihre Vision einer Pantisokratie nimmt vorweg, was M a r x und Engels etwa fünfzig Jahre später in der Deutschen Ideologie ausführten. Als freilich die beiden 1 7 9 5 die Schwestern Sarah und Edith Fricker heirateten, war ihre Idee bereits erloschen. Coleridge schrieb nun Gedichte und hielt in Bristol Vorlesungen über Politik und Religion. In seinen 1 7 9 5 gehaltenen (erstmals 1 9 7 1 veröffentlichten) Vorlesungen vertritt er die Ansicht, daß „die Sendung des Messias nicht durch den wilden Aufstand einer empörten Menge herbeizuführen i s t " ; sie wird sich vielmehr erfüllen „durch eine widerstandslose, jedoch zutiefst grundsatzfeste Minderheit, die, nach und nach verwandte Geister in sich aufnehmend, schließlich zur Gesamtheit werden wird" (Collected Ed., I 1 9 7 1 , 2 1 8 ) . Im Dezember 1 7 9 6 zog Coleridge aus der Gegend von Bristol nach Nether Stowey in den Quantock Hills von Somerset und beschäftigte sich eingehend mit den Grundlagen von Religion und Moral. Der Dichter William Wordsworth (erste Begegnung im Herbst 1 7 9 5 in Bristol) und dessen Schwester, die in einem Nachbardorf ein Anwesen mieteten, schlössen sich ihm an. In dieser Zeit entstanden Coleridges lyrische Hauptwerke (The Ancient Mariner, der erste Teil von Christabel und Kuhla Khan). Zusammen mit Wordsworth brachte er 1 7 9 8 die Lyrical Ballads heraus, mit der für die damalige Zeit revolutionären Absicht, „Ereignisse und Situationen aus dem Alltagsleben herauszugreifen . . . und ihnen einen gewissen farbigen Schimmer der Einbildungskraft zu verleihen, wodurch gewöhnliche Dinge dem Geist in ungewöhnlicher Sicht dargeboten werden sollen" (Vorw.). Ein J a h r vor dem Erscheinen von —»Schleiermachers Reden über die Religion ( 1 7 9 9 ) , in denen die Engländer wegen ihres „elenden Empirismus" getadelt werden, hatten Coleridge und Wordsworth öffentlich jenen negativen Philosophen den Kampf angesagt, „die den Mangel an Einbildungskraft ,Urteil' und die völlige Leidenschaftslosigkeit ,Philosophie' nennen" (Collected Letters 1,354f). Aufgrund eines utopischen Rationalismus hatte Wordsworth von der —»Französischen Revolution etwas erhofft, was sie nicht leisten konnte. Coleridge aber zeigte ihm, wie das imaginative Leben des Menschen durch die Naturerfahrung mit dem Leben Gottes verbunden sei und wie der Geist, nichts weniger als eine M a schine, „einem Musikinstrument mit wenigen Saiten, aber großem Stimmumfang gleicht, das von einem genialen Musiker gespielt wird" (Randnotiz Coleridges in seinem Exemplar

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Coleridge

von Kants Kritik der reinen Vernunft: R.Wellek, Kant in England, Princeton 1931, 83). Man hat Wordsworth Coleridges Meisterwerk genannt; und Coleridge war es auch, der ihn dazu brachte, mit The Prelude das erste große philosophische Gedicht in englischer Sprache zu schreiben. Es bringt zum Ausdruck, wie Wordsworths Einbildungskraft geschwächt und dann wiederhergestellt wurde. In breiterem Rahmen vertrat Coleridge die Auffassung, daß Dichtung durchaus nicht, wie Bentham, Hume und die ihnen nahestehenden Empiriker (—»Empirismus) behaupteten, eine Verfälschung, sondern vielmehr der vollständigste und wesentlichste Gebrauch der Sprache sei: „die besten Worte in der besten Ordnung". Wenn daher religiöse Aussagen (besonders in der Hl. Schrift) sprachlich und formal poetischen oder imaginativen Aussagen ähnlich sind, werden sie zur „lebendigen Frucht der Einbildungskraft . . . , wesensgleich mit den Wahrheiten, die sie heraufführen" (Collected Ed., VI 1972, 29). Coleridge unterscheidet die Einbildungskraft (imagination) als lebendige Macht und Hauptantrieb der Wahrnehmung von der Phantasie (fancy), der bloßen Gedankenassoziation in Allegorien und Gleichnissen. Ferner unterscheidet er zwischen primärer und sekundärer Einbildungskraft, wobei die letztere (literarische oder „menschliche" Einbildungskraft) das „Echo" der ersteren (Gottes „ewigem Schöpfungsakt") ist. Die literarische Einbildungskraft „löst auf, zerstreut, verflüchtigt, um neu zu schaffen", und indem sie so unseren Wahrnehmungen eine neue Einheit verleiht, erweitert sie unser Bewußtsein. Die erkenntnistheoretische Konsequenz wird in dem Satz zusammengefaßt: Da „der Geist —wenn er denn tatsächlich nach Gottes Bild geschaffen ist-nicht passiv sein kann . . . , muß jedes System als System falsch sein, das auf der der Passivität des Geistes aufgebaut ist" (Collected Letters II, 709). Das Jahr 1798, annus mirabilis der englischen —»Romantik, endete damit, daß die Dichter in den Verdacht gerieten, für das französische Revolutionsregime, das damals mit England im Krieg lag, tätig zu sein. Ihre Besucher (unter ihnen der glühende Revolutionär John Thelwall) und ihre nächtlichen Wanderungen in den Hügeln brachten einen Regierungsspion zu der Überzeugung, daß sie gewiß Demokraten und höchstwahrscheinlich Agenten des Feindes seien. Dieser Umstand und Coleridges Wunsch, an dem gerade stattfindenden geistigen Aufbruch in Deutschland teilzuhaben, veranlaßte die Dichter im September 1798, sich nach Hamburg einzuschiffen. Coleridge ließ sich an der Universität —»Göttingen immatrikulieren und hörte Vorlesungen bei dem Anthropologen J. F. Blumenbach, dem Exegeten J . G . —»Eichhorn und dem Orientalisten T. G. Tychsen. Zunehmend faszinierte ihn der „kühn kombinierende Geist" —»Lessings, dessen Biographie zu schreiben er sich vornahm. Er las —»Kant und nahm dessen Unterscheidung von Vernunft und Verstand in seine eigene Konzeption der Einbildungskraft auf. Außerdem faßte er den Plan zu dem magnum opus einer systematischen Darstellung der Metaphysik. Im Herbst 1799 kehrten Wordsworth und seine Schwester in ihre englische Heimat zurück und ließen sich in Grasmere im Lake District nieder. Auch Coleridge ging wieder nach Somerset, wo er gerne geblieben wäre. Da sich jedoch kein passendes Haus finden ließ, beschlossen die Dichter erneut, ihren Wohnsitz nahe beieinander zu nehmen, und Coleridge brachte seine Familie im Juli 1800 nach Greta Hall, Keswick, nachdem er zuvor einen Aufenthalt in London für die Übersetzung von Schillers Wallenstein genutzt hatte. Nun begann eine Periode anhaltender Krankheit, für die Coleridge die Bezeichnung „psycho-somatisch" prägte. Sie dauerte bis 1816. Der Gebrauch von Opium, mit dem er ein schmerzhaftes, seit seiner Kindheit bestehendes Leiden zu lindern suchte, wurde schließlich zur Sucht. 1804 reiste er, auf Heilung hoffend, nach Malta, war dort Sekretär des Gouverneurs und kehrte 1806 nach England zurück. Seine persönlichen Verhältnisse begannen sich ebenfalls zu verschlechtern: 1810 trennte er sich von seiner Frau, überwarf sich mit Wordsworth und wandte sich nach London. Trotz alledem schrieb er 1802 die Dejection Ode, gab die Zeitschrift The Friend ( 1 8 0 9 - 1 8 1 0 ) heraus und begann 1815 seine Biographia Literaria. Jüngste, durch die Herausgabe der Notebooks veranlaßte Forschungen machen deutlich, aus welchen Quellen ihm die Kraft zur allmählichen Uberwindung seiner Leiden er-

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von Kants Kritik der reinen Vernunft: R.Wellek, Kant in England, Princeton 1931, 83). Man hat Wordsworth Coleridges Meisterwerk genannt; und Coleridge war es auch, der ihn dazu brachte, mit The Prelude das erste große philosophische Gedicht in englischer Sprache zu schreiben. Es bringt zum Ausdruck, wie Wordsworths Einbildungskraft geschwächt und dann wiederhergestellt wurde. In breiterem Rahmen vertrat Coleridge die Auffassung, daß Dichtung durchaus nicht, wie Bentham, Hume und die ihnen nahestehenden Empiriker (—»Empirismus) behaupteten, eine Verfälschung, sondern vielmehr der vollständigste und wesentlichste Gebrauch der Sprache sei: „die besten Worte in der besten Ordnung". Wenn daher religiöse Aussagen (besonders in der Hl. Schrift) sprachlich und formal poetischen oder imaginativen Aussagen ähnlich sind, werden sie zur „lebendigen Frucht der Einbildungskraft . . . , wesensgleich mit den Wahrheiten, die sie heraufführen" (Collected Ed., VI 1972, 29). Coleridge unterscheidet die Einbildungskraft (imagination) als lebendige Macht und Hauptantrieb der Wahrnehmung von der Phantasie (fancy), der bloßen Gedankenassoziation in Allegorien und Gleichnissen. Ferner unterscheidet er zwischen primärer und sekundärer Einbildungskraft, wobei die letztere (literarische oder „menschliche" Einbildungskraft) das „Echo" der ersteren (Gottes „ewigem Schöpfungsakt") ist. Die literarische Einbildungskraft „löst auf, zerstreut, verflüchtigt, um neu zu schaffen", und indem sie so unseren Wahrnehmungen eine neue Einheit verleiht, erweitert sie unser Bewußtsein. Die erkenntnistheoretische Konsequenz wird in dem Satz zusammengefaßt: Da „der Geist —wenn er denn tatsächlich nach Gottes Bild geschaffen ist-nicht passiv sein kann . . . , muß jedes System als System falsch sein, das auf der der Passivität des Geistes aufgebaut ist" (Collected Letters II, 709). Das Jahr 1798, annus mirabilis der englischen —»Romantik, endete damit, daß die Dichter in den Verdacht gerieten, für das französische Revolutionsregime, das damals mit England im Krieg lag, tätig zu sein. Ihre Besucher (unter ihnen der glühende Revolutionär John Thelwall) und ihre nächtlichen Wanderungen in den Hügeln brachten einen Regierungsspion zu der Überzeugung, daß sie gewiß Demokraten und höchstwahrscheinlich Agenten des Feindes seien. Dieser Umstand und Coleridges Wunsch, an dem gerade stattfindenden geistigen Aufbruch in Deutschland teilzuhaben, veranlaßte die Dichter im September 1798, sich nach Hamburg einzuschiffen. Coleridge ließ sich an der Universität —»Göttingen immatrikulieren und hörte Vorlesungen bei dem Anthropologen J. F. Blumenbach, dem Exegeten J . G . —»Eichhorn und dem Orientalisten T. G. Tychsen. Zunehmend faszinierte ihn der „kühn kombinierende Geist" —»Lessings, dessen Biographie zu schreiben er sich vornahm. Er las —»Kant und nahm dessen Unterscheidung von Vernunft und Verstand in seine eigene Konzeption der Einbildungskraft auf. Außerdem faßte er den Plan zu dem magnum opus einer systematischen Darstellung der Metaphysik. Im Herbst 1799 kehrten Wordsworth und seine Schwester in ihre englische Heimat zurück und ließen sich in Grasmere im Lake District nieder. Auch Coleridge ging wieder nach Somerset, wo er gerne geblieben wäre. Da sich jedoch kein passendes Haus finden ließ, beschlossen die Dichter erneut, ihren Wohnsitz nahe beieinander zu nehmen, und Coleridge brachte seine Familie im Juli 1800 nach Greta Hall, Keswick, nachdem er zuvor einen Aufenthalt in London für die Übersetzung von Schillers Wallenstein genutzt hatte. Nun begann eine Periode anhaltender Krankheit, für die Coleridge die Bezeichnung „psycho-somatisch" prägte. Sie dauerte bis 1816. Der Gebrauch von Opium, mit dem er ein schmerzhaftes, seit seiner Kindheit bestehendes Leiden zu lindern suchte, wurde schließlich zur Sucht. 1804 reiste er, auf Heilung hoffend, nach Malta, war dort Sekretär des Gouverneurs und kehrte 1806 nach England zurück. Seine persönlichen Verhältnisse begannen sich ebenfalls zu verschlechtern: 1810 trennte er sich von seiner Frau, überwarf sich mit Wordsworth und wandte sich nach London. Trotz alledem schrieb er 1802 die Dejection Ode, gab die Zeitschrift The Friend ( 1 8 0 9 - 1 8 1 0 ) heraus und begann 1815 seine Biographia Literaria. Jüngste, durch die Herausgabe der Notebooks veranlaßte Forschungen machen deutlich, aus welchen Quellen ihm die Kraft zur allmählichen Uberwindung seiner Leiden er-

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wuchs. Während er nach außen hin unordentlich und saumselig wirkte, fehlte es ihm doch nie an methodischer Energie (einmal legte er in acht Tagen 2 6 3 Meilen zu Fuß zurück, um seine Drogenabhängigkeit zu bekämpfen). Seine Energie richtete sich indessen nicht auf das, was (wie auch Schleiermacher bemerkte) die Einbildungskraft des Volkes vorwiegend beschäftigte - „unser alles verschlingender, alles umtreibender Geld-Strudel" (zit. Coburn 49) - , sondern auf die Erweiterung des Bewußtseins. Dieses dem Dichter wie dem Psychotherapeuten gemeinsame Ziel nötigte ihn zu der Einsicht, daß seine Methode genau das Gegenteil des für ein magnum opus erforderlichen systematischen Denkens war. Sie mußte vielmehr danach streben, durch das Nachdenken über Erfahrungen im Vollzug des Erfahrens eine bewußte Einbildung zu erzeugen. Obschon Coleridge häufig erwähnt, daß er Sozinianer (—»Sozzini/Sozinianer) und später nahezu Pantheist (^Pantheismus) gewesen sei, entfernte er sich doch nie weit von der trinitarischen Orthodoxie, die er nun nachdrücklich vertrat. Sein Leiden bewog ihn zu einer erneuten Lektüre des Neuen Testaments; und seine Notebooks belegen erstmals, in welchem Ausmaß seine nachfolgend publizierten Gedanken aus einer wachsenden Kraft religiösen Fühlens hervorgehen. Zwar hatte er gegen den Empirismus geltend gemacht, daß „alle Philosophie im Staunen beginnt und im Staunen endet", jedoch sogleich hinzugefügt: „Aber das erste Staunen ist der Sproß der Unwissenheit; das letzte ist der Vater der Anbetung" (Aids to Reflection 156). Auch seine Unterscheidung zwischen Weisheit und Wissen war religiös begründet: „Wenn ich anbete, laßt mich vereinheitlichen . . . Um weise zu sein, muß ich alle Dinge als eines erkennen; um wissend zu sein, muß ich das absolut Unteilbare als unendlich Unterscheidbares wahrnehmen" (Notebooks 4 0 5 8 ) . Seine stets festgehaltene Verbindung von Religion und Dichtung ist besonders bezeichnend; so war er der Ansicht, „wir sollten zu Zeiten erwachen und vorwärtsschreiten - und dies wird bewirkt durch Dichtung und Religion - die Erweiterer des Bewußtseins - Kummer, Krankheit, Dichtung und Religion. In Wahrheit aber bleiben wir in unserem Lebenssinn stehen, wenn wir nicht gerade gezwungen werden weiterzugehen — und nehmen dann eine Erlaubnis unserer Gefühle für ein Gebot unserer Vernunft" (ebd. 3 6 3 2 ) . Die Notebooks zeigen, wie sehr Coleridges Ekklesiologie sich an den Laien ausrichtet (—»Kirche, —»Laie). Es gibt darin zahlreiche Hinweise auf die Notwendigkeit von LaienPresbytern und Ältesten, die zwischen Klerus und Laienschaft zu treten hätten; als „Wurzel allen Übels" gilt ihm „die Vernachlässigung der verschiedenen Katechumenenränge, in die jede Kirche gegliedert sein sollte" (ebd. 4 0 2 8 ) . Es finden sich einige bemerkenswerte Antizipationen der Leitgedanken von J . H . —»Newman, wenn Coleridge etwa schreibt: „Die verhängnisvollsten Irrtümer waren von jeher Teilwahrheiten, die mit der ganzen Wahrheit verwechselt wurden, Wahrheiten, die - von ihren entsprechenden, sie tragenden Gegensätzen losgerissen und dadurch unausgewogen und zerstückelt — sich in widersprüchliche Unwahrheiten verwandelten" (ebd. 4 3 2 6 ) . Coleridge unterscheidet Widersprüche (contraries), die sich ausschließen, von Gegensätzen (opposites), die einander bedingen und voraussetzen; diese Betonung einer „Polarität", in der „die Extreme sich treffen", ist das Hauptthema seiner Notebooks und mancher seiner Lieblingsvorstellungen; so ist für ihn beispielsweise die Kirche weder Sklave noch Widersacher der „Welt", sondern ihr „stützender, berichtigender, freundschaftlicher Gegensatz" (Church and State [1972], 98). In den Notebooks wird ferner unablässig die Tätigkeit der Einbildungskraft selbst in actu vorgeführt; denn es läßt sich beobachten, wie aus Notizen über Magnetismus, Galvanismus, Chemie und Medizin ebenso wie aus Äußerungen verschiedenster Schriftsteller, von Scholastikern bis hin zu Schiller, mancher berühmte Ausspruch entsteht. Der nach wie vor erhobene Vorwurf des Plagiats übersieht diese aufnehmende und neu schaffende Kraft, die Coleridge in besonderer Weise beschrieben und beispielhaft demonstriert hat. Solche Ansichten bewahrten Coleridge auch davor zu glauben, man könne die Existenz Gottes beweisen (—>Gottesbeweise) oder durch Tatsachen oder andere Formen des „mechanischen Verstehens" empirisch belegen. Für ihn war (wie Newman bemerkte) Gottes Existenz eine moralische, keine mathematische Gewißheit: „Leidenschaften oder Gefühle ver-

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einigen sich in der Empfindung der Positivität" (Notebooks 3 4 1 1 ) . In Anerkennung des Unterschieds zwischen sicherem und klarem Wissen war er - wie v. —»Hügel - fest überzeugt, daß der Religion die größte Gefahr droht, wo man „der Lust an klaren und eindeutigen Begriffen" nachgibt, da es das wesentliche Merkmal religiöser Sprache sei, daß „die Worte ihre getrennten Bedeutungen alle auf einmal vermitteln, gleichgültig wie unverständlich oder absurd die Gesamibedeutung sein mag", und daß die Beherrschung einer solchen Sprache „hartes Nachdenken und zähe eigene Energie" erfordert (ebd. 3 6 2 8 ) . Der —»Atheismus ist demgegenüber seinem Wesen nach ein Versagen des Gefühls. Beginnend mit der Entfremdung von der Sinnenwelt, führt er dazu, daß der Mensch sich selbst nicht mehr als Glied dieses lebendigen Universums erfährt, sondern in einem „leeren Echoraum oder einem raunenden Labyrinth" zu leben meint, wo „Narren mit einem Grinsen Berkeley aus dem Felde schlagen" (ebd. 4 0 8 7 ) . Bis 1 8 1 6 hatte sich Coleridges Gesundheitszustand so sehr verschlechtert, daß er nach Highgate (am nördlichen Stadtrand Londons) in das Haus des Arztes Dr. Gillman zog. Die Willenskraft, die er aufbringen mußte, um sich in eine solche Pflege, ja Anstaltshaft zu begeben, ist, zumal im Lichte der modernen medizinischen Kenntnis über die Auswirkungen längerer Drogensucht, beachtlich. Hier schrieb er seine Lay Sermons ( 1 8 1 6 ; 1 8 1 7 ) , beendete die Biographia Literaria ( 1 8 1 7 ) , gab The Friend in drei Bänden heraus und erweiterte seinen Treatise on Method ( 1 8 1 8 ) . Die Aids to Reflection erschienen 1 8 2 5 , Ort the Constitution of

Church and State 1829.

In diesem letzten Werk arbeitete Coleridge heraus, daß in einer Industriegesellschaft die Stabilität ebenso wichtig sei wie der Wandel - eine Erkenntnis, die John Stuart Mill als seinen Hauptbeitrag zur politischen Theorie betrachtete. Wenn ein Volk am „Ubergewicht des Geschäftsgeistes", d.h. an einem einseitigen Streben nach materiellem Fortschritt, leidet, läuft die Religion Gefahr, zur Gefangenen praktischer Interessen und Bedürfnisse zu werden. Abgeschnitten von Gelehrsamkeit und Einbildungskraft, vertrocknet sie zu gedankenloser Frömmelei. Religion muß entweder den ganzen Geist in Anspruch nehmen, also eine „Gesamthandlung der Seele" sein, oder sie ist gar nicht; und wie der Dichter „die ganze Seele des Menschen in Tätigkeit versetzt", so muß dies auch eine Religion tun, die „die Dichtung und die Philosophie der ganzen Menschheit" ist (Collected Ed., VI 1 9 7 2 , 197). In der ersten Laienpredigt schreibt Coleridge: „Eine hungergeplagte und ideenlose Philosophie erzeugt naturgemäß eine kümmerliche und trostlose Religion. Es gehört zum Elend der gegenwärtigen Epoche, daß sie keine Vermittlung zwischen dem Wörtlichen und dem Metaphorischen gelten läßt. Der Glaube wird entweder im toten Buchstaben begraben, oder sein Name und seine Würde werden mißbraucht für ein Falschprodukt des mechanischen Verstandes, welches in blinder Selbstgefälligkeit Symbole mit Allegorien verwechselt. Nun ist aber eine Allegorie lediglich eine Übertragung abstrakter Begriffe in eine Bildersprache, die ihrerseits nur eine Abstraktion von Sinnesobjekten i s t . . . Ein Symbol andererseits hat stets an der Wirklichkeit teil, die es verständlich macht; und indem es das Ganze aussagt, besteht es selbst als ein lebendiges Stück jener Einheit, die es vertritt" (ebd. 30). Wer daher ein Zwischenfeld zwischen harten Fakten und bloßer Phantasie ablehnt, leugnet die Möglichkeit eines religiösen Glaubens sakramentaler Prägung, weil er „den Ereignissen und Situationen des Alltagslebens" keine Transzendenz zugesteht. Durch seine Wiederbetonung des sakramentalen Charakters und göttlichen Ursprungs der Kirche bereitete Coleridge seine Zeitgenossen auf die Ekklesiologie der Oxfordbewegung (—»Anglokatholizismus) vor (so ebenfalls Newman). Er unterscheidet jedoch die Ecclesia (die Kirche Christi) von der Enclesia (der durch ihre Religion geformten Nation). Obgleich für Coleridge, wie für P. —»Tillich, —»Kultur die Form der Religion und Religion der Inhalt der Kultur ist, hält er doch die Verbindung des Christentums mit der westlichen Kultur für einen „glücklichen Z u f a l l " ; denn wie bereits „nicht einmal Erdkarten ohne Himmelsbeobachtungen genau entworfen werden können" (Church and State [ 1 9 7 2 ] , 3 7 ) , so liegt das „Schwerkraftzentrum" oder die Grundvoraussetzung für die Versöhnung von „ D a u e r " und „Fortschritt" in der Religion - „ o b wahr oder falsch". Die beste Gewähr für

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d i e s e s G l e i c h g e w i c h t ( w i e f ü r d a s z w i s c h e n d e n „ f r e u n d s c h a f t l i c h e n G e g e n s ä t z e n " d e r Ecclesia u n d Enclesia)

b i e t e t d i e clerisy,

wie C o l e r i d g e die G e b i l d e t e n aller weltlichen u n d geist-

l i c h e n B e r u f e b e z e i c h n e t . Als G l i e d e r d e r Ecclesia

w i e d e r Enclesia

t r a g e n sie e i n e d o p p e l t e

V e r a n t w o r t u n g in K i r c h e u n d S t a a t , f ü r d i e sie e r z o g e n w e r d e n m ü s s e n . H i e r f i n d e n sich d i e A n f ä n g e nicht n u r einer echten T h e o l o g i e des L a i e n t u m s , s o n d e r n einer echten Laientheologie. Aus Coleridge's Schriften s c h ö p f t die m o d e r n e englische Literaturkritik ihr V o k a b u l a r . Sein u n m i t t e l b a r e r E i n f l u ß a u f d i e T h e o l o g i e ist s c h w i e r i g e r z u b e s t i m m e n . F . D . M a u r i c e , der T h e o l o g e des C h r i s t l i c h e n —»Sozialismus, h e b t ihn f ü r sich selbst n a c h d r ü c k l i c h h e r v o r , u n d a u c h b e i J . H . N e w m a n ist e r o f f e n k u n d i g . C o l e r i d g e s h e u t i g e B e d e u t u n g liegt in d e r Rolle, die er d e r E i n b i l d u n g s k r a f t z u w e i s t , i n s b e s o n d e r e f ü r u n s e r e Z u s t i m m u n g zu religiösen G l a u b e n s s ä t z e n . E b e n s o w i c h t i g ist sein b e t o n t e r H i n w e i s auf die Unersetzlichkeit ü b e r k o m m e n e r M e i n u n g e n u n d Institutionen im P r o z e ß der T r a d i t i o n s b i l d u n g sowie auf die F u n k t i o n d e r —»Sprache, in d e r d i e s e T r a d i t i o n m i t g e t e i l t u n d e n t f a l t e t w i r d , u m d i e A r t u n d R e i c h w e i t e u n s e r e r E r f a h r u n g z u p r ä g e n : „ S i e b i r g t in s i c h z u g l e i c h d i e T r o p h ä e n i h r e r V e r g a n g e n h e i t und die W a f f e n ihrer k ü n f t i g e n Siege" (Biographia Literaria, Kap. XVI). A n d e r s als viele R o m a n t i k e r , b l i e b C o l e r i d g e in s e i n e r E n t w i c k l u n g n i c h t s t e h e n . W e r d a s W a c h s e n d i e s e s G e i s t e s m i t s e i n e r B e r e i t s c h a f t , s i c h v o m Flegel d e r E r f a h r u n g d r e s c h e n zu l a s s e n (so sein e i g e n e s Bild), b e o b a c h t e t , e r l e b t d a m i t z u g l e i c h d i e H e i m k e h r d e r r o m a n t i schen R e v o l t e zu ihren christlichen U r s p r ü n g e n . Quellen Collected Ed. of the W o r k s of Samuel T a y l o r Coleridge, 16 Bde., ed. K. C o b u r n / B . Winer, Lond o n / N e w York 1 9 6 9 f f . - B i o g r a p h i a Literaria, 1 8 1 7 2 1 8 4 7 , ed. J . S h a w c r o s s , 2 Bde., 1907. - Philosophical Lectures, 1 8 1 8 - 1 8 1 9 , ed. K . C o b u r n , L o n d o n 1949. - Coleridge's Treatise on M e t h o d as published in the Encyclopaedia M e t r o p o l i t a n a , 1818, ed. A. D. Snyder, London 1934. - O n the Constitution of the Church and State According to the Idea of Each, 1830, L o n d o n 1972. - Aids to Reflection/The Confessions of an Enquiring Spirit, 1 8 2 5 / 1 8 4 0 , L o n d o n 1904. - Literary Remains of Samuel Taylor Coleridge, ed. H. N . Coleridge, 4 Bde., L o n d o n 1 8 3 6 - 1 8 3 9 = N e w York 1967. - Coleridge on Logic and Learning, ed. A. D. Snyder, Yale 1929. - Inquiring Spirit. A N e w Presentation of Coleridge f r o m His Published and Unprinted Prose W o r k s , ed. K. C o b u r n , L o n d o n 1951. - Shakespearean Criticism, ed. T. M . Raysor, 2 Bde., London 1960. - T h e Poetical W o r k s , 2 Bde., O x f o r d 1912. - Anima Poetae, ed. E . H . Coleridge, Boston 1895. - T h e N o t e b o o k s of Samuel Taylor Coleridge, ed. K . C o b u r n , London 1 9 5 7 f f . - Collected Letters of Samuel Taylor Coleridge, ed. E.L. 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154

Collenbusch

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John Coulson Collegium Germanicum —»Katholische Reform und Gegenreformation, ^»Papsttum, —»'Theologiestudium Collegium Romanum —»Papsttum, —»'Theologiestudium Collenbusch, Samuel

(1724-1803)

1. Leben S. Collenbusch wurde am 1 . 9 . 1 7 2 4 als Sohn des Kaufmanns und Fabrikanten Hans Wilhelm Kollenbusch und der Anna Elisabeth Brüse auf Wichlinghausen in der Bauernschaft Oberbarmen geboren und am 1 0 . 9 . 1 7 2 4 in der lutherischen Gemeinde Schwelm getauft. Uber seine Schulausbildung ist nichts bekannt. 1745 nahm er das Medizinstudium in Duisburg auf, ab 1747 vollendete er es in Straßburg. Da seine Familie die Fabrikation von Spitzenzwirn, Schreibfedern und Siegellack nach Duisburg verlegte, nahm er hier 1754 die Tätigkeiten eines praktischen Arztes auf. Seine nebenher in Straßburg erworbenen chemischen Kenntnisse benutzte er gleichzeitig zur Betreibung eines kleinen Schmelzwerkes an der Kripp bei Duisburg. Von Kindheit an wurde er immer wieder durch Krankheiten beeinträchtigt. Seit 1760 wurden zunehmend mehr seine Augen vom schwarzen Star befallen. Zur Arbeit kaum noch fähig und um seinen Geschwistern nicht weiter zur Last zu fallen, zog er in den Weihnachtstagen des Jahres 1783 ins Wuppertal. Dort betätigte er sich als Brunnenarzt in Schwelm. Um Anfeindungen entgegentreten zu können, promovierte er noch im Jahr 1789 zum Doktor der Medizin. Im Jahr 1791 erblindete er völlig. Sein Lebensunterhalt wurde durch Gaben aus seinem weitläufigen Freundeskreis gesichert. In seiner Wohnung „Im Werth" verstarb der unverheiratet Gebliebene nach mehrwöchigem Brustleiden am 1.9.1803. Collenbusch wird zu den Vätern der Erweckungsbewegung (—»Erweckung) am Niederrhein und im Bergischen Land gerechnet. Seine geistige Entwicklung verlief in mehreren Phasen. Er wurde in einem vom Halleschen —»Pietismus geformten Elternhaus erzogen. Der Katechismusunterricht des Wichlinghauser Pfarrers Johann Peter Wülfing (gest. 1757) führte 1742 zu seiner Erweckung. Nicht näher bekannte Umstände während der Straßburger Studienzeit hatten eine zehn Jahre anhaltende skeptische Geisteshaltung zur Folge. Das Jahr 1760 brachte die entscheidende Wende in seinem Leben. Er begegnete in Duisburg Johann Ludwig Fricker (1729—1766), einem eifrigen Schüler —»Bengels wie —»ötingers. Die Freundschaft mit Fricker wurde Anlaß zu eigenen Studien der Schriften von —»Leibniz, Paul Anton, —»Spener, Bengel und ötinger. Er entwickelte sich zu einem „christlichen Chemiker", der die ihm bekannt werdenden christlichen Lehrmeinungen zu einer eigenen vorgeblich nur aus der Schrift gewonnenen Glaubenslehre verknüpfte. Seine Glaubenserkenntnisse vertrat er fortan in Gesprächen, Briefen und Aufsätzen. Auf diese Weise wurde er bald eine führende Persönlichkeit in den weitläufigen pietistischen Kreisen um die Pfarrer Johann Christoph Henke (1700-1780) in Duisburg und Theodor Müller ( 1 7 3 2 - 1 7 7 5 ) in Wichlinghausen. Als 1766 Johann Gerhard Hasenkamp (1736-1777) in Duisburg Schulrektor wurde, ist dieser bald sein bester Freund. Wenngleich Collenbusch schon seit der Duisburger Studienzeit Kontakte zu —»Tersteegen hatte, so wurde doch erst diese Freundschaft die Brücke für sein Wirken auch unter den Reformierten.

Collenbusch

155

2. Lehre Collenbusch wie sein Freundeskreis, in dem sich lutherische wie reformierte Pfarrer und Laien finden, orientiert sich nicht an den konfessionellen Sonderlehren, sondern will anhand der Schrift die Heiligung als die notwendigste und vornehmste A u f g a b e der Christen betreiben. Die Leibniz'sche Lehre von der Vervollkommnung des Einzelnen im Ganzen greift er auf zur Bestimmung der Herrlichkeit des Christenberufes, zur Aufdeckung des Lebenszweckes aller Gläubigen. Überzeugt von der inneren Harmonie, Völlständigkeit und der Göttlichkeit der Schrift, erkennt er in ihr - in Abhängigkeit von Bengel wie ö t i n g e r - ein stufenweise aufsteigendes, durch Konkordanzmethodik von jedem Laien entschlüsselbares Geheimnis der G n a d e Gottes, in seinem Reiche nach Recht und Ordnung des in Christus der Vollendung zugeführten Weltenplanes zu verfahren. Die Historien der Bibel sind ihm alle Historien des Glaubens oder Unglaubens an positive Verheißungen göttlicher Wohltaten; daher wird ihm die Schrift ein Dokument der Prüfungsgerechtigkeit Gottes bis in die Gegenwart. In Übereinstimmung mit J . G . Hasenkamp findet er, daß man gegenwärtig in der evangelischen Kirche zwar richtig lehre, wie man zum Glauben k o m m e , daß da auch viele Christen von der Vergebung ihrer Sünden wissen; aber es sei ein armseliges Christentum, weil man die zur Rechtfertigungslehre unabdingbar hinzugehörende Botschaft nicht verkündige, daß der von der Dienstbarkeit unter die Sünde befreite Christ ein königliches Priestertum in nachvollziehender B e w ä h r u n g des Lebens Christi in sieben Stufen ausüben müsse. M a n erkläre das Geheimnis von dem „Christus für u n s " , aber das andere von dem „Christus in u n s " sei gänzlich unbekannt. Alle Kräfte, deren der Mensch zu seiner —»Wiedergeburt und Heiligung bedarf, werden ihm von Gott durch Christus gegeben. Der Mensch hat die Pflicht, das in ihm durch Gott geweckte Verlangen nach Heiligung zur T a t werden zu lassen, will er nichtseinen Christenberuf verfehlen. Entsprechend den Fortschritten in der Heiligung wird die Seligkeit erlangt; denn wie Gott in Christus herablassende Liebe ist, so übt er nach dem Stand der Reinigung von Sünden gegenüber jedem Menschen eine proportionierte Gerechtigkeit aus. Unter dem Einfluß von —»Swedenborg spekuliert Collenbusch über die Stufen der Herrlichkeit. Er übernimmt die A p o k a l y p t i k Bengels und die monistische T h e o s o p h i e ö t i n g e r s . Die kirchliche Prädestinationslehre und das E r b s ü n d e n d o g m a lehnt er ab. Es liegt allein a m M e n s c h e n , ob er sein Erbleiden, die Sünde, überwindet und sich dadurch der errettenden Gerechtigkeit Gottes einordnet. Collenbusch vertritt eine konsequente Kenotik (—»Jesus Christus); Christus hat nach ihm die Gestalt des sündigen Fleisches a n g e n o m m e n , damit das durch A d a m verwahrloste göttliche Leben den Menschen wiedergegeben wird. Collenbusch will mit diesen Lehren überall korrekt biblische V e r k ü n d i g u n g weitertragen. N a c h verschiedenen Richtungen kennzeichnet er die V e r f ä l s c h u n g des ihm gegenwärtigen Christentums. Den A n h ä n g e r n Tersteegens wie den Herrnhutern (—»Brüderunität/Brüdergemeine) w i r f t er eine U b e r b e t o n u n g des religiösen G e f ü h l s vor. A n —»Lavater mißfällt ihm die Uberschätzung der Physiog n o m i k ; im Bonnet-Lavaterschen E n t w i c k l u n g s s y s t e m spürt er die eudämonistische A n t h r o p o l o g i e der evangeliumsfeindlichen —»Aufklärung auf. Die N e o l o g e n haben, nach ihm nur eine chaotische Schrifterkenntnis. —»Kant greift er als E x p o n e n t e n einer von Z w e i f e l s u c h t geplagten Vernunftreligion an. Den verschiedenen Vertretern der A u f k l ä r u n g w i r f t er einen platten N a t u r a l i s m u s und M o r a l i s m u s v o r ; m a n kenne weder W u n d e r noch glaube m a n . A u s Christus habe man einen M o r a l i s t e n gemacht. D a s ist ihm alles Kennzeichen tiefsten A b f a l l s von der christlichen Wahrheit. Er r u f t die M o r a l p r e d i g e r aller Richtungen, die ständig neue Lehren entwickeln und den M e n s c h e n Lasten auferlegen, ohne v o n der Sünde zu wissen, zurück zum einzig möglichen sanativen W e g des Lebens, zum h u m a n e n V e r s ö h n u n g s h a n deln G o t t e s , das Menschen zu Mitgestaltern ihrer Heiligung macht.

3.

Nachwirkung

Collenbusch hat nur die beiden Fassungen seiner Dissertation veröffentlicht. M i t seinem Wissen sind jedoch schon zu seinen Lebzeiten in Abschriften seine Aufsätze und Briefe im Freundeskreis zirkuliert. Derartige handschriftliche Materialien finden sich im Archiv der reformierten Gemeinde Barmen, der rheinischen Landeskirche 1 und in privaten Händen. Unter Einbezug von Collenbuschs Tagebüchern sind daraus alle unter seinem N a m e n erschienenen Bücher entstanden. Die Schriften bieten nur eine A u s w a h l des bekannten Ar-

156

Columba

c h i v g u t e s ; i n s b e s o n d e r e d i e m e h r a l s 3 4 0 B r i e f e s i n d n u r in g e r i n g e m U m f a n g v e r ö f f e n t l i c h t u n d für die E r m i t t l u n g der E i n f l u ß s p h ä r e k a u m

ausgewertet.

S e i n b e d e u t e n d s t e r S c h ü l e r ist G . — » M e n k e n ; er f o r m t e a u s C o l l e n b u s c h s E r k e n n t n i s s e n eine T h e o l o g i e .

Der

von

—»Cremer

bis B a r n i k o l

behauptete

Einfluß

auf

Chr.

Krafft

( 1 7 8 4 — 1 8 4 5 ) , J . C . K . — » H o f m a n n u n d G . — » T h o m a s i u s ist m i t A u g e w i e S c h r e n k n u r b e dingt a n n e h m b a r . Einzelne A n h ä n g e r v o n C o l l e n b u s c h beteiligten sich an der G r ü n d u n g der u n i e r t e n G e m e i n d e U n t e r b a r m e n , a n d e r e w u r d e n F ö r d e r e r d e r M i s s i o n . D i e s a l l e s m u ß jed o c h als z u f ä l l i g e s W e i t e r w i r k e n v o n C o l l e n b u s c h a n g e s e h e n w e r d e n . E i n z i g d i e N a c h w i r k u n g s e i n e r S c h r i f t e n in V e r b i n d u n g m i t M e n k e n ' s T ä t i g k e i t ist a l s g e p l a n t e A b s i c h t e i n e r k i r c h l i c h e n G r u p p e e r k l ä r b a r . S e i n e S c h r i f t e n w e r d e n b i s h e u t e in j e n e n K r e i s e n g e s c h ä t z t , die e t w a a u c h G o t t f r i e d D a n i e l K r u m m a c h e r , H . —»Kohlbrügge, J o h a n n e s W i c h e l h a u s o d e r P a u l G e y s e r l e s e n . D e r L a i e C o l l e n b u s c h w i r d in e i n e R e i h e v o n B i b e l t h e o l o g e n e i n g e o r d n e t , die sich m i t i h r e r B e z e u g u n g c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s u n d L e b e n s i m o f f e n e n W i d e r s p r u c h z u m v o r h e r r s c h e n d e n Z e i t g e i s t in d e r K i r c h e b e f a n d e n . In C o l l e n b u s c h s i e h t m a n e i n e n Z e u g e n c h r i s t l i c h e r W a h r h e i t , d e r e n A u s f o r m u n g d a m a l s w i e h e u t e bei d e n S t i l l e n i m L a n d e G ü l t i g keit hat. Anmerkung Collenbuschiana: 1 9 B ä n d c h e n N a c h s c h r i f t e n seiner V o r t r ä g e , A b s c h r i f t e n seiner K o r r e s p o n d e n z etc. von Luise H u y s s e n (Sign. A 1 l c . 8 ) . i

Quellen O b s e r v a t i o n e s m e d i c a e de utilitate et n o x i s a q u a e martialis S c h w e l m e n s i s , Diss. med. D u i s b u r g 1 7 8 9 . - E r f a h r u n g e n ü b e r den N u t z e n u. S c h a d e n des S c h w e l m e r G e s u n d b r u n n e n s , H a g e n 1 7 9 1 . - Erk l ä r u n g bibl. W a h r h e i t e n , 1 / 1 - 4 , I I / 1 - 4 , N S 1/1, E l b e r f e l d / B a r m e n / E r l a n g e n 1 8 0 7 - 1 8 2 0 , 2 1 8 1 3 f f . G o l d e n e Äpfel in silbernen S c h a l e n , B a r m e n 1 8 5 4 , D u i s b u r g 2 1 9 3 0 . - P a r a g r a p h e n zu a u s g e w . Schriftsteilen, Reutlingen 1 8 7 1 , - T h e o l . A b h . , Reutlingen 1 8 7 2 . - A u s z ü g e aus dem T a g e b u c h , S t u t t g a r t 1 8 7 7 2 1 8 8 3 , Duisburg 3 1 9 3 1 . Literatur Friedrich A u g e , D r . med. S a m u e l C o l l e n b u s c h u. sein F r e u n d e s k r e i s , 2 A b t . , N e u k i r c h e n 1 9 0 5 / 0 7 . - E r n s t B a r n i k o l , A r t . C o l l e n b u s c h : N D B 3 ( 1 9 5 7 ) 3 2 2 . - B B K L 1 ( 1 9 7 5 ) 1 0 9 7 f. - August H e r m a n n C r e m e r , A r t . C o l l e n b u s c h : R E 3 4 ( 1 8 9 8 ) 2 3 3 - 2 4 1 ( L i t . ) . - D e r s . , Aus dem N a c h l a ß eines G o t t e s g e l e h r ten. Aufs., Briefe u. T a g e b u c h b l . , S t u t t g a r t 1 9 0 2 . - H e i n e r F a u l e n b a c h , S a m u e l C o l l e n b u s c h , ein G e g ner der A u f k l ä r u n g : M E K G R 18 ( 1 9 6 9 ) 1 2 - 4 5 . - K l a u s G o e b e l , D e r Briefwechsel zw. P a s t o r J o h a n n B u r c h a r d B a r t e l s u. D r . S a m u e l C o l l e n b u s c h : ebd. 5 ( 1 9 5 6 ) 1 7 3 - 1 8 4 . - D e r s . , S a m u e l C o l l e n b u s c h : W u p p e r t a l e r B i o g r a p h i e n , 2 . Folge, W u p p e r t a l 1 9 6 0 , 1 5 - 2 3 . - J ü r g e n M o l t m a n n , Art. C o l l e n b u s c h : R G G 3 1 ( 1 9 5 7 ) 1 8 5 0 f. - Elisabeth M o l t m a n n - W e n d e l , Art. C o l l e n b u s c h : E K L 1 ( 1 9 5 6 ) 8 0 7 . - Albrecht R i t s e h l , G e s c h . des Pietismus, B o n n , I 1 8 8 0 , 5 6 5 - 5 8 2 . - W i l h e l m R o t s c h e i d t , C o l l e n b u s c h u. K a n t : B e r g i s c h e G e s c h . b l . 1 ( 1 9 2 4 ) 4 5 . - Karl S a m s t a g , D e r Pietist S a m u e l C o l l e n b u s c h als K r i t i k e r K a n t s : P h J 5 2 ( 1 9 3 9 ) 3 3 — 4 8 . - G o t t l o b S c h r e n k , G o t t e s r e i c h u. B u n d im älteren P r o t e s t a n t i s m u s vornehmlich bei J o h a n n e s C o c c e j u s , G ü t e r s l o h 1 9 2 3 , 3 1 8 - 3 3 2 . - F. E. Stoeffler, G e r m a n Pietism during the eighteenth Century, Leiden 1 9 7 3 , 2 4 3 - 2 4 6 . - L u d w i g T i e s m e y e r , D i e E r w e c k u n g s b e w e g u n g in D e u t s c h l a n d w ä h r e n d des 19. J h . : D a s W u p p e r t a l 3 (Kassel 1 9 0 3 ) 2 0 1 - 2 0 5 . Heiner C o l l i n s , Anthony Columba

Faulenbach

—»Deismus (521/22-597)

D i e ältesten Quellenzeugnisse ü b e r C o l u m b a sind die Historia

ecclesiastica

gentis

Anglorum

des

—»Beda V e n e r a b i i i s ( 7 3 1 ) , einschlägige N o t i z e n der frühesten irischen A n n a l e n , ein schwerverständliches altirisches G e d i c h t unter dem T i t e l Amra

Coluim

Cille,

das in seinem Kern d u r c h a u s in das 6 . J h .

zurückgehen k a n n , und vor allem die um 6 9 0 g e s c h r i e b e n e Vita Columbae

A d o m n a n s , des n e u n t e n Ab-

tes von I o n a ( 6 2 3 / 2 4 - 7 0 4 ) , dem schriftliche und m ü n d l i c h e Überlieferungen zu G e b o t e s t a n d e n : Er benutzt eine S c h r i f t des siebten A b t e s C u m m i n e (gest. 6 6 9 ) ü b e r die T a t e n C o l u m b a s und führt Überlieferungen a n , die i h m von seinen A m t s v o r g ä n g e r n Segine (gest. 6 5 2 ) und Failbe (gest. 6 7 9 ) z u g e k o m m e n w a r e n ; alle diese Ä b t e w a r e n A n g e h ö r i g e der Cenel C o n a i l l und mit C o l u m b a versippt. Diese Vita, die in

Columba

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drei Büchern von Columbas Weissagungen, Wundern und Visionen berichtet, orientiert sich als hagiographische Schrift (—»Hagiographie) an den aretalogischen Vorbildern des —»Athanasius (Vita Antonn), —>Sulpicius Severus (Vita Martini) und Constantius (Vita Germani) und ist nicht chronologisch aufgebaut, dürfte aber doch dort, wo sie nicht unbedingt vorgegebene Stilmuster nachzuvollziehen sucht, von historischem Wert sein und nennt Ereignisse und Personen, die sich auch aus anderen Quellen belegen lassen. Die in ihr genannten örtlichkeiten geben —»Irland, das westliche —»Schottland und die Inneren Hebriden einschließlich Skye als das Hauptwirkungsgebiet Columbas zu erkennen. Die chronologischen Angaben Adomnans finden sich in seiner zweiten Vorrede sowie im Schlußkapitel. Die annalistischen Notizen dürften im Nachhinein formuliert sein mit der möglichen Ausnahme derjenigen über Columbas Tod, die ein revidierter zeitgenössischer Vermerk aus der Chronik von Iona sein könnte. Die Angabe seines Todesdatums wird bestätigt durch die kalendarische Überlieferung des 9. Juni als des Gedächtnistages Columbas und die Aussage Adomnans, er sei an einem Sonntag gestorben.

Columba ist 5 2 1 / 2 2 geboren und starb am 9. Juni 5 9 7 . Er gehörte zu dem im mittleren Irland ansässigen Herrschergeschlecht der Ui Néill, das das angesehene Königtum von Tara innehatte und während des 6. Jh. seine Herrschaft über Ulster festigte. Sein ursprünglicher Name war Crimthann; Columba (Taube) ist sein Mönchsname, und dessen irische Form Colum Cille bezeichnet ihn als „Taube der Kirche". Erzogen wurde er durch den Presbyter Cruithnechän, und als junger Diakon fand er seine Lehrer in einem Bischof Vinniavus, in dem man vielleicht Finnian von Clonard (gest. 5 4 8 ) erkennen darf, und dem Dichter Gemmän von Leinster, und er verbrachte einige Zeit auch bei Mobi von Glasnevin, der der großen Seuche von 5 4 4 / 4 5 zum Opfer fiel. 5 4 6 gründete er nach den Annalen von Ulster das Kloster Derry, und nach Beda fand vor seinem Ubergang nach Britannien auch noch seine Klostergründung Durrow im mittleren Irland statt, während Adomnan voraussetzt, dai? sie erst lange nach der Gründung Ionas entstand. 563 ging Columba mit zwölf Gefährten, pro Christo peregrinati volens [mit der Absicht, um Christi willen die Fremdlingsschaft zu suchen], nach Schottland. In vierunddreißigjähriger Wirksamkeit gründete er hier Kirchen und Klöster, von denen dasjenige auf der Inneren Hebriden-Insel f oder Iona als Ausstrahlungszentrum des vo^i ihm geprägten —»Mönchtums die größte Bedeutung erlangte. Der irischen Gesellschaft seiner Zeit galt der Auszug in die Fremde als höchste Form der Selbstentäußerung, die allen äußeren Rückhaltes beraubte, und diese peregrinatio als —»Buße wurde für viele Iren zu einem asketischen Ideal (—»Askese), dessen erstes großes Vorbild Columba war (-»Keltische Kirche). Es mag sein, daß er Irland verlassen hat, weil er sich durch das machtpolitische Hervortreten seiner Familie kompromittiert fühlte. Mit dem Erfolg seines Wirkens aber und der Entwicklung Ionas zur matrix ecclesia einer parucbia von Klöstern in Nordirland und Schottland wuchs dann dem Presbyter-Abt von Iona paradoxerweise eine Geltung zu, die seine Rechtsstellung der eines irischen Oberkönigs vergleichbar sein ließ. Adomnan läßt darauf schließen, daß Iona damals zum Königtum Dal Riata gehörte, das die Herrschaft im nordöstlichen Ulster und deren schottischen Ausgreifsbereich in Argyll und den vorgelagerten Inseln umfaßte. Ihren Sitz hatten die Könige von Dal Riata seit der Wende zum 6. Jh. in Schottland. Nach seiner Ankunft dort scheint Columba am Hofe des Königs Conall mac Comgaill gewesen zu sein, und etwa elf Jahre später weihte er in Iona Conalls Nachfolger Aedän mac Gabräin zum König von Dal Riata. Columbas Verbundenheit mit Dal Riata zeigt sich auch darin, daß er im Gebet für das Schlachtenglück des Reiches eintritt und bei der Wahl der Erben Aedäns mitzureden hat. Er ist beteiligt am condictum regum von Druim Cett (575), einer Vereinbarung, die die Verfügungüber das Aufgebot des irischen Dal Riata seinem Verwandten Aed mac Ainmirech, dem König der nördlichen Ui Néill, überträgt, das Abgabeaufkommen aber dem schottischen Königtum zuweist. Der Zweck dieses Abkommens war wohl, die Machtverhältnisse in Nordostirland in ein Gleichgewicht zu bringen und der Machtausweitung des Königs der Dal Fiatach von Ulster, Baétan mac Cairill, zu steuern, dem auch Aedän mac Gabräin in einem Fall gehuldigt hatte.

Columbas Wirksamkeit unter den Pikten ist gut bezeugt. Allerdings beherrschte er das Piktische nicht und war auf einen Dolmetscher angewiesen. Der König Bruide empfing ihn in Inverness mit großer Hochachtung. Adomnan berichtet von einer Auseinandersetzung mit dem Hofmagier Broichan und von der Bekehrung piktisch er Familien zum Christentum und

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beschreibt auch einige Wunder, die Columba im Piktenland vollbracht habe. Seine Begabung mit Iona erfolgte nach Beda durch Bruide, was wohl auf eine piktische Oberherrschaft über Dal Riata während des späten 6. Jh. hinweist. Beda läßt ihn auch Erfolge gegenüber dem piktischen Heidentum erzielen, die in diesem Umfang schwerlich durch die Angaben Adomnans oder den archäologischen Befund bestätigt werden (hist. eccl. III, 4). Auf jeden Fall aber kommt seine Pionierarbeit unter den Pikten und die Missionstätigkeit der Mönche von Iona in der raschen Zunahme des Christentums und der Ausbreitung columbaschen Mönchtums im piktischen Raum während des 7. Jh. zum Tragen, eine Entwicklung, die in der erfolgreichen Angelnmission nach Aidans Entsendung von Iona nach Northumbrien (635) eine Entsprechung findet (—»England). Adomnan zeichnet von Columba ein Bild asketischer Strenge, geistlicher Tiefe und großer Gelehrsamkeit, eines im besten Sinn monastischen und priesterlichen Lebens. Er betete und fastete mit den Brüdern, nahm am Gottesdienst teil und sang die Psalmen, spendete das Tauf- und Bußsakrament und feierte die Eucharistie. Er brachte die für die frühe irische Kirche so kennzeichnende monastische Bußdisziplin zur Geltung, und vereinzelt finden sich in der Vita auch noch Reflexe seiner Mönchsregeln (1,32; 11,31). Er pflegte ein intensives Gebetsleben, und verschiedentlich hebt Adomnans Darstellung offenbar auf einen Zustand mystischer Versenkung ab. Zugleich aber war er auch ein Mann praktischer Nächstenliebe mit einem Blick für das Konkrete und feinem Gespür für die Bedürfnisse anderer. Seine Bildung war ansehnlich. Das Antra Coluim Cille nennt insbesondere seine Bindung an die Lehren der Schrift mit einer Vorliebe für die Evangelien, die Psalmen und die Weisheitsliteratur und erwähnt seine Kenntnis der „Entscheidungen des Basilius" (—»Basilius von Caesarea) sowie „der Bücher, die Cassian liebte" (Johannes —»Cassianus). Mittelbar ist dies alles auch in der Vita spürbar. Sie weist zudem auf eine Reihe von Columba eigenhändig geschriebener Handschriften hin. Der Cathach benannte, in irischer Majuskel geschriebene Psalter des 6. Jh. in der Royal Irish Academy gilt herkömmlich und nicht ohne Grund als von ihm geschrieben; die Handschrift wurde lange als Columbareliquie geschätzt und diente seiner Sippe, den Cinel Conaill, als Talisman im Kampf. Der lange, in hisperischem —»Latein geschriebene Abecedarius Altus Prosator ist möglicherweise eine seiner Dichtungen. Er bietet eine frühmittelalterliche Kosmogonie, die den geistlichen und naturkundlichen Wissensstand der Zeit zusammenfaßt, und wurde als lorica (Schutzgedicht) zur Abwehr von Gefahren und Krankheit rezitiert. Die Legende, vor allem die mittelalterliche irische Ausdeutung der Übereinkunft von Druim Cett, hat Columba in enge Beziehung zu dem erblichen irischen Dichterstand gebracht, doch die ihm zugeschriebenen irischen Dichtungen sind nach Ausweis ihrer Sprachgestalt zu spät, um als seine Werke in Betracht zu kommen. Gelegentlich k o n n t e C o l u m b a a u c h streitbar sein, ein M o m e n t , d a s in der u m sein G e d ä c h t n i s sich r a n k e n d e n , a u s g e d e h n t e n L e g e n d e n b i l d u n g beträchtlich übersteigert w o r d e n ist. A d o m n a n berichtet, d a ß er v o r seinem F o r t g a n g a u s Irland a quodam synodo in Tailltiu a u s g e r i n g f ü g i g e m A n l a ß v e r b a n n t w o r d e n sei; es k ö n n t e sich hier u m eine V e r s a m m l u n g der H ä u p t e r der südlichen Ui Neill g e h a n d e l t haben. A u c h bei B e d a h a t m a n einen N i e d e r s c h l a g kritischer Einstellung ihm g e g e n ü b e r feststellen wollen, d o c h gibt es hier w o h l allzu wenig A n h a l t s p u n k t e für ein s o l c h e s Urteil.

Columba hat grundlegende Bedeutung für die Entfaltung und Ausbreitung des christlichen Glaubens und des Mönchtums in Irland und Britannien. Er hat zwar peregrinus sein wollen, seine Zugehörigkeit zur herrschenden Adelsschicht aber, seine Vertrautheit mit der großen Politik, seine administrative Befähigung haben wie seine Lauterkeit und sein Charisma dazu beigetragen, das Christentum reibungslos der irischen, schottischen und piktischen und diesen Vorbildern entsprechend dann auch der angelsächsischen Gesellschaftsordnung einzugliedern. Zudem haben seine Verwurzelung in einer Kultur mit einer eine tragende Stellung einnehmenden Bildungskaste wie sein eigenes Bildungsstreben und seine literarische Fähigkeit dem columbaschen Mönchtum jenen Zug von Gelehrsamkeit mitgeteilt, der das irische Kirchentum in seiner Heimat wie in der Fremde während der folgenden Jahrhunderte kennzeichnet.

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Proinseas Ni Chathäin Columbanus 1. Leben Einigermaßen sicher überliefert ist nur der Todestag. Nach seinem Biographen Jonas hat Columban ain 23. November „seine Seele aufgegeben"; Wettis Vita Galli zufolge geschah dies an einem Sonntag. B. Krusch hat deswegen als Todesdatum den 23. November 615 postuliert. Neben dem 23. ist aber auch der 21. November als Gedenktag überliefert. Wenn die beiden Daten als Sterbe- und Beisetzungstag (depositio) zu verstehen sind, ergäbe sich wiederum den Sonntag als Sterbetag vorausgesetzt - als wahrscheinliches Todesjahr 616. Alle anderen Daten müssen mühsam erschlossen werden. Im zweiten seiner erhaltenen Briefe, wohl auf 602 zu datieren, spricht Columban davon, seit zwölf Jahren unter den (burgundischen) Bischöfen zu leben; daraus ist auf 590/591 als Ankunftsjahr zu schließen. Gestützt wird diese Annahme durch den Hinweis des Vitenverfassers Jonas, daß die auf 610 zu datierende Verhaftung und Ausweisung Columbans aus Burgund „im 20. Jahre nach der Niederlassung in der Einsamkeit" geschehen sei. Wenig wahrscheinlich ist die Angabe des Jonas, Columban habe Irland mit 20 Jahren verlassen, scheint er doch (nach allerdings späterer Uberlieferung) in seinem Heimatkloster das ein reiferes Alter voraussetzende Amt des Lehrers ausgeübt zu haben. Nach anderer Lesart soll der Weggang mit 30 Jahren geschehen sein, was jedoch hagiographische Stilisierung sein könnte, derzufolge das 30. Lebensjahr als Voraussetzung für öffentliches Wirken galt. In einem Zusatz zu einem wohl kurz vor dem Tode verfaßten Gedicht wird als Lebensalter die 18. Olympiade angegeben, die jeweils vier, nach damaliger Zählung aber auch fünf Jahre umfassen kann; für das Geburtsjahr sind dann, von 615 zurückgerechnet, zwei Möglichkeiten anzunehmen: 543/547 oder 525/530. Eine erheblich abweichende Chronologie ergibt sich, wenn man — wiederum mit Jonas — Columbans erste Klostergründung bereits unter Sigibert, dem 575 verstorbenen König „der Austrasier und Burgunder", ansetzt. Sofern hier nicht eine Namensverwechslung vorliegt (was viele annehmen), müßte Columbans Ankunftsjahr früher (oft willkürlich auf 573) datiert werden; von hier um 30 Jahre zurückgerechnet, ergibt sich das in der Literatur meist anzutreffende Geburtsjahr 543. Diesem chronologischen Rahmen sind die weiteren, hauptsächlich von Jonas mitgeteilten Fakten einzufügen. Demnach muß der im Königreich Leinster geborene Columban vor dem „im Mannesalter" vollzogenen Klostereintritt bereits eine besondere Ausbildung erhalten haben (was manche auf vornehme Abkunft deuten). Columbans Klosterjahre in Bangor prägte der für seine Strenge bekannte Abt Comgall. Dieser erteilte auch nach anfänglichem

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Zögern den Segen zur Peregrinatio, die Columban mit 12 (Apostelzahl!) Gefährten übers Meer nach Gallien führte. Er ließ sich in der Einsamkeit der Vogesen nieder und gründete dort die drei benachbarten Klöster Annegray, Luxeuil und Fontaine. Nach knapp 20jährigem Wirken warfen ihn die Kämpfe unter den Merowingern aus der Lebensbahn; er sollte mit seinen irischen Mönchen ins Herkunftsland heimgeschickt werden. Das Schiff, das er in Nantes besteigen mußte, wurde aber an Land zurückgetrieben. Columban begab sich über Neustrien an den austrasischen Hof (Metz) und zu Schiff moselabwärts und rheinaufwärts bis nach Basel; am Zürichsee (?) und am Bodensee (Bregenz) suchte er neue Wirkungsfelder. Nach dem alsbaldigen Tod seines austrasischen Schutzherrn Theudebert war Columban erneut zur Peregrinatio gezwungen (wobei freilich sein Schüler Gallus zurückgeblieben sein soll). Er überquerte die Alpen, ging an den langobardischen Königshof in Mailand und gründete mit Unterstützung der Königsfamilie das Kloster Bobbio; dort hat er auch sein Grab gefunden. 2.

Werke

Die literarische Hinterlassenschaft Columbans erlaubt Rückschlüsse auf Charakter, Bildung, Theologie und Askese des Verfassers. Die derzeit maßgebliche, von G . S . M . Walker besorgte Edition zählt 6 Briefe, 13 Sermones, 2 Klosterregeln, 1 Bußbuch und 5 Gedichte. 2.1. Die Briefe verraten eine Kampfnatur. Die ersten drei befassen sich mit dem rechten Ostertermin; Columban wollte an einer älteren, nur noch in Irland üblichen, in Gallien und Rom aber längst aufgegebenen Berechnungsweise festhalten. Der 4. Brief ist von Nantes aus an die in den Vogesenklöstern verbliebenen Mönche gerichtet, ein bewegendes Dokument monastischer und menschlicher Fürsorge. Der 5. Brief zeigt Columban in norditalische Probleme verwickelt, warnt er doch PapstBonifatius IV. (608—15) vor einer Häresie im Dreikapitelstreit. 2.2. Die Sermones bewegen sich in patristisch-asketischen Gedanken, bezeugen tiefen religiösen Geist, lassen aber nur wenig Zeit- oder Personenkolorit erkennen. 2.3. Von den Klosterregeln kommt der Regula Monachorum besondere Bedeutung zu. Sie dürfte gutenteils den monastischen Geist und Brauch von Bangor widerspiegeln und ist die älteste überlieferte irische Klosterregel. Sie gibt religiös-asketische Direktiven, übergeht jedoch (mit Ausnahme des 7. Kapitels über das Stundengebet) die konkrete Klosterordnung. Wohl wegen dieser Lücken ist sie in Gallien in der Folgezeit mit der —»Benediktusregel kombiniert worden. Die Regula coenobialis stellt ein monastisches (später vielfach erweitertes) Bußbuch dar. 2.4. Das Bußbuch (—»Buße) fußt auf irischen Vorbildern, insbesondere dem ältesten, dem Pönitentiale des Vinnian, verdankt aber seine Anlage Columban, der damit als erster die tarifierte Privatbuße auf dem Kontinent bekanntgemacht hat. Es zerfällt in drei (nachträglich leicht erweiterte) Teile: A 2 - 8 für Mönche (oder im Kloster Büßende), B 1 — 12 für den Weltklerus und B 1 3 - 2 3 für Laien. 2.5. Endlich sind noch 5 Gedichte überliefert, aufgrund derer sich Columban den literarischen Ruhm eines herausragenden Kenners klassischer Latinität erworben hat; aber gerade ihre Zuschreibung ist neuerdings wieder in Frage gestellt worden ( J . W . Smit). Die ausführlichste Quelle über Columban ist die gegen 6 4 2 verfaßte Vita; deren Autor Jonas von Susa trat gegen 6 1 8 in Bobbio ein, fungierte dort als „Sekretär" und zulegt als Abt, kannte aber auch Gallien, wo er zeitweilig mit Amandus im Scheidegebiet missionierte. 3. Wirkung

und

Nachleben

Columban hat dem Kirchenleben vom Monastischen her Anstöße vermittelt, deren Wirkung durch das ganze Mittelalter, ja selbst bis zur Gegenwart spürbar sind. Columbans monastische Grundidee ist die Konformität mit dem erniedrigten und gehorsamen Jesus Christus (Phil 2,5—8). Im Gehorsam und Kreuztragen (Mt 10,38) vollzieht der Mönch seine Abtötung ( m o r t i f i c a t i o ) und erlangt dadurch „das Glück des Martyriums" (Reg. Mon. 1. 9; Serm. 10). Neben diesem für das ganze —»Mönchtum fundamentalen Ge-

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danken (—»Askese) steht die Auffassung vom Leben als einem Weg und Aufstieg zur himmlischen H e i m a t (Serm. 5). Auf dieser Erde ist der Mensch „ h e i m a t l o s " ; dies zu bezeugen, h a t Columban seine Heimat verlassen, w o f ü r Jonas das allem M ö n c h t u m autoritative W o r t Gottes an A b r a h a m , aus der H e i m a t fortzuziehen (Gen 12,1—3), a n f ü h r t . Die von Columban initiierte Klosterbewegung, das sog. „irofränkische" M ö n c h t u m , h a t sich - wohl aus dem Gedanken, die eigentliche Kirche zu sein - von der verfassungsmäßigen Unterordnung unter die Bischöfe der als dekadent gescholtenen gallischen Kirche zu emanzipieren begonnen. Schon Columbans Vogesenklöster scheinen ohne bischöfliche Genehmigung gegründet worden zu sein und eigenmächtig ihre (Altar-)Konsekration erhalten zu haben. Alsbald haben sich die Klöster der neuen Bewegung eine —»Exemtion vom Weiherecht und von der Jurisdiktion des jeweils zuständigen Bischofs zu verschaffen gewußt. Nach irischem Vorbild hatten sie eigene Bischöfe und bildeten damit eine Kirche in der Kirche (—»Keltische Kirche). Doch zeigt die weitere Entwicklung, daß die irofränkischen Klöster nicht einfach außerhalb der Jurisdiktion bleiben wollten; das päpstliche Privileg für Bobbio (628) wie auch ein (erschließbares) für Luxeuil unterstellen diese Klöster der unmittelbaren Jurisdiktion des römischen Stuhles. Diese aus der Bischofshoheit losgelösten Klöster wurden alsbald ein begehrtes Objekt der großen Adelsfamilien, die in ihrem Verlangen nach Heils- und Herrschaftssicherung (—»Adel) sich mit dem irofränkischen M ö n c h t u m verbanden und seine Verbreitung großzügigst förderten. Endlich h a t C o l u m b a n die aus der brüderlichen Zurechtweisung des Klosters erwachsene Privatbuße, bei der zuerst in Irland für jede Sünde genau bemessene Bußleistungen in Übung kamen, auf dem Kontinent heimisch gemacht; gegenüber der strengeren altkirchlichen Praxis mit ihrer begrenzten Bußerteilung und den oft lebenslangen Bußauflagen bot sich jetzt die Möglichkeit einer öfteren, ja möglichst häufigen —»Beichte und Buße. Quellen Sancti C o l u m b a n i opera, hg. v. G . S . M . Walker, 1957 (SLH 2). - [Poenitentiale auch in:] T h e Irish Penitentials, hg. v. Ludwig Bieler, 1963 (SLH 5). - Le pénitentiel de Saint Colombari, hg. v. Jean Laporte, 1958 (MCS 4). - [Vita:] Ionae v i t a e s a n c t o r u m C o l u m b a n i , Vedastis, Iohannis, hg. v. Bruno Krusch, 1905 ( M G H . S R G 37). - M . Tosi, Ionas, Vita C o l u m b a n i et discipulorum eius. Irai. Ubers, v. E. Cremon a / M . 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(1592-1670) 3. N a c h w i r k u n g

(Quellen/Literatur S. 167)

1. Leben Der letzte Bischof der —»Böhmischen Brüder, der tschechische Theologe, Pansoph und Erzieher Jan Arnos Komensky (benannt nach Komna, dem Herkunftsort des Vaters) wurde am 28. März 1592 in Nivnice (Südmähren) geboren. Die lateinische Form seines Namens ist seit 1626 belegt (Blekastad, Komenskys Leben 19). Erst mit 16 Jahren kam der früh verwaiste Knabe auf die Lateinschule in Prerau (Prerov). 1611 begann er sein Studium der Philosophie und Theologie an der calvinistischen Universität —»Herborn. Dort schloß er sich vor allem J. H. —»Aisted an, dessen —»Chiliasmus sowie pädagogische und enzyklopädische Interessen ihn stark beeindruckten und bleibend prägten. Schon hier kam er mit den pädagogischen Ideen Wolfgang Ratkes in Berührung. 1613 in Heidelberg immatrikuliert, wo er wesentliche Anregungen, vor allem von dem irenischen Theologen David Pareus (—»Irenik) empfing, beendete er dort 1614 seine Studien und wanderte nach Prerau zurück, wo ihm die Leitung seiner alten Schule übertragen wurde. 1616 wurde er zum Pfarrer der Brüderunität ordiniert. Er heiratete 1618 Magdalena Vizovskâ und erhielt im gleichen Jahr die Leitung von Pfarrgemeinde und Schule in Fulnek (s. TRE 6,755). Als der —»Dreißigjährige Krieg ausbrach, wurde die Stellung der Brüder auch in Mähren wegen ihrer Mitwirkung an der böhmischen Erhebung gegen Habsburg prekär. Die Schlacht am Weißen Berge (1620) beendete die kurze Periode (1609-1620), in der die Brüder das Recht freier Religionsausübung genossen. Spanische Truppen besetzten das Land. Alle Nichtkatholiken mußten fliehen oder sich verbergen. Komensky wechselte mehrfach die Aufenthaltsorte. Eine Seuche raubte ihm 1622 seine Frau und die beiden Kinder. Karl von Zerotin bot ihm in Brandeis (Brandys) zeitweilig eine Zufluchtstätte. In dieser Zeit schrieb er mehrere Trostschriften. Die berühmteste ist Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens, eine allegorische R e i s e b e s c h r e i b u n g - ein Meisterwerk der tschechischen N a tionalliteratur - , das zugleich von Seelsorge, Pädagogik und Zeitkritik bestimmt ist: Der Mensch ist auf Erden ein Pilger zur ewigen H e i m a t , „Fürwitz Allerweil" und „ W a h n h u l d " sind schlechte Führer durch das Labyrinth. W e r aber den T o d bedenkt, h ö r t den Ruf zur U m k e h r , Christus ergeben, findet er die w a h r e Freiheit, Nächstenliebe u n d Gemeinschaft vollkommenen Friedens, bereit, auch den T o d auf sich zu nehmen. Andere wichtige Trostschriften sind Truchlivy I u. 11 [Der T r a u e r n d e ] Centrum securitatis. Der Vergleich mit den früheren Briefen an den Himmel ( 1 6 1 6 f ) ist lehrreich.

1624 ging Komensky mit Dorota Cyrillovâ, einer Tochter des Bischofs der Brüderunität Jan Cyrill, seine zweite Ehe ein. Im Auftrag der Brüder reiste er nach Brandenburg, Sachsen und Polen, um mögliche Exile zu erkunden. 1626 überbringt er eine Abschrift der prophetischen Visionen des schlesischen Gerbers Christoph Kotters an den Hof des „Winterkönigs" Friedrich in Den Haag. Stark beeindruckt zeigte er sich auch von den Weissagungen der Christine Poniatowska, die er 1627 als Pflegetochter aufnimmt. 1628 emigriert er auf das

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Corrigenda-Nachträge zu Bd. 1 - 7 S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. . . . . . . . . . .

52,23 86,38 102,32 119,36 120,20 121,14 206,15 209,59 218,5 218,26 309,26 382,48 410,12 501,8 519,18 532,4 539,14 635,9 641,23 747,47 802,7

lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lieä lies lies lies lies lies lies lies lies lies

„für . . . " statt für . . . " N T . S statt N T S 1 4 1 4 statt 1 5 1 4 Nr. 6 6 3 statt Nr. 6 3 3 Benzing statt Binzing 4 1 5 - 4 2 6 statt 4 1 5 - 4 4 8 Cath. 2 6 ( 1 9 7 2 ) statt 2 6 ( 1 9 7 2 ) Kuhn statt Kuh Abendmahlsgang statt Abednmahlsgang materieller statt materialler 4 4 . statt 4 4 ) . 4 , 2 5 : statt 4 , 2 5 ; Günter statt Georg T h Z statt T h L Z geflohen statt geflogen the statt he potestate statt protestate Connolly statt Conolly di Vita statt die Vita Donal statt Donald Dierks statt Dirks

S. S. S. S. . . . , .

88,27 90,10 276,23 303,53 309,35 315,35 393,48 448,52 467,3 500,17 505,21 505,25 506,13 507,19 507,50 508,4 696,26 697,52 700,43 701,24 702,37 705,32 712,22

lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies lies

Eucharist: statt Euchariste Detlef statt Detlev Cambrai statt Combrai April statt Juni Altartische statt Altarnische ist und statt ist, und jtejiiaraifievaig statt nemoTWfikvog M a c Nelsh statt M a c Neish Piatons statt Paltons betreffende statt betreffe de begonnenen statt begonnen gleichwertig statt gleichweitig vor statt von verwendet statt verwandet wuchs statt wuch einzusetzen statt einsetzen evadat), statt evadat) »Examen« statt »Examen z. B. für die statt z. B. die ( 6 5 8 , 2 9 f f statt 658,29-ff sich statt Sicht sie statt sin gemacht statt demacht

S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.

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Führungselite des Landes umzugestalten. Comenius - 1649 mit J o h a n n a Gajusovä verheiratet— siedelte 1650 dorthin über und vollzog auch die T r a u u n g von Sigmond Räköczi mit Henriette von der Pfalz, der Tochter des „Winterkönigs". Der frühe Tod beider vereitelte Comenius' politische H o f f n u n g e n . Neben seinen Bemühungen um Schul- und Bildungsreform entstanden hier die Schola Ludus, eine in Schauspielszenen umgesetzte Sprach- und Sachkunde und sein wohl berühmtestes Buch, der Orbis sensualium pictus — auch emblematisch interessant (Harms; —>Emblem/Emblematik) - , das als Prototyp der späteren Realienbücher bis in unsere Zeit H u n d e r t e von Neuauflagen und N a c h a h m u n g e n erfahren hat (Pilz). Wegen unheilvoller Vermittlungsversuche zwischen den Weissagungen des zwielichtigen mährischen Visionärs und früheren Mitschülers Mikulas Drabik und dem H a u s e Rakoczi, dessen geistlicher Berater Comenius geworden war, geriet er mit dem Fürstenhaus in Konflikt, wurde falscher Ratschläge bezichtigt und von Kollegen und Schülern angefeindet. Seine Arbeit war keineswegs ohne Wirkungen, aber sein Reformwerk doch im wesentlichen gescheitert, so d a ß er enttäuscht 1654 nach Lissa zurückkehrte. Als Karl X. von Schweden 1655 in Polen einfiel, erhofften sich die Lissaer eine Stärkung ihrer Stellung im katholischen Polen. Comenius forderte in einer Flugschrift zur schwedischen Besetzung auf. Lissa w u r d e deswegen von den Schweden verschont. Aber im April 1656 eroberten polnische Truppen die Stadt und brannten sie nieder. Comenius verlor sein Haus, die Gemeindedruckerei, fast alle M a n u s k r i p t e und Bücher; er wurde abermals zum Flüchtling, seine Gemeinde in alle Richtungen zerstreut. In Amsterdam fand er als Gast des Laurentius de Geers Zuflucht. Die Stadt ü b e r n a h m die Edition seiner didaktischen Schriften, die Opera Didactica Omnia (1657). Comenius konzentrierte sich n u n auf die Rekonstruktion und weitere Ausarbeitung seines pansophischen H a u p t w e r k s , die zu Lebzeiten nicht mehr veröffentlichte De rerum humanarum emendatione Consultatio Catholica. Das großartige Werk blieb Fragment, sein größter Teil wurde erst im 20. Jh. zugänglich, nachdem D. Tschizweskij 1935 eine Nachschrift des M a nuskripts in der Bibliothek der Francke'schen Stiftungen in Halle entdeckt hatte. Mehrfach versuchte Comenius noch auf politische Vorgänge Einfluß zu nehmen, erreichte aber keine wirksame Relevanz {16S7 Lux in tenebris, 1664 Die letzte Posaun über Deutschland, 1665 Syllogismus orbis terrarum practicus, 1667 Angelus Pacis, eine friedenspädagogisch bedeutsame Schrift im Z u s a m m e n h a n g mit den Friedensunterhandlungen in Breda zur Beilegung des 2. englisch-holländischen Seekriegs). Zwei J a h r e vor seinem Tode veröffentlichte er noch den T r a k t a t Unum necessarium, einen bewegenden Rückblick auf sein Leben im Lichte von Lk 10, 42, wobei er sein Werk in vierfacher Hinsicht gliedert: pädagogisch, friedenspolitisch, pansophisch und prophetisch. Es gelang ihm nicht mehr, seinen 1665 begonnenen Plan, eine M a h n s c h r i f t , wohl für ein einzuberufendes Weltkonzil bestimmt, zu verfassen. Das Arbeitsmanuskript d a f ü r , die Clamores Eliae ist erst 1974 ediert worden. O f f e n b a r hatte Comenius vor, in Erfüllung von M t 17,11 als „dritter Elias" aufzutreten, mit einem selbst hergestellten Perpetuum moblie (an dieser Erfindung arbeitete er seit 1632) ein Zeichen des universalen Antriebs zu setzen und eine politische W e n d u n g zur Zurechtbringung von allem herbeizuführen. Die Beurteilung dieses Altersvorhabens mag unterschiedlich ausfallen (Schaller, Pädagogik der „ M a h n r u f e " 57), es ist auf jeden Fall ein bewegendes Zeugnis für die unermüdlichen Anstrengungen des Comenius, Theologie, Wissenschaft und Politik, mit einer „pädagogischen Theologie" (Geißler, Comenius u. die Sprache 51) im Z e n t r u m , und in pansophisch-chiliastischer Perspektive auf die Weltverbesserung im Sinne der Schöpfung Gottes hin wirksam zu verbinden. — Am 15. N o v e m b e r 1670 ist er in Amsterdam gestorben. 2. Werk Seitdem das pansophische Alterswerk zugänglich wurde (zur Forschungsgeschichte s. Schaller, Comenius), deutet die neuere Comeniusforschung auch die früheren Schriften von dieser enzyklopädischen Sicht her. Das auf dem labyrinthischen Lebensweg in ungleichen Schüben mit wechselnden Schwerpunkten (zuerst seelsorgerliche und enzyklopädische

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Schriften auf muttersprachlicher Basis, dann pädagogische Werke in lateinischer Sprache, kultur- und bildungsreformerische Entwürfe, Arbeiten zur Pansophie, außerdem Traktate, Flugschriften, homiletische, hymnologische und ökumenische Beiträge) entstandene Lebenswerk erscheint von daher als eine sich konsequent auf die Pansophie hin entwickelnde Einheit (Patocka). Es ist eine der letzten großen Leistungen barocken Denkens in Auseinandersetzungen mit der beginnenden —»Aufklärung. Mit —»Kopernikus, Bacon und —»Descartes setzt er sich kritisch auseinander, den Unterschied zu Basedow hat Bollnow treffend aufgezeigt. Der zu Lebzeiten wie in den drei nachfolgenden Jahrhunderten primär als Schulmann, Sprachdidaktiker und Autor enzyklopädischer Lehrbücher bekannt gewordene Comenius, in dessen Werk die philosophisch-theologische Dimension lange Zeit wenig beachtet oder gar als naiv und mittelmäßig abqualifiziert worden war, erhält nun als Repräsentant und Reformer des Glaubenslebens, der philosophischen, kosmologischen und anthropologischen Vorstellungen seiner Zeit eine umfassende Bedeutung. Das haben zwar Interpretenin Korrektur des Fehlurteils von Bayle - wie Dilthey, Kvacala oder Mahnke auch schon angesichts des didaktischen Werks vermutet und gesehen; doch erst auf der Basis der siebenteiligen Consultatio Catholica (ihre Bücher: 1. Panergesia, 2. Panaugia, 3. Pansophia, 4 . Pampaedia, 5. Panglottia, 6. Panorthosia, 7. Pannuthesia) wurden die universalen Dimensionen nimmt dabei die zendieser Systematik in ihrem ganzen Umfang greifbar. Die Pampaedia trale Stelle in dem Werk ein. (Zur Übersetzung ihrer Leitformel: Ut Omnes, Omnia, Omrtino docearttur [I, 1] vgl. Schaller: „Das Ganze soll der ganzen Menschheit von seinen Gründen her gezeigt werden" [Tlav 93], Aber diese pädagogische Zielsetzung bleibt theologisch fundiert: „Die allgemeine Besserung der Dinge wird ein Werk Christi sein, der alles zu dem Stand erneuert, aus dem es hervorgegangen ist; trotzdem fordert es unsere Mitarbeit" [Panorthosia, Kap. 111,0].) Bei aller Belastung mit „Schularbeiten" hat Comenius sich primär immer als Theologen verstanden (vgl. Op. Didactica Omnia IV,27). Die zentrale theologische These der Consultatio lautet in der von Comenius bewußt gewählten streng dogmatischen Formulierung: „ J E S U M NAZARENUM, filium Mariae, crucifixum sub Pontio Pilato, esse illum Reparatorem generis Humarti" (I, 1088). Doch ist sein theologisches Selbstverständnis mit einem unbändigen Interesse an Wahrnehmung und Realität sowie Leidenschaft für Frieden und Reform verbunden. Es geht nicht nur um Theorie und Praxis, sondern auch Chresis im Sinne der wahren als Schöpfung begriffenen Natur. Geistesbildung (eruditio), Tugend {mores) und Frömmigkeit (pietas) dienen in allen Lebensphasen und Altersstufen wie in allen Künsten und Wissenschaften, aller Politik und Seelsorge, dem einen Ziel, den Menschen wieder in das Ganze auf Gott hin an seinen schöpfungsgemäßen Ort zu stellen. Aus den Büchern der Offenbarung, der Vernunft und der Natur schöpfend, kommt so der Weg des Lichtes zu seinem Ziel, ein barocker ganzheitlicher Entwurf, der Geschichte und Politik einbezieht, bei dem nicht neuzeitliche Subjektivität, sondern eine „synkritische Methode" (Schaller, Pädagogik des J . A . Comenius 4 4 f ) leitend ist, die Bezogenheit auf Gott, Rationalität (nexus hypostaticus), zum Thema hat. Diese Theologie des Comenius ist beeinflußt von seinen Herborner Lehrern Aisted und Piscator, insbesondere im Blick auf deren —»Chiliasmus, den er jedoch gemindert hat, den utopischen Entwürfen Campanellas und vor allem J . V . —»Andreaes (vgl. Patocka 1 1 - 1 8 ) . Dazu kommen theosophische Strömungen, u . a . J a k o b —>Böhme, philosophische Traditionen, insbesondere —»Nikolaus von Kues, P. —»Ramus, Keckermann, Zabarella, auch —»Raimund von Sabunde ( M o l n ä r ) , d . h . Neuplatonismus (—»Plato/Platonismus) wie —»Aristotelismus, die er nun mit seinen universalreformerischen Ideen und pädagogischen Erkenntnissen verbindet.

So fußt diese Theologie auf einem —»Synergismus, der keineswegs die Rechtfertigungslehre aufheben, aber Weltflucht vermeiden will, indem er die Wiederkunft Christi vorzubereiten hat und neben Andacht, Demut und undogmatischer Frömmigkeit ein schriftgemäßes Tatchristentum verlangt, das sich aufgerufen weiß zur „Verbesserung der menschlichen Dinge". Dazu kommt Empfinden für missionarische Verantwortung entgegen den damaligen Auffassungen des Luthertums und Sehnsucht nach einem Frieden der Konfessionen und der Völker. Das schließt scharfe Polemik z. B. gegen die —»Sozinianer nicht aus. Ihrer Denk-

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struktur nach befindet sich die comenianische Systematik auf einer vorkartesianischen Stufe des —»Rationalismus und lebt von einem noch quasi mittelalterlich-kosmologischen Vertrauen auf eine objektiv mit der Schöpfung gegebene ewige Weltenharmonie. Gleichzeitig aber enthält sie von den hussitischen Vorfahren (—»Hus/Hussiten) der Böhmischen Brüder her auch neuzeitlich-revolutionäre dynamische Elemente. So steht das W e r k des Comenius an einer Zeitwende und übergreift die Epochen, ist zugleich Vorläufer und Kontrastfolie für viele neuzeitliche Entwicklungen des theologischen, philosophischen, wissenschaftlichen und erzieherischen Denkens. Die ökumenisch-missionarische Dimension der Gedankenwelt von Comenius wird greifbar in seinem Vorschlag, in Venedig oder Ulm ein Weltkonzil zu halten mit Abgeordneten aller Länder und Völker aus Schule und Wissenschaft, Kirche und Theologie, Gesellschaft und Politik, zu dem die Consultatio Catholica die vorbereitende Gesprächsgrundlage sein möchte. Er fordert darin nicht nur die Einsetzung dreier Welträte (Kollegium des Lichts, Gericht des Friedens und Konsistorium der Heiligkeit), sondern eine umfassende Erneuerung des einzelnen sowie der Gesellschaft. Comenius macht hier eine Fülle von Einzelvorschlägen zur Gestaltung einer menschenwürdigen Gesellschaftsordnung, die weit über seine Zeit hinaus bedenkenswert geblieben sind (z. B. der Gedanke einer internationalen Kontrolle kolonisierender Mächte, die Schaffung einer Weltsprache u.a.). Die Bedeutung des Comenius für die ökumenische Bewegung ist erst in jüngster Zeit entdeckt worden (van der Linde). Der alte Comenius trat von Amsterdam aus in Verbindung zu —»Labadie, der in Middelburg ein Zentrum des beginnenden —»Pietismus aufbaute, und schätzte —»Breckling. In Verbindung mit den Anfängen des Pietismus in den Niederlanden (s. Goeters 1 6 2 f ) hatte Comenius Bedeutung für —»Spener vor allem —»Francke (s. Molriar; Peschke) und die späteren Herrnhuter —»Brüdergemeinen. Theologisch ist Comenius Werk erst spät wieder erschlossen worden (zur Forschungsgeschichte Vorländer). Kleinen und Criegern machten den Anfang im 19. Jh. Auf pädagogischer Seite (u. a. Schaller) wurde neuerdings die theologische Bedeutung grundsätzlich herausgearbeitet, aber eine umfassende Würdigung von theologischer Seite steht noch aus. Einzelne Gebiete wurden schon vorzüglich erschlossen (z. B. Comenius' Verständnis der Sprache durch Geißler), aber für das Ganze liegen nur Skizzen in Aufsatzform (Hromadka; Vorländer) vor. Für den deutschen Sprachraum noch kaum oder gar nicht erschlossen sind seine Beiträge zur Predigt, die wissenschaftstheoretische Bedeutung für die —»Praktische Theologie (vgl. sein Werk Triertium Catholicum), seine Relevanz für die Seelsorge, während es zur Katechetik und Hymnologie sowie Mission und Ökumene (s. Lit.) Vorarbeiten gibt. Neben der großen Bedeutung des Comenius für die Erziehungs- und Geistesgeschichte im allgemeinen wird leicht übersehen, was er als Bischof und Unitätsschreiber für die Brüderunität geleistet hat. Seine Verdienste liegen hier sowohl auf literarischem wie auf seelsorgerlichem Gebiet. 1656 veröffentlichte er für die böhmischen Gemeinden einen Bibelauszug (Manualnik), 1659 ein tschechisches —»Gesangbuch (Kancionäl), 1661 einen Katechismus (dt.: Die Uralte Christliche Katholische Religion, in kurtze Frag und Antwort verfasset), 1662 die berichtigte Neuausgabe der Brüderkonfession von 1564 ('Confessio). In mehreren Schriften reflektierte Comenius kritisch die Situation der vertriebenen und zerstreuten Brüder. 1631 veröffentlichte er die Ermahnungsschrift Otäzky nektere o Jednote Bratri ceskych [Einige Fragen an die Unität der Böhmischen Brüder]; 1649 erschien mit einer Vorrede und einem Nachwort von Comenius die Brüdergeschichte von Johannes Lasitius (/. Lasitii Nobilis Poloni Historiae de Origine et Rebus gestis Fratrum Bohemicorum). Am bekanntesten wurde das Vermächtnis der sterbenden Mutter, der Brüderunität (1650) (s. T R E 7,7). Comenius wendet sich darin an alle Kirchen, denn allen gelte das von der Unität vorgelebte Streben nach Einmütigkeit im Glauben und in der Liebe zur Einheit des Geistes. Comenius wollte zwar am Bestehen der Unität so lange wie möglich festhalten, aber er konnte auch ihre Vereinigung mit anderen Kirchen ernsthaft erwägen und begrüßen. Auf die böhmischen Emigranten und den deutschen Pietismus überhaupt wirkte die von J . F . —»Buddeus herausgegebene Historia fratrum Bohemorum, eorutn ordo et diseiplina ecclesiastica (1702), in der vier Werke von Comenius enthalten sind (Historiola, Paraenesis, Ordo und Panegersia) und die das geistige Erbe der Unität in seinen wichtigsten Zügen zusammenfaßt.

3.

Nachwirkung

Der universelle Anspruch der comenianischen Lehre, deren Ruhm weit über die Grenzen der Nationen wie der politisch und konfessionell zerstrittenen Lager seiner Zeit hinausreichte, war schon zu Lebzeiten auf scharfe, ja hämische Kritik gestoßen (z. B. S. Maresius). Galt

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Comenius den einen als erleuchteter Pansoph und Friedensstifter, so den anderen als Chiliast, schwärmerischer Fanatiker, wortreicher Scharlatan, allenfalls als erfindungsreicher Schulmann. Die Wirkungen und Wertschätzungen des 17. Jh. hat Schaller (Pädagogik des J.A. Comenius), die des 18. Jh. Michel (Schulbuch) dargestellt. Zu den Bewunderern des Comenius gehörten —»Leibniz, —»Herder und —»Goethe, obwohl ihnen sein Werk nur ausschnittweise zugänglich war. Nur im Bereich der Schulentwicklungen ist seine Nachwirkung von jeher kontinuierlich greifbar gewesen. 1891 wurde die deutsche Comenius-Gesellschaft begründet. Daß er nicht nur für die frühkindliche Erziehung als erster Maßgebliches (Schola materna) zu sagen hatte, sondern auch für die Erwachsenen- und Altenbildung, wurde erst mit der Herausgabe seiner Pampaedia (1960) bekannt (vgl. Palous). Während die Comenius-Rezeption in der DDR und den osteuropäischen Staaten die Sozialrevolutionären Ansätze hervorhebt (Alt; Hofmann), die in seinem Ernstnehmen der Gleichheit aller Menschen vor Gott und seinem Interesse an Generalreform liegen, und ihn zum Vorläufer eines sozialistischen Bildungswesens stilisiert, hat die westliche Rezeption im allgemeinen ein stärker geistesgeschichtliches und anthropologisches, die Theologie nicht als nur zeitbedingte Folie auffassendes Interesse. Auf beiden Seiten finden sich Stimmen, die vor falschen Inanspruchnahmen und vorschnellen Aktualisierungen warnen (Patocka; Schaller, Pädagogik des J . A . Comenius). Die Erkenntnis der Grenzen des Wachstums, die Versuche ökologischer Theologie, das Interesse an ganzheitlicher Anthropologie, die Kritik an technokratischen Bildungszielen, friedenspädagogische Anstrengungen (Röhrs u.a.) lenken erneut Aufmerksamkeit auf Comenius (Michel, Welt; Schaller, Pädagogik der „Mahnrufe"). Für die Tschechen ist Komensky zudem eine der großen nationalen Identifikationsgestalten neben J. Hus. Die besonderen Traditionen der Böhmischen Brüder haben hymnologisch, ökumenisch, aber auch ekklesiologisch gegenüber nationalkirchlichen Konzeptionen in Comenius einen wirksamen Vertreter. Die Wiederentdeckung der pansophischen Schriften und anderer Quellen hat die Comeniusforschung international neu belebt (Kongresse von Prag 1957, Olmütz 1967, Prag 1970) und zur Gründung von Comenius-Forschungsstellen (Prag, Halle, Bochum) geführt. Die überregionale, 1954 gegründete Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaft in Münster trägt den Namen Comenius-Institut. Die Schlußzeilen in dem Epicedium von Leibniz zum Tode Comenius' sind in Erfüllung gegangen: Tempus erit, quo te, Comeni, turba bonorum,/ Factaque, spesque tuas, vota quoque ipsa, colet [Kommen wird sicher die Zeit, da dich, Comenius, jeder Gute/auf Erden verehrt, preisend dein Werk und dein Ziel] (Sämtl. Sehr., II/l 1926, 201; Übers. Mahnke 90). Quellen Bibliographien: Josef Brambora, Komenskys literarische Tätigkeit in Form v. Medaillons darg.: H.-J. Heydorn (s.u.), 1 1 , 7 - 1 0 4 . - Joseph Theodor Müller, Zur Bücherkunde des Comenius. Chronologisches Verz. der gedruckten u. ungedruckten Werke des J . A. Comenius: Monatsh. der Comenius-Gesellschaft 1 (Leipzig 1895) 1 9 - 5 3 . - Kurt Pilz, Die Ausg. des Orbis sensualium pictus. Eine Bibliogr., Nürnberg 1967. Jana Amosa Komenskeho Veskere Spisy, hg. v. J . Kvacalau.a., Prag/Brünn 1 9 1 0 - 1 9 2 9 (erste krit. Ausg., von 30 geplanten Bänden sind nur 8 erschienen). - Johannis Arnos Comenii Opera Omnia, hg. v. A. Skarka, Prag 1969ff (geplant ca. 50 Bde.; erschienen sind bisher 8 Bde.). - Opera Didactica Omnia, Amsterdam 1657 = Prag 1957. - Ausgew. Werke, hg. v. Dmitrij Tschizewskij/Klaus Schaller, 3 Bde., Hildesheim 1973 - 1 9 7 7 . - J . A . Comenius, Ausgew. Sehr, zur Reform in Wissenschaft, Religion u. Politik, übers, v. Herbert Schönebaum, Leipzig 1924. Einzelausgaben u. Übersetzungen: Listove do nebe, Olmütz 1619; dt.: Briefe nach dem Himmel, Herrnhut 1911 = Ausgew. Werke (s.o.), 1 1 / 1 , 6 8 - 9 9 . - Truchlivy, I—II 1624; II dt.: Trauern über Trauern - Trost über Trost, Preßburg 1626; III - I V 1 6 5 1 / 6 0 , 1 - I V hg. v. B. Soucek, Tabor 1916. - Das Labyrinth der Welt u. das Paradies des Herzens (1631), übers, v. Z. Baudnik, Luzern/Frankfurt 1 9 7 0 . Centrum securitatis, Lissa 1633; nach der dt. Ausg. v. 1737 eingel. u. hg. v. K. Schaller, Heidelberg 1964. - Böhmische Didaktik, Prag 1849; dt. Paderborn 1970. -Informatorium der Mutterschul, Lissa 1633, hg. v. J . Heubach, Heidelberg 1962. — Janua linguarum reserata, Lissa 1631, synopt. Ausg. v. J. Cervenka, Prag 1959. - Große Didaktik (Didactica Magna), übers, u. hg. v. A. Flitner, Düssel-

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d o r f / M ü n c h e n "1970. - Via lucis, Amsterdam 1668. - Vermächtnis der sterbenden M u t t e r , der Brüderunität, Lissa 1650; dt. Neukirchen 1958. - Orbis sensualium pictus, N ü r n b e r g 1658 = D o r t m u n d 1979. - Schola ludus: O p . didactica o m n i a (s.o.), 111,831-1050; dt.: Die Schule als Spiel, Halle 1888, Langensalza 1907. - Lux in tenebris, A m s t e r d a m 1665 3 1 6 6 7 (Lux e [!] tenebris). - De rerum h u m a n a rum emendatione Consultatio Catholica, 2 Bde., Prag 1966; dt.: Allg. Beratung über die Verbesserung der menschlichen Dinge, ausgew., eingel. u. übers, v. Franz H o f m a n n , Berlin (DDR) 1970. - Pampaedia. Lat. Text u. dt. Ubers, hg. v. Dmitrij Tschizewskij u. a., Heidelberg 1960 2 1 9 6 4 . - U n u m necessarium, A m s t e r d a m 1668; dt.: Das Einzige N o t w e n d i g e , Leipzig 1725; Neuausg. der Ubers, v. J o h a n n e s Seeger, Jena/Leipzig 1 9 0 4 = H a m b u r g 1 9 6 4 . - A n g e l u s pacis, Amsterdam 1667; dt. 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Confessio Helvetica Posterior

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H a n s Scheuerl/Henning Schröer

Confessio Helvetica Posterior 1. Voraussetzungen u n d Entstehung 2. Inhalt und theologischer A u f b a u te, W i r k u n g und Bedeutung (Quellen/Literatur S. 173)

1. Voraussetzungen

und

3. Weitere Geschich-

Entstehung

Das Erscheinen von H. —»Bullingers Confessio Helvetica Posterior 1566 bedeutet den Abschluß der konfessionellen Entwicklung in der schweizerischen Reformation (—»Schweiz). Die theologische Lage im schweizerischen Protestantismus war um diese Zeit bereits durch die Entwicklung auf die reformierte O r t h o d o x i e hin gekennzeichnet. Im Gegensatz zum Luthertum, das im —»Augsburger Bekenntnis mit der Apologie ein maßgebendes Bekenntnis erhielt, wies der reformierte Protestantismus eine große Vielfalt von Bekenntnissen auf. Die Bekenntnisbildung nahm ihren Anfang mit —»Zwingiis 67 Schlußreden für die Erste Zürcher Disputation 1523, gefolgt von weiteren schweizerischen Bekenntnisschriften: den 18 Thesen für die Disputation von Ilanz 1526, den 10 Schlußreden für die Berner Disputation 1528, dem Berner Synodus 1532 und dem Ersten Basler Bekenntnis 1534. Das erste gemeinsame Bekenntnis der reformierten deutschsprachigen Schweiz war die in Basel am 4 . 2 . 1 5 3 6 angenommene Confessio Helvetica Prior, die zugleich als Zweites Basler Bekenntnis galt. Als weitere regionale Bekenntnisse müssen die in Genf von —»Calvin 1536 eingeführte Confession de la Foy und die Confessio Rhetica von 1552 e r w ä h n t werden, ferner die zürcherischen Katechismen Leo Juds von 1534, 1537, 1539, und Calvins Catechismus Genevensis von 1545. N a c h dem Zürcher Bekenntnis von 1545, das —»Luther heftig ablehnte, war der Bruch zwischen Schweizern und Lutheranern vollständig. In dieser Situation kam es zur Einigung zwischen Calvin und Bullinger in der Abendmahlslehre, zum -*Consensus Tigurinus. Als weitere Vorstufen auf Bullingers persönlichem Weg bis zur Confessio Helvetica Posterior sind sein Sendschreiben an die ungarischen Kirchen von 1551 und seine Catechesis pro adultioribus [Katechese für Erwachsene] von 1559 zu nennen (Nagy 110). N a c h den Ergebnissen der neuesten Forschung ist die Confessio Helvetica Posterior als ein Bekenntnis Bullingers mit dem Titel Expositio brevis ... fidei bereits 1561 entstanden. Die Diskussion darüber, ob man diese Urform, im Gegensatz zur obrigkeitlich angenommenen „offiziellen" (Staedtke: T h Z 19,29) Form des Bekenntnisses, als „privates" (QSGHK 111,111; Koch, Textüberlieferung 19) bzw. „persönliches" (Pfister, Bekenntnis 56) Bekenntnis bezeichnen soll, dürfte k a u m beendet sein (v. Muralt 3 8 2 f ) . Fest steht nur, aller Fragen der Terminologie ungeachtet, daß Bullinger dieses Bekenntnis zunächst für sich verfaßt hat, wohl in Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung zum Nutzen seiner Kirche. Dieses, im A u t o g r a p h erhaltene, später mehrfach korrigierte, ergänzte und bald auch abgeschriebene Exemplar diente dann als Vorlage für den Erstdruck. Anlaß f ü r die Überarbeitungen des Urtextes mögen ein Gespräch mit P . M . —»Vermigli 1562 wie auch Bullingers im Pestjahr 1564 gefaßte Absicht gegeben haben, die Expositio dem Zürcher Magistrat als geistliches Testa-

170

Confessio Helvetica Posterior

ment zu hinterlassen; vor allem aber zeigt das M a n u s k r i p t die Spuren der Vorbereitung zur Drucklegung Anfang 1566. Der Impuls dazu, d a ß aus Bullingers Bekenntnis die Confessio Helvetica Posterior wurde, kam von Kurfürst Friedrich III. von der —»Pfalz. Seit der Herausgabe des —»Heidelberger Katechismus 1563 standen die junge kurpfälzische reformierte Landeskirche und der Kurfürst selbst unter wachsendem Druck seitens der lutherischen Fürsten und des Kaisers. Im Schreiben Kaiser —»Ferdinands I. an den Kurfürsten vom 1 3 . 7 . 1 5 6 3 wurde bereits festgestellt, d a ß die Kurpfalz mit der A n n a h m e des Heidelberger Katechismus sich vom —»Augsburger Religionsfrieden selbst ausschließe. Der am 1 2 . 1 1 . 1 5 6 5 nach Augsburg auf den 1 4 . 1 . 1 5 6 6 ausgeschriebene Reichstag (—»Reichstage der Reformationszeit) sollte sogar über M a ß n a h m e n zur Abwehr der „verführerischen Sekten" (Goeters 82) beraten, was eine unmittelbare Gefahr für die reformierte Kurpfalz darstellte. In der doppelten Bestrebung, die Übereinstimmung sowohl mit der rechtverstandenen Confessio Augustana und deren Apologie als auch mit den ausländischen Protestanten zu beweisen, h a t sich der Kurfürst bereits 1563 eine Apologie des Heidelberger Katechismus von Bullinger erbeten und erhalten (ebd.). Auch diesmal w a n d t e er sich an den Zürcher Antistes um literarischen Beistand. Am 23. 1 1 . 1 5 6 5 ließ er Bullinger sieben „capita" [Leitsätze oder Thesen] (Hollweg 1 5 4 - 1 5 6 ; Benrath 105) zugehen; auf dieser Grundlage sollte in Hinblick auf den Reichstag eine an den Kaiser gerichtete Verteidigungsschrift ausgearbeitet werden. Der Hauptzweck war, die Ubereinstimmung der der Ketzerei und Sektiererei beschuldigten reformierten Lehre und Kirche mit der apostolischen nachzuweisen. Der Zürcher entsprach diesem Wunsch mit einer umfangreichen Schrift, die am 1 8 . 1 2 . 1 5 6 5 nach Heidelberg gesandt wurde. Da im 6. P u n k t der Disposition auch ein Bekenntnis verlangt worden war, legte er eine Kopie seiner Expositio bei. Das Werk fand begeisterte A u f n a h m e , wie aus dem Brief des pfälzischen Kanzlers Christoph Ehem vom 6 . 1 . 1 5 6 6 hervorgeht: Bullinger wurde gebeten, sein Bekenntnis mit einem V o r w o r t bald drucken zu lassen. Die Pfälzer wandten sich zur gleichen Zeit auch an Th. —»Beza in Genf und an andere reformierte Kirchen in Europa. Beza schlug den Predigern in Zürich am 1 4 . 1 2 . 1 5 6 5 die Herausgabe eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses vor. Zürich und Bern stimmten zu, wobei man zunächst nur die Neuauflage einer früheren schweizerischen Bekenntnisschrift im Sinn hatte. Das änderte sich jedoch mit der Nachricht von der Hochschätzung von Bullingers Bekenntnis in der Pfalz. Nach Genehmigung des Bekenntnisses durch den Rat in Zürich sandte Bullinger Abschriften davon an alle reformierten O r t e der Eidgenossenschaft. Auf Berns Einspruch strich er einen Abschnitt, der gegen den Gebrauch von goldenen und silbernen Kelchen beim Abendmahl gerichtet war, und kam auch anderen Wünschen weitgehend nach. Beza k a m persönlich nach Zürich und erreichte die A u f n a h m e der Genfer Geistlichkeit in die Liste der Unterzeichner. Die Milderung einiger anti-calvinisch anmutenden Ausdrücke zur Prädestinationslehre geht offenbar auf seinen Wunsch zurück (Koch, Textüberlieferung 38—40). Alle reformierten Stände der damaligen Schweiz nahmen das Bekenntnis an, auch Chur, Biel, Mülhausen im Elsaß und Genf. Allein Basel lehnte zunächst ab, weil der dortige Antistes Simon Sulzer zum Luthertum neigte und man ferner fürchtete, eine Unterschrift würde den politischen Spielraum Basels einengen. Anfang M ä r z 1566 lag der lateinische Text und bald auch die von Bullinger besorgte deutsche Ubersetzung des Bekenntnisses in Zürich fertiggedruckt vor und wurde am 1 2 . 3 . 1 5 6 6 mit Bullingers Begleitbrief dem Kurfürst zugesandt: je 6 lateinische und deutsche Exemplare. Bullingers Expositio brevis ... fidei war zur Confessio Helvetica Posterior geworden. 2. Inhalt und theologischer

Aufbau

Der Titel gibt bereits Aufschlüsse über Zweck und Inhalt des Bekenntnisses. In Bullingers eigener Übersetzung heißt es: „ B e k a n n t n u ß deß waaren Gloubens vnnd einfalte erlüterung der r i c h t e n allgemeinen Leer vnd houptarticklen der reinen Christenlichen Religion, von den Dienern der kyrchen Christi in der E y d g n o s c h a f f t . . . einhallig vßgangen, yederman

Confessio Helvetica Posterior

171

zu bezügen, daß sy in der einigkeit der waaren vralten Christenlichen kyrchen bestond, vnnd keine n ü w e jrrige leeren . . . h a b e n d . . . " (Staedtke, Bullinger-Bibliogr. Nr. 465). Der einleitende Teil unterstreicht diesen Doppelzweck: Betonung der Ubereinstimmung mit der alten Kirche bzw. der ganzen Christenheit und Abgrenzung gegenüber Irrlehren und Sekten. Darum wendet sich die vom Zürcher Professor Josias Simler verfaßte Vorrede mit einem Segenswunsch an alle Christgläubigen, und d a r u m wird auch der kaiserliche Erlaß von 3 8 0 und das Bekenntnis des Papstes Damasus I. dem Text des Bekenntnisses vorangestellt. Die Confessio Helvetica Posterior ist die umfangreichste reformierte Bekenntnisschrift, wobei ein beachtlicher Teil der insgesamt 3 0 Kapitel aus wörtlichen Bibelzitaten besteht. Der theologische Aufbau läßt verschiedene Deutungen zu. Die A n o r d n u n g der Themen folgt „ u n g e f ä h r " dem Gedankengang des —»Apostolischen Glaubensbekenntnisses (QSGHK 111,115; Jacobs 52), doch kann m a n darin auch eine nahe Verwandtschaft mit der Themenreihe der Confessio Helvetica Prior von 1536 entdecken, an deren Abfassung ja Bullinger beteiligt war (Dowey 209); und schließlich bietet sich auch der —»Bund als das zentrale Konzept an: die ganze Helvetica k ö n n t e als „ E n t f a l t u n g des Bundesbegriffs" angesehen werden (Koch, Theol. 388). Es ist wohl richtig, d a ß das einzige Motiv, das „im Bekenntnis ständig Geltung h a t . . . , wahrscheinlich das wohlbekannte praktisch-seelsorgerliche Anliegen Bullingers" ist (Dowey 212). Kap. 1 - 2 behandeln die O f f e n b a r u n g : die Heilige Schrift als das Wort Gottes und ihre Auslegung, Lehramt und Tradition. Nach der entscheidenden Feststellung, daß Gott durch die heilige Schrift auch jetzt noch zu uns spricht, wird in einer R a n d b e m e r k u n g von Kap. 1 der berühmte Grundsatz ausgesprochen: „Praedicatio verbi Dei est verbum Dei" [Die Predigt des Wortes Gottes ist Gottes W o r t ] (BSRK 171,10; Locher: Zwing. 10, 4 7 - 5 7 ) . D a r u m m u ß die Kirche um eine gute Schriftauslegung besorgt sein. - In Kap. 3—7 folgt die Gotteslehre: von —»Gott dem dreieinigen —»Schöpfer, von seiner wahren und falschen Verehrung, von Gottes —»Vorsehung und Schöpfung. - Kap. 8 - 9 enthalten eine Anthropologie: der —»Mensch wird als Geschaffener, Gefallener und Wiedergeborener dargestellt. - Die Lehre von der —»Prädestination folgt in Kap. 10. „Bullinger h a t die —»Erwählung bewußt aus der Lehre von der göttlichen Vorsehung gelöst" (Pfister, KG 311), um eine Vermischung der beiden Begriffe abzuwehren. Die Vorsehung gehört für ihn zur Schöpfungslehre, während die Erwählung der Heilslehre zugeordnet wird. So setzt die Lehre von —»Jesus Christus mit der Prädestination ein. Bullinger vertritt eine „christozentrische Erwählungslehre"; die Aussagen über die V e r w e r f u n g der Nicht-Erwählten treten zurück (Jacobs 53). - In Kap. 11 wird die altkirchliche Lehre von Christus ohne Vorbehalt wiederholt und sein Erlösungswerk erörtert. — Die großen Themen der Heilslehre folgen in Kap. 12—16: —»Gesetz und Evangelium, —»Buße und —»Rechtfertigung, —»Glaube und gute Werke. - Die Lehre von der —»Kirche n i m m t in Kap. 1 7 - 2 8 fast die H ä l f t e vom G e s a m t u m f a n g des Bekenntnisses ein. Kap. 17 und 18 behandeln die eine katholische (allgemeine) Kirche, ihre Ämter, das Predigen des Evangeliums. Kap. 1 9 - 2 1 handeln von den —»Sakramenten. Im Sakrament schenkt Christus seine Wirklichkeit. Die —»Taufe wird im Sinne Zwingiis mit der alttestamentlichen Beschneidung gleichgesetzt und als A u f n a h m e in den Bund dargestellt. Für die Abendmahlslehre (—»Abendmahl) sind vornehmlich das altchristliche Bekenntnis von —»Chalkedon über die zwei N a t u r e n Christi und der Consensus Tigurinus grundlegend. Die leibliche Gegenw a r t Christi im Sinne der lutherischen —»Ubiquität wird abgelehnt, die Realpräsenz im Heiligen Geist betont (vgl. Jacobs 57—59). Der Leib Christi wird im Abendmahl vom Glaubenden „geistlich" und „ s a k r a m e n t a l " genossen (Koch, Theol. 115). In Kap. 2 2 - 2 8 werden Gemeindegottesdienst, Gebet, kirchliche Einrichtungen und Gebräuche erörtert: Feiertage, Fasten, Jugendunterricht, Krankenseelsorge, Begräbnis usw. - Das Bekenntnis endet mit zwei wichtigen praktischen Anliegen: in Kap. 29 werden Fragen der Familie, in Kap. 3 0 die des Staates behandelt. Im allgemeinen läßt sich feststellen, d a ß die Confessio Helvetica Posterior „in den H a u p t s a c h e n . . . unbeugsam klar und scharf, in den Nebensachen mild und versöhnlich" ist (QSGHK 111,115). Bullinger war bestrebt, nicht das konfessionell Trennende, sondern das

172

Confessio Helvetica Posterior

Gemeinsame, Verbindende und Grundlegende herauszustellen. Immerhin wendet er sich scharf gegen die —»Täufer, die er zu den Häretikern und Sektierern zählt, und auch die „päpstliche" Kirche wird jeweils klar abgewiesen, o b w o h l nicht so scharf, wie das in manchen anderen reformatorischen —»Bekenntnisschriften geschieht. Gegen die lutherische Lehre wird nicht polemisiert. Im ganzen ist das Bekenntnis in einem versöhnlichen Ton gehalten und auf das praktische Christenleben ausgerichtet. Es vereinigt zwinglisches und calvinisches G e d a n k e n g u t in sich und wirkte dadurch als Bindemittel zwischen Genf und Z ü rich. 3. Weitere Geschichte,

Wirkung

und

Bedeutung

Die Confessio Helvetica Posterior ist bis zur jüngsten Zeit in über 110 Ausgaben in 13 Sprachen erschienen (Staedtke, Bedeutung 9). In der Schweiz gelangte sie zur größten Verbreitung. Basel nahm sie erst 1642 an; seit der Ausgabe von 1644 erscheinen auf dem Titelblatt alle reformierten Stände der Eidgenossenschaft als Unterzeichner. —»Die O r t h o d o x i e versuchte, das traditionelle Verständnis der Helvetica mit der Helvetischen Consensusformel von 1675 vor den Zeitströmungen zu schützen. In Genf w u r d e jedoch die Bekenntnisverpflichtung bereits 1725 aufgehoben, und im 19. Jh. h a t das Bekenntnis unter dem Einfluß des Liberalismus in der ganzen Schweiz seine normative Geltung, nicht aber sein Ansehen, eingebüßt. - Gemessen am begeisterten Empfang von Bullingers Bekenntnis in der Pfalz ist seine Bedeutung für —»Deutschland eher gering gewesen. Unklar ist, wieweit es auf dem Augsburger Reichstag von 1566 zur Rettung der reformierten Kurpfalz beigetragen hat. Da die Pfalz aus reichsrechtlichen Gründen an der Confessio Augustana festhalten mußte, k o n n t e sie die Helvetica nicht unterzeichnen. Diese h a t dann in Deutschland, o b w o h l ihr Text in die reformierte Harmonia Confessionum von 1581 aufgenommen worden war, eher nur als Lehrgrundlage gedient. — Bereits 1566 kam es zu drei französisch-sprachigen Ausgaben in Genf (Staedtke, Bullinger-Bibliogr. N r . 491—493). Trotz seiner großen Verbreitung in —»Frankreich wurde das Bekenntnis offiziell nie angenommen, da die französischen Reformierten schon ihr eigenes Bekenntnis besaßen. - In den —»Niederlanden konnte sich die Helvetica nicht recht durchsetzen, obwohl sie bereits 1568 in holländischer Übersetzung gedruckt worden ist. — Die —»Kirche von England verpflichtete sich nicht zu dem Bekenntnis. Auf der Synode der schottischen Kirche am 5 . 9 . 1 5 6 6 w u r d e es jedoch von allen Pfarrern unterschrieben (—»Schottland). Die englische Ubersetzung erschien wahrscheinlich schon 1568. - Im Jahr 1967 nahm auch die Vereinigte Presbyterianische Kirche der USA die Helvetica an(Staedtke, Bedeutung l l f ; —»Vereinigte Staaten von Amerika). — In —»Österreich werden die reformierten Gemeinden seit dem Toleranzedikt von 1781 die evangelische Kirche „Helvetischen Bekenntnisses" genannt. Die Helvetica ist neben dem Heidelberger Katechismus ihre offizielle Bekenntnisschrift auch heute. - „Außer in der Schweiz hat die Confessio Helvetica ihren tiefsten E i n f l u ß . . . in —»Ungarn ausgeübt" (Staedtke, ebd. 13; Hervorhebung vom Verf.). Bereits die vom 24. bis 2 6 . 2 . 1 5 6 7 in Debrecen tagende Synode n a h m neben einigen anderen Bekenntnissen auch die Helvetica an. Zwischen 1612 u n d 1965 erreichte sie 23 Ausgaben in ungarischer Sprache. Seit den Freiheitskriegen im 17. Jh. wurde das Bekenntnis das D o k u m e n t der Religionsfreiheit f ü r die ungarischen Evangelischen „Helveticae Confessionis". Es ist auch heute, zusammen mit dem Heidelberger Katechismus, das bindende Bekenntnis der Reformierten in Ungarn. Dasselbe gilt f ü r die reformierten Kirchen ungarischer Sprache in der —>Tschechoslowakei, in - ^ R u m ä n i e n , —»Jugoslawien, K a r p a t h o r u ß l a n d und auch in Amerika. - In —>Polen erlebte die Helvetica 1 5 7 0 - 1 5 8 0 eine kurze Blütezeit. Sie wurde bereits 1566 von Regionalsynoden und 1570 von der Gesamtsynode in Sandomir als Bekenntnis angenommen (—»Sandomir, Consensus von). Im selben Jahr erschien die erste polnische Ubersetzung, bald gefolgt von zwei weiteren. Die nach der Gegenreformation übriggebliebene kleine reformierte Kirche besorgte im 17. Jh. noch eine und im 20. Jh. zwei Ausgaben. - Die —»Böhmischen Brüder in der Tschechoslowakei halten auch heute neben ihren eigenen nationalen Bekenntnissen an der Confessio Helvetica Posterior fest. Angenommen wurde sie nach dem

Confessio Tetrapolitana

173

ö s t e r r e i c h i s c h e n T o l e r a n z e d i k t v o n 1 7 8 1 (vgl. d a z u G l a u b e n u . B e k e n n e n 4 1 — 2 0 2 ) . — E i n e m o d e r n e k r i t i s c h e E d i t i o n liegt n o c h n i c h t v o r . B e i d e r F e i e r z u m 4 0 0 j ä h r i g e n B e s t e h e n d e r Confessio

Helvetica

Posterior

wurde neben

der „ t h e o l o g i s c h e n " ( L o c h e r : Z w i n g . 1 0 , 1 9 - 3 3 ) u n d „ h i s t o r i s c h e n B e d e u t u n g " ( S t a e d t k e , Bedeutung 8 - 1 8 ) auch die „ ö k u m e n i s c h e " (Niesei 2 7 - 4 9 ) stark h e r v o r g e h o b e n .

Obwohl

das B e k e n n t n i s f ü r m e h r e r e r e f o r m i e r t e K i r c h e n n i c h t o d e r n i c h t m e h r v e r b i n d l i c h ist, b l e i b t sein W e r t als Z u s a m m e n f a s s u n g u n d D a r s t e l l u n g des G l a u b e n s u n b e s t r i t t e n , w e n n h e u t e im ö k u m e n i s c h e n G e s p r ä c h die F r a g e n a c h d e m eigentlichen

besonders

reformierten

S t a n d p u n k t v e r m e h r t gestellt wird. Quellen B S R K 1 7 0 - 2 2 1 . - B S K O R K 2 1 9 - 2 7 5 . - Ref. Bekenntnisschr. u. K O in dt. Ubers., bearb. u. hg. v. Paul J a c o b s , Neukirchen 1 9 4 9 , 1 7 5 - 2 4 8 . - Das Zweite Helvetische Bekenntnis, ins Deutsche übertr. u. hg. v. R u d o l f Z i m m e r m a n n / W a l t e r Hildebrandt, 1 9 3 6 ( Q S G H K 3 ) . Literatur Gustav Adolf Benrath, Die Korrespondenz zw. Bullinger u. T h o m a s Erastus: Heinrich Bullinger 1 5 0 4 - 1 5 7 5 . GAufs. zum 4 0 0 . Todestag, hg. v. Ulrich Gäbler/Erland Herkenrath, II 1 9 7 5 ( Z B R G 8) 8 7 - 1 4 1 . - Hans Berner, Basel u. das Zweite Helvetische Bekenntnis: Zwing. 15 ( 1 9 7 9 ) 8 - 3 9 . - E d w a r d A. Dowey, Der theol. Aufbau des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses: Glauben u. Bekennen (s.u.), 2 0 5 - 2 3 4 . - Glauben u. Bekennen. Vierhundert J a h r e CHelvP. Beitr. zu ihrer Gesch. u. Theol., hg. v. J o achim Staedtke, Zürich 1 9 6 6 . - J . F. Gerhard Goeters, Die Rolle der CHelvP in Deutschland: Glauben u. Bekennen (s. o.), 8 1 - 9 8 . - Erland Herkenrath, Heinrich Bullinger Bibliogr., Zürich, II 1 9 7 7 . - Walter Hildebrandt, Entstehung u. Geltung des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses: Das Zweite Helvetische Bekenntnis, CHelvP, Zürich 1 9 6 6 , 1 3 9 - 1 6 6 . - Walter Hollweg, Der Augsburger Reichstag v. 1 5 6 6 u. seine Bedeutung für die Entstehung der Ref. Kirche u. ihres Bekenntnisses, 1 9 6 4 ( B G L R K 17). — Paul J a c o b s , Theol. ref. Bekenntnisschr. in Grundzügen, Neukirchen 1 9 5 9 . - Istvân Juhäsz, Glaubensbekenntnis u. K G . Die CHelvP in der Gesch. der Siebenbürgisch-ref. Kirche: Bullinger-Tagung 1 9 7 5 . Vortr., gehalten aus Anlaß v. Heinrich Bullingers 4 0 0 . Todestag, hg. v. Ulrich Gäbler/Endre Zsindely, Zürich 1 9 7 7 , 9 9 - 1 1 2 . - Ernst Koch, Die Textüberlieferung der CHelvP u. ihre Vorgesch.: Glauben u. Bekennen (s.o.), 1 3 - 4 0 . - Ders., Die Theol. der CHelvP, 1 9 6 8 ( B G L R K 2 7 ) . - Gottfried W. Locher, Praedicatio verbi dei est verbum dei. Ein Beitr. zur Charakteristik der T h e o l . Heinrich Bullingers: Zwing. 10 ( 1 9 5 4 ) 4 7 - 5 7 . - Ders., Die theol. Bedeutung der CHelvP: 4 0 0 J a h r e CHelvP, Bern 1 9 6 7 (Berner Univ.-sehr. 16) 1 9 - 3 3 . - Walter E. M e y e r , Soteriologie, Eschatologie u. Christologie in der CHelvP. Beleuchtet an Kap. X I : Zwing. 12 ( 1 9 6 6 ) 3 9 1 - 4 0 9 . - Henri M e y l a n , L'Eglise réformée neuchâteloise et la CHelvP de 1 5 6 6 : Heinrich Bullinger 1 5 0 4 - 1 5 7 5 (s.o.), 3 3 1 - 3 3 9 . - E . F . Karl Müller, Art. Helvetische Konfessionen: R E 3 7 ( 1 8 9 9 ) 6 4 1 - 6 4 7 . - Leonhard v. M u r a l t , Vierhundert J a h r e Zweites Helvetisches Bekenntnis: Zwing. 12 ( 1 9 6 6 ) 3 7 7 - 3 9 0 . - Barnabas Nagy, Gesch. u. Bedeutung des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses in den osteurop. Ländern: Glauben u. Bekennen (s. o.), 1 0 9 - 2 0 2 . Wilhelm Niesei, Die ökum. Bedeutung der CHelvP: 4 0 0 J a h r e Zweites Helvetisches Bekenntnis, Zürich/Stuttgart 1 9 6 6 , 2 7 - 4 9 . - Carl Pestalozzi, Heinrich Bullinger. Leben u. ausgew. Sehr., 1 8 5 8 ( L A S R K 5) 4 1 3 - 4 2 2 . - Rudolf Pfister, Das Zweite Helvetische Bekenntnis in der Schweiz: Glauben u. Bekennen (s. o.), 5 4 - 8 0 . - Ders., K G der Schweiz, Zürich, II 1 9 7 4 , 2 9 8 - 3 1 2 (Lit.). - J o a c h i m Staedtke, G i b t es einen offiziellen T e x t der CHelvP?: T h Z 19 ( 1 9 6 3 ) 2 9 - 4 1 . - Ders., Bibliogr. der CHelvP: Glauben u. Bekennen (s. o.), 4 1 - 5 3 . - Ders., Die hist. Bedeutung der CHelvP: 4 0 0 J a h r e CHelvP (s. o.), 8 - 1 8 . - D e r s . , Heinrich Bullinger Bibliogr., Zürich, 1 1 9 7 2 , Nr. 4 3 3 - 5 5 2 . - S t e p h a n u s T o k é s , Commentarium in CHelvP. Interpretatio petita ex operibus Heinrichi Bullingeri, 2. Bde., Claudiopolis/Cluj 1 9 6 8 . Endre Zsindely Confessio Tetrapolitana

Î.

Entstehung

A l s Confessio

Tetrapolitana

b e z e i c h n e t m a n das B e k e n n t n i s , das die S t r a ß b u r g e r T h e o -

l o g e n M . —>Bucer u n d W . —>Capito 1 5 3 0 a u f d e m A u g s b u r g e r R e i c h s t a g v e r f a ß t e n u n d das n a c h b e s t i m m t e n Ä n d e r u n g e n von den s ü d d e u t s c h e n S t ä d t e n M e m m i n g e n , K o n s t a n z und L i n d a u m i t u n t e r z e i c h n e t w u r d e . V e r t r e t e r der vier S t ä d t e legten die endgültige F a s s u n g a m 9 . Juli dem kaiserlichen Vizekanzler Balthasar Merklin vor. D i e Confessio

Tetrapolitana

e n t s t a n d g l e i c h e r m a ß e n aus politischer wie theologischer

174

Confessio Tetrapolitana

Notwendigkeit. —»Straßburg hatte im Februar 1529 den entscheidenden Schritt der Abschaffung der Messe getan. Als direkte Folge verlor die Stadt noch im selben Jahr ihren Sitz im Reichsregiment. So trafen ihre politischen und religiösen Führer, unter Leitung ihres H a u p t d i p l o m a t e n J a k o b S t u r m ( 1 4 8 9 - 1 5 5 3 ) , umfängliche Vorbereitungen, um ihre H a n d lungsweise in Augsburg (—»Reichsta ge der Reformationszeit) zu verteidigen. Sie kamen damit zugleich der Aufforderung —»Karls V. nach, daß alle Stände über ihre Religionspolitik Rechenschaft ablegen sollten. Die erhaltenen Quellen über diese Vorbereitungen deuten darauf hin, daß Sturm und die übrigen Regierungsmitglieder hauptsächlich an eine politische Verteidigung dachten. Bei der A n k u n f t in Augsburg trugen er und sein Mitgesandter, Mathis Pfarrer ( 1 4 8 9 - 1 5 6 8 ) , als Verhandlungsgrundlage vier ausführliche M e m o r a n d e n bei sich. Das erste, „Ratschlag A " überschrieben, stammte von Bucer und enthält eine Stellungnahme zum Sakramentenstreit, mit besonderer Hervorhebung von möglichen Punkten der Ubereinstimmung zwischen den streitenden evangelischen Parteien. Capito war der Autor von „Ratschlag B", wonach Sturm und Pfarrer den Kaiser zur Einberufung eines freien christlichen Konzils drängen sollten, auf dem sämtliche kontroversen religiösen Fragen geklärt werden sollten. „Ratschlag C " war von J a k o b Kirschner, zu dieser Zeit Stadtadvokat in Straßburg, formuliert worden und gab eine Übersicht über die juristische Seite der Stellung Straßburgs im Reich. Wiederum von Capito, mit Ergänzungen von Sturm, s t a m m t e „Ratschlag D " , ein beredter, halb historischer Bericht über die Reformation in Straßburg, ähnlich Capitos früherer Copey eins uszschribens aller newerung halb und seiner veröffentlichten Kurtzen Summ aller Lere und Predig. Damit verfügte die Stadt über vier k o m p l e m e n t ä r e Verteidigungsstrategien: 1. sie konnte ein Bündnis mit anderen evangelischen Ständen anstreben; 2. sie konnte die Diskussion bis zu einem Konzil verschieben; 3. sie k o n n t e ihre Rechte vor einem kaiserlichen Gericht geltend machen; 4. sie k o n n t e ihr Vorgehen als sowohl der innenpolitischen Lage wie der religiösen Wahrheit entsprechend rechtfertigen. Straßburgs Vorbereitungen waren demnach praktischer N a t u r und zielten auf die konkrete politische Situation der Stadt. Alle diese Vorarbeiten erwiesen sich als wertlos. Der Kaiser hatte nicht die Absicht, ein Konzil einzuberufen, geschweige denn in Verhandlungen mit den protestantischen Ständen einzutreten. Sturm und Pfarrer stellten zu ihrer Überraschung fest, daß die anderen Delegationen einen T r o ß von Theologen mit sich führten, und verlangten dreimal die N a c h s e n d u n g von Capito und Bucer, die aber erst nach der Verlesung des —»Augsburger Bekenntnisses eintrafen. —»Philipp von Hessen verschaffte den Straßburger Vertretern eine Kopie, die diese mit Ausnahme des Abendmahlsartikels unterschreiben wollten, aber die lutherischen Stände lehnten ab. So machten sich Bucer und Capito, mit dem Augsburger Bekenntnis direkt vor Augen, an die Abfassung eines Bekenntnisses für Straßburg, dem auch andere sollten zustimmen können. Das überwältigende Bedürfnis Straßburgs nach einer Verbesserung seiner politischen Position auf dem Reichstag zeigt sich auch in der Endfassung des Bekenntnisses, insbesondere in den Veränderungen, die Art. 18 über das —»Abendmahl erfuhr (s.u.). Dessen ursprüngliche Version u m f a ß t e sechs Folioblätter und enthielt eine sehr genaue Abgrenzung gegen —»Luthers Lehre von der Realpräsenz (vgl. M. Bucer, O p . omnia 1/3, BDS III, 131). Straßburgs potentielle Verbündete - alle diejenigen, die die Confessio Augustana nicht unterschrieben hatten — fanden die Formulierung zu scharf und weigerten sich ebenso, dem Entwurf Capitos u n d Bucers zuzustimmen. Aufgrund der fortbestehenden politischen Isolierung der Stadt drangen Sturm und Pfarrer in ihre beiden Theologen, sie sollten dem betreffenden Passus des Artikels eine einfachere und mildere Form geben. Auch wenn Capito in dieser Revision Straßburgs wahres Abendmahlsverständnis festgehalten sah, ist doch unverkennbar, daß politische Überlegungen die Beseitigung jeder Polemik und die Kürzung des Artikels und des Textes ü b e r h a u p t nötig gemacht hatten. W ä h r e n d sie demnach nicht die erhoffte breite Verbindung stiften konnte - n u r Ulm n a h m sie 1531 noch zur Grundlage seines Bekenntnisses - , spielte die Confessio Tetrapoli-

Confessio Tetrapolitana

175

tana zumindest in Straßburg weiterhin eine wichtige politische Rolle. Sie war Gegenstand lebhafter Auseinandersetzungen, als Bucer die 16 Artikel der Straßburger Synode von 1532 vorlegte, und wurde erneut zum Streitpunkt, als Bucer und Capito 1536 die —»Wittenberger Konkordie unterzeichneten. Schließlich war sie das Symbol, auf das sich G. —»Zanchi und Joh. Sturm in den Kämpfen mit J. —»Marbach und Johannes Pappus ( 1 5 4 9 - 1 6 1 0 ) von 1560 bis zur offiziellen Annahme der —»Konkordienformel durch die Stadt i.J. 1598 beriefen. Aber selbst in diesen Kontroversen waren die Entscheidungen der politischen Führer Straßburgs, sich an die lutherische Partei im Reich zu halten, von maßgeblichem Einfluß auf das formelle religiöse Bekenntnis der Stadt. 2.

Eigenart

Selbst wenn Bucer und Capito in Augsburg die vier Memoranden für Sturm und Pfarrer bei sich gehabt haben mögen, bleibt das Augsburger Bekenntnis das Vorbild für die Confessio Tetrapolitana. Es lag den Straßburger Reformatoren bei ihrer Arbeit vor, und was sie schufen, zeigt — mit der wichtigsten Ausnahme von Artikel 18 - eine deutliche Ähnlichkeit zu Melanchthons Werk. Der Hauptunterschied im Aufbau liegt darin, daß die Confessio Tetrapolitana die strittigen Punkte gegenüber Rom im Zusammenhang der entsprechenden positiven Glaubensaussagen diskutiert, während Melanchthon sie in einem gesonderten Abschnitt zusammengefaßt hatte. Im übrigen folgen beide der Ordnung der loci communes evangelischer Theologie. In beiden liegt der Akzent entschieden auf der alleinigen Heilsmittlerschaft Christi. Die Einleitung zu der jüngsten, kritischen Ausgabe der Confessio Tetrapolitana stellt fest, daß für diese von den unmittelbar davorliegenden Dokumenten Capitos „Ratschlag D " am wichtigsten sei. Diese Angabe ist richtig, insofern die Confessio nicht über die theologische Position des „Ratschlags D " oder seiner Vorläufer, der Copey und der Kurtzen Summ, hinausgeht und insofern sie einen gewissen apologetischen Ton beibehält (s. u.). In jeder anderen Hinsicht aber trifft sie nicht zu. Die genannten drei Schriften behandeln zwar religiöse Streitfragen, heben aber vor allem hervor, daß die spezifischen, konkreten religiösen Veränderungen in Straßburg sehr zurückhaltend und unter möglichster Schonung der bestehenden politisch-religiösen Ordnung vollzogen worden seien. Sie laufen auf die Versicherung hinaus, daß diese Reformen nicht im geringsten aus Ungehorsam gegenüber der etablierten Herrschaft im allgemeinen und dem Kaiser im besonderen entsprungen seien. Selbst wenn die Confessio Tetrapolitana - wie ja auch die Augustana - denselben Zweck verfolgt, bleibt sie doch wesentlich eine Zusammenstellung von Glaubenssätzen, was die früheren Dokumente nicht waren. Sie muß daher in derselben Weise untersucht werden, wie sie entstand, nämlich Seite an Seite mit dem Augsburger Bekenntnis.

Die Confessio Tetrapolitana beginnt mit der Aussage, daß alle Predigt direkt in der Schrift begründet sei. Sie gibt ohne Umschweife zu, daß Geistliche der vier Städte in der Frage der —»Rechtfertigung ein Stück weit von der herkömmlichen Lehre abgewichen seien. Es folgen einige Bibelzitate, die belegen sollen, daß die Menschheit nichts zu ihrer Erlösung tun, sondern daß hier nur der Glaube an Christus, der wiederum ein Geschenk Gottes sei, helfen könne. Danach wird festgestellt, daß der erneuerte Mensch des Glaubens eo ipso Werke der Liebe hervorbringe, die aber nicht ihm selbst, sondern dem Handeln des Heiligen Geistes in ihm zuzurechnen seien. Der wahre Christ tue daher, was er könne, um seinem Nächsten zu dienen. —»Gebet und —»Fasten seien für den Christen zwar gut, leisteten aber nichts für den Nächsten und trügen nicht zur Erlösung bei. So sei auch die Unterscheidung zwischen erlaubten und unerlaubten Speisen - generell oder für bestimmte Zeiten - abzulehnen. Desgleichen werden Gebete um die Fürsprache der Heiligen und das Mönchtum verworfen. Als Gegensatz wird ein Bild evangelischer Pfarrer als „Diener Christi" gezeichnet, deren einzige Aufgabe der Dienst an der christlichen Gemeinde und die Predigt des Wortes sei. Menschliche Traditionen seien nur insoweit anzuerkennen, als sie durch die Schrift beglaubigt seien. Die —»Kirche sei die durch das Wort und die Sakramente der Taufe und des Abendmahls am Leben erhaltene Gemeinschaft der Gläubigen. Durch die —»Taufe werde der Mensch ein Teil von Christi Tod und Auferstehung, durch das Abendmahl ein Teil Christi und der Gemeinschaft der Gläubigen. Die Messe wird, insofern sie als Opfer und gutes Werk angesehen werde, als blasphemischer Götzendienst verurteilt. Die sakramentale

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Confessio Tetrapolitana

Zwangsbeichte (—»Beichte) wird verworfen, weil sie nicht in der Schrift begründet sei und weil sie die wahrhaft Bußfertigen in Schrecken versetze, die Unbußfertigen aber in falscher Sicherheit wiege. Die Formen des —»Gottesdienstes seien auf frühchristliche Einfachheit zurückgeführt und —»Bilder seien entfernt worden, weil sie das ungebildete Volk allzu leicht in die Irre leiteten. Der Schlußartikel spricht von der Verpflichtung der Christen, die —»Obrigkeit zu ehren, weil sie von Gott eingesetzt sei und dem Nächsten diene. In all diesen zentralen Aussagen geht die Confessio Tetrapolitana durchaus mit dem Augsburger Bekenntnis einig. Es gibt daneben jedoch drei Punkte, an denen sie von diesem abweicht und die zugleich auf die Eigenart der Reformation am Oberrhein hindeuten: 1. den umstrittenen Artikel 18 über das Abendmahl; 2. ihre Betonung der Ethik; 3. einen gewissen Biblizismus: 1. Der greifbarste dieser Unterschiede findet sich im Abendmahlsartikel. Dessen erster Entwurf, von Capitos Hand geschrieben und vermutlich von diesem verfaßt, negiert im Gegensatz zu Bucers versöhnlichem „Ratschlag A" mit klaren und scharfen Worten die reale, physische Gegenwart von Christi Leib und Blut und betont statt dessen seine wahre, geistige Gegenwart zur Speisung der Seelen. Obwohl diese ausgesprochene Abgrenzung gegen Luthers Lehre von der Realpräsenz in der revidierten Fassung fehlt, behauptet Capito in seinem Brief an die Straßburger Pfarrer, allein das geistliche Essen sei als nützlich behauptet und das körperliche Essen sei ausgeschlossen worden (vgl. Thesaurus III, 302). So sehr sich Bucer auch bei Eröffnung der Verhandlungen, die sechs Jahre später zur Wittenberger Konkordie führten, auf die Endfassung von Artikel 18 berufen mochte, Capito hielt Luthers Standpunkt für weiterhin ausgeschlossen. Er war dabei nur insofern im Recht, als die Endfassung sich kaum über die genaue Natur der Elemente äußert. Zwar sagt sie einerseits, daß Christus im Sakrament „seinen woren leyb und wores plut" spende, und verneint explizit, daß Brot und Wein „Peckenbrot vnnd schlechter wein" blieben. Aber das Schwergewicht des revidierten Artikels liegt auf den geistlichen Wohltaten des Abendmahls und insbesondere auf seinem Charakter als Heiliger Kommunion. Diese Lehre wird, unter gebührendem Bezug auf Paulus (I Kor 10,17), in zwei gesonderten Abschnitten entfaltet. So hatte sich Bucers Taktik, die Frage der genauen Natur der Elemente auszuklammern, durchgesetzt, und die Auffassung des Abendmahls als Kommunion war zum entscheidenden Merkmal der Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren geworden. 2. Die anderen beiden Differenzen zwischen der Confessio Tetrapolitana und dem Augsburger Bekenntnis betreffen mehr die Akzentsetzung als den dogmatischen Kern. Einmal liegt Bucer und Capito gegenüber Melanchthon sehr viel mehr daran, daß Christen tatsächlich Werke der Liebe vollbringen. Die Artikel 5 und 6, die direkt an die völlig evangelische Behandlung der Rechtfertigung anschließen, unterstreichen, daß gute Werke im Sinne der Nächstenliebe für Christen selbstverständlich und daß sie im Grunde die Frucht des Heiligen Geistes seien. In ihrer Struktur erinnern die beiden Artikel, zusammengenommen, an Bucers Schrift Das ym selbst niemant, sondern andern, liben soll (1523), in der er die gesamte evangelische Rechtfertigungslehre aus der Unfähigkeit der Menschen zur Erfüllung des zweiten Grundgebots ableitet. So wird die Verpflichtung zur Nächstenliebe in der Confessio Tetrapolitana zur Hauptwaffe gegen die Werke der typischen spätmittelalterlichen katholischen Frömmigkeit. In der Augustana dagegen stellt Artikel 20 über die guten Werke wenig mehr als eine nochmalige Erörterung des sola fide und sola gratia dar. Gewiß findet sich auch hier die Verpflichtung zur Nächstenliebe, aber mehr zur Entkräftung des Vorwurfs, Luther sei ein Antinomist, welche Absage dann ganz unter die prinzipielle Absage an die Lehre, daß gute Werke zum Heil notwendig seien, subsumiert wird. Dagegen zeigt die Confessio Tetrapolitana das vergleichsweise stärkere Interesse der oberrheinischen Theologen an der christlichen Ethik. 3. Schließlich läßt die Confessio Tetrapolitana in ihren wiederholten Schriftzitaten einen gewissen Biblizismus erkennen, der in der Augustana mehr oder weniger fehlt. Die letztere bietet in der Hauptsache kurze, direkt formulierte Glaubensaussagen. Selbst wo, wie in der Frage der guten Werke, eindeutig gegensätzliche Meinungen bestehen, neigt Melanchthon

Conring

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dazu, die Unterschiede einfach zu e x p o n i e r e n , u n d verzichtet auf eine B e g r ü n d u n g f ü r seinen und L u t h e r s S t a n d p u n k t . D e m g e g e n ü b e r n e h m e n Bucer u n d C a p i t o offen den K a m p f auf, so d a ß ihr W e r k streckenweise ebenso den C h a r a k t e r einer Apologie wie den eines G l a u b e n s bekenntnisses gewinnt. Vielleicht spiegeln sich in diesem T e n o r die V o r b e r e i t u n g e n Straßburgs auf den Reichstag u n d ein F o r t w i r k e n von „ R a t s c h l a g D " wider. Vielleicht aber liegt auch der G r u n d darin, d a ß Bucer u n d C a p i t o evangelische Theologie mehr von Luther lernten, als d a ß sie seine Entwicklung, w e n n auch vermittelt, nachvollzogen. Die Confessio Tetrapolitana bleibt also ein m e r k w ü r d i g e s D o k u m e n t , zugleich theologischer u n d politischer N a t u r , das e b e n s o von einem breiten Bereich evangelischen theologischen Konsenses wie von den Eigentümlichkeiten der R e f o r m a t i o n a m O b e r r h e i n Zeugnis gibt. Quellen Martini Buceri Opera Omnia. 1/3. Martin Bucers Dt. Schriften. Confessio Tetrapolitana u. die Schriften des Jahres 1531, hg. v. R. Stupperich/B. Moeller u . a . , Gütersloh/Paris 1969 (Lit.). - Ders., Études sur sa correspondance avec des nombreux textes inédites, hg. v. J.-V. Pollet, Paris, 1 1958 (Lit.).Dt. Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., hg. v. A. Wrede, G o t h a 1896 = Göttingen 1970. - Politische Correspondenz der Stadt Straßburg im Zeitalter der Reformation, hg. v. H. Virck/O. Winckelmann, Straßburg, I 1887. - Thesaurus Epistolicus R e f o r m a t o r u m Alsaticorum III, hg. v. J. W. Baum, Mss. Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg.

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J a m e s M . Kittelson C o n f e s s o r —»Martyrium C o n f í t e o r —»Liturgie C o n f u t a d o A u g u s t a n a e Confessionis —»Augsburger Bekenntnis, C o n f u t a t i o u n d Apologie C o n r i n g , Hermann

(1606-1681)

H . C o n r i n g , der am 9. 11. 1 6 0 6 in N o r d e n (Ostfriesland) g e b o r e n w u r d e u n d a m 12. 12. 1 6 8 1 gestorben ist, w a r von 1 6 3 2 bis zu seinem T o d e Professor f ü r N a t u r p h i l o s o phie, später auch f ü r Medizin u n d Politik, in —»Helmstedt. Er stand zu seiner Zeit in h o h e m Ansehen als ein u m f a s s e n d gebildeter Gelehrter, der d u r c h seine F o r s c h u n g e n u n d Publikationen auf den verschiedensten Wissensgebieten den d a m a l i g e n E r k e n n t n i s s t a n d nicht unwesentlich g e f ö r d e r t h a t . In teilweise recht a u s f ü h r l i c h e n A b h a n d l u n g e n befaßte er sich mit T h e m e n aus d e m Bereich der Medizin, der Theologie, der Geschichtswissenschaft - dabei vor allem mit den Verfassungs- u n d Rechtsverhältnissen im D e u t s c h e n Reich - u n d n a h m auch zu den w ä h r e n d u n d nach d e m —»Dreißigjährigen Krieg aktuellen Fragen der Verfassungspolitik Stellung. Die N a c h w e l t h a t in erster Linie C o n r i n g s Erkenntnissen im Bereich der rechtsgeschichtlichen F o r s c h u n g B e a c h t u n g geschenkt. Dieser h a t vor allem d u r c h sein W e r k De origine iuris Germanici (1643) die später im allgemeinen als z u t r e f f e n d a n e r k a n n t e Einsicht in den f ü r die R e c h t s e n t w i c k l u n g in D e u t s c h l a n d s o wesentlichen V o r g a n g der Re-

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Conring

zeption des römischen Rechts vermittelt. In diesem Werk hat er die bis dahin vorwaltende, auch durch die Autorität —»Melanchthons gedeckte Auffassung widerlegt, das römische Recht sei durch einen bewußten gesetzgeberischen Akt, nämlich durch ein Gesetz Kaiser Lothars von Sachsen aus dem Jahr 1137, für den deutschen Rechtsbereich übernommen worden. Damit hat er dargetan, daß sich die Geltung des römischen Rechts nicht auf den Bereich des Staatsrechts erstrecke und nicht im Zusammenhang mit der Idee einer translatio imperii von den Römern auf die deutsche Nation gesehen werden dürfe. Indem Conring den besonderen Rang des römischen Rechts verneint und ihm eine nur partielle Geltung infolge einer gewohnheitsrechtlichen Übernahme durch die Gerichtspraxis zuerkennt, erhöht er das Gewicht der heimischen Rechtstradition und legitimiert die territoriale Rechtsbildung. Das Bewußtsein einer sachlich notwendigen Beziehung zwischen der Verfassung des Reiches und der gemeinsamen Rechtsordnung mußte bei dieser Sicht verlorengehen. Die Forschungen Conrings haben infolgedessen dazu beigetragen, daß das Reich seine besondere Dignität als Garant der bestehenden Rechtsverhältnisse einzubüßen begann. Conring gehört damit in die Reihe der für die europäische Rechts- und Verfassungsentwicklung so bedeutsamen staatstheoretischen Autoren, die die selbständige Rechtsgewalt der souveränen Teilstaaten gegenüber dem Anspruch einer universalen Rechtsgemeinschaft zur Geltung gebracht haben. Durch den Hinweis auf jene Haltung Conrings in den verfassungspolitischen Auseinandersetzungen des 17. Jh. wird die Beziehung seines Wirkens in der Zeit vor und nach Abschluß des Westfälischen Friedens erkennbar. Conrings Thesen waren dazu angetan, die moralische Autorität des Kaisertums zu schwächen und haben dadurch dem Anspruch der Territorialfürsten, die oberste Repräsentation der irdischen Ordnung zu sein, Vorschub geleistet. Conring fühlte sich wie selbstverständlich der Sache der protestantischen Reichsstände verbunden. Die Faktoren, die seine theologischen und kirchenpolitischen Vorstellungen geprägt haben mögen, sind vermutlich seine Herkunft aus einem lutherischen Pfarrhaus, sein persönlicher Kontakt mit Arminianern während seiner Studienzeit in Leiden (—»Arminius/Arminianismus) und seine intensive Beziehungen zu Georg —»Calixt in Helmstedt. Er hat keinen pointierten Standpunkt in den innerprotestantischen konfessionellen Kontroversen eingenommen, hat aber die im damaligen Protestantismus herrschende schroffe Ablehnung der römisch-katholischen, insbesondere päpstlichen Ansprüche geteilt und durch historische Studien zu stützen gesucht. Als einer der ersten beansprucht er das in jener Zeit in den Mittelpunkt des staatstheoretischen Interesses tretende Merkmal der Souveränität für die Territorialfürsten. Auf dieser Basis beruht sein bemerkenswerter Beitrag zu den theoretischen Versuchen, die Kompetenz des Landesherrn in kirchlichen Angelegenheiten zu begründen und zu begrenzen. Conring gehört zu den frühen Verfechtern der „territorialistischen" Auffassung, wonach die Kompetenz des Landesherrn in Kirchensachen aus seiner umfassenden Verantwortlichkeit für das Gemeinwohl in seinem Hoheitsgebiet abzuleiten sei (—»Kirchenregiment, landesherrliches). Er betont aber auch die Grenzen dieser Kompetenz, indem er darauf verweist, daß in Kirchensachen die Befugnisse des Landesherrn nur so weit reichen können, als der Staatszweck ein obrigkeitliches Eingreifen erfordere. Dieser richte sich allein darauf, daß die Grundsätze einer natürlichen Religion befolgt würden, während die Einhaltung der Regeln, die durch die besondere Glaubenshaltung bedingt seien, außerhalb des staatlichen Gestaltungsbereiches liegen. Die These, daß die Sache der Kirche nicht im vollen Umfang dem am weltlichen Staatszweck orientierten Gemeinwohl zuzurechnen sei, sondern nur insoweit, als sie die natürliche Religion fördere, zeugt davon, daß zwar ein konfessioneller Absolutheitsanspruch für die Frage der richtigen öffentlichen Ordnung preisgegeben ist, daß andererseits der Staat die Religion als ein die Einstellung zum Gemeinwesen bestimmendes Element nicht völlig aus der von ihm zu verantwortenden Ordnung ausklammern kann. Die naturrechtliche Gedankenführung Conrings bei der Bestimmung des Staatszwecks ist wohl auf den Einfluß von Hugo —»Grotius zurückzuführen. In der unbedenklichen Beanspruchung der persönlichen

Consalvi

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Gläubigkeit als Mittel zur Erzielung einer sozialverträglichen Gesinnung äußert sich seine Vertrautheit und Vorliebe für die antike Philosophie, namentlich für —»Aristoteles und Cicero, auf deren Tugendlehre er sich vielfältig beruft. Quellen Hermanni Conringii Opera, 7 Bde., hg. v. J . W . Goebel, Braunschweig 1730 = Aalen 1 9 7 0 - 1 9 7 3 . - Tacitus de moribus Germanorum, Helmstedt 1635. - De origine juris Germanici, Helmstedt 1643 3 1665. - H. Conringii Ep. hactenus sparsim ed., nunc uno volumine comprehensae, Helmstedt 1666. Hermanni Conringii Epistolarum syntagma dúo una cum responsis, praemissa Conringii Vita, scriptorum index et de his Doctorum judicia, Helmstedt 1694. - Conringiana Epistolica sive animadversiones variae eruditionis ex H. Conringii . . . Epistolis miscellaneis nondum ed. libatae cura Chr. H. Reitmeieri, Helmstedt 1708.

Literatur Hans-Jürgen Becker, Art. Conring, Hermann: HDRG 1 (1971) 6 3 3 f . - E r i c h Döhring, Art. Conring, Hermann: NDB 3 (1957) 342 f. - Walter Lang, Staat u. Souveränität bei Hermann Conring, Diss. Jur. München 1970. - Ernst v. Moeller, Hermann Conring, der Vorkämpfer des dt. Rechts, Hannover 1915. - Bernhard Pahlmann, Hermann Conring: Dt. Juristen aus 5 Jh., hg. v. G. Kleinheyer/J. Schröder, Karlsruhe/Heidelberg 1976, 6 3 - 6 5 . - D i e t m a r Willoweit, Hermann Conring: Staatsdenker im 17. u. 18. Jh., hg. v. M. Stolleis, Frankfurt a.M. 1977, 1 2 9 - 1 4 7 . - Erik Wolf, Hermann Conring: Große Rechtsdenker, Tübingen "1963, 2 2 0 - 2 5 2 (Lit. u. Werkverz.).

Dietrich Pirson

Consalvi, Ercole

(1757-1824)

Consalvi entstammte väterlicherseits der pisanischen Familie der Brunacci, die sich um 1 6 5 0 im Kirchenstaat niedergelassen und mit dem Erbe der adeligen Consalvi in Rom auch deren Namen übernommen hatte. Er wurde am 8. 6. 1 7 5 7 in Rom als erster Sohn des wenig begüterten Marchese Giuseppe Consalvi und seiner Gemahlin Claudia Carandini (aus Modena) geboren. Den Vater verlor er schon mit fünf Jahren, die Schwester und zwei Brüder starben im Kindesalter. Die Brüder Ercole und Andrea wurden zum geistlichen Stand im Dienst des Hl. Stuhls bestimmt und unter Vormundschaft des Kardinals Negroni in Urbino in strengster Klosterzucht erzogen, bis sich der Kardinal Heinrich Stuart, Herzog von York, der Brüder annahm und sie im Jesuitenkolleg von Frascati sorgfältig ausbilden ließ. Ercole Consalvi blieb dem Kardinal bis zu dessen Tod (1807) wie ein Sohn verbunden. Der glänzend begabte junge Mann, lebhaften Temperaments und geselligem Leben aufgeschlossen, widmete sich seit 1776 theologischen und juristischen Studien an der Accademia ecclesiastica. Nach Empfang der niederen Weihen trat er in den Beamtendienst der Kurie: 1 7 8 3 Geheimer päpstlicher Kammerherr, 1 7 8 4 päpstlicher Hausprälat, 1786 Vortragender R a t bei der Regierung, 1 7 8 9 VotantderSignatura, 1 7 9 2 Auditor (Richter) a n d e r R o t a , 1 7 9 7 beider von Frankreich drohenden Kriegsgefahr Assessore delle armi; dieser Stellung wegen wurde er nach der Einnahme Roms durch die Franzosen und der Entthronung Pius' VI. (11. 2. 1798) gefangengesetzt, äußerst hart behandelt, dann zwangsweise nach Terracina gebracht, bis ihm der Kardinal Stuart die Erlaubnis erwirkte, nach Neapel zu gehen. Consalvi eilte nach Florenz, um Pius VI. aufzusuchen, und hielt sich danach in Modena, Venetien und Venedig auf. Nach dem Tod Pius' VI. fungierte er in dem langen Konklave ( 1 . 1 2 . 1 7 9 9 - 1 4 . 3 . 1 8 0 0 in dem Inselkloster San Giorgio in Venedig, unter der Protektion des Kaisers Franz II.) mit großer Umsicht als Konklavesekretär. Zwei Parteien standen sich gegenüber: die politicanti, bestrebt, sich der neuen politischen Lage anzupassen, geschart um den Kardinal Braschi (mit Kardinal Bellisomi als Kandidaten, diskret von Spanien unterstützt), und die zelanti, geführt vom autoritären Kardinal Antonelli, die das Erbe der Vergangenheit unangetastet bewahren wollten und schon deshalb zu Österreich hielten, weil sie die Rückgabe des größtenteils von Österreich besetzten Kirchenstaates erhofften; sie wurden unterstützt vom einzigen anwesenden französischen Kardinal (Maury, dem Bevollmächtigten Ludwigs XVIII.) und dem österreichischen Kardinal Herzan (Papstkandidat war Mattei).

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Consalvi

In ausweglos scheinender Situation leitete Consalvi, wohl im Einvernehmen mit Despuig, dem Geheimbeauftragten Spaniens, die Lösung ein: Kardinal Ruffo gewann Antonelli dafür, den klugen, gemäßigten Kardinal Barnaba Chiaramonti als Kandidaten vorzuschlagen und so auch die Stimmen der zelanti einzubringen. So wurde am 14. 3. 1800 Chiaramonti einstimmig (abzüglich einer Stimme) als —»Pius VII. gewählt. Der neue Papst wich der österreichischen Bevormundung aus und ernannte Consalvi noch in Venedig zum ProStaatssekretär und, nach Rom zurückgekehrt, am 11. 8. 1800 zum Kardinal und Staatssekretär. Seitdem blieb Consalvi in allen politischen und administrativen Fragen die rechte H a n d des Papstes. Seiner Natur nach neigte er zum kultivierten Privatleben als Beamter des Kirchenstaates und hatte das verantwortungsvolle Amt nicht gesucht, wurde aber zum treuesten Diener seines Herrn und dessen Amtes. Von zarter Gesundheit, doch zäher Arbeitskraft, war er eine stattliche Erscheinung mit gewinnenden Umgangsformen, „der vollendete Typus des nicht zum Priester geweihten (er wurde erst 1822 Priester), der römischen Kirche aber leidenschaftlich ergebenen Prälaten" (R. Aubert: HKG[J] VI/1, 66). Gebildet, streng rechtlich gesinnt, von echter, wenn auch verhaltener Religiosität, verband er kluge Vorsicht mit Geschmeidigkeit und Energie. So ist er am ehesten den konservativen aufgeklärten katholischen Reformern des späten 18. Jh. zuzurechnen. Maßgeblich bestimmte er die päpstliche Politik seiner Epoche. Seine bedeutendsten Leistungen waren der Abschluß des Konkordats mit Frankreich (Napoleon) 1801, die Wiederherstellung des —»Kirchenstaates auf dem Wiener Kongreß 1815 und dessen administrative Neuorganisation. Die Anregung zum Abschluß eines Konkordats ging vom Ersten Konsul Napoleon aus, traf sich aber, angesichts der desolaten kirchlichen Lage Frankreichs, mit den Wünschen der Kurie. Nach zwei unbefriedigenden Verhandlungsphasen (Nov. 1 8 0 0 - F e b r . 1801 in Paris, März—Mai 1801 in Rom) schickte Pius VII. auf ein Ultimatum Bonapartes hin Consalvi mit Abschlußvollmacht nach Paris. Nach oft stürmischen Verhandlungen (20. 6 . - 1 5 . 7. 1801) gelang Consalvi ein Kompromiß, der beiden Partnern beträchtliche Vorteile brachte und die Kirche —»Frankreichs neu ordnete. Gegen starken Widerstand im Kardinalskollegium verkündete Pius VII. am 15. 8. 1801 seine Zustimmung, während Napoleon, auch zur Entwaffnung seiner Opposition, das Konkordat zusammen mit 77 Organischen Artikeln verabschieden ließ (8. 4. 1802). Durch diese Artikel wurden die Zugeständnisse des Konkordats teilweise zurückgenommen. Pius VII. und Consalvi akzeptierten dies - unter Protest - , da eine Aussöhnung der Kirche mit dem aus der Revolution hervorgegangenen Frankreich nur so erreichbar schien. Nach der Kaiserkrönung forderte Napoleon die politische Unterwerfung des Kirchenstaates (Teilnahme an der Kontinentalsperre gegen England). Teilweise schlecht informiert, sah er in Consalvi seinen eigentlichen Gegner an der Kurie und drängte auf dessen Entlassung, die Consalvi schließlich selbst erbat und am 17. 6. 1806 vom Papst erhielt. Pius VII. zog Consalvi jedoch auch weiterhin zu Rate. Nach der Gefangennahme und Wegführung des Papstes (6. 7. 1809) wurde Consalvi im November 1809 nach Paris befohlen. Eine Pension, die Napoleon den nach Frankreich beorderten Kardinälen anbot, lehnte Consalvi ab. Als er aus kanonistischen Gründen der Heirat Napoleons mit Marie-Louise von Österreich nicht zustimmte, wurde er nach Reims verbannt (13. 6. 1 8 1 0 - 6 . 2. 1813; hier Abfassung der Erinnerungen), 1813 jedoch zu neuen Verhandlungen in Fontainebleau zugezogen. Hier rang Napoleon dem Papst das sog. Konkordat von Fontainebleau (25. 1. 1813) ab, das u. a. mittelbar den Verzicht auf den Kirchenstaat enthielt. Unter dem Einfluß der „schwarzen Kardinäle", beraten von Consalvi und Di Pietro, erklärte der Papst am 23. 3. 1813 seinen Widerruf. Bei Anrücken der verbündeten Mächte wurde der Papst im Januar 1814 auf Befehl Napoleons nach Italien gebracht, Consalvi nach Beziers in Südfrankreich verbannt (Jan.—April 1814). Nach dem Sturz Napoleons eilte Consalvi sofort dem Papst nach, holte ihn am 7. 5. in Cesena ein und wurde in Foligno am 17. 5. wieder zum Staatssekretär ernannt. Pius VII. schickte ihn sofort nach Paris, um dort (im Juni/Juli 1814 auch in London) und auf dem Wiener Kongreß (auf dem Consalvi vom 2. 9. 1814 bis zum 17. 6. 1815 weilte) die Interessen des Hl. Stuhls bei den siegreichen Monarchen zu vertreten.

Consalvi

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In Wien verhandelte Consalvi höchst geschickt, aber ohne die üblichen Bestechungsgelder und „Geschenke", und zählte neben Metternich und Talleyrand zu den angesehensten Diplomaten. Er beklagte in seinen Briefen, daß sich viele römische Kardinäle zu stark für die Restauration des Kirchenstaates und der geistlichen Territorien in Deutschland einsetzten, worüber die dringende Regelung religiöser Probleme vernachlässigt werde. Schon in Wien versuchte er, künftige Konkordate oder anderweitige kirchliche Neuregelungen mit Österreich, Bayern, Preußen, Württemberg, Rußland, Frankreich, England und der Schweiz vorzubereiten. Bis zu seinem Tod hat er an diesem kirchlichen Restaurationswerk unermüdlich gewirkt. Auf dem Kongreß erreichte er, unterstützt auch von den nichtkatholischen M ä c h ten, die Wiederherstellung des Kirchenstaates in wenig geschmälertem Umfang (Wiener Schlußakte vom 9 . 6 . 1815 ; Verlust von Avignon und Venaissin an Frankreich, eines kleinen ferraresischen Gebietes am linken Po-Ufer an Österreich). Nach dem Wiener Kongreß entfaltete Consalvi eine bedeutende Tätigkeit in der Reorganisation des Kirchenstaates (auf der Grundlage des päpstlichen M o t u p r o p r i o vom 6.7. 1816), wobei er einen gemäßigten R e f o r m k u r s (verwandt den Reformen des aufgeklärten Absolutismus) verfocht, dabei auch Wirtschaft, Künste und Wissenschaften kräftig förderte, und der kirchlichen Neuorganisation diente (1817 Konkordate mitBayern, Sardinien u. Frankreich, 1818 mit Neapel u. R u ß l a n d ; 1821 Zirkumskription der Bistümer Preußens u. Errichtung der Oberrheinischen Kirchenprovinz). Ängstliche Rücksicht auf Spanien u. Portugal verzögerte die kirchliche Neuregelung in Lateinamerika. Consalvi bildete mit alledem den Mittelpunkt der (kleineren) Kardinalsgruppe der politicanti, die auf politische Mittel setzte, gute Beziehungen zu den Regierungen wünschte, gewissen modernen Bestrebungen sich aufgeschlossen zeigte und deshalb von den Gegnern libérait genannt wurde. Die Mehrheit der römischen Kardinäle und Prälaten bildeten die zelanti, geschart um die Kardinäle Severoli, Genga und den greisen Pacca. Streng religiös gesinnt, unerbittlich in moralischen und Glaubensfragen standen sie der M o d e r n e scharf ablehnend gegenüber; sie waren Anhänger eines streng absolutistischen Systems mit H a n d h a b u n g der Staatsreligion, ohne die Einmischung des Staates in kirchliche Aufgaben zu dulden. Gestützt durch das Vertrauen Pius' VII., leitete Consalvi die Kirchenpolitik von 1815 bis 1823 praktisch allein und versuchte, der Kirche eine den modernen Umständen besser angepaßte Aktionsmöglichkeit zu sichern. Er bemühte sich um Verbesserung der Beziehungen zu England und Rußland, um den dortigen Katholiken einen Freiraum zu sichern und den Einfluß Österreichs in Italien zu mindern. Trotz grundsätzlich antiliberaler Einstellung w a r ihm klar, daß der Geist der —»Französischen Revolution nicht mehr auszulöschen war, wie er auch Gefahren des „Systems Metternich" erkannte. Die Isolierung Consalvis im Kardinalskollegium und die wachsende Gegnerschaft trat nach dem Tod Pius' VII. (20. 8. 1823) brüsk zutage. Beides zeigte sich in gehässiger Form, hatte seinen Kern aber in dem V o r w u r f , der autoritär regierende Consalvi räume der Diplomatie den Vorrang vor eigentlich religiösen Fragen ein. So stand das folgende Konklave entscheidend unter dem Gesichtspunkt seiner Entmachtung. Neuer Papst wurde einer seiner schärfsten Gegner: Leo XII. (Annibale della Genga). Consalvi zog sich nach Porto d'Anzio bei Rom zurück, gelegentlich in versöhnlicher Geste zu Rate gezogen und zum Präfekten der Propaganda ernannt. Er starb am 2 4 . 1 . 1 8 2 4 . Quellen Mémoires du Cardinal Consalvi, hg. v. J. Crétineau-Joly, 2 Bde., Paris 1864 2 1 8 6 6 (fehlerhaft). M e m o r i e del cardinale Ercole Consalvi, hg. v. M . Nasali Rocca di Corneliano, R o m 1950 (Ausg. nach dem A u t o g r a p h ; s. dazu G. Mollat: D H G E 13 [1956] 5 2 1 f). - A u t o c r o n o b i o g r a f i a del cardinale Consalvi: Ilario Rinieri, II congresso di Vienna (s.u.), 6 5 0 - 6 5 6 . — Briefe: Ilario Rinieri, C o r r i s p o n d e n z a inedita dei cardinali Consalvi e Pacca nel t e m p o del congresso di Vienna, 1 8 1 4 - 1 8 1 5 , Turin 1903. Verz. der wichtigsten Teileditionen: D H G E 13, 5 2 2 f . Literatur Eine kritische Biographie fehlt. Die Bestände der Vatikanischen Archive z u m Staatssekretariat sind noch wenig ausgewertet. Beste k n a p p e W ü r d i g u n g u. umfassendstes Verzeichnis des kritisch gewürdigten Schrifttums bei G. Mollat, Art. Consalvi: D H G E 13 (1956) 5 0 9 - 5 2 3 . - Z u r E p o c h e : Roger Aubert:

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Consensus

HKG(J) VI/1, 1 9 7 1 , 5 9 - 1 1 7 . - A n d r é Latreille, N a p o l é o n et le St.-Siège, 1 8 0 1 - 1 8 0 8 . L'ambassade du cardinal Fesch à R o m e , Paris 1935 (mit zahlreichen Berichtigungen zur Politik Consalvis). - Jean Leflon, La crise révolutionnaire ( 1 7 8 9 - 1876): H E X X , 1 9 4 9 , 1 5 9 - 2 7 3 . - Ders., Pie VII, Paris 1958. - G . M o l l a t , La Question r o m a i n e de Pie VI à Pie XI, Paris 1932, 6 9 - 99. - Charles-H. Pouthas, L'Église catholique de I'avènement de Pie VII à l'avènement de Pie IX, Paris 1945, 6 0 - 1 7 2 . - Josef Schmidlin, Papstgesch. der neuesten Zeit, M ü n c h e n , I 1933, 1 6 - 3 6 6 . G. A. Angelucci, Il g r a n d e segretario della S. Sede, Ercole Consalvi, R o m 1924. - Alfred Boulay de la M e u r t h e , D o c u m e n t s sur la négociation du C o n c o r d a i , 6 Bde., Paris 1 8 9 1 - 1 8 9 7 . - Gelio Cassi, Il cardinale Consalvi ed i primi anni della restaurazione pontificia, 1 8 1 5 - 1 8 1 9 , Mailand 1931. - Raffaele Colapietra, La Chiesa tra L a m e n n a i s e Metternich, Brescia 1963, 1 8 - 3 6 . - C. Daudet, Le Cardinal Consalvi, Paris 1866. - J o h n Tracy Ellis, Cardinal Consalvi and Anglo-Papal Relations, 1 8 1 4 - 1 8 2 4 , W a s h i n g t o n 1942. - G. Gallavresi, Talleyrand e Consalvi: R Q H 7 7 (1905) 1 5 8 - 1 7 2 . Emmanuel de Lévis-Mirepoix, Un collaborateur de Metternich. M é m o i r e s et papiers de Lebzeltern, Paris 1949. - L. Pàsztor, Ercole Consalvi, prosegretario del conclave di Venezia: ASRSP 83 (1960) 9 9 - 1 8 7 (neu entdecktes Tagebuch Consalvis). - Ders., Per la storia della Segreteria di Stato nell'Ottocento. La riforma del 1816: Mélanges Eugène Tisserant, V a t i k a n s t a d t , V 1964, 2 0 9 - 2 7 2 . - Ders., Le M e m o r i e sul conclave t e n u t o in Venezia di Ercole Consalvi: A H P 3 (1965) 2 3 9 - 3 0 8 . - M a s s i m o Petrocchi, La restaurazione. Il cardinale Consalvi e la r i f o r m a del 1816, Florenz 1941. - Ders., La restaurazione r o m a n a ( 1 8 1 5 - 1 8 2 3 ) , Florenz 1943. - Leopold v. R a n k e , Cardinal Consalvi u. seine Staatsverwaltung u n t e r dem Pontifikat Pius' VII.: ders., SW, Leipzig, X L / X L I 1878, 3 - 1 8 0 . - Ilario Rinieri, La diplomazia pontificia nel sec. X I X , 2 Bde., R o m 1902. - Ders., Il Congresso di Vienna e la Santa Sede, R o m 1904. - Ders., Il cardinale Consalvi nella vita publica e privata: CivCatt 1 (1925) 2 8 9 - 3 0 0 . 3 9 5 - 4 0 2 . - A u g u s t i n T h e i n e r , Histoire des deux C o n c o r d a t s , 2 Bde., Paris 1 8 6 9 . - G . Verucci, Chiesa e società nell'Italia della Restaurazione ( 1 8 1 4 - 1 8 3 0 ) : La restaurazione in Italia, R o m 1 9 7 6 , 1 7 3 - 2 1 Ì . Richard Wichterich, Sein Schicksal w a r N a p o l e o n . Leben u. Zeit des Kardinalstaatssekretärs Ercole Consalvi, 1 7 5 7 - 1 8 2 4 , Heidelberg 1951.

Georg Schwaiger Consensus 1. Bedeutungsfeld 2. A n t h r o p o l o g i e 3. Consensus u n d Einheit der Kirche Lehre 5. W a h r h e i t s f i n d u n g und Consensus 6. Consensus zwischen den Kirchen in der diskursiven Mitteilung des Glaubens (Literatur S. 188)

1.

4. Consensus als 7. Der Consensus

Bedeutungsfeld

Der Begriff „Consensus" bezeichnet die Einheit und das Einigende der Wahrnehmung mit den Nuancen: Einstimmung, Zustimmung, Ubereinstimmung, Einverständnis, Einstimmigkeit, Einmütigkeit und Eintracht. Im späteren christlichen Sprachgebrauch wechselt „Consensus" mit „Konkordie"; im übrigen ist „Consensus" Begriffen wiesensus communis, common sense, Gemeinsinn und communis opinio benachbart. Ihre Nähe und ihr Unterschied zum Consensus ergeben sich aus der Vorstellung von „Gemeinsamkeit" und „Allgemeinheit", die sie kennzeichnen. Anthropologisch ist Consensus der integrale Akt der Zustimmung, der alle Sinne zusammenschließt; sozialphilosophisch meint Consensus den Sinn aller, wobei im einzelnen festgestellt werden muß, wer als diese Gesamtheit zu gelten hat. Beide Vorstellungen sind in der Antike zur Anschauung eines Sozialkörpers verschmolzen, dessen Einheit sich im Consensus äußert, wobei das ausgesprochene Einverständnis anzeigt, was allgemeine Geltung hat. Der Consensus wird so zur sozialen Kategorie, kann aber auch den Beiklang der bloßen Konvention erhalten, die im Kräftespiel der Meinungsbildung entsteht. Im Extremfall benennt er eine Gewöhnung an überkommene Überzeugungen. Ein Konsens kann auch durch politische Einwirkungen herbeigeführt werden oder bezeichnet umgekehrt einen Faktor für politische Entscheidungen; Consensus ist hier die Übereinkunft, die auf dem Mehrheitsprinzip beruht. In der Rechtssphäre spricht der Consensus aus, was Recht für alle ist, wobei das deklarierte Einverständnis einerseits dem allgemeinen Rechtsempfinden Ausdruck gibt, aber zum anderen diesem Empfinden durch die Frage nach dessen Legitimität gegenübertritt. Die Philosophie hat sich dem Consensus gegenüber immer dann kritisch verhalten, wenn sie sich (nach dem Vorbild —>Platons) im Widerspruch zu bloßen Konventionen, her-

Consensus

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kömmlichen Meinungen und Massensuggestionen verstand; sie konnte sich aber auf den Consensus nicht nur als Mittel der Wahrheitsfindung, sondern auch als Instanz und Kriterium der Wahrheit berufen, wenn sie (wie bei —»Aristoteles; vgl. Nikomach. Ethik 1172b 36 ff) ihre Aufgabe darin sah, Wahrheitserkenntnis mit Hilfe überlieferter Erfahrung herauszubilden und diese Erkenntnis nicht als esoterische Einsicht zu behaupten, sondern sie in ihrer allgemeinen Tragweite zu bewähren. In der religiösen Deutung von Akklamationen (Cassius Dio 76,4; 79,8) erweitert das Consensus-Motiv die gemeinsame Wahrnehmung durch ihre göttliche Legitimierung, vor allem in Form der Inspiration (vgl. den Bericht über die Wahl des Fabian zum Bischof von Rom 236 bei Eusebius von Caesarea, Hist. eccl. V I , 2 9 , 1 - 4 [SC 41,131 f]); zum anderen markiert der Consensus-Gedanke spätestens seit —»Irenaus (Adv. haer. 1,10,2 [SC 264,158] V , 2 0 , l [SC 153,254]) die Spannweite zwischen der ausformulierten „Lehre" und der Glaubensüberzeugung, die auf diese Lehre zwar angewiesen ist, ihr aber auch zugrunde liegt. Der Consensus ist in dieser Hinsicht die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung von Wahrheitserkenntnis und Wahrheitsformulierung. So ergibt sich ein Spektrum von Bedeutungen, die nach den Instanzen und Medien der Wahrheitsfindung fragen lassen. Für die christliche Theologie zeigt der Consensus-Begriff die Beziehung von „Wahrheit" und „Kirche" an und nennt die konstitutive Bedingung der Wahrheitserkenntnis. 2.

Anthropologie

Brennpunkt der meisten Consensus-Vorstellungen war und blieb die von Piaton (Theait. 184dff) und Aristoteles (z.B. De anima 418 a; 4 2 5 a 2 7 ) vorgebildete, in der —»Stoa entwikkelte Auffassung von der individuellen wie gemeinschaftlichen Einheit der Sinne, konstitutionell verankert in der inneren Wahrnehmung, die alle Sinneseindrücke und die eingeborenen wie die übermittelten Wissenselemente zusammenfügt. Dieser sensus communis bildet später die Grundlage der Psychologie des —»Thomas von Aquino, wird von —»Calvin (Inst. 1,15,6) vorausgesetzt und kehrt in —»Kants Kritik der Urteilskraft (§ 40) wieder. Die christliche Sünden- und Gnadenlehre hat gefragt, worauf sich diese Wahrnehmung richtet und worin der ganze Mensch einwilligt, um sein Leben zu steuern: Ist der —»Wille von der Einstimmung (consensus) gegen die —» Sünde geprägt, weil er sich Gottes Willen anschließt (Ambrosiaster zu Rom 7,21 [PL 17,119 A]), oder gibt der Mensch sich der Sünde anheim, die ihn bei seiner Sinnlichkeit behaftet (Augustin, De civ. Dei 1,25) ? Aber: Können wir Menschen unseren Consensus frei wählen? —»Luther hat dies verneint und im Consensus das Merkmal des von Gott im Glauben geschaffenen neuen Menschen gesehen: Der Consensus stimmt in Gottes Wirklichkeit ein (vgl. WA 8 , 1 1 3 - 1 1 5 ) . Dies wird zur „Gewissensfrage" des christlichen Glaubens: Ist das —»Gewissen die Einheit der inneren Wahrnehmung, die zu Gott aufsteigt, ist es gar die göttliche Stimme im Menschen - oder ist es das Mit-Wissen des neuen Menschen, der daraus lebt, daß er Gottes Willen an sich geschehen läßt? 3. Consensus

und Einheit der —>Kirche

Der Consensus-Gedanke ist besonders für die Ekklesiologie in ihrer Beziehung zur Pneumatologie aufgenommen worden. Daneben wurden die metaphorischen Bedeutungsmöglichkeiten des Wortes genutzt, um die für den Glauben grundlegende Einheit zu bezeichnen, beispielsweise die Einheit des Evangeliums in der Übereinstimmung seiner Uberlieferung (vgl. Augustin, De consensu evangelistarum). Auch feste Prägungen des Wortes wurden übernommen, etwa der Consensus der Brautleute, der nach römischem und dann auch kirchlichem Recht als konstitutiv für die Ehe gilt (DS 643, CIC 1081). Besonders häufig und eigenständig begegnet der Begriff jedoch, wenn eine gemeinsame Wahrnehmung im Entstehen begriffen ist oder wenn diese Gemeinsamkeit in eine Krise gerät und neu gewonnen werden muß. Solche Knotenpunkte der Kirchen- und Theologiegeschichte sind die altkirchliche Dogmenentwicklung, die reformatorische Lehrbildung und in jüngster Zeit das ökumenische Gespräch. Zunächst hat der Consensus-Begriff seinen festen Ort in der kirchlichen Praxis, vor al-

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Consensus

lern bei Bischofswahlen (—»Bischof), die wie bei der Akklamation des römischen Kaisers auf die Übereinstimmung aller Entscheidungsberechtigten zurückgeführt wurde (vgl. schon I Clem 44,2): auf ein Einverständnis, in dem sich die Stimme Gottes in der Leitung der Kirche durch den Heiligen Geist aussprach. Ein weiterer Normalfall ist der Konsens als gegebene Übereinstimmung (consensus factus) der Generationen in der gemeinsamen Erkenntnis der christlichen Wahrheit und in diesem Sinne als Übereinstimmung mit Bibel und Tradition, ohne daß schon ein Überlieferungsproblem sichtbar würde. Verfolgt man diese kirchliche Praxis der Akklamation und Rezeption, so ergibt sich der Eindruck, ein anfangs unreglementierter und spontaner Consensus sei allmählich durch den Aufbau einer kirchlichen Hierarchie, durch Jurisdiktion und Traditionsverwaltung verdrängt worden. Dagegen spricht jedoch, daß die Konzilien sich als Träger des Consensus der Kirche verstanden und ihn an die Wahrheitserkenntnis und an deren gemeinschaftliche, einheitsstiftende Formulierung banden (vgl. Liberius, Ep. 3,6 [PL 8,1054B]; Severian von Galaba, Orat. in Gen. 24,2 [PG 56,560f]; Horn, in incarn. 7 [PG 59,699]). Diese Formulierung ist indessen ihrerseits in der —»Liturgie verwurzelt und soll umgekehrt zur Einheit des gottesdienstlichen Bekenntnisses beitragen (—»Glaubensbekenntnisse]). Der Consensus baut die Kirche nicht auf, sondern setzt sie voraus, zeigt aber auch, wo diese Kirche zu finden ist und welches ihre Grenzen sind. Diese im Consensus enthaltene Grenzbestimmung wird vorwiegend nach innen, hinsichtlich theologischer Meinungsverschiedenheiten und Spaltungstendenzen getroffen. Der Consensus zeigt so die Katholizität der Kirche an: Nächst den Konzilien sind die Väter zu befragen, und quidquid uno sensu et consensu tenuisse invenirentur, id ecclesiae verum et catholicum absque ullo scrupulo iudicaretur [alles, worüber sie sich als in Einheit des Verständnisses und in Übereinstimmung gewesen befunden würden, das würde ohne jedes Bedenken als das für die Kirche beurteilt werden, was wahr und rechtgläubig ist] (Vinzenz von Lerins, Commonitorium 29,41, hg. v. Adolf Jülicher, 1895 [SQS 10] 47, 7 - 9 ) . Wie zeigt sich dieser Konsens im Verhältnis von „Kirche" und „Menschheit", im Blick auf die allgemeine Meinung? Bezeichnenderweise ist eine Antwort auf dieses Problem nicht mit der Gleichsetzung des consensus ecclesiae mit dem sensus communis oder dem sensus omnium gegeben worden. Zwar wurde der —»Gottesbeweis e consensu gentium [aus der Übereinstimmung der Völker] von der Stoa übernommen, aber er sollte der Überzeugung von der Einheit aller Menschen in ihrer Beziehung zum einen Gott Ausdruck geben. Calvin hat einen solch allgemeinen, unbestimmten sensus alicuius divinitatis [Sinn für eine Gottheit] (Inst. 1,5,11) gelten lassen, jedoch bestritten, daß der publicus consensus [die öffentliche Übereinstimmung] und ein communis sensus [eine allgemeine Einsicht] die wahre Gottesverehrung begründen könnten (Inst. 1,5,13). Der Unterschied von Glaubenssinn und sensus communis geht auch in die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und —»Vernunft, von Theologie und —»Philosophie ein (—»Glaube und Denken). 4. Consensus als Lehre Der Consensus des Glaubens kann nicht aus der allgemeinen Meinung abgeleitet werden, sondern ist an die Zustimmung aus Glauben und insofern an die Glaubensgemeinschaft gebunden. Grundlegend für den Konsens ist auch nicht eine Überlieferung, die ausgelegt und weitergeführt werden müßte, sondern die Beziehung der endgültig ergangenen Offenbarung Gottes zu ihrem nie abgeschlossenen Aussprechen durch Menschen. Die Übereinstimmung menschlicher (geschichtlicher und gemeinschaftlicher) Wahrheitserkenntnis kommt im Consensus als verbindlicher Formulierung, als kirchlicher Lehre, zum Ausdruck. Der Lehrkonsens bildet sich zwischen der Gesamtheit der Gläubigen und ihrer geistlichen Leitung heraus und ist für sie beide verpflichtend. Seinem christlichen Verständnis ist im —»Islam der Gedanke des igmä' benachbart: igmä' bezeichnet die Übereinstimmung der Gelehrten in der Auslegung religiöser Rechtstradition und ist deshalb eine der Quellen der Rechtsprechung, kann aber auch die breite Zustimmung der Gläubigen bedeuten. Die christlich-theologische Auffassung hebt den komplexen Aufbau des Consensus hervor. Auf katholischer

Consensus

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Seite werden drei konstitutive Elemente genannt: das Einverständnis des Kirchenvolkes, der Väterkonsens (consensus patrum) als Z u s a m m e n f a s s u n g der Tradition und der Expertenkonsens (consensus theologorum), die gegenseitig aufeinander angewiesen sind und in ihrem Einverständnis zeigen, daß die lehrende Kirche als ganze nicht irren kann. Diese drei Faktoren bilden eine regulative Idee, die nicht darüber A u s k u n f t gibt, wie ein Konsens schrittweise gebildet wird, die aber angeben will, in welcher Hinsicht er sich bewähren muß: in der Übereinstimmung mit den approbierten —»Dogmen, in deren Interpretation und in der Tragfähigkeit rezipierter Wahrheitsformulierungen f ü r Entscheidungen gegenüber einem neu auftretenden Dissens für Glauben und Handeln. Wie sich diese regulative Idee im einzelnen auswirkt, hängt von der Kirchenauffassung und von der Theorie des —»Lehramtes ab (vgl. z.B. DS 3 0 6 9 - 3 0 7 4 ) . 5. Wahrheitsfindung

und

Consensus

Der reformatorischen Theologie wurde bewußt, d a ß die regulative Consensus-Idee zwar kirchenpraktisch brauchbar, aber theologisch unzureichend ist, weil Consensus vor Irrtum nicht schützt. Sie hat deshalb nach der Wahrheit des Glaubens und nach der „rechten alten Kirche" so gefragt, daß der Consensus als ausgesprochene Wahrheit immer vor und über jeder w a h r n e h m b a r e n kirchlichen Einheit steht. Dadurch wurde die u n u m k e h r b a r e Relation von Wahrheit und Einheit radikalisiert. Nicht mehr ein Konzil als Repräsentation aller Gläubigen, aber auch nicht ein durch Mehrheitsbildung zu ermittelnder Consensus ist konstitutiv für theologische Wahrheitsfindung, sondern das H ö r e n auf die heilschaffende Offenbarung Gottes, wie sie in der Bindung an die Heilige Schrift vernommen wird. Der Consensus der Kirche beruht auf der Z u s t i m m u n g zu Gottes Handeln, die zur Gemeinschaft des Glaubens führt. So wird „ C o n s e n s u s " zum terminus technicus für —»Bekenntnisschriften oder für Einigungsformulierungen mit Bekenntnischarakter. D a f ü r charakteristisch sind der ->Consensus Tigurinus 1549, der Consensus pastorum Genevensis ecclesiae 1552 (eine Schrift Calvins zur Prädestinationslehre [CR 36, 249—366]), der Consensus Sendomiriensis 1570 (—»Sandomir, Consensus von), der Consensus Dresdensis 1571 in den philippistischen Streitigkeiten (—»Kryptocalvinisten), der Consensus Ministerii Bremensis Ecclesiae (BSRK 7 3 9 - 7 9 9 ) , der Consensus repetitus fidei vere Lutheranae 1655 zur Beendigung des Synkretistischen Streites (—»Orthodoxie, Altlutherische) und die Formula Consensus Ecclesiarum Helveticarum Reformatarum 1675 (BSRK 8 6 1 - 8 7 0 ) . Das —»Konkor dienbuch ist als pia et unanimi consensu repetita confessio [gottesfürchtiges, in einmütiger Ubereinstimmung wiederholtes Bekenntnis] überschrieben (BSLK 1), und d i e 3 9 Artikel der —»Kirche von England von 1552 und 1562 sollen die Ubereinstimmung in der wahren Frömmigkeit befestigen (consensum vere religionis firmandum bzw. firmandum in vera Religione consensum [BSRK 505,16f]). Consensus, consentire u . ä . besagen in diesem relativ breit gestreuten Sprachgebrauch, daß die Existenz der Kirche auf dem Aussprechen theologischer Erkenntnis beruht, deren Verbindlichkeit durch eine gemeinsame Formulierung zum Ausdruck k o m m t . Der Konsens ist gewissermaßen das für die Gemeinschaft des Glaubens Selbstverständliche, das jedoch durch Aussagen gewonnen werden m u ß und deshalb alle für die Leitung der Kirche Verantwortlichen zu immer neuen Bemühungen um klärende Abgrenzung gegenüber einem zutage tretenden Dissens verpflichtet. „ C o n s e n s u s " bleibt speziell der Begriff für die Rezeption grundlegender Glaubensaussagen (z. B. CA 1,1 zur Trinitätslehre: Ecclesiae magno consensu apud nos docent [Die Kirchen lehren bei uns in voller Ubereinstimmung] [BSLK 50,3 f]) und meint in diesem Z u s a m m e n h a n g die Glaubensüberzeugung „ d e r " Kirche über alle zeitlichen Abstände hinweg; in dieser Hinsicht ist freilich oft nur formelhaft vom Konsens der ganzen Kirche die Rede, um sich auf eine breite traditionelle Übereinstimmung zu berufen. Der Konsens der Väter gilt als Legitimation für Reformen, etwa bei der Neugestaltung kirchlicher Ämter (ex parentum consensu: Ungarisches Bekenntnis von 1562 [BSRK 437,46]). Bei dieser Konsens-Auffassung k o m m t hinzu, daß unter humanistischem Einfluß der Wahrheitswert einer Tradition desto

Consensus

186

höher eingeschätzt wird, je älter sie ist. Unter diesem Eindruck hat später G. —»Calixt gemeint, in der fundamentalen Ubereinstimmung in der Kirche der ersten fünf Jahrhunderte (von Calixts Gegner J . G . Dorsche als consensus quinquesaecularis bezeichnet) die Grundlage einer Lehreinheit aufzufinden, die für die in Konfessionen zerspaltene Christenheit wieder unmittelbar verbindlich werden und einigend wirken könne. Diese Art historischer Rückfrage verrät jedoch schon das schwindende Vertrauen in die Lehrbildung, die mit dem consentire de doctrina evangelii [der Ubereinstimmung in der Lehre des Evangeliums] so hoffnungsvoll begonnen hatte, das nach CA VII,2 (BSLK 61, 7—9) sich auch auf die Darreichung der —»Sakramente erstreckt und in alledem die Einheit der Kirche verbürgt. Das Bemühen um die evangeliumsgemäße Lehre hat im 16. und 17. Jh. eine ausgedehnte Consensus-Praxis aufgrund intensiver Lehrgespräche veranlaßt. Sie waren von der Erwartung geleitet, daß nicht schon eine möglichst breite Ubereinstimmung zur Wahrheit führt und daß die Wahrheit des Evangeliums auch nicht durch eine subtile, auf die Bedürfnisse der Gegenwart ausgerichtete Auslegung der Tradition vermittelt wird, sondern daß sich die Erkenntnis der Wahrheit dann einstellt, wenn die „Grenzfragen" der Kirche in der Unterscheidung von Glauben und Unglauben, von Gehorsam und Ungehorsam gegen Gott wahrgenommen werden. Dies geschieht, indem ein jeweils aufgetretener Dissens im Glauben und Handeln solange im gemeinsamen Hören auf das „schriftgemäße" Evangelium erörtert wird, bis eine verbindende und verbindliche Formulierung der Wahrheitserkenntnis gelingt. Diese Konstitution des Consensus ist das protestantische Äquivalent zum katholischen Lehramt. Evangelische Lehre ist nicht nur anders organisiert, sondern theologisch anders begründet. Ihre mögliche institutionelle Schwäche wird nach altprotestantischer Uberzeugung mehr als aufgewogen durch die Tragfähigkeit von Lehraussagen, die diskursiv so gewonnen werden, daß sie der Prüfung durch das Vernehmen des Gotteswortes und der Bewährung in der Verkündigung offenstehen. Höhepunkt dieser Consensus-Bildung ist die Entstehung der —>Konkordienformel. In ihrer Vorgeschichte heben sich drei Typen des Consensus-Verständnisses voneinander ab: die Aufhebung der konfessionellen Unterschiede durch einen Kompromiß mit Hilfe der CA-Variata und auf vorwiegend administrativ-kirchenpolitischem Wege (bis zum Naumburger Fürstentag 1561); die Suche nach einem gemeinsamen Nenner für verschiedene Auffassungen, deren Differenzen für möglichst unbedeutend erklärt wurden, wobei die Einigungsformulierungen unterschiedlich ausgelegt werden konnten (das 1570 mit dem Konvent von Zerbst gescheiterte Programm J. A. —»Andreaes, vgl. seine Schrift: Gründtlicher... bericht: Von Christlicher Einigkeit..., Wolfenbüttel 1570); eine gemeinsame genaue Fixierung von Streitpunkten und die Neubesinnung auf strittige Argumente mit dem Ziel, verbindliche Aussagen vor allem durch Verwerfung des Glaubenswidrigen zu erreichen, Aussagen, die in ihrer Frontstellung vorläufig bleiben und gleichwohl Endgültiges aussprechen (z.B. M. —»Chemnitz, Kirchenordnung . . . , Wolfenbüttel 1569, und der Prozeß, der seit 1573 zur Konkordienformel führt). Im 17. Jh. sind die Möglichkeiten der dritten Form von Lehrbildung durch Konsens immer weniger genutzt worden; —»Unionen wurden (auch noch im 19. Jh.) hauptsächlich aus religionspolitischen Bedürfnissen angestrebt und mit politischen Mitteln durchgesetzt. Die Aussagekraft theologischer Lehre geriet angesichts der Krisen der Konfessionali tat in Zweifel und wurde — auch im Zeichen der Auseinandersetzung von Glaube und Vernunft- durch andere Formen von Glaubensüberzeugung verdrängt, die nicht im Diskurs des theologischen Lehrgesprächs entstehen. Die Bemühung um den consensus de doctrina evangelii wiederholte sich dann erst im —»Kirchenkampf in einer Neubesinnung auf die Einheit der Kirche. 6. Consensus zwischen

den

Kirchen

In jüngster Zeit wird verschiedentlich versucht, durch Consensus-Erklärungen (vgl. z. B. die—»Leuenberger Konkordie) eine Gemeinschaft vorwiegend in kirchlichen Lebensformen zu dokumentieren. In ökumenischen Texten (—»Ökumene/ökumenisch) ist von „Consen-

187

Consensus

sus" die Rede, um angesichts des auch in den Kirchen herrschenden Pluralismus einheitsstiftende Handlungen und Uberzeugungen anzuzeigen, allerdings zumeist unter Verzicht auf gemeinsame Wahrheitsformulierungen. Dabei tritt eine bezeichnende Undeutlichkeit des Begriffs „ökumenisch" zutage: Ist „ Ö k u m e n e " die weltweite Kirche in ihrer ausgesprochenen Einheit, oder meint „ ö k u m e n i s c h " den gemeinsamen N e n n e r für konfessionelle Verschiedenheiten? Im ökumenischen Sprachgebrauch wird deutlich, d a ß der Consensus im Sinne der Übereinstimmung in praktischen Fragen, in der Auffassung des Gottesdienstes und der Sakramente, im Blick auf ethische Aufgaben und schließlich auch als Uberzeugung das letzte W o r t hat. Der Schritt zur Lehre, die eine andere Art von Verbindlichkeit zum Ausdruck bringt, wird kaum mehr vollzogen. Ist dies ein Anzeichen d a f ü r , daß die in reformatorischer Zeit so nachdrücklich betonte u n u m k e h r b a r e Relation von Wahrheit und Einheit aufgelöst wird? Die festgestellte Übereinstimmung und die durch sie geschaffene Gemeinsamkeit hat nun den Vorrang vor jedem anders begründeten Wahrheitsanspruch. 7. Der Consensus

in der diskursiven

Mitteilung

des

Glaubens

Das theologische Verständnis von Consensus steht heute hauptsächlich in Auseinandersetzung mit einer Sozialtheorie, die unter den Bedingungen des Pluralismus die Möglichkeiten eines einvernehmlichen Zusammenlebens von G r u p p e n mit verschiedenen Wertvorstellungen beschreibt. „ C o n s e n s u s " bezeichnet hier zum einen die Überzeugung, von der eine G r u p p e derart getragen ist, d a ß „ W a h r h e i t " mit „sozialer G e l t u n g " zusammenfällt; andererseits meint „ C o n s e n s u s " die ideale, empirisch nie eingelöste, aber gesellschaftlich zu suchende Übereinstimmung aller Meinungen. Die Bedingung der Möglichkeit eines solchen Consensus wird in der Sprache, die Bedingung der „ W a h r h e i t " dementsprechend im Z u sammenhalt der Menschheit als Sprachgemeinschaft gesehen. Diese Konzeption k n ü p f t an die alte sozialphilosophische Vorstellung des sensus communis an, hebt die sprachlichen (pragmatischen, kommunikativen) Bedingungen aller W a h r n e h m u n g e n hervor und will vornehmlich die Konflikte regeln, die aus verschieden fundierten Wahrheitsansprüchen erwachsen. Einigen dieser Beobachtungen kann sich die theologische Theorie des Consensus nicht verschließen, weil sie von der Bindung jeder christlichen Wahrheitsformulierung an den consensus ecclesiae ausgeht. Der Consensus spricht in besonderer Weise das aus, was im Gottesdienst zur Sprache k o m m t : das Sich-Einlassen der Kirche auf Gottes Handeln. Die Theologie bezieht sich in diskursiver Form auf diese Erfahrung. D a r u m hat sich die theologische Begriffs- und Lehrbildung an entscheidenden Punkten der Verwandlung der Wahrheit des Glaubens in Gruppenüberzeugungen widersetzen können. Der Consensus der Kirche besteht (1.) in der Z u s t i m m u n g zur Wahrheit Gottes und bezeugt das Leben aus dieser Wahrheit. Im Consensus k o m m t zur Sprache, wie Menschen Gottes Handeln an sich geschehen lassen und was sie dabei über sich selbst hinaus wahrnehmen. (2.) bezeichnet Consensus einen diskursiven Vorgang. Er ist auf Verständigung angelegt, die jedoch ihr Kriterium nicht im Einvernehmen, sondern in der Mitteilung des Glaubens hat. D a r u m umreißt der Consensus den „Bereich", der für den Glauben wahrzunehmen ist — er ist also weder allumfassend noch der gemeinsame Nenner f ü r verschiedene Ansichten. (3.) setzt sich der Consensus der P r ü f u n g aus, ist also nicht selber eine Letztbegründung. Diese Ü b e r p r ü f u n g beruht auf der Einstimmung in die —»Autorität der Heiligen Schrift, die sich nicht in der Berufung auf festgeschriebene Traditionen erschöpft, sondern theologische Erkenntnis mit Hilfe der als verbindlich rezipierten Wahrheitsformulierung gewinnt. Voraussetzung d a f ü r ist (4.) die Endgültigkeit theologischer Wahrheitsformulierung, die sich jedoch nicht als geschichtlich abgeschlossen versteht. Der Consensus will definite Aussagen treffen, die Richtpunkte für das theologische Gespräch sind, von denen es ausgeht und zu denen es zurücklenkt (—»Dialogik). (5.) Bei alledem will der consensus ecclesiae allgemeingültig sein, ohne diese Allgemeingültigkeit durch Verallgemeinerungen zu gewinnen; ebensowenig kann er sich auf eine ideale Übereinkunft aller Menschen oder auf die Transzendenz der Wahrheit zurückziehen.

188

Consensus Literatur

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Consensus Tigurinus

189

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Begriff

Im C o n s e n s u s Tigurinus v o m Jahre 1 5 4 9 v e r s t ä n d i g t e n sich —»Calvin u n d die Zürcher T h e o l o g e n , v o r allem —»Bullinger, über die S a k r a m e n t s l e h r e (—»Sakramente). D i e Bezeichn u n g C o n s e n s u s T i g u r i n u s b e n u t z t a n s c h e i n e n d erstmals G e o r g B e n e d i c t W i n e r , Comparative Darstellung des Lehrbegriffs der verschiedenen christlichen Kirchenpartheien (Leipzig 1 8 2 4 , XVII). M i t der Ü b e r n a h m e des Begriffs durch H e r m a n n A g a t h o n N i e m e y e r in seiner Collectio confessionum in ecclesiis reformatis publicatarum (Leipzig 1 8 4 0 , 1 9 1 ) bürgerte sich der W o r t g e b r a u c h rasch ein. D i e Z e i t g e n o s s e n b e z e i c h n e t e n die V e r e i n b a r u n g als consensio mutua, s o der Erstdruck v o n 1 5 5 1 , o d e r als consensus, w e l c h e n A u s d r u c k Calvin zu b e v o r z u g e n scheint. D i e d e u t s c h e Erstausgabe spricht v o n „Einhelligkeit". 2. Spannungen

zwischen

Calvinismus

und

Zwinglianismus

Nach der Eroberung des Waadtlandes und der Befreiung —»Genfs setzte Bern in diesen Gebieten 1536 die Reformation durch. Genf behielt seine relative politische Unabhängigkeit unter dem Schirm Berns, die W a a d t hingegen wurde bernisches Untertanengebiet. Hier kam es zum Konflikt zwischen dem zwinglischen Staatskirchentum Berns und dem für eine größere kirchliche Freiheit sich einsetzenden Calvinismus unter der Führung Pierre —»Virets in Lausanne. Von Genf aus stärkte Calvin seine Anhänger im französischsprachigen Berner Territorium. Der Gegensatz entzündete sich insbesondere an der Entscheidung über die Beibehaltung kirchlicher Gebräuche, dem - » B a n n , dem Amtsverständnis (—»Amt) und dem —»Abendmahl. Calvins Verständnis des Abendmahls galt den Zwinglianern in Bern und Zürich als des Luthertums verdächtig. Calvin selbst hielt schon 1544 einen Ausgleich mit Bullinger in der Abendmahlsfrage für möglich, was allerdings zu optimistisch geurteilt war. Die kirchenpolitischen und theologischen Divergenzen zwischen Calvin und Bern erreichten im M ä r z 1549 ihren Höhepunkt, als Calvin die Teilnahme an einer Synode in Bern verwehrt wurde und sich die führenden Berner Theologen sogar weigerten, ein von ihm verfaßtes „Genfer Bekenntnis" (CR 35, 7 1 7 - 7 2 2 ) der Versammlung vorzulegen. Der Genfer Reformator hatte sich in Bern so verhaßt gemacht, daß man gar seine Ausweisung beim Betreten bernischen Territoriums erwog. Allerdings gab Calvin nicht allein Bern die Schuld an diesen Spannungen, sondern vermutete, die Zürcher Theologen, an der Spitze Bullinger selbst, würden bei den Bernern gegen die Calvinisten hetzen und sie zum sturen Festhalten am originären Zwinglianismus ermuntern. Von einem Ausgleich mit Zürich erhoffte sich Calvin eine Beilegung der Schwierigkeiten mit Bern. 3. Voraussetzungen

des

Zustandekommens

D e r erfolgreiche A b s c h l u ß des C o n s e n s u s w u r d e durch eine t h e o l o g i s c h e Klärung in der A b e n d m a h l s f r a g e z w i s c h e n Calvin und Bullinger e r m ö g l i c h t und durch p o l i t i s c h e U m s t ä n d e begünstigt. Calvin u n d Bullinger p a ß t e n ihre A b e n d m a h l s s t a n d p u n k t e einander w e i t g e h e n d d u r c h einen sich über zwei Jahre h i n z i e h e n d e n B r i e f w e c h s e l ( 1 5 4 7 - 1 5 4 9 ) an. Dieser Ged a n k e n a u s t a u s c h v o l l z o g sich in z w e i R u n d e n . Einen ersten A n l a u f l ö s t e C a l v i n s B e s u c h in Z ü r i c h im Februar 1 5 4 7 aus, als Bullinger i h m seine Schrift über die S a k r a m e n t e ( A b s o l u t a de Christi Domini et Catholicae Ecclesiae Sacramentis tractatio, g e d r u c k t 1 5 5 1 ) übergab, zu der sich C a l v i n schriftlich kritisch äußerte (CR 4 0 , 4 8 0 - 4 8 9 ) . D e r Genfer b e m ä n g e l t an Bullingers Position, d a ß sie die S a k r a m e n t e zu b l o ß e n Z e i c h e n e n t w e r t e . Z u r ü c k g e h e n d auf eine göttliche Einsetzung seien die S a k r a m e n t e w i r k k r ä f t i g e Z e i c h e n , s o d a ß bei der Sakram e n t s h a n d l u n g der Geist G o t t e s zugleich ( s i m u l ) auf d e n M e n s c h e n wirke. Z w a r h a n d l e G o t t nicht durch die Elemente, w i e Luther b e h a u p t e , d o c h k ö n n e der a n g e f o c h t e n e G l a u b e der G e m e i n s c h a f t mit Christus im S a k r a m e n t g e w i ß sein. G e r a d e diese G e w i ß h e i t leugnet

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Consensus Tigurinus

Bullinger, weil er die Anwesenheit des heilsvermittelnden Geistes in dessen kontingenter Freiheit läßt. An diesen ersten ergebnislosen Verständigungsversuch schloß sich ein zweiter Briefwechsel an. Nach einem erneuten Besuch in Zürich im Mai 1548 ergriff Calvin die Initiative und formulierte in größtmöglicher Knappheit seine Abendmahlsanschauung (CR 40, 727—729). Dabei bringt er einen neuen Gedanken ein, indem er die Wirksamkeit des Sakraments auf die Erwählten beschränkt. Damit k o m m t Calvin Bullinger entgegen, weil dies dem Grundsatz der zwinglischen Seite entspricht, der Glaube sei die notwendige Voraussetzung für den Abendmahlsempfang. Anfang 1549 rückt Calvin noch weiter von seiner bisherigen Position ab, indem er nicht mehr die Gleichzeitigkeit von Abendmahlsempfang und Geistmitteilung behauptet (CR 35, 704). Äußerer und innerer Genuß vollzögen sich nicht gleichzeitig (simul), wohl aber in gleicher Weise (similiter). Damit lenkt Calvin seine Aufm e r k s a m k e i t a u f das Geschehen im Empfangenden, was Bullingers Anliegen a u f n i m m t . Der Zürcher seinerseits würdigt das Abendmahl positiv als Mittel zur Stärkung des Wissens um die Erlösung und weist ihm eine das Wirken des Heiligen Geistes bestätigende Funktion zu (CR 35, 6 9 3 - 7 0 0 ) . Da sich Calvin ferner ausdrücklich von lutherischen Auffassungen distanziert und Meinungsverschiedenheiten mit seinem in Zürich verdächtigen Freunde —*Bucer zugibt, reinigt er sich von dem Vorwurf, ein heimlicher Lutheranhänger zu sein, was in Zürich als eine wesentliche Voraussetzung für eine Verständigung angesehen wurde. Auch Calvins persönliche Situation förderte die Beziehungen zu Bullinger. In Genf waren nämlich seine alten Widersacher Ende 1548 erstarkt, was in ihm das Gefühl der Bedrohung und der Einsamkeit nährte, das sich durch den T o d seiner Frau im M ä r z 1549 noch verstärkte. Die politische Lage ließ 1549 ein Z u s a m m e n r ü c k e n Genfs und Zürichs geboten erscheinen. O b w o h l sich die evangelischen Eidgenossen durch Karls V. —»Interim nicht mehr so bed r o h t fühlten wie unmittelbar nach dem Fall Konstanz' (Oktober 1548), befürwortete Bullinger doch angesichts der anhaltenden kaiserlichen Beunruhigung einen engeren Zusammenschluß. Wesentlich konkreter als dieser allgemein gehaltene Wunsch waren Genfs politische Ziele: 1. hofften Calvin und seine Obrigkeit, Zürich f ü r den Abschluß einer Allianz mit Heinrich II. von —»Frankreich gewinnen zu können, um dadurch das Los der bedrängten französischen Protestanten zu erleichtern; 2. versuchte sich Genf aus den engen Bindungen an Bern zu lösen und wünschte d a f ü r zürcherische Fürsprache in Bern. Eine Verständigung zwischen Genf und Zürich zielte also politisch wie kirchenpolitisch auf Bern. Der Schluß liegt nahe, Calvin habe a u f g r u n d solcher Erwägungen in theologischen Fragen nachgegeben. 4. Abschluß

und

Inhalt

Ende Mai 1549 (der genaue Z e i t p u n k t läßt sich nicht ermitteln) reiste Calvin in Begleitung —>Farels ohne Wissen Bullingers nach Zürich. Hier erreichte man eine Einigung in der Sakramentslehre. Der Gang des Gesprächs läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Soviel steht jedoch fest: Den Verhandlungen zugrunde lag das von Calvin zuhanden der Berner Synode verfaßte Genfer Bekenntnis vom M ä r z 1549. M a n kam überein, siebzehn der insgesamt zwanzig Punkte, zum größten Teil wörtlich, in die gemeinsame Vereinbarung zu übernehmen. Drei Punkte ließ man, wohl auf Wunsch der Zürcher, fallen, beispielsweise einen Abschnitt, in dem Christus als „Substanz" des Sakraments bezeichnet wird, was typisch calvinische Redeweise ist (J. Staedtke: T R E 1, 117, 1 5 - 2 4 ) . Hinzugefügt wurden in Zürich vor allem eine christologische Einleitung (Art. 1 - 4 ; 6), ein Artikel über den Unterschied von Zeichen und Sache (Art. 9) sowie einer über die figürliche Auslegung der Einsetzungsworte (Art. 22), der zürcherische Anliegen a u f n i m m t . Schließlich einigte man sich auf ein begleitendes Vor- und N a c h w o r t , in dem die vorausgegangenen Spannungen eingestanden werden. Allerdings brachte das Gespräch von Zürich nicht die endgültige Fassung des Consensus zustande, weil Calvin brieflich verdeutlichende Zusätze verlangte, denen Bullinger beipflichtete. Da die Berner das geplante Vor- und N a c h w o r t mißbilligten, ließ man es fallen und einigte sich auf die Beifügung erläuternder „Briefe" zwischen Calvin und den Zürcher Theologen. Somit stand die endgültige Fassung mit ihren 26 Artikeln im Sommer 1549 fest. Der Consensus ist nicht streng systematisch aufgebaut, doch lassen sich drei Teile aus-

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machen: Auf eine christologische Einleitung (Art. 1 - 6 ) folgt die Darstellung der Sakramentslehre (Art. 7 - 2 0 ) , wobei katholische und lutherische Meinungen abgewehrt werden (Art. 11; 12; 17). Der abschließende dritte Teil (Art. 2 1 - 2 6 ) ist ganz der Auseinandersetzung mit strittigen oder gegnerischen Auffassungen gewidmet. Die christologische Einleitung kennzeichnet das geistliche Regiment der Kirche in der Weise, daß ihm die Aufgabe zukommt, Menschen zu Christus zu führen: Durch den Hl. Geist erneuert uns Christus (Art. 1 - 5 ) . Z u r Bezeugung dieser Gemeinschaft geistlicher Art ist die Predigt eingerichtet und der Gebrauch der Sakramente empfohlen (Art. 6). Diese Einbettung der Sakramentslehre in die Christologie und Ekklesiologie hat kein Vorbild in dem vorangegangenen Briefwechsel und macht die eigentliche theologische Leistung der Zürcher Z u s a m m e n k u n f t aus. Die folgenden neunzehn in Zürich beschlossenen Artikel gehen größtenteils auf Calvins Genfer Bekenntnis zurück, so daß wesentliche Punkte des von den Bernern nicht akzeptierten Glaubensbekenntnisses in den Consensus Tigurinus eingingen. O b w o h l diese Artikel von Calvin herrühren, tragen sie doch der schriftlichen Klärung, wie sie Anfang 1549 feststand, getreu Rechnung. Die Abschnitte über die Sakramente allgemein und die Abendmahlslehre im besonderen fassen den Ertrag des schriftlichen Austausches zwischen Genf und Zürich zusammen und fanden deshalb leicht Bullingers Zustimmung. Allerdings ist das Genfer Bekenntnis um typisch zürcherische Anliegen erweitert worden, z.B. kam die Aussage hinzu, die Sakramente hätten den Zweck, den T o d Christi und dessen Wohltaten in Erinnerung zu rufen, damit der Glaube mehr geübt werde. Sie bestätigten wie Siegel die mündliche Verkündigung (Art. 7), was allerdings in einem gewissen Gegensatz dazu steht, dem Heiligen Geist allein Siegelfunktion zuzuweisen (Art. 15). Der nachträglich hinzugefügte Passus über die fleischliche Nießung legt sich in der Auslegung von J o h 6, die zwischen Bullinger und Calvin strittig gewesen war, nicht fest. So läßt der Consensus sogar noch Fragen in der Abendmahlslehre offen. Einig weiß man sich vor allem in der A b w e h r gegnerischer Auffassungen: Sakramente als Gnadenmittel, Realpräsenz, Transsubstantiation, Ubiquität, Verehrung des Sakraments. 5. Ertrag Der Consensus Tigurinus hat weder theologisch noch politisch noch kirchenpolitisch gebracht, was sich viele erhofften: Der theologische Gegensatz zwischen Zwinglianismus und Calvinismus in der Ekklesiologie blieb bestehen, in der Abendmahlsfrage allerdings standen hinfort beide Seiten treu zur Zürcher Vereinbarung. Genf erreichte seine politischen Ziele nicht: Zürich blieb der französischen Allianz fern, u n d Bern widersetzte sich weiterhin allen Versuchen Genfs, sich zu lösen. Vor allem kirchenpolitisch war der Consensus ein Fehlschlag. O b w o h l die Vereinbarung auf Bern zielte, hielten die dortigen Kirchenmänner den Consensus für unnötig und unvollständig, weshalb sie eine Unterschrift beharrlich verweigerten, zumal sie die Einsprache der Obrigkeit befürchteten. Die Erwartung, die Berner würden zustimmen, überrascht eigentlich, denn diese hatten k n a p p e drei M o n a t e vorher das Genfer Bekenntnis abgelehnt, welches ihnen jetzt in veränderter Form wieder unterbreitet wurde. Ferner waren die Berner zurecht darüber verstimmt, nicht in die Verhandlungen einbezogen worden zu sein. Aus diesen Gründen änderte sich im französischsprachigen Konfliktgebiet ü b e r h a u p t nichts. Da auch andere Schweizer Kirchen, wie Basel, zurückhaltend reagierten, mußte der anscheinend ursprünglich bestehende Plan, ein Vereinigungswerk mehrerer eidgenössischer Kirchen herauszubringen, fallen gelassen werden. Der Consensus blieb ein D o k u m e n t des Ausgleichs zwischen Zürich und Genf, das allerdings andere Theologen wie Bucer, —»Laski, Jan Utenhove, —>Vermigli und Celio Secondo Curione begrüßten. Als nicht vorauszusehende Folge der Veröffentlichung des Consensus im Jahre 1551 entzündete sich eine längere Kontroverse zwischen Calvin und den schweizerischen Reformierten einerseits sowie deutschen Lutheranern und —»Westphal andererseits. Der Genfer R e f o r m a t o r verteidigte s t a n d h a f t den Consensus Tigurinus, was zwar den Graben zwischen Reformierten und Lutheranern vertiefte, aber Calvin seinen Platz innerhalb der schweizerischen reformierten Kirchen finden ließ.

Consilia E v a n g e l i c a

192 Bibliographien

Heinrich Bullingers Werke. 1. Abt. Bibliogr. I. Beschreibendes Verz. der gedruckten Werke v. Heinrich Bullinger, bearb. v. J. Staedtke, Zürich 1 9 7 2 , Nr. 6 2 4 - 6 4 9 ; II. Beschreibendes Verz. der Lit. über Heinrich Bullinger, mit Unterstützung v. Angela Beliczay, Ulrich Gabler u. Kurt Rüetschi bearb. v. Erland Herkenrath, Zürich 1 9 7 7 , s. Reg. Quellen Textausgabe u.a.: C R 3 5 , 7 3 5 - 7 4 4 . - Registres delà Compagnie des pasteurs de Genève au temps de Calvin. I. 1 5 4 6 - 1 5 5 3 . Par Jean-François Bergier, 1 9 6 4 ( T H R 55) 6 4 - 7 0 . - Neuhochdt. Übers.: Dora Scheuner, Der Consensus Tigurinus: KBRS 115 ( 1 9 5 9 ) 1 9 4 - 1 9 7 . - Engl. Übers.: Ian D. Bunting, The Consensus Tigurinus: J P H 4 4 ( 1 9 6 6 ) 4 5 - 6 1 . Literatur Ernst Bizer, Stud. zur Gesch. des Abendmahlsstreits im 16. Jh., 1 9 4 0 ' 1 9 6 2 ( B F C h T h . M 46). André Bouvier, Henri Bullinger, Neuchätel/Paris 1 9 4 0 , 1 1 0 - 1 4 9 . 5 6 0 - 5 6 2 . - Ulrich Gabler, Das Zustandekommen des Consensus Tigurinus vom Jahre 1 5 4 9 : T h L Z 1 0 4 ( 1 9 7 9 ) 3 2 1 - 3 3 2 . - Hans Graß, Die Abendmahlslehre bei Luther u. Calvin, 1 9 4 0 2 1 9 5 4 ( B F C h T h . M 4 7 ) 2 0 8 - 2 1 2 . 2 7 5 - 2 7 8 . - Kurt Guggisberg, Calvin u. Bern: FG Leonhard von Muralt, Zürich 1 9 7 0 , 2 6 6 - 2 8 5 . - G o t t f r i e d W. Locher, Streit unter Gästen. Die Lehre aus der Abendmahlsdebatte der Reformatoren für das Verständnis u. die Feier des Abendmahls heute, 1 9 7 2 (ThSt[B] 1 1 0 ) . - D e r s . , Bullinger u. C a l v i n - P r o b l e m e des Vergleichs ihrer Theologien: Heinrich Bullinger 1 5 0 4 - 1 5 7 5 . GAufs. zum 4 0 0 . Todestag, hg. v. Ulrich Gäbler/Erland Herkenrath, II 1 9 7 5 ( Z B R G 8) 1 - 3 3 . - Ders., Von Bern nach Genf. Die Ursachen der Spannung zw. zwinglischer u. calvinistischer Reformation: Wegen en gestalten in het gereformeerd Protestantisme. FS S. van der Linde, Amsterdam 1 9 7 6 , 7 5 - 8 7 . - Willem Nijenhuis, Calvinus oecumenicus, 1 9 5 9 (KHSt 8) 1 1 2 - 1 3 1 . - Ernst Saxer, „Siegel" u. „Versiegeln" in der calvinisch-ref. Sakramentstheol. des 16. J h . : Zwing. 14 ( 1 9 7 7 ) 3 9 7 - 4 3 0 (Lit.). - Otto Erich Strasser, Der Consensus Tigurinus: Zwing. 9 (1949) 1 - 1 6 . Ulrich G a b l e r Consilia Evangelica 1. Nachfolge Christi 2. Intentionen 3 . Der Weg der Armut 4. Der Weg der Ehelosigkeit (Jungfräulichkeit, Keuschheit) 5 . Der Weg des Gehorsams 6. Kirche und Ordensleben (Literatur S. 196) Consilia

evangelica

sind E i n w e i s u n g e n in die N a c h f o l g e radikalen Christseins. Sie w o l -

len den entschlossenen Schritt des G l a u b e n s als W e g z u r christlichen V o l l e n d u n g in einem L e b e n in Ehelosigkeit ( J u n g f r ä u l i c h k e i t ) , A r m u t und G e h o r s a m u n t e r s t r e i c h e n . Im sog. E u n u c h e n - W o r t ( M t 1 9 , 1 2 ) wird die M ö g l i c h k e i t aufgezeigt, um des R e i c h e s G o t t e s willen a u f die E h e zu verzichten. Es h a n d e l t sich dabei nicht u m ein a u t o r i t a t i v e s G o t t e s g e b o t für alle M e n s c h e n , s o n d e r n u m den E n t s c h l u ß eines Einzelnen, diesen W e g als p e r s ö n l i c h e B e r u f u n g u n d als H i n g a b e in d e r —»Nachfolge Jesu zu g e h e n ; er t r ä g t den C h a r a k t e r des R a t e s : „ N i c h t alle fassen dieses W o r t . . . " ( M t 1 9 , 1 1 ) . D o c h w i d e r s p r i c h t es d e m E v a n g e l i u m , d a r a u s eine d o p p e l s t ö c k i g e M o r a l zu m a c h e n : den W e g d e r G e b o t e für alle C h r i s t e n , den W e g des R a t e s a b e r für jene, die n a c h V o l l k o m m e n h e i t s t r e b e n . Die E v a n g e l i s c h e n R ä t e sind w e d e r „ W e r k e d e r U b e r g e b ü h r " in d e m Sinne, d a ß in ihnen m e h r als d a s u n b e d i n g t N o t w e n d i g e g e f o r d e r t w i r d , n o c h dürfen sie als u n v e r b i n d l i c h e r R a t o d e r als eine Sonderleistung v e r s t a n d e n w e r den. Jedes a u t h e n t i s c h e C h r i s t e n t u m wird a u f irgendeine W e i s e diese N a c h f o l g e Christi u n d d a m i t die R e l a t i v i e r u n g aller irdischen W e r t e z u m A u s d r u c k bringen. A u s der S o r g e h e r a u s , d a ß die n o t w e n d i g e ä u ß e r e W e i s u n g den W e s e n s z u g des neuen Gesetzes als eines Gesetzes d e r G n a d e u n d der Freiheit v e r d e c k e n k ö n n t e , u n t e r s c h i e d m a n lange Z e i t h i n d u r c h zwischen G e b o t u n d R a t , w a s zu e n t s p r e c h e n d e n M i ß v e r s t ä n d n i s s e n führte. Die p r o t e s t a n t i s c h e T h e o l o g i e ä u ß e r t e d a r u m ihre B e d e n k e n , da sich hierbei zu leicht m e n s c h l i c h e Selbstgerechtigkeit einschleicht. Z u d e m e r s c h e i n t ihr eine d u r c h —»Gelübde erfolgte B i n d u n g an E h e l o sigkeit, A r m u t und G e h o r s a m in einer gefallenen W e l t g r u n d s ä t z l i c h als f r a g w ü r d i g , v o r all e m , wenn m a n das S c h w u r v e r b o t d e r B e r g p r e d i g t ( M t 5 , 3 3 — 3 7 ) b e r ü c k s i c h t i g t . 1. Nachfolge

Christi

Die Evangelischen R ä t e p r ä g e n weithin das christliche O r d e n s l e b e n . W ä h r e n d in den er-

Consilia Evangelica

193

sten beiden Jahrhunderten der radikale Vollzug christlichen Glaubens gekennzeichnet bleibt durch das —»Martyrium, rücken noch vor dem Ende der Verfolgungszeit im 3. Jh. das —»Mönchtum und die Jungfräulichkeit neben das M a r t y r i u m . In Opposition zu einer sich selbst genügenden Welt entsteht jene Spiritualität, die im freigewählten Verzicht auf Besitz und Reichtum, aber auch auf die an sich normale Form menschlichen Zusammenlebens in Ehe und Familie den Mönch und die J u n g f r a u zu prägenden Leitbildern werden läßt. Allerdings trug diese Nachfolge Christi in ihrer G r u n d s t i m m u n g einen uns heute k a u m mehr verständlichen weltverachtenden Charakter (—»Askese). In Weiterführung der durch die konstantinische Wende erhaltenen Machtposition für die Kirche erhält die Nachfolge Christi im frühen Mittelalter eine spezifisch weltbejahende Form in der Ritter- und Kreuzzugsfrömmigkeit. Im christlichen Ritter findet das Ethos der Gefolgschaft seine konkrete Gestalt; Christus ist der Führer im Kampf. Gleichzeitig bricht im christlichen Volk in jener feudalen Welt die Armutsbewegung der Bettelorden auf, die durch ihre Radikalität das Abendland aufrütteln. —»Franciscus von Assisi n i m m t den Aufruf Jesu an den reichen Jüngling, alles zu verlassen (Lk 18,22), wörtlich. Diese freigewählte „Evangelische A r m u t " sollte der neue Typ der A n t w o r t auf den Ruf zur Nachfolge Jesu werden (—»Armut). Im 16. Jh. wird in der von Ignatius von —»Loyola gegründeten Gesellschaft Jesu (—»Jesuiten) der Leitgedanke eines radikalen Gehorsams und die Bereitschaft, Gott in der sichtbaren Kirche zu dienen, besonders herausgestellt. So erfährt im Verlauf der Geschichte des Christentums der eine Aufruf Jesu zur Nachfolge vielfache Ausprägungen; doch darf keine der historisch gewachsenen Formen kurzschlüssig verabsolutiert werden. Jede Zeit besitzt die Aufgabe, die ihr gemäße Form der Nachfolge Christi als Ausdruck radikalen Glaubens zu finden. 2. Intentionen Die drei Evangelischen Räte Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam sind analog zu den drei grundlegenden Trieben des menschlichen Herzens zu sehen: der Besitztrieb, der Sexualtrieb und das Macht- und Geltungsstreben. Diese Triebkräfte sind von N a t u r aus gut, unterliegen aber wie der Mensch als Ganzer auch dem Gesetz der —»Sünde. Psychologen haben auf seelische Fehlentwicklungen hingewiesen, die in übertriebenem Geltungsstreben oder auf einem frustrierten M a c h t t r i e b gründen (Alfred Adler) oder die sich in neurotischen Formen einer unerfüllten oder verdrängten Sexualität äußern (Sigmund —»Freud). In unserer Zeit ist das Streben nach Besitz überstark ausgeprägt; in zahlreichen sozialen Auseinandersetzungen zwischen Besitzenden und Besitzlosen, Arbeitgebern u n d Arbeitnehmern, reichen und armen Völkern k o m m t in entlarvender Weise zum Ausdruck, wie sehr menschliches Zusammenleben durch H a b s u c h t und Raffgier gestört werden kann, wie unwürdig gleichzeitig aber unfreiwillige A r m u t sein kann und zu harten Kämpfen und Auseinandersetzungen führt. In der Erzählung von der dreifachen Versuchung Jesu (Mt 4 , 1 - 1 1 ) k o m m t ebenfalls die G e f ä h r d u n g des Menschen durch überzogenes Streben nach Besitz, M a c h t und Anerkennung zum Ausdruck. Die A n t w o r t darauf ist eine frei gewählte Armut, der um des Reiches Gottes willen ü b e r n o m m e n e Verzicht auf Ehe (Jungfräulichkeit) und der frei angebotene Gehorsam. In diesen drei Bereichen leisten einige Menschen freiwillig einen deutlichen und spürbaren Verzicht, der nicht nur Ausgleich für das U b e r m a ß im Entfalten dieser Grundtriebe sein will, sondern zugleich auch andere auf die Radikalität der Botschaft Jesu aufmerksam machen will und somit Verkündigungscharakter trägt. Die Grundgesinnung der Armut, Keuschheit bzw. Jungfräulichkeit und des Gehorsams will auch Ausdruck einer dem christlichen Glauben eigentümlichen eschatologischen H a l t u n g sein. Selbst wenn die Welt als Schöpfung Gottes dem Menschen zur Gestaltung aufgetragen bleibt, so soll er sich doch nicht dieser Welt „gleichförmig" machen (Rom 12,2) - Paulus versteht hier unter „ W e l t " jenes sich selbst genügende Leben, das ohne transzendentalen Bezug zu Gott und ohne Gnade auszukommen glaubt. 3. Der Weg der

Armut

Dieser richtet sich gegen die Versuchung des H a b e n - undBesitzenwollens.Es geht um die innere und äußere Freiheit für die Nachfolge Jesu. Jesus selbst sieht in dem Besitz des reichen

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Jünglings ( M k 1 0 , 1 7 - 3 0 ) ein H i n d e r n i s f ü r die r a d i k a l e J ü n g e r s c h a f t . In der R e d e v o m Kamel, das leichter d u r c h ein N a d e l ö h r geht als ein Reicher in das Reich Gottes ( M k 1 0 , 2 5 ) , in der ersten Seligpreisung der „ A r m e n im Geiste" ( M t 5,3) k o m m e n im N e u e n T e s t a m e n t Impulse zu einer solchen Freiheit z u m A u s d r u c k . Der f r ü h e n Kirche w a r der Satz des H e r r n „ w e r sein Leben zu retten versucht, w i r d es verlieren, wer es a b e r verliert, wird es g e w i n n e n " (Lk 17,33) so b e d e u t s a m , d a ß er m e h r m a l s eingeschärft w i r d ( M t 1 0 , 3 9 ; 16,25; J o h 12,25). Die N a c h f o l g e Jesu ist kein rein geistiger V o r g a n g , s o n d e r n h a t ihre K o n s e q u e n z e n f ü r das Leben; sie läßt nicht gleichgültig gegenüber Reich u n d A r m , Besitz oder Nichtbesitz. W e r nicht mit d e m B r u d e r teilt, k a n n auch nicht d a m i t r e c h n e n , im Reiche Gottes zu stehen. D a r u m d a r f die „ A r m u t im G e i s t e " nicht n u r als G e s i n n u n g s h a l t u n g verstanden w e r d e n ; sie ist richtungsweisend f ü r alle M e n s c h e n u n d besitzt eine „politische Seite", insofern sie in die G e m e i n s c h a f t der A r m e n h i n e i n f ü h r t u n d zur Solidarität mit ihnen in ihrer N o t a u f r u f t . Die evangelische T u g e n d der A r m u t m a c h t jene, die sie frei w ä h l e n , praktisch solidarisch m i t jen e n , f ü r die die A r m u t nicht T u g e n d , s o n d e r n N o t u n d gesellschaftliche Z u m u t u n g bleibt. D e n reichen V ö l k e r n w i r d z u n e h m e n d b e w u ß t , d a ß die a r m e n Völker nicht ihrem Schicksal überlassen w e r d e n d ü r f e n . Entwicklungshilfe, H i l f s a k t i o n e n weltweiter Art s u c h e n den N o t s t a n d zu beseitigen. D o c h besteht die G e f a h r , d a ß die Reichen noch reicher u n d die Arm e n n o c h ä r m e r w e r d e n , die K l u f t also u m so größer w i r d . H e u t e w i r d einer s o g e f o r d e r t e n evangelischen A r m u t ein e n t s p r e c h e n d bescheidener Lebensstil gerecht. In Kleidung, W o h n u n g , u n d E r h o l u n g gibt jeder ü b e r t r i e b e n e A u f w a n d Ärgernis. Diese Einfachheit u n d Bescheidung sollte das Leben jedes C h r i s t e n b e s t i m m e n . Im Mittelalter w u r d e der ü b e r das Leb e n s n o t w e n d i g e h i n a u s g e h e n d e Besitzstand als sozial belastet angesehen in d e m Sinne, d a ß er den A r m e n u n d N o t l e i d e n d e n zustehe u n d d a r u m als Almosen gegeben w e r d e n sollte. Selbst w e n n h e u t e v o n Seiten der Gesellschaft soziale Fürsorge u n d Hilfe gewährleistet erscheint, s o bleibt d o c h die V e r p f l i c h t u n g bestehen, v o m Ü b e r f l u ß den u n m i t t e l b a r Bedürftigen mitzuteilen. Die Bereitschaft, m i t a n d e r e n in Einfachheit u n d A r m u t das Leben freiwillig zu teilen, m a c h t die G e m e i n s c h a f t der Christen u n d der Kirche zu einem Volk der Brüder, zur „Kirche des V o l k e s " . Eine säkularisierte F o r m eines urchristlichen K o m m u n i s m u s liegt der O r d e n s g e m e i n schaft z u g r u n d e . Materielle wie geistliche G ü t e r sollen allen in der G e m e i n s c h a f t z u k o m m e n (Brüder v o n —»Taize).Egoismus, Eifersüchtelei u n d Streiterei widersprechen dieser G r u n d h a l t u n g . Die Freiheit des H e r z e n s v o n Besitz aber soll eine Freiheit für Gottes W i r k e n sein. G e r a d e d e m M e n s c h e n der a b e n d l ä n d i s c h e n Leistungsgesellschaft mangelt o f t m a l s diese Freiheit; er n i m m t die G ü t e r dieser W e l t nicht als Lehen o d e r in ihrer T r a n s p a r e n z , s o n d e r n als das Letzte. Die fernöstliche M e d i t a t i o n m a c h t h e u t e auf diesen entscheidenden M a n g e l christlich-abendländischen D e n k e n s a u f m e r k s a m (Graf D ü r c k h e i m ) . 4. Der Weg der Ehelosigkeit

(Jungfräulichkeit,

Keuschheit)

J u n g f r ä u l i c h k e i t — ein W o r t , d a s auch f ü r den M a n n gilt - bezog sich u r s p r ü n g l i c h auf die g o t t g e w e i h t e J u n g f r a u - w o b e i der Bezug auf —»Maria als der M u t t e r G o t t e s mitgegeben w a r ; gemeint ist die H a l t u n g der J u n g f r ä u l i c h k e i t als —»Charisma, nicht jene e r z w u n g e n e Ehelosigkeit derer, die keinen L e b e n s p a r t n e r g e f u n d e n h a b e n oder die gänzlich v o n i h r e m weltlichen Beruf in A n s p r u c h g e n o m m e n w e r d e n . J u n g f r ä u l i c h e s Leben unterscheidet sich von d e m b l o ß ehelosen d u r c h die freie W a h l „ u m des Reiches Gottes willen" als A n t w o r t auf einen Ruf des H e r r n . Sie u m s c h l i e ß t gleichzeitig das Ja z u r menschlichen Liebe als einer großen G a b e Gottes, a b e r auch d a s Wissen u m das V e r h ä n g n i s der unter die S ü n d e g e r a t e n e n menschlichen Liebesfähigkeit, der möglichen V e r i r r u n g e n u n d der M a ß l o s i g k e i t . J u n g f r ä u lichkeit f ü h r t nicht z u m Ersticken des Liebeslebens, s o n d e r n zur E n t f a l t u n g g e m ä ß d e m bes o n d e r e n C h a r i s m a . Gnostische o d e r m a n i c h ä i s c h e M i ß v e r s t ä n d n i s s e w ü r d e n hier n u r V e r w i r r u n g stiften. Liebe u m f a ß t in der voll entfalteten Geschlechtlichkeit der Ehe die Sex u a l i t ä t , die erotische Liebe u n d d e n geistig p e r s o n a l e n G e h a l t zwischenmenschlicher Partn e r s c h a f t u n d Liebe. In der f r e i g e w ä h l t e n J u n g f r ä u l i c h k e i t soll „ v e r k ü n d e t " w e r d e n , d a ß auch zwischenmenschliche Liebe nicht selbstgenügsam bleiben d a r f , s o n d e r n t r a n s p a r e n t

Consilia Evangelica

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wird auf Gott hin, den wir „über alles" lieben sollen. —»Keuschheit als Begriff ist wenig geeignet, diesen zweiten Evangelischen Rat zu umschreiben, da darunter eine für alle Menschen maßgebende Haltung verstanden wird. Freigewählte Ehelosigkeit hat ihre äußere wie ihre innere Seite. Als evangelische Tugend ist die geistige Ehelosigkeit Ausdruck der Naherwartung des Tages des Herrn. Sie kann nur dort recht verstanden werden, wo sie zugleich getragen wird von einem radikalen Ergriffensein, von vorbehaltloser Hingabe für die Verkündigung des Reiches Gottes. Sie macht zugleich auch, wo sie als freigewählte Ehelosigkeit um des Reiches Gottes willen gelebt wird, solidarisch mit jenen, die aus äußeren Gründen, gesellschaftlichen Umständen oder aufgrund ihrer Lebenssituation nicht zu Ehe und Familie gelangten oder nicht mehr darin zu stehen vermögen - jene Ehelosen, für die dies Schicksal ist. Sie sollen aus einer verzweifelten Vereinsamung und Isolation in die Solidarität geholt werden. Auch diese evangelische Tugend ist Ausdruck der kompromißlosen Nachfolge, einer eschatologischen Existenz, die das Leben jedes Christen irgendwie mitprägen sollte. Das Leben dessen, der um des Reiches Gottes willen auf die eheliche Liebeserfüllung verzichtet, soll Ausdruck der radikalen Antwort auf jene personale Liebe sein, die in Jesus Christus dem Menschen immer wieder entgegenkommt und die letzter Zielpunkt alles menschlichen Liebens bleibt. Darum ist der in der Jungfräulichkeit übernommene Verzicht nur die negative Seite; positiv ist gerade die Offenheit und zeichenhafte Transparenz menschlichen Liebens gefordert. 5. Der Weg des —>Gehorsams Während die Armut das Verhältnis zu den Dingen betrifft, die Jungfräulichkeit unseren Liebesbezug zum Mitmenschen, berührt der-Gehorsam das innerste Ich des Menschen, sein Macht- und Geltungsstreben, das weder in eine absolute Ungebundenheit und Willkür, noch in einen Kadavergehorsam ausarten darf. Im Gehorsam zeigt sich die entscheidende Grundhaltung der Nachfolge; es ist die radikale Verfügbarkeit dessen, der vom Herrn ergriffen ist und in die Nachfolge Jesu eintritt. Wie Jesus den Weg des Kreuzes im Gehorsam gegenüber dem Vater gegangen ist, wie es seine Speise war, den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat (Joh 4 , 3 4 ) , so verlangt die Nachfolge Jesu auch jene radikale Form des Gehorsams. Es ist allerdings ein Gehorsam nicht gegenüber Menschen, sondern gegenüber Gott. Er ist nicht Ausdruck von Unmündigkeit, sondern Weg der Mündigkeit, der Befreiung von Unterdrükkung und Bevormundung. Weil auch in seinem eigenen Wollen der Mensch unter dem Gesetz der Sünde steht, bedarf dieses Wollen einer Läuterung. Zeichenhaft soll der Eigensinn abgebaut und das Leben nicht auf Selbstbehauptung, sondern auf die verantwortete Selbsthingabe gegründet werden. Der Gehorsam als Einordnung in eine Ordensgemeinschaft will nicht nur Organisationsprinzip für ein reibungsloses Funktionieren sein, sondern vorrangig Ausdruck der religiösen Ganzhingabe an Christus, Einswerden mit Gottes Willen. Der Vorgesetzte kann nur Mittlerfunktion besitzen. Insofern bleibt in der Ordensgemeinschaft der Einzelne auch weiterhin wie jeder Mensch letztlich dem im eigenen —»Gewissen erkannten Ruf Gottes verpflichtet. Das Leben in einer Ordensgemeinschaft ist nicht Zuflucht für unselbständige Naturen oder Flucht in eine Geborgenheit aus der Last dieses Lebens oder aus der Verantwortung in Familie und Beruf. Es verlangt selbständige Naturen, die nicht alle Verantwortung auf den Oberen und seine Anordnungen abwälzen. 6. Kirche und

Ordensleben

Kirche und Ordensleben stehen heute in einer Krise, werden neu in Frage gestellt. Es geht gerade hier um die Gesamtberufung christlichen Lebens, um die verschiedenen Gnadengaben (—»Charisma), die derselbe Geist eingibt (I Kor 12,4). Die charismatische Berufung zu einem solchen Weg stelltin der Kirche eine Ergänzung des Amtes dar. Amtskirche und Charisma stehen in enger Beziehung zueinander; im Ordensleben wird deutlich, daß die, die sich zu diesem Weg berufen erfahren, nur in seltenen Fällen Träger des kirchlichen Lehramtes waren, dennoch aber den Weg der Kirche wesentlich mit geprägt haben. Wenn Ordensleben als Berufung und Gnadengabe Gottes verstanden wird, kann es als solches nicht einfach überlebt sein, sondern wird vielmehr in der jeweiligen Zeit immer wieder neue Formen fin-

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Constitutum Constantini

den müssen. O r d e n s m ä n n e r u n d O r d e n s f r a u e n wollen „ d u r c h ihr Gelöbnis der Evangelischen R ä t e vor allem einem göttlichen Ruf , a n t w o r t e n ' " (II. V a t i k a n u m , D e k r e t Perfectae Caritatis 5). D a s Leben nach den Evangelischen R ä t e n w i r d auch offiziell von der katholischen Kirche als A u s d r u c k christlicher H o f f n u n g v e r s t a n d e n : „ S o erscheint das Bekenntnis zu den Evangelischen R ä t e n als ein Zeichen, das alle Glieder der Kirche w i r k s a m zur eifrigen Erfüllung der Pflichten ihrer christlichen B e r u f u n g hinziehen k a n n u n d soll. Das Volk G o t t e s h a t ja hier keine bleibende H e i m s t a t t , s o n d e r n s u c h t die z u k ü n f t i g e . Deshalb m a c h t der Ord e n s s t a n d , der seine Glieder von den irdischen Sorgen m e h r befreit, m e h r die himmlischen G ü t e r , die s c h o n in dieser Zeit gegenwärtig sind, auch allen G l ä u b i g e n k u n d , bezeugt das n e u e u n d ewige, in der Erlösung Christi e r w o r b e n e Leben u n d k ü n d i g t die z u k ü n f t i g e Aufers t e h u n g u n d die Herrlichkeit des Himmelreiches a n " (Lumen G e n t i u m 44,3). In den drei Gelübden der A r m u t , J u n g f r ä u l i c h k e i t u n d des G e h o r s a m s versucht der O r d e n s c h r i s t , seinen Verzicht u n w i d e r r u f l i c h als A u s d r u c k einer G a n z h i n g a b e an G o t t zu verwirklichen. Eine solche Bindung läßt sich n u r verstehen aus der Überlegung, d a ß zur menschlichen Reife die Bereitschaft zu einem unbedingten E n g a g e m e n t g e h ö r t ; es k a n n eine Hilfe d a f ü r bedeuten, bei a u f t r e t e n d e n Schwierigkeiten u n d K o n f l i k t e n nicht einfach zu fliehen, s o n d e r n d u r c h z u halten. Auch f ü r Eheleute ist die T r e u e b i n d u n g „bis z u m T o d " A u s d r u c k solcher Bereits c h a f t zur Bindung. Die B i n d u n g d u r c h d a s —»Gelübde bleibt menschlichen Rechtes u n d k a n n unter Ums t ä n d e n d u r c h die A u t o r i t ä t gelöst w e r d e n ; doch sollte sie nicht d u r c h V o r b e h a l t e geschwächt werden. Literatur Die Ev. Räte in der heutigen Welt, hg. v. H. Gehrig, Karlsruhe 1970. - R. Graf, Priesterliche Menschen. Ev. Räte u. Apostolat, Donauwörth 5 1964. - Johannes B. Lötz, Über den Sinn des Ordenslebens: Ev. Räte (s.o.), 1 7 - 4 3 . - J o h a n n e s Baptist Metz, Zeit der Orden? Zur Mystik u. Politik der Nachfolge, Freiburg u.a. 2 1 9 7 7 . - H e l m u t Riedlinger, Die Ev. Räte als Ausdruck christl. Hoffnung: Ev. Räte (s.o.), 5 7 - 6 5 . - Basilea Schlink, Die Ev. Räte u. die Antwort der heutigen Christenheit: ebd. 4 5 - 5 6 . Johannes Gründel Constitutum Constantini 1. Uberlieferung 2. Inhalt 3. Zeit, Ort und Grund der Entstehung 5. Echtheitskritik (Quellen/Literatur S.200)

4. Wirkungsgeschichte

Constitutum Constantini wird bereits in f r ü h e n H a n d s c h r i f t e n eine ü b e r l a n g e gefälschte U r k u n d e g e n a n n t , die angeblich Kaiser —»Konstantin d . G r . d e m Papst Silvester I. ( 3 1 4 - 3 3 5 ) ausgestellt h a t . Sie gibt vor, die Kopie einer Konstantinischen U r k u n d e zu sein u n d besteht aus zwei, nicht selten getrennt überlieferten Teilen: einer Confessio (benannt n a c h dem G l a u b e n s b e k e n n t n i s des eben g e t a u f t e n K o n s t a n t i n ) u n d einer Donatio, in welcher die dem Papst ü b e r t r a g e n e n Rechte a u f g e z ä h l t sind. Diesen U b e r t r a g u n g s a k t h a t der gängige A u s d r u c k „ K o n s t a n t i n i s c h e S c h e n k u n g " im Auge. 1.

Überlieferung

Den handschriftlich ältesten Text bringt nicht (wie man früher meinte) die kurz nach 800 zusammengestellte Formelsammlung von St. Denis im Pariser Codex 2777, der aus dem endenden 9. Jh. stammt, sondern die Sammlung der pseudoisidorischen Dekretalen (—»Pseudoisidor) aus der Mitte des 9. Jh. mit ihren fast gleichzeitigen Handschriften. Paläographisch oder zitatmäßig ältere Zeugnisse für die Existenz des Constitutum Constantini vor 850 gibt es nicht. Dennoch dürfte es nicht in der Werkstatt Pseudoisidors, sondern - wie Spuren einer Vorstufe deutlich zeigen - wesentlich früher entstanden sein. In Papstbriefen taucht es wörtlich 979 zum ersten Mal auf, jedoch lediglich mit der rechtlich uninteressanten Pönformel. 1053 bildet es in einem vom Kardinal —»Humbert von Silva Candida verfaßten Brief—»Leos IX. an die Griechen ein zentrales Argument für den päpstlichen Primat (—»Papsttum). Während in den frühmittelalterlichen Kirchenrechtssammlungen zunächst nur Teile der Confessio aufgenommen wurden, tauchten in der Kanonistik der Reformzeit - z.B. in den Werken Anselms von Lucca und Deusdedits - Exzerpte der Donatio auf, und in dieser Gestalt ist das Constitutum Constantini in das Dekret Gratians als Palea eingereiht worden. Das weitere Mittelalter diskutierte meist nur über den bei —»Gratian angeführten Auszug.

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Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Textstufen herausgebildet. An der Spitze steht der schmal überlieferte sog. fränkische Text, wie wir ihn in der F o r m e l s a m m l u n g von St. Denis fassen; an ihn schließt sich Pseudoisidor an, der für eine weite Verbreitung sorgte, so d a ß Aeneas von Paris 869 schreiben k o n n t e , das Constitutum Constantini befände sich in fast allen Bibliotheken Galliens. Uber Pseudoisidor lief auch nahezu die gesamte weitere Uberlieferung, von der die A u s f o r m u n g bei LeoH u m b e r t und die anschließende kanonistische Version von Anselm-Deusdedit-Gratian die wichtigsten sind. Von besonderer Eigenart ist die für die Kaiserkrönung —»Ottos I. 962 in R o m von dem Kardinaldiakon J o h a n n e s (dem später wegen einer V e r s t ü m m e l u n g der Beiname digitorum mutilus gegeben worden ist) hergestellte Fassung; sie geht in manchen W e n d u n g e n wahrscheinlich auf einen noch vor der fränkischen Version liegenden römischen Text zurück u n d gibt vor, ein Original zu sein: statt der Kopialnotiz Et subscriptio imperialis (Z. 301) trägt sie den auf Konstantin als Aussteller zu beziehenden Vermerk Et propria manu subscribo sie. Z u s a m m e n mit den Kaiserpacta für die römische Kirche - den Schenkungen der deutschen Könige vor der Kaiserkrönung in R o m - ist das Constitutum Constantini den Päpsten bis zum 15. Jh. immer wieder bestätigt w o r d e n .

2. Inhalt In der Confessio (Z. 1 - 1 5 7 ) bekennt der vom Aussatz genesene Konstantin den christlichen Glauben: N a c h d e m ihm zunächst von den kapitolinischen Heidenpriestern der Rat erteilt worden sei, er müsse, um geheilt zu werden, im Blut unschuldiger Kinder baden, hätten die dem Kaiser im T r a u m erschienenen Apostel Petrus und Paulus auf den vor der Christenverfolgung zum Berg Soracte geflohenen Papst Silvester verwiesen, dessen Taufe ihn geheilt habe. In dem anschließenden und für die spätere Diskussion allein wichtigen Schenkungsteil (Z. 157 bis Schluß) wird dem römischen Stuhl der Primat über alle anderen Kirchen und besonders über „die vier vorzüglichen Sitze —»Antiochien, —»Alexandrien, —»Konstantinopel und —»Jerusalem" verliehen. Die „Salvatorkirche am Lateranpalast" solle caput et Vertex omniwn ecclcsiarum in universo orbe [ H a u p t und Spitze aller Kirchen in der ganzen Welt] (Z. 194) sein. Konstantins Besitz in Iudaea, Graecia, Asia, Thracia, Africa et Italia vel diversis insulis (Z. 2 0 5 f) werde der Verfügungsgewalt des Papstes Silvester und seiner Nachfolger unterstellt, denen auch der erste Palast des Erdkreises, der Lateranpalast, übergeben wird. Konstantin verleiht Silvester kaiserliche Abzeichen, so das Diadem, das Frygium (die Paradehaube), den Purpurmantel, die Purpurtunica, die kaiserlichen Zepter und „den ganzen feierlichen Aufzug kaiserlicher H o h e i t " ( o m n e m processionem imperialis culminis [Z. 226f]). Die römischen Kleriker erhalten Senatorenrang und können Patrizier und Konsuln werden und zu allen dignitates imperiales aufsteigen. Sie werden in ihrem äußerlichen Aufzug mit verschiedenen Ehrenzeichen geschmückt, vor allem solchen, wie der Senat sie trägt. Dem Papst allein wird das Recht zugestanden, Senatoren zu Klerikern zu weihen. Da Silvester es abgelehnt habe, über der corona clericatus (Tonsur [Z. 254]) seine (d.h. Konstantins) Krone zu tragen, hat Konstantin ihm eigenhändig das Frygium aufgesetzt und als Zeichen der Ehrfurcht vor dem seligen Petrus dem Papst den „Stratordienst" erwiesen, d. h. nach der Art eines Stallknechts das Pferd des Papstes ein Stück des Weges am Zügel geführt. Konstantin überläßt „ M a c h t und Befehl" dem Papst und seinen Nachfolgern über die Stadt R o m et omnes Italiae seu occidentalium regionum provincias, loca et civitates [und alle Provinzen, Räumlichkeiten und Städte Italiens und des Westens] (Z. 2 6 4 f). Der Kaiser verlegt seine Residenz nach —»Byzanz und sieht vor, daß „ a n einem vortrefflichen O r t " seinem N a m e n eine Stadt ( = Konstantinopel) gebaut werde, denn es zieme sich nicht, d a ß ein irdischer Kaiser dort herrsche, w o vor dem himmlichen Kaiser der priesterliche Vorrang und das H a u p t der christlichen Religion begründet worden seien. Schließlich legt Konstantin alle seine Nachfolger auf die Einhaltung dieses Privilegs fest und deponiert die Schenkungsurkunde auf dem G r a b des seligen Petrus. 3. Zeit, Ort und Grund der

Entstehung

Auszugehen ist von der Tatsache, daß das Constitutum Constantini vor 850 - d.h. vor den im Westfrankenreich hergestellten pseudoisidorischen Dekretalen — entstanden sein m u ß . Von extremen Thesen abgesehen, konzentrieren sich die Vorschläge auf die Periode von der Mitte des 8. Jh. bis zur Mitte des 9. Jh., wobei die Fälschungsprozedur verschieden

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beurteilt wird: indem es entweder durch stufenweise Anreicherung (zuletzt W. Gericke) oder sofort als Gesamttext entstanden sein soll; als Entstehungsort wird in letzter Zeit im allgemeinen Rom, manchmal noch präziser die päpstliche Kanzlei, der Klerus der Lateranbasilika oder das Kloster Sta. Anastasia in Rom angenommen, jedoch zuweilen auch ein westfränkischer Ursprung nicht ausgeschlossen. Die in der Fälschung verwendeten Vorlagen lassen einen zwingenden Schluß auf Ort und Zeit der Entstehung nicht zu. Um einige der vielfältigen Quellen des Constitutum Constantini zu nennen: Die Invokation (Z. 1—2) ist zumindest teilweise in Ubereinstimmung mit nichtdiplomatischen Vorbildern des 8. Jh. aufgesetzt, die Intitulatio Konstantins (Z. 2 - 6 ) einer byzantinischen Kaiserurkunde aus der Zeit nach —»Justinian I. bis 629, bis in die Regierungszeit Heraklius' I. ( 6 1 0 - 6 4 1 ) , entnommen; die Kopistennotiz Et subscriptio imperialis im Eschatokoll (Z. 301), die den Gruß des Kaisers ankündigt, entspricht diplomatischem Brauch Ostroms ebenso wie der Gruß selbst (Divinitas vos conservet usw. Z. 3 0 2 - 3 0 3 ) , der sich in der zweiten Hälfte des 7. Jh. nachweisen läßt. In der Confessio hat der Fälscher die Silvesterlegende in mindestens zwei Versionen benutzt, außerdem einen Brief Papst —»Leos I. aus dem Jahre 4 4 9 (Ph. Jaffe/F. Kaltenbrunner, Regesta Pontificum Romanorum, Nr. 423), das —»Nicäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis kombiniert mit zwei wohl aus spanischen luziferianischen Kreisen kommenden Glaubensbekenntnissen (Nos patrem und die anonyme Formel De Fide Nicena); hinzu treten Ubernahmen aus dem Liber Apotheosis des —»Prudentius, aus der Vulgata und aus liturgischen Texten. Die Donatio ist unabhängiger von Vorlagen gestaltet, auch wenn Vokabular und manche Passagen formelhaften Charakter besitzen: Hier lehnt sich der Text an Ordines, Zeremonienbücher und päpstliche Formeln an, wie überhaupt manche Wendungen an die Kanzleisprache der zweiten Hälfte des 8. Jh. erinnern. Die Datumsformel am Ende dürfte von der Silvesterlegende angeregt sein.

Es ist bislang auch nicht gelungen, Entstehungszeit und -ort durch Aufzeigen überzeugender Entsprechungen und Abhängigkeiten zu bestimmen. König —»Pippin hat Papst Stephan II. (752—757) am Epiphaniastag 754 in Ponthion den Stratordienst erwiesen, in Quierzy Ostern 754 reichliche Schenkungsversprechen für die römische Kirche abgegeben, und —»Karl d. Gr. ist von den Päpsten als „neuer Konstantin" gefeiert und immer wieder zur Erfüllung des von ihm 774 erneuerten Schenkungsversprechens seines Vaters gedrängt worden: Dennoch ist ein Zusammenhang, der das Constitutum Constantini als Folge oder als Voraussetzung erscheinen ließe, nicht mit Sicherheit nachgewiesen worden. Ähnlich ungewiß ist, ob die Übertragung der kaiserlichen Insignien an den Papst, wie sie im Constitutum Constantini beschrieben ist, eine imperiale Autarkie des Bischofs von Rom begründen oder eine Voraussetzung schaffen sollte für eine vom Papst wahrzunehmende translatio imperii. Manches spricht für die Vermutung, daß Papst —»Hadrian I. 778, als er Karl d. Gr. das Beispiel Konstantins vor Augen hielt, „durch dessen Schenkung die römische Kirche erhoben worden ist", an das Constitutum Constantini gedacht hat (Ph. Jaffe/P. Ewald, Regesta Pontificum Romanorum, Nr. 2423), denn der Schenkungsvorgang ist Bestandteil des Constitutum Constantini, während er in der Tradition der Silvesterlegende noch fehlt. Wahrscheinlich die Silvesterlegende, nicht das Constitutum Constantini, ist in dem umfangreichen Schreiben Hadrians I. an Kaiserin Irene und an deren Sohn Konstantin vom Jahre 785 aufgenommen worden (Ph. Jaffe/P. Ewald, Regesta Pontificum Romanorum, Nr. 2448). Ohne Evidenz ist auch der ideengeschichtliche Lösungsversuch, den W. Ohnsorge mehrfach und modifiziert vorgetragen hat. Sein letzter Vorschlag lautet: Als Begründung einer „kurialen Kaiseridee" sei unter Beteiligung Papst Leos III. ( 7 9 5 - 8 1 6 ) , dessen Vater mit dem Namen Atzupius den Griechen erkennen lasse, ein Konzept in griechischer Sprache aufgesetzt worden; ein „im Romdenken verankerter Falsifikator" habe dann dieses Konzept ins Lateinische übertragen und zum vollständigen Constitutum fränkischer Überlieferung erweitert. Während das griechische Konzept im päpstlichen Archiv verschwunden sei, bis es 1053 im Brief Leos IX. — Humberts von Silva Candida lateinisch übersetzt verwendet worden wäre, habe Leo III. das lateinische Constitutum Constantini seinen Verhandlungen mit Karl d. Gr. 804 zugrunde gelegt. Ohnsorge geht von der Prämisse aus, „daß das Constitutum] C[onstantini] zwei reale Kaiserkronen voraussetzt, diejenige, die Konstantin dem Papst überläßt, und diejenige, die er selbst mit nach Byzanz nimmt. Das wiederum setzt die Existenz des Doppelkaisertums [d.h. das Kaisertum Karls d. Gr. vom Jahre 800 und das oströmische Kaisertum] voraus" (Ohnsorge, Schenkung 83). Aber bereits die Existenz einer vom Papst-

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tum entwickelten „kurialen Kaiseridee" ist mit guten Gründen bezweifelt worden. Wertvoll bleibt die Entdeckung W. Schlesingers, daß in einer für den Papst bestimmten Fassung der Divisio regnorum von 806 - Karls d. Gr. Gesetz über die Teilung des Reiches unter seine drei Söhne Karl, Pippin und Ludwig—die Intitulatio Karls der Konstantins im Constitutum Constantini nachgebildet sein könnte, auch wenn sich andere Vorbilder nicht ausschließen lassen. Vorschläge für eine spätere Datierung - 816 in Verbindung mit der päpstlichen Krönung Ludwigs des Frommen in Reims (M. Buchner; E. Eichmann); Entstehung in St. Denis nach 840 (H. Grauert) oder um 850 im Zusammenhang mit den pseudoisidorischen Dekretalen (C. Silva-Tarouca; S. Williams) - sind auf Ablehnung gestoßen. Die meisten Befürworter hat der Vorschlag P. Scheffer-Boichorsts gefunden, weniger von inhaltlichen Elementen als von der Textqualität des Constitutum Constantini auszugehen. Ein Vergleich sprachlicher Eigentümlichkeiten und des Wortschatzes in den Papstbriefen und im Constitutum Constantini hat ergeben, daß die meisten Entsprechungen im dritten Viertel des 8. Jh. begegnen. Von P. Scheffer-Boichorst stammt auch der Gedanke, im Constitutum Constantini einen Beleg für den damals aufblühenden Konstantin- und Silvesterkult zu sehen, nicht ein kirchenpolitisches Dokument, dessen Spuren in der Auseinandersetzung zwischen Papst und fränkischem Herrscher einwandfrei nicht auszumachen sind. Der historisch-legendäre Charakter ist in letzter Zeit stärker in den Vordergrund gerückt worden. 4.

Wirkungsgeschichte

Die Behauptung, daß das Constitutum Constantini die „ M a g n a Charta aller Ansprüche des Papsttums" darstelle - so z. B. der altkatholische Papsthistoriker J. Langen (434) — überschätzt den Einfluß der Fälschung maßlos. Bei den Päpsten der Karolingerzeit lassen sich bestenfalls Spuren der Existenz des Constitutum Constantini feststellen — etwa bei Hadrian I., —»Nikolaus I. und Johannes VIII. ( 8 7 2 - 8 8 2 ) - , doch kein Argument der Fälschung spielte eine herausragende Rolle. Daß es im 10. Jh. in der päpstlichen Kanzlei zur Verwendung bereit lag, zeigen die Umstände der Kaiserkrönung von 962 und die eingerückte Pönformel des Constitutum Constantini im Schreiben Benedikts VII. (979); mehr als vage Anspielungen lassen sich in Papstbriefen bis zur energischen Rezeption durch Humbert-Leo IX. (1053) nicht ausmachen. In der Folgezeit finden sich päpstliche Hinweise auf das Constitutum Constantini häufiger: —»Gregor VII. legte es 1081 einem Treueidformular für den Gegenkönig Herman von Salm zugrunde, und —»Urban II., Hadrian IV. ( 1 1 5 4 - 1 1 5 9 ) , —»Innozenz III., —»Gregor IX. haben territoriale Forderungen mit dem Constitutum Constantini begründet. Zugleich wurde es als ein Beleg päpstlichen Weltherrschaftsanrechts aufgefaßt. Dennoch ist die vorsichtige Zurückhaltung der Päpste bei der Benutzung auffällig; sie dürfte sich aus der gefährlichen Ambivalenz des Constitutum Constantini erklären: Der päpstliche Primat konnte als Geschenk eines römischen Kaisers erscheinen, nicht als eine Stiftung des Herrn. Von mehreren Päpsten ist das Constitutum Constantini deshalb lediglich als ergänzendes Zeugnis ausgelegt worden, als Bestätigung oder Wiederherstellung gottgewollter Ordnung, und —»Innozenz IV. leitete sogar die Existenz des christlichen Staates von der Konstantinischen Schenkung ab: Konstantin habe der usurpierten Tyrannis entsagt, um nach Anweisungen des Petrusnachfolgers die irdische M a c h t auszuüben. Eine zentrale Bedeutung innerhalb der Rezeptionsgeschichte k o m m t den Schriften des —»Investiturstreits zu. Parallel zur Ausformung des für die Z u k u n f t wichtigsten kanonistischen Textes, wie er von Gratian übernommen wurde, fand eine lebhafte Diskussion über Folgen und Bedeutung des Constitutum Constantini statt, an der sich z. B. —»Petrus Damiani (ca. 1060), H u g o von Fleury (ca. 1105), Gregor von Catino (1105), der Farfenser Autor der Schrift Orthodoxa defensio imperialis (ca. 1111), Placidus von Nonantola (ca. 1111), H u g o Metellus (ca. 1120) und —»Gerhoch von Reichersberg (ca. 1150) beteiligten und für die das Constitutum Constantini auch separat abgeschrieben und verschickt worden ist. In der politischen Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser wurde das Constitutum Constantini bei Lothar III. (1130) und —»Friedrich I. (1155) bedeutsam, die in Anerkennung des Consti-

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tutum Constantini dem Papst den Stratordienst leisteten und somit in lehnsrechtlicher Abhängigkeit vom Papsttum erscheinen konnten (—»Kaisertum und Papsttum). Eine besonders lebhafte Auseinandersetzung über den Wert und die Anerkennung des Constitutum Constantini entbrannte im 14. Jh. (—»Augustinus Triumphus, —»Marsilius von Padua, Wilhelm —»Ockham) und spitzte sich während des großen abendländischen Schismas und der anschließenden Reformkonzilien zu (—»Wyclif, —»Heinrich Heimbuche von Langenstein, Johannes —»Gerson, Dietrich von Nieheim): Ob die ursprünglich arme und reine Kirche nicht durch das verderbliche Constitutum Constantini ihrer Heilsaufgabe untreu geworden sei oder ob nicht die Kardinäle, denen das Constitutum Constantini senatorischen Rang zugesprochen habe, die kirchliche Stabilität bedeuteten. Von Profanjuristen wurde die Frage gestellt, ob Konstantin, der entsprechend dem Wesen eines Augustus „ein Mehrer des Reiches" hätte sein müssen, als „Minderer" überhaupt hätte auftreten können, indem er Papst Silvester Reichsteile schenkte. 5.

Echtheitskritik

Vom 10. Jh. an wurden immer wieder Vorbehalte gegenüber dem Constitutum Constantini vorgebracht, aber sie betrafen eher die Frage der Gültigkeit, nicht die der Echtheit. Als Lügengebilde lehnte —»Otto III. in seiner berühmten Urkunde D O III, Nr. 389 vom Jahre 1001 das Constitutum Constantini in der von Kardinal Johannes digitorum mutilus verfälschten Form ab; Anhänger —»Arnolds von Brescia erklärten 1152 das Constitutum Constantini für eine „Lüge" und eine „Ketzerfabel", und hauptsächlich außerhalb der offiziellen Kirche wurde das Constitutum Constantini als Dokument des —»Antichrist angesehen, der die wahre Kirche mit seinem „Gift" vom Wege des Heils habe wegführen wollen. Die formale Unechtheit hat —* Nikolaus von Kues erkannt und in seiner Reformschrift De concordantia catholica von 1433 dargelegt, ohne aus dem Befund irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Als großer kritischer Durchbruch gilt Laurentius —»Vallas wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Florentiner Konzil entstandene Schrift De falso eredita et ementita Constantini donatione vom Jahre 1440. Vallas hauptsächlich mit philologischen Argumenten geführter Nachweis fand zunächst kaum Beachtung, so daß Reginald Pecock, Bischof von St. Asaph und später von Chichester, 1449 unbeeinflußt von Valla eine Zurückweisung des Constitutum Constantini in seinem Repressor of over much blaming of the clergy formulieren konnte. Alle diese Versuche, die Unechtheit des Constitutum Constantini nachzuweisen, hatten zu ihrer Zeit keine große Wirkung. Erst als —»Hutten Vallas Schrift, deren erster Druck von 1506 nahezu unbekannt geblieben war, in zwei Auflagen kurz hintereinander, 1518 und 1519, verbreitete und —»Luther sich durch Valla in seiner Uberzeugung bestätigt glaubte, der Papst verkörpere den in der Bibel vorhergesagten und durch Lügen - wie das Constitutum Constantini - zur Macht kommenden Antichrist, setzte eine heftige, konfessionell gefärbte Echtheitsdiskussion ein. Für die Haltung der katholischen Kirche wurde Caesar Baronius' Urteil in seinen Annales ecclesiastici ad a. 324 (1592) wichtig: Zwar habe es eine Schenkung Konstantins an Silvester und die römische Kirche gegeben, doch sei das Constitutum Constantini in der überlieferten Gestalt eine Fälschung, angefertigt von den Griechen, und eine griechische Urkunde stehe an der Spitze der Textgeschichte. Erst —»Döllinger ( 1863) hat Baronius' Behauptungen endgültig als haltlos erwiesen. Quellen Letzte krit. Ausg.: Das Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung). Text, hg. v. Horst Fuhrmann, 1968 (MGH.F 10) [vgl. dazu Enzo Petrucci: StMed 3.Ser. 13 (1972) 8 6 1 - 8 7 0 ] .

Literatur Zu 1.: Roberto Cessi, Il Costituto di Costantino (il testo): AIVS.M 88,2 (1928/29) 9 1 5 - 1 0 0 7 . Ders., 11 Costituto di Costantino: RSIt 48 (1930) 1 5 5 - 1 7 6 . - P i o Ciprotti (Hg.), Il Constitutum Constantini, Milano 1966 (Università degli studi di Camerino. Istituto giuridico. Testi per esercitazioni Sez. 5, 1). - Horst Fuhrmann, Konstantinische Schenkung u. abendländisches Kaisertum: DA 22 (1966)

Constitutum Constantiiii

201

6 3 - 1 7 8 . - Ders., Einfluß u. Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit, II 1973 (SMGH 2 4 , 2 ) 3 5 4 - 4 0 7 . - Adelheid Hahn, Das Hludowicianum. Die Urkunde Ludwigs d. Fr. für die röm. Kirche v. 817: ADipl 21 (1975) 1 5 - 1 3 5 . - Henning Hoesch, Die kanonischen Quellen im Werk Humberts v. Moyenmoutier, Köln/Wien 1970 (FKRG 10). - Wilhelm Levison, Das Formularbuch v. St. Denis: NA 41 (1919) 2 8 3 - 3 0 4 . - R.-J. Loenertz, En marge du Constitutum Constantini. Contribution à l'histoire du texte: RSPhTh 59 (1975) 2 8 9 - 2 9 4 . - Johanna Petersmann, Die kanonistische Überlieferung des Constitutum Constantini bis zum Dekret Gratians. Unters, u. Ed.: DA 30 (1974) 3 5 6 - 4 4 9 . - Enzo Petrucci, I rapporti tra le redazioni latine e greche del Costituto di Costantino: BISI 74 (1962) 4 5 - 1 6 0 . - Ders., Rapporti di Leone IX con Costantinopoli: StMed 3. Ser. 14 (1973) 7 3 3 - 8 3 1 . - Carlo Silva-Tarouca, Un codice di Pseudo-Isidoro coevo del falso?: Miscellanea Isidoriana. Homenaje a S. Isidoro de Sevilla, Rom 1936, 3 5 7 - 3 6 3 . - Schäfer Williams, The OldestText of the Constitutum Constantini': Tr. 20 (1964) 4 4 8 - 4 6 1 . - Karl Zeumer, Die Constantinische Schenkungsurkunde II. Der älteste Text: FG für Rudolf v. Gneist, Berlin 1888, 3 7 - 6 0 . Zu 2.: Heinrich Böhmer, Art. Konstantinische Schenkung: RE 3 11 (1902) 1 - 7. - Pietro De Leo, Ricerche sui falsi medioevali. I. Il Constitutum Constantini: compilazione agiografica del sec. Vili, Reggio Calabria 1974 (Università degli Studi della Calabria. Dipartimento di storia. Studi e documenti 1) [vgl. dazu Agostino Marchetto: RSCI 31 (1977) 5 3 8 - 5 4 2 ] . - Johannes Joseph Ignaz v. Döllinger, Die Papst-Fabeln des MA, 2. Aufl. mit Anm. hg. v. J. Friedrich, Stuttgart 1890, 7 2 - 1 2 5 . - Ernst Hartwig Kantorowicz, Constantinus Strator. Marginalien zum Constitutum Constantini: Mullus. FS Theodor Klauser, 1 9 6 4 , 1 8 1 - 1 8 9 (JAC. E 1). - JörgTraeger, Der reitende Papst. EinBeitr. zur Ikonographie des Papsttums, München/Zürich 1970 (Münchener kunsthist. Abh. 1). Zu 3.: Hans-Georg Beck, Die Herkunft des Papstes Leo III.: F M S t 3 (1969) 1 3 1 - 1 3 7 . - Hans Belting, Die beiden Palastaulen Leos III. im Lateran u. die Entstehung einer päpstlichen Programmkunst: FMSt 12 (1978) 5 5 - 8 4 . - Max Buchner, Rom oder Reims die Heimat des Constitutum Constantini?: HJ 53 (1933) 1 3 7 - 1 6 8 . - E r i c h Caspar, Das Papsttum unter fränkischer Herrschaft: Z K G 5 4 ( 1 9 3 5 ) 1 3 2 - 2 6 4 = Darmstadt 1956. - Peter Classen, Karl d. Gr., das Papsttum u. Byzanz, Düsseldorf 1 9 6 8 . Eduard Eichmann, Die Kaiserkrönung im Abendland, 2 Bde., Würzburg 1942. - Eugen Ewig, Das Bild Constantins d. Gi. in den ersten Jahrhunderten des abendländischen MA: Das byz. Herrschcrbild, hg. v. Herbert Hunger, 1975 (WdF 341) 1 3 3 - 1 9 2 . - Wolfgang H. Fritze, Papst u. Frankenkönig. Stud. zu den päpstlich-fränkischen Rechtsbeziehungen v. 754 bis 824, Sigmaringen 1973 (Vortr. u. Forschungen, Sonderbd. 10). - Horst Fuhrmann, Konstantinische Schenkung u. Silvesterlegende in neuer Sicht: DA 15 (1959) 5 2 3 - 5 4 0 . - Ders., Das frühma. Papsttum u. die Konstantinische Schenkung: SSAM 20 (1973) 2 5 7 - 2 9 2 . - A . Gaudenzi, Il Costituto di Costantino: BISI 39 (1919) 9 - 1 1 2 . - W o l f g a n g Gerikke, Wann entstand die Konstantinische Schenkung?: ZSRG.K 43 (1957) 1 - 8 8 . - Ders., Das Constitutum Constantini u. die Silvester-Legende: ZSRG.K 44 (1958) 3 4 3 - 3 5 0 . - Ders., Das Glaubensbekenntnis der „Konstantinischen Schenkung": ZSRG.K 47 (1961) 1 - 7 6 . - Ders., Konstantinische Schenkung u. Silvesterlegende in neuer Sicht. Entgegnung und Weiterführung: ZSRG.K 47 (1961) 2 9 3 - 3 0 4 . - Hermann Grauert, Die Konstantinische Schenkung: HJ 3 (1882) 3 - 3 0 ; 4 (1883) 4 5 - 9 5 . 5 2 5 - 6 1 7 . 6 7 4 - 6 8 0 ; 5 (1884) 1 1 7 - 120. - Nicolas Huyghebaert, La Donation de Constantin ramenée à ses véritables dimensions: RHE 71 (1976) 4 5 - 6 9 . - Wilhelm Levison, Konstantinische Schenkung u. Silvester-Legende: ders., Aus rheinischer u. fränkischer Frühzeit. Ausgew. Aufs., Düsseldorf 1948, 3 9 0 - 4 6 5 . - Ders., Kirchenrechtliches in den Actus Silvestri: ebd., 4 6 6 - 4 7 3 . - Amnon Linder, The Myth of Constantine the Great in the West. Sources and Hagiographie Commémoration: StMed 3. Ser. 16 (1975) 4 3 - 9 5 . - R.-J. Loenertz, Constitutum Constantini. Destination, destinaires, auteur, date: Aevum 48 (1974) 1 9 9 - 2 4 5 . - Ders., Actus Sylvestri. Genèse d'une légende: RHE 70 (1975) 4 2 6 - 4 3 9 . - Ders., Le Constitutum Constantini et la basilique du Latran: ByZ 69 (1976) 4 0 6 - 4 1 0 . - Werner Ohnsorge, Die Konstantinische Schenkung, Leo III. u. die Anfänge der kurialen röm. Kaiseridee: ders., Abendland u. Byzanz. GAufs. zur Gesch. der byz.-abendländischen Beziehungen u. des Kaisertums, Darmstadt 1958, 7 9 - 1 1 0 . - Ders., Das Kaisertum der Eirene u. die Kaiserkrönung Karls d. Gr.: Das byz. Herrscherbild (s.o. Z. 28f), 2 8 1 - 3 3 2 . - Ders., Das Constitutum Constantini u. seine Entstehung: ders., Konstantinopel u. der Okzident, Darmstadt 1966, 9 3 - 1 6 2 . - Ders., Zur Frage der griech. Abstammung des Papstes Leo III.: DA 23 (1967) 1 8 8 - 1 9 0 . - D e r s . , Zur Disposino des Constitutum Constantini in den Codd. Vat. Graec. 81 und 1115 : ByZ 61 ( 1968) 2 7 7 - 284. - Ders., Die Heirat Kaiser Ottos II. mit der Byzantinerin Theophano (972): Braunschweigisches Jb. 54 (1973) 2 3 - 6 0 . - D e r s . , Neue Beobachtungen zum Kaisertitel Karls d. Gr.: ADipl21 (1975) 1 - 1 4 . - G e r h a r d Rösch, ONOMA BAIIAEIAS. Stud. zum offiziellen Gebrauch der Kaisertitel in spätantiker u. frühbyz. Zeit, Wien 1978 (Byzantina Vindobonensia 10). - Paul Scheffer-Boichorst, Neuere Forschungen über die konstantinische Schenkung: ders., GS, 11903 (HS 42) 1 - 6 2 . - Walter Schlesinger, Kaisertum u. Reichsteilung. Zur Divisio regnorum v. 806: ders., Beitr. zur dt. Verfassungsgesch. des MA, Göttingen, I 1963, 1 9 3 - 2 3 2 = Zum Kaisertum Karls d. Gr., hg. v. Gunther Wolf, 1972 (WdF 38) 1 1 6 - 1 7 3 [vgl. dazu Ludwig Falkenstein, Der ,Lateran' der karolingischen Pfalz zu Aachen, 1966 (KHAb 13) 78—81]. Ders., Beobachtungen zur Gesch. u. Gestalt der Aachener Pfalz in der Zeit Karls d. Gr.: Zum Kaisertum

202

Con tanni

(s.o. 2 0 1 , 6 0 ) , 3 8 4 - 4 3 4 . - Wolfgang Stürner, Die Quellen des Eides Konstantins im Constitutum Constantini ( S S 3 - 5 ) : Z S R G . K 5 5 ( 1 9 6 9 ) 6 4 - 2 0 6 . - W a l t e r Ullmann, Art. Donation of C o n s t a t i n e : N C E 3 ( 1 9 6 7 ) 1 0 0 0 f . - L u i t p o l d Wallach, DiplomatieStudies in Latin and Greek Documents from the Carolingian Age, Ithaka/London 1 9 7 7 . - Eine Uberlieferungsgesch. u. eine Ed. der sog. Silvesterlegende wird vorbereitet von Wilhelm Pohlkamp (Münster/W.), vgl. die Ankündigung in F M S t 11 ( 1 9 7 7 ) 5 1 7 ; im CPL 4 9 9 Nr. 2 2 3 5 wird gleichfalls eine neue Ausg. der Actus Silvestri durch S. de Vaere in Aussicht gestellt. Zu 4.: Helmut Boese, Die Konstantinische Schenkung in den Verhandlungen des Florentiner Konzils: DA 21 ( 1 9 6 5 ) 5 7 6 - 5 9 2 . - Horst Fuhrmann, Ein in Briefform verschicktes Constitutum Constantini aus der Zeit des Investiturstreits: FS Heinz Löwe, Köln 1 9 7 8 , 3 4 6 - 3 5 5 . - G e r h a r d Laehr, Die Konstantinische Schenkung in der abendländischen Lit. des M A bis zur Mitte des 14. Jh., 1 9 2 6 (HS 166). Ders., Die Konstantinische Schenkung in der abendländischen Lit. des ausgehenden M A : Q F I A B 23 ( 1 9 3 1 / 3 2 ) 1 2 0 - 1 8 1 . - Joseph Langen, Entstehung u. Tendenz der konstantinischen Schenkungsurkunde: H Z 5 0 ( 1 8 8 3 ) 4 1 3 - 4 3 5 . - Domenico Maffei, La Donazione di Costantino nei giuristi medievali, Mailand 1 9 6 4 [vgl. dazu Charles Lefebre: T R G 3 6 ( 1 9 6 8 ) 5 8 0 - 5 8 4 ] , - Giuseppe Martini, Traslazione dell'Impero e donazione di Costantino nel pensiero e nella politica d'Innocenzo III: ASRSP 5 6 / 5 7 ( 1 9 3 3 / 3 4 ) 2 1 9 - 3 6 2 . - Louis B. Pascoe, Gerson and the Donation of Constantine. Growth and Development within the Church: Viator 5 ( 1 9 7 4 ) 4 6 9 - 4 8 5 . - Johannes Sägmüller, Die Konstantinische Schenkung im Investiturstreit: T h Q 8 4 ( 1 9 0 2 ) 8 9 - 1 1 0 . - A. Schönegger, Die kirchenpolitische Bedeutung des „Constitutum Constantini" im früheren M A (bis zum Decretum Gratiani): Z K T h 4 2 ( 1 9 1 8 ) 3 2 6 - 3 7 1 . 5 4 1 - 5 9 0 . - J . L . Wieczynski, The Donation of Constantine in Medieval Russia: C H R 5 5 (1969/70) 1 5 9 - 1 7 2 . Zu 5.: Giovanni Gönnet, La Donazione di Costantino presso gli eretici medioevali: BSSV 132 ( 1 9 7 2 ) 1 7 - 2 9 . - Percy Ernst Schramm, Kaiser, R o m u. Renovatio. Stud. zur Gesch. des röm. Erneuerungsgedankens vom Ende des karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit, 1 9 2 9 (SBW 17). — Wolfram Setz, Lorenzo Vallas Schrift gegen die Konstantinische Schenkung. De falso eredita et ementita Constantini donatione, 1 9 7 5 ( B D H I R 4 4 ) . - Lorenzo Valla, De falso eredita et ementita Constantini donatione, hg. v. Wolfram Setz, 1 9 7 6 ( M G H . Q G 10). Horst Fuhrmann

C o n s u e t u d i n e s —»Ordenswesen C o n t a r i n i , Gasparo 1. Leben

und

1.1. Jugend,

(1483-1542) Werk

Studium

und Tätigkeit

im Dienste

Venedigs.

Gasparo Contarini entstammt

einer alteingesessenen v e n e t i a n i s c h e n Patrizierfamilie. A m 1 6 . O k t o b e r 1 4 8 3 als ältester S o h n des K a u f m a n n s Luigi u n d seiner G a t t i n Polissena M a l i p i e r i in V e n e d i g g e b o r e n , lernte er L a t e i n bei a n g e s e h e n e n H u m a n i s t e n u n d b e z o g 1 5 0 1 die U n i v e r s i t ä t P a d u a . D o r t studierte er Philosophie u n d w u r d e v o r allem v o m A r i s t o t e l i s m u s (—»Aristoteles/Aristotelism u s ) g e p r ä g t . Seine L e h r e r w a r e n A l e s s a n d r o Achillini u n d P i e t r o P o m p o n a z z i . E r interessierte sich a b e r a u c h für M a t h e m a t i k u n d A s t r o n o m i e . W ä h r e n d dieser Studienzeit s c h l o ß sich C o n t a r i n i einem F r e u n d e s k r e i s G l e i c h g e s i n n t e r a n , die sich u m eine religiöse V e r t i e f u n g b e m ü h t e n ; unter ihnen w a r e n T o m m a s o Giustiniani u n d V i n c e n z o Quirini. 1 5 1 0 / 1 1 t r a t e n diese beiden u n d ein weiteres M i t g l i e d des F r e u n d e s k r e i s e s in das strenge, e r e m i t i s c h gep r ä g t e K l o s t e r C a m a l d o l i ein. C o n t a r i n i w u r d e v o n der F r a g e b e d r ä n g t , o b er denselben Schritt vollziehen sollte. In seinen inneren Z w e i f e l n h a t t e er a m K a r s a m s t a g 1 5 1 1

ein

„ T u r m e r l e b n i s " (vgl. J e d i n , „ T u r m e r l e b n i s " ) . Bei seiner O s t e r b e i c h t e e r k a n n t e er, d a ß keine m e n s c h l i c h e B u ß l e i s t u n g den Z u g a n g z u m Heil eröffne, s o n d e r n nur d a s g e n u g t u e n d e Leiden Christi. W a s v o m M e n s c h e n e r w a r t e t wird, ist nur der G l a u b e , die H o f f n u n g u n d ein A n f a n g der Liebe. C o n t a r i n i g e w a n n Sicherheit, d a ß er sein Heil in der W e l t finden k ö n n e u n d d a ß seine B e s t i m m u n g n i c h t d a s K l o s t e r sei. Seelische E r s c h ü t t e r u n g e n der folgenden J a h r e v e r d i c h t e t e n bei i h m diese E r k e n n t n i s . N a c h s e i n e m W e g g a n g v o n P a d u a w i d m e t e er sich in s t ä r k e r e m M a ß a u c h t h e o l o g i s c h e n Studien, n ä m l i c h der H l . Schrift, d e n V ä t e r n und d e n s c h o l a s t i s c h e n T h e o l o g e n . B a l d folgten erste literarische Erzeugnisse. I m S o m m e r 1 5 1 6 v e r f a ß t e C o n t a r i n i für seinen z u m B i s c h o f v o n B e r g a m o e r h o b e n e n F r e u n d P i e t r o L i p p o -

Contarini

203

mani einen Bischofsspiegel: De officio episcopi (Op. 4 0 1 - 4 3 1 ) . Gegen das Buch seines ehemaligen Lehrers Pietro Pomponazzi, De immortalitate animae, richtete Contarini Ende 1516 oder Anfang 1517 eine Schrift, die denselben Titel trägt und in Ablehnung der Thesen des Meisters der Philosophie die Möglichkeit zusprach, die Unsterblichkeit der Seele nachzuweisen (Op. 1 7 7 - 2 3 1 ) . Nach vergeblichen Bewerbungen um verschiedene Ämter wurde Contarini im Jahre 1518 Mitglied der Schuldentilgungskommission seiner Heimatstadt und übernahm im März 1521 die Stellung eines venetianischen Gesandten am Hofe Kaiser —»Karls V. Im April 1521 kam er nach Worms, wo sich der Reichstag mit der Angelegenheit Luthers befaßte (—»Reichstage der Reformationszeit). Contarini hat Luther in Worms weder gesprochen noch gesehen. Was er aber über dessen Lehrmeinungen und Charakter durch Kardinal Schiner und andere vernahm, machte keinen günstigen Eindruck auf ihn. Auch während seiner Gesandtschaft fand Contarini Zeit zu schriftstellerischer Tätigkeit. Er verfaßte damals die Schrift Primae philosophiae compendium (Op. 9 1 - 1 7 6 ) . Am 19. März 1525 wurde er zum Capitaneo von Brescia ernannt, erkrankte jedoch im folgenden Jahre und sah sich gezwungen, auf das Amt zu verzichten. Im Jahre 1528 ging er als Orator der Republik an den Hof Papst —»Clemens' VII. 1530 kehrte Contarini nach Venedig zurück und bekleidete dort in den folgenden Jahren verschiedene Ämter. In dieser Zeit verfaßte er die Confutatio articulorum seu quaestionum Lutheranorum (CCath 7, 1—22), indem er der Bitte eines Freundes nachkam, ihn über die Lehren Luthers zu unterrichten, sowie die Abhandlung De potestate Pontificis (ebd. 35—43), die eine erregte Senatsdebatte in Venedig, ob der Primat des Papstes göttlichen oder menschlichen Rechtes sei, zum Anlaß hatte, und die Schrift De magistratibus et republica Venetorum, in der er den Organismus des venetianischen Staatswesens beschreibt (Op. 259-326). 1.2. Kardinal der Römischen Kirche. Am 21. Mai 1535 wurde Contarini als Laie von Papst —»Paul III. zum Kardinal kreiert. —»Paul III. suchte während seines Pontifikates neben anderen Maßnahmen durch die Verleihung des Purpurs an eine Reihe von reformeifrigen Persönlichkeiten der kirchlichen Erneuerung an der Kurie Eingang zu verschaffen. Contarini wurde bald zu einer der Schlüsselfiguren der römischen Reformbestrebungen jener Jahre. Er war das Haupt einer Kommission, die Paul III. im Herbst 1536 einsetzte, um das Programm einer allgemeinen Kirchenreform auszuarbeiten. Das Ergebnis war das Cortsilium de emendanda Ecclesia (CT 1 2 , 1 3 1 - 1 4 5 ) vom März 1537. Das Gutachten enthielt eine schonungslose Kritik der kirchlichen Mißstände und Vorschläge zu deren Beseitigung. Auch die Reform der Datarie wurde Contarini zusammen mit einigen anderen Kardinälen übertragen. Doch regte sich gegen die Intentionen Contarinis und einiger Gesinnungsgenossen, die die sog. Kompositionen als simonistisch bezeichneten, die Opposition kurialer Kreise. Zusammen mit Carafa (—»Paul IV.) und einigen anderen wandte sich Contarini in einem Memorandum an den Papst (ebd. 2 0 8 - 2 1 5 ) , doch ohne Erfolg. In einem dritten Traktat hielt Contarini dem Papst noch einmal die Verderblichkeit der kurialen Praxis der Kompositionen vor Augen (ebd. 1 5 1 - 1 5 3 ) . Paul III. hatte schon bald nach seinem Regierungsantritt die Forderung nach einem Konzil aufgegriffen und ein solches zuerst nach Mantua, dann nach Vicenza ausgeschrieben. Contarini war von Anfang an intensiv mit der Vorbereitung beschäftigt. Um dem Papst einen Uberblick über den Verlauf und die Beschlüsse der bisherigen Synoden der Kirche zu ermöglichen, verfaßte er im Winter 1536/37 eine kurzgefaßte Konziliengeschichte, die Conciliorum magis illustrium summa (Op. 546—563). In diesen Jahren nahm sich Contarini auch der Verwaltung und Reform seines Bistums Belluno an, das ihm der Papst am 23. Oktober 1536 übertragen hatte (HCMA 131). Contarini leitete es in der Hauptsache von Rom aus durch einen Generalvikar. Ob Contarini selbst jemals die Bischofsweihe empfangen hat, ist nicht sicher nachzuweisen. Priester ist er als Kardinal auf jeden Fall geworden. An schriftstellerischen Arbeiten Contarinis aus dieser Zeit sind zu erwähnen die Abhandlung De libero arbitrio (Op. 597—603), die er für Vittoria Colonna verfaßte, der Trak-

204

Contarini

tat De praedestinatione (CCath 7, 4 4 - 6 7 ) , mit dem er in eine Diskussion um Augustin eingriff, und das Buch über die Sakramente (Op. 3 2 7 - 3 9 7 ) , das als eine Handreichung für die in der Theologie weniger gebildeten Bischöfe gedacht war. 1.3. Die Legation nach Regensburg. Nachdem die Versuche, ein Konzil in Mantua bzw. Vicenza abzuhalten, gescheitert waren, machte Karl V. eine letzte Anstrengung, auf dem Weg über Religionsgespräche eine glaubensmäßige Übereinstimmung zwischen Katholiken und Protestanten zustande zu bringen. Die römische Kurie betrachtete derartige Verhandlungen mit großem Mißtrauen. Contarini galt von seiner ganzen Einstellung her als geeignetste Persönlichkeit, um den Papst auf einem derartigen Konvent zu vertreten. Im Mai 1540 wurde er zum Legaten für die auf den 28. Oktober 1540 in Worms angesetzten Religionsverhandlungen bestimmt (—»Reformationsgespräche). Im letzten Augenblick machte Paul III. die Entsendung Contarinis nach Worms rückgängig und bestellte den Bischof von Feltre, TommasoCampeggio,zu seinem Vertreter. Dagegen wurde Contarini am 10. Januar 1541 zum päpstlichen Legaten für das von Worms auf den Reichstag nach Regensburg verlegte Religionsgespräch ernannt. Ihm wurde der mit den deutschen Verhältnissen vertraute Nuntius G. —»Morone zur Seite gegeben. Contarini war zwar befugt, an Verhandlungen mit den Protestanten teilzunehmen, doch hatte er keinerlei Vollmacht, definitive Übereinkünfte in Glaubensangelegenheiten zu treffen oder disziplinäre Zugeständnisse zu machen. Am 12. März 1541 zog Contarini in Regensburg ein. Den Verhandlungen, die am 21. April 1541 eröffnet wurden, legte man den gering veränderten Wormser Vergleichsentwurf, der im wesentlichen von J. —>Gropper stammte und als —*Regensburger Buch bezeichnet wird, zugrunde. Die katholischen Gesprächspartner waren —»Eck, Gropper und —»Pflug, die protestantischen Kontrahenten —»Melanchthon, —»Bucer und Joh. Pistorius. Die Gesamtatmosphäre wurde wesentlich durch die Anwesenheit des auf Ausgleich bedachten Contarini bestimmt, der der eigentliche Spiritus rector des Gesprächs war. Uberraschend schnell konnte man sich über die ersten vier Artikel des Regensburger Buches einigen, nämlich Urständ, freier —»Wille, Ursache der —»Sünde und Erbsünde. Nach mehrtägiger Diskussion wurde am 2. Mai eine Einigungsformel über die —»Rechtfertigung (Art. 5) angenommen, die einen Kompromiß darstellte und der lutherischen Rechtfertigungslehre weit entgegenkam. In Rom, wohin Contarini voll Freude das Ergebnis der Einigung gemeldet hatte, wurde die Rechtfertigungsformel nicht akzeptiert. Man warf Contarini vor, er habe sich der protestantischen Lehrmeinung über die Rechtfertigung genähert. Er setzte sich dagegen zur Wehr in der Epistola de justificatione vom 25. Mai 1541 (CCath 7, 2 3 - 3 4 ) . Aber auch von Luther wurde der Rechtfertigungsartikel als „papistische Täuscherei" (WA.B 9, 460, 4) abgelehnt. Der weitere Verlauf des Religionsgesprächs zeigte, daß die eigentlichen Differenzpunkte Fragen der Ekklesiologie und der Sakramentenlehre waren. Auf Veranlassung Contarinis wurden Art. 6 und 9, die die Kirche und ihre Vollmacht der Schriftauslegung betrafen, zurückgestellt. Über die allgemeine Sakramentenlehre (Art. 1 0 - 1 3 ; —»Sakramente) konnte man sich zwar verständigen, doch kam es bei den Fragen des —»Abendmahls (Transsubstantiation) und der —»Beichte zu keiner Einigung. Ebenso blieb die hierarchische Ordnung der —»Kirche strittig. Eine Verständigung in den dogmatischen Positionen war eine Illusion. Nach Abschluß des Reichstags kehrte Contarini nach Italien zurück. 1.4. Der Ausklang. Um den Predigern eine Handreichung zu geben und sie davor zu bewahren, reformatorische Anschauungen auf die Kanzel zu bringen, verfaßte Contarini in offiziellem Auftrag eine Instructio pro praedicatoribus — er hatte 1539 bereits ein ähnliches Dokument für seine Diözese Belluno veröffentlicht—, die Paul III. 1542 publizierte (als Werk R. Poles veröffentlicht in: Epistolarum Reginaldi Poli Collectio, ed. Quirini, Brescia, III 1748, 7 5 - 8 2 ) . Trotz der Regensburger Ereignisse hatte Contarini die Gunst des Papstes nicht verloren. Paul III. vertraute ihm die ehrenvolle Aufgabe eines Kardinallegaten in Bologna an. Im März 1542 hielt er dort seinen Einzug. Auf Bitten G. Morones verfaßte Contarini neben seiner Legatentätigkeit her für dessen Bistum Modena eine kurze Zusammenstellung der katholi-

Contarini

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sehen Glaubenslehren. Dieses Dokument sollte den des Luthertums verdächtigen Persönlichkeiten, vor allem aus dem Kreis der Modeneser Akademie, zur Unterschrift vorgelegt werden. Wegen der Ausführungen dieser Schrift über die Genugtuung und den Reinigungsort kam es zu einer Kontroverse zwischen Contarini und R . —»Pole. Um seine Anschauungen zu präzisieren, schrieb Contarini den Traktat De poenitentia (Dittrich, Regesten 3 5 3 - 3 6 1 ) . Am 2 4 . August 1 5 4 2 starb Contarini nach kurzer Krankheit in Bologna. Seine sterblichen Uberreste wurden später in seiner Heimat Venedig beigesetzt. 2.

Bedeutung

Contarini gehört zum Kreis jener Persönlichkeiten in Italien in den ersten Jahrzehnten des 16. Jh., die, von einer nachhaltigen religiösen Erfahrung erfaßt, zu Trägern und Bahnbrechern einer kirchlichen Erneuerung wurden. Etikettenhafte Bezeichnungen dieser Bewegung, die sich z.T. eingebürgert haben, wie —»„Evangelismus", „Vorlutherischer Paulinismus" u. dergl. werden von der neueren Forschung als unzureichend vermieden. Auf die innere Entwicklung des jungen Contarini, über die früher wenig bekannt war, werfen die von H. Jedin entdeckten zahlreichen Briefe aus den Jahren 1 5 1 1 - 1 5 2 3 einiges Licht. Das Ergebnis seines inneren Ringens war die Erkenntnis, die er 1 5 2 3 in die Worte faßte: „Niemand kann sich selbst durch seine Werke rechtfertigen oder sein Inneres von den ungeordneten Affekten frei machen. Man muß seine Zuflucht zur Gnade Gottes nehmen, und diese empfängt man durch den Glauben an Jesus Christus, wie St. Paulus sagt, und mit ihm müssen wir sagen: Selig, dem der Herr seine Sünde nicht anrechnet, ohne die Werke" (Jedin, „Turmerlebnis" 1 7 7 f ) . Diese persönliche Erfahrung war für die ganze spätere Haltung Contarinis von entscheidender Bedeutung; sie ließ ihn Verständnis und eine gewisse Sympathie für Luthers Rechtfertigungslehre aufbringen. Von daher ist auch Contarinis Haltung bei dem Regensburger Religionsgespräch von 1541 zu verstehen. Seine Zustimmung war nicht nur taktischer Natur, so sehr ihm als einem Mann des Ausgleichs an einem vertretbaren Entgegenkommen den Protestanten gegenüber gelegen war; in seine Zustimmung ist ein starkes persönliches Moment mit eingeflossen. Es ist nicht angemessen zu fragen — wie es in der früheren Forschung oft geschah —, ob Contarinis Rechtfertigungslehre noch katholisch oder schon protestantisch sei. Man muß beachten, daß die Rechtfertigungslehre des —»Tridentinums noch nicht formuliert war. In der vortridentinischen Diskussion aber gab es auch im katholischen Raum eine gewisse Breite der Auffassungen von der Rechtfertigung, vor allem in Kreisen der Reformer. Contarini war voll und ganz katholisch, was Matheson ( 1 7 1 - 1 8 1 ) mit Recht betont. Seine Rechtfertigungslehre darf nicht isoliert betrachtet werden. In seiner Lehre von den Sakramenten und in seiner Auffassung von der Kirche steht Contarini restlos auf dem Boden der katholischen Lehrtradition. Von seinen Studien her war Contarini primär Philosoph, wobei er sich stark an Aristoteles ausrichtete. Seine theologische Bildung eignete er sich vor allem autodidaktisch an. So sind seine theologischen Schriften denn auch — abgesehen von seiner Rechtfertigungslehre — wenig originell. Er folgt weitgehend —»Thomas von Aquin. Contarinis kirchengeschichtliche Bedeutung liegt vor allem in seiner Tätigkeit als Reformer. Er kann mit Recht als die treibende Kraft der Reformbestrebungen an der Kurie Pauls III. angesehen werden. Quellen Werke: Gasparis Contareni Cardinalis Op., Paris 1571, Venedig 1578, 1589. - Friedrich Hünermann, Gasparo Contarini. Gegenreformatorische Sehr., 1923 (CCath 7). Lodovico Beccadelli, Vita di Messer Gasparo Contarino: Monumenti di varia letteratura, ed. G. Morandi, Bologna, 1/2 1799, 9 - 5 9 . - D e r s . , Lettere del Cardinale Gasparo Contarini: ebd. 61 — 216. — Theodor Brieger, Zur Correspondenz Contarinis während seiner dt. Legation. Mitt. aus Beccadellis Monumenti: ZKG 3 (1879) 4 9 2 - 5 2 3 . - Casparis Contareni Vita a Joanne Casa conscripta: Gasparis Contareni Cardinalis Op., Paris 1571. - Alfredo Casadei, Lettere del Cardinale Gasparo Contarini durante la sua legazione di Bologna: ASI 118 (1960) 7 7 - 1 3 0 . 2 2 0 - 2 8 5 . - Franz Dittrich, Regesten u. Briefe des Cardinais Gasparo Contarini, Braunsberg 1881. - Ders., Duo documenta Cardinalem Ga-

206

Corpus Christianum

sparem Contarenum laudibus praedicantia, Braunsberg 1888. - Walter Friedensburg, Der Briefwechsel Gasparo Contarinis mit Ercole Gonzaga nebst einem Briefe Giovanni Pietro Carafas: QFIAB 2 (1899) 1 6 1 - 2 2 2 . - Ders., Zwei Aktenstücke zur Gesch. der kirchl. Reformbestrebungen an der röm. Kurie (1536-1538): QFIAB 7 (1904) 2 5 1 - 2 6 7 . - Felix Gilbert, Contarini on Savonarola. An Unknown Documentof 1516: ARG 49 (1968) 1 4 5 - 1 5 0 . - L u d w i g Pastor, Die Correspondenz des Cardinais Contarini während seiner dt. Legation 1541: HJ 1 (1880) 3 2 1 - 3 9 2 . 4 7 3 - 5 0 1 . - Viktor Schultze, Actenstücke zur dt. Reformationsgesch.: ZKG 3 (1879) 1 5 0 - 1 8 4 . 6 0 9 - 6 5 3 . Literatur Theodor Brieger, Gasparo Contarini u. das Regensburger Concordienwerk des Jahres 1541, Gotha 1870.-Ders., Die Rechtfertigungslehre des Cardinal Contarini: ThStKr 45 (1872) 8 7 - 1 5 0 . - R . Christoffel, Des Cardinais Gasparo Contarini Leben u. Sehr.: ZHTh 45 (1875) 1 6 5 - 2 6 5 . - Franz Dittrich, Gasparo Contarini 1483-1542, Braunsberg 1885. - Ders., Nachträge zur Biographie Gasparo Contarinis: HJ 8 (1887) 2 7 1 - 2 8 3 . - F r a n c o Gaeta, Sul „De potestate pontificis" di Gaspare Contarini: RSCI 13 (1959) 3 9 1 - 3 9 6 . - Klaus Ganzer, Zum Kirchenverständnis Gasparo Contarinis: WDGB 35/36 (1974) 2 4 1 - 2 6 0 . - Hermann Hackert, Die Staatsschr. Gasparo Contarinis u. die politischen Verhältnisse Venedigs im 16. Jh., Heidelberg 1940. - Friedrich Hünermann, Die Rechtfertigungslehre des Kardinals Gasparo Contarini: ThQ 102 (1921) 1 - 2 2 . - Hubert Jedin, Gasparo Contarini e il contributo veneziano alla riforma cattolica: La civiltà Veneziana del Rinascimento, Florenz 1958, 1 0 3 - 1 2 4 . - Ders., Kardinal Contarini als Kontroverstheologe, 1949 (KLK 9). - Ders., Ein „Turmerlebnis" des jungen Contarini: JH 70 (1951) 1 1 5 - 1 3 0 = ders., Kirche des Glaubens. Kirche der Gesch., Freiburg u.a., I 1966, 1 6 7 - 1 8 0 . - Ders., Gesch. des Konzils v. Trient, Freiburg u.a., I 2 1951. - Ders., Art. Contarini, Gasparo: DHGE 13 (1956) 7 7 1 - 7 8 4 . - F r i e d r i c h Lauchert, Die italienischen literarischen Gegner Luthers, Freiburg u. a. 1912, 3 7 1 - 3 8 1 . - Heinz Mackensen, The Diplomatie Roleof Gasparo Cardinal Contarini at the Colloquy of Ratisbon of 1541: ChH 27 (1958) 3 1 2 - 3 3 7 . - Ders., Contarini's Theological Role at Ratisbon 1541: ARG 51 (1960) 3 6 - 5 7 . - Peter Matheson, Cardinal Contarini at Regensburg, Oxford 1972. — B. Otto, Gasparo Contarini, eine Friedensgestalt des 16. Jh.: StML 31 (1886) 3 8 - 4 8 . - James Bruce Ross, The Emergence of Gasparo Contarini. A Bibliographical Essay: ChH 41 (1972) 2 2 - 4 5 . - Ders., Gasparo Contarini eil contributo veneziano alla riforma catholica: La civiltà Veneziana del Rinascimento, Florenz 1 9 5 8 , 1 0 3 - 1 2 4 . - H a n n s Riickert, Die theol. Entwicklung Gasparo Contarinis, 1926 ( AKG 6). - A. Santosmosso, On the Authorship of Della Casa's Biography of Cardinal Gasparo Contarini: RenQ 28 (1975) 1 8 3 - 1 8 9 . Klaus G a n z e r Cordier, Leopold

—»Jugend

Corpus Christianum 1. Der sachliche Sinn der Kontroversen um den Begriff Christianitas (Anmerkungen/Literatur S. 215)

2. Corpus Christi - Corpus ecclesiae -

D a ß der Begriff „ k ü n s t l i c h ( !)" ist (Schiaich 340), weil er in geschichtlichen T e x t e n nicht v o r k o m m t , ist d a n a c h zu b e w e r t e n , was er historisch erklärt. Ein Sonderfall ist Corpus christianum deshalb, weil der Begriff Ende des 19. Jh. z w a r nicht im präzisen Sinn als eine „ Ü b e r s e t z u n g " (so H e c k e l : R G G 3 1 , 1 8 7 1 ) deutscher Textstellen M a r t i n —»Luthers a u f k a m , w o h l aber in einer A n l e h n u n g a n solche. Der Begriff w i r d von K. Rieker 1 8 9 3 (97. 1 0 4 . 1 1 1 . 1 7 1 f) m e h r f a c h , aber d u r c h a u s „ b e i l ä u f i g " (Schiaich 340) g e b r a u c h t , u m seine T h e s e darzustellen, die R e f o r m a t o r e n h ä t t e n nicht an „ e i n e selbständige, v o m Staat u n a b h ä n g i g e Kirc h e " gedacht, s o n d e r n a n die „Einheit alles christlichen L e b e n s " , in welcher der L a n d e s h e r r „ n i c h t bloß weltliche, politische Interessen, s o n d e r n e b e n s o zugleich k i r c h l i c h e " vertritt. Der L u t h e r - T e x t , an den sich diese Begriffsbildung a n l e h n t , s t e h t in der Schrift An den christlichen Adel (1520), w o n a c h die weltliche H e r r s c h a f t , als Mitglied des Christlichen Corpers trotz ihrem leiblichen W e r k geystlichs stands (mitpriester, mitgeystlich), in den gantzen Corper der Christenheit hineinwirken soll (WA 6, 4 0 9 , 1 6 - 1 8 ; 4 1 0 , 3 - 6 ; 4 1 3 , 2 7 - 3 1 ) . W ä h r e n d Rieker hier deshalb „ d a s W e h e n eines echt p r o t e s t a n t i s c h e n Geistes" f ü h l t , weil d a n a c h alle ein K ö r p e r sind des H a u p t e s Jesus Christus, der „ n i t zwey n o c h zweyerley a r t c o r p e r " hat, einen weltlichen u n d einen geistlichen (WA 6, 4 0 8 , 3 3 ; Rieker 65), s p ü r t er u m gekehrt in der Schrift Won weltlicher Obrigkeit (1523) „ d i e L u f t des M i t t e l a l t e r s " (66), weil L u t h e r d o r t die zwei „ R e g i m e n t e " unterscheidet, das geistliche, das Christen m a c h t , u n d das

Corpus Christianum

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weltliche, das Gesetze hat, die nur für alles Äußerliche gelten. Rieker interpretiert dies als mittelalterliche Geringeinschätzung der weltlichen Gewalt. Der Begriff Corpus christianum ist hier Gegenstand, 1. weil mit ihm die Ekklesiologien und Gesellschaftslehren an der Wende zum 20. Jh. (zugespitzt in der aktuellen Kontroverse um das landesherrliche —»Kirchenregiment) positiv oder negativ verbunden waren und weil sie es heutesind in der Auseinandersetzung mit der —»Zwei-Reiche-Lehre, die sich z. T. stützt auf die von Rieker „gut katholisch" genannte Schrift Von weltlicher Obrigkeit-, 2. weil sich an der Deutung der beiden Glieder des Begriffes: corpus und christianum (christianitas) das —»Abendland von seinem Anfang bis zu seinem Ende abarbeitete, worauf historisch zu reflektieren zur Klärung des Begriffes und der Sache selbst beitragen könnte. 1. Der sachliche

Sinn der Kontroversen

um den

Begriff

Es empfiehlt sich, die vom Ende des 19. bis ins erste Drittel des 20. Jh. geführte Kontroverse um den Begriff Corpus christianum nicht nach geschlossenen Formationen zu gruppieren, sondern nach den einzelnen Repräsentanten zu unterscheiden. Dies bewährt sich gerade im Hinblick auf das ohne Zweifel gegebene „aktuelle, parteiische Interesse" „in der Zeit des ausgehenden Staatskirchentums" (Schiaich 340).

Rieker hat sich nur insofern „der Auffassung Sohms angeschlossen" (so, K. Holl folgend, Bohatec 583), als dessen Begriff einer rechtsfreien Kirche seiner These von der „unlösbaren Einheit" von Kirche und Staat bei den Reformatoren zu konvenieren schien und er die Auffassung vertrat, daß Luthers Anschauung „das Verschwinden der Kirche" bedeutet (69), zwar in ihr die Kirche „noch da" ist, jedoch nicht als „Anstalt", sondern in einem mit dem Staat „gemeinsamen Leib". Dies genau ist Riekers Corpus christianum. Wenn er damit eine allgemeine „Einheit alles christlichen Lebens" (97) meint, dann ist dies eine korrekte Entsprechung zu Luthers „Christlichem Corper" aus dem Jahre 1520; wenn er aber für diese Worte Luthers „am ehesten noch den Ausdruck ,Staatskirchentum' empfehlen" will, womit die rechtliche Organisation „des gesamten öffentlichen Lebens" bezeichnet wird, wovon das kirchliche Leben „lediglich eine Seite ist" (171), dann wird damit über die Kontroverse um das landesherrliche Kirchenregiment hinaus die Verlegenheit dokumentiert, in die man geraten muß, wenn man an der Wende vom 19./20. Jh. noch an der Vorstellung von einer „Christlichen Welt" festhält1. Von einem wirklichen „Anschluß" Riekers an R. Sohm aber kann nicht die Rede sein. Nach R. —>Sohm gibt es „im lutherischen Bekenntnis keine Kirche im Sinne unserer heutigen Rechtsordnung", die als solche „dem Staate gegenüber stände, sondern nur die Christenheit", „die weltumspannende Ekklesia", „das christliche heilige Volk". Luthers Appell an den christlichen Adel, d.h. die Obrigkeit, richtet sich nicht an die Obrigkeit als solche, d.h. an das „Oberhaupt des weltlichen Gemeinwesens", sondern an sie in ihrer Eigenschaft „als Glied (Vogt) der Kirche". In dieser Gliedschaft hat sie Legitimation und Pflicht, „ihren weltlichen Arm nicht bloß (so hatte das Mittelalter es gefaßt) der Geistlichkeit gegen die Laienschaft, sondern in gleicher Weise der Laienschaft (der ,Kirche') gegen die Geistlichkeit zu leihen". Sie kann sich dabei nicht auf besondere geistliche Eigenschaften berufen, sondern nur auf die ihr allein von Gott gegebene äußere Zwangsgewalt, deren Anwendung im geistlichen Bereich — Sohm wird nicht müde, dies zu betonen — den „Notfall" voraussetzt, der ja in der geschichtlichen Auseinandersetzung selbst eine so große Rolle gespielt hatte (Sohm, Kirchenrecht 541 f. 569 f. 572f. 585. 616. 634). Man muß noch Sohms Bewertung der „großen Reformbewegung" des 11. Jh. hinzunehmen, in der die Kirche die Herrschaft über das „Gemeinwesen" ergriff, „um den Geist der Kirche zu befreien von dem Geist der Welt", nämlich der Reichskirche (—»Reich/Reichsidee), ineins damit freilich selbst ein „neues Kirchenrecht" ausbildete, wenn man die universale geschichtliche Konzeption dieses bedeutenden Erforschers und Gegners des —»Kirchenrechts angemessen in die Diskussion um das Corpus christianum einordnen will (Sohm, Das altkirchl. Kirchenrecht 575 f. 582). Wenn es aber auch für Sohm prinzipiell keine rechtlich verfaßte Kirche als Gegenüber des Staates geben kann und erst recht kein „Staatskirchentum", so ist für ihn gerade deswe-

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Corpus Christianum

gen die Frage nach dem principium unitatis gestellt, die den sachlichen, keineswegs im Verhältnis zur weltlichen Obrigkeit (Staat) aufgehenden G r u n d dessen ausmacht, was unter dem Begriff Corpus christianum vorgestellt wird. Für dieses Prinzip bietet sich christianitas an. Wie aber verhält sich dazu Sohms Vorstellung vom „christlichen heiligen Volk"? Er f ü h r t diesen Begriff als Synonymon zu „Christenheit" an. Aber der Ausdruck „christliches heiliges V o l k " bezieht sich offenkundig auf I Petr 2,9 f - die wichtige Bezugsstelle in Luthers Schrift An den christlichen Adel — also auf einen Ehrentitel Israels, und kann so nur die wahren Gläubigen meinen. M i t Recht hat J. Heckel Sohms Verwendung des Begriffes „Christenheit" „undeutlich" genannt (was wohl auch für die „weltumspannende Ekklesia" gilt), weil er einmal die geistliche Gemeinschaft bezeichnet, ein andermal die Gemeinschaft, welche von der Obrigkeit weltlich und von der Kirchengewalt geistlich regiert wird (in diesem Fall jedoch sieht Sohm ausdrücklich „mittelalterliche Vorstellungen" nachwirken) (Heckel, Lex charitatis 275). Die „Undeutlichkeit" Sohms gründet - abgesehen von der Undeutlichkeit in der ganzen Geschichte des Begriffes „Christenheit" (vgl. u. Abschn. 2) und auch in der Situation Luthers - in der Undeutlichkeit der aktuellen Situation an der Wende vom 19./20. Jh., in der einerseits von der säkularisierten Obrigkeit nicht mehr die Hilfe des membrum praecipuum zu erwarten, andererseits die eschatologische Orientierung nur in der historischen Vergegenwärtigung der Parusieerwartung möglich war. Die auch außerwissenschaftliche, vielfach vermittelte Wirkung R. Sohms erstreckte sich in einem offenen oder subkutanen —»Modernismus über die distanzierende Rede von der „Rechtskirche" oder der „Amtskirche" auch auf den Katholizismus. Was immer durchaus widersprüchlich unter Corpus christianum verstanden werden konnte, ging seinem geschichtlichen Ende entgegen. K. —»Holl (GAufs. zur KG. I. Luther, Tübingen 3 1 9 2 3 , 3 4 0 f ) gab Rieker die Ehre, ihn hinsichtlich der „ L ö s u n g e n " der Frage des Verhältnisses von —»Kirche und Welt in eine Reihe mit R. Sohm und mit E. —»Troeltsch zu stellen, für den die Frage, ob Luther der „Neuzeit" angehört und wann die „ N e u z e i t " beginnt, weit mehr bedeutete als ein gelehrter Periodisierungsstreit. Von daher ist sein Gebrauch des Begriffes Corpus christianum bestimmt (E. Troeltsch, GS, Tübingen, I 1912, 4 8 4 f . 5 2 2 f ; II 1913, 7 3 0 . 7 3 8 f f ) . Der -»Deismus der —»Aufklärung, der „rationalistische Allgemeinbegriff der Religion", ist die Wasserscheide, jenseits derer Luther und die reformatorischen Kirchen lebten. Die Historisierung, an deren Problematik Troeltsch seine Existenz setzte, ist universell und löst die „alte", d. h. die „dogmatische" Auffassung auf, die an „einzelne Geschichtstatsachen binden" will. Diese „alte" Auffassung, und dies h a t Troeltsch deutlich gesehen, bewegte sich in einer geschichtlichen Welt, die neuerdings geschichtstheoretisch vom Prozeß der „Verzeitlichung" seit dem späten 18. Jh. als „geschlossener E r f a h r u n g s r a u m " (H. Koselleck) abgesetzt wurde. Auf diesen „geschlossenen E r f a h r u n g s r a u m " kann sich der Begriff Corpus christianum in historischer Logik beziehen. In diesem Sinne sagt Troeltsch von der „lutherischen Ständelehre", sie sei „nichts anderes als die mittelalterliche Idee des Corpus christianum, innerhalb dessen es ü b e r h a u p t eine Scheidung von —»Kirche und Staat, von Geistlichem und Weltlichem im modernen Sinne noch nicht gibt" 2 . „In einen lange herrschend gebliebenen Irrtum die nötige Klarheit hineingebracht zu haben", nämlich wie Luthers W o r t vom „einen c o r p e r " in der Schrift An den christlichen Adel zu interpretieren sei, wurde von W. Köhler (28) als Verdienst Holl zugesprochen. „ M a n wundert sich hinterher geradezu, daß das nicht früher bemerkt w u r d e " , schrieb Köhler, daß nämlich Luther hier nicht von der „äußeren Christenheit" spreche, sondern v o m , . C o r p u s Christi mysticum". Dies klingt, als könnte 1925 ein Strich unter die ganze Kontroverse um das Corpus christianum gezogen werden. In Wirklichkeit sind in dieser Hinsicht Sohm und Holl nicht sehr weit voneinander entfernt, weil für beide der „Besserungs"-Eingriff der Obrigkeit in ihrer Gliedschaft im „einen c o r p e r " Christi und nicht im weltlichen Amt als solchem legitimiert ist, weshalb auch Köhler seine Darlegung so schließen kann: „,nicht mehr schlechthin Sohm* und ,nicht ganz H o l l ' " (38). In der T a t aber ist „bis heute der Streit nicht ausgetragen, ob Luther der Idee eines sog.

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Corpus christianum gehuldigt habe" (Heckel, Lex charitatis 2 6 8 f), d.h. ob es für ihn einen Begriff, und wenn keinen Begriff, so doch eine Anschauung davon gegeben habe, was die geistliche Kirche, die leibliche Kirche, die Obrigkeit in ihrem weltlichen Amt und die Obrigkeit als membrum praecipuum ecclesiae insgesamt umfasse. Holl polemisiert wie gegen den Begriff Corpus christianum so auch gegen den Ausdruck societas Christiana (gegen Holl plädiert A. Hirsch für eine „société chrétienne" bei Luther), den zwar Augustinus gebrauche, „aber augenscheinlich als gleichbedeutend mit Kirche". Eine „einheitliche geistlich-weltliche Gesellschaft" aber widerspreche Luthers Begriff von der Christenheit als der unsichtbaren Kirche, womit Holl neben Sohm auch F. Meinecke kritisierte, wenngleich er dessen Ausdruck „Lebenszusammenhang" (Meinecke 13) gelten ließ. Im Sinne der „Luther-Renaissance" ist für Holl der Begriff Corpus christianum unvereinbar mit seiner Interpretation, Luther habe „die Religion als Gewissensreligion" aufgefaßt und damit nicht nur das —»Mittelalter, sondern „den ganzen Standpunkt der katholischen Kirche" durchbrochen und eine „Autonomie" (bei Holl selbst in Anführung) begründet, „die sich zu der Aufklärung nicht nur als eine unvollkommene Vorstufe verhält" (Holl, a.a. O. 3 5 . 3 4 1 - 3 4 5 ; III. Der Westen, Tübingen 1928, 116). Es stellt sich gegenüber K. Holl, dem leidenschaftlichen Kritiker nicht nur des Begriffes Corpus christianum, sondern aller darunter verstandenen Anschauungen, die Frage, ob man ihm eine „Überwindung" (Schiaich 3 4 0 ) der Ansichten von R. Sohm und E. Troeltsch zuschreiben kann, oder ob er in einer glaubensexistentiell begründeten Identifikation mit Luther dessen Vorstellungen die eigene Modernität abverlangte. Er zeigte aber zu Recht, daß es Begriff und Inhalt von Corpus christianum im Sinne von Riekers „Staatskirchentum" bei Luther nicht gab (in diesem Sinne auch nicht im Mittelalter). W. —>Köhler, der Luthers Begriffs/eW von Christenheit in einer Synopse der Schriften An den christlichen Adel und Von dem Papsttum zu Rom (1520) behutsam, ohne Psychologisieren, aber in historischer Bestimmung der jeweiligen „polemischen Spitze" analysiert hat, versuchte die umfassende Formulierung: „Die christliche Gesellschaft, innerhalb deren die Obrigkeit als Hauptfunktionär (von uns hervorgehoben) wirkt", ein „leiblich Werk", „Gegenstück zu der Funktion der Predigt und Sakramentsverwaltung der ,Priester' " (31 f). Dies entspricht nun weder Sohm noch Holl, und mit Recht bemerkt J. Heckel (Lex charitatis 279), Begriff oder auch nur Vorstellung einer „christlichen Gesellschaftsordnung" seien Luther fern gelegen: „Er hält sich an die überkommenen mittelalterlichen Kategorien der ecclesia universalis und der politia." Da Luther aber eine neue Vorstellung der ecclesia vortrug, empfiehlt sich ein historischer Rückgriff auf diese Kategorien und ineins damit die Frage, ob es jemals den gesuchten umfassenden Begriff gegeben hat, ja: nach den Situationen der —»Kirche (—»Kirche und Welt) jemals geben konnte. Insofern in der älteren Kontroverse um das Corpus christianum die Frage nach dem principium unitatis gestellt war, besteht ein theologiegeschichtlicher Zusammenhang mit den Auffassungen vom Verhältnis des christlichen Glaubens zur „ W e l t " , wie sie unter den „durch konfessionelle Vorurteile belasteten" (E. Wolf: EStL 1 1077) Formeln der als lutherisch geltenden Zwei-Reiche-Lehre und der als reformiert geltenden Lehre von der Königsherrschaft Christi vorgetragen werden. Allerdings besteht zwischen der älteren von Holl polemisch gekrönten Kontroverse und der neuen eine Differenz, die bestimmt wird von den geschichtlichen Ereignissen seither, die beide trennen. Gerade die gegenwärtige Diskussion legt es nahe, die historische Auseinandersetzung mit der Frage einzubeziehen, was „der mittelalterliche Organismusgedanke" für —»Calvin bedeutet hat, zumal Bohatec, als Kritiker des Begriffes Corpus christianum für Calvin zitiert (Schiaich), den Begriff der Sache nach für das Mittelalter, Sohm folgend, bejaht (596) und in der „organischen Idee" Calvins eine „Ähnlichkeit mit einigen mittelalterlichen Systemen", wenngleich in der Hauptsache einen „prinzipiellen Bruch" sieht (611). Wenn er jedoch im Anschluß an Calvins Corpus-Lehre die „Bezeichnung des Staates als eines die geistliche und die weltliche Gewalt umschließenden Organismus" gegeben sieht (Bohatec 613), die calvinische Union beider Gewalten so interpretiert: „In der pflichtgemäßen Erfüllung ihrer Befugnisse legt die Obrigkeit die Grundlage (von uns hervorgehoben) für eine harmonische Ein-

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Corpus Christianum

heit zwischen dem Staat und der Ordnung des Reiches Christi" (624), wird schwer verständlich, warum er nicht der Sache nach — die freilich wesentlichen Differenzen in der Auffassung des Verhältnisses von Kirche und Obrigkeit vorausgesetzt — den Begriff Corpus christianum ebenso wie für das Mittelalter auch für Calvin gelten läßt. Die calvinische Konzeption in der christologischen Unterscheidung von societas humana und societas christiana hebt Bohatec wie gegenüber —»Thomas von Aquin (S. th. II, q. 81,1) so auch gegenüber Luthers Rede vom „gantzen corper der Christenheit" ab, die er mit „christlichem Gesellschaftsorganismus" übersetzt — darin doch wohl in eklatantem Widerspruch zu Holl wie zu Heckel. Es ist merkwürdig, daß der historische Begriff Corpus christianum, der u. W. erstmals bei Rieker und da nur gelegentlich auftaucht, eine so bedeutsame theologiegeschichtliche „Schule" gemacht hat, vielleicht nicht gerade zum „Schlagwort" (Schiaich) abgesunken ist, doch oft ohne weitere Reflexion seiner historiographischen Herkunft gebraucht wurde. Es ist zu vermuten, daß er sein Ansehen durch Troeltsch gewonnen hat. Die begründete Kritik des Begriffes kann nicht übersehen lassen, daß sein Gebrauch 3 einem historischen Erklärungsbedürfnis entsprach, das selbst einen geschichtlichen Ort bezeichnet im Verhältnis nicht nur zur Reformation, sondern zur Geschichte der Kirche im ganzen und ihrer Situation seit dem Ende des 19. Jh. 2. Corpus Christi - Corpus ecclesiae -

Christianitas

J. Heckel hat das Verdienst, den Weg für eine historische Klärung des auch ohne den Begriff Corpus christianum in der abendländischen Kirchengeschichte in jeweils verschiedener Form gestellten Problems gewiesen zu haben. Wenn Luther „die mittelalterliche Terminologie" übernommen, ihr aber einen „neuen Sinn" gegeben und „den universalen geistlichen Kerngedanken des Corpus christianum nicht abgewiesen", ihn aber „verinnerlicht und von da aus zur Welt zurückgewendet" hat (Heckel: RGG 3 1, 1871 f), dann empfiehlt es sich, der Geschichte dieser Terminologie nachzugehen. Es kann sich im folgenden nur um Hinweise handeln. Die Ausgangsfrage stellt sich in dem von —»Paulus geprägten Bild der Kirche als omfia XQIOTOV , als corpus christi, und in den bildlich ausgedrückten Bezügen der xecpakrj, des Caput, zu diesem Körper. Daß hier ein konkret-einzelnes, personales Heilsereignis bezeichnet ist, unterscheidet das Bildgefüge von Vorstellungen sowohl in der griechisch-römischen wie in der jüdisch-orientalischen Antike, wenn es auch bei Paulus Zusammenhänge (Kosmos, Adamspekulation) gibt, die aber erst später entfaltet werden. Für die Geschichte des Corpus-christianum-Gedankens ist wesentlich, wie das mystische Corpus-Christi-Bi\d für die Kirche zusammenging mit der institutionellen Gestaltwerdung. Die „besonders große Nähe" (H. Schlier: RAC 3, 4 3 7 - 4 5 2 ) zur Fabel des Menenius Agrippa bei Paulus (I Kor 12, 1 2 - 2 7 ) bleibt im natürlich-organischen Bereich, während der dem Corpus-Christi-Gtdanken vorausgehende Hinweis auf die Ordnung des römischen Heeres in I Clem 37, 5 zwar pädagogisch gemeint ist, aber wohl doch eine soziale Vergleichbarkeit einleitet. Gewichtiger ist, daß bei —»Tertullian corpus „unter der Hand einen juridischen Sinn erhält" (Schlier, a. a. O. 448), indem die christiana factio mit dem Satz beschrieben wird: Corpus sumus de conscientia religionis et disciplinae unitate et spei foedere [eine Körperschaft sind wir durch die innere Verbundenheit im Glauben, durch die Gemeinschaft unserer Lehre, durch den Bund unserer Hoffnung] (apol. 39,1). Diese Wendung ging ein in den Begriff Corpus christianorum der Mailänder Konvention. In das seit —»Konstantin d. Gr. ausgebildete gesellschaftlich-politische Einheitsgebilde aber hat die Kirche als Corpus Christi ihre eigene Gestalt eingebracht. Das spezifische Corpus-Sein der Kirche gründet in der —»Taufe und im —»Abendmahl und unterscheidet sich darin essentiell von jeder weltlichen „Körper"-schaft, wie kontrovers auch immer das Verständnis von Kirche gewesen ist. Die Taufe ist der konstitutive Akt für die geistliche Einverleibung. Wenn „Kirchengemeinschaft Abendmahlsgemeinschaft ist" (TRE 1, 76), dann ist die Zugehörigkeit zu ihr eine eucharistische4. Diese essentielle Unterschiedenheit des Corpws-Seins der Kirche aber war und ist das Grundproblem dessen, was

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unter Corpus christianum begriffen wird, und sei es nur als „Lebenszusammenhang geistlicher und weltlicher Sphäre" (Meinecke 12 f) (zur Bedeutung der Kindertaufe vgl. u. S. 215). Daß sich gerade auf dieses spezifische Corpus-Sein der Kirche die Unterscheidung zwischen Klerus und —»Laien bezieht, bleibt wesentlich, grundlegender selbst dann noch, als der im 12. Jh. „nach rechtssprachlichen Analogien gebildete" Begriff corpus ecclesiae aufkam (J. Ratzinger: LThK 6, 910), dessen Corpws-Vorstellung - diesseits jeder Kontroverse um das Kirchenrecht — sich unterscheidet von derjenigen, die mit Corpus Christi gegeben ist. Die Ausbildung eines ordo sacerdotalis und eines ordo laicalis innerhalb des einen corpus aber beginnt vor der Ausbildung eines Corpus christianum in der konstantinischen Reichskirche, dem also die Kirche ihre eigene autoritative Struktur überliefert, die auctoritas des Bindens und des Lösens, und damit zugleich den Sprengstoff eben dieses Corpus christianum. Zum Corpus-Bild - nicht notwendig in seiner allgemeinen spätantiken Verwendung, wohl aber in der paulinischen - gehört das caput. Wie Christus das Haupt der Glieder im Corpus Christi, das ja nicht metaphorisch zu verstehen ist, sein kann, ist eine nur in geistlicher Weise mögliche Vorstellung. Diese Vorstellung erhält einen anderen Charakter lange vor dem Begriff Vicarius Christi (s.u.). Wenn Päpste (—»Papsttum) seit dem Ausgang des 4. Jh. caput für die römische Kirche in Anspruch nehmen, war eine innerkirchliche Autorität bezeichnet; aber sie war die Grundlage, von der aus die auctoritas gegenüber der kaiserlichen potestas mit der Begründung geltend gemacht werden konnte, daß allein der christliche Glaube die christiana societas (Gelasius, Tr. II, 8), die gemeinsame Welt von imperium und ecclesia, belebt. Damit aber wird deutlich, wie problematisch das Corpus-Bild war, weil zu ihm ja nur unum caput gehören kann, dieses caput gewiß durch alle Kontroversen hindurch nur Christus sein konnte, womit aber nichts über die korporativen Funktionen ausgemacht war. Diese Problematik wurde konkret zunächst im Verhältnis zwischen Sacerdotium und Imperium, seit der Krise des Papsttums im abendländischen —»Schisma aber auch im Bezug auf dieses, wenn —»Ockham für das corpus naturale eine Vielköpfigkeit als monströs bezeichnet, aber für das corpus mysticum plura capita spiritualia als möglich (Dial. III tract. I, üb. 2, cap. 1), im Gegensatz zu —»Bonifaz VIII., der in der Bulle Unam sanctam (1302) hervorhebt: unum caput, non duo capita quasi monstrum, Christus videlicet et Christi vicarius [(also hat die Kirche) ein Haupt, nicht zwei Häupter wie ein Ungeheuer, nämlich Christus und Christi Stellvertreter] (DS 872). —»Isidor von Sevilla vermacht dem Mittelalter in Form einer systematisierenden Lösung das geschichtliche Problem: Die Kirche ist Corpus Jesu Christi, dem viele gewies mit ihren Fürsten angehören, das aber das eine regnum Christi ist des unus Dei populus (PL 53, 104. 132. 423. 499. 513). Der von gens unterschiedene Begriff populus Dei bot eine Einheitsbezeichnung an, die sich vom Corpus-Bild hätte unterscheiden können. Obwohl im Neuen Testament häufig gebraucht, setzte er sich nicht durch, jedenfalls nicht für sich allein. Ohne Zweifel aber hat es Gewicht, daß in der Allerheiligenlitanei nach den Fürbitten für den Papst, die Ordines und die christlichen Fürsten der cunctus populus christianus folgt. Daß —»Karl d. Gr. als princeps populi christiani angesprochen wurde (MGH.Ep. IV, 535, 11), hatte keine Folgen; er nahm den Begriff nicht in seine Titulatur auf. In der Regel wurde der Begriff zusammengezogen mit autoritativen Begriffen für die Kirche, so bei Papst Hadrian II. (867—872), oder mit der ecclesia gleichgesetzt, wobei Papst Johannes VIII. ( 8 7 2 - 8 8 2 ) bemerkenswert dem Klerus einen Vorrang für diesen Titel gibt: Ecclesia nihil aliud est nisi populus fidelis, sed praecipue clerus censetur hoc nomine [Kirche ist nichts anderes als das gläubige Volk, vor allem aber meint man den Klerus mit dieser Bezeichnung] (Ep. 5). Die Verbindung von clerus und populus Dei kommt bei —»Gregor VII. im theoretischen Rückgriff auf die altchristliche Zeit in der Kampfparole gegen die Reichskirche zum Ausdruck: keine Bischofs wähl sine clero et populo. Die Interpretation, daß populus christianus bei —»Innozenz III. eine „politische" Bedeutung habe, von der ecclesia universalis unterschieden sei und „la collectivité suprême dans l'ordre temporel" (Rupp 301 ff) bedeute, ist nicht haltbar. Innozenz III. versteht sich sowohl als das Haupt der ecclesia wie als das Haupt des populus christianus (Kempf 301 f). Ganz klar sagt Thomas von Aquin: Sicut est una ecclesia, ita

212

Corpus Christianum

opportet esse unum populum [wie eine Kirche ist, so m u ß auch ein Volk sein] (S. c. gent. IV qu. 76). W a r das Corpas-Bild problematisch, sobald man es organologisch-funktionalistisch umdeuten wollte, so war der Begriff populus Dei zwar als „Volk J a h w e s " im Alten Testament eine geschichtlich-konkrete Einheit, die aber ihren Charakter als populus christianus von Anfang an wesentlich verändert hatte, da das eine Volk im Neuen Testament das Volk von Juden und Heiden ist. Im Unterschied dazu ist res publica ein institutioneller Begriff. Aber man m u ß J. Heckel zustimmen, wenn er auf dem theologischen Gesamtzusammenh a n g des Gebrauches von res publica christiana besteht (Lex charitatis 168). Er bedeutet bei —•Augustin eindeutig die Kirche: Vera autem justitia non est nisi in ea re publica, cuius conditor rectorque Christus est [wahre Gerechtigkeit gibt es nur in dem Gemeinwesen, dessen Gründer und Leiter Christus ist] (De Civ. Dei II, 21). Nicht anders verhält es sich bei —»Gregor d. Gr. und während des Mittelalters, bis der Begriff kontrovers w u r d e zwischen den Papalisten und den Konziliaristen, bei denen res publica christiana die Gesamtheit der christlichen Staaten mit dem Kaiser bezeichnet. Dietrich von Niem (ca. 1340—1418) unterscheidet inter omnes res publicas die von Christus gegründete ecclesia nicht nur komparativisch als superior, nobilior atque diligibilior [erhabener, edler und achtbarer], sondern kategorial als congregatio populi spiritualis [Gemeinschaft des geistlichen Volkes] (Mod. 69) und greift damit auf das neutestamentliche Verständnis von populus Dei zurück. Der ciceronianischen res publica entspricht der Begriff societas, der dem Mittelalter als societas christiana ebenfalls von Augustin vermacht wurde. Gregor VII. hat ihn ohne Zweifel als einen politischen Begriff aufgefaßt und ihn der ottonischen Reichskirche entgegengesetzt. W e n n freilich im Blick auf diese vom Papst monarchisch regierte societas von einer „europäischen Gesellschaft" gesprochen wird, einem „juristischen Gebilde, das trotz seines Bindemittels, des geistlichen Elements des christlichen Glaubens, irdischen Charakter hat und alle M e r k m a l e . . . einer bürgerlichen Gesellschaft" (Ullmann 397), erhebt sich die Frage, was denn nun diese gregorianische societas vom Staat im Zeitalter des Absolutismus unterscheidet. Unter den Begriffen, die als Synonyma für Corpus christianum verstanden werden können, war der langlebendste die christianitas. Mit Recht hat freilich Kempf bemerkt, christianitas habe „ w o h l niemals eine spezifische terminologische Bedeutung erlangt". Aber wie kann sie dann aufgefaßt werden als ein „nicht nur religiöser, sondern zugleich auch politisch-rechtlicher Organismus", dessen H a u p t der Papst ist, dies k r a f t seiner geistlichen Gewalt, aber in „subsidiären A k t e n " dennoch befugt, in „die Zuständigkeit der weltlichen Instanzen" einzugreifen, sofern diese „ e r s c h ö p f t " ist? Und k r a f t welcher Legitimation hat der Papst die Kompetenz der Kompetenz für „subsidiäre Akte", da er doch nicht einmal „konkurrierend neben die weltliche G e w a l t " tritt (Kempf 185. 259 f)? W e n n „die päpstliche Vollmacht auf der Idee der christianitas b e r u h t " , diese aber keine spezifische terminologische Bedeutung hat, sie vielmehr „ein recht unfertiges, mehr geistliches und religiöses als politisch-konkretes Gebilde" darstellt (Kempf 251), letzteres aber eben doch auch, was ist d a n n die christianitas im Verhältnis zur ecclesia} Die Geschichte des Begriffes christianitas mit allen seinen nationalsprachlichen Wortbildungen zeigt freilich, wie sich Klarheit ergibt oder zu ergeben scheint, wenn ein Begriff in Aktion ist und konkret integriert (Aufruf—»Urbans II. zum —»Kreuzzug, —»Türkenkriege [Luthers Auffassung bei Heckel, Lex charitatis 281]). Nicht zuletzt zeigt diese Geschichte, daß der Begriff länger umgeht, als das damit einstmals Bezeichnete wirklich ist (zur Säkularisierung s. Liermann). O. von Gierke, der als Urvater des Begriffes Corpus christianum kritisiert wurde, weil er in der T r e n n u n g des regimen ecclesiasticum et saeculare bei „den R e f o r m a t o r e n " nur eine „Sonderung in der administrativen Organisation des Einen Körpers" hatte sehen wollen, interpretierte das principium unitatis der Christenheit in hegelianischer T ö n u n g als einen Prozeß: „Der mittelalterliche Geist ist mit sich einig, daß der Dualismus kein endgültiger sein kann, daß vielmehr die Gegensätze ihre A u f h e b u n g in einer höheren Einheit finden müssen" (Genossenschaftsrecht, III 1881, 515 ff). Der „mittelalterliche Geist" aber war sich seiner H e r k u n f t aus der

Corpus Christianum

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Spätantike gemäß darin einig, daß er der Geist der ecclesia ist und in ihr sein principium unitatis hat. Es steht vieles dafür, daß man im Begriff itinkrjaCa, womit die frühen Christen ihre Kommunität bezeichneten, am ehesten auf einen sicheren, weil institutionalisierten Boden kommt, wenn man nach einem umfassenden Begriff sucht. Tatsächlich erscheint die ecclesia als der geschichtlich gegebene Raum, innerhalb dessen sich das karolingische und dann wieder das ottonische Imperium entfaltet. Qua propter nos ob amorem et honorem Dei ac Domini nostri Jesu Christi et ob exaltationem sanctae matris nostrae catholicae ecclesiae, quae est corpus eius in qua nos membrum ipsius per bona opera effici cupimus . . . [ . . . weshalb wir aus Liebe und Ehrerbietung gegen Gott und unseren Herrn Jesus Christus und um der Erhöhung unserer heiligen Mutter, der katholischen Kirche, willen, die sein Leib ist und in der wir durch gute Werke sein Glied zu werden begehren . . . ] ( M G H . C a p I , Nr. 173):In diesem Satz Kaiser Ludwigs I. ist das „Ganze" umschrieben, das man historisch Corpus christianum nennen kann: die ecclesia, als corpus Christi - u n d innerhalb der ecclesia der abendländische Kaiser, als membrum des corpus Christi, als ein (mit Melanchthon zu sprechen) praecipuum membrum, dem es obliegt, consuetudines pravas et valde reprehensibiles [verkehrte und nachdrücklich abzuweisende Gepflogenheiten] abzuschaffen. Was mit Corpus christianum oder den ihm korrespondierenden, oben angeführten und im Mittelalter gebräuchlichen Begriffen nur umschrieben ist, hat seine gleichsam nukleare Einheit allein in der ecclesia. F. Kempf hat mit Recht bemerkt, daß die ecclesia universalis, unter der vor Gregor VII. „die ganze christliche Welt" verstanden werden konnte, mit diesem Papst und seinen Gesinnungsfreunden auf das „Institutionelle" hingewendet wurde (182); aber dies ist nicht die christianitas, sondern die ecclesia mit ihrer hierarchischen und sakramentalen Ordnung. Was die revolutionäre Absetzung eines sakralen Königs bewirkte, war eine „Reduktion": „Ecclesia universalis bedeutete fortan in erster Linie Kirche, und zwar die Kirche in ihrer konkreten hierarchischen Gestalt" (Kempf 286). Was die römische Kirche eingebracht hat in das Abendland, macht sie jetzt geltend, freilich in einer bedeutenden Zuspitzung ihrer eigenen Tradition. Aus dem successor Petri wurde - voll ausformuliert erstmals bei Innocenz III. — der Vicarius Christi. Im Papst schien jetzt das principium unitatis personal institutionalisiert zu sein. Was für die Reichskirche bildhaft, aber so durchaus ernsthaft als Verbindungswort gegolten hatte, das regale sacerdotium nach I Petr 2,9, wurde nun von Innocenz III. in rationalem Diskurs in Anspruch genommen (vgl. Kempf 2 8 9 ) . Man muß jedoch von einer Verzerrung der historischen Perspektive sprechen, wenn die Frage nach der Vorstellung von der ecclesia universalis eingeengt wird auf die Institution des Papsttums, wie sie seit Gregor VII. entwickelt wurde. Selbst bei mehr oder weniger „hierokratisch" denkenden Theologen behält die Kirche ihre spezifische Differenz unter allen Korporationen, leben die patristischen Bilder von der ecclesia weiter. Das nicht nur historische, sondern geschichtliche Dilemma ist, daß alle diese Bilder sich nicht institutionalisieren lassen. Für den historischen Begriff Corpus christianum bedeutet dies, daß er diesocietas bezeichnen kann, die aus oder jedenfalls mit diesen patristischen Bildern lebt, aber nicht diese Bilder selbst. Jene Bilder aber, mit denen die Dualität des Corpus christianum ausgetragen wurde (Seele/Leib; die zwei Schwerter; Sonne/Mond etc.), versuchen mit verschiedener Tendenz zu unterscheiden und müssen sich zugleich immer auf Eines beziehen, das nicht anders als christlich vorgestellt werden konnte, aber in keinen institutionellen Oberbegriff zu bringen ist. Dem in der spätmittelalterlichen Publizistik schließlich bis zur Identifikation von Papst und Kirche getriebenen Kirchenbegriff antwortete in der Krise des abendländischen Schismas die Theorie des —>Konziliarismus (vgl. Merzbacher). Ullmann (660) hat richtig bemerkt, daß die Vorstellung von der Kirche als einem corpus ecclesiae nach der hierokratischen Auffassung „umgedreht" werden konnte in die konziliaristische Auffassung vom corpus ecclesiae. Vielleicht auch wurde in dieser „Umdrehung" der historische Begriff Corpus christianum geschichtlich konkreter, als er es seit dem konstantinischen Reich sein konnte,

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Corpus Christianum

insofern er auf die Ausbildung einer Welt von gleichberechtigten, vormodern-souveränen Staaten bezogen werden kann, deren principium unitatis zu sein freilich mehr noch als dem Kaiser dem Papst abgesprochen wurde. Am radikalsten hat —»Marsilius von Padua im Defensor pacis(1324) formuliert, was jetzt unter Corpus christianum verstanden werden konnte: Aus seinem Konzilsbegriff (concilium generale vel fidelis legislator humanus [ein allgemeines Konzil oder ein gläubiger menschlicher Herrscher]; II 21,1; II 18,8 u.ö.) ergibt sich eine nahezu völlige Deckungsgleichheit der universitas fidelium und der universitas civium. Die bei Marsilius mitlaufenden Bilder von der sponsa Christi, dem corpus misticum, corpus Christi sind innerhalb dieser Theorie konventionell. Das Corpus christianum hat jetzt neben der papalistischen eine staatskirchliche Problematik. Anders als Marsilius aber treibt O c k h a m „ i m m e r Theologie, auch wenn er politische Fragen a b h a n d e l t " : Ihm geht es d a r u m , daß die beiden Gewalten „in wechselseitiger Abhängigkeit einander zugeordnet sind" 5 , und dies um der libertas evangelica willen (De potestate, c. 1, c. 10; Brev. 11,4). Sie ist das wesentliche principium unitatis der communio fidelium, der Ecclesia universalis, die vom Heiligen Geist geleitet wird und als solche unfehlbar ist. Sie aber ist nicht identisch mit der multitudo christianorum, die wie der Papst und auch das Konzil und jeder Einzelne irren könne: ergo errante tota multitudine Christianorum usum rationis habentium, possunt salvari promissiones Christi per parvulos baptizatos [Während mithin die gesamte Masse der Christen dem Gebrauch der V e r n u n f t folgend irrt, vermögen die Verheißungen Christi durch die getauften kleinen Kinder bewahrt zu werden] (Dial. 1,5, c. 35). Politisch wird dieser spirituelle Kirchenbegriff, wenn es sich um die Frage des Notstandes handelt, und hier auch deutet sich insofern eine Vorstellung vom Corpus christianum an, als in einem solchen Falle der Papst in die temporalia und der Kaiser in die spiritualia einzugreifen befugt sein sollen. Aber gerade in dieser Art der Z u o r d n u n g der beiden Gewalten zeigt sich die unlösbare Problematik des Corpus christianum. Die spätmittelalterliche Literatur bezieht sich hauptsächlich auf die Kompetenz von Papst und Konzil (vgl. Merzbacher). Das großartige Werk De concordantia catholica (1432/33) des —»Nikolaus von Kues mit seiner Entfaltung der Korrespondenz von —»Makrokosmos und M i k r o k o s m o s steht nicht nur am Ende des Konziliarismus, sondern ist ein schöpferischer Rückblick auf tausend Jahre der Anstrengung um die Wirklichkeit des historischen Begriffes Corpus christianum. Von da ab werden die Versuche, die societas von der ecclesia her zu begreifen, selten, beginnt die Zeit der von wechselnden Auffassungen des —»Naturrechts bestimmten säkularen Staats- und Gesellschaftslehren. Schon Heinrich von Langenstein (gest. 1397) hatte eine von O c k h a m formulierte Definition des Generalkonzils bezeichnend mit dem Zusatz verändert: ad tractandum de bono communi (zit. nach Merzbacher 331). Vom bonum commune her aber war die Frage nach der Gliedschaft im corpus Christi nicht einmal zu stellen. Andererseits gewann der Begriff res publica christiana eine Eindeutigkeit, insofern er jetzt die Gesamtheit der christlichen Staaten bezeichnete. Für diese w a r der kräftig weiter blühende Begriff christianitas um so angemessener, je weniger mit ihm Institutionalität verbunden war, die ihren O r t im souveränen Staat gefunden hatte, von dem ja auch die politische Wirklichkeit der konziliaren Theorien bestimmt worden war. Die wandlungsreiche Geschichte des Begriffes ecclesia universalis aber dauerte in der Reformation an. J. Heckel h a t nachdrücklich Luthers Unterscheidung der „rechten Christen" hervorgehoben (273f), aber zugleich gegen Holl u. a. betont und belegt, daß Luther am Begriff ecclesia universalis, bei aller Absetzung von der hierokratischen Konzeption, festhält, daß er ihn verbindet mit der ecclesia spiritualis und daß n u r in dieser Verbindung der „beiden Gestalten der Kirche" Luthers Kirchenlehre verständlich ist. Unbestreitbar hatte der Kirchenbegriff Augustins durch das ganze Mittelalter weitergewirkt und damit auch das Bewußtsein, d a ß viele, die „ d r i n " zu sein scheinen, in Wahrheit „ d r a u ß e n " sind; aber ebenso unbestreitbar ist, daß die Entwicklung des Kirchenrechts im Mittelalter, die Auswirkung des Aristotelismus auf den Kirchenbegriff, die papalistische Theorie und nicht zuletzt die Korrespondenz zwischen dem politischen u n d dem geistlichen Bereich, deren Ablehnung«?« der Kirche willen einer der primären Ansatzpunkte Luthers gewesen war, eine Vorstellung von

Corpus Chrisrianum der ecclesia

universalis

215

bedingten, die v o n der L u t h e r s wesentlich u n d nicht nur in g r a d u e l l e r

T ö n u n g wie im M i t t e l a l t e r v e r s c h i e d e n w a r u n d die in der r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e n K i r c h e erst mit der E n z y k l i k a Mystici

corporis

( 1 9 4 3 ) i n s b e s o n d e r e a u c h hinsichtlich der Kirchenglied-

schaft in eine neue P h a s e g e t r e t e n ist. T r o t z dieser wesentlichen Differenz im V e r s t ä n d n i s der ecclesia

universalis

gibt es ein

kontinuitätstiftendes M o m e n t h o h e n R a n g e s , das zugleich die eindeutigste, weil kirchliche Begründung

der A n s c h a u u n g e n

vom

Corpus

christianum

darstellt:

die

Kindertaufe.

K.—»Barth sah in ihr eine k o n s t i t u i e r e n d e E i n r i c h t u n g für die k o n s t a n t i n i s c h e und die mittelalterliche Kirche, e b e n s o a b e r a u c h für die r e f o r m a t o r i s c h e n K i r c h e n , weil sie sich dieser T r a d i t i o n „ g e b e u g t " h a b e n , u n d v e r w e n d e t dabei den Begriff Corpus

christianum,

diese

„ f e s t g e f ü g t e Einheit v o n V o l k , Gesellschaft, S t a a t , R e i c h u n d K i r c h e . . , in die eben in der K i n d e r t a u f e J e d e r , k a u m g e b o r e n , o h n e n a c h seiner Z u s t i m m u n g g e f r a g t zu w e r d e n , eingegliedert w a r u n d w u r d e " ( K D I V / 4 , 1 8 5 ) . D i e K i n d e r t a u f e (—>Taufe) fundiert nicht nur eine Ekklesiologie, s o n d e r n sie setzt als ein Initiationsritus eine universale Gesellschaft, im Falle der K i n d e r t a u f e also d a s Corpus

christianum,

z w i n g e n d v o r a u s , jene „ g l e i c h a r t i g e Gesell-

s c h a f t " , die H o l l als spezifisch k a t h o l i s c h bezeichnet h a t ( „ h i n e i n g e t a u f t " ) , o h n e jedoch u. E. die K i n d e r t a u f e mit der C h a r a k t e r i s i e r u n g „ G r u n d l a g e des Christenstandes"

(von uns her-

v o r g e h o b e n ) , wie er L u t h e r s V e r s t ä n d n i s d a v o n i n t e r p r e t i e r t , in H i n s i c h t a u f das christianum

Corpus

ü b e r z e u g e n d u n t e r s c h e i d e n zu k ö n n e n ( H o l l , G A u f s . I [ s . o . ] , 3 4 3 f ) .

Die B e g r ü n d u n g der Kritik B a r t h s a n der K i n d e r t a u f e , die mit A u f f a s s u n g e n der —*Täufer z u s a m m e n h ä n g t , a b e r aus einer wesentlich a n d e r e n geschichtlichen Situation k o m m t , enthält die g e s c h i c h t l i c h e B e s t i m m u n g des E n d e s des Corpus

christianum6

und gibt g e r a d e

d a m i t dessen Definition. D a m i t wird zugleich deutlich, d a ß die z w e i t e P h a s e der K o n t r o verse in e i n e m a n d e r e n H o r i z o n t v o n „ K i r c h e in der W e l t " steht als die erste. Anmerkungen 1

2

3

4

5 6

K. Rieker schreibt 1 9 1 4 , es wisse „der moderne Christ. . . m i t der ganzen altchristlichen Eschatologie nichts mehr anzufangen", und stellt jetzt fest, es sei der mittelalterlich-katholische Kirchenbegriff von der Reformation beibehalten worden (Die Entstehung u. gesch. Bedeutung des Kirchenbegriffs: F G für R. Sohm, München 1 9 1 4 , 2 1 ) . Ernst Troeltsch, Die Trennung v. Kirche u. Staat, der staatliche Religionsunterricht u. die theol. Fak., Heidelberg 1 9 0 6 (Akademische Festrede), zeigt die Aktualität seines Umgangs mit dem Begriff Corpus christianum. R. Stadelmann: Hb. der dt. Gesch. 2 ( 1956) 6 1 f; H. Boehmer, Der junge Luther, Gotha 1 9 2 5 , 3 0 0 ff; P. Joachimsen, Die Reformation . . , 1 9 5 1 = Aalen 1 9 7 0 , 126. 2 3 5 . Zum „eucharistisch-sakramentalen Kirchenbegriff" in der Patristik s. J. Ratzinger, Volk u. Haus Gottes in Augustins Lehre v. der Kirche, München 1 9 5 4 . W . Kölmel, W. Ockham u. seine kirchenpolitischen Schriften, Essen 1 9 6 2 , 150 f. O. Köhler, In der Nachgesch. der „christl. W e l t " : Die Einheit der Kirche. F G P. Meinhold, 1 9 7 7 (VIEG 85) 4 1 7 - 4 3 4 . Literatur

Zu 1.: Josef Bohatec, Calvins Lehre v. Staat u. Kirche mit bes. Berücksichtigung des Organismusgedankens, Breslau 1 9 3 7 . - Johannes Heckel, Lex charitatis. Eine juristische Unters, über das Recht in der Theol. Martin Luthers, München 1953 2 1 9 7 3 . - Ders., Art. Corpus Christianum: R G G 3 1 ( 1 9 5 7 ) 1 8 7 2 f. - Arnold Hirsch, Luther et le Corpus christianum: R H M C 4 ( 1 9 5 7 ) 81 - 1 1 1 . - Walther Köhler, Zu Luthers Sehr. „An den christl. Adel dt. N a t i o n " : Z S R G . K 14 ( 1 9 2 5 ) 1 - 3 8 . - Hans Liermann, Studien zur Gesch. des corpus christianum in der Neuzeit: Z S R G . K 2 7 ( 1 9 3 8 ) 4 8 6 - 5 2 9 . - Kurt Matthes, Corpus christianum bei Luther im Lichteseiner Erforschung, Diss. Theol. Marburg 1 9 2 9 ( L i t . ) . - F r i e d rich Meinecke, Luther über das christl. Gemeinwesen: H Z 1 2 1 ( 1 9 2 0 ) 1 - 2 2 . - Gerhard Müller, Luthers Zwei-Reiche-Lehre in der dt. Reformation: Denkender Glaube. FS C. H. Ratschow, hg. v. O. Kaiser, Berlin, 4 9 - 6 9 . - Karl Rieker, Die rechtliche Stellung der ev. Kirche Deutschlands, Leipzig 1 8 9 3 . Klaus Schiaich, Art. Corpus christianum: EStL 2 1 9 7 5 , 3 4 0 - 3 4 2 . - Rudolf Sohm, Kirchenrecht, Leipzig, I 1 8 9 2 . - Ders., Das altkirchl. Kirchenrecht u. das Dekret Gratians, München 1 9 1 8 , 5 7 5 f. Zu 2.: G. Dohrn-van Rossum, Art. Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper: G G B 4 ( 1 9 7 8 ) 5 1 9 - 5 5 4 . - Friedrich Kempf, Papsttum u. Kaisertum bei Innocenz III, R o m 1 9 5 4 ( M H P 3). Ders., Das Problem der Christianitas im 12. u. 13. J h . : H J 7 9 ( 1 9 6 0 ) 1 0 4 - 1 2 3 . - H a n s Liermann (s.o.). - F r i e d r i c h Merzbacher, Wandlungen des Kirchenbegriffs im S p ä t M A : Z S R G . K 3 9 ( 1 9 5 3 ) 2 7 4 - 3 6 1 . -

216

Corvinus

Gerhard Müller, Luthers Zwei-Reiche-Lehre in der dt. Reformation (s.o. Abschn. 1). - Jean Rupp, L'idée de Chrétienté dans la pensée Pontificale des origines à Innocent III, Paris 1 9 3 9 . - "Walter Ullmann, Die Machtstellung des Papstes im M A , Graz 1 9 6 0 .

Oskar Köhler Corpus evangelicorum und catholicorum —»Dreißigjähriger Krieg Corpus juris canonici —»Gratian von Bologna, —»Kirchenrechtsquellen Corpus juris civilis -^Recht/Rechtswesen Corvinus, Antonius

(1501-1553)

1. Leben A. Corvinus (ursprünglich Rabe) wurde am 11. 4. 1501 in Warburg geboren, trat 1519 als Novize in das Kloster Loccum ein, wurde von dort zum Studium nach —»Leipzig geschickt, findet sich jedoch bald darauf als Mönch des Klosters Riddagshausen, aus dem er 1523 vom Abt als Anhänger —»Luthers entlassen wird. Corvinus ist offensichtlich bereits vor 1523 durch das Studium der Schriften des —»Erasmus mit reformatorischen Gedanken in Berührung gekommen. Die theologische Bildung, die er nach seinem Austritt aus dem Kloster erwirbt, beruht im wesentlichen auf Selbststudium. Bis 1528 hält er sich anscheinend vorwiegend in Hessen als Prediger auf. Sichere Quellen über seine Tätigkeit liegen erst seit seiner Anstellung als Prediger an der St. Stephanskirche in Goslar (1528) vor. Corvinus ist Mitglied einer Goslarer Abordnung nach —»Wittenberg, die ihm die Möglichkeit gibt, die dortigen Reformatoren persönlich kennenzulernen und einen von da an stets aufrechterhaltenen Kontakt herzustellen. Bereits 1529 jedoch geht er wieder nach Hessen: Er erhält eine Pfarrstelle in Witzenhausen an der Werra. Einen ersten Höhepunkt seiner Tätigkeit bildet seine Entsendung durch —»Philipp von Hessen zu Franz von Waldeck, dem Bischof von Münster, Osnabrück und Minden, um die gefangenen Führer des besiegten Wiedertäuferreichs zu Münster (—»Täufer) vor ihrer Hinrichtung von ihrem wiedertäuferischen Glauben abzubringen (1535/36). Das Jahr 1537 ist für Corvinus erneut von politischer Aktivität erfüllt: Papst —»Paul III. hat ein Konzil nach Mantua ausgeschrieben. Die hessischen Theologen erstellen darüber ein Gutachten und reisen im Gefolge des Landgrafen zum Tag von Schmalkalden (Februar 1537), wo sich alle namhaften Reformatoren und ihre Landesherren treffen, um die gemeinsame Haltung der Evangelischen gegenüber dem Konzilsplan festzulegen. Zu den Unterzeichnern der —»Schmalkaldischen Artikel gehört auch Corvinus. 1541 begleitet er seinen Landesherrn zum Regensburger Reichstag und wohnt als passiver Teilnehmer dem Religionsgespräch bei. Mit seinem Eingreifen in den Lemgoer Streit um die Glaubensgerechtigkeit setzt Corvinus' Tätigkeit als Reformator westfälischer und niedersächsischer Gebiete ein. Im Frühjahr 1542 beginnt er mit der Neuorganisation der kirchlichen Verhältnisse in der Grafschaft Lippe. Einem Ruf des Bischofs Franz von Waldeck, als Reformator in die münsterländischen Gebiete zu kommen, kann er nicht folgen, da die Herzogin Elisabeth von Münden ihn als Reformator des Kalenberger Landes vorgesehen hatte und ihn nicht freigibt. Nach dem Vorgehen des —»Schmalkaldischen Bundes gegen Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel stehen vorerst jedoch —»Visitationen in dessen Gebieten und zugleich die Reformation der Stadt Hildesheim an, wo er gemeinsam mit —»Bugenhagen tätig wird. Corvinus' Arbeit im Kalenberger Land beginnt wiederum mit einer umfangreichen Visitation, für die er die Instruktion erstellt. Zur Vereinheitlichung der Lehre im Lande führt er Synoden ein, die zweimal jährlich stattfinden sollen. Die Neuerungen müssen z. T. gegen erhebliche Gegnerschaft durchgesetzt werden. Die aufgrund von Steuererhebungen zur Sanierung der Finanzen des Landes entstandene Mißstimmung des Adels gegen die Herzogin richtet sich zugleich gegen Corvinus als ihre rechte Hand in kirchlichen Angelegenheiten. Als mit dem Ubertritt des Herzogs Erich II., des Sohnes der Herzogin, kurz nach seinem Regierungsantritt in das Lager des Kaisers und seiner Teilnahme am —»Schmalkaldischen Krieg die Re-

Corvinus

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katholisierung des Kalenberger Landes zu erwarten steht, versucht Corvinus so viel wie möglich von seinem Werk zu retten. Die entschiedene Stellungnahme gegen das —»Interim von 1 5 4 8 wird ihm jedoch zum Verhängnis, als Erich I I . im Herbst 1 5 4 9 in sein Land zurückkehrt. Dieser verfügt die Rekatholisierung der Kirchen und Klöster und vertreibt diejenigen Pfarrer, die sich nicht fügen. Corvinus wird verhaftet und auf der Festung Kalenberg eingekerkert. Alle Versuche, den Herzog umzustimmen und den Gefangenen zu befreien, bleiben umsonst, bis sich mit dem Vertrag von Passau 1 5 5 2 die politischen Verhältnisse im Reich grundlegend wandeln und Corvinus' Freilassung nicht mehr zu umgehen ist. Ein Versuch Herzog —>Albrechts von Preußen, ihn zur Schlichtung des Osiandrischen Streits nach —»Preußen zu ziehen, scheitert an seiner durch die Haft untergrabenen Gesundheit. Es gelingt ihm noch, das Manuskript seines Betbuches fertigzustellen, bevor er am 5. April 1 5 5 3 in Hannover stirbt.

2. Werk Corvinus entfaltet in der Zeit seiner Tätigkeit in Hessen eine rege schriftstellerische Tätigkeit. Durch seine hier entstehenden homiletischen Schriften wird er zu einem der populärsten Postillenschreiber des 16. Jh. Lediglich Schriften zu aktuellen Anlässen unterbrechen diese Tätigkeit, so die schriftliche Aufzeichnung der Gespräche mit den Täuferführern (1536), die Colloquia theologica, die dazu bestimmt sind, die jüngeren Theologen vor täuferischen Irrtümern zu bewahren, sowie die Schrift Von der Konzilien Gewalt und Autorität aus Anlaß des Tages von Schmalkalden. Luther selbst schreibt - wie schon 1 5 3 5 zur ersten Evangelienpostille - die Vorrede zur 1 5 3 7 erscheinenden Epistelpostille. Gemeinsam mit den bereits früher erschienenen Teilen der Evangelienpostille stellt sie das erste große Hauptwerk des Corvinus dar. Es wird im folgenden in zahlreichen Sprachen verbreitet und erlebt eine Reihe von Neuauflagen. Neben seelsorgerlichen Schriften macht Corvinus sich 1 5 3 9 an die Abfassung einer theologischen Schrift an den niedersächsischen Adel, die diesen von der Parteinahme für Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel in seinem Konflikt mit Philipp von Hessen abhalten soll. Die Auseinandersetzung wird als ein Kampf um das Wort Gottes beschrieben. Im gleichen J a h r verfaßt er für Northeim eine —»Kirchenordnung. Auch für die Reformation von Hameln ( 1 5 4 0 / 4 1 ) wird er tätig. V o r allem aber schafft er für das Kalenberger Land eine Kirchenordnung ( 1 5 4 2 ) , die ihm den R u f des neben Bugenhagen führenden Kirchenorganisators der Reformationszeit einbringt. Corvinus bewährt sich aber auch als volkstümlicher Schriftsteller. Für seine Polemik gegen das Dekret des —»Tridentinums über die Gleichstellung von Schrift und Tradition benutzt er die Form des volkstümlichen Liedes, um seiner Schrift eine weitere Verbreitung zu sichern. Dies liegt für ihn um so näher, als er seit 1 5 4 5 an der Zusammenstellung von Liedern, die er zu den wichtigsten Punkten der Glaubenslehre gereimt hat, zu einem Gesangbuch arbeitet, das er nach Fertigstellung seiner Herzogin zur zweiten Vermählung widmet. Gegen das Interim nimmt er in einem entschiedenen Bedenken Stellung und verbreitet seine Opposition dagegen auch in Form eines dogmatischen Gedichts; die erhoffte Wirkung aber bleibt aus.

3. Bedeutung Bei aller humanistischen Bildung war Corvinus in erster Linie praktischer Theologe, dessen Schwerpunkte einerseits die Schriftauslegung, andererseits die Ordnung der reformatorischen Kirche waren. Theologisch hält er sich streng an die Lehre Luthers. Er fügt hier keinen eigenen Akzent ein. Von —»Melanchthon unterscheidet ihn die Unerbittlichkeit des Festhaltens an dem einmal als wahr Erkannten. Auch angesichts politischer Pressionen war er nicht bereit, Abstriche an seinem streng konfessionellen Standpunkt hinzunehmen. Nicht zuletzt diese Haltung qualifizierte ihn zum Kirchenorganisator, denn eine solche Aufgabe erforderte Durchsetzungsvermögen gegenüber zahlreichen Anfeindungen. Nicht nur im Aufbau, sondern auch in der Verteidigung der lutherischen Reformation erwies er seine Befähigung, wie sich aus seinem Vorgehen sowohl gegen die täuferischen Ideen als auch gegen die tridentinischen Dekrete u. a. erkennen läßt. Beide spielten für ihn eine Rolle in der endzeitli-

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C r a n a c h , Lucas

d.Ä.

chen Auseinandersetzung, die er g e k o m m e n sah. Diese Sicht läßt seine entschiedene Position einleuchtend erscheinen und erklärt seine Fähigkeit, die persönlichen Belange stets hinter den allgemeinen Erfordernissen zurücktreten zu lassen. Quellen Corviniana,hg. v. GeorgGeisenhof. T. I - I I : ZHVNS (1898) 2 9 8 - 3 2 3 ; ZGNKG 5 (1900) 1 - 2 2 2 . - Corviniana, hg. v. E.G. Wolters: ZGNKG 27 (1922) 67—71. — Einzelveröffentlichungen von Schriften und Briefen: Analecta Corviniana, hg. v. Paul Tschackert, 1910 (QDGR 16). - Antonius Corvinus, Confutatio Augustani libri quem Interim vocant (1548), hg. v. Wilhelm Radtke, 1936 (SKGNS 7). Briefwechsel des Antonius Corvinus, hg. v. Paul Tschackert, 1900 (QDGNS 4). - EKO VI/2, 1957. Literatur Adolf Brennecke, Wie sollten nach der Auffassung des Antonius Corvinus, des Reformators der hannoverschen Lande, sich Gemeinde u. Kirche bauen?: ZGNKG 4 0 (1935) 4 1 - 8 2 . - Georg Geisenhof, Corviniana. T . I I I - V : ZGNKG 26 (1921) 2 6 - 1 4 0 . - Hans Heinrich Harms, Art. Corvinus: NDB (1957) 3 7 1 f (Lit.). - Gerhard Heintze, Die Bedeutung des Antonius Corvinus für die Erneuerung der Predigt des Evangeliums: JGNKG 54 (1956) 1 - 1 7 . - Robert Stupperich, Antonius Corvinus: Westfälische Lebensbilder 7 (1959) 2 0 - 3 9 . - Ders., Corvinus u. die Münsterischen Wiedertäufer: J G N K G 53 (1955) 1 - 1 2 . - Paul Tschackert, Antonius Corvinus, 1900 (QDGNS 3). - Gerhard Uhlhorn, Antonius Corvinus, ein Märtyrer des ev.-luth. Bekenntnisses, 1892 (SVRG 37). - Ders., Ein Sendbrief v. Antonius Corvinus an den Adel v. Göttingen u. Kalenberg, 1853 (SVRG 7/2). M a r t i n Stupperich C o u r t , Antoine

—»Frankreich

Cranach, Lucas

der Ältere

I. Cranach, Lucas

der Ältere

1. Leben und Werk 1. Leben

und

und der

Jüngere (1472-1553)

2. Nachwirkung

(Quellen/Ausstellungskataloge/Literatur S. 224)

Werk

Cranach wurde 1 4 7 2 in der oberfränkischen Stadt K r o n a c h geboren, nach der er sich seit 1 5 0 4 mit dem auf seine W e r k e gesetzten M o n o g r a m m „ L C " nannte. Die Fragen nach seinen künstlerischen Anfängen sind „ n o c h immer völlig undurchsichtig" (Kat. Basel 1 1 6 ) . Um 1 5 0 0 ist er nachweisbar mit Ausbesserungsarbeiten auf der Veste C o b u r g beschäftigt. Bald darauf ist er nach Wien gegangen. D o r t bildete sich Anfang des 16. J h . der Donaustil heraus. W ä h r e n d die zahlreichen Darstellungen religiöser M o t i v e die H e r k u n f t der neuen Kunstrichtung aus spätgotischen Stilelementen erkennen lassen, weist die Entdeckung der N a t u r auf Einflüsse der —»Renaissance und des —»Humanismus hin. Die G e s c h i c h t e dieser Kunstrichtung „beginnt mit den G e m ä l d e n , Holzschnitten und Zeichnungen, die Lucas Cranach während seiner Wiener J a h r e . . . geschaffen h a t " (Stange 5 3 ) . Die Zeit seines Aufenthalts in Wien ist durch zwei literarische Nachrichten auf die Zeit zwischen 1501 und 1504/05 eingrenzbar (Koepplin 34). Cranach bekam Zugang zum Kreis des 1501 gegründeten Collegium poetarum et mathematicorum, dessen erster Leiter Konrad Celtis war. Von seinem Stellvertreter Cuspinian und dessen Frau hat der Künstler das bekannte Doppelbildnis gemalt. Cuspinian gehörte auch zur Sodalitas litteraria Danubiana. Damit ist der geistesgeschichtliche Hintergrund eines Teiles der Wiener Werke Cranachs beschrieben. Der Künstler wurde zum Maler und Buchillustrator jener Humanistenkreise und ihrer religiös-naturphilosophischen Gedankenwelt. Die ca. zwanzig erhaltenen Wiener Werke Cranachs sind durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Werk —»Dürers geprägt. Das wird besonders deutlich an den Passionsdarstellungen. Beim Gemälde Christus am Kreuz (Friedländer/Rosenberg 5) hat Cranach durch die Schrägstellung des Kreuzes am Bildrand die Gestalten Marias und des Jüngers Johannes in die Bildmitte gerückt (Abb. 4), so daß eine Mischung zwischen Kreuzigung, Marienklage und —»Andachtsbild entstand (Kat. Basel 120). 1 5 0 5 übersiedelte C r a n a c h nach W i t t e n b e r g und trat als H o f m a l e r in den Dienst sächsischen Kurfürsten —»Friedrichs des Weisen (Abb. 3 ) . U m 1 5 1 2 / 1 3 heiratete er die thaer Ratsherrentochter B a r b a r a Brengbier. Er richtete eine Druckerei ein, handelte Arzneien, Wein u . a . , war 1 5 1 9 — 1 5 4 5 Mitglied des R a t e s und dreimal Bürgermeister.

des Gomit Die

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Bildaufgaben, die der Kurfürst seinem Hofmaler zuwies, waren vornehmlich von spätmittelalterlicher Frömmigkeit und höfischer Repräsentation bestimmt. Der erste Holzschnitt, den Cranach in seinem neuen Amt 1505 schuf, war das Wappen der Bruderschaft des Herzens Jesu (Hollstein 69). Der frömmigkeitsgeschichtliche Hintergrund dieser Devotion ist in der Vorstellung von der Vereinigung des gläubigen Menschenherzens mit dem göttlichen Herzen durch Christus zu suchen (Kat. Basel 462ff). Weitere Holzschnitte geben andere Heilige (Abb. 7) wieder, darunter den hl. Antonius (Abb. 5). Dazu kommt eine Reihe von Holzschnitten mit höfischen Szenen, so z. B. Herzog Johann Friedrich zu Pferde (Hollstein 110). Hier verdienen auch die vier Turnierdarstellungen aus den Jahren 1 5 0 6 - 1 5 0 9 Erwähnung (ebd. 1 1 6 - 1 1 9 ) . Das Turnierwesen war mehr als ein Sport; es galt als eine Übung der Ritterschaft zum Kampf gegen das Böse schlechthin, speziell gegen Heiden und Türken (Kat. Basel 190). Jagdbilder sowie eine Reihe von Tierzeichnungen sind typische Bildaufgaben eines jagdfreudigen Hofes (Friedländer/Rosenberg 2 8 1 ; Rosenberg 6 0 - 7 0 ) . Von den Gemälden aus jener Zeit ist die in der Torgauer Marienkirche erhaltene Tafel mit den 14 Nothelfern zu nennen (Friedländer/Rosenberg 16; Kat. Weimar u. Wittenberg 20). Größere Bedeutung noch kommt dem Wittenberger Katharinenaltar (Friedländer/Rosenberg 14) und der Tafel Hinrichtung der hl. Katharina (ebd. 11) zu, einer der „bedeutendsten Schöpfungen Cranachs und der altdeutschen Malerei" (Winzinger: Kat. Donauschule 32). Auf diesem Altarbild sind auch Friedrich und dessen Bruder —»Johann wiedergegeben. Unter den Werken der Jahre 1 5 0 7 - 1 5 0 9 tauchen Darstellungen mit antiken Motiven auf. Mit der Tafel Venus und Amor (Friedländer/Rosenberg 22) malte Cranach wohl als erster nordischer Künstler die früheste bekannte Darstellung dieser Art.

Am 6 . 1 . 1 5 0 8 wurde dem Künstler anläßlich eines Reichstages in —»Nürnberg von seinem Kurfürsten in Ansehung seiner Verdienste ein Wappen (geflügelte Schlange) verliehen. Im Juli 1508 reiste Cranach im Auftrag Friedrichs in diplomatischer Mission an den Hof des Kaisers —»Maximilian I. in die Niederlande. Dabei porträtierte er den achtjährigen Erzherzog Karl, den späteren Kaiser —»Karl V. Die auf dieser Reise empfangenen Eindrücke der niederländischen Malerei haben Cranachs Kunst in den folgenden Jahren beeinflußt. 1509 erschien das von Cranach illustrierte Heiligtumsbuch, eine Art „geistlicher Baedecker" durch die Wittenberger Reliquiensammlung (Joh. Ficker: Zimmermann, Folgen 7). Im gleichen Jahr bearbeitete er das Thema Christus und die Ehebrecherin (Rosenberg 18). Eine Folge von zwölf sehr realistisch gestalteten Holzschnitten (um 1512) zeigt den Märtyrertod, den die Apostel - mit Ausnahme des hl. Johannes - nach der Legenda aurea erlitten haben (Hollstein 5 3 - 6 4 ) . Mit der Reihe Christus, die zwölf Apostel und Paulus (ebd. 3 1 - 4 4 ) erreicht Cranach um 1511/12 den Höhepunkt seiner Tätigkeit für den Holzschnitt. Einen wichtigen Platz im Schaffen Cranachs und seiner Werkstatt nehmen die zahlreichen Marienbilder ein. Viele davon entstanden serienmäßig und wurden z.T. vom Kurfürsten an befreundete Persönlichkeiten verschenkt (Kat. Basel 522); gelegentlich verwandte der Kurfürst auch „etliche Täfelein von unserm Maler gemalt" als Tauschobjekte zur Erwerbung von Reliquien (Kat. Basel 74). Wie Cranach die Tradition herkömmlicher Mariendarstellungen veränderte, zeigen zwei Beispiele: 1. Das Kreuzigungsbild von 1503 (Friedländer/Rosenberg 5) läßt erkennen, wie der Künstler das Passionsthema zur Marienklage abwandelt (Abb. 4). 2. Das 1504 entstandene Gemälde Ruhe auf der Flucht (ebd. 10, vgl. dazu Hollstein 7f) hat die ikonographische Tradition dieses Themas durch die Einarbeitung der Bildmotive Hortus conclusus und Paradiesgärtlein zu einer Hl. Familie in paradiesischer Landschaft erweitert (Kat. Basel 523 ff). Die Reihe der halbfigurigen Madonnenbilder beginnt mit der Tafel im Dom zu Breslau (Friedländer/Rosenberg 29), die um 1510 entstand. Dieser Typus wurde in mehreren Varianten wiederholt. Hingewiesen sei vor allem auf das populäre Mariahilf-Bild im Innsbrucker Dom St. Jakob (ebd. 393). Das im 17. Jh. nach Innsbruck gelangte Gemälde wurde zum Wallfahrtsbild (Abb. 10), das als „bedeutendstes Bild des deutschen 16. Jahrhunderts in der Tradition der byzantinischen Marienikone" bezeichnet worden ist (Ekkart Sauser, Das Bildnis Mariens in den Kirchen v. Innsbruck, Innsbruck 1970, 18 Anm. 1). Die Legende von Marias Aufnahme in den Himmel bzw. ihrer Krönung istvon Cranach zweimal dargestellt worden: in einem Holzschnitt um 1513 (Hollstein 73 a, b; Kat. Basel 539 f) und in einer Zeichnung für das Gebetbuch Maximilians (Rosenberg 28), an dessen Illustrierung Cranach - zusammen mit den bedeutendsten Künstlern seiner Zeit (u.a. Dürer, A. Altdorfer, Burgkmaier, Breu, Baidung Grien) - beteiligt war.

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Einen entscheidenden Umbruch im Leben und Werk Cranachs bedeutet sein Verhältnis zu —>Luther und der von Wittenberg ausgehenden —»Reformation. Der genaue Zeitpunkt, an dem Cranach und Luther sich in Freundschaft und geistiger Zusammenarbeit fanden, ist nicht genau zu bestimmen. Erst ab 1 5 2 0 liegen Bilddokumente und schriftliche Quellen vor, die erkennen lassen, daß die in dieser Zeit schon andauernde Freundschaft Jahre vorher bereits bestanden haben muß. Es ist sicher, daß Cranach in Wittenberg mit den führenden Reformkräften an der jungen Universität in Verbindung stand (Lüdecke 4 9 - 5 6 ) . Den Beginn der kirchenpolitisch engagierten Arbeiten Cranachs im Dienst der reformatorischen Bewegung stellt der Holzschnitt zu —»Karlstadts Fuhrwagen dar, einem Beispiel frühreformatorischer Propaganda und Polemik (E. Mülhaupt: Luther 5 0 [ 1 9 7 9 ] 6 0 - 7 6 ) . Das Blatt diente als Vorbereitung für die Leipziger Disputation 1519. Die für die Reformation entscheidenden Jahre 1 5 2 0 — 1 5 2 2 bringen die ersten Lutherbildnisse Cranachs. Es handelt sich dabei um den in drei Fassungen bekannten Kupferstich, der Luther als Augustinermönch zeigt (Hollstein 6; Kat. Basel 91); eine Variante stellt ihn mit Buch in einer Nische dar (ebd. 7); von 1521 stammt das Profilbildnis Luthers mit Doktorhut (ebd. 8), das Flechsig (55) als „das größte, schönste und charaktervollste gedruckte Bildnis Luthers von der Hand Lucas Cranachs" (Abb. 2) bezeichnet hat. Als Luther im Dezember 1521 heimlich von der Wartburg nach Wittenberg reiste, schuf Cranach den bekannten Holzschnitt des Junker Jörg (Hollstein 132). Hier verdienen noch drei Lutherporträts (Gemälde) Erwähnung; eines davon wurde erst durch Koepplin publiziert, zwei davon stellen Luther als Junker Jörg dar (Kat. Basel 100; Friedländer/Rosenberg 1 4 7 - 1 4 9 ) . Luthers und Cranachs freundschaftliches Verhältnis wird auch daran erkennbar, daß der Reformator zu den Taufzeugen von Cranachs ältester Tochter gehörte und 1521 dem Künstler als einzigem in einem aus Frankfurt datierten Brief von seiner bevorstehenden „Aufhebung" Kenntnis gab (WA.B 2 , 3 0 5 f). 1521 kam das Passional Christi und Antichristi heraus, zu dem der Holzschnitt zu Kapstadts Himmels- und Höllenwagen von 1 5 1 9 ein Vorgefecht darstellt. In dreizehn antithetischen Holzschnitten wird das unchristliche Verhalten des Papstes dem Leben Christi gegenübergestellt. Die kurzen Textangaben mit Bibelzitaten und Auszügen aus den kanonischen Rechtsbüchern sind von —»Melanchthon und dem Juristen Schwertfeger kommentiert (WA 9 , 7 0 1 — 715). Die ikonographische Tradition solcher Bilder geht über das hussitische Böhmen bis in die Zeit —»Wyclifs zurück (vgl. Preuß, Antichrist 7 1 - 7 5 . 140. 165 f; Zschelletzschky: Kat. Weimar 1 3 9 - 1 4 7 ; Kat. Basel 3 2 2 - 3 2 4 ) . Zur Ausgabe von Luthers Septembertestament von 1 5 2 2 , das von Cranach und dem Goldschmied Döring verlegerisch betreut, von Melchior Lotther d. J. in Cranachs Haus gedruckt wurde, schufen der Meister und seine Werkstatt die 21 Holzschnitte zur Apokalypse. Die Illustration (—»Bibelillustrationen) des Septembertestaments ist ohne Luthers direkte Mitwirkung erfolgt. Daß nur die Apokalypse illustriert wurde, entsprach spätmittelalterlicher Tradition, von der Cranach schon aus verlegerischen und buchhändlerischen Gründen nicht abweichen konnte (Schmidt 94). In Cranachs Illustrationen erhielten die Darstellung des Tieres aus dem Abgrund und der babylonischen Hure jeweils eine Tiara. Diese antipäpstliche Polemik wurde auf den Einspruch Herzog —»Georgs von Sachsen hin in den späteren Ausgaben (Dezember 1522, 1 5 2 4 , 1526) weggelassen, in der Ausgabe von 1 5 3 4 aber wieder hinzugefügt (Mülhaupt, Testament 7 9 f ) . Übrigens kaufte Luthers Gegner H. - » E m ser 1527—um der besseren Verkaufsaussichten willen —von Cranach die Druckstöcke der Illustrationen der Dezemberausgabe von 1 5 2 2 für die Ausstattung seiner Ubersetzung des Neuen Testaments (Schmidt 98). Stil- und formgeschichtlich stellen Cranachs Illustrationen eine Auseinandersetzung mit Dürers großem Werk von 1 4 9 8 dar (Kat. Basel 3 3 2 ) . Wesentlich bleibt, daß Cranach seine Aufgabe weniger in der Erhaltung der Kontinuität ikonographischer Tradition als vielmehr in dienender Hingabe an den neu übersetzten Bibeltext sah (Kat. Basel 332). Zu den Teilausgaben des Alten Testaments 1 5 2 3 / 2 4 bezeichnete Luther z . T . die Stellen, an denen Bilder eingefügt werden sollten. In ihnen kommt bildlich die reformatorische Auslegung des Alten Testaments auf Christus hin zum Ausdruck. Von 1523 stammen Illustrationen zu zwei Kampfschriften Luthers und Melanchthons (Papstesel und

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Mönchskalb, Hollstein 14f; W A . T R 6, Nr. 6 5 2 8 ) . Um 1 5 2 5 / 2 6 gab Cranach das Druckgeschäft auf. Neben bemerkenswerten buchgraphischen Arbeiten, vor allem Titelholzschnitten, seien folgende Arbeiten aus der Zeit bis 1525 erwähnt: Das spätmittelalterliche Bildmotiv des Schmerzensmannes auf dem geöffneten Grab, in dem Passion und Auferstehung Christi zusammengefaßt sind, hat Cranach - zusammen mit den Assistenzfiguren Maria und Johannes - auf einer Altartafel 1524 dargestellt (Friedländer/Rosenberg 156; ähnlich ebd. 3 8 2 - 3 8 4 ; Kat. Basel 4 4 4 - 4 5 2 ) . Der Marienlegende ist das Bildmotiv zur Tafel Abschied Christi von Maria entnommen, die Cranach 1 5 2 0 schuf (Friedländer/Rosenberg 132). Da praktische Konsequenzen aus der reformatorischen Stellung zur Marienverehrung erst 1 5 2 2 / 2 3 erfolgten, können aus dem Zeitpunkt der Entstehung dieses Marienaltars keine Schlüsse auf Cranachs eigene Stellung zur Marienverehrung gezogen werden. Nach dieser Zeit kommen Bildthemen aus der Marienlegende bei Cranach nicht mehr vor; der Künstler folgt auch hier der Lehre Luthers. Mariendarstellungen mit dem Kind, als Halbfigurenbilder vor einer Landschaft oder einem Vorhang (ebd. 160), mit Heiligen als Assistenzfiguren (ebd. 1 3 1 . 1 3 4 ) finden sich aber weiterhin. Erwähnung verdienen etliche Fürstenporträts. Dazu gehören Bildnisse von Herzog Georg dem Bärtigen und seiner Gemahlin (Friedländer/Rosenberg 2 1 9 . 4 1 3 f), Markgraf Georg und der Markgräfin von Brandenburg-Ansbach (ebd. 3 2 6 f), Herzog Heinrich von Sachsen und Frau (ebd. 60£.318 f), Kurfürst Joachim I. von Brandenburg (ebd. 330), —»Albrecht von Preußen (ebd. 2 6 . 3 2 3 ) , Kaiser Karl V. (ebd. 345). Die Porträtaufnahme Friedrichs von 1522 war die letzte, die Cranach von seinem Landesherrn anfertigte^sie wurde zur Vorlage für alle späteren Bildnisse des Fürsten (ebd. 1 5 1 . 1 7 9 f ) . Von Erzbischof —»Albrecht von Mainz schuf der Meister 1520 einen Kupferstich, der zum Vorbild mehrerer Porträtansichten wurde (Hollstein 2; Friedländer/Rosenberg 1 8 2 - 1 8 6 ) . Bemerkenswert ist vor allem die Tafel (Abb. 11), die Albrecht betend vor dem Gekreuzigten zeigt (Friedländer/Rosenberg 183). Die meisterhafte Charakterisierung des am Gekreuzigten vorbeiblickenden Kardinals, der in professioneller Gebetshaltung ins Leere sieht, gehört zu den großen Leistungen der Porträtkunst (Fehr: Lucas Cranach 1 4 7 2 - 1 9 7 2 , 3 f). Die Jahre 1 5 2 4 / 2 5 stellen für Cranach bedeutende Einschnitte dar; so begleitet der Künstler Friedrich den Weisen zum Reichstag nach Nürnberg 1524 und begegnet Dürer. Die künstlerische Frucht dieses Zusammentreffens war Dürers Porträtzeichnung Cranachs (F. Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers, 4 Bde., 1 9 3 6 - 1 9 3 9 , Nr. 898), in der Cranachs „Energie, die Geradlinigkeit des Wesens" (Schade 57) Ausdruck fanden (Abb. 1). Als 1525 Friedrich starb, verlor Cranach einen Gönner, der seinem Hofmaler „Gnade, Wohltat und Vorteil" erzeigt hatte und dem der Künstler zwanzig Jahre gedient hatte (G. Spalatin, Friedrichs des Weisen Leben u. Zeitgesch., hg. v. C. Neudecker/L. Preller, Jena 1851, 34). Bei Luthers Vermählung mit Katharina v. Bora 1525 waren Cranach und seine Ehefrau Zeugen bei der Brautwerbung und Teilnehmer am Hochzeitsmahl; der Meister wurde Taufpate bei Luthers Sohn Hans (Lindau 2 0 2 - 2 1 9 ) . 1525 beginnen Porträtdarstellungen Katharina Luthers (Friedländer/Rosenberg 1 8 8 . 1 9 0 . 3 1 3 ; W A . T R 3, Nr. 3 5 2 8 ) . Auch das Lutherbildnis bekommt um 1525 ein neues Gepräge. Wohl anläßlich eines Besuches der Eltern des Reformators in Wittenberg 1 5 2 7 entstanden die Porträts von Hans und Margaretha Luther (Rosenberg 7 6 ; Friedländer/Rosenberg 3 1 6 f). Wie eng die familiären Beziehungen zwischen Luther und Cranach waren, sollte sich auch 1 5 3 7 beim frühen Tode Hans Cranachs zeigen, als der Reformator den gebeugten Vater in ergreifender Weise tröstete (WA.TR 4 , 4 7 8 7 ) . Von Melanchthon, —»Bugenhagen und —»Spalatin sind mehrere Bildnisse vorhanden (Friedländer/Rosenberg 3 1 4 . 3 1 5 A - G . 3 5 1 . 3 5 1 A). Unter den Nachfolgern Friedrichs (—»Johann der Beständige; —»Johann Friedrich, Abb. 3), änderte sich —abgesehen von den Jahren 1 5 4 7 - 1 5 5 0 - nichts an Cranachs Stellung als Hofmaler, dessen weitere Tätigkeit vor allem dem malerischen Werk, weniger der Graphik galt. Eine Reihe von biblischen Darstellungen entstand in den folgenden Jahren, unter ihnen 1 5 3 0 das Paradiesmotiv, das die Erschaffung des Menschen, Sündenfall und Vertreibung auf einer Tafel zeigt (ebd.

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201 f); ebenso erscheint das Thema Adam und Eva als klassisches Idealbild des schönen Menschen in alttestamentlich-christlichem Sinn (ebd. 1 9 1 - 1 9 9 . 3 5 6 f). Was die neutestamentlichen Bildthemen aus Cranachs Spätwerk betrifft, so ist auf die zahlreichen Marienbilder hinzuweisen (ebd. 2 2 4 - 2 2 9 . 3 8 6 - 3 9 4 ) . Noch 1552 hat der Meister über zwei Marienbilder abgerechnet (Kat. Basel 5 2 2 - 5 2 6 ) . Nicht nur bei altgläubigen Auftraggebern waren Cranachs Mariendarstellungen beliebt, auch in reformatorischen Kreisen hielt man am biblisch legitimen Marienbild fest. Aus der Verbundenheit und Zusammenarbeit mit Luther (z. B. WA.TR 1,533) und Melanchthon (Lüdecke 77) erwuchsen 1529/30 Cranachs Darstellungen Gesetz und Evangelium, mit denen er den „positiven Gehalt der Reformation in der Formensprache der Kunst" ausdrücken wollte (Kummer 54). Ausgehend von zwei Grundtypen der Darstellung hat Cranach das Thema mehrfach variiert (Rosenberg 52f; Friedländer/Rosenberg 221 A - D ; Preuß, Frömmigkeit 183 f; Thulin, Altäre 1 2 6 - 1 4 8 ) . Auf allgemeinverständliche Weise wird das reformatorische Menschenbild und die lutherische Lehre von Sündenfall und Erlösung, —»Gesetz und Evangelium, dargestellt (Abb. 9). Die letzte Ausformung dieses Bildmotivs schuf Lucas Cranach d. J. mit dem Weimarer Altar (Abb. 12), der zu einem „summarischen Glaubensbekenntnis der Reformation" (Kummer 65) wurde. Es zeigt die Symbolik des aus Christi Seitenwunde auf Cranachs d.Ä. Haupt treffenden Blutstrahls. Zu den „reformatorischen Themen" gehört auch das Bildmotiv Jesus segnet die Kinder (Abb. 5), das erst durch Cranach in die Tafelmalerei eingeführt worden ist und von dem im Gemäldekatalog 14 Exemplare aufgeführt sind (Friedländer/Rosenberg 217 A - C . 362 A - H . 363). Der aktuelle Anlaß zur wiederholten Darstellung ist in den Auseinandersetzungen Luthers mit den —»Täufern zu sehen. Das in der spätgotischen Graphik bereits vorkommende Thema Christus und die Ehebrecherin erhielt bei Cranach (Abb. 6; Rosenberg 18; Friedländer/Rosenberg 129.216.364 f) einen neuen Sinn durch die Betonung des rechtfertigenden Handelns Christi sowie der Abweisung der Pharisäer und ihrer Werkgerechtigkeit in dem Hinweis auf Joh8 (Preuß, Frömmigkeit 182f; Kat. Basel 5 1 4 - 5 1 6 ) . Hierher gehört weiter die Darstellung des kanaanäischen Weibes (Rosenberg 56; Friedländer/Rosenberg 366 E) mit dem am oberen Bildrand stehenden Bibelzitat Mt 15,28, das das reformatorische Sola fide zum Ausdruck bringt. Lehrhaften Charakter im Sinne der Reformation zeigt auch die Tafel Christus und die Samariterin am Jakobsbrunnen (Friedländer/Rosenberg 366 C); das angebrachte Zitat Joh 4 , 2 3 weist auf den rechten Glauben und Gottesdienst hin (Kat. Basel 519 f). Die im Gefolge des kirchlichen Neuaufbaus durchgeführten —»Visitationen führten zur Abfassung von —»Katechismen durch Melanchthon (1527) und Luther (1529), für die Cranach eine Reihe von Holzschnittfolgen schuf. Sie zeigen, wie sehr der Künstler den deutschen Bibeltext Luthers zur Grundlage seiner ikonographischen Arbeit machte und sich dabei fast gar nicht an die mittelalterlichen Vorbilder hielt (Grüneisen 1 - 4 4 ; Schiller I V / 1 , 1 1 8 - 1 3 4 ) . Cranachs Verbundenheit mit der lutherischen Lehre kulminierte in den von ihm unter Mitarbeit seines Sohnes Lucas und der Werkstatt geschaffenen Flügelaltären, die in ihrem ikonographischen Gehalt die reformatorische Auffassung von Sünde und Erlösung widerspiegeln. Von diesen Werken kann wohl nur der Altar in der St. Wolfgangkirche zu Schneeberg (Erzgebirge, um 1539) — was Entwurf und Ausführung anbelangt — dem älteren Cranach, unter Mitarbeit des Sohnes, zugeschrieben werden (Friedländer/Rosenberg 379; v. Hintzenstern 94—98). Während der zwölfteilige Altar in fünffacher Sichtmöglichkeit seinen Gedankeninhalt — der Mensch zwischen Gericht und Gnade — enthüllt, bleibt das Predellabild mit dem Abendmahl immer sichtbar (WA 31/1,415). Das spätmittelalterliche Gerichtsbild erhält auf diesem Altarwerk durch das Fehlen der Fürbitter Maria und Johannes des Täufers und die unmittelbare, gläubige Hinwendung des Menschen zu Christus einen neuen Akzent. Die Schneeberger Altarbilder „sind die ersten monumentalen Gestaltungen dieses Versuches der Reformation, im Bilde anschaulich zu machen, wie sich der Mensch vorfindet und welchen Weg er gehen soll" (Thulin, Altäre 35). Auch in Cranachs Spätwerk tauchen wiederholt antike M o t i v e auf. Von Porträtdarstellungen verdienen besondere Erwähnung: Dr. Christoph Scheurl (Jurist, R e k t o r der Wittenberger Universität, Ver-

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d.Ä.

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fasser einer Laudatio auf Cranach, Friedländer/Rosenberg 23; Kat. Basel 219.240.264); Dr. Johann Schöner (Astronom und Geograph, Friedländer/Rosenberg 331); Dr. Johann Scheiring (ebd. 344); das Bildnis eines Bürgermeisters von Weißenfels (ebd. 63); dem von Cranach porträtierten brandenburgischen Astronomen und Astrologen Johannes Carion (ebd. 177 C) kommt beträchtliche geistesgeschichtliche Bedeutung zu (Kat. Basel 2 6 6 - 2 7 0 ) . Die letzten Lebensjahre des Künstlers waren überschattet von den im Gefolge des —>Schmalkaldischen Krieges entstandenen politischen W i r r e n , in deren Verlauf J o h a n n Friedrich gefangengenommen wurde und die Kurwürde verlor. Cranach hat im Lager des kaiserlichen Heeres kniefällig Karl V. um G n a d e für seinen Landesherrn gebeten (Lüdecke 8 0 ) . Der M e i s t e r hatte seine öffentlichen Ämter niedergelegt, das Dienstverhältnis beim H o f galt als unterbrochen; es wurde erst 1 5 5 0 erneuert, n a c h d e m er seinem Dienstherrn in die Gefangenschaft nach Augsburg und Innsbruck gefolgt war. In Augsburg porträtierte der Künstler Kaiser Karl V. (Friedländer/Rosenberg 3 4 5 A - C ; Kat. Basel 3 0 3 f) und später auch Tizian (Schade 4 4 4 Nr. 4 0 8 ) . 1 5 5 2 kehrte J o h a n n Friedrich mit seinem H o f m a l e r in seine neue Residenz in W e i m a r zurück. Im Haus seines Schwiegersohnes, des W e i m a r e r Kanzlers Christian B r ü c k , ereilte Cranach a m 1 6 . 1 0 . 1 5 5 3 der T o d . Sein Grabstein trägt die Inschrift: „Im J a h r e Christi 1 5 5 3 , am 16. O k t o b e r , starb gläubig Lucas C r a n a c h I., sehr schnell schaffender M a l e r und Wittenberger Bürgermeister, der wegen seines tugendvollen Charakters von drei sächsischen Kurfürsten sehr geliebt war, im 8 1 . L e b e n s j a h r " (übers, aus dem Lat.). Zur Ikonographie Cranachs: Die von Cranach bekannten Selbstbildnisse geben den Künstler vorwiegend als Assistenzfigur wieder; so auf dem Holzschnitt Gefangennahme Christi (Hollstein 11), auf den Tafeln Hl. Sippe (Friedländer/Rosenberg 34), Enthauptung Johannes des Täufers (ebd. 73), Judith und Holofernes (ebd. 214). Nach Friedländef hat das Selbstbildnis in den Uffizien (1550) „einen gewissen Anspruch auf Eigenhändigkeit" (ebd. S. 29), was nicht unumstritten ist (ebd. 425); dasselbe gilt für das auf Schloß Stolzenfels bei Koblenz befindliche und von Schade als autonomes Selbstbildnis Cranachs anerkannte Porträt (Schade 5 6 - 5 9 ; Kat. Basel 78; Friedländer/Rosenberg 214 A). Zur Genealogie Cranachs: Aus der Ehe Cranachs mit Barbara Brengbier (gest. Dez. 1540) gingen fünf Kinder hervor. Die beiden Söhne Hans ( 1 5 1 3 - 3 7 ) und Lucas d. J. arbeiteten in der Werkstatt mit. Die Tochter Barbara ( 1 5 2 0 - 1 6 0 1 ) heiratete 1543 den Sohn des kursächsischen Kanzlers G. —»Brück, Dr. Christian Brück. Bemerkenswert ist, daß „eine Unmenge von Intelligenzen, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert" aus dem Cranachstamm hervorgegangen ist; z. B. war —»Goethes Großmutter (Anna Margaretha Lindheimer-Textor) eine Cranachidin; ebenso gehören die Romantiker Gebrüder Schlegel zu den Nachfahren Cranachs (Walther Tröge, Lucas Cranach als genealogisches Phänomen: FS Armin Tille, Weimar 1930, 118-133). 2.

Nachwirkung

2.1. Lucas Cranach im Spiegel der Zeitgenossen und der Nachwelt. Während Melanchthon urteilte: „ D ü r e r . . . malte alles erhaben und bedeutend, differenziert durch reiche Linienführung. C r a n a c h s Bilder dagegen sind schlicht, und o b w o h l sie einen einschmeichelnden C h a r a k t e r h a b e n , so offenbart der Vergleich mit Dürers Werken dennoch den großen A b s t a n d " (Kat. Basel 8 1 f), stellte Dürer C r a n a c h über alle zeitgenössischen M a l e r wegen seiner Anmut, Leichtigkeit und Gefälligkeit (ebd. 8 3 ) . D e r Wittenberger Superintendent G e o r g Mylius hat in seiner Trauerpredigt für Lucas C r a n a c h d. J . 1 5 8 6 dessen Vater mit dem Evangelisten Lukas verglichen, der Arzt und M a l e r gewesen sei. W i e der Evangelist Lukas bei dem in R o m gefangenen Paulus, so h a b e C r a n a c h bei seinem gefangenen Kurfürsten ausgeharrt. Mylius lobt „die schönen T a f e l n , Konterfeie, Epitaphe und dergleichen Gemälde, so von ihrer H a n d gemalt hin und wieder in Kirchen und Schulen, in Schlössern und Häusern gesehen w e r d e n " (Lüdecke 9 2 - 9 4 ) . Die Spannweite der W i r k s a m k e i t C r a n a c h s als Künstler, H u m a n i s t , Bürger und M i t a r b e i t e r Luthers a m W e r k der R e f o r m a t i o n wird auch in Scheurls Laudatio und Grunderaus C h r o n i k deutlich (Lüdecke 4 9 - 5 5 ; 8 4 - 8 8 ) . Bis ins 19. Jh. hinein hat Cranachs Werk - abgesehen von Hellers und Schuchardts Monographien - nicht immer die gebührende Würdigung erfahren. Den entscheidenden Wandel brachten die Dresdner Ausstellung 1899 und die Cranachstudien von Eduard Flechsig, der den Mangel an fundierten Kenntnissen über Cranach beklagte. Aus der in den folgenden Jahrzehnten anschwellenden Literatur ragen drei Veröffentlichungen hervor: der Gemäldekatalog von M. Friedländer/J. Rosenberg, die Monographie von Schade und der Katalog der Basler Ausstellung von D. Koepplin/T. Falk.

224

Cranach, Lucas

d.Ä.

Ob Cranachs Spätwerk als ,Manierismus' gekennzeichnet werden darf, wird bis heute diskutiert (Kat. Basel 421—432). Auch als ein Beitrag zu dieser Frage mag die Feststellung Gert v. d. Ostens angesehen werden, daß bei aller Massenproduktion' der Cranach-Werkstatt - die die Gefahr der Erstarrung in manieristischen Formeln verstärkt - doch viel weniger Kopien als Varianten hergestellt wurden (Dt. u. niederl. Kunst der Reformationszeit, Köln 1973, 201). Für die Entwicklung der Graphik ist bedeutsam, daß Cranach als einer der ersten den farbigen Clair-Obscur-Druck verwendet hat (Kat. Basel 644f). Auch in der Geschichte der Medaille nimmt Cranach neben Dürer und Burgkmaier einen bedeutenden Platz ein (Kat. Basel 8 4 - 8 6 ) . Wie sehr sich die Nachwirkung des Cranach Werkes auch auf Künstler des 20. Jh. erstreckt, zeigen u. a. dieCranach-Paraphrasen Picassos (Abb. 13.14; Kat. Cranach u. Picasso, Nürnberg 1968; Kat. Basel 786 f). 2 . 2 . Cranachs Bedeutung für die Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte, ihre Ikonologie und Ikonographie liegt darin, daß er zum „eigentlichen Maler der Wittenberger Reformat i o n " wurde (Preuß, Frömmigkeit 1 7 7 ) . Dafür sind vier Themenkreise seines Werkes bestimmend: 1. das Porträt der Wittenberger Reformatoren, besonders Luthers, dessen Nachwirkung bis in die Gestaltung moderner Lutherbilder zu spüren ist (O. Thulin: LuJ 2 3 [ 1 9 4 1 ] 1 2 3 - 1 4 8 ) ; 2. die Veranschaulichung von W o r t und Sakrament, was vor allem auf den Reformationsaltären (z. B. Schneeberg,Wittenberg) hervortritt und weit bis ins 18. Jh. hinein nachgewirkt hat; 3. die Einführung gewisser biblischer Szenen in die bildende Kunst; 4. die bildliche Ausformung der lutherischen Grundlehre von Gesetz und Evangelium. (Dieses Thema drang auch nach Süden und in den Südosten vor. Das zeigt ein ähnliches Bildprog r a m m in Neuburg a. d. Donau von Hans Bocksberger 1 5 4 3 [U. Riedinger: Z B L G 3 8 ( 1 9 7 5 ) 900—944], Selbst in protestantischen Enklaven der^Steiermark läßt sich das Bildmotiv Gesetz und Evangelium nach Cranach mehrfach nachweisen [Ernst Guldan/Utto Riedinger OSB, Die prot. Deckenmalereien der Burgkapelle auf Strechnau: Wiener Jb. für Kunstgesch. 18 (22) ( 1 9 6 0 ) 2 8 - 8 6 ; Wilhelm Steinbock, Kunstwerke der Reformation in der Steiermark: Johannes Keppler 1 5 7 1 - 1 9 7 1 . Gedenkschr., Graz 1 9 7 5 , 4 0 7 - 4 7 3 , Taf. 3 7 - 6 4 ] . ) Quellen Werner Schade (s. u.) 401—453.477 (Lit.). - Werkverzeichnisse: Max J. Friedländer/Jakob Rosenberg, Die Gemälde v. Lucas Cranach, Berlin 1932, Basel/Stuttgart 2 1 9 7 9 (hg. v. Gary Schwartz). - Jakob Rosenberg, Die Zeichnungen Lucas Cranachs d. Ä., Berlin 1960. Ausstellungskataloge Weimar und Wittenberg 1953: Kat. der Lucas-Cranach-Ausstellung. - Linz 1965: Die Kunst der Donauschule 1 4 9 0 - 1 5 4 0 . - Nürnberg 1968: Cranach & Picasso. - Weimar 1972: Lucas Cranach. Ausstellung zu seinem 500. Geburtstag. - Coburg 1972: Lucas Cranach d. Ae. 1 4 7 2 - 1 5 5 3 . Grafik. Berlin 1973: Lucas Cranach. Gemälde - Zeichnungen - Druckgraphik. - Basel 1974: Lucas Cranach. Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphik, 2 Bde., 1974/76. Literatur Bibliographien: Heinz Ladendorf, Lucas Cranach d.Ä. Der Künstler u. seine Zeit, Berlin 1953, 1 7 8 - 2 0 2 . - Herbert Schwartz, Lucas Cranach d. Ä. Bibliogr., Kronach 1972 (dazu: Nachtr. v. 1. 1.-30. 9. 1972). Biographisches: Horst Behrend, Lucas Cranach, Maler der Reformationszeit, Berlin 1967. - Cranach, Lucas d. Ä. Der Künstler u. seine Zeit, hg. v. H. Lüdecke, Berlin 1953. - Cranach, Lucas 1 4 7 2 - 1 9 7 2 , Bonn-Bad Godesberg 1972. - Joseph Heller, Lucas Cranach's Leben u. Werke, Bamberg 1821, Nürnberg 2 1854. - M. B. Lindau, Lucas Cranach, Leipzig 1883. - Heinz Lüdecke, Lucas Cranach d. Ä. im Spiegel seiner Zeit, Berlin 1953. - Werner Schade, Die Malerfamilie Cranach, Dresden 1974, Wien/München 2 1979. - Christian Schuchardt, Lucas Cranach d. Ä. Leben u. Werke, 3 T., Leipzig 1851/71. Einzelnes: Akten des Kolloquiums zur Basler Cranach-Ausstellung, Basel 1977. - G. Bauch, Zur Cranach forsch ung: RKW 17 (1894) 4 2 1 - 4 3 5 . - Stephan Beissel, Gesch. der Verehrung Marias in Deutschland während des MA, Freiburg i. Br. 1909 = Darmstadt 1972. - Lucas Cranach. Künstler u. Gesellschaft, Referate des Colloquiums. . ., Wittenberg 1973. - Ekkehart Fabian, Zum „Wittenberger Reformatorenbild" Cranachs: T h Z 8 (1952) 2 3 2 - 2 3 6 . - J o h a n n e s Ficker, Die Bildnisse Luthers aus der Zeit seines Lebens: LuJ 16 (1934) 1 0 3 - 1 6 1 . - Eduard Flechsig, Cranach-Studien, Leipzig 1900. - Max Geisberg, Der dt. Einblattholzschnitt in der ersten Hälfte des 16. Jh., München 1 9 2 3 - 1 9 2 9 (Bilderkat.

TAFEL 1

«At OPVS ErrlGIE! HAI I EST MOMTVKA LVTHtl- I AethernAjW MENTIS EypF.iAin lpjt SVAE

Abb. 1: Albrecht Dürer, Lucas Cranach d. Ä., Zeichnung, 1 5 2 4

Abb. 2 : Lucas Cranach d. Ä., Martin Luther als Augustinermönch mit Doktorhut, Kupferstich, 1 5 2 1

A b b . 3 : Lucas Cranach d.Ä., Die drei Kurfürsten von Sachsen: Friedrich der Weise, J o h a n n der Beständige und J o h a n n Friedrich der Großmütige, um 1 5 3 5

Abb. 4: Lucas Cranach d. Ä., Die Kreuzigung, 1503

TAFEL 3

A b b . 6: Lucas Cranach d . Ä . , Christus und die Ehebrecherin, 1 5 3 2

TAFEL 4

TAFEL 5

TAFEL 8

C r a n a c h , Lucas

d.J.

225

1930). - Ernst Grüneisen, Grundlegendes für die Bilder in Luthers Katechismen: LuJ 20 (1938) 1 - 4 4 . Herbert v. Hintzenstern, Lucas Cranach d. Ä., Altarbilder aus der Reformationszeit, Berlin 1972 2 1 9 7 5 . - F . W. H. Hollstein,German engravings, etchings, and woodcuts, ca. 1 4 0 0 - 1 7 0 0 , Amsterdam, II 1954. - Hanna Jursch, Der Cranach-Altar in der Stadtkirche in Weimar: WZ(J) GS 3 (1953/54) 6 9 - 8 0 . - Dieter Koepplin, Cranachs Ehebildnis des Johannes Cuspinian v. 1502, Basel 1974. - Heinrich Kühne, Lucas Cranach d. Ä. als Bürger Wittenbergs, Wittenberg 1972. - Bernhard Kummer, Reformatorische Motive in der Kunst Cranachs, seines Sohnes u. seiner Schule, Diss. Jena 1958. - Erwin Mülhaupt, Luthers Testament, Witten/Berlin 1972. - Hans Preuß, Die Vorstellungen vom Antichrist im späten MA, bei Luther u. in der konfessionellen Polemik, Leipzig 1906. - Ders., Zum Luthertum in Cranachs Kunst: NKZ 32 (1921) 1 0 9 - 1 2 1 . - Ders., Die dt. Frömmigkeit im Spiegel der bildenden Kunst, Berlin 1926. - Gertrud Schiller, Ikonographie der christl. Kunst, Gütersloh 1966 ff. - Philipp Schmidt, Die Illustration der Lutherbibel 1 5 2 2 - 1 7 0 0 , Basel 1962. - Albert Schramm, Die Illustration der Lutherbibel, Leipzig 1923. - Alfred Stange, Malerei der Donauschule, München 1964. - Oskar Thulin, Cranach-Altäre der Reformation, Berlin 1955. - Hans Volz, Martin Luthers dt. Bibel, Hamburg 1978. - Hildegard Zimmermann, Lucas Cranach d. Ä., Folgen der Wittenberger Heiligtümer u. die Illustration des Rhau'schen Hortulus animae, Halle a. d. S. 1929. Hans Düfel II. C r a n a c h , Lucas 1. Leben

und

der Jüngere

(1515-1586)

Werk

Lucas C r a n a c h d . J . wurde am 4. 10. 1 5 1 5 in Wittenberg geboren. Er erhielt seit 1 5 2 7 / 2 9 in der W e r k s t a t t des Vaters seine Ausbildung als M a l e r und Zeichner für den Holzschnitt. Da von einer größeren Kunstreise nichts b e k a n n t ist, wird er bedeutende Kunstwerke nur in Wittenberg und im sächsischen Umland kennengelernt h a b e n , wo allerdings hervorragende Beispiele altdeutscher, niederländischer und italienischer Malerei zu finden waren. 1 5 3 5 wird er erstmals als Werkstattmitglied erwähnt. Nach dem T o d des älteren Bruders H a n s 1 5 3 7 in Bologna wuchs ihm eine führende R o l l e im Werkstattbetrieb zu. 1 5 4 1 heiratete er B a r b a r a Brück. Dieser Ehe, die nur neun J a h r e währte, entstammten vier Kinder. Cranach d. J . heiratete 1 5 5 1 in zweiter Ehe M a g d a l e n a Schurff, eine N i c h t e M e l a n c h t h o n s . V o n den fünf Kindern aus dieser Verbindung setzte der älteste Sohn Augustin die Berufstradition des Vaters fort; er starb 1 5 9 5 als M a l e r und R a t s h e r r in Wittenberg. Lucas C r a n a c h d. J. bekleidete wie sein Vater öffentliche Ämter als R a t s h e r r , K ä m m e r e r und Bürgermeister Wittenbergs und gelangte zu g r o ß e m W o h l s t a n d . Er starb a m 1 5 . 1. 1 5 8 6 in Wittenberg und wurde in der Stadtkirche beigesetzt. C r a n a c h d. J . hatte seit 1 5 5 0 die Leitung der W e r k s t a t t ü b e r n o m m e n . Das A u s m a ß der Beteiligung der C r a n a c h s ö h n e , besonders Lucas d. J . , a m Spätwerk des Vaters bereitet der Forschung nach wie vor Schwierigkeiten. Gegenüber dem W e r k des Vaters tritt beim jüngeren Cranach die Vielfalt der T h e m e n zurück. „Fürstenporträts und Altargemälde für evangelische Kirchen treten in den Vordergrund. H a u p t m o t i v e der Altargemälde sind die T a u f e , die Kreuzigung sowie das A b e n d m a h l , das heißt Z e n t r a l t h e m e n der lutherischen T h e o l o g i e " (Junghans 1 4 5 ) . Unter den Porträts für die sächsischen, anhaltischen und hohenzollernschen Fürstenhäuser (Schade, M a l e r f a m i l i e T a f . 2 3 4 f . 2 4 0 - 2 4 5 . 2 5 7 f . 2 6 0 - 2 6 2 ) , deren Bildformate gegenüber denen des älteren Cranach wesentlich größer sind, beansprucht das Bildnis des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg besondere A u f m e r k s a m k e i t ; es hat „als Repräsentationsbild eines Herrschers von R a n g in der deutschen Kunst nur wenig Verw a n d t e " (ebd. 1 0 2 ) . Die nicht sehr zahlreichen Zeichnungen Cranachs sind „zweckgebundene Entwürfe oder Bildnisaufnahmen. Die Z e i c h n u n g ,an sich' wurde im Cranach-Kreis kaum gepflegt" (H. Geissler: Kat. Zeichnung in Deutschland 1 5 4 0 - 1 6 4 0 , Stuttgart 1 9 7 9 , 15). Zu den Reformationsaltären, die vorwiegend auf den jüngeren Cranach zurückgehen, gehört u. a. der Altar in der Wittenberger Stadtkirche. In den Darstellungen der Vorderseite wird „der Anspruch, echte Kirche zu sein, in dieser biblischen Begründung erhoben und in einem Bekenntnis der führenden Wittenberger Reformatoren gegeben: Melanchthon tauft das Kind, Bugenhagen hält die Beichte und Luther selbst verkündigt das Wort von der Kanzel, ist außerdem im Kreise der Jünger am Abendmahls-

226

Cranmer

tisch zu finden" (Thulin, Altäre 11). In das Jahr des Augsburger Religionsfriedens 1555 ist der Weimarer Altar (Abb. 12) zu datieren. Die letzten Reformationsaltäre des jüngeren Cranach in Dessau und Kemberg (ebd. 9 6 - 1 2 5 ) stammen aus dem Jahr 1565, wobei der letztere in seiner Thematik dem Schneeberger ähnelt. Hier sitzen „alle Reformatoren mit Christus vereint als die Schar der Jünger am Abendmahlstisch, vor dem der Stifter des Bildes, Joachim von Anhalt, kniet, während. . . der jüngere Cranach sich . . . dieser Tischgemeinschaft dienend eingefügt hat" (ebd. 98). Ikonographisch bedeutsam erscheint die Zeichnung Christus in der Vorhölle (Rosenberg, Anh. 22; Thulin, Altäre Abb. 168). Cranach d. J. hat immer wieder auf die für den reformatorischen Glauben grundlegenden biblischen Bildmotive zurückgegriffen und sie - z. T. für Epitaphien - bearbeitet. Die graphischen Arbeiten treten dagegen zahlenmäßig zurück, auch die Bibelillustrationen (Schmidt 2 1 9 - 2 2 1 ) . Vereinzelt finden sich antike Themen und Jagdbilder (Schade, Taf. 2 1 3 - 2 1 5 . 2 0 9 f ) . Das Bildnis Luthers hat durch den jüngeren Cranach seine endgültige Fassung für die Nachwelt bekommen (J. Ficker: LuJ 16 [1934] 130.134.143 f. 148). Heinrich Böhmer hat über diese Darstellungen geäußert, sie zeigten „fast alle einen Mann in der behäbigen Fülle des Alters mit einem breiten Bauerngesichte, auffallend gut entwickelten Kinnbacken, merkwürdig vollem, braunen Lockenhaar, kleinen, sanft blickenden Augen und im ganzen etwas schwammigen Zügen" (Luther im Lichte der neueren Forschung, 4 1 9 1 7 , 3 ) . „Es ist sehr zu beklagen, daß dieser Typus. . . solche Popularität und Verbreitung erlangt hat" (Preuß 13). Ein Porträt Melanchthons verdient im Hinblick auf den theologiegeschichtlichen Hintergrund Erwähnung. 1558 hatte dieser in einer akademischen Rede über Basilius d. Gr. (Op. IX,442) den griechischen Kirchenvater als Zeugen für die reformatorische Auffassung von der Rechtfertigung allein durch den Glauben in Anspruch genommen. Cranachs Bild von 1559 zeigt Melanchthon mit aufgeschlagenem Buch und der Textstelle bei Basilius samt seiner Interpretation (Schade 103, Taf. 228). 2.

Nachwirkung

Die Bedeutung des Wirkens Cranachs d. J. für die Kunstgeschichte ist sowohl in seiner hervorragenden Porträtkunst innerhalb der Spätrenaissance als auch in der Weiterbildung reformatorischer Ikonographie und der Tradierung der Reformatorenbildnisse zu sehen. Seine selbstlose Hingabe an das Werk des Vaters und sein unerschütterliches Festhalten an der lutherischen Lehre besitzen exemplarischen Charakter. Literatur Ein Werkverzeichnis und eine umfassende Monographie zu Lucas Cranach d. J. fehlen. - Joseph Heller, s. o. Abschn. I, 2 8 9 - 3 1 1 . - Helmar Junghans, Wittenberg als Lutherstadt, Göttingen 1979. Hanna Jursch, Der Cranach-Altar: Die Stadtkirche zu St. Peter u. Paul in Weimar, hg. v. Eva Schmidt, Berlin 1955, 6 5 - 8 3 . - Hans Preuß, Lutherbildnisse, Leipzig 1913 2 1918. - Jakob Rosenberg, s. o. Abschn. I. - Werner Schade, Die Stellung der Söhne innerhalb der Werkstatt Cranachs (1534—1538): Lucas Cranach. Künstler u. Gesellschaft, Wittenberg 1973, 1 1 6 - 1 1 8 . - Ders., Malerfamilie (s.o. Abschn. I). - Philipp Schmidt, s. o. Abschn. I. - Karl Schütz, Die sächsische Fürstenreihe des jungen Lucas Cranach aus der Ambraser Porträtgalerie Erzherzog Ferdinands: Akten des Kolloquiums zur Basler Cranach-Ausstellung 1974, Basel 1977, 3 2 - 3 4 . - Oskar Thulin, Cranach-Altäre (s.o. Abschn. I). Ders., Die Reformatoren im Weinberg des Herrn. Ein Gemälde Lucas Cranachs d. J.: LuJ 25 (1958) 1 4 1 - 1 4 5 . - Weitere Literatur s. o. Abschn. I. H a n s Düfel Cranmer, Thomas 1.

(1489-1556)

Leben

Cranmer wurde am 2. Juli 1 4 8 9 in Aslacton (Nottinghamshire, England) als der jüngere Sohn eines verarmten Landedelmannes geboren. Da er kein Erbe zu erwarten hatte, aber früh als begabt erkannt wurde, schickte man ihn mit 14 Jahren auf die Universität C a m bridge, w o er 1 5 1 1 das Bakkalaureat bestand. 1 5 1 4 wurde er Magister und darauf zum Fellow von Jesus College erwählt. Sein gründlich traditionelles Studium umfaßte sowohl die via antiqua (—»Duns Scotus) als auch die via moderna (—»Nominalismus); die letztere hinterließ bei ihm den größeren Einfluß. Kurz darauf verheiratete er sich (seine Frau war entweder ein Dienstmädchen oder die Nichte einer Gastwirtin), weshalb er seine Stellung im College aufgeben mußte. Doch starb seine Frau binnen kurzem, und das College nahm ihn wieder auf. Nun widmete er sich ausschließlich der Theologie, studierte besonders die lateinischen Kir-

Cranmer

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chenväter und fing an, umfangreiche Zitatensammlungen zusammenzustellen, die den besten Beweis für seine geistige Entwicklung liefern. In den zwanziger Jahren erreichte die Nachricht von Luthers Reformation auch —»Cambridge, w o eine G r u p p e jüngerer Theologen eine Diskussionsgruppe bildete, die sich regelmäßig traf, um die neue Lehre zu studieren; sie erhielt den Spitznamen Little Germany. O b w o h l C r a n m e r Mitglied war, spielte er keine führende Rolle und scheint damals auch noch in keiner Weise dem Luthertum geneigt gewesen zu sein. In einer Beziehung trennte er sich jedoch zu dieser Zeit von der Tradition. Unter dem Einfluß des deutschen Schismas studierte er das Kirchenrecht und kam bald zu der Uberzeugung, daß der päpstliche Supremat in der Kirche wider den Willen Gottes sei. Diese Bekehrung hatte bedeutende Folgen. 1527 begann König —»Heinrich VIII. seinen ersten Ehescheidungsprozeß. Bald suchte er bei Theologen und Kanonisten nach wissenschaftlicher Unterstützung. Wie Cranmer hineingezogen wurde, ist nur durch eine Legende belegt, aber 1530 w u r d e der u n b e k a n n t e Cambridger Theologe jedenfalls dem König vorgestellt und erklärte ihm seine Zweifel über das Papsttum. D a m i t begann seine große Karriere in Kirche und Staat. 1530 erhielt er zwei deutliche Zeichen der königlichen Gunst, als er zum Erzdiakon von T a u n t o n und H o f k a p l a n ernannt wurde. An der sehr aktiven Vorbereitung der ideologischen Grundlagen f ü r die Unabhängigkeitserklärung der englischen Kirche arbeitete er mit und machte dabei die Bekanntschaft des neuen Ministers T h o m a s Cromwell (ca. 1 4 8 5 - 1 5 4 9 ) , der in den nächsten Jahren die politische und kirchliche Reformation in —»England einleiten sollte. Als Mitglied der Botschaft, die im selben Jahre zur Kaiserkrönung —»Karls V. nach Bologna geschickt wurde, war er besonders mit dem Sammeln von Gutachten zugunsten Heinrichs VIII. beschäftigt, die den Papst dazu bringen sollten, die Ehe des Königs f ü r ungültig zu erklären. Doch zogen sich die Verhandlungen hin, und Cranmer schien nun für eine diplomatische L a u f b a h n bestimmt zu sein. 1532 war er am kaiserlichen Hof in Deutschland. In N ü r n b e r g lernte er Andreas —»Osiander kennen, nahm sich dessen Nichte zur Frau (weil er schon zum Priester geweiht war, hielt er die Ehe jahrelang geheim) und akzeptierte nun vollkommen die Rechtfertigungslehre Luthers, ohne offiziell zum Protestantismus überzutreten. Bei Cranmer ging alles immer langsam und bedächtig; seine persönliche Entwicklung glich der eines sorgfältigen Gelehrten, nicht der eines begeisterten Propheten. Im August 1532 starb der Erzbischof von Canterbury, und unter dem Einfluß von Anna Boleyn (zu deren Partei Cranmer sich bekannte) und Cromwell wählte der König den noch wenig n a m h a f t e n Erzdiakon zum Nachfolger. Vor der Konsekration (März 1533) legte C r a n m e r einen beurkundeten Eid ab, daß ihn kein Versprechen gegenüber dem Papst von seinen Pflichten an den König entbinden könne, ein Vorbehalt, auf dem er selbst bestanden hatte. Z u n ä c h s t tat er, was von ihm erwartet war: Im M a i löste er Heinrichs erste Ehe auf und k r ö n t e Anna zur Königin. Damit wurde er Heinrichs beliebtester und gehorsamster Bischof, der einzige, der nie des Königs immer bereites M i ß t r a u e n erregte. 1536 löste er die zweite Ehe auf und 1540 die dritte; 1542 war er derjenige, der das Risiko auf sich zu nehmen geeignet schien, Heinrich über den Ehebruch seiner f ü n f t e n Frau aufzuklären. Er war es auch, der am Ende (Jan. 1547) dem König einen friedlichen T o d vermittelt hat. Inzwischen jedoch entfernte sich C r a n m e r immer weiter von Heinrichs im allgemeinen katholischer Orthodoxie. In den Zehn Artikeln von 1536, an denen er jedenfalls mitgearbeitet hat, bewies er, d a ß er Luthers Sakramentstheologie a n g e n o m m e n hatte. Spätestens 1546, aber wahrscheinlich schon um 1537, lehnte er ausdrücklich die Transsubstantiation ab. T r o t z der 1539 auftretenden Reaktion, die Cromwell den Kopf kostete, riskierte der Erzbischof weiter die G e f a h r eines Ketzerprozesses. O b w o h l es dem König nicht bekannt wurde, beschäftigte er sich während der vierziger Jahre mit der Zusammenstellung einer englischen Liturgie, die die Messe ersetzen sollte, und nur die Freundschaft Heinrichs schützte ihn gegen mehrere Angriffe von Seiten seiner Feinde. Als Heinrichs T o d die Einführung der Ref o r m a t i o n ermöglichte, war C r a n m e r gut vorbereitet und n a h m zum ersten Mal deutlich die f ü h r e n d e Stellung ein, die an sich zu seinem Amt gehörte. Für die zwei maßgebenden Parlamentsakte von 1549 u n d 1552 und besonders f ü r die ihnen beigelegten Agenden war haupt-

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Cranmer

sächlich er verantwortlich (—»Book of Common Prayer). In Sachen des Glaubens war es besonders wichtig, daß eine Auseinandersetzung mit dem konservativen Bischof Stephen Gardiner von Winchester (ca. 1 4 9 0 - 1 5 5 5 ) ihn dazu zwang, die offizielle Stellungnahme zur Eucharistie zu begründen. Als Eduard VI. 1553 jung starb und seine streng katholische Schwester Maria den Thron bestieg, hatte Cranmer, dessen Urteil seinerzeit die neue Königin für unehelich erklärt hatte, natürlich wenig Hoffnung, den Thronwechsel zu überleben. Er sah sich zur Unterstützung des Versuchs des Herzogs von Northumberland gezwungen, die Thronbesteigung Marias durch einen Staatsstreich zu verhindern; aus dem Fehlschlag ergab sich dann leicht eine Hochverratsanklage, mit der sich seine Feinde an ihm zu rächen suchten. Aber man wollte ihn nicht nur politisch vernichten. 1 5 5 4 erneuerte das Parlament die alten Ketzergesetze, und Cranmer wurde 1556 der Prozeß gemacht. Wie vorauszusehen war, wurde er zum Tode verurteilt. Unsicher geworden, ob seine theologische Stellungnahme wirklich der Bibel entsprach und ob es nicht seine religiöse Pflicht sei, der Königin Gehorsam zu leisten, ließ Cranmer sich zu Widerrufsversuchen verleiten, und die Regierung hoffte, sein Beispiel bei der Verbrennung als gute Propaganda gegen die Reformation zu verwenden. Aber am Ende fand er plötzlich die Kraft der Uberzeugung: Er bekannte sich laut zum Protestantismus, und sein Tod auf dem Scheiterhaufen (21. März 1556) machte ihn zum bedeutendsten Märtyrer der anglikanischen Kirche. 2.

Werke

Obwohl Cranmer fast dauernd die Feder in der Hand gehalten hat, veröffentlichte er Zeit seines Lebens wenig. Sein Buch über die Abendmahlslehre war gegen Gardiner gerichtet (A defence of the true and catholic doctrine of the sacrament, 1550); Gardiner's Antwort führte zu einer weiteren Gegenschrift (An answer unto a crafty cavillation by Stephen Gardiner, 1551). Sein Versuch, das englische Kirchenrecht in Ordnung zu bringen, erschien postum in einer lateinischen Fassung ( R e f o r m a t i o Legum Ecclesiasticarum, 1571). Er war auch fast eigenhändig für die Agenden der reformierten anglikanischen Kirche verantwortlich (First and Second Prayer Books, 1 5 4 9 , 1552) und verfaßte einen Großteil der Glaubensbekenntnisse von 1 5 3 7 (The institution of a Christian man), 1543 (A necessary erudition for any Christian man) und 1 5 5 2 (Forty-Two Articles). Leicht verändert blieben die Agenden und die Artikel die Grundlagen des anglikanischen Glaubens (—>Agende). 3.

Nachwirkung

Als erster protestantischer Erzbischof der —»Kirche von England hat Cranmer dieser 1 5 5 9 wiederhergestellten Kirche seinen Stempel aufgedrückt. Seine Nachwirkung entsprang einerseits seiner Stellung: In den zwanzig Jahren seiner führenden Funktion stand er immer im Mittelpunkt der sich entwickelnden Reformation in England, und sein Märtyrertod bestätigte das Resultat. Andererseits verdankt sein Einfluß recht viel seiner Bereitschaft, auf andere zu hören und immer weiter zu lernen, was oft falsch als Wankelmütigkeit angesehen worden ist. Obwohl er selbst kein origineller Theologe war, war er doch gut gebildet und galt als bedeutender Wissenschaftler: Er hatte sozusagen alles gelesen. Im Gegensatz zu den meisten seiner Mitarbeiter stand er mehr unter dem Einfluß des spätmittelalterlichen Nominalismus als dem des neueren —»Humanismus, was besonders in seiner Rechtstheorie zu Tage tritt. In Sachen des Gesetzes war er Voluntarist; d.h. im Gegensatz zum thomistischen Realismus vertrat er die Ansicht, daß das Recht dem Willen eines menschlichen Gesetzgebers entspringt und nicht nur Reflexion des göttlichen Willens ist. Daher muß dem weltlichen Gesetzgeber Gehorsam geleistet werden, solange er nicht im direkten Widerspruch zur Heiligen Schrift steht. Widerstand gegen die —»Obrigkeit ist also nicht nur nicht erlaubt, sondern sogar Blasphemie. Einen weiteren Unterschied zwischen ihm und den anderen Führern der englischen Frühreformation find» t man in seiner deutlichen Hochachtung der neuen Kirchentradition; obwohl er den Biblizismus seiner Zeit teilte, akzeptierte er jedoch nie den Begriff sola scriptura. Aus der Tatsache, daß die erneuerte anglikanische Kirche sowohl den weltlichen Supremat als auch die Lehrpflicht der organisierten Kirche verkörperte,

Cranmer

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läßt sich ersehen, wie einflußreich Cranmer gewesen ist. Seinen Einfluß kann man unter drei Gesichtspunkten zusammenfassen. 3.1. Als Theologe bestimmte Cranmer das besondere Profil der Kirche von England innerhalb des Spektrums der protestantischen Konfessionen. Wie meistens bei der Frühreformation handelt es sich auch hier hauptsächlich um Fragen des —»Abendmahls. Cranmer lehnte in seiner späteren Zeit sowohl die katholische Lehre von der Transsubstantiation und dem Meßopfer als auch die lutherische von einer körperlichen Realpräsenz ab. Statt dessen vertrat er eine Auslegung, die im großen und ganzen aus der oberdeutschen und schweizerischen Reformation stammte: Er glaubte an eine wahre geistige Gegenwart im Sakrament. Laut Cranmer ist das Abendmahl einerseits eine Gedächtnisfeier (—»Zwingli) und andererseits ein gnadenbringendes Sakrament (—»Bucer): Im Glauben genießt der Christ spirituell den Leib und das Blut des Herrn und erhält dadurch eine erneute Verheißung der Erlösung. Diese Grundlage der Sakramentslehre der anglikanischen Kirche haben die 39 Artikel von 1559 direkt von Cranmers 42 Artikeln übernommen. 3.2. Was die Kirchenordnung angeht, so spielte Cranmer eine wichtige Rolle bei einer Lösung, die es möglich machte, die alten Formen trotz der reformatorischen Tendenz zur Neugestaltung beizubehalten. Er war mit dafür verantwortlich, daß die Autorität der Kirche bestehen blieb, und half der Nachwelt das Prinzip zu vererben, daß die Wahrheit der Schrift von der Kirchentradition ausgelegt werden darf und muß. Diese Einstellung, die ein Jahrhundert lang gegen den calvinisierenden —»Puritanismus verteidigt werden mußte und die dann besonders Richard —»Hooker systematisch zusammengefaßt hat, wurde zur Grundlage der —»Anglikanischen (Kirchen-)Gemeinschaft. Daraus ergibt sich das weitere Prinzip, daß die irdische Kirche inklusiv und nicht exklusiv sein soll. Für Cranmer deckten sich Kirche und Volk vollkommen, also war Uniformität nötig. Aber andererseits mußte man zugestehen, daß sich nicht alle Christen über alles einig sein können. Dies führte dazu, zwischen den zum Heil notwendigen Glaubensartikeln und den veränderlichen (indifferenten) Kirchengebräuchen zu unterscheiden. Cranmer vertrat also die Meinung, daß es adiaphora gibt, wobei er sich auf ausländische (Melanchthon, Bucer) und einheimische (Thomas Starkey, Thomas Cromwell) Anregungen stützte. So vermittelte er seiner Kirche das Grundprinzip der via media. 3.3 Cranmer bestand von Anfang an auf dem Obrigkeitsgehorsam als einem Glaubensartikel. Er hielt es für von Gott geboten, daß der Christ der weltlichen Macht auch in Sachen des Glaubens Untertan sei; in seiner Generation hat niemand die Botschaft von Rom 1 3 , 1 - 7 konsequenter aufgefaßt. Für ihn konnte die Ablehnung des päpstlichen Supremats nur sofort zur Annahme des königlichen führen; und es muß betont werden, daß dies bei ihm rein glaubensmäßig bedingt war, also nicht etwa erastisch zu verstehen ist. Auch in dieser Beziehung war er für die Zukunft maßgebend. Quellen Thomas Cranmer, Works, 2 Bde., hg. v. John E. Cox, Cambridge 1 8 4 4 / 1 8 4 6 . - John Strype, Memorials of the most reverend fatherin God Thomas Cranmer, sometime lord archbishop of Canterbury, 2 Bde., Oxford 2 1 8 1 2 . - The lyfe and death of Thomas Cranmer. Anecdotes and character of Archbishop Cranmer, hg. v. John Gough Nicholls, London 1 8 5 9 .

Literatur BBKL 1, 1 1 5 2 - 1 1 5 4 . - G e o f f r e y W. Bromiley, Thomas Cranmer Theologian, London 1 9 5 6 . - P e ter Brooks, Thomas Cranmer's doctrine of the eucharist, London 1 9 6 5 . - Clifford W. Dugmore, The mass and the English reformers, London 1 9 5 8 . - Jasper Ridley, Thomas Cranmer, Oxford 1 9 6 2 . Charles H. Smyth, Cranmer and the Reformation under Edward VI, Cambridge 1926.

Geoffrey Rudolph Elton Credo —»Glaubensbekenntnis(se), —»Katechismus, —»Liturgie

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Cremer

Cremer, Hermann 1.

(1834-1903)

Leben

Die in Westfalen ansässige Familie war seit dem 16. Jh. vom evangelischen Bekenntnis durch lebendigen Glauben geprägt worden. Der Vater Wilhelm Cremer, ein Mann der Erweckungsbewegung, war Lehrer in Unna, die Mutter Luise, geb. Josephson, entstammte einer jüdischen Familie, die unter der —»Erweckung 1805 in Unna zum christlichen Glauben gekommen war. Als fünftes von neun Kindern wurde Hermann am 18. 10. 1834 geboren und von seinem Onkel Josephson, Superintendent in Barth, getauft. Obwohl nur begrenzte Möglichkeiten für die Entwicklung auf seine später so weitreichende Wirkung bestanden, vermittelten ihm der lebendige Geist und manche geistige Beziehung des Elternhauses früh einen Zug ins Weite. Zwei Söhne gab Lehrer Cremer aufs Gymnasium nach Dortmund, doch bald weiter auf das evangelische Gymnasium nach Gütersloh, wo Einflüsse der Anhänger von —»Collenbusch Hermann Cremer stark förderten. 1 Zum Theologiestudium ging er 1853 nach —»Halle zu —»Tholuck und Julius —»Müller und Ostern 1856 nach —»Tübingen zu —»Beck. Von Tholuck erhielt er nicht nur die Anregung für sein wichtigstes, auch ins Englische übersetzte Werk, das Biblisch-theologische Wörterbuch, er fand in ihm den Lehrer, der — nach Cremer - mit seinem Römerbriefkommentar den „ersten Schritt zur Wiedergeburt der Exegese" getan habe (Stupperich: JVWKG.B 1,10). In Tübingen schloß er mit M. —»Kähler eine Freundschaft fürs Leben. Beck hatte durch die Betonung der —»Eschatologie, noch mehr - wie Kähler es ausdrückte - „in seiner Glaubensplerophorie" auf Cremer wichtigen Einfluß (ebd.). Die Fakultät ermunterte ihn zur Promotion mit der Arbeit über M t 24—25, die er zur Erlangung eines von ihr ausgeschriebenen Preises vorgelegt hatte. Sein Wunsch dagegen, wie Kähler in die akademische Laufbahn einzutreten, erfüllte sich zunächst nicht. Er bewarb sich u. a. in der gerade freigewordenen Landgemeinde Ostönnen zwischen Unna und Soest und wurde als letzter von siebzehn Probepredigern am 18. 8. 1859 gewählt. i Cremer war willensstark, ernst und doch fröhlich und humorvoll, persönlich bescheiden, aber sachlich unerbittlich, freundlich gewinnend und zurückhaltend, herb, wo nötig, ja, dann auch abstoßend. Er galt als „ein gesteigerter westfälischer Charakter" (Koepp: R G G 3 1,1881) und als „ein schwerblütiger Mensch" (Stupperich: JVWKG.B 1,11). Erst in seinem 19. Lebensjahr hatte er sich „dazu entschlossen, Theologie zu studieren"; vorher dachte er an die orientalischen Sprachen, aber dann war „nur eine: Gottes Rede". Von da an war er nicht mehr jemand, „der auch etwas andres sein könnte als Theolog, sondern der unmöglich etwas anderes sein kann" (Koepp, Brautbriefe 65). Mit größtem Eifer hatte er studiert und konnte von der Erforschung der Hl. Schrift und —»Biblischer Theologie unter der Frage der —»Heilsgewißheit nicht ablassen. Gerade deshalb stand auch für ihn fest, daß er als neu gewählter Pastor in aller Treue die Aufgabe erfüllen wollte, obwohl ihm das die vom —»Rationalismus bestimmten Ostönner nicht leicht machten; er hoffte, daß „aber wohl noch einmal eine Gnadenstunde für die ganze Gemeinde kommen" werde (ebd.). Obschon, wie er von sich sagt, „sehr zu düsterem Ernst und Kleinmuth geneigt" (ebd. 54), überwand er beides in der Kraft des Glaubens, kam er ab von einem Gefühlschristentum, lebte er aus der —»Rechtfertigung; im Herzen Ps 63,4 und Phil 4 , 1 2 f (ebd. 40), konnte er „mit steigender Zuversicht um Ohr und Herz seiner Westfalen" werben (Kähler, BFChTh 8,19). Der Erfolg kam; elf Jahre lang war er Seelsorger seiner Gemeinde, die sich unter seiner Predigt wandelte. Auch wissenschaftliche Früchte reiften, vor allem sein Wörterbuch (1867), das ihm einen bleibenden Namen erwarb, aber ebenso monographische Beiträge: Der biblische Begriff der Erbauung (1863); Vernunft, Gewissen und Offenbarung (1869); Die Auferstehung der Toten (1870); Über Luthers Stellung zur Judenmission (1870). So kam nach allerlei Verzögerungen die akademische Aufgabe durch den Ruf nach —»Greifswald. Im März 1869 waren die Verhandlungen durch O. Zöckler mit Cremer begonnen worden, gestört gleich durch beschämende Machenschaften des liberal-rationalistischen —»Neuprotestantismus. Am 9. 11. 1870 wurde die Berufung mit systematisch-theolo-

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gischem Lehrauftrag vollzogen. Cremer hatte den Lehrstuhl, der mit dem Pfarramt an St. Marien verbunden war, erhalten, aber erst im N o v e m b e r 1874 zwang ein gerichtliches Urteil die Stadt, als mitbeteiligt am Patronat des H a u p t p a s t o r a t s das von ihr gesperrte Gehalt zu zahlen. Bei diesen ungewöhnlich schweren Anfängen bewahrten „ihn vor Mutlosigkeit und Verbitterung" stärkende Worte wie Jer 15,19 und Prov 16,7 (E. Cremer 82). Cremer war genötigt, mit einer großen Familie - am 8. 10. 1862 war er mit Maria Hülsmann getraut w o r d e n ; fünf Kinder wurden geboren - bis 1890 ein schweres D o p p e l a m t zu führen: Er war der letzte evangelische Universitätstheologe, der neben dem Lehramt ein volles Pfarramt ausgeübt hat. Dazu war er z. B. im Jubiläumsjahr von Luthers 400. Geburtstag 1883 Rektor. Außerdem wandelte sich durch seine Lehrtätigkeit und die Berufung so bedeutender auswärtiger junger Theologen wie A. —»Schlatter die kleine Fakultät mit 17 Studenten, so d a ß er mit drei H ö r e r n die D o g m a t i k v o r l e s u n g n o c h 1871 erlebte, in eine der größten mit über 3 0 0 Hörern aus dem ganzen deutschen Sprachraum. Aber solch ungewöhnliche Beanspruchung in einem anfangs fast erdrückenden und durch die Widerstände dornigen D o p p e l a m t brachte großen Segen. Cremer wurde nicht n u r der geistige Mittelpunkt der Fakultät, er erwarb durch „seine große praktische Tüchtigkeit und seine unerschrockene Tapferkeit" und „das ihm gegebene W o r t " , mit dem er der Jugend „Gottes Botschaft", sagte (Schlatter: Bethel 26,292), hohes Ansehen und reiches Vertrauen. „ M i t dem Hörsaal veränderte sich auch das Bild, das die Marienkirche am Sonntag bot. Die pommersche Geistlichkeit folgte nach; Cremer w u r d e in ihrer Provinzialsynode der führende M a n n " , auch „im Kollegium der Universitätslehrer" (ebd.), und war „zugleich lange Zeit von starkem Einfluß im Ministerium" (Koepp: R G G 3 1,1881). 2 Cremer achtete theologische Arbeit, die als ein inneres Müssen aus dem Befreitsein von der M a c h t der —»Sünde durch das Evangelium sich durchsetzt, sehr hoch. Von daher kam der starke Einfluß auf seine Studenten, die enge Arbeitsgemeinschaft vor allem mit den treuen Freunden Schlatter und Kähler, mit W. —»Lütg e n und E. —»Schaeder als den wichtigsten Schülern, ü b e r h a u p t die Frontbildung gegen den alles überflutenden —»Liberalismus (—»Liberale Theologie). Als Cremer in Greifswald anfing, wollte er dazu mithelfen, dem biblischen Christentum einen H o r t zu geben. Hingebungsvoll diese schon im westfälischen R a u m begonnene Linie fortzusetzen, hat er auch bei immer zunehmender Anerkennung auf der H ö h e seiner Wirksamkeit sich darin bewährt, „die Bahn f ü r das wirkende W o r t zu schaffen" (Stupperich: JVWKG.B 1,24). Er sprach vom „Überwintern der Wahrheit des Evangeliums", verstand sich dabei aber nicht wie auf verlorenem Posten, sondern — wie er an den inzwischen in Berlin wirkenden Schlatter am 12. 6. 1895 schrieb - als ein Streiter für Christi Wahrheit „mit Daransetzung aller K r a f t " , um unseren Freunden zu „helfen, d a ß auch sie erkennen, was wir an der Bibel h a b e n " (ebd. 45). Drei Berufungen, die dringlich zur Erhaltung des biblisch-positiven Charakters der Theologie ausgesprochen wurden, besonders von der Leipziger Fakultät, aber auch 1892, als A. v. —»Harnack mit großer W ä r m e für die Besetzung eines der Berliner systematischen Lehrstühle durch Cremer eintrat, hat er abgelehnt. Bei der 1894 autoritativ geforderten Entscheidung für Leipzig bewirkte wohl die inzwischen als Greifswalder Schule bekannte Fakultät sein Bleiben, indem die Ordinarien Baethgen (als Dekan), Zöckler, Schultze, N a t h u sius, Haußleiter „einstimmig der Ansicht" in einem Schreiben an ihn Ausdruck gaben, daß er in seiner „jetzigen Stellung unersetzlich" und durch seinen Weggang „ein Z e n t r u m ernster theologischer Bildung . . . in seinem festen Bestand g e f ä h r d e t " sei. 3 Auch den vierten Ruf, 1897 wieder nach Berlin, das Schlatter, der ihm zur A n n a h m e riet, verließ, n a h m er nicht an, weil Berlin ihm nicht so einflußreich wie Greifswald für die Sache schien. Das Geheimnis von Cremer lag hier in dem Ineinander von Predigt, homiletischem Seminar und dogmatischethischen Kollegs. Er war Greifswalds bedeutendster Theologe im 19. Jh. So lohnend und verlockend die Aufgaben in den großen Zentren schienen: „wie er nun schon dreimal gew ä h l t hatte, wählte er wieder . . . . , weil ihm wieder das G r o ß e als klein und das Kleine als g r o ß erschien" (E. Cremer 264). O b w o h l er als Lehrer der Kirche die Entleerung der biblischen Botschaft abzuwehren wußte, um den sittlichen Verfall und die innere Auflösung von Gesellschaft und Volk aufzuhalten, und so in Gegensatz zu A. —»Ritschis Schülern, zu Har-

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nack im Kampf um „das Wesen des Christentums", auch zu R. —»Seeberg, J. —»Kaftan, zu J. C.K. —»Hofmann in —»Erlangen (—»Erfahrung) kam, war er doch für anderes Denken aufgeschlossen und tolerant, wie die lebenslange Freundschaft mit dem liberalen J. —»Wellhausen zeigt. Der überall nach 1870 erfolgreiche —»Kulturprotestantismus bekämpfte ihn unerbittlich; er selber war wie ein „Turm in der Schlacht". Über Bethel und —»Bodelschwingh kam es in Wuppertal gleich nach 1890 und durch theologische Wochen in Bethel-Bielefeld 18 98 ff zu direktem Einfluß in Westfalen; die angebahnte Verbindung mit A. —»Stoecker und dem -»Evangelisch-Sozialen Kongreß scheiterte wegen der für ihn zu einseitigen politischen Orientierung: „Eine Partei kann nicht das Salz der Erde sein" (an Schlatter 3.6.1896). Voller Todesahnungen seit Anfang der 90er Jahre, rang Cremer — immer strenger mit sich - darum, das bald auszuführen, was er noch zu geben hatte. Wichtiges gelang ihm noch, längst nicht alles, doch die letzten acht Jahre, für die der Briefwechsel mit Schlatter und Bodelschwingh4 ein Schlüssel ist, waren ungemein ertragreich. Mitten aus der Arbeit gerissen, starb er am 4. 10. 1903. 2. Werk Eine vollständige Bibliographie der Schriften Cremers, die noch aussteht, wie ebenso die gründliche theologie-geschichtliche Darstellung seines Beitrages und kritische Einzeluntersuchungen würden den Umfang seines Lebenswerkes kaum einsichtig machen können. Die eigentliche Wirkung Cremers lag ähnlich wie bei anderen, die aus lutherschen Gedanken lebten, in der lebendigen Verkündigung, die Glauben und Umbesinnung fand. 5 „ E r brachte den Gegensatz der Bibel gegen die natürlichen Gedanken und Wünsche des Menschen scharf zum Ausdruck. . . . Daß das Christentum etwas Paradoxes sei, das betonte er ebenso stark wie Kierkegaard" (Lütgert 84). Würdigungen des Werkes, aus denen sich das unmittelbar Bekannte und zeitgenössisch Empfundene gut und damit auch das Werk selber erschließt, nahmen Kollegen und Schüler vor; auf eine bleibende Bedeutung gehen Koepp und Stupperich durch Edition unbekannten Briefmaterials ein. Forschungsgeschichtlich wertvoll wäre die weitere Untersuchung der Vorlesungsdiktate, aber auch der Predigten und Predigtentwürfe (im Anhang der Biographie u. Kahler, BFChTh 8).

Die Geltung der reformatorischen Rechtfertigungslehre hatte sich Cremer aus der persönlichen Erfahrung von „Unheilsbewußtsein", das Verständnis der —»Gnade „von der vollen Würdigung der Schuld aus" erschlossen (Kähler, a . a . O . 16). Deshalb bestimmte „die königlich -richterliche" und „heilschaffende Gerechtigkeit Gottes" als „der Grundzug in der biblischen Gotteserkenntnis und in dem Verständnisse der Sendung und des Werkes Christi" sein Denken. Als dogmatischer Leitgedanke war das nach Kähler sein „eigentümlichster Beitrag zur Theologie" (ebd. 17). Meist wird Cremer wegen der Dissertation und des sprachund begriffsgeschichtlichen Hauptwerkes zu den Exegeten gestellt. Sein Wörterbuch, von A. —»Deißmann angegriffen, von G. —»Kittel jedoch (ThWNT 1,V) und jüngst in theologie- und wissenschaftsgeschichtlicher Einordnung von G. Friedrich (30ff.35.41) hoch anerkannt, wenn auch in der Ausführung und wegen der Überschätzung der „sprachbildenden Kraft des Christentums" (—»Schleiermacher; vgl. Friedrich 29) zu kritisieren, war gedacht als Skiagraphia zu einer neutestamentlichen Dogmatik und Moral. Das bezeugen Artikel-Nennungen in den Diktaten der dogmatischen und ethischen Vorlesungen. Cremer wollte im Wörterbuch schon darstellen, „wie der Heilige Geist Gottes und Christi die gegebene Sprache . . . umgeschaffen hat zu dem Organ, in welchem ein Inhalt geboten werden konnte und geboten worden ist, der in der . . . unumgewandelten Sprache der Hellenen nie hätte geboten werden können" (Kähler, Gesch. 279). Der dogmatische Ansatz war also auch bei diesem Werk führend, hat aber bei sorgsamer Wort- und Begriffsuntersuchung zum Abrücken von Beck und zur Bestätigung der reformatorischen Theologie geführt (vgl. Friedrich 34). Obwohl weder exegetischer noch praktischer Theologe mit Lehrstuhl, hat Cremer als Systematiker für Lehre und Verkündigung auch diese Felder neu bestellt. Bei der sonst zunehmend häufigeren Prinzipienlosigkeit gegen Ende des Jahrhunderts zeigen seine Beiträge eigentümlich prägende, biblisch gegründete Gedanken, so daß er „unter dieDogmatikerzu stellen" ist (Kähler, Gesch. 277). Die Prinzipienlehre (1883), Das Wesen des Christentums (1901), Gethsemane (1902) sowie Die Bedeutung des Artikels von der

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Gottheit Christi für die Ethik (1901), auch Arbeiten zur Schriftautorität (1874, 1896, 1897), zur —»Taufe (1899, 1901) und ^ W i e d e r g e b u r t (1900) gehören hierher. Eine umfangreiche Monographie Die paulinische Rechtfertigungslehre (1899) ist geschichtlich gegründet und befaßt sich mit dem ganzen Inhalt der Schrift, doch ebenfalls mehr systematisch. 6 Cremers ethisches Pathos vom spätidealistisch geformten Wissenschafts- und Wahrheitsverständnis (—»Wissenschaftstheorie) mit einem Menschenbild, das in Freiheit und strengem Gewissensurteil höchste Werte verwirklichen will, k o m m t in seiner akademischen Gedächtnisrede zum 10. 11. 1883 Reformation und Wissenschaft (Gotha 1883) deutlich hervor. Hamartiologische Vertiefung, überbetonende forensisch-paulinische Rechtfertigungslehre lassen ihm das „rettende Gericht, das G o t t durch Christus an uns vollzieht" (RGG 2 1, 1742), zum Z e n t r u m und Schlüssel der Bibel werden. Die Gewißheit findet er durch eine ganz intime Vertrautheit mit der Hl. Schrift, die sich jedem öffne, der mit der Frage: Wer ist Gott? in sie eindringt. Das Verlangen nach Beziehung auf G o t t ist dabei eine Voraussetzung. Bekehren will und soll man niemanden ohne dessen Fragen nach Gott (—»Bekehrung). Es gibt freilich nach C r e m e r e i n e allgemeine Gottesvorstellung, und damit ist auch das —»Gewissen vorhanden und weiter „eine Gewißheit, nämlich die, daß ich mit mir selbst im Widerspruch bin und daß dieser Widerspruch zum Untergang meiner Persönlichkeit führen muß: die Unheilsgewißheit" (Kahler, Gesch. 278). So erfährt das Gewissen aber den Kern des Evangeliums: Christi Kreuz und das in ihm liegende Heil. Uberzeugung von der Wahrheit heißt jedoch noch nicht Glaubensgewißheit. Erst die Gewißheit, daß sie mich angeht und mit dem Glauben an Christus mein Besitz wird und dies ein lebenslanges Ringen ist, macht frei und gewiß: Wie bei —»Luther die Glaubensgewißheit „auf der Basis seiner Sündengewisheit" entstand, so k o m m t beim Glaubenden „die Gerichts- und Gottesgewisheil zusammen und es entsteht jener Hunger und Durst der Seele nach Gerechtigkeit, die vor dem Gotte unsres Gerichtes gilt" (Reformation u. Wiss. 11.13). Die „freie T h a t der sittlich-religiösen Selbstbeurteiiung und S e l b s ß w u r t e i l u n g " ist der erste, der zweite Schritt ist die „Anerkennung Gottes in seiner O f f e n b a r u n g in Christo", „die freie T h a t der H i n n a h m e der freien G n a d e Gottes in Christo" der dritte; so geht „ v o n Freiheit zu Freiheit, und damit von Gewisheit zu Gewisheit, oder von Glauben zu Glauben" dann der Weg zu G o t t in Christus; denn „alle Gewisheit von ihren Anfängen an bis zu ihren höchsten Stufen ist Freiheit" (ebd. 21). Die Formel „ D u darfst glauben", die Cremer (nach Lütgert 85) liebte, und der Satz „Gewisheit oder Glaube und Freiheit sind unzertrennlich" (ebd. 22) korrespondieren dem und beleuchten gut das Paradox der O f f e n b a r u n g und der christlichen Religion überhaupt, dem er Ausdruck in seinem Werk gab. Eine Krönung und über das Werk hinausreichende Wirkung sind die anfangs kurz Greifswalder Beiträge genannten Beiträge zur Förderung christlicher Theologie (1897ff). Cremer war „geistiger V a t e r " dieses Organs. Seine dogmatischen Arbeiten darin, Die christliche Lehre von den Eigenschaften Gottes (1897), Die christliche Vollkommenheit (1899), Weissagung und Wunder (1900) und als kritische Auseinandersetzung Die Grundwahrheiten des Christentums nach R. Seeberg (1903), verliehen diesem entschieden biblisch und lutherisch orientierten Organ der Greifswalder Schule großes Gewicht. Postum erschienen darin von ihm noch Arbeit und Eigentum (1907) und Schriftgedanken, Aphorismen und Skizzen (1917). 3.

Nachwirkung

Unmittelbar und mehr noch indirekt h a t Cremer über mehrere Generationen von Theologen gewirkt. Jahrzehntelang u m f a ß t e die Theologische Fakultät über ein Drittel der Studentenschaft, entsprechend bildete sich ein Kreis von Dozenten, die entscheidende Anregungen von Cremer erhielten: W. Lütgert und E. Schaeder waren die bedeutendsten. Lütgert betonte die Unvereinbarkeit des deutschen —»Idealismus mit lutherischer Theologie, Schaeder setzte die theozentrischen Akzente (vgl. R G G 2 2 [1928] 1452). Von einer Cremerschen „Schule" pflegte man nicht zu sprechen, wie etwa lange von einer „Ritschl'schen Schule" das würde auch zu sehr gegen Cremers Art gehen, der Schulbildungen f ü r flach und dem bi-

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blischen Gehalt seiner Theologie widersprechend hielt. Dennoch aber „zählt die Schar derer doch nach Hunderten, die sich von ihm zeigen ließen, ,wie man es macht, zu glauben'" (Trittelvitz 301). So kühn der Beginn der Beiträge als biblisch-dogmatische Stimme für die Greifswalder im Norden, mit Schlatter in Tübingen, also im Südwesten, und Kahler in Halle war, gegen den Liberalismus, soweit er eine Art von Unglauben war, blieb diese großgedachte und eindringende Schrifttheologie siegreich. Als „Schule der Soterologen" und Verwalter des genuinen Erbes von Luther, das Cremer und Kahler über Müller und Tholuck empfingen, ist sie jedoch vergessen und kaum noch wirksam. Zur Zahl der namhaft wirkenden direkten Schüler Cremers kann man für die systematischen und biblischen Fächer u. a. noch die jeweils eigenständigen theologischen Lehrer K. Bornhäuser, J. Kögel, Kropatschek, O. Procksch und den Sohn E. Cremerzählen, der das Erbe des Vaters erhielt und weitete. In der nächsten Generation hat Greifswald den weiten Zug, jenseits jeder provinziellen Verengung bewahrt, mindestens für die Zeit bis in die 50er Jahre durch seine theologischen Lehrer O. —»Haendler, R. Hermann, W. Koepp, E. Lohmeyer, um die bekanntesten zu nennen. Vor allem Schlatter, der als der jüngere und dann ganz dem Neuen Testament zugewandte Forscher bald stärker als Cremer hervorzutreten in der Lage gewesen war und eine Fülle von Arbeiten in den Beiträgen veröffentlichte, hat die entschieden biblische, jenseits von jedem —»Konfessionalismus laufende Linie, auch mit Erweiterung des Organs der Richtung, das freilich nicht nur ihr diente, durch Monographien (BFChTh.M 1,1921 ff) fortgesetzt. Ebenso wirkte Cremer durch die Betheler Theologischen Wochen, die Schlatter zwar angeregt hatte, als deren „Chef" aber Cremer galt (Stupperich: JVWKG.B 1,28), auch mit der Fortführung durch Schlatter nach. In Greifswald und deutlich in den Beiträgen vertiefte sich die Erforschung lutherisch-reformatorischer Lehre, ja Luthers selbst — ohne konfessionelle Einengung — schon durch C. —»Stange, besonders durch R. Hermann (vgl. GSLF), aber selbst bei Schlatter (Luthers Deutung des Römerbriefs, 1917 [BFChTh 21] 7). Wie weit diese Richtung auf die theologische Erneuerung nach 1918 Einfluß hatte, ist schwer auszumachen. Ihr Grundthema Gericht und Gnade, ihre enge Verbindung von Predigt und Lehre, Pfarramt und Theologie bzw. Forschung (wie bei —»Barth und E. —»Brunner), ihre Konzentration auf das eine Evangelium und die theologischen Kernfragen, die Front gegen eine Verachtung des Wortes Gottes, den Gottes- und Kirchenhaß, gegen die Abwendung von Christus, die Öffnung für die soziale und sittliche Not als Aufgabe der Pfarrerschaft, die Überbrückung von lutherischen und reformierten Auffassungen mit einer „Theologie des Glaubens..., die das erfaßte, was uns Jesus als der Bote der göttlichen Gnade sagt und tut" 7 , legen es nahe, dort Anregungen für die —»Dialektische Theologie zum Aufbruch im 20. Jh., veranlaßt von Cremer selbst, verstärkt von Schaeder, zu suchen (vgl. Koepp: RGG 3 1,1882). Anmerkungen 1

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Cremers Collenbusch-Artikel (RE 3 4 [1898] 2 3 3 - 2 4 1 ) und die Edition seiner Aufsätze u. Briefe durch ihn (1902) zeigen die lebenslang fruchtbare innere Beziehung. Den unberechtigten Vorwurf „einer Metternichfigur" widerlege „der Briefwechsel Althoff-Cremer" (Koepp: R G G 3 1,1882). Vorhanden im Nachlaß im Besitz der Enkelin; darin auch: „Unsere Fakultät ist in erster Linie durch Sie zu ihrer jetzigen Blüthe gelangt; wir wüßten Niemanden, der im Stande wäre, Ihren Platz auch nur annähernd auszufüllen,sowohl in Ihrer Lehrtätigkeit als auch hinsichtlich Ihres persönlichen Einflusses auf unsere Studierenden, und es ist zweifellos, daß bei Ihrem Fortgange die Zahl der jungen Theologen, die jetzt . . . kommen, schnell zusammenschmelzen würde." R. Stupperich hat das leider nur z. T. Erhaltene kommentiert vorgelegt; der Briefwechsel CremerKähler liegt in der UB Göttingen. Vgl. E. Cremer, Der Prediger u. Seelsorger (Biographie 3 2 7 - 3 3 9 ) ; Bornhäuser 115ff; Haußleiter 3 3 2 , 4 - 5 9 ; Trittelvitz 398 f; dazu Cremer - außer in Aufgabe u. Bedeutung der Predigt - selbst mit Predigtskizze über Lk 10,23-37 (Biographie 3 7 8 f ) und Worte von ihm (Bethel 301 f). Stupperich würdigt diese Seite am besten und betont den Anschluß an „das Evangelium der Reformation, das Evangelium Luthers, das Evangelium Pauli: allein durch den Glauben" mit Cremers Worten (Die Fortdauer der Geistesgaben, 1890,30); er bemerkt, daß die „Voraussetzungen" bei Cremers

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Zeitgenossen, „selbst bei denen, die sich positive Theologen nannten", die Rechtfertigungslehre zu verstehen, nicht mehr vorhanden waren (JVWKG.B 1 , 1 5 - 1 9 ) . A. Schlatters Rückblick auf seine Lebensarbeit (BFChTh Sonderh. 1952,137 f; „Uns einte, daß unser beider Glaube an Jesus entstand und nicht zuerst auf die Kirche, ihre Lehre und ihr Sakrament gerichtet war" [138]). Werke

Bibliographie bliogr. fehlt.

(1860-1903):

Ernst Cremer, Hermann Cremer (s. u.), 3 8 1 - 3 8 4 . - Eine vollst. Bi-

Hauptschriften: Die eschatologische Rede Jesu Christi Matthäi 2 4 . 2 5 , Stuttgart 1860. - Bibl.theol. Wb. der ntl. Gräzität, Gotha 1867 9 1 9 0 2 ; hg. v. Julius Kögel " 1 9 2 3 ; engl.: Biblico-Theological Lexicon of N T Greek, Edinburgh 1872 3 1 8 8 6 . - Jenseits des Grabes, Gütersloh 1868 (alle folgenden Aufl. u.d.T. Uber den Zustand nach dem Tode) " 1 9 2 3 ; engl.: Beyond the Grave, New York 1886. Über Aufgabe u. Bedeutung der Predigt in der gegenwärtigen Krisis, Berlin 1877 2 1 8 9 2 . - Die Befähigung zum geistlichen Amt, Berlin 1878 2 1 9 0 0 . - Unterweisung im Christentum nach der Ordnung des KIKat, Gütersloh 1883 2 1 8 9 9 . - Dogm. Prinzipienlehre: Hb der theol. Wiss., Nördlingen, III 1883, München 3 1 8 9 0 , 4 9 - 8 4 . - Das Wort vom Kreuze (Predigten), Gütersloh 1891 3 1 9 0 0 . - Zum Kampf um das Apostolikum, Berlin 1892 7 1 8 9 3 . - Duell u. Ehre, Gütersloh (1892) 1894 3 1 8 9 6 . - Glaube, Schrift u. hl. Gesch., Gütersloh 1896. - Die christl. Lehre v. den Eigenschaften Gottes, 1897 (BFChTh 1/4). - Die paulinische Rechtfertigungslehre im Zusammenhang ihrer gesch. Voraussetzungen, Gütersloh 1899 2 1 9 0 0 . - Wesen u. Wirkung der Taufgnade, Gütersloh 1899. - Taufe, Wiedergeburt u. Kindertaufe, Gütersloh 1900 2 1 9 0 1 3 1 9 1 7 . - Das Wesen des Christentums, Gütersloh 1901 3 1 9 0 2 ; engl.: A Reply to Harnack on The Essence of Christianity, New York/London 1903. - Gethsemane. Ein Beitr. zum Verständnis der Gesch. Jesu u. unserer Erlösung, Gütersloh 1902. - Die Grundwahrheiten des Christentums nach R. Seeberg, 1903 (BFChTh 7/2). - Pastoraltheol., hg. v. E. Cremer, Stuttgart 1904. - Christus ist mein Leben. (27) Akademische Predigten, hg. v. E. Cremer, Gütersloh 1906. - Tröstet mein Volk. (49) Atl. Predigten 1 8 7 6 / 7 7 , hg. v. E. Cremer, Gütersloh 1909. - Aus dem Nachlaß eines Gottesgelehrten. Aufs., Briefe u. Tagebuchbl. v. Dr. Samuel Collenbusch (mit einer gesch. orientierenden Einl.), Stuttgart 1902. Der Nachlaß enthält Arbeiten dogm., bes. christologischen Inhalts; ausführliche (unvollst.) Diktate aller syst. Vorl. 1894 bis 1896 in zwei Nachschr. (in Privathand). Eine Ausg. des Briefwechsels wird von R. Stupperich vorbereitet. Literatur Biographisches: August Hermann Cremer. Gedenkbl., hg. v. K. Bornhäuser/E. Cremer u. a., Gütersloh 1904, 1 - 5 4 . - Ernst Cremer, Hermann Cremer. Ein Lebens- u. Charakterbild, Gütersloh 1912. - Wilhelm Trittelvitz, Der alte Cremer: Beth-EI. Blicke aus Gottes Haus in Gottes Welt 26 (1934) 296-301. Otto Baumgarten/Hermann Mulert, Art. Cremer, Hermann: R G G 2 1 (1927) 1742 f. - Horst Beintker, Das war die Greifswalder Schule. Aus der Gesch. der [Greifswalder] Fak.: Neue Zeit 1 2 / 2 4 2 (1956) 3 . - K a r l Bornhäuser, Im homiletischen Seminar bei Prof. Cremer: Gedenkbl. (s.o.), 1 1 5 - 1 2 4 . Erich Fascher, Auf Kanzel u. Katheder. Fünf Lebensbilder prot. Theologen: Calendarium spirituale '67. Ev. Almanach, Berlin 1966, 1 6 - 3 2 . - Gerhard Friedrich, Zur Vorgesch. des T h W N T : T h W N T 10/1 (1978) 3 0 - 4 1 . - Johannes Haußleiter, Art. Cremer, August Hermann: RE 3 23 (1913) 3 2 9 - 3 3 5 . Ernst Kähler, Hermann Cremer. Greifswalds vergessener Ruhm: Amtsbl. des Ev. Konsistoriums in Greifswald 1 9 8 1 / 8 , i. Ersch. - Martin Kähler, Wie Hermann Cremer wurde. Erinnerungen eines Genossen, 1904 (BFChTh 8/1). - Ders., Nachruf: Gedenkbl. (s. o.), 3 1 - 6 1 . - Ders., Gesch. der prot. Dogmatik im 19. Jh., hg. v. E. Kähler, Berlin/München 1962, 2 7 7 - 2 8 2 . - Julius Kögel, Ein Streiter Christi: Gedenkbl. (s. o.), 9 4 - 1 0 3 . - Wilhelm Koepp, Vom hohen Ethos der Brautliebe. Die Brautbriefe A. H. Cremers, Hamburg 1948. - Ders., August Hermann Cremer als Wissenschaftler: FS der Univ. Greifswald, II 1956, 5 6 - 6 0 . - Ders., Art. Cremer, Hermann: R G G 3 1 (1957) 1881 f. - Ders., Die antithetische Paradoxtheol. des späten A. H. Cremer: ZSTh 2 4 (1957) 2 9 1 - 3 4 1 . - Ders., A. H. Cremers Vorl. Dogmatik u. Ethik in der Ausarbeitung Tiedke: Dt. Ev. Theologentag 1956, 17 Bl. (masch.); Kurzfassung: T h L Z 81 (1956) 3 6 7 f . - Wilhelm Lütgen, Nachruf: Gedenkbl. (s. o.), 8 2 - 9 3 . - Samuel Oettli, Nachruf: Gedenkbl. (s.o.), 6 2 - 7 3 . - Otto Ritsehl, Hermann Cremer: DLZ 23 (1902) 6 4 5 - 6 5 1 . - Erich Schaeder, Cremer u. Ritschi: Gedenkbl. (s. o.), 1 0 4 - 1 1 4 . - Ders., Gedächtnisrede auf Hermann Cremer, 1929 (BFChTh 32/3). - Adolf Schlatter, Rede am Sarge: Gedenkbl. (s. o.), 5 - 1 3 . - Ders., Hermann Cremer: Beth-El 26 (1934) 2 9 1 - 2 9 6 . - Ders., Nachruf: Gedenkbl. (s. o.), 7 4 - 8 1 . Viktor Schultze, Rede bei der (akad.) Gedächtnisfeier: Gedenkbl. (s. o.), 1 4 - 3 0 . - Christoph Seiler, Die theol. Entwicklung Martin Kählers bis 1869, 1966 (BFChTh 51) 8 9 . 1 4 5 - 1 6 0 . - Horst Stephan, Gesch. der dt. ev. Theol., bearb. v. Martin Schmidt, Berlin 2 1 9 6 0 , 2 3 7 . 2 7 0 . 2 7 5 . - Robert Stupperich. Vom

Cromwell

236

bibl. W o r t zur theol. Erkenntnis. H e r m a n n Cremers Briefe an Adolf Schlatter u. Friedrich v. Bodelschwingh ( 1 8 9 3 - 1 9 0 3 ) : J V W K G . B 1 (1954). - Ders., W o r t u. W a h r n e h m u n g . Briefe Adolf Schlatters an H e r m a n n Cremer u. Friedrich v. Bodelschwingh: J V W K G . B 7 (1963). - Ders., Aus H e r m a n n Cremers Briefwechsel mit M a r t i n Kahler ( 1 8 6 0 - 1 8 6 5 ) : J V W K G 6 3 (1970) 1 3 7 - 1 6 4 . - Ders., Aus dem Briefwechsel M a r t i n Kählers mit H e r m a n n Cremer u. Friedrich v. Bodelschwingh: J V W K G 7 1 (1978) 1 9 3 - 2 1 6 . - Ders., Der Kampf um das Christentum an der J a h r h u n d e r t w e n d e : JBBKG 5 2 (1980) 1 3 1 - 1 4 6 . - Ders., H e r m a n n Cremers Arbeit in O s t ö n n e n u n d seine W i r k u n g in Soest: Soester Zs. 93 (1981) i. Ersch. - Ders., H e r m a n n Cremers Greifswalder Wirksamkeit im Spiegel seines Briefwechsels: P o m m e r n , Köln 1981 (i. Ersch.).

H o r s t Beintker Crescas —»Chasdaj Crescas Crom well, Oliver

(1599-1658)

1. Leben und politische

Wirksamkeit

Cromwell — Bürgerkriegsgeneral, Führer der Puritaner und Beherrscher Englands als Lord Protector vom 16. Dezember 1653 bis zu seinem T o d am 3. September 1658 — wurde am 25. April 1599 als Sohn einer n u r mäßig begüterten Familie des Landadels in Huntingd o n geboren. Nach Besuch der G r a m m a r School seines Heimatorts unter dem Puritaner T h o m a s Beard bezog er 1616 das Sidney Sussex College in —»Cambridge, wo er aber nicht zu einem Abschluß kam, da ihn der T o d seines Vaters im Juni 1617 zum Abgang zwang. Wahrscheinlich besuchte er auch Lincoln's Inn. Cromwell vertrat H u n t i n g d o n im Parlament 1 6 2 8 / 2 9 und saß für Cambridge im „Kurzen Parlament" ( A p r i l - M a i 1640) und im „Langen Parlament" von N o v e m b e r 1640 bis April 1653 (—»England). Wohl 1630 erlebte er eine religiöse Bekehrung, und im „Langen Parlament" machte er als Parteigänger der Puritaner (—»Puritanismus) erstmals auf sich aufmerksam. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs 1642 tat er sich als Kavallerieoffizier hervor. In der ersten Schlacht im Oktober 1642 bei Edgehill k ä m p f t e er als Captain und wurde im Februar 1643 zum Colonel im Heer der Eastern Association befördert. 1644 wurde er Lieutenant General und war der Held des Sieges der Parlamentstruppen am 3. Juli 1644 bei M a r ston M o o r . Der Schlüssel seines Erfolgs in dieser und anderen Schlachten lag in der puritanischen Disziplin seiner Soldaten, die ebenso nach ihren religiösen wie ihren militärischen Qualitäten ausgesucht wurden. Durch seinen Sieg bei M a r s t o n M o o r stieg Cromwell zum Führer des Independenten-Flügels der Puritaner im Parlament auf. Im Winter 1 6 4 4 / 4 5 initiierte er mit der Self-Denying Ordinance und der Schaffung einer New Model Army die Entfernung Adliger aus der Heeresleitung. O b w o h l selbst Parlamentsmitglied, entzog er sich den Bestimmungen der Ordinance, die den Mitgliedern beider Häuser die Bekleidung eines Offizierspostens untersagten. Er wurde zum Lieutenant General of the Horse befördert und trug entscheidend zum ersten großen Sieg der neuen Armee am 14. Juni 1645 bei Naseby bei, der zur Kapitulation der Royalisten führte. Nach dem Triumph kam es zu einem Konflikt zwischen dem Parlament und seinem erstarkten Heer. Cromwell schlug sich, nach anfänglicher Unschlüssigkeit, im August 1647 auf die Seite der Armee und führte diese bei ihrer Eroberung der politischen M a c h t durch die Besetzung Londons an. Erfolglos in ihren Verhandlungen mit dem König, sahen sich Heer und Parlament 1648 einer durch royalistische Aufstände unterstützten schottischen Invasion gegenüber. Cromwell besiegte die schottische Armee am 19. August bei Preston und wirkte bei der wenig späteren Niederwerfung der Royalisten mit. O b w o h l an der Säuberung des Parlaments durch Colonel Pride im Zuge der bitteren Abrechnung nach dem zweiten Bürgerkrieg nicht direkt beteiligt, spielte Cromwell eine maßgebliche Rolle im Hochverratsprozeß gegen König Karl I., der mit dessen Enthauptung am 30. Januar 1649 endete. Nach der Abschaffung der M o n a r c h i e und der Aufhebung des Oberhauses im Frühjahr 1649 wurde England als Republik (Commonwealth and Free State) durch das „ R u m p f p a r l a m e n t " regiert. Cromwell wurde der erste Präsident des 41köpfigen Staatsrats. Er hatte gro-

Cromwell

237

ßen Einfluß auf dessen Politik, aber die wahre Quelle seiner Stärke lag in seiner Kontrolle über die Armee, die bewiesen hatte, daß sie, wenn sie nur wollte, der Souverän Englands war. Nachdem er im Mai 1649 einen Aufstand der demokratisch gesinnten Levellers unterdrückt hatte, unternahm er einen blutigen Einmarsch in Irland, der erstmals zur völligen Herrschaft Englands über die Insel führte. Zurückgerufen, führte er eine Invasion in Schottland an, und seine Siege bei Dunbar (3. September 1650) und Worcester (3. September 1651) besiegelten die Niederlage der Schotten. Obwohl Worcester Cromwells letzte Schlacht war, blieb die Armee das Rückgrat seiner wachsenden politischen Macht. Auf Drängen der radikalen Offiziere löste er am 20. April 1653 das „Rumpfparlament" gewaltsam auf und begünstigte deren Modell eines durch independente Gemeinden nominierten „Parlaments der Heiligen". Dessen ineffektive Arbeitsweise erregte jedoch bald seinen Unwillen, so daß er im Dezember 1653 seiner Auflösung zustimmte und sich unter einer von der gemäßigten Offiziersfraktion entworfenen Verfassung — The Instrument of Government - zum Lord Protector von England, Schottland und Irland erheben ließ. 1657 lehnte er den Königstitel ab, billigte aber eine Verfassungsreform - The Humble Petition and Advice - , die seine Position noch weiter stärkte. Während des Protektorats blieb die Vormacht von Heer und Marine in England erhalten, was sich nicht zuletzt in einer aggressiven Außenpolitik äußerte, die zur Eroberung von Jamaica (1655) und Dünkirchen (1658) führte. Eine nie dagewesene Steuerbelastung und die Aufteilung Englands in zwölf jeweils einem Generalmajor unterstellte Verwaltungsbezirke brachten die Bevölkerung unter ein despotischeres Regime, als sie es je unter den Stuartkönigen erlebt hatte. Cromwell war sich seiner Abhängigkeit von der Armee und der Tatsache, daß seine Herrschaft einen mageren Lohn für die Revolution darstellte, nur allzu bewußt. Gleichwohl zog er die Stabilität einer Autokratie dem drohenden Chaos vor. Nach seinem Tod folgte ihm sein ältester Sohn, Richard. Dieser verlor rasch jeden Einfluß, da er keinen Rückhalt in der Armee hatte, deren Zerfall den Weg zu einer Restauration der Stuartmonarchie öffnete (1660). 2. Motive

seines

Handelns

Oliver Cromwell war ein Rätsel für seine Zeitgenossen, und er bleibt ein Rätsel für uns. Der Schlüssel zu seinem Charakter war die Religion. Er glaubte daran, daß Gott den Gang der Menschengeschichte durch seine erwählten Werkzeuge lenke. Um Gottes Hand zu erkennen, müsse man auf die Ereignisse sehen. Seine Siege galten ihm daher als Gottes Siege, als Zeichen, daß er im Auftrag des Allmächtigen gehandelt hatte. Er fühlte sich als ein besonders bevorzugter Diener Gottes, und als er Lord Protector wurde und in den politischen Ereignissen dieser Zeit die Hand Gottes kaum mehr entdecken konnte, wurde er in seinem Sendungsbewußtsein ernstlich erschüttert. Aus seinen Briefen und Reden wie aus dem Zeugnis von Zeitgenossen gewinnt man den Eindruck, daß Cromwell nur in bezug auf den „göttlichen Willen" denken oder handeln konnte. Die ständige Berufung auf diesen „will of G o d " zur Rechtfertigung der eigenen Taten trug Cromwell den Vorwurf der Heuchelei ein, der sich verstärkte, je mehr er sich einer diktatorischen Machtfülle näherte. Obwohl von der Richtigkeit seines eigenen Glaubens überzeugt, stand Cromwell dem religiösen Pluralismus toleranter gegenüber als die meisten Menschen seiner Generation. Er war der Meinung, daß die Wahrheit aus einem freien Wettstreit der Ideen hervorgehen werde; und doch war derselbe Mann in Irland für das Blutbad von Drogheda und Wexford verantwortlich und plante, alle katholischen Iren zu enteignen. Während er auf dem Schlachtfeld von großer Entschlußkraft war, pflegte Cromwell politische Entscheidungen gewöhnlich lange hinauszuzögern. Er selbst nannte es ein „Warten auf Ereignisse", um den „Willen Gottes" zu erkennen. Ohne Zweifel hatte er konservative politische Vorstellungen und strebte, wie er es häufig ausdrückte, nach einer „Stabilisierung" (settlement) der politischen Verhältnisse. Wenn er sich einmal entschieden hatte, handelte er rasch, gewöhnlich in Furcht vor einem drohenden Chaos. Seine Zeitgenossen glaubten, daß Cromwell von Anfang an auf den Griff nach der Macht hin gearbeitet habe.

238

Cruciger

C a r l y l e , s e i n F ü r s p r e c h e r i m 19. J h . , w a r d e r M e i n u n g , d a ß er z u n ä c h s t n u r a u f p u n k t u e l l e E r e i g n i s s e E i n f l u ß n a h m u n d sich e r s t z u m H e r r s c h e r a u f s c h w a n g , als e i n e E n t s c h e i d u n g n o t w e n d i g w u r d e . H e u t e d a g e g e n b e t o n t m a n die M a c h t d e r Ereignisse, der sich C r o m w e l l fügte. Quellen Cromwell ist von jeher Gegenstand lebhaften Interesses gewesen, so d a ß in jüngerer Zeit, von einigen Lokalregistern und Privatarchiven abgesehen, kein neues M a t e r i a l erschlossen werden k o n n t e . Die immer weiter erscheinenden Biographien können n u r versuchen, den alten Quellen neue Einsichten abzugewinnen Bibliographie: Wilbur Cortez Abbott, A Bibliography of Oliver Cromwell, C a m b r i d g e , M a s s . 1929. - T h e Writings and Speeches of Oliver Cromwell (s. u.), IV 1947. Clement Walker, The Compleet History of Independency, L o n d o n 1661 2 1 8 2 6 . - James H e a t h , Flagellum. O r the Life and Death . . . of Oliver Cromwell, L o n d o n 1 6 6 3 3 1 6 9 1 . - B u l s t r o d e Whitelocke, Memorials of the English Affairs, 4 Bde., L o n d o n 1682, O x f o r d 3 1 8 5 3 . - E d m u n d Ludlow, M e m o i r s , 3 Bde., Vevay 1698/99, O x f o r d "1894. - Edward Hyde, History of the Rebellion, 3 Bde., O x f o r d 1702; hg. v. W . D. M a c r a y , 6 Bde., O x f o r d 1888. - J o h n T h u r l o e , Collection of State Papers, hg. v. Th. Birch, 7 Bde., L o n d o n 1742. - Oliver Cromwell's Letters and Speeches, hg. v. T h . Carlyle, 2 Bde., L o n d o n 1845; hg. v. S. C. Lomas, 3 Bde., London 1904. - William Clarke, T h e Clarke Papers, hg. v. C. H . Firth, 4 Bde., L o n d o n 1 8 9 1 - 1 9 0 1 (Campden Society Publications NS 49.54.60.61). - Acts and O r d i n a n c e s of the Interregnum, 3 Bde., hg. v. C. H . Firth/R. S. Raith, L o n d o n 1 9 1 1 . - T h e Writings a n d Speeches of Oliver Cromwell, hg. v. W . C. Abbott, 4 Bde., Cambridge, Mass. 1 9 3 7 - 1 9 4 7 . Literatur Rudolf A m a n n , Cromwell als Redner, Diss. Phil. Tübingen 1958. - Maurice Ashley, T h e Greatness of Oliver Cromwell, L o n d o n 1 9 5 7 . - D e r s . , Cromwell and his W o r l d , L o n d o n 1972. - R o b e r t Ashton, T h e English Civil W a r . Conservatism and Revolution 1 6 0 3 - 1 6 4 8 , London 1978. - BBKL 1, 1163 — 1166 (Lit.). - Josef C h a m b o n , Der Puritanismus. Sein W e g v. der Reformation bis z u m Ende der Stuarts, Zürich 1944. - Charles H a r d i n g Firth, Oliver Cromwell, London 1900 3 1 9 2 3 . - Ders., T h e Last Years of the Protectorate, 2 Bde., L o n d o n 1 9 0 9 / 1 0 . - Ders., Cromwell's Army, L o n d o n 4 1 9 6 2 . A n t o n i a Frazer, Cromwell, London 1973. - Samuel R a w s o n Gardiner, History of the C o m m o n w e a l t h and Protectorate, 3 Bde., L o n d o n 1 8 9 4 - 1 9 0 1 = 1 9 0 3 . - D e r s . , Oliver Cromwell, L o n d o n 1898 2 1 9 0 1 ; dt.: M ü n c h e n 1903. - François Guizot, Histoire de la Republique d'Angleterre et de C r o m w e l l , 2 Bde., Paris 1861 = 1870. - Richard Heinold, Die W a n d l u n g e n des dt. Cromwell-Bildes, Diss. Phil. Erlangen 1953. — Christopher Hill, G o d ' s Englishman. Oliver Cromwell a n d the English Revolution, L o n d o n 1970. - Isaac Kimbler, T h e Life of Oliver Cromwell, L o n d o n 1724 6 1 7 8 8 . - Charles P. Korr, Cromwell and the N e w M o d e l Foreign Policy. England's Policy t o w a r d France 1 6 4 9 - 1 6 5 8 , Berkeley, Calif. 1975. - H a r t m u t L e h m a n n , Das Zeitalter des Absolutismus. G o t t e s g n a d e n t u m und Kriegsnot, Stuttgart/Berl i n / K ö l n / M a i n z 1980 (Christentum u. Gesellschaft 9) 8 0 - 8 3 (Lit.). - Robert S. Paul, T h e Lord Protector. Religion and Politics in the Life of Oliver Cromwell, L o n d o n 1955. - Heinz Schmidt, Cromwell u. das AT, Diss. Phil. Bonn 1954. - Rudolf Stadelmann, Gesch. der engl. Revolution, Wiesbaden 1954. H a r r o Voss, Die W a n d l u n g e n des Cromwell-Bildes in der Gesch.Schreibung v. 1845 bis 1951, Diss. Phil. Kiel 1952. - Blair W o r d e r , The R u m p Parliament, C a m b r i d g e 1974. George Drake

Cruciger, Caspar 1.

d. Ä.

(1504-1548)

Leben

Cruciger wurde am

1 . 1 . 1 5 0 4 in L e i p z i g g e b o r e n . Sein V a t e r G e o r g ( g e s t . 1 5 4 4 in

W i t t e n b e r g ) s t a m m t e aus einer b ö h m i s c h e n Familie m i t hussitischen T r a d i t i o n e n . Er h a t t e 1 5 0 2 d a s B ü r g e r r e c h t i n L e i p z i g e r w o r b e n u n d k a m s p ä t e r z u e i n i g e m R e i c h t u m . Er g e h ö r t e z u d e n B ü r g e r n L e i p z i g s , d i e f r ü h z e i t i g f ü r d i e R e f o r m a t i o n e i n t r a t e n (vgl. W A . B 8 , 6 0 1 A n m . 3). Sein S o h n e r h i e l t e i n e g r ü n d l i c h e h u m a n i s t i s c h e A u s b i l d u n g , z u n ä c h s t p r i v a t d u r c h G . H e l t , C . B ö r n e r u n d S. R o t h , d a n n a u f d e r U n i v e r s i t ä t —»Leipzig

(Immatrikulation

1 9 . 1 0 . 1 5 1 3 ) d u r c h R . K r o k u n d P. M o s e l l a n u s . D a ß e r d i e L e i p z i g e r D i s p u t a t i o n 1 5 1 9 m i t e r l e b t h a t , ist n i c h t s i c h e r b e z e u g t . E b e n s o s i n d Z e i t p u n k t u n d G r ü n d e f ü r d i e U b e r s i e d l u n g

Cruciger

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nach Wittenberg nicht genau zu bestimmen. Im F r ü h j a h r 1521 hielt er sich bereits in —»Wittenberg auf (vgl. A R G 29 [1932] 2 4 7 f ; WA 7,82,15). Doch ist er noch einmal nach Leipzig zurückgekehrt (vgl. den Brief —»Melanchthons an ihn vom Sept./Okt. 1522: CR 1,583; Suppl. VI/1, Nr. 261) und ließ sich erst am 13.4.1523 immatrikulieren. Im Sommer 1524 wurde er durch —>Luther mit der ehemaligen N o n n e Elisabeth von Meseritz getraut (gest. 1535; vgl. WA. B 6,396f Anm. 1). Nach ihrem T o d e heiratete er 1536 die Leipziger Ratsherrntochter Apollonia Günterode (gest. 1557; vgl. WA.B 7,384f Anm. 5f)Auf Vorschlag Melanchthons sollte er Ende 1524 die Lektion über Quintilian an der Philosophischen Fakultät übernehmen (vgl. CR 1,694 f; WA. B 3,475 Anm. 4). Doch ging er 1525 im Frühjahr als Prediger und Rektor der neuen evangelischen Stadtschule nach —»Magdeburg (CR 1, 743 f; WA.B 3,474f Anm. 4). Bereits 1528 wurde er nach Wittenberg zurückgerufen, um zunächst als Prediger und Mitglied der Philosophischen Fakultät die Wittenberger Theologen zu unterstützen bzw. bei Abwesenheit zu vertreten (vgl. WA.B 4, 4 6 2 Anm. 4). Nach Erlangung der theologischen D o k t o r w ü r d e am 1 6 . / 1 7 . 6 . 1 5 3 3 (vgl. WA 39/2, XIV) wurde er Mitglied der Theologischen Fakultät. Seit dieser Zeit findet sich sein N a m e fast unter allen Gutachten der Wittenberger Theologen. Im Sommer 1539 führte Cruciger zusammen mit Friedrich Myconius ( 1 4 9 1 - 1 5 4 6 ) die Reformation in seiner Geburtsstadt durch. Seine Berufung nach Leipzig wurde durch den Einspruch Luthers verhindert. So blieb Cruciger an der Wittenberger Universität, deren Rektorat er mehrfach ü b e r n o m m e n hat (SS 1533; WS 1 5 3 8 / 3 9 ; 1542/43). Ebenso vertrat er die Wittenberger Theologen zusammen mit M e l a n c h t h o n bei den Religionsgesprächen in Hagenau, W o r m s u n d Regensburg 1 5 4 0 / 4 1 (—»Reformationsgespräche). Nach dem Tode Luthers und der Katastrophe des —»Schmalkaldischen Krieges bemühte er sich als Rektor zusammen mit Melanchthon um die Erhaltung der Universität in Wittenberg. Er starb am 16. N o v e m b e r 1548 mitten in den Kämpfen um die Vorbereitung des Leipziger —»Interims. 2. Werk Cruciger ist entscheidend durch seine humanistisch-philologischen Interessen und Kenntnisse geprägt worden. Damit verband er frühzeitig die Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Fragen. So begann er im Jahre 1524 mit botanischen Studien und legte später in Wittenberg einen botanischen Garten an. Seine mathematischen und astronomischen Arbeiten, die er zusammen mit seinem Studienfreund, dem Wittenberger M a t h e m a t i k e r Erasmus Reinhold betrieb, führten ihn zur Anerkennung des neuen Weltbildes des —»Kopernikus. Diese universalen Interessen verband Cruciger problemlos mit seinen speziellen theologischen Aufgaben. In seinen exegetischen Vorlesungen und Publikationen vertrat er die neue philologisch-dogmatische Exegese, die betont auf die Erfassung des dogmatischen Gehaltes der biblischen Aussagen zielte. Dieses dogmatische Interesse führte ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit der Lehre und den Lehrstreitigkeiten der Alten Kirche, offensichtlich im Anschluß an den immer stärker werdenden „Traditionalismus" Melanchthons. So versuchte er 1546/47, durch eine Vorlesung über das N i c ä n u m (—»Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis) die G r u n d f r a g e n der Lehre zusammenfassend darzustellen. Diese vielfältigen Fragestellungen waren bei ihm zu einer eindrücklichen Lebenseinheit verb u n d e n . Noch auf seinem Sterbelager beschäftigte er sich mit der Übersetzung der Schrift' Luthers über die letzten Worte Davids, studierte die Psalmen und den Euklid, tröstete sich mit der Rechtfertigungslehre und dem Blick zum Himmel als Beweis f ü r die Weisheit und O r d n u n g s m a c h t des Schöpfers und faßte alles im Gebet für den weiteren Weg der Kirche zus a m m e n (vgl. CR l l , 8 4 0 f ) . Den Zeitgenossen galt Cruciger in besonderer Weise als der Sachwalter des Werkes Luthers. Das hängt wesentlich mit der Tatsache zusammen, daß er bereits frühzeitig mit der Nachschrift und Drucklegung von Lutherpredigten begann (vielleicht bereits 1523 mit Predigten über I Petr; vgl. WA 12, 249), die er mit der von Luther gewünschten verbesserten H e r a u s g a b e der Sommerpostille krönte (vgl. WA 22, X I - X I X ; WA.B 14,360 Anm. 34). Seine Nachschriften wurden auch mehrfach für die Herausgabe von Vorlesungen Luthers

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Cruciger

benutzt (vgl. WA 13, XXVIII; 40/1,2ff; 42, IXf). Mit Georg Rörer begann er auch die große Wittenberger Gesamtausgabe 1539 (vgl. WA.B 8,99.585 f.599f). Ferner unterstützte er Luther bei der Revision der Bibelübersetzung (vgl. WA.DB 3, XVff; 4, XXVIff. XLVIff; —»Bibelübersetzungen). Luther hat ihn gelegentlich als seinen Elisa bezeichnet, der sein Werk nach seinem Tode weiterführen sollte (WA.B 7,329; 8,587,23 f; WA.TR 4, Nr. 4912). Tatsächlich ist Cruciger aber menschlich und theologisch entscheidend von Melanchthon geprägt worden, mit dem ihn zeitlebens eine enge Freundschaft verband. Zu seinem Freundeskreis gehörten ferner Männer wie J. Camerarius, V. Dietrich u. a., die durch Korrespondenz eng mit ihm und Melanchthon verbunden blieben (vgl. Melanchthon-Briefwechsel). Dabei kam es zeitweise zu Spannungen mit Luther. So löste Cruciger 1536 die erste größere Auseinandersetzung über die Rechtfertigungslehre in Wittenberg aus, als er in einer Vorlesung über das Johannesevangelium Sätze Melanchthons von der Notwendigkeit der Reue und der guten Werke als conditiones sine quibus non der —»Rechtfertigung vortrug und dadurch die Kritik von Konrad Cordatus ( 1 4 7 6 - 1 5 4 6 ) hervorrief (vgl. CR 3 , 1 5 9 - 3 5 4 ; Kolde 264ff). Auch in der Lehre vom —»Abendmahl vertrat er die Auffassung Melanchthons. Doch hielt er sich wie dieser zu Lebzeiten Luthers bewußt zurück, um den Frieden und die Einheit der Wittenberger Theologie zu erhalten (vgl. CR 5,313 f.473 f). In den Vorverhandlungen zum Leipziger Interim stand er in der Frage der Mitteldinge eindeutig auf Melanchthons Seite. Nur sein früher Tod hat den ,Elisa' Luthers vor der Kritik der Gnesiolutheraner bewahrt (vgl. Gründlicher Bericht, Wittenberg 1559). 3.

Nachwirkung

Es ist eine historisch sachgemäße Konsequenz, daß ein Teil seiner Schriften später von Melanchthon weitergeführt und schließlich ganz in dessen Werk aufgenommen worden ist. So ist Cruciger, sieht man von der speziellen Leipziger Traditionspflege ab, weitgehend in dem Werk der beiden Reformatoren aufgegangen, denen er sich Zeit seines Lebens besonders verpflichtet gefühlt hat. Quellen Ein umfassender Uberblick fehlt. Schriftenverzeichnisse: Bosseck 15 f; Pressel 82; R E 1 4 (1898) 344. Die unter Crucigers Namen gedruckten akademischen Reden finden sich CR 1 1 , 2 0 9 2 1 4 . 2 7 2 - 2 7 8 . 3 2 4 - 3 2 9 . 5 6 0 - 5 6 6 . 5 9 8 - 6 0 5 . 6 4 1 - 6 4 7 . 7 4 2 - 7 4 6 . - Auslegung des J o h : CR 1 5 , 1 4 3 9 (vgl. CR 3 , 1 5 9 f f ) ; Vorl. über die altkirchlichen Bekenntnisse: CR 2 3 , 1 9 3 - 5 8 4 (vgl. CR 7 , 5 7 5 - 5 7 9 ) ; Auszüge aus den Religionsgesprächen 1 5 4 0 f : CR 4 , 2 4 2 - 2 5 0 . 3 8 7 - 3 8 9 . Ebenso sind vielfach Briefe von ihm in den Melanchthon-Briefwechsel (vgl. CR 28,209) bzw. in den Luther-Briefwechsel (vgl. WA.B 15) aufgenommen worden. Literatur Eine umfassende Bibliographie und eine wissenschaftlich zureichende Biographie fehlen. Für die ältere Literatur vgl. BDG I, Nr. 3 4 9 2 - 3 5 0 2 ; V, Nr. 4 5 6 6 6 - 4 5 6 7 0 . Hans Becker, Ungedrucktes v. Bugenhagen, Melanchthon, Cruciger: ZKG 44 (1925) 2 7 6 - 2 8 1 . Johann Gottlieb Bosseck, De Casparo Crucigero Theologo Wittebergensi et Reformatore Lipsiensi, Leipzig 1739. - Albert Freitag, Der lit. Rörer. Zugleich Abwehr einer Kritik an der Weimarer Lutherausg.: ThStKr 9 8 / 9 9 (1926) 2 7 0 - 2 8 0 . - Walter Friedensburg, Gesch. der Univ. Wittenberg, Halle 1 9 1 7 , - R e i n h o l d Jauernig, Art. Cruciger: R G G 3 1 (1957) 1 8 8 6 f . - E r n s t Kahler, Art. Cruciger: N D B 3 (1957) 427 f. - Ernst Kroker, Beitr. zur Gesch. der Stadt Leipzig im Reformationszeitalter, 1908 (Neujahrsbl. der Bibliothek u. des Archivs der Stadt Leipzig 4 ) . - D e r s . , Leipzig u. die sächsischen Bergwerke: Sehr, des Vereins für die Gesch. Leipzigs 9 (1909) 2 5 - 6 4 . - H e r m a n n Petrich, Caspar Cruciger. Luthers Freund u. Leipzigs Reformator, Hamburg 1904. - Theodor Pressel, Caspar Cruciger. Nach gleichzeitigen Quellen, Elberfeld 1862. - Erasmus Reinhold, Oratio de Casparo Crucigero . . . recitata, Wittenberg 1549: CR 11, 8 3 3 - 8 4 1 . - Otto Ritsehl, DG des Protestantismus, 4 Bde., Leipzig 1 9 0 8 / 2 7 . - Gerhard Schulze, Die Vorl. Luthers über den Galaterbrief v. 1531 u. der gedruckte Komm. v. 1535: ThStKr 9 8 / 9 9 (1926) 1 8 - 8 2 . - Georg Voigt, Christoph Walther, der Druck-Corrector zu Wittenberg: ZKG 1 (1877) 1 5 7 - 1 7 0 .

Friedrich de Boor

Crüger Crüger, Johann

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(1598-1662)

1. Leben Crüger, für das E K G (Anhang) der „wichtigste Melodienschöpfer nach der Reformation", wurde am 9. 4. 1 5 9 8 in G r o ß Breesen b. Guben/Niederlausitz geboren. Schulwanderungen führten ihn bis nach Österreich, Ungarn, Mähren und Böhmen. 1 6 1 5 war Crüger Hauslehrer in Berlin. Dem Theologiestudium ( 1 6 2 0 — 1 6 2 2 in Wittenberg) folgte die Berufung zum Kantor an die Berliner Nicolaikirche und zum Lehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster. Neben reichen musikalischen Aufgaben hatte Crüger laut Lektionsplan von 1 6 5 3 die unverhältnismäßig hohe Zahl von 14 Wochenstunden Elementarunterricht in unteren Klassen zu erteilen. Warum ein geplantes Anstellungsverhältnis am reformierten Hof nicht zustande kam, ist unaufgeklärt. Crüger starb am 2 3 . 2. 1 6 6 2 in Berlin. Seine Grabstelle in d e r N i c o l a i k i r c h e (heute R u i n e ; seit 1 9 6 2 d o r t eine G e d e n k t a f e l ) ist nicht m e h r b e k a n n t . C r ü g e r , m i t b e t r o f f e n d u r c h Kriegsnöte, w a r z w e i m a l v e r h e i r a t e t und h a t t e zahlreiche Kinder. D e r zweiten F r a u hielt —»Spener 1 7 0 0 die L e i c h e n p r e d i g t . N a c h k o m m e n C r ü g e r s leben bis in die Geg e n w a r t . Sein bekanntestes Bildnis (von M . C . H i r t , 1 6 6 3 , vgl. M G G 2 , T a f . 6 1 ) h ä n g t heute im Geb ä u d e des Evangelischen K o n s i s t o r i u m s Berlin ( W e s t ) .

Die Berliner Musikpflege erfuhr durch Crüger einen ersten Höhepunkt. Das evangelische —»Kirchenlied erlebte eine Sternstunde vor allem durch die Verbindung Crügers zu Paul —•Gerhardt, Johann Franck u. a., deren Dichtungen er z.T. primär publizierte. Crüger stand in der lutherischen Kantoreitradition, die in ihrem Musikverständnis mittelalterliche, reformatorische und humanistische Elemente weiterführte und mit ihnen aus theologisch gegründeter Kulturoffenheit moderne musikalische Theorien und Verfahren verband. Die soziologisch einer ständisch gegliederten Kirche und Gesellschaft zugeordnete Musikpraxis war auf einen das ganze Leben umgreifenden trinitarisch-doxologischen Sinnhorizont bezogen. Bedeutsam war, daß Crüger diese Elemente mit einer individuellen Andachtsfrömmigkeit frühpietistischer Prägung vereinigte.

2. Werk In Zusammenhang mit Crügers Wirken als Kantor stehen seine pädagogischen, theoretischen, kompositorischen und editorischen Werke und sein Melodienschaffen. Allen Werkbereichen eignet eine schöpferische Synthese von Tradition und Neuerung. Crügers Synopsis musica ( 1 6 3 0 2 1 6 5 4 ) zählt zu den bedeutenden Kompositionslehren des 17. Jh. In eigenen Kompositionen setzte Crüger für die musikalische Doxologie und die kultische Kommunikation neue Stilmittel wie doppelchöriges und solistisches Konzertieren und Generalbaß ein; das zeigen besonders die Magnificatvertonungen des Meditationum musicarum Paradisus secundus ( 1 6 2 6 ) . Schlichtere Faktur weisen die tonartlich fortschrittlichen Laudes

vespertinae (1654) und die Hymni selecti (hg. 1680) auf. In den Geistlichen

Kirchenmelo-

dien ( 1 6 4 9 ) treten zu hömophonen Liedsätzen Instrumentalstimmen ad libitum in konzertierender Manier — eine von Crüger erfundene Besetzungsform, die später Crügers Amtsnachfolger J. G. Ebeling aufgegriffen hat. Sie ist von Crüger auch mit seiner Bearbeitung des Lobwasser-Psalters verbunden worden, die 1657/58 als Psalmodia sacra im Auftrage des Großen Kurfürsten erschien und dabei mit der engen Zuordnung des instrumentalen Musizierens zum Gesang einem reformierten Gottesdienstmusikideal entgegenkam. Besonders einflußreich wurde Crüger durch sein 1 6 4 0 herausgegebenes Gesangbuch, das von 1 6 4 7 an unter dem Titel Praxis Pietatis Melica erschien. Dieses von Crüger selbst noch bis zur 10. Ausgabe ( 1 6 6 1 ) geführte Gesangbuch enthielt sowohl das ältere Liedgut wie eine gute breite Auswahl aus der zeitgenössischen geistlichen Dichtung, die dadurch neben dem häuslichen auch dem gottesdienstlichen Gebrauch zugeführt wurde. Bei seinen eigenen Melodieschöpfungen bzw. -bearbeitungen integrierte Crüger ältere (besonders solche des reformierten Liedpsalters) und jüngere Einflüsse in seine vielgestaltige Melodiesprache. Zu deren Charakter gehört, in Entsprechung zu Crügers Frömmigkeit und Wirkungsabsicht, die Koinzidenz von textbezogenem, gemeindemäßig-volkstümlichem und individuellem Ausdruck.

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Crusius

3.

Nachwirkung

Wirkungsgeschichtlich waren Crügers Gesangbuch und seine Melodien von hervorragender Bedeutung, in geringerem Maß auch seine Liedsätze. Forschungsgeschichtlich traten dementsprechend andere Bereiche des Werkes bisher in den Hintergrund. - Der von Crüger aus einer spezifischen Verbindung von Vokal- und Instrumentalstimmen entwickelte Typ des Liedsatzes wurde „zur verbreitetsten Art des Choralsatzes in der späteren Figuralmusik" (Krummacher 35). Die Praxis Pietatis Melica erschien ständig verändert und vermehrt bis zur Mitte des 18. Jh. allein in Berlin in 45 Auflagen. Ihre vermittelnde Tendenz machte sie sowohl für Orthodoxie wie Pietismus wichtig. Sie gilt als „das am meisten aufgelegte Gesangbuch des Protestantismus" (Blankenburg: MGG 2, 1811). - Von Crügers Melodien waren im 18. Jh. nur wenige gebräuchlich. Seit dem 19. Jh. erfreuten sie sich steigender Beliebtheit. Spezielle wirkungsgeschichtliche Untersuchungen fehlen noch. Ein Höhepunkt der Melodierezeption ist das EKG, das in seinem Stammteil ca. 7 % seiner Singweisen Crüger verdankt. Unter diesen ca. 20 Melodien befinden sich vielgesungene wie Wie soll ich dich empfangen und Lobet den Herren alle, die ihn ehren. - Crüger-Melodien fanden auch internationale und ökumenische Verbreitung. Das römisch-katholische Gesangbuch Gotteslob (1975) verzeichnet Crügers Namen bei 7 Weisen. Mehrere Melodien Crügers sind in Werken späterer Komponisten bearbeitet worden, so von D. Buxtehude, J. S. —»Bach, J. Brahms, M. Reger, E. Pepping. Quellen Werkverzeichnis: W. Blankenburg: MGG 2 (s. u.), 1 8 0 3 - 1 8 0 5 . - Die verstreut erhaltenen Quellendrucke sind mit Bibliotheksstandorten verzeichnet: RISM A/I/2 (1972) 2 5 5 - 2 5 6 ; B/VI/1 (1971) 2 4 5 - 2 4 6 ; Ausgaben von Crügers Gesangbüchern a. a. O. B/VIII/1 (1975) 246 ff passim. - Ein Teil der Quellen ist in der Filmsammlung des Deutschen Musikgesch. Archivs Kassel erfaßt. - Umfangreichere Neuausgaben sind bisher nicht zustande gekommen. Teileditionen: Vgl. W. Blankenburg: MGG 2 (s. u.), 1813 und Riemann Musiklexikon, Erg.bd. Personenteil A - K (Mainz 1972) 2 4 4 f . - Eine kritische Ausgabe der Crügerschen Liedweisen steht zu erwarten im Rahmen des Quellenwerkes Das dt. Kirchenlied, Kassel u. a. 1975 ff.

Literatur Walter Blankenburg, Art. Crüger, Johann: MGG 2 (1952) 1 7 9 9 - 1 8 1 4 (Lit. u. Abb.). - Ders., Die Entwicklung der Hymnologie seit etwa 1950: ThR NF 44 (1979) 3 1 9 - 3 4 9 . - Christian Bunners, Singende Frömmigkeit. Johann Crügers Widmungsvorreden zur „Praxis Pietatis Melica": JBBKG 55 (1980) 9 - 2 4 . - D e r s . , Philipp Jakob Speneru. Johann Crüger. EinBeitr. zur Hymnologie des Pietismus: Theol. Versuche 15 (i. Ersch.). - Hans Heinrich Eggebrecht, Art. Crüger, Johannes: NDB 3 (1957) 428 f. - Heinz Hoffmann (Hg.), Paul Gerhardt 1 6 0 7 - 1 6 7 6 , Berlin 1978. - Friedhelm Krummacher, Die Choralbearbeitung in der prot. Figuralmusik zw. Praetorius u. Bach, Kassel u. a. 1978. - Riemann Musiklexikon (s. o.) verzeichnet jüngere Speziallit.

Christian Bunners Crusius, Christian August

(1715-1775)

1. Leben Crusius wurde am 10. 1. 1715 in Leuna bei Merseburg geboren. Er entstammte einer alten Pfarrerfamilie in der väterlichen Linie; auch seine Mutter, Christiana Dorothea, war Pfarrerstochter. In der Kindheit ist Christian August von seinem Vater Johann August Crusius bis zu dessen Tode (1729) unterrichtet worden. Danach besuchte er für fünf Jahre das Gymnasium in Merseburg. 1734 begann Crusius mit dem Studium an der Universität zu —»Leipzig. Seine philosophischen Lehrer wurden Andreas Rüdiger ( 1 6 7 1 - 1 7 3 1 ) und dessen Schüler Adolph Friedrich Hoffmann (1703 - 1 7 4 1 ) . Theologisch prägten ihn Johann Gottlob Pfeiffer ( 1 6 6 7 - 1 7 4 0 ) , Romanus Teller ( 1 7 0 3 - 1 7 5 0 ) und Johann Christian Hebenstreit (1686—1756). Noch wichtiger für Crusius' theologische Entwicklung wurde allerdings J. A. —»Bengel. Mit dessen Schülern Philipp David Burk und Magnus Friedrich Roos stand er in Briefkontakt.

Crusius

243

Crusius wurde in Leipzig 1737 zum Magister der Philosophie promoviert, 1740 habilitiert und 1744 zum a.o. Professor der Philosophie ernannt. Seit 1742 war er auch Baccalaureus der Theologie. 1750 entschied sich Crusius, vollends zur Theologie überzugehen, vermutlich weil in der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig keine Vakanz bestand. Er bekam die 4. theologische Professur neben Christian Friedrich Börner, Salomon Deyling und Hebenstreit. Als Börner 1753 starb, rückte Crusius an die 3. Stelle, wurde Ephorus der kurfürstlichen Stipendiaten und Kanonikus in Zeitz. Nach dem Tode Deylings (1755) bekam er die 2. Stelle in der Fakultät und wurde mit dem Meißener Kanonikat beauftragt. 1756 starb auch Hebenstreit. Daraufhin wurde Crusius 1757 Professor Primarius und Senior der Leipziger theologischen Fakultät. Daneben behielt er eine Lehrstelle als Philosoph. Siebenmal war Crusius Dekan, zweimal Rektor, einmal Prorektor. Mehrere Rufe in hohe Stellen nach Rinteln, Coburg und Göttingen schlug er aus. Er erkrankte im September 1775 und starb am 18. 10. 1775 an einer Lungenentzündung. Crusius, der unverheiratet geblieben ist, war von äußerster Rechtgläubigkeit. Freunde wie Gegner bewunderten seine Pietät und seinen vortrefflichen Charakter. 2. Werk Die Bedeutung von Crusius' Werk liegt auf philosophischem und theologischem Gebiet. Philosophisch darf man Crusius zu den Schülern des Rechtsphilosophen C. —»Thomasius rechnen. Er hat jedoch in dreierlei Hinsicht selbständige Bedeutung erlangt: Einmal mit der Neuformulierung und Weiterentwicklung der thomasianisch-rüdiger'schen Grundsätze, sodann als Kämpfer gegen das formalistische und deterministische System des Philosophen C. —»Wolff und schließlich als Wegbereiter für —»Kant, der Crusius zumindest die wichtige Erkenntnis verdankt, daß die rationalistische Methode nicht unantastbar ist (vgl. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik [1783] § 36). Die Philosophie des Christian August Crusius beherrschte eine Zeitlang die Schulen Nord- und Mitteldeutschlands und trug zur Erschütterung und Überwindung des Wolffianismus entscheidend bei. Crusius' philosophische Werke sind nach seinem Tode nicht mehr gedruckt worden, liegen aber heute in der Ausgabe von Tonelli vor. Crusius' theologische Einstellung kann als „biblisch-prophetisch" oder apokalyptisch" bezeichnet werden. Mit dieser Auffassung machte er sich sowohl die theologischen Anhänger der Wolff'schen Richtung als auch die Vertreter der neologischen, philologischen und rationalistischen Anschauungen zu Widersachern. Unter Friedrich II. wurden seine Lehrbücher in Preußen sogar verboten. Als Schüler Bengels nahm er dessen biblizistischen Ansatz, den ökonomisch-föderaltheologischen Gedanken und dessen Vorliebe für die Johannes-Apokalypse auf (—»Coccejus, —»Föderaltheologie). Bei Crusius führte die realistische Schriftauslegung zur Ausbildung eines ihm eigenen apokalyptisch-theosophischen Systems, das bisweilen zu Auswüchsen neigte (er verstand z. B. den Papst als das siebenköpfige Tier aus Apk 13). So war er nicht nur der einzige akademische Lehrer aus der Schule der „Bengelianer", sondern auch einer der Väter der heilsgeschichtlichen Betrachtungsweise, wie sie im 19. Jh. von J. T. —»Beck und J. C. K. —»Hofmann fortgeführt wurde. Crusius entwickelte seine prophetische Theologie vornehmlich in seinem Hauptwerk Hypomnemata ad theologiam propheticam ( 1 7 6 4 - 1 7 7 8 ) . Hier sieht er das höchste Ziel aller Werke Gottes und das Hauptobjekt der geoffenbarten Religion in der Errichtung des Reiches Gottes, das in dem Heils werk Christi seiner Erfüllung entgegenstrebt. Der Aufbau dieses Reiches Gottes geschieht in stufenförmiger Entwicklung. Die alttestamentliche Geschichte, insbesondere die Prophetie, läßt einen ineinandergreifenden Fortschritt, eine dem göttlichen Gesetz folgende periodische Entfaltung des Werkes Gottes erkennen. Jesus Christus, der Mensch gewordene ewige Sohn Gottes, ist Krönung und Vollendung dieses Heilswerkes. Mit seiner Menschwerdung findet die erste Hälfte des geschichtlichen Heilsweges ihren Abschluß. Die Wiederkunft Christi vollendet dann das Gotteswerk, das bis in die Ewigkeit hineinreicht.

Außer den Hypomnemata verfaßte Crusius eine Abhandlung von dem wahren Begriffe der christlichen Frömmigkeit (1763), eine zweibändige christliche Moral mit dem Titel Kurzer Begriff der christlichen Moraltheologie ( 1 7 7 2 - 1 7 7 3 ) und eine Reihe kleinerer, z. T. lateinischer Schriften, die ins Deutsche und auch ins Französische übersetzt worden sind.

244

Crusius

3.

Nachwirkung

Die W i r k u n g , die v o n C r u s i u s ausging, w a r b e t r ä c h t l i c h . Als G e g n e r u n d Ü b e r w i n d e r des W o l f f i a n i s m u s , als ü b e r a u s erfolgreicher U n i v e r s i t ä t s l e h r e r u n d als V o r l ä u f e r K a n t s h a t er sich u m die P h i l o s o p h i e d e r m a ß e n verdient g e m a c h t , d a ß er als einer der b e d e u t e n d s t e n P h i l o s o p h e n seiner Z e i t gelten k a n n . Als T h e o l o g e h a t C r u s i u s für zwei J a h r z e h n t e d e m Stud i u m in Leipzig den Stempel a u f g e d r ü c k t . Seine G e g n e r s c h a f t zu J. A. —»Ernesti s c h u f die Partei der „ C r u s i a n e r " , die G o e t h e in Dichtung

und Wahrheit

e r w ä h n t . C. F. —»Bahrdt w a r

anfänglich ein eifriger „ C r u s i a n e r " , b e v o r er zu Ernesti ü b e r w e c h s e l t e . C r u s i u s h a t eine R e i h e t h e o l o g i s c h e r und r e l i g i o n s p h i l o s o p h i s c h e r Schüler gefunden, die sich j e d o c h a n g e sichts der ü b e r h a n d n e h m e n d e n r a t i o n a l i s t i s c h e n S t r ö m u n g e n n i c h t b e h a u p t e n k o n n t e n . Ind e m er a b e r d e m einseitigen a u f k l ä r e r i s c h e n D e n k e n eine G e s a m t s c h a u e n t g e g e n s e t z t e , welc h e Philosophie u n d T h e o l o g i e in eine f r u c h t b a r e S y m b i o s e führte, w a r C r u s i u s seiner Z e i t w e i t v o r a u s . So ist er den K r ä f t e n zuzuzählen, die berufen w a r e n , d u r c h ihr tieferes u n d u m fassenderes D e n k e n den E n g p a ß des —»Rationalismus zu u m g e h e n und der E p o c h e des - ^ I d e a l i s m u s die B a h n zu b r e c h e n . L ä ß t m a n e i n m a l gewisse Z u s p i t z u n g e n seiner T h e o l o g i e beiseite, s o k ö n n t e er a u c h d e m Geist des 2 0 . J h . Impulse v e r m i t t e l n . Die Crusius-Forschung beschäftigt sich heute mit einer Reihe noch ungelöster Probleme: 1. Welches ist der eigentliche Grund für Crusius' 1 7 5 0 vollzogenen Ubergang von der Philosophie zur Theologie? W a r er eine Doppelpersönlichkeit, oder muß man bei ihm nach einer tieferen Einheit suchen? 2. Daraus folgt die Notwendigkeit einer genauen und befriedigenden Entwicklungsgeschichte seines Denkens. 3. Es fehlt eine nähere Bestimmung von Crusius' philosophischer und theologischer Originalität. 4. Die Entstehung der crusianischen Schulen und ihre Schicksale bleiben im Dunkel. 5. Offen bleibt die Frage nach Crusius' allgemeinem Einfluß auf seine Zeit und auf die Nachwelt. 6. Die crusianische Theologie bedarf dringend einer neuen, seine Verdienste würdigenden Gesamtdarstellung. 7. Eine lückenlose Bibliographie von Crusius' Schriften liegt bis heute nicht vor. Werke Anleitung vernünftig zu leben, Leipzig 1 7 4 4 3 1 7 6 7 . - Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzt werden, Leipzig 1 7 4 5 3 1 7 6 6 = Darmstadt 1 9 6 3 . Weg zur Gewißheit u. Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntniß, Leipzig 1 7 4 7 3 1 7 6 3 . - Anleitung über natürliche Begebenheiten ordentlich u. vorsichtig nachzudenken, Leipzig 1 7 4 9 2 1 7 7 4 . - Abh. v. dem wahren Begriffe der christl. Frömmigkeit, Leipzig 1 7 6 3 . - Hypomnemata ad theologiam propheticam, 3 T., Leipzig 1 7 6 4 - 1 7 7 8 . - Kurze Vorstellung v. dem eigentlichen schriftmäßigen Plan des Reiches Gottes, Leipzig 1 7 6 8 2 1 7 7 3 . - Kurzer Begriff der christl. Moraltheol., Leipzig 1 7 7 2 - 1 7 7 3 . - Die phil. Hauptwerke, hg. v. Giorgio Tonelli, Hildesheim 1 9 6 9 (mit Einl. u. Lit.verz.). Literatur MagdaleneBenden, Christian August Crusius. Wille u. Verstand als Prinzipien des Handelns, 1 9 7 2 (APPP 73). - Franz Delitzsch, Die bibl.-prophetische Theol., ihre Fortbildung durch Crusius u. ihre neueste Entwicklung seit der Christologie Hengstenbergs, Leipzig 1 8 4 5 . - Christoph Festner, Crusius als Metaphysiker, Diss. Halle 1 8 9 2 . - Heinz Heimsoeth, Ges. Abh. I. Metaphysik und Kritik bei Crusius, Köln 1 9 5 6 . — Wilhelm Rudolf Jaitner, Thomasius - Rüdiger - Hoffmann u. Crusius. Stud. zur Menschenkunde u. Theorie der Lebensführung im 18. Jh., Diss. Köln 1939. - Anton Marquardt, Kant und Crusius, Diss. Kiel 1 8 8 5 . - Anton Seitz, Die Willensfreiheit in der Phil, des Crusius, Würzburg 1 8 9 9 . - Julius Elias Wüstemann, Einl. in das phil. Lehrgebäude des Herrn D. Crusius, Wittenberg 1757. - M a x Wundt, Die dt. Schulphil, im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1 9 4 5 , 2 5 4 - 2 6 4 u.ö. Gert Röwenstrunk C u d w o r t h , Ralph

—»Cambridge, P l a t o n i k e r v o n

C u r a religionis —»Kirche u n d S t a a t , —»Kirchenrecht, —»Kirchenregiment, L a n d e s h e r r l i c h e s C u r r i c u l u m —»Didaktik, —»Pädagogik C u s t o d i a u t r i u s q u e t a b u l a e -^»Kirche u n d S t a a t , -^»Kirchenrecht, - ^ » K i r c h e n r e g i m e n t , L a n desherrliches

Cyprian, Ernst

Cyprian, Ernst Salomo

Salomo

245

(1673-1745)

Ernst Salomo Cyprian war nächst V. E. —»Löscher der bedeutendste Vertreter einer reformwilligen Orthodoxie (—»Orthodoxie, altlutherische) in der ersten Hälfte des 18. Jh. Geboren am 22. 9 . 1 6 7 3 in Ostheim vor der Rhön als Sohn eines Apothekers, besuchte er seit 1 6 8 6 das Gymnasium in Schleusingen und studierte seit 1 6 9 2 in Leipzig und Jena Medizin. Gegen den Wunsch des Vaters wandte er sich Ende 1 6 9 3 der Theologie zu. Sein bevorzugter akademischer Lehrer wurde der Kirchenhistoriker Johann Andreas Schmidt in —»Jena, dem er 1 6 9 8 nach Helmstedt folgte. Durch ihn kam Cyprian in Verbindung mit G. W. —»Leibniz. Ein Briefwechsel mit dreizehn Briefen Cyprians und sechs Briefen von Leibniz fällt in die Jahre 1 6 9 9 bis 1 7 0 6 . Cyprian wurde 1 6 9 9 a.o. Professor der Philosophie in —»Helmstedt, 1 7 0 0 Direktor des Gymnasium Casimirianum in Coburg. Er veranstaltete öffentliche Disputationen und bat literarisch Interessierte zu wöchentlichen Zusammenkünften. Die noctes Casimirianae unterstützten den älteren Plan, das akademische Gymnasium unter seiner Leitung zu einer Universität auszubauen. 1 7 0 6 wurde er Doktor der Theologie in —»Wittenberg. Zwei Jahre zuvor hatte er eine Studienreise nach Holland unternommen, die ihn in seinem Luthertum nur noch festigte. J o h a n n August Stempel, seit 1 6 8 8 Generalsuperintendent in Coburg, verfolgte eine auf die Praxis ausgerichtete orthodoxe Linie, mit Verständigungsbereitschaft gegenüber dem kirchlichen —»Pietismus, aber scharfer prinzipieller Abgrenzung von separatistischen Strömungen, wobei er sich der Hilfe des theologischen Sachverständigen Cyprian bediente. Herzog Friedrich II. von Sachsen-Coburg berief Cyprian 1 7 1 3 als Kirchenrat und Assessor des Oberkonsistoriums nach Gotha und führte eine umfassende Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse durch. Cyprian wurden Bibliothek und Münzsammlung anvertraut, die er aus einem Objekt fürstlicher Liebhaberei zu einer wissenschaftlichen Anstalt machte. 1 7 1 4 veröffentlichte er einen Katalog der Gothaer Handschriftenbestände. Sowohl in Coburg wie in Gotha beteiligte er sich an der Erziehung der Fürstensöhne. Es ist anzunehmen, daß Cyprian die religionspolitischen Prinzipien festlegte, bis unter Friedrich III., der seit 1 7 2 2 regierte, langsam der Umschwung zur frühen —»Aufklärung eintrat. V. E. Löscher wünschte Cyprians Berufung nach Wittenberg. Inden Jahren 1 7 1 5 - 1 7 1 9 hatte sich Löscher intensiv für orthodox-pietistische Gespräche über den Mittelsmann J . F. —»Buddeus in J e n a eingesetzt und Cyprian ins Vertrauen gezogen. Gegen die durch den Widerstand der sächsischen Höfe gescheiterten reformiert-lutherischen Unionsversuche (—»Unionsbestrebungen), die 1 7 2 2 vom Corpus Evangelicorum kräftig unterstützt wurden, nahm Cyprian seit 1 7 2 0 eine ablehnende Haltung ein (Ernst S a l o m o Cyprians und Christoph M a t t h ä i Pfaffens Briefwechsel v. der Vereinigung der Ev.-Luth. u. Ref. Religion, 1 7 2 1 ) .

Cyprians wissenschaftliche Verdienste liegen auf dem Gebiet der Philosophie-, weit mehr jedoch auf dem der Kirchengeschichte. In der Tradition von V. L. v. —»Seckendorf, dessen Compendium Historiae Ecclesiasticae Gothanum (1666) er für die Zeit von 1 6 4 8 - 1 7 2 3 weiterführte, sammelte er vor allem Quellen zur Reformationsgeschichte und zum mystischen Spiritualismus. Er erwarb Teile des handschriftlichen Nachlasses von F. —»Breckling für das Archiv in Gotha und gab 1 7 1 7 reformationsgeschichtliche Werke u. a. von G. —»Spalatin und F. Myconius ( 1 4 9 0 — 1 5 4 6 ) heraus. Das Reformationsjubiläum 1 7 1 7 gab ihm Anlaß, das Luthertum an seine Einheit zu erinnern, indem er 1 7 1 9 unter dem Titel Hilaria Evangelica die Programme und Jubelschriften zusammenstellte. 1 7 1 9 trat er mit einer kritischen Untersuchung über das Papsttum hervor, 1 7 3 0 erschien seine Historia der Augsburgischen Confession. Seine eigentliche Lebensaufgabe erkannte er schon 1 7 0 1 in der Widerlegung der Geschichtsauffassung G. —»Arnolds. Diese erschien Cyprian den lutherischen Kirchen- und Amtsbegriff zu vernichten. 1 7 4 5 verarbeitete der Pfarrer Georg Grosch das von Cyprian gesammelte Material. M i t Schärfe verteidigte Cyprian die reformatorischen Fürsten gegen den Vorwurf des Opportunismus. Er vergröberte den ekklesiologischen Ansatz der Reformation, weil er zu einseitig auf die sichtbare Kirche fixiert war. Andererseits schonte er auch hochgestellte Verächter der Kirchenzucht und „Anhänger des Mode-

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Cyprian v o n K a r t h a g o

C h r i s t e n t u m s " e b e n s o w e n i g w i e d i e P f a r r e r s c h a f t . C y p r i a n b l i e b in z w e i E h e n k i n d e r l o s u n d s t a r b a m 19. 9. 1 7 4 5 in G o t h a . Quellen Unveröffentlichter Briefwechsel in der Landesbibliothek G o t h a , Schloß Friedrichstein; Briefwechsel mit Leibniz in der Niedersächs. Landesbibliothek Hannover, N r . 188; größerer Bestand von Briefen von und an Cyprian (insgesamt 85) in der Staats- und Universitätsbibliothek H a m b u r g . Allg. Anmerkungen über G. Arnolds Kirchen- u. Ketzerhistorie, Frankfurt 1700, Frankfurt/Leipzig 3 1701. - Fernere Proben v. G. Arnolds Parteilichkeit, vornehmlich die Gesch. der Quäker, Brownisten, Dr. Crellens u. Jakob Böhmes betreffend, Coburg 1702. - Vita et Philosophia Thomae Campanellae, Amsterdam 1705 2 1722. - Die Sittenlehre Christi, aus den alten Kirchenlehrern erkläret, C o b u r g 1707 2 1733. - H u g o Grotius de veritate religionis Christianae, cum analectis, Leipzig 1709 2 1726. - Kurzer Bericht von Kirchenordnungen, C o b u r g 1713. - Catalogus codicum Manuscriptorum Bibliothecae Gothanae, Leipzig 1714. - W. E. Tenzels hist. Bericht v. Anfang u. erstem Fortgang der Reformation Luthers, zur Erläuterung des H e r r n v. Seckendorff Historie des Luthertums, Leipzig 1 7 1 7 . - H i l a r i a evangelica, oder Theologisch-Historischer Bericht vom Andern Ev. Jubelfest, nebst 3 Büchern dazu gehöriger Acten u. Materien, Gotha 1719 [1. Buch 1124S., 2. Buch akademische Programme, 128 S., 3. Teil: Jubelmünzen, 80 S.]. - Uberzeugende Belehrung vom Ursprung u. Wachstum des Papsttums, nebst einer Schutzschrift vor die Reformation aus authentischen Urkunden abgefasset, Gotha 1719 5 1 7 3 6 , Hof ' 1 8 6 9 . - Commonitorium oder Abgedrungener Unterricht v. kirchl. Vereinigung der Protestanten aus Liebe zur notleidenden Wahrheit abgefaßt, mit hist. Originaldokumenten bestärkt u. allen ev. Lehrern zur Prüfung übergeben, Frankfurt 1722 2 1726. - Historia der Augsburgischen Confession, auf gnädigsten Befehl des Durchlauchtigsten Fürsten u. Herrn, Herrn Friederichs des Andern, Hertzogen zu Sachsen-Gotha, aus den Original Acten beschrieben, Gotha 1730 4 1 7 3 1 . - Georg Grosch (in Verbindung mit Cyprian), Nothwendige Verthaidigung der ev. Kirche wider die Arnoldische Ketzerhistorie, Frankfurt/Leipzig 1745. - Erläuterung des einfältigen Urtheils, welches Christian Thomasius v. der Arnoldschen Ketzerhistorie gefällt hat, Coburg 1747. - Außerdem gab Cyprian zahlreiche Dissertationen und kleinere Schriften heraus; 1718 veranstaltete er eine Ausgabe der reformationsgeschichtlichen Arbeiten von Friedrich Myconius und Georg Spalatin. Literatur Erdmann Rudolph Fischer, Ernst Salomo Cyprians Leben, Leipzig 1749 (Lit.). - Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Theol.-soziologische Motive im Widerstand gegen Gottfried Arnold: J H K G V 24 (1973) 3 3 - 5 1 . - Herbert Oppel, D. Ernst Salomo Cyprian, Direktor des Casimirianums v. 1700 bis 1713 u. die Noctes Casimirianae: Gymnasium Casimirianum Coburg, Jahresbericht 1 9 7 5 / 1 9 7 6 , 5 - 9 . - D e r s . , D. Ernst Salomon Cyprian u. sein Briefwechsel mit Gottfried Wilhelm Leibniz: Jb. der Coburger Landesstiftung 1978, 3 5 - 8 2 . - Paul Schreyer, Valentin Ernst Löscher u. die Unionsversuche seiner Zeit, Schwabach 1938. - Theodor Wotschke, Erdmann Neumeisters Briefe an Ernst Salomo Cyprian: Zs. für H a m b u r g . Gesch. 26 (1925) 1 0 7 - 1 4 6 . - D e r s . , Cyprians Berufung nach Kiel 1725: Z G S H G 55 (1926) 4 0 2 - 4 1 3 . - ZBKG 39 (1970) 2 6 9 f nennt drei weitere Arbeiten Th. Wotschkes zu Briefpartnern Cyprians. Friedrich Wilhelm Kantzenbach Cyprian von Karthago 1. Leben und H a u p t w e r k e ratur S. 253) 1. Leben

und

2. Kleinere Werke

3. N a c h w i r k u n g

(Anmerkungen/Quellen/Lite-

Hauptwerke

Caecilius Cyprianus qui et Thascius w a r v o n 2 4 8 / 4 9 bis zu s e i n e m M a r t y r i u m a m 1 4 . S e p t e m b e r 2 5 8 B i s c h o f v o n — » K a r t h a g o . S p r o ß e i n e r w o h l h a b e n d e n F a m i l i e (das G e b u r t s d a t u m ist u n b e k a n n t ) , h a t t e er n a c h A u s w e i s seines h i n t e r l a s s e n e n W e r k e s d i e b e s t e r ö m i s c h e E r z i e h u n g g e n o s s e n u n d b e t ä t i g t e sich als e r f o l g r e i c h e r R e d n e r (Vita 2 , 1 ) u n d , w e n n H i e r o n y m u s ( 6 7 ) zu g l a u b e n ist, als L e h r e r d e r R h e t o r i k . V o n s e i n e r B e k e h r u n g , d i e in d e n f r ü h e n 4 0 e r J a h r e n s t a t t g e f u n d e n h a b e n m u ß , b e r i c h t e t s e i n e in e i n e m g a n z u n t y p i s c h b l u m i g e n u n d g e s c h r a u b t e n Stil g e h a l t e n e S c h r i f t Ad Donatum (vgl. A u g u s t i n , D e d o c t r . I V , 14, 3 1 ) . D a r i n g e i ß e l t er d i e V e r d o r b e n h e i t d e r G e s e l l s c h a f t s e i n e r Z e i t m i t i h r e m P r u n k e n in M a c h t u n d R e i c h t u m u n d n i c h t z u l e t z t die K o r r u p t h e i t d e r G e r i c h t e ( D o n . 3 - 1 3 ; vgl. D e m . 1 0 - 1 3 ) . Er s e l b s t h a b e d u r c h d i e T a u f e u n d d i e u n v e r d i e n t e G n a d e des G e i s t e s G o t t e s Frei-

Cyprian von Karthago

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heit und die Wiederherstellung menschlicher Würde gefunden (Don. 14f). Vermutlich richtete sich diese Apologie an seine Freunde aus den gebildeten Kreisen Karthagos. Wir erfahren, daß er sich unvermittelt einem Leben der Enthaltsamkeit verschrieb und den Großteil seines Vermögens der —»Armenfürsorge zuwandte (Vita 2). Er gab seine früheren Tätigkeiten auf und schuf (oder bearbeitete) - gewiß unter Anleitung des von ihm verehrten Presbyters Caecilianus, der ihn unterwies — eine umfängliche Kompilation von Auszügen aus beiden Testamenten, die er nach Stichworten ordnete und mit wenigen kurzen Kommentaren versah: Ad Quirinium, oft auch Testimonia genannt. Bei aller Schönfärberei mag man doch der Vita Cyprians Glauben schenken, daß dieser durch seine Freigebigkeit schon als Katechumene die Zuneigung vieler gewann und darum bald zum Presbyter und zum Bischof berufen wurde (ep. 43,4: . . .sacerdoti quem tanto amore et ardore fecistis [den ihr mit solcher Liebe und solchem Eifer erkoren habt]). Zugleich ist begreiflich, daß dieser rasche Aufstieg eines Neophyten den Widerstand einer Gruppe von fünf Presbytern herausforderte (vgl. ep. 43,1.3), die er aber wohl nach und nach durch Geduld und Entgegenkommen zumindest teilweise auf seine Seite ziehen konnte (Vita 5; in den Briefen nach 253 findet sich keine Erwähnung ihrer Opposition mehr). Bei Ausbruch der decischen —»Christenverfolgung (250/51), zu deren ersten Opfern Bischöfe wie Fabian von Rom, Alexander von Jerusalem oder Babylus von Antiochien zählten, verbarg sich Cyprian in einiger Entfernung von seiner Bischofsstadt. Daß sein Leben in Gefahr war und das Volk nach seinem Blut schrie (ep. 14,4; 20,1), steht außer Zweifel; denn einige Zeit nach seiner Rückkehr, als ein neues Edikt öffentliche Opfer verlangte, konnte er schreiben, daß der Mob wiederum fordere, er solle dem Löwen im Amphitheater vorgeworfen werden (ep. 59,6; vgl. Vita 7). Jedenfalls wurde sein Besitz vom Staat beschlagnahmt (ep. 66,4), auch wenn er weiterhin über genügend Geldmittel verfügte, um der kirchlichen Armenkasse aushelfen zu können (ep. 7: de quantitate mea propria [aus meinem persönlichen Vermögen]). Die Trennung von seiner Gemeinde war gegen seinen Willen geschehen. Die Briefe, durch die er mit Geistlichen und Laien in Karthago Kontakt hielt, sind voller Sehnsucht und Bedauern, daß er nicht bei ihnen sein kann; er bittet, sie sollten häufiger schreiben. Seine Entscheidung hatte er nur unter Druck getroffen: Tertullus, einer seiner Kleriker, hatte ihn ermahnt, Vorsicht zu bewahren und nicht in der Öffentlichkeit zu erscheinen - vor allem nicht an einem Ort, wo er so oft bedrängt worden war (ep. 14,1). Vielleicht halfen alte Freunde aus der besitzenden Klasse, ihn in seinem Versteck zu versorgen; denn er blieb dort etwa 14 Monate, wobei er sogar den Besuch einer Reihe von Bischöfen empfangen konnte (ep. 38,1; 39,1). Sein Rückzug trug ihm freilich eine geharnischte Kritik durch die römische Geistlichkeit ein, die in einem Brief (adressiert an die Geistlichkeit von Karthago, nicht an Cyprian) sarkastisch die seelsorgerlichen Pflichten eines Bischofs aufzählte: zumindest der ihrige sei nicht davongelaufen (ep. 8; dies entsprach der Position —»Tertullians in De fuga in persecutione aber Cyprian war kein blinder Nachfolger Tertullians). Cyprian gab eine zweifache Antwort: Zuerst fragte er die Römer, ob der Brief wirklich von ihnen stamme (ep. 9,2); dann schrieb er erneut und erklärte, sein Verhalten sei falsch dargestellt worden. Zum Beweis, daß er - trotz physischer Abwesenheit - genau die Pflichten erfüllt habe, deren Vernachlässigung man ihm vorwarf, fügte er Abschriften von 13 seiner Briefe aus jener Zeit bei (ep. 20,1 f), deren Text wir besitzen (ep. 7; 5; 6; 13; 14; 11; 10; 12; 15; 16; 17; 18; 19). Der römische Klerus, an dessen Spitze mittlerweile der Theologe und elegante Stilist —»Novatian getreten war (ep. 55,5), lenkte daraufhin mit achtungsvollen, wenngleich recht schwülstigen Worten ein (ep. 30; vgl. Gülzow 3 8 - 6 8 . 8 8 - 9 9 ) . Decius' Maßnahmen zur Festigung der staatlichen Einheit konnten den Einfluß der Kirche nicht brechen. Er hatte angeordnet, jedermann müsse bis zu einem bestimmten Termin den Göttern opfern, wofür ein schriftliches Zertifikat (libellus) ausgehändigt wurde; wer danach keine solche Bescheinigung vorweisen konnte, wurde mit Gefangenschaft, Prozeß, Folter und Exil bedroht. Fälle tatsächlichen —»Martyriums waren, zumindest in Nordafrika,

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Cyprian von Karthago

selten — so starben einige im Gefängnis an Hunger (ep. 22,2; vgl. ep. 37,3; 39,2). Immerhin wirkten sie insoweit abschreckend, als die Mehrzahl der Christen tatsächlich das Opfer vollzogen (sacrificati) oder sich zumindest durch Bestechung das Zertifikat verschafften (libellatici). Aber auch wenn der eine oder andere ohne Skrupel zum heidnischen Altar gegangen sein mag (Laps. 8), die meisten erkannten doch, daß sie durch einen solchen Akt des — wiewohl erzwungenen — Götzendienstes Christus verleugnet und ihre Zugehörigkeit zur Kirche verwirkt hatten. Anstatt, wie Decius erwartet hatte, ihre Bindung an die Kirche aufzugeben, baten sie um Wiederaufnahme. Manche waren ernsthaft reumütig und bereit, sich jeder von der Kirche auferlegten —»Buße, und sei sie noch so lang, zu unterziehen; andere wollten keinen Aufschub dulden. Die Situation wurde noch erschwert durch unbedachte Zusagen der Vergebung von seifen einiger confessores („Bekenner", die für ihre Verweigerung des Opfers gelitten hatten) sowie durch die Einwilligung einiger Presbyter, die entgegen den direkten Anweisungen ihres Bischofs die Abgefallenen umstandslos wieder zur Kirche zuließen (vgl. Bévenot, Sacrament bes. 1 7 6 - 1 8 4 ) . Cyprian dagegen hatte von Anfang an festgelegt, daß solche Versöhnungen zu vermeiden seien, bis die Kirche wieder in Frieden lebe und die Bischöfe sich auf ein gemeinsames Vorgehen einigen könnten; denn nicht nur Karthago und die umliegenden Provinzen, sondern die ganze Kirche sei betroffen. Hierin befand er sich in voller Übereinstimmung mit Rom, wo man noch immer keinen Bischof hatte (ep. 4 3 , 3 ; vgl. 30,8). Die dortigen Presbyter und Diakone, vor allem aber die confessores, mißbilligten scharf die Laxheit der von ihren karthagischen Brüdern geübten disciplina. (Nichts in den Quellen spricht positiv dafür, daß Cyprian in seinem Standpunkt unsicher war und Novatians Unterstützung suchte oder daß dieser in ihm einen Bündnispartner bei seinem Streben nach dem römischen Bischofsstuhl sah; gegen Sage, z.B. 252—254.) Als schließlich Cornelius zum Bischof von Rom erhoben wurde (März 251) und Novatian als dessen Rivale auftrat, erkannte Cyprian nach sorgfältiger Prüfung der beiderseitigen Ansprüche den ersteren als rechtmäßig an und betrachtete fortan Novatian als schismatischen Usurpator (vgl. Bévenot: JThS 28). Cornelius wie Cyprian hielten Bischofssynoden ab, die Novatian exkommunizierten (ep. 55,6; vgl. 68,2) und zugleich die Bußpraxis milderten: während di e sacrificati ihre Buße fortzusetzen hatten, mit der Hoffnung auf Vergebung auf dem Totenbett, konnten die libellatici, die sich als reuig erwiesen hatten, unverzüglich absolviert und wieder zur Eucharistie zugelassen werden (ep. 55,6.13.14.27). Nach etwa einem Jahr, als eine neue Verfolgung drohte, wurden alle bußfertigen lapsi wieder aufgenommen, damit sie, gestärkt durch das Blut Christi in der Eucharistie, zum Vergießen des eigenen Blutes bereit seien (ep. 57,2). Dieser letzte Brief, den Cyprian im Namen einer Versammlung von 4 2 Bischöfen an Cornelius sandte, macht überdies deutlich, wie sehr bei der Behandlung der Abgefallenen mildernde Umstände berücksichtigt wurden (examinatis singulorum causis [nach Prüfung der einzelnen Fälle]; bestätigt durch ep. 55,6.11.13; 56; 59,15.16). Bei seiner Rückkehr nach Karthago (nach Ostern 251) hielt Cyprian vor seiner Gemeinde eine Ansprache De lapsis, der vermutlich ein oder zwei Monate später eine zweite De unitate ecclesiae folgte. Die letztere entfaltet die Verteidigung der Bischofsgewalt (—»Bischof), die er bereits in ep. 33 (vgl. auch ep. 43) gegen seine lokalen Widersacher kurz umrissen hatte. Jetzt bezog er auch die weiteren Implikationen des Novatianischen Schismas in Rom mit ein. Abschriften beider Abhandlungen übersandte er den Bekennern in Rom, die er zunächst in ihrer Gefangenschaft gepriesen und ermutigt (ep. 26; 37), dann für ihre Unterstützung des schismatischen Novatian getadelt hatte (ep. 46). Nachdem sie mittlerweile ihren Frieden mit Cornelius gemacht hätten (ep. 49; 51 ; 53), sei er sicher, daß sie seine Ausführungen über die Einheit der Kirche besonders zu schätzen wüßten (ep. 54,4). Zu Hause mußte sich Cyprian der beiden extremen Flügel erwehren, die beide, Laxisten wie Rigoristen, einen eigenen Gegenbischof einsetzten (ep. 59,9). In De unitate hatte er nicht nur die Einheit der Gesamtkirche betont - ein ständiges Thema: Einheit als das Werk des Geistes durch die Eintracht der Bischöfe —, sondern auch die jeder lokalen Kirche mit ihrem Zentrum in einem einzelnen Oberhaupt (episcopus,sacerdos): „Und da wähntnoch jemand, es könne an einem Orte viele Hirten oder mehrere Herden geben?" (Unit. eccl. 8; ep. 59,5).

Cyprian von K a r t h a g o

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Als B i s c h o f von Karthago predigte und unterrichtete er, überwachte die Armenfürsorge und die Unterstützung des Klerus, leitete Presbyter, D i a k o n e und niedrigere Amtsträger, saß zusammen mit den Presbytern den Versammlungen seiner Gemeinde zum Gottesdienst oder für wichtige Entscheidungen vor. An diesen V e r s a m m l u n g e n nahmen alle Gemeindeglieder teil, o b es um Neuberufungen oder gelegentlich um die W i e d e r a u f n a h m e von Poenitenten ging — so hören wir z . B . von heftigem Widerspruch gegen bestimmte Personen, die er wieder zulassen wollte, und von seiner eigenen Neigung zur M i l d e (ep. 5 9 , 1 5 f ) . W e n n ein Bischofsstuhl frei wurde, berichtet er, k o m m e n „alle N a c h b a r b i s c h ö f e der gleichen Provinz zusammen, und der neue Bischof wird in G e g e n w a r t des V o l k e s auserkoren, das das Leben des einzelnen vollständig kennt und den C h a r a k t e r eines jeden im Verkehr mit ihm durchschaut h a t " (ep. 6 7 , 5 ; vgl. 5 5 , 8 ) . Eine derart aktive M i t w i r k u n g des V o l k e s (wie auch der Presbyter und Diakone) erschien durchaus vereinbar mit seiner eigenen Stellung als des „ e i n e n Priesters in der K i r c h e " und des „ e i n e n Richters an Christi S t e l l e " (ep. 5 9 , 5 ) . Er hatte zwar das letzte W o r t , aber seine Autorität war keineswegs „eine bedingungslose" (vgl. Gülzow, V o r bemerkung), sondern schloß durchaus Beratung und Diskussion mit ein (ep. 1 4 , 4 ; 2 6 , 1 ; vgl. Poirier). Bezeichnenderweise beschränkte er den Titel sacerdos auf den Bischof, vermied ihn aber bei der Beschreibung des „Priestertums aller G l ä u b i g e n " , das Tertullian als M o n t a n i s t mißverstanden hatte (vgl. Bévenot: J T h S NS 3 0 , 4 2 4 - 4 2 7 ) . Cyprians Beziehungen zu R o m blieben weiterhin gut. So beglückwünscht er Cornelius in seinem letzten Brief an diesen (i. J . 2 5 3 ) wegen seines öffentlichen Zeugnisses für Christus, das ihm die V e r b a n n u n g nach Contumcellae eingetragen und viele R ö m e r zur N a c h a h m u n g seines Beispiels bewogen hatte (ep. 6 0 ) . Lucius, der N a c h f o l g e r des Cornelius nach dessen T o d , wurde ebenfalls für kurze Zeit aus R o m verwiesen, kehrte dann aber im Triumph zurück, so daß auch er die G l ü c k w ü n s c h e Cyprians empfing (ep. 6 1 ) . V o n seiner ca. a c h t m o n a tigen Regierungszeit wissen wir nur, daß er Cornelius' (und Cyprians) Politik, die Abgefallenen nach gebührender B u ß e wieder aufzunehmen, unterstützte (ep. 6 8 , 5 ) . In der Amtszeit —»Stephans I. ( M ä r z 2 5 4 — 2 5 6 ) k a m es zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Bischofsstühlen über die Notwendigkeit einer erneuten —»Taufe ehemaliger Häretiker, die als in ihrer Sekte bereits Getaufte zur Kirche überwechselten. Eine Generation zuvor hatte Tertullian (Bapt. 15) in K a r t h a g o eine solche Praxis zumindest implizit gefordert, und ein Konzil von Bischöfen der Provinzen —»Afrika und Numidien hatte sie unter dem Vorsitz des Agrippinus offiziell eingeführt (ep. 7 1 , 1 ; 7 5 , 4 ) . W ä h rend Cyprian sie für selbstverständlich hielt (Unit. eccl. 1 1 ) , vermied Stephan, der damit nicht nur der römischen, sondern der allgemeinen T r a d i t i o n zu folgen glaubte, jede Wiedertaufe und nahm solche Konvertiten durch Handauflegung des Bischofs auf. Dieselbe Übung versuchte er nunmehr überall zur Geltung zu bringen, d. h. nicht nur in Afrika, sondern auch in weiten Teilen des Ostens (vgl. ep. 7 5 , 2 5 : ein Brief von Firmilian, B i s c h o f von Caesarea in Kappadokien). Für Cyprian ging es bei diesem Konflikt weniger um Stephans a n m a ß e n d e Haltung gegenüber ihm selbst und anderen „ w i e d e r t a u f e n d e n " Bischöfen (obwohl diese zu seiner Erbitterung beitrug), sondern um die prinzipielle Einheit der Kirche, die er durch die Anerkennung der geistlichen Vollgültigkeit einer T a u f e a u ß e r h a l b der Kirche gefährdet sah. Vor der eigentlichen Kontroverse berühren zwei Briefe das Verhältnis zwischen Cyprian und Stephan. In ep. 67 antwortet Cyprian einer Gesandtschaft aus Spanien, daß er und sein Konzil die dort wegen verschiedener Vergehen erfolgte Amtsenthebung zweier Bischöfe und ihre Ersetzung durch andere billigten - und dies, obwohl der eine von ihnen, Basilides, die Zustimmung des gewiß ungenügend informierten Stephan zu seiner Wiedereinsetzung erreicht hatte. In ep. 68 schreibt Cyprian direkt an Stephan wegen der Bischöfe Südgalliens, die offenbar mit Marcianus - Bischof von Arles und mittlerweile ein rigoroser Novatianer und absoluter Gegner der Wiederaufnahme Abgefallener - Schwierigkeiten hatten. Er drängt Stephan, dieser solle Marcianus ab\0ählen und ersetzen lassen, wobei er daran erinnert, daß Afrika und Rom in der Vergangenheit Novatian gemeinsam exkommuniziert und daß Stephans eigene Vorgänger, Cornelius und Lucius, die Wiederaufnahme bußfertiger lapsi sanktioniert hatten. W a s die Wiedertaufe von „ H ä r e t i k e r n " betrifft, dürfen wir uns nicht durch das einhellige V o t u m von Cyprians Konzil von 8 7 Bischöfen am 1. September 2 5 6 beirren lassen, des-

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sen Protokoll Cyprian ausnahmsweise veröffentlicht hat (Sent.). Seine vorherigen Briefe (ep. 6 9 ; 7 1 ; 73) deuten daraufhin, daß selbst in seiner eigenen Provinz die Meinungen und Praktiken hier und da auseinandergegangen waren; ein markantes Zeichen dafür ist die anonyme Abhandlung De rebaptismate (CSEL 3 / 3 , 6 9 - 9 2 ; bes. 6 9 - 7 1 ) . Cyprian hatte nach Rom die vorherrschende afrikanische Einstellung berichtet (ep. 72), worauf Stephan nach einiger Zeit mit einem grundsätzlichen Verbot der Wiedertaufe geantwortet hatte. Die wenigen Sätze, die Cyprian aus Stephans Brief zitiert, zusammen mit seinem indignierten Gegenangriff (ep. 74), geben kein klares Bild von dessen Standpunkt. Ep. 75 ist ein langer Brief von Firmilian in Reaktion auf ein Ersuchen Cyprians um Beistand. Firmilian stellt sich hinter jedes Wort des Afrikaners und erwähnt, daß Stephan nicht nur die östlichen Kirchen, die dieselbe Linie vertraten, mit Exkommunikation bedroht, sondern sich auch brüsk geweigert hatte, die Bischofsdelegation des Konzils von Karthago zu empfangen. Seine Äußerungen über Stephan sind noch ausfallender als die Cyprians. Von anderer Seite griff —»Dionysius von Alexandrien in den Streit ein, der ebenfalls die ungleiche Handhabung in den einzelnen Kirchen bezeugt (Eusebius, h.e. VII, 5 . 7 . 9 ; vgl. Ernst, Stellung 3 8 - 5 6 ) . Obwohl eine definitive Lösung der Zukunft vorbehalten blieb, zeigen Cyprians allerletzte Briefe, daß sich die Beziehungen zwischen Karthago und Rom bereits wieder normalisiert hatten (ep. 8 0 ; 81). In der ersten Phase der valerianischen Verfolgung (August 257) mußte Cyprian ins Exil nach Curubis, nördlich von Karthago, ausweichen, wo er an eine Anzahl von Bischöfen und Klerikern schrieb, die zu Zwangsarbeit in den Bergwerken verurteilt worden waren, und deren zurückgeschmuggelte Dankschreiben empfing (ep. 7 6 ; 7 7 - 7 9 ) . Die Verstärkung der Verfolgung nach etwa einem Jahr zielte auf den Klerus und einflußreiche Laien, und angesichts der Hinrichtung des römischen Bischofs Sixtus am 6. August 2 5 8 erkannte Cyprian, daß sein Ende ebenfalls nahegekommen war. Er wurde nach Karthago zurückbeordert und lehnte es selbst ab, die Stadt wieder zu verlassen - getreu seiner Meinung, daß das Martyrium eines Bischofs seiner Gemeinde ein Zeugnis sein solle (ep. 8 0 ; 81). Nach einem Verhör durch den Prokonsul Galerius Maximus wurde er am 14. September hingerichtet. Sein Zeugentod war von großer Einfachheit und erwarb ihm die Verehrung und Bewunderung der Christen und vieler Heiden, die ihm beiwohnten (Vita 15 — 19; Acta proconsularia). 2. Kleinere

Werke

Neben den Briefen und den bereits erwähnten Abhandlungen sind von Cyprian einige Traktate hauptsächlich moralisch belehrenden Inhalts auf uns gekommen. De habitu virginum warnt Jungfrauen, die sich Christus geweiht haben, vor der Versuchung der Eitelkeit (mit einer witzigen Seitenbemerkung über das Schminken) und vor dem Mißbrauch des Reichtums, außerdem vor den gemischten Bädern. Aber bei aller Rhetorik beginnt und endet der Traktat doch auf der höchsten Ebene: bei der persönlichen Hingabe an Christus und Gott. De dominica oratione transformiert Tertullians unausgewogene Schrift über das Vaterunser, De oratione, in eine warme seelsorgerliche Ermahnung, die tief in der Bibel und der liturgischen Praxis verwurzelt ist (vgl. Reveillaud; Renaud). Themen sind: das durch die Taufe geschenkte neue Leben in Christus; privates und gemeinschaftliches Gebet {„Unser Vater"); die beim göttlichen Opfer und beim allgemeinen Fürbittengebet zu wahrende Schicklichkeit (vgl. Saxer); die Speise der Eucharistie; Abhängigkeit von Gott, denn „niemand ist stark aus eigener Kraft" (14) - so daß selbst die Blutzeugenschaft für Christus kein Grund zum Stolz ist - , „alles ist Gott zuzuschreiben (24); ein Blick auf die Eschatologie: imitemur quod futuri sumus [wir wollen uns in dem üben, was wir sein werden] (36). De mortalitate entstand aus Anlaß einer Pestepidemie. Wenn seine Hörer der Welt in der Taufe entsagt haben und an die himmlische Glückseligkeit glauben, sollten sie weder für sich noch für ihre Lieben den Tod fürchten noch um ihre Toten trauern. Die Kranken sind von allen, besonders aber von den Ärzten, zji pflegen; für Sklaven haben ihre Herren zu sorgen. Alle, die in Christus leben, sollten dem Himmel entgegensehen, wo ihre Freunde sie erwarten. (In c. 15 übertreibt Cyprian die heilsame Wirkung einer solchen Heimsuchung, z. B.: gentes coguntur ut credant [die Heiden werden zum Glauben gezwungen]). Ad Fortunatum, eine Mahnschrift über das Martyrium, ist, ähnlich wie Ad Quirinum, eine systematische Sammlung von Schriftstellen, die sich hier jedoch auf ein einziges Thema beziehen und großzügiger kommentiert sind. Wahrscheinlich während der valerianischen Verfolgung entstanden, als Cy-

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251

prian selbst seinem Ende entgegensah, schlägt dieses Werk einen noch drängenderen und verzückteren Ton an als seine früheren Briefe an die „Märtyrer und Bekenner". Es enthüllt seine Einstellung zu den Leiden dieser Welt, verglichen mit der zukünftigen Herrlichkeit, wobei besonders die makkabäischen Märtyrer zur Illustration dienen (11). Ad Demetrianum ist eine energische Verteidigung der Christen (—»Apologetik) gegen heidnische Anschuldigungen, ihre Ablehnung der Götter sei für das Übel der Zeit verantwortlich. Cyprian dreht den Spieß um, aber sein kaum gerechtfertigtes Triumphieren und sein dauernder Verweis auf die Bibel machen deutlich, daß die Abhandlung mehr zur Ermutigung der Christen als zur Gewinnung der Heiden gedacht war. De opere et eleemosynis ist ein Aufruf an die Gläubigen, dem ihnen durch die Taufe übertragenen neuen Leben, das durch Christi Leben und Lehre für sie verdient worden sei, nachzuleben. Angesprochen werden die Reichen, die in den Armen die bedürftigen Glieder Christi sehen sollen und die durch einen brillanten Vergleich mit der verschwenderischen Pracht spektakulärer Schauspiele beschämt und zur Freigebigkeit angehalten werden ( 2 1 - 2 3 ) . Die Abhandlung ist wohldurchdacht und zeigt eine hohe rhetorische Kunstfertigkeit im Dienste des Glaubens. De bono patientiae wurde kurz vor dem Höhepunkt des Taufstreits verfaßt (vgl. ep. 7 3 , 2 6 ) . Cyprian greift darin stark auf Tertullians De patientia zurück, tilgt jedoch dessen charakteristische Schroffheiten und fügt eine realistische Wärme der Hingabe an Christus hinzu, so z. B. in dem Satz über das „ W o r t " [ S e r m o ] : Dei Sermo ad crucem tacens ducitur [das W o r t Gottes läßt sich schweigend zum Kreuze führen] (7). Geduld bedeutet nicht stoische Selbstüberhebung, sondern kommt von Gott; sie ist ein wesentliches M o m e n t der Nächstenliebe, schützt vor Sünden aller Art und schließt jede irdische Rache aus: am Tag des Gerichts wird jedem sein volles Recht widerfahren (vgl. Ad Demetrianum 2 1 . 2 5 : odisse non licet nobis [wir dürfen nicht hassen]). Ein ähnliches Werk ist De zelo et livore, die Beschreibung einer ebenso heimtückischen wie verderblichen Geisteshaltung. Der Neid ist vom Satan eingegeben, dessen Fall seiner Eifersucht auf die Erschaffung Adams „zum Bilde G o t t e s " zugeschrieben wird (4) (—»Dämonen). Er schädigt andere durch Mord, Schisma etc. und quält den neidischen Menschen selbst. Gegen ihn gibt es kein anderes Heilmittel als das Vorbild Christi und seine Predigt von —»Demut und —»Liebe.

3.

Nachwirkung

C y p r i a n s N a c h w i r k u n g bis in den O s t e n hinein l ä ß t sich bereits a u f d e m Konzil v o n —»Ephesus ( 4 3 1 ) n a c h w e i s e n , w o er als eine der A u t o r i t ä t e n z u r F r a g e d e r I n k a r n a t i o n (—»Jesus Christus) zitiert w i r d . 1 Die E r i n n e r u n g an ihn als Seelsorger und M ä r t y r e r freilich lebte n a t u r g e m ä ß v o r allem in —»Afrika fort, w o s o w o h l die D o n a t i s t e n w i e —»Augustin sich a u f seine Schriften und sein Beispiel beriefen. E r h a t t e die G e g e n w a r t des Heiligen —»Geistes nur in d e r Kirche a n e r k a n n t : a u ß e r h a l b ihrer g e b e es w e d e r eine wirkliche T a u f e n o c h ein heilw i r k e n d e s P r i e s t e r t u m ; die G e m e i n s c h a f t mit Sündern und H ä r e t i k e r n beflecke die G u t e n (vgl. F r e n d , D o n a t i s m 1 4 2 f ) . A u g u s t i n e n t s c h u l d i g t e C y p r i a n s A b l e h n u n g d e r h ä r e t i s c h e n T a u f e d a m i t , d a ß dies zu jener Z e i t n o c h eine offene F r a g e g e w e s e n sei (mittlerweile w a r sie d u r c h can. 8 v o n —»Nicäa prinzipiell g e k l ä r t ; vgl. Ligier, Prière 4 1 9 - 4 2 9 ) , r ä u m t e j e d o c h ein, d a ß eine s o l c h e T a u f e v o r der W i e d e r a u f n a h m e u n w i r k s a m sei. Im übrigen h a t t e Cyp r i a n seinerseits nicht m i t S t e p h a n g e b r o c h e n , und w i r wissen, d a ß er das S c h i s m a für s c h l i m m e r a n s a h als einen u n t e r D r u c k erfolgten Abfall v o m G l a u b e n (Unit. eccl. 1 9 ) . Gegen P e l a g i a n e r und S e m i - P e l a g i a n e r (—»Pelagius/Pelagianischer Streit) wird C y p r i a n von A u g u stin ausgiebig ins Feld g e f ü h r t ; d e n n a b g e s e h e n v o n d e r F r a g e d e r W i e d e r t a u f e teilte dieser C y p r i a n s A u f f a s s u n g v o n der Einheit der K i r c h e als eine Selbstverständlichkeit und b e t o n t e lediglich deren „ g e m i s c h t e n " C h a r a k t e r a u f E r d e n . Ü b e r h a u p t w u r d e C y p r i a n s L e h r e s p ä t e r r e g e l m ä ß i g gegen s c h i s m a t i s c h e B e w e g u n g e n h e r a n g e z o g e n , s o z. B . v o n Pelagius II., d e r den P a s s u s über den P r i m a t (s. u.) g e g e n ü b e r den istrischen B i s c h ö f e n zitiert (ca. 5 8 5 ) . B e s t i m m t e Z e n t r a l s t e l l e n a u s De unitate

fanden v o m 1 1 . J h . an E i n g a n g in die k a n o n i s c h e n S a m m l u n -

gen (—»Kirchenrechtsquellen) und e r l a n g t e n m i t d e m Decretum

Gratiani

offizielle G e l t u n g .

D i e s e l b e A b h a n d l u n g spielte a u c h im —»Investiturstreit ihre R o l l e (vgl. B é v e n o t , T r a d i t i o n 8 7 — 9 1 ) . W ä h r e n d der — » R e f o r m a t i o n u n d bis in m o d e r n e Z e i t e n w a r sie G e g e n s t a n d der A u s e i n a n d e r s e t z u n g z w i s c h e n P r o t e s t a n t e n u n d K a t h o l i k e n wie z w i s c h e n V e r t r e t e r n des —»Gallikanismus und des — » U l t r a m o n t a n i s m u s . In den letzten 4 0 J a h r e n w u r d e ein neues

252

Cyprian von Karthago

Verständnis einiger Sätze aus c. 4 erarbeitet, die weithin als papalistische Interpolation verdächtigt worden waren (vgl. Bévenot, St Cyprian's De unitate). Aufgrund des Taufstreits hat man Cyprian als Gegner des —»Papsttums eingestuft und darum diejenige Textfassung von Unit. eccl. 4, in der die Aussagen Primatus Petro datur [der Vorrang wird dem Petrus gegeben] und Oui cathedram Petri. .. deserit, in ecclesia se esse confidit? [Wer den Stuhl Petri verläßt. . . , ist der noch überzeugt, innerhalb der Kirche zu sein?] enthalten sind, als nachträglich interpoliert verworfen. Im 16. (Ed. v. Manutius) und erneut im 18. Jh. (postum „revidierte" Edition von Baluze) mochte es entschuldbar sein, wenn die Kirchenführung auch entgegen der Meinung der besten zeitgenossischen Kenner der Materie den Handschriften mit den fraglichen Sätzen vor den anderen den Vorzug gab (gegen Benson 2 0 0 f ; vgl. aber Petitmengin 110—116), waren doch jene Sätze zu Gemeinplätzen der kanonischen Sammlungen geworden. Heute jedoch hält man eher beide Versionen für das Werk Cyprians. 2 Zweifellos war Cyprian kein Befürworter des Papsttums im heutigen Sinne, aber er war auch nicht dessen Gegner; solche Klassifizierungen sind anachronistisch. V. Campenhausen stellt mit gleicher Stoßrichtung fest, Cyprian sei „kein ,Konziliarist'... im spätmittelalterlichen, verfassungsrechtlichen Sinne des Wortes" gewesen (Amt 3 0 7 ) , und kritisiert in einer neueren Veröffentlichung seinen eigenen früheren Begriff eines „gegen den ,Papst' gewandten Episkopalismus" als „unhistorisch" (VigChr 2 3 - 2 4 , 2 3 5 ) . Obwohl sich die letztere Bemerkung auf die Zeit des Ambrosius bezieht, muß sie um so mehr für die Cyprians gelten. (Zur ganzen Frage des Papsttums vgl. H. Koch, mit den Modifikationen von Poschmann; außerdem Bévenot, Episcopat; ders., ,In solidum'). Ein weiterer Streitpunkt beruht auf einem Mißverständnis des Begriffs satisfactio. Im römischen Zivilrecht bezeichnet dieser z. B. die Annahme einer Ersatzleistung für eine Geldschuld durch den Gläubiger, die dessen Anerkennung der Ersatzleistung als „Genugtuung" notwendigerweise voraussetzt. Tertullian hatte diesen juristischen Sachverhalt auf die Sündenvergebung durch Gott übertragen. Der Sinneswandel eines Sünders (fiEzávoia), der sich nach außen im aktuellen Bußvorgang manifestiert, wird von Gott als „Genugtuung" angenommen und somit die Sünde vergeben. Da Gott ein derartiges Handeln zugesagt hat, macht Tertullian bisweilen den direkten Schritt von dem schmerzhaften Prozeß der Sühne zur Vergebung, ohne Gottes unerzwingbare Annahme des darin ausgedrückten Sinneswandels eigens zu erwähnen. Cyprian, der hier ganz deutlich Tertullians allgemeiner Denklinie folgt, geht in ähnlicher Weise oft unmittelbar von der „Buße" zur Vergebung über und nennt die Buße selbst satisfactio - die Handlung, an der sich Gott „genug" sein läßt. Aber keiner der beiden Väter lehrt, der Mensch könne „eigene Werke Gott entgegen halten und daraus fließende Forderungen gegen Forderungen Gottes aus der menschlichen Sünde einseitig aufrechnen" (Beck 6 8 ; dagegen Brück 279). Eine solche Interpretation verkennt, daß Cyprian stets den Glauben als Geschenk Gottes auffaßt und somit Gerechtigkeit und Heiligung, auch wenn er sie den „ L o h n " menschlicher Anstrengung nennt, in Abhängigkeit von Gottes freier Zuwendung und Liebe sieht: Christus selbst „ringt in uns, er selbst kämpft an unserer Seite, er selbst ist es, der in unserem heißen Wettstreit zugleich krönt und gekrönt wird" (ep. 10,4). Allzu lange ist Cyprian unterstellt worden, er vertrete im Gefolge von Tertullians „Gesetzlichkeit" „unevangelische" Vorstellungen von Verdienst und Genugtuung (Wirth; s.a. Harnack u . v . a . ) , ein Vorwurf, der durch Bakhuisen van den Brink ( 3 3 0 - 3 4 0 ) zurückgewiesen wird. Dieser zitiert Augustin (Sermo 110,4,4): Non debendo enim sedpromittendo debitorem se fecit Deus [Nicht weil er es schuldig war, sondern weil er es versprochen hat, machte Gott sich zum Schuldner]. Ähnlich verteidigt auch Réveillaud ( 5 6 - 6 2 ) speziell Cyprian gegen —»Calvins allgemeine Kritik an der Gnadenlehre der frühen Väter mit dem Hinweis auf die reichliche Verwendung seiner Schrift De dominica oratione durch Augustin.

Wenn die Frage der Genugtuung, wie die der Verdienstlichkeit guter Werke, ein Gegenstand interkonfessioneller Kontroverse ist, so hat Cyprians Auffassung des Bußsakraments in jüngster Zeit besonders unter katholischen Gelehrten gegensätzliche Beurteilungen gefunden.

Cyprian von K a r t h a g o

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Keiner von ihnen stellt Cyprians Uberzeugung in Frage, daß jeder Mensch, der nach der Taufe eine schwere Sünde begeht, nicht allein bereuen, sondern sich auch einer langen Buße unterziehen muß und daß die ihm dann durch den Bischof zugesprochene Wiederaufnahme für sein Heil notwendig ist. Aber an einigen Stellen scheint Cyprian zu meinen, daß diese Wiederaufnahme in die Kirche noch keine Garantie für Gottes Vergebung sei; denn diese werde, wenn überhaupt, erst beim Jüngsten Gericht gewährt (vgl. Laps. 17f); die Kirche dagegen könne den Sünder nur der Vergebungsbereitschaft Gottes versichern. Ohnedies gelange nur der treue Blutzeuge direkt zum Himmel (Fort. 13; ep. 55, 20), während der Rest warten müsse. Dieser Aufschub wird damit begründet, daß die Kirche keine Gewißheit haben könne, daß die Reue des Sünders echt oder die geleistete Buße angemessen war - dies besonders im Fall der abgekürzten Buße auf dem Sterbebett (so, mit Variationen, Poschmann, Paenitentia Secunda 409; Rahner 394 Anm. 26 etc.). Andererseits besteht generelle Ubereinstimmung, daß Cyprians verschiedene Aussagen schwer in ein konsistentes System zu bringen sind. So wird denn gegen obige Deutung eingewandt, daß dabei nicht nur einige seiner Feststellungen mißverstanden seien, sondern daß es vor allem unglaubhaft sei, daß derselbe Cyprian, der beständig I Kor 11, 27 („Wer in unwürdiger Weise das Brot ißt oder den Kelch des Herrn trinkt. . .") wiederholt, Menschen zur Eucharistie zugelassen haben sollte, denen Gott nur „bereit" sei zu vergeben, aber noch nicht vergeben habe (vgl. Bévenot, Sacrament 1 9 1 - 1 9 8 , bes. 196 Anm. 78, auch 194 Anm. 74). Anmerkungen ' Das Konzil zitierte die ersten 10 Zeilen von op. et el., mit dem Schlüsselsatz: „Der Vater sandte den Sohn, um uns wiederherzustellen, und der Sohn, so gesandt, wollte des Menschen Sohn werden, um uns zu Gottes Söhnen zu machen" (CChr.SL 3 A, 55). Das Konzilszitat findet sich in A C O 1 / 5 , 9 2 ; auf Griechisch ebd. 1/1/2, 42 und 1/1/7, 92; vgl. 1/3, 7 0 f (zwei weitere lateinische Fassungen ebd., Einl. X f). Härtel hat nicht nur eine seiner Handschriften völlig fehlbewertet (vgl. seine Einl. VIII), sondern schwächt auch den Sinn durch die Übernahme des dort allein bezeugten Zusatzes ,,vocari" (filius hominis) ab. 2 Vgl. hierzu Chapman; Van den Eynde; Bévenot, De Unitate Ch. 4; Perler; Le Moyne (mit Erwiderung von Bévenot, ,Primatus Petro datur'}. Quellen Caecilius Cyprianus . . . , Opera omnia, ed. G. Härtel, 3 Bde., 1 8 6 8 - 1 8 7 1 (CSEL 3 / 1 - 3 ) ; I—II: ND New York 1965. - Sancti Cypriani episcopi opera, ed. R. Weber/M. Bévenot/M. Simonetti/C. Moreschini, 2 Bde., 1972/76 (CChr. SL 3.3 A) (Lit.) - De lapsis, rec. J. Martin, 1930 (FlorPatr 21). - De lapsis/De ecclesiae catholicae unitate, hg. u. übers, (engl.) v. M. Bévenot, 1971 (OECT). - Correspondance, hg. u. übers, (franz.) v. L. Bayard, Paris 1961/62 (Coll. Budé). - D e s Hl. Kirchenvaters Caecilius Cyprianus sämtl. Sehr., aus dem Lat. übers, v. J. Baer, 2 Bde., 1918/28 2 1 9 5 0 (BKV 34.60). CPL, 2 1 9 6 1 , 8 - 1 1 . - Hieronymus, De viris illustribus: PL 23, 6 7 f . - Pontius, Vita e martirio di San Cipriano, ed. M. Pellegrino, 1955 (VSen). - Vita Caecilii Cypriani Pontio adscripta et Acta proconsularia: Opera omnia (s.o.), X C - C X I V . Literatur Altaner. - Jan Nicolaas Bakhuizen van den Brink, Mereo(r) and meritum in some Latin Fathers: StPatr 3 (1961) (TU 78) 3 3 3 - 3 4 0 . - Otto Bardenhewer, Gesch. der altkirchl. Lit., Freiburg, II 2 1914, 4 4 2 - 5 1 7 . - G u s t a v e Bardy, Art. Cyprien: DHGE 13 (1956) 1 1 4 8 - 1 1 6 0 . - L. Bayard, Le latin de S. 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Cyprien sur l'unité de l'Eglise:

254

Cyrillus v o n A l e x a n d r i e n

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2. W e r k

380-444)

3. N a c h w i r k u n g (Quellen/Literatur S. 259)

Leben

V o n K y r i l l s L e b e n v o r s e i n e r b i s c h ö f l i c h e n A m t s z e i t ist w e n i g b e k a n n t . G l a u b w ü r d i g ist e i n e v o n J o h a n n e s v o n N i k i u (7. J h . ) a u f g e z e i c h n e t e Ü b e r l i e f e r u n g , n a c h d e r s e i n e M u t t e r m i t i h r e m B r u d e r , d e m B i s c h o f — » T h e o p h i l o s , a u s d e r G e g e n d v o n M e m p h i s n a c h —»Alexa n d r i e n g e k o m m e n i s t u n d d o r t b i s zu i h r e r V e r e h e l i c h u n g u n t e r N o n n e n g e l e b t h a t . N a c h e i n e r a l l e r d i n g s f e i n d l i c h e i n g e s t e l l t e n Q u e l l e soll sie bei e i n e m V e r s u c h i h r e s B r u d e r s , s i c h d u r c h B e s t e c h u n g falsche Z e u g e n a u s s a g e n zu v e r s c h a f f e n , eine Vermittlerrolle gespielt h a b e n ( P a l l a d i u s , v. C h r y s . V I ) . I h r N a m e ist w i e d e r i h r e s G a t t e n u n b e k a n n t . D o c h h a t t e K y r i l l eine Schwester n a m e n s Isidora u n d mindestens zwei weitere Schwestern ( A C O I I / l , 2 1 6 f ) . Z w e i f e l l o s u n t e r A n l e i t u n g s e i n e s O n k e l s e r h i e l t er e i n e g u t e t h e o l o g i s c h e w i e p r o f a n e Bild u n g . W i e A t h a n a s i o s g e h ö r t e er z u d e n A s k e t e n , o h n e s e l b s t M ö n c h z u s e i n . Z w a r s p r i c h t die Alexandrinische Patriarchengeschichte des Severus ibn a l - M u q a f f a c (10. Jh.) v o n einem f ü n f j ä h r i g e n A u f e n t h a l t im Kloster des M a k a r i o s im W ä d l ' n - N a t r ü n , doch entspricht diese A n g a b e w o h l n u r einer V o r s t e l l u n g dessen, w a s m a n f ü r a n g e m e s s e n hielt. D a ß Isidor v o n P e l u s i u m (ca. 3 6 0 - 4 3 5 ) s i c h i h m g e g e n ü b e r als s e i n „ g e i s t l i c h e r V a t e r " ein o f f e n e s W o r t er-

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laubt (z. B. 1,370), deutet kaum auf mehr als persönliche Beziehungen (vgl. Gustave Bardy: A O C 1 [1948] 19f). 403 begleitete Kyrill seinen Onkel auf die „Eichensynode", die —»Johannes Chrysostomos verurteilte (Ep. 33). Beim T o d e des Theophilos (412) w u r d e erzürn Erzbischof gewählt, und zwar gegen den behördlicherseits favorisierten Archidiakon. Seine Amtszeit begann mit den dramatischen, für die Betroffenen folgenschweren Geschehnissen, die Sokrates anschaulich schildert: Unterdrückung der N o v a t i a n e r (—»Novatian), Auseinandersetzungen mit dem Präfekten Orestes, gewaltsame Z u s a m m e n s t ö ß e zwischen Christen und Juden und Versuch einer Vertreibung der letzten. 4 1 5 folgte die E r m o r d u n g der Philosophin Hypatia durch den Pöbel unter A n f ü h r u n g des Anagnosten Petros. Wenn auch Kyrill d a f ü r nicht unmittelbar verantwortlich war, so kann man ihm doch nicht den Vorwurf ersparen, zu dem Klima beigetragen zu haben, dem „dieses abscheuliche Verbrechen" (Quasten 117) entsprang. M a n kann mit diesen Geschehnissen wohl die kaiserlichen Edikte von 4 1 6 - 4 1 8 in Z u s a m m e n h a n g bringen, die der Wirksamkeit der Krankenpflegergenossenschaft der Parabolartoi, die eine Art kirchlicher Miliz bildete, Beschränkungen auferlegten (Cod. Theod. XVI/2, 4 2 f ) . Kyrill hat danach den offenen Konflikt mit der Regierung gemieden; sein Osterfestbrief für 4 2 0 w a r n t vor Aufruhr, wie er in Alexandrien stets in der Luft lag (VII,2). Aus kirchenrechtlichen G r ü n d e n hielt Kyrill an der Verurteilung des Johannes Chrysostomos fest. Mit vorsichtiger Z u r ü c k h a l t u n g verteidigt Attikos dessen A u f n a h m e in die Diptychen von Konstantinopel. Die Ausrede, dies geschehe lediglich in einer allgemeinen Commemorationsliste, wischte Kyrill vom Tisch (Ep. 2 4 f , ed. E. Schwartz, Cod. Vat. gr. 1431, 2 3 - 2 8 ) . Später hat er indessen die Rehabilitation als M o m e n t s e i n e r guten Beziehungen zu R o m zumindest hingenommen, und in Schreiben nach Konstantinopel konnte er ihn als katholischen Lehrer betrachten (Ep. 10: A C O 1/1/1, I I I ; Arcad.: A C O 1/1/5,67). 428 gab die Erhebung des —»Nestorios auf den Stuhl von Konstantinopel Kyrill Gelegenheit, zugleich die Antiochenische Theologie (—»Antiochien) und die Geltung des Stuhles der Kaiserresidenz anzufechten, da des Nestorios Z u r ü c k h a l t u n g gegenüber dem volkstümlichen M a r i e n p r ä d i k a t Oeoröxog [Gottesgebärerin] als Leugnung der Einheit von G o t t und Mensch in Christus gedeutet werden konnte. Kyrill eröffnete die Auseinandersetzung mit einem Schreiben an die ägyptischen M ö n c h e (Ep. 1) und dem Osterfestbrief für 4 2 9 . Im gleichen Jahr forderte er in seinem ersten Brief an Nestorios (Ep. 2) von diesem die A n n a h m e des Begriffs. Nestorios antwortete darauf wie auch auf die ausführlicheren Darlegungen in Kyrills zweitem Brief (Ep. 4) von 4 3 0 mit Vorsicht. Beide Seiten wandten sich um Unterstützung nach R o m . Nach Erörterung der Frage mit westlichen Bischöfen schlug sich Papst Coelestin I. ( 4 2 2 - 4 3 2 ) auf die Seite Kyrills und ermächtigte diesen, Nestorios für abgesetzt zu erklären, falls er sich nicht binnen zehn Tagen nach Erhalt der päpstlichen Entscheidung unterwerfe. Z u s a m m e n mit seiner ägyptischen Synode ließ Kyrill diesem in sein e m dritten Brief (Ep. 17) unter Z u f ü g u n g von zwölf scharf, ja zugespitzt formulierten Anathematismen die römische Entscheidung z u k o m m e n . Indessen hatte jedoch Kaiser Theodosios II. ( 4 0 8 - 4 5 0 ) auf Pfingsten des Folgejahres ein allgemeines Konzil nach —»Ephesos einberufen, um den Konflikt grundsätzlich beizulegen. Kyrill erschien d o r t mit einer großen Zahl von Suffraganen und erhielt die Unterstützung der Bischöfe aus —»Kleinasien und —»Palästina. Gegen den Einspruch des als kaiserlicher Kommissar fungierenden Comes Candidian eröffnete er am 22. Juni 4 3 1 vor dem Eintreffen der orientalischen (syrischen) Bischöfe das Konzil und e r h o b den Anspruch, im N a m e n des römischen Bischofs wie in seinem eigenen den Vorsitz zu führen. In einer langen Sitzung in der Marienkirche vernahm die Synode die Anklagen gegen Nestorios, billigte Kyrills zweites Schreiben —sie hatte indessen nur das dritte verlesen b e k o m m e n —und erklärte Nestorios für abgesetzt. Vier Tage später traf Johannes von Antiochien ( 4 2 9 - 4 4 8 ) mit 4 3 Orientalen ein u n d hielt zusammen mit Candidian ein Gegenkonzil ab, das Kyrill absetzte. Anfang Juli trafen die päpstlichen Legaten ein und schlössen sich der kyrillischen Synode an. Theodosios ordnete an, d a ß die Bischöfe in Ephesos bleiben sollten, bis seine Beauftragten in Aktion treten konnten. Im August stellte ein neuer Kommissar, Comes Johannes, Ky-

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rill, Nestorios und Memnon von Ephesos unter Arrest. Beide Seiten berichteten nach Konstantinopel, wo Theodosios zunächst daran dachte, sowohl Kyrill als auch Nestorios als amtsenthobene Unruhestifter zu behandeln. Am 11. September hörte er die beiderseitigen Delegationen an, worauf die Personalfrage dergestalt bereinigt wurde, daß man Nestorios nach Antiochien zurückschickte und Anstalten für die Weihe des Maximian ( 4 3 1 - 4 3 4 ) zu seinem Nachfolger traf. Zu Kyrills Sieg hatte auch eine gezielte Verteilung von Geschenken am Hof beigetragen (ACO 1/4,85 f). Ohne förmlich entlassen zu sein, kehrte Kyrill nach Alexandrien zurück. Seine Haltung war in Rom und Konstantinopel anerkannt, nur Antiochien stand noch beiseite. Geteilte Meinungen innerhalb des antiochenischen Patriarchats kündigten spätere Schismen an: Einige Bischöfe stützten Nestorios, andere, wie Rabbula von —»Edessa (gest. 4 3 6 ) , Kyrill, und wieder andere schließlich, wie Johannes selbst und —»Theodoret von Kyros, nahmen eine mittlere Haltung ein. Während der anschließenden schwierigen Verhandlungen wurde Kyrills Stellung wiederum durch Zuwendungen an Hofbeamte gestärkt, von denen es heißt, sie hätten die alexandrinische Kirche in Armut gebracht (ACO 1 / 4 , 2 2 2 - 2 2 5 ; vgl. Batiffol). Die Regierung drängte beide Seiten auf eine Einigung, und im Dezember 4 3 2 kam Bischof Paulos von Emesa mit einer antiochenischen Formel nach Alexandrien, die ursprünglich - wie es scheint, von T h e o d o r e t - für den Bericht der orientalischen Synode von 4 3 1 entworfen worden war (Unionsformel: A C O 1/7,69f). Man ließ Paulos zu Weihnachten predigen und bereitete ihm einen begeisterten Empfang. Im April 4 3 3 schließlich erkannte Kyrill in seinem Schreiben Laetentur caeli an Johannes von Antiochien (Ep. 39) die Formel als rechtgläubig an und begrüßte die so erzielte Einigung. Die Unionsformel billigt den Begriff deoröxog und heißt zugleich die Lehre von einer Vereinigung zweier Naturen in Christus gut. Nestorios mußte in die Verbannung gehen. Kyrills spätere Amtszeit ist durch Nachwirkungen vergangener und Vorboten zukünftiger Auseinandersetzungen gekennzeichnet. Antiochener wie Theodoret hielten an ihrer Ablehnung seiner Anathematismen fest, und zugleich begannen Angriffe auf die Theologie des Lehrers des Nestorios, —»Theodor von Mopsuestia (vgl. auch —»Jesus Christus, —»Justinian, —»Konstantinopel). Kyrill nötigte den Orientalen nichts ab, was über die Unionsformel hinausging, und obschon er in Theodor die Wurzel der Nestorios zugeschriebenen Vorstellungen sah, hielt er seine eifrigen Anhänger davon ab, seine posthume Verurteilung zu fordern. 4 3 8 machte er in Jerusalem der Kaiserin Eudokia seine Aufwartung (Joh. v. Nikiu L X X X V I I 2 0 ; vgl. Abel: Kyrilliana 2 2 4 ) . Abschriften seiner Schrift gegen Julian ließ Kyrill in versöhnlichem Geist Johannes von Antiochien zur Verteilung zugehen - eine davon kam in die Hände Theodorets. Unterdessen erholte sich der konstantinopler Stuhl unter Proklos ( 4 3 4 - 4 4 6 ) von der 4 3 1 erlittenen Niederlage. Einigermaßen überraschend ist es, daß Kyrill 4 4 3 in seinem anscheinend letzten Brief zur Ausweitung der kirchlichen Geltung der Kaiserstadt beigetragen hat, indem er den Nachfolger des Johannes von Antiochien Domnos drängte, dem Rat einer lokalen konstantinopler Synode entsprechend ein Disziplinarverfahren gegen den Bischof Athanasios von Perrha in der Euphratensis wieder aufzunehmen (Ep. 77); es gibt indessen keinen Hinweis, daß Kyrill dabei persönlich zugegen war (vgl. zu diesem verwickelten, endgültig in —»Chalkedon beigelegten Fall Tillemont 6 4 7 — 6 5 4 ; Akten: ACO 1 1 / 1 , 4 2 3 - 4 4 2 , hier Kyrills Brief 4 2 5 f). Im Folgejahr, wahrscheinlich am 2 7 . Juni 4 4 4 , ist er verstorben. 2. Werk 2.1. Schriften. Das literarische Schaffen Kyrills zerfällt in etwa in drei Perioden, die Zeit vor, während und nach den kritischen Jahren des Nestorianischen Streits. In der ersten Periode setzen De Adoratione und Glaphyra seine Auseinandersetzung mit dem Judentum fort; die erste Schrift stellt das Leben in Christus und der Kirche als Erfüllung des Gesetzes dar, die zweite gibt eine typologische Auslegung ausgewählter Torastellen. Der Thesaurus de Trinitate beruht weithin auf Athanasios, Ar. 3. Die De Trinitate Dialogi behandeln in sechs Büchern die Konsubstantialität des Sohnes und in einem siebten die des Geistes; Kyrill berichtet, er habe diese Abhandlung vor ihrer Veröffentlichung vor einem geladenen Publikum von Bischöfen, Geistlichen und gebildeten

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Laien verlesen (Ep. 2). In die gleiche Zeit gehört Kyrills umfangreiches exegetisches Werk. Jesaja hat er in fünf biblia, die kleinen Propheten in zwölf tomoi ausgelegt. Der Johanneskommentar in zwölf Büchern ist vornehmlich an dogmatischen Weiterungen interessiert und läßt die Anfänge der Auseinandersetzung Kyrills mit der antiochenischen Theologie erkennen. Der Lukaskommentar besteht eigentlich aus einer Reihe erbaulicher und praktischer Homilien; drei davon, außerdem Fragmente, sind griechisch, 156 syrisch in einer für den kirchlichen Gebrauch redigierten Gestalt erhalten. Ferner gibt es Fragmente, zumeist in Gestalt der in ihrer Zuschreibung stets problematischen Katenenzitate, aus Kommentaren zu den Psalmen und anderen alttestamentlichen Schriften sowie zu M t , R o m , I/II Kor und Hebr. Außerdem setzt Kyrill die Sitte fort, in Osterfestbriefen zugleich mit der Ankündigung des Osterdatums eine alljährliche Hirtenbotschaft erbaulichen und theologischen Inhalts mit Bezugnahmen auf anstehende Auseinandersetzungen und praktische Fragen an seine Gemeinde zu richten; überliefert sind diejenigen für die Jahre 4 1 4 bis 4 4 2 (ed. als Homiliae Paschales). Zwischen 4 2 8 und 4 3 3 galt Kyrills Schriftstellerei dem Nestorianischen Streit. Dem Auftakt in Ad monachos Aegypti (Ep. 1) folgten die fünf Bände Contra Nestorium mit Angriffen auf Stellen aus Nestoriospredigten. Aus einem Dialog De Incarnatione wurde durch Umarbeitung und eine schmeichelnde Widmung De recta fiele ad Theodosium (Puseys Ausgabe stellt beide Formen nebeneinander). Es folgten zwei der Gattin und den Schwestern des Kaisers gewidmete Abhandlungen De recta fide: Die erste, an Arkadia und Marina, ist eine Sammlung von Schrift- und Vätertestimonien, die zweite, an Pulcheria und die Kaiserin Eudokia, legt deren Lehrgehalt dar. Zur Verteidigung seiner Anathematismen schrieb Kyrill die Duodecim capitum defensio, und Theodoret gab er in seiner Epistula ad Euoptium Bescheid. In Ephesos fügte er noch eine kürzere Explicatio duodecim capitum hinzu, und nach seiner Rückkehr rechtfertigte er seine Vorgehensweise in einem Apologeticus ad imperatorem. Auf eine breitere Öffentlichkeit zielen s e i n e S c h o l i a de incarnatione ab, die als Erklärung der Christusprädikationen angelegt sind; überliefert sind sie lateinisch, syrisch und armenisch, aber griechisch nur fragmentarisch. Zentrale Bedeutung haben die drei ökumenischen Briefe (Ep. 4 . 1 7 . 3 9 ) , so benannt aufgrund ihrer ausdrücklichen Billigung durch ökumenische Konzilien. In seinen späteren Jahren verteidigte Kyrill seine Haltung gegenüber Extremisten auf beiden Seiten. Seinen eigenen Anhängern gegenüber erklärte er seine augenscheinliche Kompromißbereitschaft in theologischen Briefen an Sukkensos von Diokaisareia (Ep. 45 f) und einer Auslegung des nikänischen Bekenntnisses für seine Anhänger in Antiochien (Ep. 55). Von einer Abhandlung Contra Diodorum et Theodorum sind nur Fragmente erhalten. Seine abschließende christologische Stellungnahme findet sich in dem Dialog Quodunus sit Christus. Einfache, aber doch grundlegende Fragen beantwortete er in Schreiben an palästinische Mönche, De dogmatum solutione und Responsio ad Tiberium. Beide wurden unter Zufügung von vier Kapiteln aus —»Gregor von Nyssa vielleicht von Kyrill selbst oder einem seiner Schüler für die Verbreitung in Ägypten in Contra Anthropomorphitas vereinigt und einem Brief an Bischof Kalosyrios von Arsinoe beigefügt, dessen Mönche ähnliche Fragen aufgeworfen hatten (vergleichende Ubersicht: Pusey V , 5 4 5 ) . Möglicherweise in Aufnahme eigener früherer Arbeiten schrieb Kyrill eine ausführliche Replik zu Julians Adversus Galilaeos-, in zwanzig Büchern, von denen die zehn letzten nur fragmentarisch erhalten sind, geht er auf die beiden ersten Bücher Julians ein; hohes Alter mag wohl die Vollendung des Werks verhindert haben. Quod Beata Maria Virgo sit Deipara wird zwar von Justinian als kyrillisch angeführt (PG 8 6 / 1 , 1 1 3 2 ) , muß aber aufgrund innerer Indizien als unecht gelten (vgl. Durand: SC 9 7 , 5 2 1 - 5 2 4 ) . Unecht ist auch die Kyrill zugeschriebene Ostertafel mit einem Anschreiben an Papst —»Leo d. Gr. Indessen hat er dem Kaiser eine Ostertafel übersandt, deren Anschreiben armenisch erhalten ist (F. C. Conybeare, Armenian Version 2 1 2 - 2 2 1 ) . Von seinen vielbewunderten Predigten sind außer den Lukashomilien nur wenige erhalten. Selbst die Echtheit derjenigen, die er angeblich in Ephesos gehalten hat, ist zweifelhaft. Von den 2 2 Homiliae diversae stammen 9 und 12 aus der Reihe der Lukashomilien; 3, 5 und 16 beschäftigen sich mit der Inkarnation; 10, In mysticam cenam, gehört wahrscheinlich Theophilos zu (vgl. Richard: R H E 3 3 ) ; 3 ist die Billigung der Weihnachtspredigt des Paulos von Emesa und 18 vereinigt drei kurze Predigten anläßlich der als Gegengewicht gegen das dortige Isisheiligtum gedachten Translation der Reliquien der Heiligen Kyros und Johannes nach Menuthis (vgl. Delehaye). Die vierte und erst recht deren Erweiterung in der elften sind auszuschließen, da sie von sonst bei Kyrill nicht begegnender überschwenglicher Marienfrömmigkeit bestimmt sind (vgl. Schwartz, A C O 1/4,XXV; anders d'Ales, S. Cyrille). Kyrills Stil wird allgemein als „im großen und ganzen glanzlos" (Burghardt 51) beurteilt. Doch dürfte m. E. Bright (773) zuzugestehen sein, daß diese Einschätzung einem Vorurteil gegenüber dem Autorentspringt. Kyrill schreibt unterschiedlich-präzise, weitschweifig oder schlicht, und dabei durchaus nicht ohne Reiz - für unterschiedliche Zielgruppen. Predigten oder Abhandlungen beginnen häufig mit einer reizvollen captatio benevolentiae (vgl. Rahner), und gelegentlich bringt er treffende Anführungen aus heidnischen Klassikern, so etwa zur Verteidigung des freien Willens aus Euripides (ador. 6). 2 . 2 . Theologie.

K y r i l l s T h e o l o g i e g r ü n d e t in der v o r n e h m l i c h aus d e r S i c h t d e r j o h a n n e -

i s c h e n S c h r i f t e n u n d des H e b r ä e r b r i e f s v e r s t a n d e n e n B i b e l u n d a u f den o r t h o d o x e n L e h r e r n

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Cyrillus von Alexandrien

Alexandriens, allen voraus —»Athanasios; bei der Auslegung von Joh 1,9 wendet er sich ausführlich gegen die origenistische Vorstellung einer Präexistenz der Seelen. Als Verfechter der Tradition pochte er nachdrücklich auf den unveränderlichen Text des nikänischen Bekenntnisses, als Deuter der Tradition aber mußte er es unweigerlich fortentwickeln. Wie der Mehrzahl seiner Zeitgenossen stand für ihn als spätplatonisches Axiom die Vorstellung eines immateriellen, leidensunfähigen, allgegenwärtigen höchsten Wesens fest (vgl. Ad Tiberium 1). Dieses Wesen aber ist zugleich der Gott der Bibel, der in der Geschichte handelnd in Erscheinung tritt und in Jesus Christus menschliches Sein angenommen hat. Der Mensch ist ein aus Leib und Seele - d e r Begriff o ä g ^ schließt beides in sich-zusammengesetztes Wesen, nicht eine im Körper eingeschlossene Seele; seine Gottesebenbildlichkeit (—»Bild Gottes) besteht in der Begabung mit Vernunft und Selbstbestimmung (vgl. ebd. 10). Der Fall hat die menschliche Natur geschwächt, aber nicht unwiederbringlich geschädigt; daß Kyrills ephesinische Synode die westliche Häresie des Pelagianismus (—»Pelagius) verurteilt hat, ist lediglich eine Geste gegenüber seinen westlichen Anhängern. Das religiöse Grundanliegen der Theologie Kyrills ist sein Beharren darauf, daß uns in Christus ein göttlicher Erlöser begegnet und nicht ein, wenn auch noch so eng mit Gott verbundener, bloßer Mensch (zu überspitzbaren Denkansätzen dabei vgl. Grillmeier und Liebaert). Seine Schwäche liegt in einer unzulänglichen Begrifflichkeit; denn sein Schlagwort Hia cpvoig TOV GEOV Aöyov aeaagxwfievrj, eine apollinaristische, aber von ihm für athanasianisch gehaltene Formel, bietet keine eigene Ausdrucksmöglichkeit für Christi Menschheit. Eine moderne Entsprechung für qrvaig wäre dabei „Persönlichkeit". Kyrills entscheidender Grundsatz ist, daß Gottes Gegenwart im Menschen einendes und nicht trennendes Moment ist. Die Einheit in Christus ist für ihn „von Natur aus" (xarä cpvoiv) oder „der Person nach" (xad' wlomaaiv) gegeben (der dafür üblich gewordene Ausdruck der „hypostatischen Union" begegnet erst ein Jahrhundert später). Die Marienprädikation Oeoroxog ist ihm nicht so sehr eine Aussage über Maria selbst als vielmehr eine Bestätigung der Einheit ihres Sohnes. Sie selbst war zwar unzweifelhaft von Sünde frei (—»Maria), nicht aber der Schwäche ihres Geschlechtes entnommen, von dem Kyrill keine hohe Meinung hegte (vgl. Burghardt Kap. 9). Für Kyrill wie überhaupt für die Theologen seiner Zeit war das Leiden des fleischgewordenen Gottes ebenso eine religiöse Wahrheit wie ein intellektuelles Problem, dessen Lösung erleichtert war durch die Vorstellung einer leidensunfähigen Seele, die sich die Leiden des Leibes zu eigen macht. In gleicher Weise machte sich der Logos die Erfahrungen und Leiden seines Fleisches zu eigen, um so „für jeden den Tod zu schmecken" (Hebr 2,9). Die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis Christi wie in M k 13,32 war für Kyrill ein Stück der von ihm angenommenen Natur. Sein christologisches Denkbild ist anscheinend das einer Person mit zwei Erfahrungsbereichen, wobei die Menschheit, so sehr sie auch der unseren wesenseins ( ö f i o o v o i o g ) ist, der Gottheit zugeordnet wird. Die spätere Orthodoxie hielt es für erforderlich, Kyrills Christologie auf dem sechsten ökumenischen Konzil 6 8 0 / 8 1 (—»Konstantinopel) durch die Behauptung eines eigenen menschlichen Willens in Christus zu ergänzen (—»Monenergetisch-monotheletischer Streit). Der gefallene Mensch wird für Kyrill in Gottes neuem Tempel, der —»Kirche, zum wahren Leben zurückgebracht. Den Zugang zu ihr erhalten wir durch die —»Taufe, und in ihr werden wir durch die Eucharistie (—»Abendmahl) genährt. Diese bezeichnet er vorzugsweise als „geheiligte Segensgabe" (¿ivouxfj evXoyia). Der bereits als liturgischer Begriff übliche Ausdruck „unblutiges Opfer" kann gleichermaßen die Hingabe des Lebens (Rom 12,1), das Gebets- und Lobopfer wie das gottesdienstliche Wiedergedächtnis des Leidens Christi bezeichnen. Kernstück der Liturgie ist für Kyrill der Empfang des lebenspendenden Fleisches des Erlösers. Wie immer die eucharistische Gegenwart Christi zu denken ist, sie bleibt bestehen, bis die konsekrierten Elemente verzehrt sind (Ep. ad Calosyr.: PG 7 6 , 1 0 7 5 ) . Da Kyrills Eucharistielehre diesseits der späteren Auseinandersetzungen liegt, ist er in der Reformation — wie in der Neuzeit - von allen Seiten in Anspruch genommen worden.

Cyrillus von Alexandrien 3.

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Nachwirkung

Kyrills B e m ü h e n , die Geltung seines Stuhles zu erweitern, ist letztlich gescheitert. Seine T h e o l o g i e aber erhielt in der östlichen Kirche bleibenden, ja bestimmenden Einfluß. 4 5 1 in —»Chalkedon billigten die Konzilsväter den T o m u s —»Leos d. Gr. nur insofern, als er mit der Lehre Kyrills in Einklang stand. Die östlichen Lehrauseinandersetzungen des 6. J h . waren weithin ein Streit um das kyrillische Erbe, dessen wohl gemäßester Deuter der „ M o n o p h y s i t " —»Severos von Antiochien war. Politisch gesehen war Justinians fünftes ökumenisches Konzil von 5 5 3 (—»Konstantinopel) ein M i ß e r f o l g , doch es verankerte kyrillische Begrifflichkeit in der o r t h o d o x e n T r a d i t i o n , verurteilte T h e o d o r von M o p s u e s t i a und verlieh Kyrills drittem Brief an Nestorios offizielle Geltung. Die N i c h t c h a l k e d o n e n s e r (—»Monophysiten) haben in großem U m f a n g kyrillisches Schrifttum ins Syrische, Armenische und Äthiopische übersetzt. In Alexandrien aber behauptete sich das Griechische, so d a ß man seiner in der —»Koptischen Kirche vornehmlich als einer in das Licht der Legende tauchenden historischen Gestalt gedachte. Einige kyrillische Schriften wurden alsbald auch ins Lateinische übertragen, und die Christologie des —»Thomas von Aquin ist im Gefolge der des —»Johannes von D a m a s k o s weithin kyrillisch, wenn sie auch nicht Kyrills V o r s i c h t gegenüber Aspekten wie der Unwissenheit Christi zeigt. Im 16. J h . erschien kyrillisches D e n k e n der lutherischen wie der reformierten —»Orthodoxie a n n e h m b a r — die ersten Bemühungen um eine vollständige (lateinische) Ausgabe wurden 1 5 4 6 in Basel a u f g e n o m m e n . 1 6 3 8 nahm dann Auberts hervorragende zweisprachige Ausgabe Kyrill für den Katholizismus in Anspruch, innerhalb dessen er noch i m m e r einen angesehenen R a n g behauptet (vgl. die Aufstellung der Ausgaben bei Kuballik 3 6 9 - 3 7 3 ) . Die anglikanische und protestantische T h e o l o g i e orientiert sich dagegen mehr an C h a l k e d o n als an Ephesus. I m m e r aber hat Kyrill konservative T h e o l o g e n in Bann gezogen wie etwa E. B. —»Pusey, dessen Sohn darum die Arbeit von J a h ren an seine Kyrillausgabe wandte (vgl. das V o r w o r t zu Pusey V I , C I V ) . Weithin besteht Ubereinstimmung darin, d a ß Kyrills Betonung der Einheit Christi bleibende Bedeutung hat (vgl. T o r r a n c e als reformierten T h e o l o g e n ) . Und in jüngster Zeit hat eine irenische Beschäftigung mit dem gemeinsamen, einst so umstrittenen kyrillischen Erbe den —»Unionsbestrebungen zwischen den chalkedonensischen und nichtchalkedonensischen Kirchen des Ostens Auftrieb gegeben. Quellen Quellenkunde:

CPG III, 5 2 0 0 - 5 4 3 5 .

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Cyrillus von Alexandrien

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Edward J. Yarnold

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1.

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3. Werke

4. W i r k u n g

(Quellen/Literatur S. 269)

Quellen

Erst in den slavisch erhaltenen ausführlichen Vitae der ,Slavenlehrer' Konstantinos-Kyrillos und Methodios und in den davon abhängigen späteren russischen Chroniken verfügen wir über literarische Denkmäler zu Leben und Wirken jener zwei byzantinischen Gestalten, die die Kirchenpolitik des 9. Jh. tief geprägt haben. Die Vita Cyrilli [VC] wurde von Methodios in M ä h r e n in den Jahren 874—879 wenn nicht zunächst in griechischer Sprache, so doch in byzantinischem Geist verfaßt und ist in slavischen Handschriften ab dem 15. Jh. überliefert. Als möglicher Autor der Vita Methodii [VM], die ab dem 12. Jh. erhalten ist, gilt der langjährige Gefährte Konstantinos' und Methodios', Kliment, der spätere Bischof von Ohrid (gest. 916). Die Nachrichten bezüglich Kyrillos und Methodios in der griechischen Vita des Kliment, die dem Erzbischof —»Theophylaktos von Ohrid zugeschrieben ist, der sog. Legenda bulgarica (BHG 355), gehen nicht über die beiden genannten Viten hinaus. Unter den lateinischen Quellen verdient die sog. Legenda italica des Leon von Ostia (BHL 2073) aus dem späten 9. Jh. besondere Erwähnung. 2. Leben Konstantinos — mit späterem M ö n c h s n a m e n Kyrillos — und sein älterer Bruder, von dem lediglich der M ö n c h s n a m e , Methodios, überliefert ist, entstammten einer hohen Beamtenfamilie aus Thessalonike. Die immer wieder aufflackernde Frage des ethnischen Ursprungs der ,Brüder aus Thessalonike' dürfte n u n m e h r als endgültig geklärt betrachtet werden: Im byzantinischen Vielvölkerstaat konnten nur im griechischen Schulsystem voll ausgebildete Personen hohe Ämter bekleiden; da der Vater des Konstantinos und des Methodios das A m t eines Drungarios innehatte (VC II), gehörte er zur Elite der Gesellschaft der zweitgrößten Stadt des byzantinischen Reiches. Konstantinos wurde 8 2 6 / 2 7 geboren, Methodios war etwa zehn Jahre älter. W ä h r e n d Methodios sich zunächst für den Staatsdienst entschied, später jedoch das Mönchsleben im Kloster Polychronion im M a r m a r a m e e r führte (VM IV), gelangte Konstantinos in den Gelehrtenkreis um den künftigen Patriarchen —»Photios. 851 oder 855 nahm Konstantinos im A u f t r a g Kaiser Michaels III. ( 8 4 2 - 8 6 7 ) an einer vom Patrikios Georgios und dem Sekretarios Photios geleiteten Gesandtschaft betreffs Gefangenenaustausches an den Abbasiden-Khalifen M u t a w a k k i l ( 8 4 7 - 8 6 1 ) nach Bagdad teil, w o er eine theologische Disputation mit Muslims führte (VC VI). - Als Antwort auf den Seeangriff der Rhös gegen Konstantinopel unter den warägischen A n f ü h r e r n Askol'd und Dir im Jahre 860, als Photios seine berühmten Homilien 2 und 3 hielt, und infolge eines Hilferufes des

Cyrillus und Methodius

267

chasarischen Chans entsandte Kaiser Michael III. 8 6 0 - 8 6 1 zur Festigung des byzantinischen Themas Cherson und zur Schließung eines Bündnispaktes mit den Chasaren eine Botschaft ins chasarische Land, an deren Spitze Konstantinos sowie dessen Bruder, Methodios, standen (VC VIII). Über seine theologische Disputation mit den judaisierenden Chasaren in der Hauptstadt des Reiches am Westufer des Kaspischen Meeres verfaßte Konstantinos ein für den Patriarchen und den Kaiser bestimmtes Resümee, das Methodios in VC X auszugsweise aufnahm. Die größten historischen Folgen erreichte jedoch die dritte Gesandtschaft, die Konstantinos, Methodios und einige ihrer Mitarbeiter (in der späteren Überlieferung oi ayioi EJIT&Qi6fxoi genannt) im Auftrag des Patriarchen undderovvoöog ¿vör/fiovoa 863 nach Mähren führte, um den christlichen Glauben in der slavischen Sprache zu lehren und zu festigen. Ziel dieser Entsendung, mit der byzantinischerseits teilweise einer Bitte des mährischen Fürsten Rastislav (846—870) an Kaiser Michael III. entsprochen wurde, in ein von bayerischen Missionaren bereits christianisiertes Land (—»Böhmen und Mähren) konnte keineswegs die Errichtung einer dem Konstantinopler Patriarchat unterstehenden kirchlichen Provinz sein, da das Haupt der Delegation, Konstantinos, lediglich das Amt eines Priesters bekleidete. Daher entsprachen die späteren Verhandlungen der ,Slavenlehrer' mit dem römischen Papst bezüglich der Anerkennung der slavischen Liturgie nicht einer kirchenpolitischen Wende nach der Absetzung des Patriarchen Photios 867, sondern dem eigentlichen Zweck der Mission, in einem der römischen Jurisdiktion unterstehenden Kirchensprengel lediglich eine kulturell-religiöse Unterstützung zu gewähren, die vom byzantinischen Kaiser um so mehr begrüßt wurde, als dadurch die Annäherung zwischen König Ludwig dem Deutschen und dem Zaren Boris von Bulgarien geschwächt werden konnte. Als Kern der kyrillomethodianischen Methode galt die Abhaltung des Gottesdienstes in slavischer Sprache (—»Kirchensprache). In dieser Hinsicht verfügten die ,Brüder aus Thessalonike' über eine damals einmalige Erfahrung, hatten sie doch vorher für die umgesiedelte slavische Bevölkerung im Umkreis der bithynischen Klöster erste Versuche zur Schaffung eines slavischen Alphabetes und zur Übersetzung der gängigen liturgischen Texte gemacht. Das glagolitische Alphabet als ideale Wiedergabe des phonetischen Systems der südslavischen-makedonischen Mundart, die Konstantinos und Methodios im Hinterland von Thessalonike in ihren frühen Jahren erlernen konnten, entstand somit wahrscheinlich noch vor 863. Die Mißgunst des in Mähren missionierenden fränkischen Klerus zwang die Byzantiner, ihre Tätigkeit 866 nach Pannonien zu Fürst Kocel zu verlagern. Um ihre Unternehmungen zu legitimieren und möglicherweise neue Mitarbeiter zu gewinnen, reisten Konstantinos und Methodios nach Venedig und Rom (VC XVI; VM VI), wohin sie erst nach dem Tode von Papst —»Nikolaus I. und der Einsetzung seines Nachfolgers Hadrians II. 867/68 gelangten. Nach dem Tode des Konstantinos, der auf dem Sterbebett das Mönchshabit und den Namen Kyrillos annahm, in Rom am 14. Februar 869, kehrte Methodios mit der Würde eines Bischofes nach Pannonien zurück zum Ärger des fränkischen Klerus, der ihn bald festnahm und mit Unterstützung König Ludwigs fast drei Jahre in Schwaben gefangenhielt. Erst 873 dank des Einsatzes des neuen Papstes Johannes VIII. (872-882) wurde Methodios befreit und kehrte nach Mähren als Erzbischof mit Sitz in Sirmium (Sremska Mitrovica) zurück, allerdings mit der Auflage, von der Liturgie in slavischer Sprache Abstand zu nehmen. In Mähren hatte nach dem Tode Rastislavs sein Sohn Svatopluk 870 die Regierung übernommen. Mit seinem Suffraganbischof in Nitra (seit 880), Wiching, stand Erzbischof Methodios in wiederholten Konflikten, die ihren Widerhall in den päpstlichen Briefen finden. Nach der Wiedereinsetzung des Photios als Patriarchen von Konstantinopel 877 unternahm Methodios 881/82 eine letzte Reise nach Konstantinopel, deren Ziel nicht klar aus der Vita (VM XIII) hervorgeht. Fest steht allerdings, daß Methodios auf der Durchreise —»Bulgarien besuchte und dem Zaren Boris begegnete. Nach der Rückkehr nach Mähren starb Methodios am 6. April 885, nachdem er seinen Schüler Gorazd als Nachfolger bestimmt hatte (VM XVII). Der Widerstand des germanischen Klerus gegen die aus Byzanz stammenden Missionshelfer führte zu deren Vertreibung aus dem Lande. Die Schüler des Methodios fanden Zuflucht vornehmlich in Kroatien und Bulgarien.

268 3.

Cyrillus und Methodius Werke

Von den griechisch verfaßten Werken des Konstantinos hat sich in der Originalsprache nichts erhalten. Über seine Dichtkunst zeugen der slavische Prolog zum Evangelium Wie die Propheten früher ankündigten und der slavische Kanon zur Ehre des hl. Demetrios von Thessalonike. Sein griechischer Bericht über die A u f f i n d u n g der Reliquien des Märtyrers Clemens auf der Krim (VC VIII) ist lediglich in der slavischen Fassung, der sog. Cherson-Legende, erhalten. Außerdem verfaßte Konstantinos eine griechische Darlegung seiner Übersetzungsmethoden, deren slavische Version fragmentarisch auf dem Blatt von Hil'ferding aus dem 1 1 . - 1 2 . Jh. erhalten ist. - Methodios hinterließ an Originalwerken neben der bereits erwähnten Vita Cyrilli eine im glagolitischen Codex Clozianus aus dem 11. Jh. a n o n y m überlieferte Homilie an einen Fürsten, die wahrscheinlich in slavischer Sprache ohne griechische Vorlage in den Jahren 873—879 verfaßt wurde. Die Übersetzung der Bibel geschah in zwei Phasen: In einer ersten Periode übertrug Konstantinos das Evangelium und den Apostolos in der Form des kurzen Lektionars (—»Bibelübersetzungen) und das Psalterium. Nach dessen Tode setzte M e t h o d i o s das begonnene Werk mit der Übertragung der liturgischen Perikopen aus dem Alten Testament, also des Paroimiarion, fort. Der Autor von V M XV übertreibt offensichtlich, wenn er von der Übersetzung der ganzen Bibel außer den M a k k a b ä e r b ü c h e r n spricht. Ihr Auslassen erklärt sich d a d u r c h , daß diese Bücher im Rahmen des orthodoxen Gottesdienstes nicht gelesen werden. Dasselbe gilt auch für die Apokalypse des Johannes, die viel später übersetzt wurde. Von den liturgischen Büchern w u r d e zunächst das (oder die) Meßformular(e) nach dem byzantinischen Ritus als Teil des Euchologion übersetzt, sowie das Hirmologion, das übrigens auch für den Gesang der Makarismoi in der Liturgie notwendig war. O b weitere liturgische Bücher in der ersten Phase der mährischen Mission aus dem Griechischen übersetzt wurden, läßt sich nicht klar feststellen. Die neue Hypothese von Cifljanov, nach welcher Konstantinos und Methodios die äxoXovdia äafi.aTLxrj, also das Kathedraloffizium, in M ä h r e n eingeführt und die dazu notwendigen Texte übersetzt hätten, ist sicherlich abwegig, setzt doch diese Form des Gottesdienstes eine äußerst entwickelte musikalische A u s f ü h r u n g voraus. Liturgische Bücher nach dem römischen Ritus wurden erst in einer späteren Phase, wahrscheinlich nach dem Tode des M e t h o dios, ins Altkirchenslavische übersetzt. Z u m Zwecke der Festigung der Kirchenorganisation und der Rechtspflege übersetzte Methodios noch vor der ersten römischen Reise eine unter dem N a m e n Zakon sudnyi ljudem (lex iudicialis de laicis) bekannte Kompilation aus der 'ExXoyi] xcbv v6[ia>v, jenem im M ä r z 726 von den byzantinischen Kaisern Leon III. und Konstantinos V. erlassenen Gesetzesbuch, sowie um 883 den Nomokanon in SO Titeln des Patriarchen Johannes Scholastikos (um 570). O b die Übersetzung der patristischen Schriften im Suprasliensis-Homiliar unmittelbar auf Konstantinos und Methodios zurückgeht, bleibt offen; einer endgültigen Klärung bedarf ebenfalls die Frage der von Methodios übersetzten Väterbücher (otlclskyje künigy; V M XV), unter welchen wahrscheinlich die griechische Fassung der Dialogi des Papstes —»Gregors des Großen (BHG 1445 y) zu verstehen ist.

4.

Wirkung

Durch die Schaffung des glagolitischen Alphabets, das im gesamten slavischen Sprachraum A n w e n d u n g fand und erst durch das im Bulgarien des 10. Jh. entwickelte kyrillische Alphabet allmählich - das nordkroatische Küstengebiet ausgenommen - verdrängt wurde, und die ersten Übersetzungen vornehmlich aus dem Griechischen öffneten Kyrillos und Methodios dem slavischen Mittelalter den Z u g a n g zur europäischen Kultur. Nicht nur im orthodoxen Bulgarien, Serbien, Rußland — und später im nicht-slavischen Rumänien, wo das Kirchenslavische als Kultursprache bis zum 17. Jh. verwendet wurde - , sondern auch in Böhmen, Polen und Kroatien verbreitete sich die slavische Liturgie und somit das kyrillomethodianische Erbe. Nach dem Tode des Methodios 885 schienen die Gegner der ,Slavenlehrer' M ä h r e n und Böhmen endgültig f ü r sich gewonnen zu haben. D a ß jedoch der M ö n c h

Cyrillus und Methodius

269

Prokop 1 0 3 2 ein Kloster mit der slavischen Liturgiesprache in Säzava (Zentralböhmen) unter Fürst Oldrich (gest. 1034) gründen konnte, beweist, daß kyrillomethodianische Einflüsse, sei es aus dem Kiever Rußland, sei es aus dem benachbarten Kroatien, noch lebendig waren, wobei die Frage des Ritus, byzantinisch oder römisch, in diesem Falle eine zweitrangige Rolle spielt. Immerhin zeigen die Prager glagolitischen Blätter, jene Fragmente aus dem byzantinischen Morgenoffizium, die im Böhmen des 11. Jh. entstanden, und das byzantinische Offizium des hl. Wenzel (Vaclav) aus dem 10. Jh. eindeutig, daß die Tätigkeit von Konstantinos und Methodios im tschechischen Raum tiefe Spuren hinterlassen hatte. Einen geringeren, wenn auch deutlichen Einfluß hatte das kyrillomethodianische Erbe ebenfalls in —>Polen, wobei die Ansätze aus Böhmen und Südrußland stammen. Es sei hier nur an das altpolnische Kirchenlied Bogurodzica dzewica erinnert, das der byzantinischen Kirchendichtung nahesteht und dessen altkirchenslavische Version - ebenso wie die des alttschechischen Liedes Hospodine pomiluj ny — oft mit dem Namen des —»Adalbert von Prag bzw. seines Bruders Gaudentius-Radim, des späteren Erzbischofes von Gnesen (999—1016), in Zusammenhang gebracht wird. Das Beispiel Kroatiens (—»Jugoslawien) zeigt am deutlichsten, wie tief das Wirken der,Brüder aus Thessalonike' die Geistesgeschichte eines slavischen Volkes prägen konnte. Spätestens nach dem Tode des Methodios und der damit verbundenen Vertreibung aus Mähren gelangten einige Jünger der ,Slavenlehrer' in das bereits christianisierte kroatische Küstengebiet (Istrien, Dalmatien), das politisch und kirchlich zwischen Rom und Konstantinopel zerrissen war: Das 8 9 2 errichtete Bistum von Nin bei Zadar unterstand unmittelbar dem römischen Papst, während das Illyricum von 7 3 2 / 3 3 bis 923 offiziell dem Konstantinopler Patriarchat unterstand. Durch die doppelte Strömung, einerseits aus Pannonien, andererseits aus Makedonien, entstand in Westkroatien eine einzigartige Kultur, die östliche und westliche Züge durch das Bindeelement der nurmehr dort verwendeten glagolitischen Schrift verschmolz und bis zum Ausgang des Mittelalters bewahrte. Die ältesten glagolitischen Inschriften stammen aus der Wende des 11. zum 12. Jh. ( B a s c a n s k a ploca), die jüngste aus dem 17. Jh. Besonders im 15. Jh. erreichte die Kunst der glagolitischen kroatischen Kopisten ihren Höhepunkt, den einige Prachtbreviarien und Missalia verdeutlichen. Auf dem Boden des katholischen Glagolismus entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jh. die kyrillomethodianische Idee', jener von Bischof Josip Juraj Strossmayer (1815—1905), dem Gründer der Südslavischen Akademie der Wissenschaft und Kunst in Zagreb, unterstützte Annäherungsversuch zwischen slavischen Katholiken und Orthodoxen, die durch die entscheidende Mitwirkung des Prager Slavisten und Theologen Josef Vajs ( 1 8 6 5 - 1 9 5 9 ) und des slovenischen Theologen Fran Grivec ( 1 8 7 8 - 1 9 6 3 ) ihren Ausdruck im bibliographischen Anzeiger Slavorum litterae theologicae (Prag 1 9 0 5 - 1 9 1 0 ) sowie in den unionistischen Kongressen von Velehrad in der Tschechoslowakei ab 1 9 0 7 fand. Quellen Fran Grivec/Fran Tomsic, Constantinus et Methodius Thessalonicenses: Fontes, Zagreb 1 9 6 0 (Radovi staroslavenskog instituta 4). — Magnae Moraviae fontes historici, 5 Bde., Prag/Brünn 1 9 6 6 - 7 7 . - Kliment Ochridski sübrani sücinenija. III. Prostranni zitija na Kiril i Metodij, ed. Bonju St. Angelov/Christo Kodov, Sofia 1 9 7 3 ; dt.: Josef Bujnoch, Zw. R o m u. Byzanz, Graz/Wien/Köln 2 1 9 7 2 (Slavische Geschichtsschreiber 1). - Die pannonischen Legenden, übers, v. Norbert Randow, Berlin 1972.

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Dämonen I

270

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Christian Hannick

Dämonen („böse I. II. III. IV. V.

Geister")

Religionsgeschichtlich Altes Testament Judentum Neues Testament . . . Kirchengeschichtlich

275 277 279 286

I. Religionsgeschichtlich 1. Allgemeines 2. Geister und Dämonen Weltbild (Literatur S. 2 7 4 )

3. Abwehr von Dämonen

4. Zum dämonistischen

1. Allgemeines Der religionsgeschichtliche bzw. religionsphänomenologische Terminus Dämon entstammt dem Griechischen. Nachweisbar zuerst bei Homer (z. B. II. 1 , 2 2 2 ; 3 , 4 2 0 ) , bezeichnet daificüv zunächst die gute oder auch böse Gottheit, ähnlich wie Osog, doch im Unterschied zu Oeoq eher im Sinne der einmaligen Epiphanie eines Numens, das nicht aus Mythos und Kult bekannt ist. Die Etymologie ist unsicher; am nächsten liegt die Annahme eines Zusammenhangs mit daieaöai [teilen, zuteilen], so daß der Dämon als Zuteiler von Gutem und Bösem gegolten haben dürfte. Später ist daifimv die Untergottheit, ein Mittelwesen zwischen Göttern und Menschen, das kosmische Vorgänge und menschliches Schicksal positiv oder negativ beeinflußt. Noch das öai/iövtov des Sokrates (vgl. z. B. Piaton, Ap. 2 4 b ; Xenophon, M e m . 1,1,lf) ist ein guter Schutzgeist, kein Dämon im Sinne der modernen Religionswissenschaft. Erst als der Piatonschüler Xenokrates durch seine Dämonologie die echten Götter von ihren bösen Taten entlastet, überwiegt der negative Aspekt des Dämonischen; das gilt auch für die abstrusen dämonologischen Theorien des Neuplatonismus. Fußend auf der altjüdischen Dämonenlehre (s. u. Abschn. III), versteht das Neue Testament unter öaifioveg und öaifiövia ausschließlich böse Geistwesen (s. u. Abschn. IV); in dieser Bedeutung ist der Dämon - der daemon bzw. das daemonium der Vulgata - in die Sprache des christlichen Mittelalters und in die Begriffswelt der Religionswissenschaft eingegangen. Daher bezeichnet die religionswissenschaftliche Forschung als Dämonen alle übermenschlichen, aber untergöttlichen Mächte, die den Menschen schädigen oder zumindest bedrohen und deren sich der Mensch durch bestimmte Riten (—»Magie) und Enthaltungen (—»Askese) erwehrt. Dämonische Schädigung und Bedrohung kann empfunden werden als Ausgeliefertsein an unpersönliche Einflüsse, etwa an die ansteckende, vom Kontakt mit Leichen oder Menstruationsblut ausgehende „Unreinheit"; zumeist aber konkretisieren sich die unbestimmten Ängste des Menschen vor Naturkatastrophen, vor Krankheit und Tod, vor Unglück und Mißgeschick, vor Frevel und Fremdem zu personhaft-individuell vorgestellten, mitunter sogar mit Namen ausgestatteten Dämonen, in denen „die boshafte Unzulänglichkeit des Geschehens" und „das Irrationelle im Lebensgrund" Gestalt gewinnen (van der Leeuw 142). Dämonismus ist der Glaube an die Existenz der Dämonen und an die M ö g lichkeit des Menschen, sich und seinen Bereich durch antidämonische Praktiken zu schützen. Unter Dämonologie versteht man den Ausbau des Dämonismus zu einer Lehre von den verschiedenen, hierarchisch gegliederten Dämonen, ihren spezifischen Funktionen und den entsprechenden Abwehrmitteln.

Dämonen I

271

Dämonische Schädigung befürchtet der Mensch vom Eindringen der bösen Geister in seinen Körper. Durch die Körperöffnungen — Mund, Auge, After, Genitalien - schlüpft der Dämon in den Leib seines Opfers, das er auf diese Weise von innen her in Besitz nimmt und zum „Besessenen" macht. Auf dreierlei Art begegnet der Kundige den Dämonen: bannend (defixiv, zwingt den Dämon zum Stehen), abwendend (apotropäisch, zwingt den Dämon zur Umkehr) und austreibend (exorzistisch, zwingt den Dämon zur Flucht; -»Exorzismus). Dämonenabwehr erfolgt — von der Antike bis zum Mittelalter - in den Kategorien der sog. homöopathischen Magie (similia similibus); Fratzen aus Holz und Stein, Abbilder der Dämonen, schlagen die fratzenhaften Unholde in die Flucht. Feuerdämonen werden mit Feuer und Licht, Wasserdämonen mit Wasser, Winddämonen mit dem blasenden Hauch vertrieben. Der Zugehörigkeit des Dämons zur Welt der Finsternis entspricht die schwarze Farbe der beim Zauber getöteten Tiere. Weder die an den Dämon gerichteten Worte noch die verwendeten Substanzen sind als eigentlicher Kult (-»Gottesdienst) zu deuten, der mit Gebet und Opfer der Hochgottheit die Entscheidungsfreiheit belassen würde (vgl. Gen 4,3—5); vielmehr handelt es sich um Theurgie, die dem untergöttlichen Numen den Willen Handlundes Dämonenbanners und Exorzisten aufzwingt. Das gilt nicht nur für dieaktiven gen mit dem offensiven Zauberwort und der (anti-)dämonischen Materie, sondern auch für die passiven Handlungen, d. h. den asketischen Verzicht auf mögliche Kontakte mit dämonischen Mächten. Wo die Dämonen als Urheber der Unreinheit gefürchtet werden (—»Reinheit), ist Dämonenabwehr identisch mit dinglicher Reinigung (Kathartik). Dämonistische Vorstellungen der skizzierten Strukturen sind dem gesamten alten Orient genauso geläufig wie dem vorhellenistischen Griechentum, dem Hellenismus, dem antiken Judentum und dem Neuen T e s t a m e n t ; sie finden sich aber auch, nahezu identisch, in vielen primitiven und halbprimitiven Religionen aller Erdteile, ferner im Volksglauben (Märchen) und Aberglauben noch der neueren und neuesten Zeit. Ein Nachweis geographischer und zeitlicher Abhängigkeiten ist daher nur ausnahmsweise möglich; der archetypische Glaube an dämonische Schadensgeister (und ihre glückbringenden, schützenden Gegenspieler, die —»Engel) ist so allgemein verbreitet wie die Erfahrung von Unglück, Krankheit und T o d . Immerhin dürfte feststehen, daß die Weiterbildung des spärlichen Dämonismus im Alten T e s t a m e n t (s. u. Abschn. II) zur reichen, dualistischen und mit der Kathartik verknüpften D ä m o nologie des Judentums (s. u. Abschn. III) auf dessen Begegnung mit dem chaldäisch-iranischen Synkretismus im Babylonischen Exil beruht; die Auffassung des Neuen Testaments von den Dämonen (s. u. Abschn. IV) ist Teil der altjüdischen Dämonologie zur Zeit seiner Entstehung.

2. Geister und

Dämonen

Ein Überblick über die verschiedenen Gattungen der unzähligen Schadensgeister wird sinngemäß einsetzen bei den Arten von Schädigungen, die der Mensch auf dämonischen Einfluß zurückführt. Sexualdämonen bedrohen den Menschen mit Unreinheit (etwa durch Berührung mit Menstruationsblut oder Sperma) und — etwa im Falle der Hochzeitsnacht (vgl. Tob 6 , 1 4 - 1 8 ; 7,11; 8,2f) - mit dem Tod. Gehirn- und Geisteskrankheiten werden als Besessenheit durch einen oder mehrere Dämonen gedeutet; aber auch alle anderen Krankheiten wie Aussatz, Blindheit, Taubheit und Stummheit oder der Unfall mit Pferd und Wagen haben ihren dämonischen Verursacher. Erst recht ist der Tod das Werk eines mächtigen, häufig mit dem Regenten aller bösen Geister (—»Teufel) gleichgesetzten Dämons. Rechtsbrecher, Frevler und Apostaten (Irrlehrer) sind dämonischer Verführung erlegen; als „unrein" und sühnebedürftig gelten vor allem Mörder und Unzuchtsünder. Juden und Christen sehen in den heidnischen Göttern Dämonen, in den Heiden Dämonendiener von ansteckender Unreinheit. Böse Geister wohnen vornehmlich an solchen Orten, die auch neuerer Aberglaube noch als unheimlich empfindet und mit Spukgestalten bevölkert: in Einöden, Ruinen, Wüstungen und Friedhöfen. Der Mensch erlebt sie in bedrohlichen Naturereignissen: im Unwetter, in der Überschwemmung, in Wolkenbruch und Hagelschlag, aber auch in Trockenheit und Sonnenstich, in Blitzschlag und Brandkatastrophe. Ferner gibt es Feld-, Wald- und Bergdämonen, aber auch Spuk- und Totengeister in den Häusern der Lebenden. Dem antiken Judentum und dem Neuen Testament gelten die Gestirnmächte nicht als Götter, sondern als

272

Dämonen I

D ä m o n e n (—»Astrologie). So durchwalten Heere von D ä m o n e n den ganzen Kosmos. Entsprechend der Ambivalenz des Heiligen (—»Heiligkeit) bedienen nicht nur die Hochgottheiten, sondern auch die D ä m o n e n bei ihrer Epiphanie sich der Elemente, die zugleich als Wohnung und als Vehikel der bösen Geister gedacht werden: Feuer und Wasser, Luft und Erde; als dämonische Stätten der Erde gelten vor allem Höhlen, Wüsten und Berge, während man im Sturm die Geister der Luft (nvev^ara, spiritus; vgl. Eph 2,2; 6,12b und noch die Sage vom Rodensteiner) zu vernehmen glaubt. Zumeist unsichtbar und körperlos vorgestellt, besitzen Dämonen jedoch die Fähigkeit zur Annahme körperlicher Gestalt. H ä u f i g gleichen die bösen Geister den Menschen, von diesen allenfalls durch ihre Häßlichkeit unterschieden (vgl. Porphyrius, Abst. 2,39). Nicht selten wählt der sich verkörpernde D ä m o n Tiergestalt, wobei Raubtiere, giftige Tiere und schädliche Insekten bevorzugt werden; im einzelnen sind dämonische Böcke, Löwen, Wölfe, H u n d e , Vögel, Schlangen (Drachen), Frösche, Fische, Stechmücken und Heuschrecken belegt. Mitunter werden im Bild des D ä m o n s menschliche und tierische Züge miteinander verb u n d e n ; dadurch wird einerseits das Unberechenbare und Grausige der dämonischen M a c h t , andererseits aber auch ihre Unvollkommenheit und Überwindbarkeit (s. u. Abschn. 3) veranschaulicht. Wenn Farben der D ä m o n e n genannt werden, so überwiegt bei weitem das Schwarz; gelegentlich werden die dämonischen Bestien auch rot vorgestellt. Als Zeit der D ä m o n e n gilt die N a c h t , insbesondere die Stunde nach Mitternacht. Seltener, aber ausreichend belegt ist auch die dämonische Mittagszeit, die Stunde des Sonnenstichs (Ps 91,5f), Pans, der Sirenen und N y m p h e n (vgl. Piaton, Phaedr. 238d,15). 3. Abwehr

von

Dämonen

Anders als die kultisch verehrten Hochgottheiten, deren Klugheit und M a c h t (nahezu) grenzenlos gedacht werden, ist der D ä m o n ü b e r w i n d b a r . T o d und Teufel können, wie noch im Volksmärchen (z. B. Grimm, Kinder- u. H a u s m ä r c h e n Nr. 29.44.82.125.177.189) überlistet, „geprellt" werden. Erst recht gilt der korrekte Gebrauch antidämonischer Worte und Sätze, Gesten und Praktiken als erfolgversprechend; D ä m o n e n a b w e h r ist Theurgie (s. o. Abschn. 1). Der Exorzist begegnet dem auszutreibenden D ä m o n mit lautem Geschrei; der D ä m o n wird erschreckt und bedroht (z. B. Lucian, Ncc. 9; Philops. 16; Philostratus, Vit. Ap. 3,38; 4,20). Zaubersprüche treten hinzu, häufig verstärkt durch die machtgeladenen Namen von Göttern, Dämonen oder berühmten Exorzisten (vgl. etwa Josephus, Ant VIII, 46—49). Als besonders wirksam werden Worte in fremder Sprache (grjoeig ßagßagixat, vgl. Lucian, Philops. 9) und literarische Zitate, etwa aus H o m e r , orphischen Texten, Musaios oder der —>Bibel, angesehen. Von den Berührungen des zu Exorzisierenden ist am wichtigsten die —*Handauflegung. Auch die Zahl der Beschwörungen, Berührungen und materialen Praktiken (s. u.) ist bedeutsam; häufiger als die Siebenmaligkeit des antidämonischen Ritus ist die Dreimaligkeit (vgl. etwa Plinius, Hist. Nat. XXVIII 2,4; 4,7). Entsprechend dem Gesetz der homöopathischen Magie (s. o. Abschn. 1) spielen im Abwehrzauber die aktiven Handlungen mit den Elementen eine entscheidende Rolle. Dämonen, die im oder am Feuer lokalisiert werden und deren Erscheinung man in Feuer oder Licht erwartet (z. B. Fieber-, Wund-, Krankheits- und Seuchenerreger), werden mit Feuer und Licht vertrieben (Reisigfeuer, Fackeln, Kerzen); Feuer reinigt auch den Frevler. Im und am Wasser (Teich, Sumpf, Brücke, Aquädukt) lauern insbesondere die Sexualdämonen; sie werden durch Bäder und Waschungen b e k ä m p f t , welche die kultische Reinheit - etwa nach Pollution, Menstruation, Beischlaf und G e b u r t - wiederherstellen. Auch andere Flüssigkeiten wirken kathartisch, so vor allem Blut, Wein, ö l und Speichel. Den Dämonen der Luft begegnet der blasende H a u c h des Exorzisten — übrigens noch im Taufritual der Kirche. Gegen die bösen Geister der Erde richtet sich der apotropäisch-exorzistische Gebrauch fester Substanzen (Erde, Lehm, Sand, Steine, Asche, Salz), etwa durch Bestreuen des Kopfes oder Körpers oder durch das Tragen von Amuletten bzw. Talismanen aus Metall, Ton, —»Edelsteinen und Halbedelsteinen (aus denen sich der „ S c h m u c k " entwickelt hat). Ganz analog

Dämonen I

273

schützt man sich vor N a t u r d ä m o n e n durch Heilkräuter oder durch Amulette aus Knochen-, Wurzel- und Kräuterstücken, vor Astraldämonen durch Amulette aus (bestimmten Sternen zugeordneten) Edelsteinen oder durch Amulette in Sternform. Die aktiven Handlungen mit der Elementen oder mit Teilen machtgeladener Materie bilden, zusammen mit Wort- und Berührungszauber, gleichsam die Offensive des homöopathischen Kampfs gegen die Dämonen. Dagegen repräsentieren die passiven Handlungen die antidämonische Defensive; diese besteht zunächst einmal in der Verhüllung der Körperöffnungen (etwa der Augen, des M u n des beim Gähnen oder der Genitalien), um den D ä m o n e n das Eindringen unmöglich zu machen. D ä m o n e n f u r c h t ist zweifellos eine Wurzel der Scham. Darüber hinaus meidet der auf dämonenfreie Reinheit Bedachte alle Gelegenheiten, die ihn dämonischer Schädigung aussetzen k ö n n t e n ; er verzichtet etwa auf Schuhwerk oder auf Schmuck, da sich die Dämonen in Knoten und Bindungen zu verbergen lieben. Kleidungsaskese besteht in vollständiger (etwa bei Sühneriten oder beim Zauber) oder teilweiser Nacktheit, vor allem aber in der Wahl bestimmter, etwa tierischer Kleidung wie im Falle der altjüdischen Propheten. Asketischer Hygieneverzicht, zumeist verbunden mit dem Fasten, meidet Waschwasser, Salböl, Kamm, H a a r - und Nagelschere; künstlich geschaffene Unreinheit verwehrt im Sinne homöopathischer Magie den unreinen Geistern den Zutritt (vgl. etwa Philostratus, Vit. Ap. 1,16, ferner das altjüdische Nasiräat und noch das deutsche M ä r c h e n : Grimm, Kinder- u. Hausmärchen Nr. 100.101). Nahrungsaskese verzichtet als quantitatives —»Fasten auf Essen und Trinken ü b e r h a u p t (d. h. für bestimmte Fristen und so weitgehend wie möglich), als qualitatives Fasten auf gewisse, als dämonisiert geltende Nahrungsmittel, zumeist auf Fleisch und Wein. Dem Zugriff der Sexualdämonen entzieht die Sexualaskese, sei sie temporär (Kontinenz), sei sie lebenslang (Virginität bzw^ wenn später aufgenommen, Zölibat) geübt. Den dämonischen Gefahren des Schlafs (etwa der verunreinigenden Pollution, vgl. mYom l,4.6f) begegnet der Schlafverzicht. 4. Zum dämonistischen

Weltbild

Der D ä m o n i s m u s ist seit dem 19. Jh. Gegenstand anspruchsvoller religionsgeschichtlicher Theorien. Er gilt etwa als Weiterbildung von Dynamismus oder Animismus, als Vorstufe des Polytheismus und Monotheismus. Da sich die Strukturen von D ä m o n e n f u r c h t und D ä m e n o n e n a b w e h r jedoch überall in der Welt, zu ganz verschiedenen Zeiten und innerhalb der verschiedensten religiösen und philosophischen Systeme nachweisen lassen, widersetzt sich der D ä m o n i s m u s allen evolutionistischen Ordnungsversuchen (Henninger 140; Colpe: RAC 9 , 5 4 8 - 5 5 1 ; vgl. van der Leeuw VI). Seinen Ursprung verdankt der Dämonismus ohne Zweifel der Angst des antiken bzw. primitiven Menschen vor Unfall, Krankheit, Tod und Naturkatastrophen. Die starke sexuelle Komponente des Dämonismus, deutlich u. a. in der altjüdischen Dämonogonie, welche die bösen Geister von geschlechtlichen Verfehlungen Adams und Evas oder der Sintflutgeneration herleitet (s. u. Abschn. III), geht zurück auf die Angst des Mannes vor dem ekstatischen Selbstverlust im Orgasmus, aber auch auf sein Grauen vor den (als real gewerteten) Phantasiegebilden des Sexualtraums (van der Leeuw 146; —>Traum). Okkulte Erfahrungen (—»Parapsychologie) und das Erlebnis exorzistischer Heilerfolge legitimierten die Personalisierung der unbestimmten Ängste zu einem Heer dämonischer Schädiger, denen es mit wirksamen Abwehrmitteln zu begegnen galt. Der Glaube an homöopathisch - mit ihren eigenen Waffen - b e k ä m p f b a r e D ä m o n e n , wie er uns besonders in spätantiken Texten des Mittelmeerraums entgegentritt, ist ein respektabler Versuch, die Kräfte des Kosmos zu erklären und zu bewältigen. Der Dämonismus ist eine in sich logische und konsequente Kosmologie; das System antidämonischer Praktiken und Enthaltungen bezweckt Lebenssicherung mit den Mitteln vorwissenschaftlicher „ T e c h n i k " , „ M e d i z i n " und „Pharmazie". Daher ist Dämonenglaube mit —»Religion nur mittelbar verwandt. Dämonismus und Hochreligion berühren sich, wo Reinheit als Voraussetzung des Offenbarungsempfangs gilt; Priester, Beter und Propheten bekämpfen die Dämonen, deren Unreinheit der Gottheit entgegengesetzt ist. Jesu Sieg über die

274

Dämonen I

Dämonen ist theologisch relevant als Zeichen der angebrochenen Endzeit (s. u. Abschn. IV; —»Eschatologie). Eine Überwindung der Dämonenfurcht durch theologische „Aufklärung", etwa durch den Absolutheitsanspruch Jahwes im Alten Testament und im Judentum oder Jesu im Neuen Testament, muß vorläufig und partiell bleiben, solange eine rationale Weltdeutung, insbesondere eine naturwissenschaftliche Ätiologie und Therapie der Krankheit, nicht möglich ist. So bezeugen Hexen-, Juden- und Ketzerverfolgungen die Dämonenfurcht des christlichen Mittelalters ebenso wie der Gebrauch von Amuletten oder die apotropäischen Dämonenplastiken am Kirchengebäude. Erst die naturwissenschaftliche Aufklärung des 1 7 . / 1 8 . Jh. verbannt den Dämonismus in den Untergrund des Aberglaubens. (Weiteres —»Geister.) Literatur Rudolf Arbesmann, Das Fasten bei den Griechen und Römern, 1929 ( R W 21,1). - Alfred Bertholet/Carl-Martin Edsman, Art. Magie, religionsgesch. (1-6): RGG 3 4(1960) 5 9 5 - 6 0 1 . - Otto Böcher, Dämonenfurcht u. Dämonenabwehr. Ein Beitr. zur Vorgesch. der christl. Taufe, 1970 (BWANT 90). Hans Bonnet, Die Symbolik der Reinigungen im äg. Kult: Angelos 1 (1925) 1 0 3 - 1 2 1 . - T a u f i k Canaan, Dämonenglaube im Lande der Bibel, 1929 (Morgenl. 2 1 ) . - C a r s t e n Colpe/ Johann Maier/Johanna ter Vrugt-Lentz/Clemens Zintzen, Art. Geister (Dämonen) A - B : RAC 9 (1976) 5 4 6 - 6 8 8 . - Franz Cumont, Die orientalischen Religionen im röm. Heidentum, Leipzig/Berlin 1910 3 1930 (bearb. v. August Burckhardt-Brandenberg) = Darmstadt 4 1959. - Albrecht Dieterich, Abraxas. Studien zur Religionsgesch. des späteren Altertums, Leipzig 1891. — Ders., Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion, Leipzig/Berlin 1905 ' 1 9 2 5 = Darmstadt 1 9 6 7 . - E r i c Robertson Dodds, The Greeks and the Irrational, Berkeley/Los Angeles 1951; dt.: Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970. - Carl-Martin Edsman, Le baptême de feu, 1940 (ASNU 9). - Mircea Eliade, Le Chamanisme et les techniques archaiques de l'extase, Paris 1951; dt.: Schamanismus u. archaische Ekstasetechnik, Zürich/Stuttgart 1957 = Frankfurt am Main 1 9 7 5 . - E u g e n Fehrle, Die kultische Keuschheit im Altertum, 1910 = 1966 ( R W 6). - André-Jean Festugière, Études de religion grecque et hellenistique, Paris 1972 (Bibliothèque d'histoire de la philosophie). - Werner Foerster, Art. ôaipiœv xzX. : T h W N T 2 (1935) 1 - 2 1 . - Jean Gebser, Ursprung u. Gegenwart, 2 Bde., Stuttgart 1949/53 3 1971. - Gerhard Gloege, Art. Dämonen: RGG 3 2 (1958) 2 - 5 . - Johannes Haußleiter, Der Vegetarismus in der Antike, 1935 ( R W 24). - Friedrich Heiler, Erscheinungsformen u. Wesen der Religion, 1961 2 1 9 7 9 ( R M 1 ) . - J o s e p h Henninger, Art. Dämon I. Religionsgesch.: LThK 2 3 (1959) 1 3 9 - 1 4 1 . - Adalbert Kuhn, Die Herabkunft des Feuers u. des Göttertranks, Gütersloh 1859 2 1 8 8 6 . - E d w a r d Langton, Essentials of Demonology. A Study of the Jewish and Christian Doctrine, Its Origin and Development, London 1949. - Gerardus van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, 1933 2 1 9 5 6 = 4 1 9 7 7 (NTG). - Enno Littmann (Hg.), Arabische Geisterbeschwörungen aus Ägypten, 1950 (SOA 19). - Gustav Mensching, Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen u. Lebensgesetze, Stuttgart 1959. - Heinz Mode, Fabeltiere u. Dämonen. Die phantastische Welt der Mischwesen, Leipzig 1973 2 1 9 7 7 ( = Fabeltiere und Dämonen in der Kunst. 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275

Dämonen II II. Altes Testament 1. Allgemeines

1.

2. Geister und D ä m o n e n

3. A b w e h r von D ä m o n e n

(Literatur S. 2 7 7 )

Allgemeines

Der in der alttestamentlichen Literatur durchgängig vertretene Alleinigkeitsanspruch Jahwes hat die Ausbildung einer ausgeprägten Dämonologie verhindert. Dennoch muß aufgrund einzelner Hinweise in alttestamentlichen Texten und der dort verwendeten Terminologie im Vergleich vor allem mit assyrisch-babylonischen Texten damit gerechnet werden, daß die Vorstellung von der Existenz von Geistern und Dämonen in der altisraelitischen Volksfrömmigkeit fest verankert war. Geister und Dämonen als Repräsentanten der unverfügbaren bedrohlichen und damit unheimlichen Seite der Umwelt bestimmten das Verhalten des Israeliten in vielen Situationen seines Alltags, was sich in zahlreichen Riten und Bräuchen niederschlug (—»Magie). Dieses sehr komplexe Vorstellungsgebilde mit den daraus resultierenden Handlungen und Verhaltensweisen ist Ergebnis eines vielschichtigen Prozesses, in das Elemente sowohl frühisraelitisch-vorjahwistischer als auch nichtisraelitischer, vor allem kanaanäischer Herkunft eingegangen sind, deren besondere Haftpunkte nur noch in Einzelfällen rekonstruiert werden können. Der Dämonenglaube war in der israelitischen Volksfrömmigkeit so tief verwurzelt, daß er nicht ohne Einfluß auf den Jahweglauben geblieben ist, obwohl die Anerkennung anderer Mächte dem Alleinigkeitsanspruch Jahwes strikt widersprach (Ex 2 0 , 4 f f ; Dtn 18,10 ff). Die notwendige Auseinandersetzung des Jahweglaubens mit den in Israel vorhandenen dämonistischen Vorstellungen vollzog sich in recht unterschiedlicher Weise. Die den Dämonenglauben bestimmenden Aspekte des Bedrohlichen und Unheimlichen wurden in das Gottesbild integriert, so daß Jahwe selbst als Verursacher von Krankheit und Schädigung erscheint und manche ursprünglich von einem Dämon handelnde Überlieferung im Alten Testament als Jahweüberlieferung begegnet (Gen 3 2 , 2 3 - 3 3 ; Ex 4,24—26). Die gleichen Aspekte konnten auch auf Jahwe untergeordnete „Wesen" (—»Engel, —>Geist) bezogen werden (Ex 12,23; Jdc 9 , 2 3 ; 1 Sam 16,14; vgl. 18,10; I Reg 2 2 , 1 9 - 2 2 ) . Auf dem Wege der Uminterpretation wurden außerdem ursprünglich apotropäischen Riten und Bräuchen neue Funktionen beigegeben (z. B. —»Opfer, —»Reinheit, —»Beschneidung). Schließlich läßt die gemeinsame Erwähnung von Tieren und Dämonen an wenigen Stellen des Alten Testaments (Jes 13,21 f; 3 4 , 1 4 f) einen gewissen Ubergang von der einfachen Aufnahme dämonistischer Vorstellungen (theriomorphe Dämonen) zu ihrer Verwendung im übertragenen Sinn als Tiermetaphorik erkennen (Entmythologisierung?); ein Vorgang, der für andere Bereiche (Krankheitsdämonen - Krankheiten) wenigstens nicht ausgeschlossen werden kann. Dieser Umgang des Jahweglaubens mit dem Dämonenglauben hat zur Folge, daß entsprechende Vorstellungen in alttestamentlichen Texten selten explizit bezeugt sind und häufig unklar bleibt, welches Gewicht ihnen zukommt. So hat die Bedeutung des Dämonenglaubens für das Alte Testament in der Forschung recht unterschiedliche Einschätzung erfahren (vgl. z. B. die Auseinandersetzung Kaupeis mit Duhm, Jirku und Mowinckel oder die Beurteilung der Feinde in den —»Klageliedern). 2. Geister

und

Dämonen

Die Namen und Bezeichnungen der im Alten Testament erwähnten bzw. zu vermutenden Dämonen machen die Komplexität des gesamten Vorstellungsbereichs deutlich. So sind Dämonen vertreten, deren Namen in Israels Umwelt als Götter- bzw. Dämonennamen belegt sind, was entweder auf fließende Ubergänge zwischen Dämonen und niederen Gottheiten, z. B. in Mesopotamien, oder aber auch auf die Degradierung nichtisraelitischer Gottheiten zu Dämonen im Bereich des Jahweglaubens zurückzuführen ist. Daneben finden sich Bezeichnungen, die sich aus der engen Verbindung von Dämonen und Tieren erklären, und schließlich solche, die die Funktion bestimmter Dämonen umschreiben. Im einzelnen handelt es sich um folgende: sedtm (Dtn 3 2 , 1 7 ; Ps 1 0 6 , 3 7 ; cj.? Ps 9 1 , 6 ) : Diesen D ä m o n e n sollen Opfer dargebracht worden

D ä m o n e n II

276

sein; sie sind also als niedere Gottheiten verstanden worden, ähnlich dem babylonisch-assyrischen sedu, der sowohl als Dämon als auch als Schutzgottheit begegnet. Ulit (Jes 34,14; cj. Ps 91,5; Hi 18,15): Identisch mit dem weiblichen babylonischen Sturmdämon lilitu;lilit haust in der Steppe; wegen der Verwandtschaft ihres Namens mit dem hebr. lajlä [Nacht] auch als „Nachtgespenst" verstanden. raeseep (Dtn 32,24; H a b 3,5; Ps 78,48; Hi 5,7?; Cant 8,6?): Die vor allem im nordwestsemitischen R a u m verehrte chthonische Gottheit Resep erscheint im Alten Testament als Jahwe bei seiner Theophanie begleitender, Krankheit und Zerstörung verbreitender Dämon, und zwar gemeinsam mit qteueb (Dtn 32,24) und dcebxr (Hab 3,5). qcetccb [Seuche?] (Dtn 32,24; Jes 28,2; Hos 13,14; Ps 91,6): Ein Krankheit und Tod bewirkender D ä m o n ; vielleicht mit der westsemitischen Göttin Qatiba (s. Caquot) in Z u s a m m e n h a n g zu sehen. dcEb&r [Pest] (Hos 13,14; H a b 3,5; cj. Jes 28,2; cj. Ps 78,48): Ein todbringende Krankheiten verbreitender Unterweltsdämon, der als solcher nur noch erkennbar ist, weil er entweder mit rasscEp oder qastaeb gemeinsam erwähnt wird. An ihm wird die entmythologisierende Tendenz des Alten Testaments am stärksten deutlich. ca za'zel (Lev 16,8.10.26): Ein Wüstendämon, der nach dem Ritual des Versöhnungstages (—»Feste und Feiertage) als Empfänger des Sündenbocks gilt. secirim [Haarige] (Lev 17,7; II Reg 23,8; Jes 13,21; 34,14; II Chr 11,15): Wahrscheinlich bocksgestaltig vorgestellte Wüstendämonen, denen ähnlich den sedim Opfer dargebracht worden sein sollen; auch Priester und ein Heiligtum sind im Z u s a m m e n h a n g mit ihnen erwähnt. sijjim und 'ijjim (Jes 13,21 f; 34,14; Jer 50,39; Ps 72,9): Wüstendämonen, die gemeinsam mit Steppentieren ( = theriomorphe Dämonen?) erwähnt werden. theriomorphe Dämonen: Den Menschen bedrohende und gefährdende Tiere galten nicht selten als Verkörperungen dämonischer Wesen; mit einiger Wahrscheinlichkeit gilt das für die „Schlange" (Gen 3; N u m 2 1 , 4 - 9 ; Jer 8,17; Ps 58,5; Koh 10,11), den „ H u n d " (Ps 22,17.21; 59,7.15 f), den „ L ö w e n " (Ps 22,14.22; 91,13), den „Stier" (Ps 22,13.22) und den „Blutegel" (?) (Prov 30,15). (Zu Leviathan, R a h a b und Tannim —»Mythos/Mythologie.) Toten- und Unterweltgeister: Verbreitet war die Vorstellung von den die Unterwelt bevölkernden Totengeistern, den repa'im [den Schwachen] (Jes 14,9; 26,14.19; Ps 88,11; Hi 26,5; Prov 2,18; 9,18; 21,16), die jedoch keinen Einfluß auf die Welt der Lebenden hatten. Im Z u s a m m e n h a n g mit der seltener bezeugten Totenbefragung begegnen als Bezeichnung für die Totengeister die Ausdrücke "*lohim (I Sam 28; Jes 8,19), "*lilim (Jes 19,3) und 'ittim (Jes 19,3). Unklar bleiben die im gleichen Kpntext gebrauchten Ausdrücke 'öb und jidd'onim, die sowohl als Totengeister als auch als Totenbeschwörer oder Beschwörungsrequisiten verstanden wurden. Weitere Einzelheiten —»Tod.

3. Abwehr

von

Dämonen

D e r w e i t e n V e r b r e i t u n g u n d V i e l g e s t a l t i g k e i t des D ä m o n e n g l a u b e n s d e r i s r a e l i t i s c h e n V o l k s f r ö m m i g k e i t entspricht die Vielfalt a p o t r o p ä i s c h e r Riten. Z a h l r e i c h e kultische Bräuche, v o r allem O p f e r - u n d R e i n h e i t s b e s t i m m u n g e n , g e h e n auf a n t i d ä m o n i s t i s c h e H a n d l u n gen zurück. D u r c h N e u i n t e r p r e t a t i o n oder U n t e r d r ü c k u n g ihrer eigentlichen F u n k t i o n e n s i n d sie a l l e r d i n g s m e i s t s o u m g e s t a l t e t w o r d e n , d a ß i h r e u r s p r ü n g l i c h e B e d e u t u n g n u r n o c h selten rekonstruiert w e r d e n k a n n . Uber d u r c h religionsvergleichende U n t e r s u c h u n g e n m e h r o d e r w e n i g e r g u t g e s t ü t z t e V e r m u t u n g e n k o m m t m a n in vielen F ä l l e n n i c h t h i n a u s . Eine wichtige Rolle zur A b w e h r von D ä m o n e n spielten B e s c h w ö r u n g u n d B a n n u n g . N e b e n d e r e i n f a c h e n E r w ä h n u n g d e r B e s c h w ö r u n g d e r s c h l a n g e n g e s t a l t i g e n D ä m o n e n (Jer 8 , 1 7 ; Ps 5 8 , 5 ; K o h 1 0 , 1 1 ) f i n d e n sich H i n w e i s e a u f d i e A n f e r t i g u n g v o n B i l d e r n ( N u m 2 1 , 8 f; I S a m 6 , 1 - 1 2 ) , a u f d i e M u s i k (I S a m 1 6 , 1 4 ff) u n d a u f die V o r s t e l l u n g , d a ß d i e K e n n t nis d e s N a m e n s e i n e s D ä m o n s M a c h t ü b e r i h n v e r l e i h t ( G e n 3 2 , 3 0 ) . A p o t r o p ä i s c h e F u n k t i o n w u r d e a u c h d e m —»Blut z u g e s c h r i e b e n : B e s t r e i c h e n d e r T ü r p f o s t e n m i t B l u t (Ex 1 2 , 7 . 1 3 . 2 2 f); B e s c h n e i d u n g s b l u t (Ex 4 , 2 4 f f ) . G e g e n D ä m o n e n , die sich m i t V o r l i e b e in verl a s s e n e n u n d z e r s t ö r t e n S i e d l u n g e n a u f h a l t e n , s c h ü t z t m a n sich d u r c h P f e i f e n , S c h ü t t e l n v o n H a u p t u n d H a n d u n d H ä n d e k l a t s c h e n (I R e g 9 , 8 ; J e r 1 9 , 8 ; 2 5 , 9 . 1 8 ; 2 9 , 1 8 ; 4 9 , 1 7 ; 5 0 , 1 3 ; 5 1 , 3 7 ; Z e p h 2 , 1 3 - 1 5 ; T h r 2 , 1 5 ) . Schließlich s i n d A m u l e t t e als A b w e h r m i t t e l v e r w e n d e t w o r d e n . I m A l t e n T e s t a m e n t selten e r w ä h n t ( Q u a s t e n a m M a n t e l : D t n 2 2 , 1 2 , m i t n e u e r F u n k t i o n : N u m 1 5 , 3 7 - 4 0 ; a s t r a l e A m u l e t t e : J d c 8 , 2 1 . 2 6 ; Jes 3 , 1 8 . 2 0 ; O h r r i n g e ? : G e n 3 5 , 4 ; Ex 3 2 , 3 ) b z w . n i c h t m e h r als s o l c h e e r k e n n b a r , sind sie d u r c h a r c h ä o l o g i s c h e F u n d e f ü r d i e Eisenzeit P a l ä s t i n a s reichlich b e l e g t (s. B R L 2 ) .

Dämonen III

277

Literatur Karl B e t h , El u. N e t e r : Z A W 3 6 ( 1 9 1 6 ) 1 2 9 - 1 8 6 . - O t t o B ö c h e r , s. o. A b s c h n . I ( L i t . ) . - T a u f i k C a n a a n , s. o . A b s c h n . I. - A n d r é C a q u o t , S u r q u e l q u e s d é m o n s de T A T ( R e s h e p , Q e t e b , D e b e r ) : S e m . 6 ( 1 9 5 6 ) 5 3 - 6 8 . - T . W i t t o n D a v i e s , M a g i c , D i v i n a t i o n , a n d D e m o n o l o g y a m o n g t h e H e b r e w s and t h e i r N e i g h b o u r s , 1 8 9 8 = N e w Y o r k 1 9 6 9 . - J o h n D a y , N e w L i g h t o n the M y t h o l o g i c a l B a c k g r o u n d o f t h e Allusion t o R e s h e p h in H a b b a k u k III.5 : V T 2 9 ( 1 9 7 9 ) 3 5 3 - 3 5 5 . - M a n f r e d D i e t r i c h / O s w a l d L o r e t z / J . S a n m a r t i n A s c a s o , D i e u g a r i t i s c h e n T o t e n g e i s t e r R p u ( m ) u n d die b i b l i s c h e n R e p h a i m : U F 8 ( 1 9 7 6 ) 4 5 - 5 2 . - H a n s D u h m , D i e b ö s e n G e i s t e r im A T , T ü b i n g e n / L e i p z i g 1 9 0 4 . - W e r n e r F o e r s t e r , s. o . A b s c h n . 1. - J e a n d e F r a i n e , L e „ d é m o n du m i d i " (Ps 9 1 [ 9 0 ] , 6 ) : B i b . 4 0 ( 1 9 5 9 ) 3 7 2 - 3 8 3 . - W i l l i a m J . F u l c o , T h e C a n a a n i t e G o d R e s e p , 1 9 7 6 ( A O S Essay 8 ) . - T h e o d o r e H . G a s t e r , A r t . D e m o n , D e m o n o l o gy: I D B 1 ( 1 9 6 2 ) 8 1 7 - 8 2 4 . - F r i e d r i c h H e i t m ü l l e r , Engel u. D ä m o n e n , H a m b u r g 1 9 4 8 . - M a r i a n o H e r r a n z , D e m o n o l o g i a de A . T . L o s s e d i m : E s t B 2 7 ( 1 9 6 8 ) 3 0 1 - 3 1 3 . - W i l l i a m J . H o r w i t z , T h e S i g n i f i c a n c e o f the R e p h a i m , r m . a b y . b t k . r p i m : J N W S L 7 ( 1 9 7 9 ) 3 7 - 4 3 . - A n t o n J i r k u , D i e D ä m o n e n u. ihre A b w e h r im A T , L e i p z i g 1 9 1 2 = d e r s . , V o n J e r u s a l e m n a c h U g a r i t , G r a z 1 9 6 6 , 1 - 1 0 7 . - H e i n r i c h K a u p e l , D i e D ä m o n e n im A T , A u g s b u r g 1 9 3 0 . - S i m o n L a n d e r s d o r f e r , D a s „ d a e m o n i u m m e r i d i a n u m " : B Z 18 ( 1 9 2 9 ) 2 9 4 - 3 0 0 . - E d w a r d L a n g t o n , s. o . A b s c h n . I. - S i g m u n d M o w i n c k e l , P s a l m e n s t u d i e n . I. Ä w ä n u. die i n d i v i d u e l l e n K l a g e p s a l m e n , O s l o 1 9 2 1 = A m s t e r d a m 1 9 6 1 . - N i c o l a j N i c o l s k y , S p u r e n m a g i s c h e r F o r m e l n in den P s a l m e n , 1 9 2 7 ( B Z A W 4 9 ) . - W i l l i a m O s c a r E m i l O e s t e r l e y , T h e B e l i e f in Angels a n d D e m o n s : J a C 1 ( 1 9 3 7 ) 1 9 1 - 2 0 9 = N e w Y o r k 1 9 6 9 . - D e r s . , T h e D e m o n o l o g y o f the O T . Illustrateci by P s a l m X C 1 : E x p . 7 . S e r . 4 ( 1 9 0 7 ) 1 3 2 - 1 5 1 . - S e r g i o R i b i c h i n i / P a o l o X e l l a : M i l k A s t a r t , m l k ( m ) e la t r a d i z i o n e s i r o p a l e s t i n e s e sui R e f a i m : R S F e n 7 ( 1 9 7 9 ) 1 4 5 - 1 5 8 . - Paul V o l z , D a s D ä m o n i s c h e in Jahwe, 1 9 2 4 (SGV 110). - Hermann Vorländer, Mein Gott, 1 9 7 5 ( A O A T 23). - Ludwig Wächter, Der T o d im A T , B e r l i n 1 9 6 7 . - J u l i u s W e l l h a u s e n , R e s t e a r a b . H e i d e n t u m s , 1 8 8 7 2 1 8 9 7 = 1 9 2 7 = Berlin 1 9 6 1 . - H e r m a n Wohlstein, Zur T i e r - D ä m o n o l o g i e der Bibel: Z D M G 1 1 3 ( 1 9 6 3 ) 4 8 3 - 4 9 2 .

Gunther W a n k e III. Judentum 1. Z w i s c h e n t e s t a m e n t l i c h e Z e i t 4. Spätere Entwicklung

2. Rabbinische Literatur

3. Archäologische

Zeugnisse

( L i t e r a t u r S. 2 7 9 )

1. Zwischentestamentliche

Zeit

Die innere Entwicklung des J u d e n t u m s wie auch äußere, v. a. persische und ägyptische Einflüsse führen in nachalttestamentlicher Zeit zu im Vergleich zur Bibel viel ausgeprägteren Dämonenvorstellungen. Diese bestimmen v. a. die —>Apokalyptik, die Welt und Geschichte weithin dämonisiert und die D ä m o n e n dualistisch G o t t und seinen Scharen gegenüberstellt (z. B. ä t h H e n 1 9 ; J u b 1 0 , 1 ff; 2 2 , 1 7 ; 1 Q S 3 , 2 1 ff); sie sind aber auch sonst überall zu finden. Die Vorstellungen sind nicht einheitlich. Nicht immer ist deutlich, o b einfach die bösen Neigungen im M e n s c h e n personifiziert werden (so T e s t R u b 3) oder persönliche böse Geister gemeint sind. Vielfach werden die D ä m o n e n mit den gefallenen —»Engeln (Gen 6) verbunden bzw. mit deren N a c h k o m m e n aus dem Umgang mit M e n s c h e n f r a u e n ( z . B . ä t h H e n 15); nach anderer Vorstellung sind sie direkt von G o t t ( 1 Q S 3 , 2 5 ) und zwar als secunda factura (LibAnt 6 0 , 2 ) nach dem M e n s c h e n , erschaffen. Die D ä m o n e n sind oft Elementar- und Gestirnsgeister, wirken jedoch v. a. im M e n s c h e n zum Bösen, verführen zu Zauberei (—»Magie) und —»Astrologie, verleiten zum Götzendienst und stehen mit den —»Krankheiten in Verbindung, weshalb sie auch die Heilmittel kennen ( J u b 1 0 , 1 2 f; ä t h H e n 6—8). Auf sie wartet das endzeitliche —»Gericht (z. B. äthHen 1 6 , 2 ) , bzw. sie gehen im endzeitlichen Krieg unter (1 Q M 1). In der Zwischenzeit versucht der M e n s c h , sie durch verschiedene Mittel abzuwehren: A s c h m o d a i wird durch den Rauch von Fischleber und -galle bis nach Ägypten vertrieben, w o ihn der Engel bindet ( T o b 8 , 2 - 3 ) . Neben diesem magischen —»Exorzismus gibt es D ä m o n e n a u s t r e i b u n g e n durch —»Gebet und Handauflegung (Abraham in 1 Q G e n A p 2 0 ) oder durch den G e s a n g wirksamer Psalmen (LibAnt 6 0 befreit David auf diese Art Saul). Bes o n d e r e M a c h t hat —»Salomo, der Kenner der Geister (Weish 7 , 2 0 ) , der durch Exorzismus K r a n k e heilen kann und in dessen N a m e n man auch zur Z e i t des Josephus Flavius exorziert (Ant V I I I , 4 5 - 4 9 ) . E b e n s o vertraut man auf Amulette: II M a k k 1 2 , 4 0 schreibt den T o d vieler J u d e n in der S c h l a c h t dem Tragen von „Amuletten der G ö t t e r von J a m n i a " zu, verurteilt a b e r nicht das Tragen von Amuletten an sich.

278

Dämonen III

2. Rabbinische

Literatur

In tannaitischen Texten nur vereinzelt belegt und auch im palästinischen Talmud unbedeutend, ist der Dämonenglaube in den Midraschim und v. a. im babylonischen Talmud sehr verbreitet. Zahlreiche Dämonenklassen werden genannt (bGit 68 a: 3 0 0 Arten von Dämonen), v. a. ruchot, scbedim und mazziqim [Schadensgeister]; daneben gibt es aber auch Geister, die dem Menschen dienen (bChul 105 b). Die Vorstellungen über die Herkunft der Dämonen bleiben weiterhin uneinheitlich — Erschaffung durch Gott, Zeugung durch Adam, Abkunft von den gefallenen Engeln usw. Die ihrer Natur nach zwischen Mensch und Engel stehenden Dämonen (bChag 16a) umgeben den Menschen in großer Zahl; als Aufenthalt bevorzugen sie öde und schmutzige Gegenden, Friedhöfe, Ruinen und Aborte, Wasser, aber auch Bäume, v. a. Palmen. Mit Vorliebe greifen sie nachts an, verursachen Krankheiten und rauben, was nicht gebunden und versiegelt ist. Lilit (schon Jes 34,14) wird nun besonders wichtig. Als succubus nähert sie sich dem Menschen, um sich fortzupflanzen (analog der männliche Lili als incubus). In Eifersucht gefährdet sie v. a. Frauen in ihren kritischen Zeiten (Defloration, Menstruation, Geburt), aber auch deren Kinder. Die Abwehr der Dämonen erfolgt in diesen Texten selten durch Exorzismen (bMeila 17b); als wirkmächtig propagiert werden Torastudium und Gebet (bQid 2 9 b); es helfen auch Tefillin (darauf weist der griech. NameAaxr?7£>ta) und Mezuzot. V. a. aber werden verschiedene magische Mittel, Zaubersprüche (bPes l i l a ) und Amulette empfohlen, die v. a. Frauen, Kinder und Tiere schützen, vor Tollwut bewahren und Krankheiten heilen bzw. fernhalten (bGit 69 a; bShab 6 6 b — 6 7 a ) . Macht über Dämonen wird v. a. auch Salomo zugeschrieben (bGit 68 a—b Legende vom Tempelbau), aber auch den Psalmen Davids, von denen v. a. Ps 3 und 91 geeignet sind, Dämonen zu vertreiben (MidrPs 91 bietet viel Stoff über Dämonen). 3. Archäologische

Zeugnisse

Eine wichtige Ergänzung der rabbinischen Texte für die Diaspora und auch Babylonien sind griechische und koptische Zauberpapyri aus Ägypten, die zum Teil von Juden stammen bzw. jüdisches Material verarbeiten; jüdisch ist wohl auch die Inschrift auf einer Bleitafel aus einem Grab in Hadrumetum (3. Jh.), welche Dämonen abwehren soll. Dazu kommen zahlreiche Amulette und die in Babylonien gefundenen Zauberschalen ( 3 . - 7 . Jh., bisher fast 8 0 veröffentlicht). Mehrere dieser in Häusern gefundenen Schalen, deren aramäische Aufschriften gegen alle möglichen Dämonen gerichtet sind, enthalten einen formgerechten Scheidebrief an Lilit, wobei R. Jehoschua ben Perachja als Notar fungiert. Lilits, Lilis, kopflose Dämonen und solche mit Schlangenfüßen werden auch bildlich dargestellt. Beliebt ist auch das Bild eines Reiters, der mit der Lanze gegen eine liegende weibliche Gestalt angeht (Salomo gegen Lilit?, Goodenough II, 2 2 7 f f ) . Der synkretistische Charakter des volkstümlichen Dämonenglaubens wird in diesen Zeugnissen besonders deutlich. 4. Spätere

Entwicklung

Auch nach der rabbinischen Zeit lebt der Dämonenglaube weiter und entwickelt sich. Die Leugnung der Dämonen durch —»Mose ben Maimon ist eine Ausnahme. Besonders die —»Kabbala sucht das rabbinische Erbe, bereichert durch islamische wie christliche Vorstellungen, in ein System zu bringen. Die spanische Kabbala hat die Dämonen vielfach in die Emanationenreihe der Sefirot eingebaut und als unterste Stufe der linken Reihe betrachtet. Lilit, nunmehr ein Paar mit Samael, ist noch immer die wichtigste Gestalt der Dämonenwelt, deren sexuellen Aspekt man besonders betont (succubi und incubi)\ die Möglichkeit, daß eine Frau das Kind eines incubus gebiert, wird auch halachisch diskutiert. Die Dämonen und ihre von Menschen gezeugten Kinder gefährden den Menschen besonders an den Wendepunkten des Lebens, Geburt und Beschneidung, Ehe und Tod. Als Schutz gegen sie entwikkelt man zahlreiche Rezepte (z. B. im Sefer Chasidim, der auch viele im deutschen Raum verbreitete Anschauungen aufgenommen hat). Ein regional verschiedenes Brauchtum verwendet z. B. Mezuzot, auf deren Rückseite man dämonenabwehrende Worte und Zeichen

Dämonen IV

279

s c h r e i b t , T i e r k r e i s z e i c h e n auf B e s c h n e i d u n g s s c h ü s s e l u n d - w i n d e l , d e n Kreis, d e n m a n u m d a s Bett d e r G e b ä r e n d e n w i e a u c h u m d e n S a r g b e i m B e g r ä b n i s z i e h t , jegliche F o r m v o n A m u l e t t e n u n d B e s c h w ö r u n g s f o r m e l n (z. B. im Sefer Raziel, e i n e r 1 7 0 1 in A m s t e r d a m ged r u c k t e n K o m p i l a t i o n , d i e a b e r z u m Teil altes M a t e r i a l v e r w e n d e t ) u s w . , alles F o r m e n , d i e vielfach bis in d i e j ü n g s t e V e r g a n g e n h e i t n a c h w i r k t e n o d e r s o g a r h e u t e n o c h in Ü b u n g s i n d . Literatur Bill. IV/1, 501 - 5 3 5 . - Ludwig Blau, Das altjüd. Zauberwesen, Budapest 1898 = Westmead 1970. - Erwin R. Goodenough, Jewish Symbols in the Greco-Roman Period, New York, II 1953, 1 5 3 - 2 9 5 . Charles D. Isbell, Corpus of the Aramaic Incantation Bowls, Missoula 1975. - Walter Kirchschläger, Exorzismus in Qumran?: Kairos 18 (1976) 1 3 5 - 1 5 3 . - J o h a n n Maier, Art. Geister (Dämonen): RAC 9 (1976) 6 2 6 - 6 4 0 . 6 6 8 - 6 8 8 . - Jacob Neusner, A History of the Jews in Babylonia, 1966/69 (StPB 11.14) II, 2 1 7 - 2 4 3 ; IV 3 3 4 - 3 4 1 . - Jens-Heinrich Niggemayer, Beschwörungsformeln aus dem „Buch der Geheimnisse", Hildesheim 1975 (Judaistische Texte u. Studien 3). - Gerschom Scholem, Ursprung u. Anfänge der Kabbala, 1962 (SJ 3). - Ders., Art. Demons, Demonology (In Kabbalah): EJ 5 (1971) 1 5 2 8 - 1 5 3 3 . - J. Schrire, Hebrew Amulets, London 1966. - Joshua Trachtenberg, Jewish Magic and Superstition, New York 1939 = 1970. Günter Stemberger

IV. N e u e s T e s t a m e n t 1. Allgemeines 2. D ä m o n e n f u r c h t im Neuen Testament 3. Der Sieg über die Dämonen Sieg über den Dämonismus 5. Zusammenfassung (Literatur S. 286) 1.

4. Der

Allgemeines

D i e D ä m o n o l o g i e d e s N e u e n T e s t a m e n t s ist d i e j e n i g e d e s a n t i k e n J u d e n t u m s ( s . o . A b s c h n . III). A u s d e r b u n t e n F ü l l e g u t e r u n d b ö s e r M ä c h t e d e r a l t i s r a e l i t i s c h e n V o l k s f r ö m m i g k e i t ist ein w o h l g e o r d n e t e s , d u a l i s t i s c h e s S y s t e m g e w o r d e n , d a s v o n d e n A u t o r e n des N e u e n T e s t a m e n t s w e i t e s t g e h e n d ü b e r n o m m e n w u r d e (zu U m d e u t u n g u n d p a r t i e l l e r U b e r w i n d u n g s . u . A b s c h n . 4 ) . Als G e g e n s p i e l e r s t e h e n sich d e r E r z e n g e l M i c h a e l ( J u d 9 ; vgl. I T h e s s 4 , 1 6 ) m i t s e i n e n —»Engeln u n d d e r —»Teufel m i t s e i n e n D ä m o n e n g e g e n ü b e r ( A p k 1 2 , 7 ; vgl. e t w a 1 Q S 3 , 1 9 - 2 5 ; 1 Q M 1 3 , 1 0 - 1 2 ) . Aus der altjüdischen Dämonologie stammen auch die neutestamentlichen Bezeichnungen des Teufels und seiner bösen Geister. Oberster Fürst der Dämonen (Mt 25,41; Apk 12,7.9) und Herr etwa der Krankheitsgeister (Act 10,38; vgl. II Kor 1 2 , 7 - 9 ) und des Todes (Hebr 2,14; vgl. Apk 20,10.13 f) ist der Teufel, Satan oder Beliar, einer seiner dämonischen Untergebenen Beelzebul (s.u. Abschn. 2.3). Als „der Böse" schlechthin (Mt 6,13; Joh 17,15; Eph 6,16; I Joh 2,13 f u.ö.) ist der Teufel der „Feind" (Mt 13,25.39; Lk 10,19; vgl. Act 13,10) und „Fürst der (bzw. dieser) Welt" (Joh 12,31; 14,30; 16,11; vgl. M k 3,22 par.; Eph 2,2). Wie die Engelmächte der Gegenseite (Mt 26,53; vgl. Lk 2,13) sind auch die dem Teufel unterstehenden Dämonen als Krieger vorgestellt (Mk 5,9.15 par. Lk 8,30). H ä u f i g werden die Schadensgeister a l s ö a i f i ö v i a bezeichnet (Mk 1 , 2 3 - 2 8 par. L k 4 , 3 3 - 3 7 ; M k 1 , 3 2 - 3 4 par.; M k 1,39; 3 , 2 2 . 2 3 - 2 7 p a r . u.ö.), nur einmal als d a i f i o v ^ (Mt 8,31). Da das antike Judentum dämonische Gefährdung als Unreinheitqualifiziert (Belege: Bill. I V / 1 , 5 0 3 f), heißen die D ä m o n e n auch im Neuen Testament „unreine Geister" (nvevuara axadagra, M t 10,1 par. M k 6 , 7 ; M t 12,43 par. Lk 11,24; M k 1,23.26 par. Lk 4,33; M k 3,11; Act 5,16; 8,7; Apk 16,13 f; 18,2 u.ö.). Dämonische Mächte sind auch die „bösen Geister" (nvevfiara 7iovt]ßä, M t 12,45 par. Lk 11,26; Lk 7,21; 8,2; Act 1 9 , 1 2 f . l 5 f ) und die Engel des Teufels bzw. des Satans und des Drachen (Mt 25,41; II Kor 12,7; II Petr 2,4; Jud 6; Apk 9,11; 12,7.9); sie sind subsumiert unter die - offenbar auch gute Mächte umfassenden - Engel, Mächte und Gewalten, T h r o n e und Herrschaften (Rom 8,38; 1 3 , 1 - 3 ; Kol 1,16; vgl. Eph 1,21; 3,10; 6,12). 2 . Dämonenfurcht

im Neuen

Testament

2.1. Die Herkunft der Dämonen. N i c h t a n d e r s als d i e T e x t e d e s a p o k a l y p t i s c h e n J u d e n t u m s f ü h r t auch das N e u e T e s t a m e n t die D ä m o n e n z u r ü c k auf den sexuellen Fehltritt der Himmlischen u n d ihre Bestrafung (nach Gen 6 , 1 - 4 ) . „ W e g e n der Engel" empfiehlt Paulus d e n F r a u e n die K o p f b e d e c k u n g o d e r H a a r t r a c h t d e r i^ovaia (I K o r 1 1 , 1 0 ) ; sie s c h ü t z t i h r e Trägerinnen vor der sexuellen Begehrlichkeit der „ E n g e l " von Gen 6,2. Jesus predigt den

280

Dämonen IV

Geistern tv cpvXaxij (I Petr 3,19), d.h. den gefallenen Gottessöhnen von Gen 6 , 1 - 4 und ihren dämonischen Nachkommen, welche die Sintflut verschuldet haben (vgl. I Petr 3 , 2 0 ) und zufolge Jub 1 0 , 5 - 1 1 ; äthHen 6 - 1 1 ; 1 5 , 3 - 1 2 u.ö. in Haft gehalten werden (Reicke 7 9 f . 9 0 f ) . Von vorläufiger Bestrafung und Gefangenschaft der „Engel" von Gen 6 handelt auch Jud 6par. II Petr 2,4. Da nach äthHen 18,13 f; 86,1.3 die gestürzten Engel Sterngestalt besitzen, gehört hierher auch die Bezeichnung der - dämonischen - Irrlehrer als aatigeq 7iXavfjrat(Jud 13; vgl. das Henochzitat Jud 14f), desgleichen der Sturz dämonischer Sterne (Apk 8 , 1 0 f ; 9 , 1 - 1 1 ; 12,4; vgl. Lk 10,18; Joh 12,31; Apk 1 2 , 7 - 9 ) . 2.2. Ort und Zeit der Dämonen. Als Wohnorte der Dämonen gelten zunächst einmal, wie noch im heutigen Aberglauben, diejenigen Stätten, die man als unheimlich oder gefährlich empfindet und die der antike Mensch als unrein qualifiziert: Wüste (Lk 8,29; M t 12,43 par. Lk 11,24; vgl. M k l , 1 2 f p a r . ) , Ruinen (Apk 18,2) und Gräber (Mt 8,28 par. M k 5 , 2 ; M k 5,3 par. Lk 8 , 2 7 b ; M k 5,5). Das Gefängnis der widergöttlichen Mächte ist der Abgrund (aßvoaog), wo die Dämonen unter Verschluß gehalten (Lk 8,31; Apk 9,1; 2 0 , 1 - 3 ; vgl. Rom 10,7) und von Abaddon-Apollyon regiert werden (Apk 9,11); aus ihm steigen dämonische Tiere herauf (Apk 9 , 2 f ; 11,7; 17,8; vgl. Apk 13,1.11). Entsprechend der Ambivalenz des Numinosen (—»Heiligkeit) werden die Dämonen auch in den

Elementen

lokalisiert. Feuer ist Strafmittel des Gotteszorns (Apk 2 0 , 9 ; vgl. Lk 9,54) und als solches

weitgehend in die Hände strafender D ä m o n e n , der „Feuerengel", gelegt (Apk 1 4 , 1 8 ; 16,8 f; vgl. 1 0 , 1 ; 11,5). Auch das dämonische „zweite T i e r " verfügt über wunderhaftes Feuer (Apk 1 3 , 1 3 ) ; ein feuriger Krankheitsdämon ist das Fieber (jivQETÖg; Lk 4 , 3 9 : imxifiäv). Den besessenen Knaben wirft der Dämon in Feuer und Wasser, um ihn zu vernichten ( M k 9 , 2 2 ; vgl. M t 1 7 , 1 5 ) . Das Wasser ist das Element der Dämonen (Apk 1 2 , 1 5 f ; 1 3 , 1 ; vgl. M k 5 , 1 1 - 1 3 par.). Wind und Meer „gehorchen" Jesus ( M k 4 , 3 9 - 4 1 par.); das M e e r , dessen Rauschen zu den Schrecken der Endzeit gehört (Lk 2 1 , 2 5 b), wird schließlich entmachtet (Apk 2 0 , 1 3 ) und vernichtet (Apk 2 1 , 1 ) . Der Teufel regiert die M a c h t der Luft (Eph 2 , 2 ) ; in den himmlischen Regionen hausen seine bösen Geister (Eph 6 , 1 2 ) . Auch aus der Erdewie aus dem Wasser (Apk 13,1) - steigen dämonische Wesen auf (Apk 1 3 , 1 1 ) . Zu den von D ä m o n e n bevorzugten Stätten der Erde gehört die Wüste, deren Gefahren (II K o r 1 1 , 2 6 ) auf übersinnliche M ä c h t e zurückgeführt werden ( M k 1 , 1 2 f par.; M t 1 2 , 4 3 par. Lk 1 1 , 2 4 ; Lk 8 , 2 9 ) . Ähnliche Wertung erfährt der Berg (vgl. M t 4 , 8 ; M k 5 , 5 ) ; am mythischen Weltenberg H a r M a g e d o n sammeln sich die dämonischen M ä c h t e zum Entscheidungskampf der Endzeit (Apk 1 6 , 1 4 . 1 6 ; vgl. Apk 1 9 , 1 9 - 2 1 ) . Ambivalent wie der heilige O r t ist auch die heilige Zeit. Die Nacht ist nicht nur die Zeit göttlicher Offenbarungen, sondern auch des Wirkens böser Geistmächte wie des Todesengels (Lk 1 2 , 2 0 ; vgl. Act 2 0 , 7 - 9 ) oder der Urheber des nächtlichen Mißerfolgs der Fischer (Lk 5 , 5 - 7 ; J o h 2 1 , 3 - 6 ) . In der Nacht wird Jesus verraten (Joh 1 3 , 3 0 ; I Kor 1 1 , 2 3 ) , gefangengenommen (vgl. Lk 2 2 , 5 3 ) und verleugnet ( M t 2 6 , 3 1 ; 2 6 , 3 4 par. M k 1 4 , 3 0 ) . Gottes strafende Dämonen bringen die Finsternis (Apk 1 6 , 1 0 ) ; die Irrlehrer und Frevler wirken in nächtlichem Dunkel (vgl. R o m 1 3 , 1 2 ; I Thess 5 , 5 . 7 f ; II Petr 1 , 1 9 ) . Erst in der Endzeit wird es keine N a c h t mehr geben (Apk 2 1 , 2 5 ; 2 2 , 5 ) .

2.3. Die Individualität der Dämonen. Sofern die bösen Geister körperliche Gestalt annehmen, ist diese zunächst, nicht anders als bei den Engeln (vgl. Act 12,15), die Menschengestalt; die Gespensterfurcht bei Erscheinungen Jesu oder von Engeln wird zerstreut durch den Zuruf „Fürchte dich nicht" bzw. „Fürchtet euch nicht" (Mt 14,27 par. Mk 6,50 par. Joh 6 , 2 0 ; M t 17,7; 28,5 par. M k 16,6 u.ö.). Vor allem aber gelten Raubtiere und giftige oder sonst gefährliche Tiere als Verkörperungen dämonischer Mächte (Mk 1,13; Apk 6 , 8 ; 11,7; 1 3 , 1 . 1 1 ; 1 4 , 9 . 1 1 ; 15,2; 17,3.8). Im einzelnen werden genannt: L ö w e (I Petr 5 , 8 ; vgl. II T i m 4 , 1 7 ; Hebr 1 1 , 3 3 ; Apk 9 , 8 . 1 7 ) , W o l f ( M t 7 , 1 5 ; 1 0 , 1 6 par. Lk 1 0 , 3 ; J o h 1 0 , 1 2 ; Act 2 0 , 2 9 ) , Hund ( M t 7 , 6 ; Phil 3 , 2 ; II Petr 2 , 2 2 ; Apk 2 2 , 1 5 ; vgl. M t 1 5 , 2 6 par. M k 7 , 2 7 ) , Vogel (Apk 1 8 , 2 ; 1 9 , 1 7 . 2 1 ; vgl. M t 2 4 , 2 8 par. Lk 1 7 , 3 7 ) , Schlange bzw. Drache (Mt 3 , 7 par. Lk 3 , 7 ; M t 1 2 , 3 4 ; 2 3 , 3 3 ; II Kor 11,3 f; Apk 12,3 f . 7 . 9 ; 1 3 , 1 . 1 1 ; 1 7 , 3 . 7 - 9 ; 2 0 , 2 u.ö.), Frosch (Apk 1 6 , 1 3 ) und Heuschrecke (Apk 9 , 3 . 7 - 1 1 ) .

Das Geschrei der Besessenen gilt als das Geschrei der Dämonen (Mk 3 , 1 1 ; 9 , 2 6 ) ; als Stimme der Geistmächte kennzeichnet das Geschrei sowohl die Präsenz des heiligen —»Geistes (Joh 1,15; 7 , 2 8 . 3 7 ; 12,44; Act 7 , 6 0 ; 2 3 , 6 ; 2 4 , 2 1 ; Rom 8,15; 9 , 2 7 ; Apk 7 , 1 0 u.ö.) als auch vor allem die Besessenheit durch böse Geister (Mk 1,23 par. L k 4 , 3 3 ; M k 3 , 1 1 ; 5 , 5 ; 5 , 7 par.; 9,26 par. Lk 9 , 3 9 ; Lk 4 , 4 1 ; Act 8,7; 16,17). Wenn von den Gegnern Jesu und seiner

Dämonen IV

281

Jünger lautes Geschrei berichtet wird (Mk 15,13 f par.; Act 7,57; 1 9 , 2 8 . 3 2 . 3 4 ; 2 1 , 2 8 . 3 6 ; 22,23), sollen dadurch die Feinde des Evangeliums als Diener dämonischer Mächte qualifiziert werden. Wie in der altjüdischen Literatur, so steht auch im Neuen Testament der großen Zahl anonymer dämonischer Mächte eine Reihe von Dämonennamen gegenüber. Der „Teufel" (iöiäßoAog, Mt 4 , 1 - 1 1 par. L k 4 , l - 13; Joh 8,44; Eph 4 , 2 7 u.ö.) heißt Satan ( a a t a v ä g , Mt 4 , 1 0 ; 12,26 par. Mk 3,23; Mt 16,23 par. Mk 8 , 3 3 ; Mk 1,13; 4 , 1 5 ; Lk 10,18; Act 5,3; Rom 16,20; Apk 12,9; 2 0 , 2 u.ö.) oder Beliar (BeXiäg, II Kor 6 , 1 5 ; vgl. Test XII und Qumran). Ein Oberdämon in der satanischen Hierarchie ist Beelzebul (BEeX^eßovA, Mt 10,25; 12,24.27; Mk 3 , 2 2 ; Lk 11,15.18 f; vgl. II Reg 1 , 2 - 1 6 ) . Der Engel des Abgrunds heißt „auf hebräisch" Abaddon (vgl. Ps 8 8 , 1 2 ; Hi 2 6 , 6 ; 2 8 , 2 2 ; Prov 15,11), „auf griechisch" Apollyon ('AnoÄlvcuv, Apk 9,11); der griechische Name („Verderber", vgl. Joh 17,12; II Thess 2,3) spielt offenbar auf Apollon an: die heidnischen Götter sind die Dämonen der Juden und Christen. Der Dämonenname „Legion" (Mk 5,9.15 par. Lk 8,30) macht deutlich, daß die Schadensgeister gern in der Mehrzahl auftreten (vgl. Mt 12,45 par. Lk 11,26). Wenn bestimmte Zahlen der Dämonen genannt werden, ist am bedeutsamsten die Siebenzahl. Sieben in Gottes Auftrag handelnde Strafgeister (vgl. Ez 9,1 f) sind die sieben Posaunen- und die sieben Schalenengel der Johannesapokalypse (Apk 8,2—11,19; 15,1 — 16,21). Vollends sieben Dämonen sind die Krankheitsgeister von M t 12,45 par. Lk 11,26 und die daifiovia der Maria Magdalena (Lk 8,2; Mk 16,9; —»Zahlenspekulation/Zahlensymbolik). 2.4. Die Funktion der Dämonen: Schädigung. Nach gemeinantiker, auch vom Judentum geteilter Auffassung versuchen die Dämonen, durch die Körperöffnungen in den Menschen einzudringen, um ihn zu „verunreinigen" und zu schädigen. N u r z ö g e r n d ü b e r w i n d e t das N e u e T e s t a m e n t die j ü d i s c h e S c h e u v o r der T i s c h g e m e i n s c h a f t m i t den H e i d e n ( A c t 1 0 , 9 - 1 6 . 2 8 ; 1 1 , 2 - 1 8 ; 1 6 , 1 5 ; G a l 2 , 1 1 - 1 4 ) , deren G ö t t e r als D ä m o n e n g e l t e n ; n o c h i m m e r setzt die T e i l n a h m e an h e i d n i s c h e n K u l t m a h l e n d ä m o n i s c h e r G e f ä h r d u n g aus (I K o r 1 0 , 2 0 f), die durch den M u n d v e r m i t t e l t wird. Z u f o l g e J o h 1 3 , 2 6 f . 3 0 ü b e r g i b t J e s u s durch den g e r e i c h t e n B i s s e n J u d a s d e m S a t a n (vgl. I K o r 5 , 5 ; I T i m 1 , 2 0 ) . U b e r d a s A u g e ergreift die U n z u c h t v o m M e n s c h e n Besitz ( M t 5 , 2 8 ; II P e t r 2 , 1 4 ; I J o h 2 , 1 6 f ) . D i e G e n i t a l i e n w e r d e n v e r h ü l l t (I K o r 1 2 , 2 3 ) ; die K o p f b e d e c k u n g der F r a u (I K o r 1 1 , 6 - 1 0 ) r i c h t e t sich gegen die s e x u e l l e L ü s t e r n h e i t der „ E n g e l " v o n G e n 6 , 1 - 4 .

In den Sünden der Geschlechtlichkeit, vor denen besonders Paulus eindringlich warnt (Rom 13,13; I Kor 6, 9 f . l 5 - 2 0 ; Gal 5 , 1 9 ; Eph 5,5; I Thess 4 , 3 ; vgl. Hebr 13,4), sieht das Judenchristentum das Werk dämonischer Verführung (vgl. Lk 8,2; Mk 16,9). Folgerichtig gelten Unzuchtsünden als genauso „verunreinigend" wie etwa Götzendienst und der Genuß von Ungeschächtetem oder —>Blut (Act 1 5 , 2 0 . 2 9 ; 21,25). G ö t z e n d i e n s t k a n n d a h e r , in a l t t e s t a m e n t l i c h - j ü d i s c h e r T r a d i t i o n (vgl. J e s 1 , 2 1 ; J e r 3 , 2 . 9 ; Ez 2 3 , 2 7 ; H o s 1 - 4 ; 6 , 1 0 u . ö . ) , g e r a d e z u als H u r e r e i b e z e i c h n e t w e r d e n ( A p k 2 , 2 0 ; 1 4 , 8 ; 1 7 , 5 ; 1 8 , 3 ; vgl. A p k 9 , 2 1 ) ; ä h n l i c h w e r t e t J a k 4 , 4 die „ F r e u n d s c h a f t m i t der W e l t " als E h e b r u c h . R i g o r i s t i s c h e n K r e i s e n s c h l i e ß l i c h gilt G e s c h l e c h t s v e r k e h r ü b e r h a u p t als B e f l e c k u n g ( A p k 1 4 , 4 ) ; die z u r ü c k h a l t e n d e B e u r t e i l u n g d e r —>Ehe d u r c h P a u l u s (I K o r 7 , 1 - 9 . 2 5 - 4 0 ) ist v e r m u t l i c h d u r c h d e r a r t i g e R e i n h e i t s v o r s t e l l u n gen mitbedingt.

Dämonischen Ursprungs sind die Krankheiten; Heilung geschieht durch Vertreibung der Krankheitsdämonen (—»Exorzismus). Jesus tritt auf als heilender Exorzist (Mk 3,22—27 par.); Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen gehören zusammen (Mk 1 , 3 2 - 3 4 par.; M k 3 , 1 0 - 1 2 par. Lk 6,18 f; Act 5 , 1 6 ; 8,7; 19,12 u.ö.). Als dämonengewirkt gelten vor allem Geistes- und Gehirnkrankheiten (Mk 1 , 2 3 - 2 8 par. Lk 4 , 3 3 - 3 7 ; Mk 5 , 1 - 2 0 par.; Act 1 6 , 1 6 - 1 8 ) , aber auch etwa Blindheit (Mk 1 0 , 4 6 - 5 2 par.; M t 11,5 par. Lk 7 , 2 2 ; Mt 1 2 , 2 2 - 2 4 ; Joh 9 , 1 - 4 1 ; 10,21), Stummheit (Mk 9 , 1 4 - 2 9 par.; M t 9 , 3 2 f par. Lk 11,14), Lähmung (Mk 2 , 1 - 1 2 par.; Lk 1 3 , 1 0 - 1 7 ; Act 3 , 1 - 1 1 ; 8,7), Aussatz (Mk 1 , 4 0 - 4 5 par.; Lk 1 7 , 1 1 - 1 9 ) und Fieber (Mk 1 , 2 9 - 3 1 par.). Wo Krankheit als Strafe für Sünde aufgefaßt wird (vgl. Mk 2 , 1 - 1 2 par.; Joh 9 , 1 - 3 ; Jak 5,15), hat Gott dem Satan und seinen Dämonen die Straf- und Peinigungsgewalt übertragen (vgl. schon Hi 1,12; 2,7). Die chronische

282

Dämonen IV

Krankheit des Paulus ist das W e r k eines G o t t unterstehenden Satansengels (II K o r 1 2 , 7 f ; vgl. I Thess 2 , 1 8 ) ; an Satan als Erreger strafender Krankheit denkt offenbar I T i m 1 , 2 0 . Vollends der —>Tod ist die Folge dämonischer W i r k s a m k e i t , die freilich im Auftrage Gottes geschieht. Indem G o t t den T o d e s d ä m o n entsendet (Apk 6 , 8 ) , ist letztlich er selbst es, der den Sünder tötet (I K o r 1 0 , 1 0 nach N u m 1 4 , 3 6 f ; II Thess 2 , 8 nach Jes 1 1 , 4 ; vgl. Lk 1 2 , 2 0 ; Act 5 , 5 . 1 0 ) ; den Herodes schlägt ein „Engel des H e r r n " mit tödlicher Krankheit (Act 1 2 , 2 3 ) . Auch wo der Teufel als Herr des T o d e s erscheint (II K o r 2 , 5 - 1 1 ; H e b r 2 , 1 4 ) , ist Gottes Oberherrschaft vorausgesetzt. Der T o d ist Folge der Sünde ( R o m 5 , 1 2 . 2 1 ; 6 , 2 3 ; I K o r 1 5 , 5 6 ; J a k 1 , 1 5 ) ; den Blutschänder übereignet Paulus „im Namen des Herrn J e s u s " dem S a t a n , damit dieser den Leib des Frevlers töte (I K o r 5 , 3 - 5 ) . Zu den in der Endzeit überwundenen D ä m o n e n gehört auch der T o d (I K o r 1 5 , 2 6 ; Apk 2 0 , 1 3 f ; 2 1 , 4 ) . D ä m o n i s c h e M ä c h t e fürchtet der antike M e n s c h in bzw. hinter den „anderen", d. h. solchen M e n s c h e n , die sich von den N o r m e n der eigenen Gruppe unterscheiden; solche „Allop h o b i e " hat das Urchristentum mit dem J u d e n t u m weitgehend gemeinsam. D i e G ö t t e r der Heiden sind D ä m o n e n (I K o r 1 0 , 2 0 ; Apk 9 , 2 0 ) ; der Zeusaltar in Pergamon ist der T h r o n des Satans (Apk 2 , 1 3 ) . Die Heiden, nach jüdischem Sprachgebrauch als „ H u n d e " bezeichnet ( M t 1 5 , 2 6 par. M k 7 , 2 7 ) , gelten als unrein (vgl. II Kor 6 , 1 4 - 7 , 1 ) und sind zufolge M t 1 5 , 2 4 (vgl. M k 7 , 2 7 ) von Jesu Auftrag ausgenommen, der seinerseits seine Jünger nicht zu Heiden (undSamaritanern) sendet ( M t 10,5). Das notorische Lasterleben der Heiden (Gal 2 , 1 5 ; Eph 4 , 1 7 - 1 9 ) beruht auf dämonischer Besessenheit (Barn 1 6 , 7 f ; vgl. Eph 2 , 1 2 ) , die „ H u r e r e i " des Götzendienstes (Apk 2 , 2 0 usw., s.o.) auf dämonischer Verführung (Apk 9 , 2 0 ; vgl. äth Hen 1 9 , 1 ) . D ä m o n e n d i e n e r sind auch die Irrlehrer (—»Häresie). M u ß jüdischem Urteil die zunächst rein innerjüdische Bewegung um Jesus von Nazareth als dämonengewirkte Häresie erscheinen ( M t 9 , 3 4 ; 1 0 , 2 5 ; M k 3 , 2 2 par.; J o h 7 , 2 0 ; 8 , 4 8 . 5 2 ; 1 0 , 2 0 ) , so bezichtigen die Anhänger Jesu umgekehrt die Juden der Teufelskindschaft ( J o h 8 , 4 4 ) oder der Zugehörigkeit zur Synagoge des Satans (Apk 2 , 9 ; 3 , 9 ) ; teuflische Verblendung und Verstockung ist es, welche die J u d e n Jesus verkennen läßt ( R o m 1 1 , 7 - 1 0 ; II Kor 3 , 1 4 f ) . Erst recht sehen die Christen den Teufel und seine D ä m o n e n am W e r k , wenn Mitglieder des eigenen Kreises zu Verrätern und zu Apostaten werden (vgl. Lk 2 2 , 3 ; J o h 1 3 , 2 7 ; Act 2 0 , 3 0 ; I J o h 2 , 1 8 f). In den Irrlehrern wirkt der Geist des —»Antichrists (I J o h 4 , 3 ) ; ihre „ W e i s h e i t " ist dämonisch ( J a k 3 , 1 5 ) . Irrlehre ist Götzendienst (I J o h 5 , 2 1 ) , ist Verehrung von Verführungsgeistern und D ä m o n e n (I T i m 4 , 1 ) . Schließlich führen die neutestamentlichen Autoren, nicht anders als die altjüdische Literatur, auch den Bruch der R e c h t s n o r m auf dämonische Einflüsse zurück: Frevler undSünder sind teuflischer Verführung erlegen. Alle Schichten des Neuen Testaments warnen vor dem Teufel bzw. dem Satan und seinen D ä m o n e n als den Urhebern sündhafter Verstrickung und rufen auf zum K a m p f des Frommen mit den satanischen M ä c h t e n (Lk 8 , 2 ; 2 2 , 3 ; J o h 6 , 7 0 ; 8 , 3 4 ; 1 3 , 2 . 2 7 ; 1 7 , 1 5 ; Act 5 , 3 ; R o m 3 , 9 ; 6 f; G a l 3 , 2 2 ; Eph 4 , 2 7 ; 6 , 1 0 - 1 7 ; I T i m 5 , 1 5 ; J a k 4 , 7 f ; I Petr 5 , 8 ; I J o h 3 , 1 2 ; 5 , 1 8 ; Apk 2 , 1 0 ; 1 2 , 9 . 1 2 u. ö.). Die Sünde ist ein W e r k des Teufels und der Sünder ein Kind des Teufels (I J o h 3 , 8 ) . 2 . 5 . Dämonenabwehr. D ä m o n i s c h e r B e d r o h u n g erwehrt sich der M e n s c h auch im Neuen T e s t a m e n t durch traditionell geregelte Riten und Enthaltungen. M i t dem machtgeladenen, u . U . fremdsprachigen ( M k 5 , 4 1 ; 7 , 3 4 ) Wort „ b e d r o h t " Jesus die D ä m o n e n (EJIIZIfiäv, M k 1 , 2 5 par. Lk 4 , 3 5 ; M k 3 , 1 2 par.; 9 , 2 5 p a r . ; vgl. M k 4 , 3 9 par. und J u d 9); mit dem W o r t (X6yu>) treibt er sie aus ( M t 8 , 1 6 ) , d . h . er befiehlt den bösen Geistern, von ihrem Opfer auszufahren ( M k 1 , 2 5 par. Lk 4 , 3 5 ; M k 5 , 8 par. Lk 8 , 2 9 ; M k 9 , 2 5 ; vgl. Act 1 6 , 1 8 ) . Häufig kommt zum Machtwort die Berührung (Mt 8,15 par. Mk 1,31; Mt 9,29 par. 20,34; Mk 1,41 par.; Lk 14,4; 22,51) und Handauflegung des Heilexorzisten (Mt 9,18 par. Mk 5,23; Mk 6,5; 7 , 3 2 f ; 8 , 2 2 - 2 6 ; Lk 4,40; 13,13; Act 9,12.17; 28,8). Anscheinend hat bei antidämonischen Riten die Dreimaligkeit eine gewisse Rolle gespielt (vgl. Mk 8 , 2 2 - 2 6 ) ; dreimal betet Paulus um Abberufung des Satansengels (II Kor 12,8; vgl. Mt 2 6 , 3 6 - 4 6 par. Mk 1 4 , 3 2 - 4 2 ) , und eine dreimalige Beauftragung heilt den Petrus vom Frevel seiner dreimaligen Verleugnung Jesu (Joh 2 1 , 1 5 - 1 7 ) .

D ä m o n e n IV

283

Auch Jesus und seine Umwelt kennen das Gesetz der homöopathischen Magie: Beelzebul vertreibt den Teufel (Mk 3 , 2 2 par.). Das gemeinantike System der antidämonischen „aktiven Handlungen" mit den Elementen spiegelt sich auch im Neuen Testament an vielen Stellen. Insbesondere die kathartische Rolle des Wassers, das dem Judentum zur kultischen Reinigung der Hände (Mt 15,2 par. M k 7 , 2 - 4 ; Lk 11,38) und Gefäße (Mk 7,4; M t 2 3 , 2 5 f par. Lk 1 1 , 3 9 - 4 1 ) dient, ist reich bezeugt. Zur Heilung gehört die Waschung (Joh 9 , 7 ; vgl. J o h 5 , 1 - 9 ) ; Reinigung der Hände und des Herzens vertreibt den Teufel (Jak 4 , 7 f; vgl. Hebr 10,22). Aus dem kathartischen Tauchbad —»Johannes des Täufers (Mk 1 , 4 . 9 - 1 1 par.) erwächst die christliche —»Taufe, die den Täufling von Sünden reinigt (Joh 1 3 , 1 0 ; Act 2 2 , 1 6 ; I Kor 6 , 1 1 ; Eph 5 , 2 6 ; Tit 3 , 5 ; Hebr 1 0 , 2 2 u.ö.). Zum Heilungsexorzismus gehört die Salbung mit öl (Jak 5 , 1 4 ; vgl. M k 6 , 1 3 ) ; der Speichel besitzt apotropäische Kraft (Gal 4,13 f) und heilt insbesondere Augenkrankheiten (Mk 8 , 2 2 - 2 6 ; Joh 9 , 1 - 4 1 ; vgl. M k 7 , 3 1 - 3 7 ) . Die antidämonische Kraft des Hauchs steht hinter II Thess 2,8 (vgl. Jes 11,4), vermutlich auch hinter J o h 2 0 , 2 2 . Apotropäische Riten mit Erde bzw. Staub (von den Juden: Act 2 2 , 2 3 ; vgl. Jos 7,6 u.ö.) überliefern M k 6 , 1 1 par.; Lk 1 0 , 1 0 f ; Act 13,51 sowie die rätselvolle Stelle Joh 8 , 6 . 8 (vgl. Jer 17,13). Neben die „aktiven Handlungen" antidämonischer Offensive treten auch im Neuen Testament die - aus dem Judentum ererbten - „ p a s s i v e n Handlungen" (—»Askese). Kleidungsaskese üben die Büßer und Propheten ( M t 3 , 4 par. M k 1,6; M t 7 , 1 5 [Prophetentracht!]; M t 11,21 par. Lk 1 0 , 1 3 ; Hebr 1 1 , 3 7 ; Apk 11,3); jüdische Hygieneaskese wird zwar M t 6 , 1 6 - 1 8 verworfen, doch wurde etwa der Brauch des Nasiräats zufolge Act 1 8 , 1 8 ; 2 1 , 2 3 - 2 6 von Paulus beibehalten (zur Nahrungsaskese —»Fasten). Die von Jesus vermißte Bußhaltung (vgl. J o n 3 , 4 - 1 0 ) des Sintflutgeschlechts (Mt 2 4 , 3 8 par. Lk 17,27) hätte in Fasten und Sexualaskese bestehen sollen. Die Propheten und Prophetinnen auch des Neuen Testaments leben ehelos (Lk 1 , 8 0 ; 2 , 3 6 ; Act 2 1 , 9 ) , auch Jesus und Paulus (I Kor 9,5; vgl. I Kor 7,8). Zeitweilige geschlechtliche Enthaltsamkeit gehört zur Vorbereitung des Gebets (I Kor 7 , 5 ; vgl. T o b 8 , 4 - 9 ) . Die in M t 1 9 , 1 2 an dritter Stelle genannten „Eunuchen" haben offenbar lebenslangen Eheverzicht gelobt; dasselbe gilt wohl für die 1 4 4 0 0 0 Jungfräulichen, anscheinend auf Grund eines enkratitischen Taufgelübdes (Apk 7 , 4 - 8 ; 1 4 , 3 - 5 ) . Auch die Irrlchrcr der Pastoralbricfe haben die Ehe verworfen (I Tim 4 , 3 ; dagegen I Tim 2 , 1 5 ; 5 , 1 4 ; Tit 2,4). Schließlich sei noch der Schlafaskese gedacht; wo der Schlaf als verunreinigend (mYom 1,4.6 f) oder sonstwie gefährdend gewertet wird (vgl. M t 2 6 , 4 0 . 4 3 . 4 5 par. Mk 1 4 , 3 7 . 4 0 . 4 1 ; Act 2 0 , 9 - 1 2 ) , fürchtet man das Wirken des Teufels (Mt 1 3 , 2 5 . 3 9 ) . Daher ist vor dem Offenbarungsempfang (Lk 2,8 — 14), insbesondere vor dem Gebet, Wachsamkeit geboten (Mk 1 3 , 3 3 v.l.; 14,38 par.; Eph 6 , 1 8 ; Kol 4 , 2 f ; vgl. II Kor 6,5; 11,27). Wachen und Beten empfiehlt Jesus zur Abwehr des Tieigaofioq (Mt 2 6 , 4 1 par. M k 14,38).

3. Der Sieg über die

Dämonen

3.1. Die Überlegenheit des Exorzisten. Wie andere jüdische Heilexorzisten, deren Erfolg er ausdrücklich anerkennt (Mt 1 2 , 2 7 par. Lk 1 1 , 1 9 ) , behandelt auch Jesus als Arzt (vgl. Mk 2 , 1 7 par.; Lk 4 , 2 3 ) die Kranken mit den antidämonischen Mitteln antiker Volksmedizin (s. o. Abschn. 2 . 5 ) ; wie sie ist er überzeugt vom dämonischen Ursprung der Krankheiten (vgl. M t 1 2 , 4 3 - 4 5 par. Lk 1 1 , 2 4 - 2 6 ) . Zahlreiche Heilungserfolge erweisen Jesu Überlegenheit über die D ä m o n e n ; mögen diese zunächst auch Widerstand leisten, so weichen sie schließlich doch dem Stärkeren (Mk 1 , 2 4 par. Lk 4 , 3 4 ; Mk 5 , 7 p a r . ; 9 , 2 0 . 2 6 par. Lk 9 , 4 2 ) . Ihm verraten die Dämonen sogar ihren N a m e n (Mk 5 , 9 par. Lk 8 , 3 0 ) , da sie fürchten, von ihm gequält zu werden (Mk 5 , 7 par.); das Motiv vom geprellten Teufel wird auch von Jesus erzählt (Mk 5 , 1 3 par.). Der historische Jesus hat seine ärztlich-exorzistische Tätigkeit verstanden als siegreichen K a m p f mit dem Satan und den satanischen Mächten (Mk 3 , 2 7 par.). Diesen K a m p f führt er nicht in der Kraft des Oberdämons Beelzebul (Mk 3 , 2 2 par.), sondern durch Gottes Geist ( M t 1 2 , 2 8 ; vgl. M k 3 , 2 9 f) bzw. Gottes Finger (Lk 1 1 , 2 0 ) . Damit verwirklicht er die Hoffnungen der jüdischen Eschatologie auf eine endzeitliche Entmachtung des Teufels und seiner D ä m o n e n (vgl. 1 QS 3 , 2 4 f ; 4 , 2 0 - 2 2 ; 1 Q H 3 , 1 8 ; 1 Q M l , 1 0 f ; 7 , 6 ; 1 2 , 7 f ) ; in seiner berühmten Antwort an den Täufer ( M t 1 1 , 4 - 6 par. Lk 7 , 2 2 f ) deutet Jesus seine Krankenheilungen als Erfüllung prophetischer Weissagungen (vgl. Jes 2 9 , 1 8 f; 3 5 , 5 f ; 6 1 , 1 ) . Zwischen Jesu eschatologischem Selbstverständnis und seinem Wirken als Exorzist besteht ein außerordentlich enger Z u s a m m e n h a n g ; er selbst interpretiert seine Exorzismen als Gleichnishandlungen für den Anbruch des Gottesreichs ( M t 1 1 , 4 - 6 par. Lk 7 , 2 2 f ; M t 1 2 , 2 8 par. Lk

11,20).

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Dämonen IV

Auch ]esu Jünger haben mit exorzistischen Mitteln Besessene und Kranke geheilt; zufolge M t 10,1 par. M k 3 , 1 5 par. 6 , 7 par. Lk 9 , 1 ; M t 10,8 par. Lk 9 , 2 ; M k 6 , 1 3 ; Lk 1 0 , 1 7 u.ö. verdanken sie diese Fähigkeit ihrem Meister selbst, in dessen Namen sie die Dämonen austreiben (vgl. M t 7 , 2 2 ; M k 1 6 , 1 7 ; Lk 1 0 , 1 7 ; Act 3 , 6 . 1 6 ; 4 , 7 . 1 0 . 3 0 ; 16,18). Auch jüdische Exorzisten können sich des machtgeladenen Jesusnamens bedienen (Mk 9 , 3 8 - 4 0 par. Lk 9 , 4 9 f ) , wenn auch zuweilen erfolglos (Act 1 9 , 1 3 - 1 7 ) . Die alte Kirche hat ,,im Namen Jesu Christi" exorzisiert und geheilt (Jak 5 , 1 4 ) ; ein Teil der oben genannten Belege ist wohl eine Rückprojektion dieser Praxis in die Zeit Jesu. Auch die Notiz vom exorzistischen Unvermögen der Jünger (Mk 9,18 par.) spiegelt wohl eher ein Problem der nachösterlichen Kirche; die siegreiche Überlegenheit des „im Namen J e s u " wirkenden Dämonenbanners ist nicht so selbstverständlich wie diejenige Jesu (vgl. auch Lk 10,17). 3.2. Der Erhöhte als Herr der Dämonen. Immer mehr wird für die nachösterliche Gemeinde aus dem erfolgreichen Exorzisten Jesus der siegreiche Gegenspieler des Teufels und seiner Dämonen schlechthin (II Kor 6 , 1 5 ; I J o h 3 , 8 ) ; der Teufel seinerseits antwortet mit antichristlicher Agitation (I Joh 2 , 1 8 . 2 2 ; 4 , 3 ; II Joh 7 ; vgl. II Thess 2 , 3 - 1 2 ; Apk 12, 1 8 - 1 3 , 1 8 ; 1 7 , 8 - 1 1 ; —»Antichrist). Durch Tod, Auferweckung und Erhöhung Christi hat Gott die Dämonen entmächtigt und sie seinem Sohn unterstellt (Eph 1 , 2 0 - 2 2 ; 4 , 8 - 1 0 ; Phil 2 , 9 f . ; Kol 2 , 1 0 . 1 5 ; Hebr 2 , 8 . 1 4 ; vgl. I Tim 3 , 1 6 ; Hebr 1 0 , 1 2 f ) . Dem Erhöhten sind schon jetzt alle Geistmächte im Himmel und auf Erden unterworfen (Mt 2 8 , 1 8 ; I Petr 3 , 2 2 ; vgl. J o h 12,31). Andererseits steht der endgültige Sieg Christi über den Teufel und die Dämonen noch aus (vgl. Hebr 2 , 8 ; 1 0 , 1 3 ) . Erst am Ende der Zeit wird der Christuswidder die teuflischen M ä c h t e besiegen (Apk 1 7 , 1 4 ) ; mit feurigem Hauch wird der Erhöhte die antichristlichen Gewalten vernichten (II Thess 2 , 8 ; Apk 1 , 1 6 ; 2 , 1 2 . 1 6 ; 1 9 , 1 5 . 2 1 ) . Zu ihnen wird dann auch der T o d gehören (I Kor 1 5 , 2 4 - 2 8 . 5 5 . 5 7 ; vgl. II Tim 1 , 1 0 ; Hebr 2 , 1 4 f ; Apk 2 0 , 1 4 ) .

3.3. Die Gemeinde und die Dämonen. Durch Christi Blut, das die Christen von Sünden reinigt (Eph 1,7; Tit 2 , 1 4 ; Hebr 9 , 1 4 ; 1 0 , 2 9 ; I Joh 1,7.9; 2 , 2 ; Apk 1,5; 7 , 1 4 u.ö.), ist die jüdische, antidämonische Kathartik abgetan (Hebr 9 , 1 2 - 1 4 ) . An der Sühnkraft des Blutes Jesu Christi verleihen die Sakramente Anteil. Das —»Abendmahl ist Abbild und Nachvollzug des Todes Jesu (Mk 1 4 , 2 2 - 2 4 par.; I Kor l l , 2 4 f ) und bewirkt Tilgung der Sündenschuld (Mt 2 6 , 2 8 ) ; sündentilgende Wirkung hat auch die—»Taufe (Act 2 2 , 1 6 ; I Kor 6 , 1 1 ; Eph 5 , 2 6 u.ö.), die gleichfalls an Jesu Tod und Auferstehung teilhaben läßt (Rom 6,1 — 11; Kol 2 , 6 - 1 5 ) . Wie Jesus durch seine Taufe (Mk 1 , 9 - 1 1 par.) befähigt wurde, die Versuchungen des Satans zu bestehen (Mk l , 1 2 f par.), so schützt die Taufe auch die Christen vor den Dämonen (vgl. Kol 2 , 1 0 - 1 5 ; I Petr 3 , 1 8 - 2 2 ) , insbesondere denjenigen des Frevels (vgl. Rom 6 f ) . Viele Belege des Neuen Testaments, die den Erhöhten als Herrn über die Dämonen preisen, stehen im Kontext der Taufe (Mt 2 8 , 1 8 - 2 0 ; Eph 1 , 1 8 . 2 0 - 2 2 ; 4 , 8 - 1 0 ; Kol 2 , 1 0 - 1 5 ; I Petr 3 , 1 8 - 2 2 ) . Die Sakramente beteiligen an Jesu Sieg über die Dämonen und qualifizieren dadurch die kirchliche Gegenwart als Endzeit.

4. Der Sieg über den

Dämonismus.

4.1. Umdeutung dämonistiscber Vorstellungen. Schon im Neuen Testament kann die dämonistische Kausalität durchbrochen werden. In der Tradition des jüngeren alttestamentlichen Prophetismus erfahren Begriffe und Riten aus der Welt der Dämonenfurcht und D ä m o n e n a b w e h r eine spiritualisierende, zumeist ethisierende Umdeutung. Aus dem dämonischen Krieg wird der Kampf des Frommen gegen die Sünde, aus der antidämonischen Waffenrüstung der Tugendkatalog (Eph 6 , 1 0 - 17; I Thess 5 , 8 ) . „ H u r e r e i " meint - auch - den Götzendienst (Apk 2 , 2 0 usw., s. o. Abschn. 2 . 4 ) . Die dämonengewirkten Krankheiten werden zu Bildern für sündhaftes Verhalten (Blindheit, vgl. M t 6 , 2 2 f par. Lk 1 1 , 3 4 - 3 6 ; J o h 1 2 , 4 0 ; R o m 1 1 , 7 - 1 0 ; II Kor 4 , 4 ; I J o h 2 , 1 1 ; T a u b h e i t , vgl. R o m 1 1 , 8 ) ; Schlaf und T o d bedeuten ein Leben in Sünde und Ungehorsam ( R o m 1 1 , 8 ; 1 3 , 1 1 - 1 4 ; Eph 2 , 5 f; 5 , 1 4 ; Kol 2 , 1 3 ; vgl. I Thess 5 , 6 - 8 ) . Licht und Finsternis, ursprünglich Bereiche oder Attribute der guten und der bösen Numina, bezeichnen die Sphäre der Frommen und der Gottlosen (Lk 1 6 , 8 ; J o h 1 2 , 3 5 f; R o m 1 3 , 1 2 ; Eph 5 , 8 ; I Thess 5 , 5 u . ö . ) . Auch die — aktiven und passiven - antidämonischen Gegenhandlungen eignen sich zu einer ethisierenden (und eschatologisierenden) Uminterpretation. Das gilt gleichermaßen für Riten mit Wasser (Joh

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4 , 1 4 ; 7 , 3 7 f ; Apk 7 , 1 6 f; 2 1 , 6 ; 2 2 , 1 f. 17; von der sündentilgenden Taufe: Act 2 , 3 8 ; 2 2 , 1 6 ; I Kor 6 , 1 1 ; Eph 2,5; Kol 2 , 1 2 f ; Hebr 1 0 , 2 2 ; I Petr 3 , 2 0 f u.ö.), Blut (von der -^Beschneidung: Rom 2 , 2 9 ; Kol 2 , l l f ; von Christi Blut: M k 1 4 , 2 4 par.; 1 Kor 1 1 , 2 5 ; Eph 1,7; Hebr 9 , 1 3 f; 1 0 , 2 9 ; I J o h 1 , 7 - 9 ; Apk 1,5; 7 , 1 4 u.ö.), Wein (Mk 1 4 , 2 4 par.; I Kor 11,25) und Ol (Lk 4 , 1 8 ; Act 4 , 2 7 ; 1 0 , 3 8 ; II Kor 1,21 f; Hebr 1,9; I Joh 2 , 2 0 . 2 7 ) . Umgedeutet werden auch die passiven Handlungen des asketischen Wein- und Schlafverzichts; Nüchternheit und Wachsamkeit werden zu Umschreibungen eines christlichen Lebens, das in Erwartung des Herrentages gegen Teufel und Sünde ankämpft (Mt 2 5 , 1 3 par. M k 1 3 , 3 3 ; Lk 2 1 , 3 4 — 3 6 ; I Thess 5 , 6 - 8 ; I Petr 5 , 8 ; vgl. M t 1 3 , 2 5 . 3 9 ; R o m 1 3 , 1 1 - 1 4 ) .

4.2. Protest gegen dämonistische Vorstellungen. Einen entscheidenden Schritt weiter gehen schließlich diejenigen Aussagen des Neuen Testaments, welche die dämonistische Kausalität grundsätzlich bestreiten, indem sie sich gegen die objektive Existenz von dinglicher „Reinheit" und „Unreinheit" sowie gegen den Sinn antidämonischer Riten wenden. An die Stelle des Gegensatzes zwischen dämonenfreier Reinheit und dämonengewirkter Unreinheit tritt der Gegensatz zwischen dem Leben der „heiligen" Gemeinde und der „unheiligen" Welt der Sünde (vgl. Rom 1,7; I Kor 1,2); dingliche Unreinheit an sich gibt es nicht mehr (Rom 1 4 , 1 4 . 2 0 ; I Tim 4,4), denn „für die Reinen ist alles rein" (Tit 1,15). Jesus und seine Jünger fürchten nicht mehr die Unreinheit dämonisch infizierter Menschen (Zöllner, Sünder, Heiden) oder Speisen (Mt 9 , 1 0 par. M k 2 , 1 6 ; Lk 5 , 3 0 ; 15,2; Act 1 0 , 1 - 1 1 , 1 8 ; Gal 2,11-14). Besonders der Evangelist Matthäus hat ein Interesse daran, bereits den irdischen Jesus aus der Nachbarschaft gewöhnlicher Exorzisten zu lösen. Er tilgt dämonistische Perikopen (Mk 1 , 2 3 - 2 8 par.; 9 , 3 8 - 4 1 par.) und dämonistische Aussagen (Mt 8 , 1 6 . 2 9 ; 9,2; 1 7 , 1 8 ) ; ganze Heilungsberichte entdämonisiert er (Mt 8 , 2 8 - 3 4 ; 1 5 , 2 9 - 3 1 ; 1 7 , 1 4 - 2 1 ) , und massive Exorzismen verwandelt er in allgemeine Krankenheilungen (Mt 4 , 2 3 b ; 8 , 1 6 ; 1 2 , 1 5 . 2 2 ; 1 5 , 2 2 . 2 5 . 2 8 . 2 9 - 3 1 ) . Wenn überhaupt, dann exorzisiert für Matthäus Jesus nicht mehr mit Gottes Finger (Lk 11,20), sondern in Gottes Geist (Mt 12,28), nicht mit ö l oder Speichel, sondern mit dem Wort (Mt 8 , 1 6 ) .

Jesus läßt sich die „verunreinigende" Berührung durch die Blutflüssige gefallen (Mk 5 , 2 5 - 3 4 par.) und nimmt nach Lk 7 , 3 7 - 5 0 den Liebesdienst der Sünderin an. Ehebruch wiegt zufolge Joh 7 , 5 3 —8,11 nicht schwerer als andere Sünde; die Furcht vor den dämonischen Mächten der Sexualität hat wesentliche Einschränkungen erfahren. Auch der dämonische Ursprung der Krankheiten kann bestritten werden; zufolge Joh 9,1 — 3 ist das Leiden des Blindgeborenen nicht die Strafe für eigene oder elterliche Schuld, und Paulus bezeugt dankbar, daß die Galater auf den apotropäischen Speichelzauber gegen seine Krankheit (Epilepsie?) verzichtet, ja, daß sie den Kranken wie einen Engel Gottes (und nicht wie einen Dämonisierten) aufgenommen haben (Gal 4 , 1 3 f). Ein Protest gegen die Scheu des jüdischen Priesters und Leviten vor der Verunreinigung durch Leichen findet sich anscheinend im Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner (Lk 1 0 , 2 9 - 3 7 ) ; solche auf Verdacht hin erfolgende Absonderung wird zur Sünde, wenn sie das Gebot der Nächstenliebe verletzt (Lk 10,3 l f ) . Daher sind Reinigungsriten mit Wasser und Blut fortan überflüssig; die „toten Werke" der jüdischen Kathartik werden durch Christi Blut überboten (Hebr 9,13 f). Christliches Taufverständnis hat nach I Petr 3,21 nichts zu tun mit dinglicher Reinigung; der Wasserritus wird gedeutet als Verpflichtung zum Gehorsam gegen Gottes Gebote. Jesus polemisiert gegen die pharisäische Hochschätzung der kultischen Reinigung von Händen und Gefäßen (Mk 7 , 1 - 2 3 par.; M t 2 3 , 2 5 f par. Lk 1 1 , 3 9 - 4 1 ) : Gott fordert Ethos, nicht Ritus (vgl. I Sam 15,22). Paulus zeigt einen Weg auf, der über Heilungsexorzismus und Zungenreden (I Kor 1 2 , 3 0 f ) hinausführt, nämlich die Liebe (I Kor 1 3 , 1 - 1 4 , 1 ) ; für Matthäus helfen, wo keine Liebe geübt wird, auch Dämonenaustreibungen nichts (Mt 7 , 2 2 f ) . Protest gegen passive Handlungen findet sich gleichfalls im Neuen Testament. Den Jüngern Jesu ist der Hygieneverzicht untersagt (Mt 6 , 1 6 - 1 8 ) . Das Fasten wird eingeschränkt (Mk 2 , 1 8 - 2 0 par.); Jesus unterscheidet sich durch Essen und Weintrinken bewußt von seinem Lehrer Johannes (Mt 1 1 , 1 9 par. Lk 7 , 3 4 ; vgl. Joh 2,1 - 1 1 ; 4 , 4 6 ) . Die jüdischen Speisegebote gelten nicht mehr im Bereich der Heidenmission (Act 1 0 , 1 5 ) ; enkratitischer Fleisch- und Weinverzicht, von Paulus noch geduldet (Rom 1 4 , 1 - 2 3 ) , wird von den Pastoralbriefen untersagt (I Tim 4 , 3 f ; Tit 1 , 1 3 - 1 6 ; vgl. Hebr 1 3 , 9 f ) . Auch der Ehever-

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zieht - von Paulus I Kor 7 , 3 2 - 3 4 noch empfohlen - wird schließlich als Irrlehre verworfen (I Tim 4,3; vgl. I Tim 2,15; 5,14; Tit 2,4). 5.

Zusammenfassung

Die Autoren des N e u e n Testaments setzen das dämonistische Weltbild des antiken Judentums weitgehend unreflektiert voraus. Theologische Relevanz erhält der altjüdische D ä m o n i s m u s d u r c h Jesu e s c h a t o l o g i s c h e D e u t u n g s e i n e r E x o r z i s m e n . N a c h O s t e r n w i r d Jesus z u m T r i u m p h a t o r ü b e r die d ä m o n i s c h e n M ä c h t e schlechthin. In p r o p h e t i s c h e r T r a d i t i o n k a n n es zu e i n e r s p i r i t u a l i s i e r e n d e n U m d e u t u n g u n d d a m i t z u e i n e r „ E n t m y t h o l o g i s i e r u n g " d e s D ä m o n i s m u s k o m m e n . S c h o n bei J e s u s j e d o c h u n d v o l l e n d s bei P a u l u s u n d M a t t h ä u s ( s . o . A b s c h n . 4 . 2 ) w i r d a n s a t z w e i s e s o g a r d e r D ä m o n i s m u s als s o l c h e r in F r a g e g e s t e l l t . F r e i l i c h h a t d i e a l t e K i r c h e s o l c h e A n s ä t z e n i c h t w e i t e r z u f ü h r e n v e r m o c h t . G e r a d e a n die S a k r a m e n t e h a t sich in n a c h n e u t e s t a m e n t l i c h e r Z e i t eine Fülle a n tidämonisch-exorzistischer Riten ankristallisiert. Literatur O t t o Bauernfeind, Die Worte der D ä m o n e n im M a r k u s e v a n g e l i u m , 1 9 2 7 ( B W A N T 44). - H a n s Bietenhard, Die himmlische Welt im Urchristentum u. S p ä t j u d e n t u m , 1951 ( W U N T 2). - O t t o Böcher, Christus Exorcista. D ä m o n i s m u s u. T a u f e im N T , 1972 ( B W A N T 96). - Ders., D ä m o n e n f u r c h t (s.o. Abschn. I). - Willy Bold, Die antidämonischen A b w e h r m ä c h t e in der Theol. des S p ä t j u d e n t u m s (Teildruck der Bonner theol. 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Kirche

1.1. Frühchristliche

Literatur.

O h n e e i n e e i g e n t l i c h e D ä m o n e n l e h r e zu b i e t e n , e n t h ä l t

d a s f r ü h c h r i s t l i c h e S c h r i f t t u m z a h l r e i c h e H i n w e i s e a u f d a s W i r k e n v o n D ä m o n e n in d e r

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Welt und auf ihr Verhältnis zu Christus und den Christen. Den zwei Wegen des Lebens und des Todes in der —»Didache (1,1) entsprechen im —>Barnabasbrief der Weg des Lichtes und der Weg der Finsternis mit ihren zugehörigen Geistern (18,1) und im Hirten des —»Hermas der Engel der Gerechtigkeit und der Engel der Schlechtigkeit (mand 6,2), der auch didßoXog, der schlechte Hirte, der Engel der Üppigkeit und Lust genannt wird (sim 6,2). Es liegt in der Macht des diäßoXog, mit den Christen zu „ringen", „aber niederringen kann er sie nicht" (mand 12,5f). —»Papias (Frgm. 4) spricht von den einst göttlichen Engeln, die der ihnen aufgetragenen Pflicht, den Kosmos in Ordnung zu halten, nicht nachgekommen sind. Nach Barnabas ist Satan der „Fürst der Zeit der Gesetzlosigkeit" (18,2). Er ist wohl identisch mit dem xooficmXaviig in Did 16,4. Nicht zu erheben ist aus diesen Zeugnissen, ob in frühchristlicher Zeit über die hierarchische Trennung zwischen dem Führer, Satan (—»Teufel), und seinem Gefolge hinaus zwischen Dämonen und Teufeln unterschieden wurde. Es gibt Hinweise auf Spekulationen über die Rangordnung der „Herrschaften", vor denen —»Ignatius von Antiochien die Trallianer warnt (5,2); Wißbegierde bezüglich ihres Ursprungs dagegen ist allein durch Papias belegt. 1.2. Die christliche Erfahrung. Wir wissen nicht, seit wann die Taufliturgie (—»Taufe) die Absage an den Teufel, seinen Pomp und seine Werke einschloß, die —»Hippolyt in trad. ap. 21 bezeugt. Der Taufexorzismus (—»Exorzismus) mit dem Zeichen des —»Kreuzes bewirkt, daß der Widersacher im selben Moment entflieht (c. 41, ed. Botte). In den Märtyrerakten erscheint das Ringen mit den Dämonen als eine lebendige Erfahrung. Die Christen sind sich der Macht des Bösen in den Verfolgungen (—»Christenverfolgungen) bewußt; die sie verurteilenden Behörden sind seine Priester (Passio SS Mariani et Jacobi V, 1). Im Brief der Gemeinden von Vienne und Lyon (Eusebius, h. e. 5,1) wird der Widersacher für die Verfolgung i. J. 177 verantwortlich gemacht (5): Er ist Satan (14), derTeufei (25), das wilde Tier (57). So hatte die frühchristliche Dämonologie eine asketisch-ethische Dimension, die zur Katechese über den Weg des Lebens gehörte, und eine soziale Dimension, die den Gläubigen die Tatsache der Verfolgung zu verstehen half. 1.3. Die Apologeten. Der Dämonenglaube stand auch im Dienst der —»Apologetik. Alle Apologeten schildern dämonisches Handeln in der Welt im allgemeinen und in der heidnischen Religion im besonderen. Von Dämonen haben die Menschen die —»Astrologie und den Götzendienst gelernt (Tatian VIII,18); sie reden in den Ekstasen der heidnischen Mysterien (Theophilos 11,28) und bringen Unordnung in die Schöpfung (Athenagoras 24). —»Justin der Märtyrer gründet seine Widerlegung des Heidentums auf eine ausgebaute Dämonenlehre: er sieht sie in der —»Magie (I. Apol. 56), in der Mythologie (wo sie die Propheten nachäffen [54]), in den Mithrasmysterien (wo sie die christliche Eucharistie nachäffen [66]), in der Häresie —»Marcions (58), in den christenfeindlichen Gerichten (II. Apol. 1) am Werk. In Justins Dialog mit dem Juden Trypho dient der Kampf der „Dämonen und des Heeres des Teufels" gegen das Christentum als Beweis für dessen Bedeutung und Wahrheit (131,2). Nach den Pseudoclementinischen Homilien (4,2) (—»Clemens von Rom) wurde die griechische Philosophie von einem Dämon erfunden. 1.4. Die apokryphe Literatur. Eine apokalyptische Verwendung findet die Dämonologie in den neutestamentlichen —»Apokryphen, wo sie die eschatologische Dimension der Inkarnation und der Erlösung, des christlichen Lebens und des Weltenlaufes verstärkt. Das Motiv der —»Höllenfahrt Christi gibt Gelegenheit für farbige Schilderungen von Teufeln und Dämonen (z. B. in den Fragen des Bartholomäus). Die apokryphen Apostelgeschichten fließen über von Erzählungen über Besessenheit und Teufelsaustreibung durch die Apostel, so vor allem die Andreas- und die Thomasakten. —»Simon Magus wird als Engel des Satans bezeichnet (ActPetr 18). Ein häufiges T h e m a ist der Kampf zwischen den guten und den bösen Engeln, sowohl im Himmel wie auf der Erde. Die apokryphen und die clementinischen Schriften vermitteln den Eindruck, als sei der Teufel der eigentliche Herr dieser Welt, der „König der gegenwärtigen Z e i t " (hom. Clem. 8 , 3 1 ) . Aufgabe Christi und des christlichen Lebens ist es, gegen den Teufel und seine Engel zu kämpfen.

In diesem Zusammenhang entstand in den ersten christlichen Jahrhunderten eine weitläufige Spekulation über Dämonen, aus der hier einige Punkte hervorgehoben seien. Auf-

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grund von Gen 6,1 - 4 und dem Problem, diese Stelle mit Gen 3 in Einklang zu bringen, wird eine Unterscheidung zwischen Teufeln und Dämonen getroffen. Allgemein gesagt gelten Teufel nunmehr als —»Engel, die gut geschaffen waren, dann aber aus eigener Wahl böse wurden; Dämonen dagegen sind die halb menschlichen, halb teuflischen Seelen der Riesen, die aus der sündigen Verbindung der b'he ha'elohtm mit denTöchtern der Menschen hervorgingen (Justin, II. Apol. 5). Dies bedeutet, daß Engel keine rein geistigen Wesen sind, sondern eine Art ätherischen Körper besitzen. Über den Fall der bösen Engel gibt es verschiedene Versionen. Für -*Tatian sind es diejenigen, die in der Nachfolge des Erstgeborenen aller Engel (or. 7.12) nach Gottgleichheit strebten. Für Justin scheint der Fall der Schlange, d. h. des Oberhauptes der Teufel, in der Versuchung Evas zu liegen (Dial. 79). Andere Texte bestreiten eine Sünde von Engeln mit Frauen. Nach den pseudoclementischen Recognitionen wurde die Sünde von Menschen begangen (1,29); der Böse fiel nicht von Gott ab, sondern wurde böse geschaffen (hom. Clem. 20,9). Über die Zukunft der Dämonen und Teufel scheint es zwei Auffassungen gegeben zu haben. Ihr endgültiges Schicksal wird nicht oft erörtert. Wo es geschieht, ist zumeist von einer ewigen Strafe des Teufels und seiner Engel die Rede (Tatian; Pilatusakten). Justin schwankt zwischen ewiger Strafe (II. Apol. 6f) und der Möglichkeit der Buße (Dial. 141). Für Pseudo-Clemens dagegen (hom. 20,9) erleiden die Teufel, da sie den Willen Gottes erfüllen, keine Bestrafung, sondern genießen sogar eine gewisse Glückseligkeit. LS. Gnostiker und Antignostiker. Die —»Gnosis entwickelte gemäß ihrem Bestreben, die ausgleichende Wirkung von Gut und Böse zu erklären, weniger eine Dämonen- als eine Engellehre. Der Einfluß gnostischer Spekulation auf die christliche Dämonologie bleibt umstritten. Im apokryphen und pseudoclementinischen Schrifttum zeigen sich Spuren eines solchen Einflusses. Die Vorstellung syzygischer Emanationen gegensätzlicher Kräfte bringt es mit sich, daß dem göttlichen Prinzip, aus dem alles hervorgeht, auch das Böse und damit auch Teufel und Dämonen zugeordnet werden. So ist Simon Magus für die pseudoclementinischen Homilien der böse Widerpart zu Simon Petrus (2,33). Für den Gnostiker Satornil scheint Satan der böse Widerpart des alttestamentlichen Gottes zu sein (so Hippolyt, haer. VII,28,7). Im valentinianischen System, wie es —»Irenaeus beschreibt, hat der Teufel seinen Ursprung in der Traurigkeit, einer der Grundlcidcnschaftcn der materiellen Substanz (haer. 1,5,4). Nach Hippolyt betrachten die Valentinianer den Teufel als den Fürsten dieser Welt (haer. VI,34,1), was ihre Häresie als eine Lehre der Weltflucht erklärt. In einigen der gnostischen Systeme wird die Welt von Engeln geschaffen; und wie es gute und böse Engel gibt, so gibt es auch gute und böse Menschen (ebd. VII,28,6: Satornil; V I I , 3 2 , l - 4 : Karpokrates). Die Gegner der Gnosis halten diesen Spekulationen eine eigene Lehre entgegen. Der durchweg konservative Hippolyt akzeptiert die alte Annahme, daß die bösen Engel nicht von Natur oder aus eigener Wahl, sondern allein nach ihrer Funktion böse sind. Wie die anderen Engel sind sie Diener des göttlichen Willens, freilich mit der Aufgabe, Strafe, Schmerz und Leiden zuzufügen (frgm. 23 in Ps. 77). Irenaeus andererseits vertritt die Gegenposition vom selbstgewollten Fall durch Sünde. Dieser erfolgte in zwei Phasen: Einer der großen Engel wurde böse aus Eifersucht auf Adam (haer. V,24,4), und andere schlössen sich ihm, Satan, in der Auflehnung an (IV,40,1). Später fielen weitere Engel durch Vermischung mit den Töchtern der Menschen (Epid. 18). Am wichtigsten ist Irenaeus' Lehre über das Verhältnis von Christus und Satan. Die Versuchung in der Wüste wiederholt Punkt für Punkt die Versuchung Adams im Garten Eden; aber der neue Adam obsiegt, wo der alte unterlag (haer. V,24,4). Seitdem sind alle aufrührerischen Engel Christus Untertan, und die Gläubigen haben keinen Grund, sie zu fürchten. Der Sieg Christi gewann Dauer durch die Auferstehung und die Himmelfahrt (Epid. 99), in der Christus zum endzeitlichen Richter der bösen Engel wird (100). Die Passion ist nur scheinbar ein Triumph Satans; in Wirklichkeit empfängt Christus darin bereits die Siegeskrone (Hippolyt, Noet. 18,7). Durch die Teufelsaustreibungen Jesu wird Satans Macht gebrochen; gleichwohl bedarf es noch einer eschatologischen Wiederholung des Kampfes zwischen Jesus und Satan, die beim Erscheinen des —»Antichrist

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am Ende des Tausendjährigen Reiches stattfinden wird (Irenaeus, haer. V,28,2). Dann wird Christus endgültig triumphieren, während der Teufel und seine Engel in ewiges Feuer stürzen (V,26,2). Abgesehen von der Unterscheidung zwischen Teufeln und Dämonen und den chiliastischen Vorstellungen blieb die Dämonologie des Irenaeus das Muster für die meisten Theologen bis zum Ende des Spätmittelalters. —»Tertullian meinte, daß das weibliche Geschlecht für den Einfluß der Dämonen besonders zugänglich sei (—>Frau). Eva war die Einfallspforte des Teufels (Cult. 1,1,1 f); zum Schutz vor Teufeln sollten Frauen einen Schleier tragen (Virg. 7); die Teufel schufen die abergläubigen Vorstellungen im Umkreis der Geburt (An. 39); desgleichen sind sie die Quelle von Zauberei und Götzendienst (Apol. 35,12; Idol. 1). Aber Christus hat die Macht über die unreinen Geister (Marc. IV,20), und er befreit uns in der Taufe von dem Unterworfensein unter Satan (Bapt. 9,1). Am Ende werden die Diener Christi den Teufel und seine Engel richten (Paenit. 7,8). 1.6. Christliche Gnosis. Für —»Clemens von Alexandrien war es der Teufel, der Eva versuchte und daher für die Ursünde verantwortlich ist (prot. 1,7,4-6). Satan selbst war aus freier Wahl, aufgrund seiner überheblichen Machtbegierde, gefallen (str. IV,14,96,1). Ihm folgten die abtrünnigen Engel, von denen sich einige aus Liebe zu vergänglicher Frauenschönheit auf die Erde begaben (paed. 111,2,14,2). Sie streben vergeblich zu ihrem früheren Zustand zurück (str. VII,7,46,6). Ihnen gilt die Verehrung der heidnischen Kulte (prot. II,40f). Sie führen die Menschen in Versuchung, die sie jedoch durch Geduld überwinden können (str. IV,17,106,2f). Clemens verneint, daß die bösen Engel die Philosophie erfunden hätten; diese sei vielmehr eine tugendhafte Beschäftigung (str. VI, 159,lf). Auch wenn der Böse sehr geschickt ist, hat ihn doch das Kreuz Christi seiner Wirkung beraubt (paed. 11,8,74,3 f). »Origenes glaubt nicht, daß die Teufel böse geschaffen wurden, sondern sie waren wie die menschlichen Seelen zum Guten fähig, bevorzugten aber das Böse. Ihr Führer ist Luzifer (princ. 1,5,5), der zerstörende Engel (hom. 9,5 in Num.), der Fürst dieser Welt (hom. 13,7 in Num.), die Krone der Schönheit (Cels. VI,44). Mit seinen Engeln oder abtrünnigen Mächten (princ. 111,3) wohnt er im Himmel (hom. 7,5f in Num.). Die Dämonen, deren Oberhaupt Beelzebub ist, sind böse Geister und keine Engel Gottes (Cels. V,5; VIII,25). Wie die Engel haben auch Dämonen und Teufel einen Leib. Ihre Speise ist der Rauch heidnischer Opfer, deretwegen sie auch in unserer Atmosphäre verbleiben (mart. 45). Origenes erwägt, ob vielleicht einige Menschen mit einem bösen Geist geboren seien (princ. 111,3,5). y>v%^ mit ipvxog [Kälte] verbindend, denkt er sich die Teufel kalt (11,8,3). Sie bilden eine Hierarchie (1,8,4). Obwohl sie Böses tun, halten sie das Böse für gut (111,3,3). Sie versuchen die Menschen; aber geschlechtliches Verlangen rührt nicht von ihnen her. Es gibt keine —»Sünde ohne die Mitwirkung eines Teufels (hom. 27,8 in Num.); aber erst wenn Menschen sündigen, gewinnen die Teufel wirkliche Gewalt über sie (princ. 111,2,2). Sie fügen Unglück zu (Cels. VIII,32). Sie üben eine gewisse Macht über heidnische Völker aus (princ. 111,3,2) und werden im Götzendienst (mart. 32) und von heidnischen Philosophen (Cels. V,43) angebetet. Sie führten die Kreuzigung herbei, um ihrer Entmachtung durch Christus ein Ende zu setzen (princ. 111,3,2). In jedem Fall ist ihnen nicht die physische Herrschaft über diese Welt anvertraut (Cels. VIII,31). Die Menschen brauchen sich nicht vor ihnen zu fürchten, denn Teufel haben keinen Einfluß auf diejenigen, die sie verachten (VIII,36). Es ist die Bestimmung der Menschen, nach dem Kampf mit „Fürstentümern und M ä c h t e n " (princ. 111,2,4) ihren Platz in den Himmeln einzunehmen (hom. 7,5 in Num.). 1.7. Die großen Väter. Am Fall der Engel scheiden sich die Ansichten weiterhin bis zum Ende der patristischen Periode. Manche Autoren lesen Gen 6 nach wie vor als Bericht über eine geschlechtliche Sünde von Engeln. Für Tertullian (Idol. 9,1; Virg. 7,2) und —»Lactantius (Inst. 11,15) bedeutet das Ereignis den Fall eines Teils der bösen Engel und den Ursprung der Dämonen. —»Eusebius dagegen schreibt diese Sünde bereits gefallenen Engeln zu (p.e. 11,5). —»Ambrosius (in Ps. CXVIII Sermo IV,8) und -»Augustin (Civ. XV,23) identifizieren die bene ha'elohlm mit den Söhnen Seths (vgl. bereits Josephus, Ant 1,4). In Ench. VIII,28 be-

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stimmt Augustin die Sünde der Engel als Stolz, bezogen auf Erkenntnis und falsches Wissen (vgl. dazu Civ. IX,20). Die bösen Engel sind vom Himmel in das „ M e e r " gestürzt, in dem der Drache lebt, womit das Meer der Welt gemeint ist (Psal. CHI,4,7). Während sie vor ihrem Fall einen himmlischen Leib hatten, ist dieser nun aus feuchter, dicker Luft (Civ. X X I , 1 0 ) , jedoch feiner als der unsrige,was sie zu schneller Bewegung befähigt (div. 3,7f). Dank ihrer immer noch hohen Intelligenz können sie bisweilen die Zukunft vorhersagen (5,9) und auf Zauberei reagieren (Quaest. 79). Oft jedoch lügen sie und täuschen ein Wissen vor, das sie nicht haben (div. 6,10). Vor dem Fall, der anders unbegreiflich wäre, können die bösen Engel schwerlich dieselbe Seligkeit genossen haben wie die guten Engel (Civ. XI,13). Wenn der Erste der Teufel, wie einige glauben, ein Engel weltlichen und nicht himmlischen Ranges war, sei sein Fall eher verständlich (Gen. litt. XI,17). Augustin selbst erklärt den Fall als Folge eines Konflikts zwischen zwei Formen von Liebe, heiliger und unheiliger Liebe (XI,15). Wie auch immer, in Abgrenzung gegen den —»Manichäismus sahen sich die Väter und vor allem Augustin gedrängt, Rolle und Einfluß des personifizierten Bösen in dieser Welt herunterzuspielen. Im Osten finden wir eine ähnliche Entwicklung der Auffassung von der satanischen Sünde. —»Theodor von Mopsuestia führt gegenüber den Neugetauften den Fall Satans auf dessen versuchte Usurpation der Herrlichkeit Gottes zurück (hom. XII,18, Tonneau 3 5 1 ) . Für —»Theodoret von Kyros ist der Teufel nur ein Geschöpf, unsterblich und frei geschaffen, das in Sünde verfiel (qu. 3 6 in Gen.). Nur „Dummköpfe" haben die bene ha'elohtm mit Engeln gleichgesetzt: Sie waren die Nachkommen Seths (ebd. 47). Auch für —»Cyrill von Jerusalem ist der Teufel ein, freilich jetzt unreiner, Geist (catech. X V I , 15). Er ist der Urheber der Sünde (11,4). Ihn zu verehren, ist Götzendienst (catech. XIXfmyst. I],8). Weil der Teufel in unserem Leib wohnt, empfangen wir die Taufe nackt; doch ist diese Nacktheit ohne Scham, denn wir werden darin wie Adam vor dem Fall (XXfmyst. II],2). Für—»Gregor von Nazianz war Luzifers Stolz über sein hohes Wissen von Gott die Ursache seines Falls; das diesbezüglich geringe Wissen des Menschen mag eine Gnade Gottes sein, damit er die Sünde des Teufels vermeide (or. X X V I I I [theol. II], 12). Für—»Gregor von Nyssa sündigte Satan aus Eifersucht auf die Schönheit Adams, die ihn für das Gute blind machte (or. catech. 6,6). Mehr und mehr beschäftigen sich die Väter mit dem Zusammenhang zwischen der Erlösung und Satan. Man kann geradezu sagen, daß für einige der Griechen die Dämonologie zu einem Teil der Soteriologie wird (—»Heil und Erlösung). Dies ist der Fall, wenn die Erlösung als ein dem Teufel erstattetes Lösegeld aufgefaßt wird, wie etwa bei Gregor von Nyssa. Mit dem Auftreten Jesu erwachte Satans alte Eifersucht von neuem. Indem er aber Jesus zum Tod brachte, überspannte Satan seine Rechte über den Menschen und verlor damit seine Gewalt über ihn (or. catech. 22f; 26). Cyrill von Jerusalem sieht den Teufel durch die Inkarnation — in seinem Versuch, Jesus zu umgarnen — zur Freilassung des Menschen aus seiner Umstrickung gezwungen (catech. XII,15). Nach Ambrosius wurde die Schuld (debitum) der Menschen an den Teufel durch das Kreuz Christi abgetan (Sacram. V,27). Selbst für Augustin bedeutet der Tod Christi einen Machtmißbrauch Satans, durch den dieser seine Macht zu Recht eingebüßt hat (Enchir. X I V , 4 9 ) . Mit dem Ende der Verfolgungen und der Bekehrung des römischen Reiches erlosch zugleich die dämonologische Erklärung der Gesellschaft. Im Osten schoben die Kontroversen um den Origenismus dem Nachdenken über das zukünftige Wirken und Schicksal der bösen Engel einen Riegel vor. Auch im Westen verwarf —»Hilarius von Poitiers Überlegungen über die Sünden der Engel, da „wir nicht wissen sollen, was im Buch des Gesetzes nicht enthalten ist" (Psal. C X X X I I , 6 ) . Gleichwohl fehlen eschatologische Spekulationen auch bei den Vätern nicht. Die Divinae Institutiones des Lactantius stehen durch die Selbständigkeit und Heterodoxie ihrer Anschauungen in der gesamten patristischen Literatur einzig da: Der Teufel erscheint darin als ein gegenüber dem Erstgeborenen jüngerer Sohn Gottes (11,8,3-5); wirksam in der gegenwärtigen Welt, streitet er gegen Engel und Menschen. Er wird tausend Jahre gebunden liegen, dann aber freigelassen werden, um die Reiche dieser Welt in ihrem Kampf gegen die Stadt (hier wohl eher Rom als Jerusalem) um sich zu scharen;

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sie w e r d e n aber den Kampf verlieren u n d v e r d a m m t werden (VII,26). N ü c h t e r n e r k ü n d i g t Cyrill von Jerusalem das K o m m e n des Antichrist als des elften Königs a m E n d e des römischen Reiches an (catech. XV, 12). Als Satans persönliches W e r k z e u g wird er f ü r M e n s c h e n u n b e s i e g b a r sein ( X V , 1 4 f ) . Die M ä r t y r e r der letzten T a g e w e r d e n direkt m i t S a t a n k ä m p f e n (XV, 17). Endlich wird der Antichrist d u r c h den Heiland ü b e r w u n d e n w e r d e n (XV, 12). Bezüglich des endgültigen Schicksals des Teufels finden sich z a g h a f t e E r w ä g u n g e n , d a ß es zu einer V e r s ö h n u n g mit G o t t k o m m e n k ö n n t e . Eine e n t s p r e c h e n d e A n d e u t u n g erscheint bei Origenes (princ. 1,6,2ff) u n d wird in d e m Dialog Gregors v o n Nyssa De anima etresurrectione wiederholt (PG 4 6 , 7 2 B). G r e g o r von N a z i a n z dagegen lehrt, d a ß für den Teufel und seine Engel ein rächendes Feuer bereitsteht (or. 4 0 , 3 6 ) . Diese Ansicht teilen die meisten der Väter. In der Synthese östlicher T h e o l o g i e d u r c h —»Johannes von D a m a s k u s sind die Teufel u n d D ä m o n e n o h n e Z a h l , jedoch m a c h t l o s , w o nicht d u r c h G o t t ermächtigt, u n d o h n e Kenntnis der Z u k u n f t . Satan w a r vor dem Fall nicht einmal der h ö c h s t e Engel. V o n den D ä m o n e n u n d Teufeln s t a m m t alles Böse her, aber der M e n s c h h a t die Freiheit, sich von ihnen a b z u k e h r e n . Sie sind b e s t i m m t für ein ewiges Feuer, denn sie k ö n n e n nicht Buße tun (f. o. 11,4). Im W e s t e n hinterließen die späteren V ä t e r d e m Mittelalter eine volkstümlichere, weniger n ü c h t e r n e D ä m o n o l o g i e . Schon f r ü h w a r das asketische Leben (—»Askese) im Z u g e des sich a u s b r e i t e n d e n Eremiten- u n d —»Mönchtums mit einem K a m p f mit dem Teufel oder mit D ä m o n e n verglichen w o r d e n (so bereits in —»Athanasius' Leben des Hl. Antonius). Diese Vorstellung w u r d e durch die vielgelesenen Schriften des —»Cassianus zu westlichem Gem e i n g u t (bes. Coli. VII f). Aus ihnen bezog d a s Mittelalter die Vorstellung, d a ß ein Drittel d e r Engel Satan gefolgt sei (Coli. VIII,8). Ähnlich beschreibt auch —»Gregor der G r o ß e in seinen Moralia in Job die V e r s u c h u n g als eine Begegnung mit T e u f e l n ; seine Dialogi enthalten zahlreiche Beispiele f ü r das W i r k e n der Teufel, so etwa aus d e m Leben —»Benedikts von N u r s i a . Dagegen legen die Etymologien —»Isidors von Sevilla wenig G e w i c h t auf die D ä m o nenlehre, u n d seine Schrift De ordine creaturarum (8) bietet eine maßvolle Z u s a m m e n f a s s u n g der westlichen A n s c h a u u n g e n . 1.8. Konzile. Das von der Synodos endemusa 543 ratifizierte Edikt Justinians gegen den Origenismus verurteilt in can. 7 den Glauben, daß „im künftigen Äon Christus für die Dämonen gekreuzigt werden wird, wie er es für die Menschen wurde" (DS 409); can. 9 verwirft den Glauben an die Apokatastasis der Dämonen oder der bösen Menschen (DS 411). 553 verurteilte das zweite Konzil von —»Konstantinopel verschiedene Vorstellungen im Zusammenhang mit den Kephalaia gnostica des Evagrius, darunter den Glauben an die Versöhnung der Dämonen (can. 12: A. Guillaumont, Les,Kephalaia gnostica' d'£vagre le Pontique, Paris 1962, 146). Unterdessen zogen im Westen andere Punkte die Aufmerksamkeit auf sich. In Braga werden 561, in Abwehr des —»Priszillianismus, die Sätze verworfen, daß der Teufel selbstursprünglich (can. 7), daß er der Schöpfer von Donner, Sturm und Dürre sei (can. 8), daß er und seine Dämonen den menschlichen Körper im Mutterleib formen (can. 12) und daß böse Engel die Erschaffer allen Fleisches seien (can. 13) (DS 457f; 462 f). In Irland verurteilt can. 16 der sog. „ersten Synode des Hl. Patrick" (Mitte 5. Jh.) den Glauben an Unholde oder Geister (L. Bieler, The IrishPenitentials, Dublin 1963, 56). Von weltlicher Seite erklärt-»Konstantin I. um 317/19 die Ausübung von Magie für gesetzeswidrig. 364 verbieten Valentinian und Valens magische Praktiken bei Höchststrafe des Todes. Im 5. Jh. wird das konstantinische Magieverbot durch den Codex Theodosianus erneuert. 2. Byzantinische

Theologie

Die D ä m o n o l o g i e von —»Byzanz bleibt im wesentlichen z u r ü c k h a l t e n d u n d folgt den H a u p t l i n i e n der bei J o h a n n e s v o n D a m a s k u s niedergelegten patristischen Synthese. Im byz a n t i n i s c h e n Reich u n d seinen N a c h f o l g e s t a a t e n , den o r t h o d o x e n L ä n d e r n , scheinen denn a u c h die D ä m o n e n a n g s t , die das lateinische Spätmittelalter u m t r i e b , oder H e x e n j a g d e n wie im A b e n d l a n d des 16./17. Jh. u n b e k a n n t geblieben zu sein. Gleichwohl gibt es Indizien f ü r ein volkstümliches Interesse an D ä m o n e n u n d ebenso f ü r eine eher wissenschaftliche oder theologische Beschäftigung mit ihnen. Ein bevorzugter O r t f ü r das N a c h d e n k e n über den T e u f e l w a r e n die K o m m e n t a r e zur —»Apokalypse des J o h a n n e s . A n r e g e n d f ü r viele wirkte d e r K o m m e n t a r des Andreas von C a e s a r e a (ca. 5 6 3 - 6 1 4 ) , so vor allem für—»Arethas v o n C a e s a r e a , der den Schwanz des D r a c h e n in Apk 12,3 f mit der L u f t identifiziert (PG

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1 0 6 , 6 6 1 ) . Patriarch —»Photios übte in seinen Amphiloquia einen mäßigenden Einfluß aus: Die bene ba'elohim sind keine Engel, sondern Söhne Seths (PG 1 0 1 , 1 0 6 5 - 1 0 6 8 ) ; der Teufel hat keinen Vater, sondern wurde direkt von Gott geschaffen und stürzte durch Sünde von seinem hohen Stand ( 3 5 2 - 3 5 6 ) . Georgios Kedrenos (ca. 1 1 . - 1 2 . Jh.) nahm in seiner Chronik (ovvoiptg ioTOßtwv) unter Bezug auf das —»Jubiläenbuch und andere frühjüdische Texte einige jüdische Legenden über die bene ba'elohim wieder auf (PG 1 2 1 , 4 1 ) . Michael Psellos ( 1 0 1 8 — ca. 1 0 7 9 ) verfaßte einen Dialog gegen die Euchiten über „das Wirken der Dämon e n " (PG 1 2 2 , 8 1 9 - 8 7 6 ) und gab einen kurzen Überblick über „die Meinungen der Griec h e n " , d. h. der Heiden, „über D ä m o n e n " (ebd. 8 7 6 - 8 8 1 ) . Ihm zufolge gibt es sechs Arten von Dämonen, die in der Nähe des Mondes, in der Luft, auf der Erde, im Wasser, unter der Erde und in der Finsternis wohnen ( c . X I ; 8 4 4 f). Die Euchiten jedoch irren, wenn sie Satanael für den Sohn Gottes halten: Er ist nur der Fürst der Lügen, der in die Finsternis geworfen wurde, weil er sich anmaßte, Gott gleich werden zu können; nur Satan selbst behauptet, er sei der Erstgeborene Gottes (c.III; 8 2 5 - 8 2 8 ) . D a s H a u p t p r o b l e m der byzantinischen D ä m o n e n l e h r e liegt freilich nicht auf der E b e n e theologischer S p e k u l a t i o n , sondern entspringt der Erfahrung der Askese als eines geistlichen R i n g e n s mit D ä m o n e n . —»Evagrius Ponticus und J o h a n n e s K l i m a k o s (gest. ca. 6 7 0 ) waren maßgebliche V e r m i t t l e r dieser T r a d i t i o n , die jedoch leicht zu einem —»Dualismus verzerrt werden konnte, der entfernt mit dem M a n i c h ä i s m u s z u s a m m e n h i n g und sich mit origenistischen S p e k u l a t i o n e n vermengte. Dualistische Bewegungen o d e r Sekten treten v o m 4 . bis etwa 13. J h . n a c h e i n a n d e r unter den N a m e n der—»Messalianer (Euchiten), —»Paulicianer und —»Bogomilen auf. W a s der asketischen T h e o r i e und Praxis gefährlich zu werden d r o h t e , w a r die T e n d e n z , G u t und B ö s e als zwei o n t o l o g i s c h e Prinzipien oder Persönlichkeiten einander entgegenzusetzen und M a t e r i e und Fleisch für böse zu erklären. Im M e s s a l i a n i s m u s beinhaltet die V e r s u c h u n g eine direkte E i n w i r k u n g des Teufels a u f den K ö r p e r oder sogar eine substanzielle Vereinigung der Seele mit dem T e u f e l . M a n c h e seiner dualistischen Auffassungen fanden durch die Homilien des P s e u d o - M a k a r i o s ( D ö r r i e s / K l o s t e r m a n n / K r o e g e r 1 9 6 4 ; K l o s t e r m a n n / B e r t h o l d 1 9 6 1 ; Berthold 1 9 7 3 ) E i n g a n g in die Standardliteratur des M ö n c h t u m s . S o l c h e n Neigungen traten die griechischen T h e o l o g e n durch ihre systematische B e t o n u n g der Schöpfungslehre entgegen, die unter Gleichsetzung des Schöpfers mit dem Erlöser die Existenz eines bösen Prinzips verneint und die grundsätzliche G ü t e der geschaffenen W e l t , der M a t e r i e und des Fleisches bekräftigt. Sie wurde schließlich überwunden durch die T h e o l o g i e des göttlichen Lichts ( z . B . —>Symeon der neue T h e o l o g e und —»Gregorios Palamas).

In neuerer Zeit bieten die (durchweg als private Zeugnisse entstandenen) orthodoxen Glaubensbekenntnisse eine kurze Summe der patristischen Lehre. Die Bekenntnisse des nachmaligen Patriarchen von Alexandrien Metrophanes Kritopoulos (gest. 1 6 3 9 ) , des Patriarchen Peter Mogila von Kiew (gest. 1 6 4 7 ) und des Metropoliten Dositheos von Jerusalem ( 1 6 4 1 - 1 7 0 7 ) - letzteres wurde 1 6 7 2 von der Synode von Jerusalem approbiert - beschreiben die Stellung Luzifers in der Schöpfung mit einem Minimum an Spekulation; nur Metrophanes ist ausführlicher und wiederholt einige der phantastischeren Annahmen der traditionellen Literatur: Einer der neun Engelschöre sündigte unter der Führung Luzifers und wurde zu der von Gott bestimmten Zeit in die Hölle geworfen, worauf Gott als Ersatz die Menschen und Tiere schuf (Ta Aoyixazixá xai SvßßoXixa Mvtjfiela rrjg 'OQGOÓÓ^OV KadoXixrjg ExxXrjaiag, hg. v. Johannes N. Karmiris, Athen, II 1 9 5 3 , 4 9 8 - 5 6 1 [Metrophanes Kritopoulos]; 5 9 3 - 6 8 2 [Petros Mogila]; 7 4 6 - 7 7 3 [Dositheos v. Jerusalem]). In der zeitgenössischen Thyateira Confession des griechisch-orthodoxen Metropoliten von Thyateira und Großbritannien Athenagoras (gest. 1 9 7 9 ) wird die orthodoxe Dämonenlehre mit kennzeichnender Nüchternheit formuliert: „ D a ß die Engel freie Wesen sind, hat sich am Widerstand einiger gegen den Willen Gottes gezeigt. Diese wurden zum Beispiel der Auflehnung des Menschen gegen Gott. Deshalb gibt es auch die gefallenen Engel, die sich Gott widersetzt haben; die das Licht verloren haben und der Finsternis ausgeliefert wurden; sie wurden zu Feinden Gottes und des Menschen. Diese Engel werden von der Heiligen Schrift Dämonen und Teufel genannt." Und weiter: „Das Böse oder der Teufel ist der Gegner Gottes, der gefallene Engel, der dadurch die Personifizierung des Bösen schlechthin und der Anstifter aller bösen Taten wurde" (Athenagoras Kokkinakis, Gebet u. Glaube des Volkes Gottes, Freising 1 9 7 7 , 2 6 f . 9 7 f ) .

Dämonen V 3. Die monophysitischen

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Kirchen

Die gewöhnlich als —»Monophysiten bezeichneten Theologen Syriens (—>Jakobitische Kirche) und —»Armeniens scheinen sich über Dämonen im großen und ganzen nur sehr zurückhaltend geäußert zu haben (vgl. Jugie 6 1 4 - 6 1 7 ; Chesnut). Dies braucht nicht zu überraschen, da die monophysitische Theologie, ausgehend von dem Vorrang der Göttlichkeit vor der Menschlichkeit im fleischgewordenen Herrn, dazu neigt, die Vergöttlichung dieser Welt zu unterstreichen. —»Severus von Antiochien nennt im Einklang mit seiner Logos-Theologie die wahre Lehre das hauptsächliche Mittel zur Uberwindung der Dämonenverehrung. Für —»Philoxenus von Mabbug entscheidet sich jeder Mensch in dem geistlichen Kampf, den der Heilige Geist und der Teufel um seine Seele führen, für die eine oder die andere Seite; doch die Herrschaft der Dämonen ist bereits zunichte gemacht durch die Aufnahme der Menschennatur in die Hypostase des Wortes. Die üppiger ausgestalteten Vorstellungen —»Jakobs von Sarug fügen sich in dessen mythische Beschreibung von Inkarnation und Erlösung. Der Teufel erhält zahlreiche Namen. Die Dämonen heißen die Herrscher der finsteren Welt, die Hüter der Nacht. Sie erfanden die theologische Kontroverse. Se'ol ist die finstere Stadt, die Stadt der Toten. Sie trat für alle vor dem Erscheinen des Herrn im Bilde des Knechts gestorbenen Menschen an die Stelle von Eden und wäre auch uns noch bestimmt, wenn nicht der Herr die Verkleidung der Menschlichkeit angelegt hätte, um sich, besonders bei seinem Abstieg zur Hölle, vor dem bösen Archonten unkenntlich zu machen. Denn diese Welt war mit dem Siegel Satans, dem fremden Siegel, versiegelt. Aufgabe Christi war es, sie mit dem Siegel des Sohnes zu versiegeln. Der endgültige Sieg über den bösen Archonten geschah während der drei Tage der Höllenfahrt, als der Herr den Tod verdarb, der ihn verschlungen hatte. Im Gegensatz hierzu enthält das viel jüngere Gebetbuch des Armeniers Gregor Narekatsi (ca. 9 4 4 - c a . 1010) nur wenige Anspielungen auf Satan, so etwa in der Bitte an „Christus, den Sohn des allerhöchsten Gottes": „ . . . mögest du dank der Klänge dieses Buches das Antlitz Satans mit Schande und Scham erfüllen" (SC 78,344).

4. Das lateinische

Mittelalter

4.1. Volksglaube. Die D ä m o n e n l e h r e , die das westliche Mittelalter als Erbe e m p f i n g , w a r nicht m e h r die alttestamentliche u n d s p ä t j ü d i s c h e Lehre in ihrer u r s p r ü n g l i c h e n , sondern in einer d u r c h die hellenistische u n d die lateinische Kultur u n d den Polytheismus der antiken M y t h o l o g i e v e r ä n d e r t e n F o r m . Ihre W e i t e r e n t w i c k l u n g im Frühmittelalter m u ß auch d u r c h die G ö t t e r w e l t der g e r m a n i s c h e n S t ä m m e beeinflußt w o r d e n sein. Z w a r ist die Quellenlage in dieser Hinsicht sehr ungünstig, a b e r das eine scheint klar zu sein, d a ß m a n zwischen der D ä m o n e n l e h r e der T h e o l o g e n u n d der des V o l k s g l a u b e n s unterscheiden m u ß . W ä h r e n d die erstere sich in d e n B i b e l k o m m e n t a r e n widerspiegelt, ist die letztere u n m i t t e l b a rer in der volkssprachlichen L i t e r a t u r der e n t s t e h e n d e n N a t i o n e n u n d hier b e s o n d e r s in den Epen mit religiösem M i t t e l p u n k t (z. B. dem Heiligen G r a l [—»Gralssage]) oder den Mysterienspielen (—»Drama) f a ß b a r . Eine andere Quelle ist die bildende K u n s t der —»Romanik u n d —»Gotik, vor allem der S k u l p t u r e n s c h m u c k gotischer Kirchen. D a ß ein von der Kirche in den U n t e r g r u n d a b g e d r ä n g t e r , der g e r m a n i s c h e n M y t h o l o g i e entspringender Kult eines g e h ö r n ten Gottes von H e x e n weitergepflegt w o r d e n sei, ist n i r g e n d w o belegt (gegen M a r g a r e t M u r r a y , The God of the Witches, 1933). M i t Sicherheit wissen wir dagegen von gewissen dualistischen H ä r e s i e n , die leider u n g e n ü g e n d e r f o r s c h t , weil schlecht bezeugt sind. E t w a 6 0 0 J a h r e nach d e m Priszillianismus t a u c h t e n im 12. u n d 13. J h . ähnliche, auf östliche, bogumilische Einflüsse z u r ü c k g e h e n d e Ansichten in Gestalt des Albigenser- oder K a t h a r e r t u m s (—»Katharer) in S ü d f r a n k r e i c h von n e u e m auf. Ihre w e i t e r w i r k e n d e Virulenz m a c h t e sich gegen E n d e des Mittelalters a n m a n c h e n O r t e n in der F o r m von H e x e n k o n v e n t e n oder kleinen Sekten b e m e r k b a r . Auch rechnete die V o l k s f r ö m m i g k e i t mit der M ö g l i c h k e i t eines V e r k e h r s mit d e m Teufel u n d seinen Engeln d u r c h s c h w a r z e M a g i e . Der Beweis d a f ü r findet sich in einem langen C a n o n gegen Z a u b e r e i u n d H e x e n , der fälschlich einem Konzil v o n Ancyra im 4. Jh. zugeschrieben w i r d ; er erscheint bereits 8 7 2 in d e n Kapitularien Karls des Kahlen u n d ging in den Bestand des Decretum Gratianum (—»Kirchenrechtsquellen) ein (II causa 2 6 , 5 , 1 2 ) . D a r ü b e r h i n a u s enthalten die liturgischen Bücher von f r ü h an R i t e n des —»Exorzismus, u n d im 10. J h . w u r d e der R a n g des Exorzisten eine der m i n d e r e n W e i h e s t u fen auf dem W e g e zum Priestertum.

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4.2. Monastische Theologie. Bereits die Theologen der —»Karolingischen Renaissance, vor allem —»Alkuin, stellten Spekulationen über D ä m o n e n an. N a c h Alkuin sündigte Satan, der höchste der Engel, durch Stolz; der Glaube, daß er schließlich zu seiner früheren Herrlichkeit restituiert werden könnte, sei ein Irrtum, „der W a h n des Origenes" (Interr. et resp. in Gen. II; PL 100,526 B). D a n a c h entwickelte erst die monastische Theologie des 12. Jh. wesentliche neue Ideen. —»Hugo von St. Victor, der in T r a k t a t II seiner Summa sententiarum (PL 176,83 f) die spätpatristische Dämonologie zusammenfaßt, votiert für eine Sünde der Selbstüberhebung: Luzifer begehrte — gleichzeitig mit seiner Erschaffung - , G o t t überlegen zu sein. Bedeutsamer jedoch sind —»Anselm von Canterbury und - » R u p e r t von Deutz. Anselms Dialog D e casu diaboli ist eine religiöse und metaphysische Betrachtung über die Sünde der Engel, die als freie Entscheidung f ü r ein unrechtes Handeln verstanden wird. —»Gerechtigkeit ist, wie Anselm in Cur Deus homo hervorhebt, die Kardinaltugend, ohne deren Verwirklichung die Erlösung selbst nicht stattfinden kann. Ihr aus freier Entscheidung zuwiderzuhandeln, ist daher die höchste Sünde. Eine solche Entscheidung Satans steht im Einklang mit dem Prinzip, daß jede T a t die göttliche Gabe der Möglichkeit des Handelns voraussetzt. W a r u m einige das Gute, andere das Böse wählen, ist aus der Selbstbestimmung des freien —»Willens der Einzelwesen zu erklären. Damit eröffnet sich dem Nachdenken über die Sünde der Engel eine breite Perspektive auf die Bedingungen menschlicher —»Freiheit vor G o t t und auf das f ü r gutes Handeln notwendige Vertrauen in Gott. Rupert von Deutz gibt der Dämonologie eine andere Wendung. Buch I von De victoria Dei Verbi untersucht den ersten Sieg des Wortes, seinen Triumph über Luzifers Empörung. Dessen Sünde war die A n m a ß u n g der Gottgleichheit (1,8); andere Engel akzeptierten seinen Anspruch und beteten ihn an (1,9). Als das W o r t die Geschöpflichkeit Luzifers bezeugte, lehnten Luzifer und seine Anhängerschaft dieses Zeugnis ab und sündigten dadurch von neuem (I,13f). D a r u m wurden sie durch die treuen Engel unter Führung Michaels aus dem Himmel vertrieben (1,18). Die Sünde Satans geschah nicht bei seiner Erschaffung, und sein Fall folgte, durch die Langmut Gottes, nicht unmittelbar auf seine Sünde (1,21). Buch II behandelt den zweiten Sieg des Wortes bei der Versuchung Adams und Evas. Eine knappere Erörterung desselben Themenkreises bietet Ruperts Genesiskommentar. Hier wird Gen 1,4 auf die Scheidung der guten und der bösen Engel bezogen, die beide durch das Fiat lux von V. 3 als Licht geschaffen wurden — eine dann durch die Historia scholastica des —»Petrus Comestor bekannt werdende Auslegung. Die Engel hatten die Wahl, entweder durch Liebe zu G o t t im Licht voranzuschreiten oder durch Sünde in wachsende Finsternis zu fallen. Einer der höchsten Engel, „ein Großer unter den Fürsten des großen H o f e s " (In Gen. 1,16), vermeinte, er sei bereits vollkommen. Das Ergebnis war der Fall der Engel, der noch immer nicht abgeschlossen ist. Ausgeschlossen vom Licht Gottes, wird Satan mit seinem Gefolge später in „die tiefere Hölle", „ d a s ewige Feuer" geschleudert werden (1,17). Er versucht alle M e n schen. Die Versuchung jedoch k o m m t nicht von außen, sondern die innere Stimme des Teufels gibt der äußeren Anfechtung ihre Bedeutung. Seit der Mensch gefallen ist, kann n u r das göttliche Wort Satan überwinden. So eröffnen sich der theologischen Reflexion über den Teufel neue Dimensionen. Bei den Vätern w a r die Dämonologie Teil der Soteriologie und antwortete auf die Frage: W o v o n werden wir erlöst? In der monastischen Theologie des Mittelalters antwortet sie auf die Frage: Wie überwand Christus den Teufel? Zugleich versucht sie, das Wesen der Ursünde zu erklären, und leistet damit einen Beitrag zur Anthropologie (—»Mensch). 4.3. Scholastik. Dieser Problemzusammenhang wird von der —»Scholastik übernommen. In den Sentenzen des —»Petrus L o m b a r d u s wird die Dämonologie als Teil der Angelologie behandelt. Sie beginnt mit der Frage, ob die Engel glückselig geschaffen wurden (II, d.4). Die A n t w o r t ist Nein, denn andernfalls hätte kein Engel sündigen können. Die Sünde der Engel bestand in einer Nicht-Kooperation mit der göttlichen Gnade, die notwendig ist, „ u m wirksam gut zu wollen" (d.5). Luzifer war einer der höchsten Engel; die anderen Engel

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„stimmten mit seiner Bosheit überein". Nach ihrem Fall vom „empyreischen H i m m e l " befinden sie sich nunmehr in unserer Atmosphäre, einige freilich auch in der —»Hölle, und wechseln zwischen beiden Orten hin und her (d.6). Ihr gegenwärtiger Zustand ist endgültig. Von bösem Willen, vermögen sie aufgrund ihres scharfen Verstandes tätig zu werden, wenn Menschen sich der Magie bedienen. Doch ihre M a c h t ist begrenzt durch den Willen Gottes und die Wachsamkeit der guten Engel (d.7). D ä m o n e n können sich nicht substanziell mit einer Seele vereinigen; in Fällen von Besessenheit mögen sie in den Körper eindringen, bleiben aber diesseits der Seele, auf die sie nur durch äußeren Druck einwirken (d.8). Das 4. Laterankonzil (—»Lateransynoden) stellte 1215 gegen die Albigenser die Minimalaussage der Tradition über den Teufel fest: „Der Teufel und die anderen D ä m o n e n wurden von G o t t ihrer N a t u r nach gut geschaffen, sind jedoch durch sich selbst böse geworden. Der Mensch aber sündigte auf die Einflüsterung des Teufels h i n " (DS 800). Am Ende der Welt werden alle Menschen „nach ihren Werken, sie seien gut oder böse, die einen mit dem Teufel ewige Strafe, die anderen mit Christus i m m e r w ä h r e n d e Herrlichkeit e m p f a n g e n " (DS 801). 4.3.1. Thomas von Aquino. Die Sentenzen des Lombarden bilden den Ausgangspunkt der Dämonologie der großen Scholastiker, obwohl deren Überlegungen in verschiedene Richtungen weiterführen. —»Thomas von Aquino bleibt in seinen Äußerungen über Dämonen sehr nüchtern. In seinem Compendium theologiae findet der Teufel beiläufige Erwähnung, z. B. in c. 189 im Kontext der Versuchung Evas. Breiter wird die Dämonologie in C o m m . Sent. II d. 1 - 1 1 und in De malo q. 14 erörtert. In der Summa sieht T h o m a s das entscheidende Problem als ein moralisches und ontologisches. Der ontologische Aspekt lautet: Kann ein reiner Geist sündigen? —der moralische: In welche Sünde kann ein reiner Geist fallen? T h o m a s geht es dabei in erster Linie um die Frage, wie sich die Lehre von einem Fall der Engel in eine Vorstellung von deren rein geistiger N a t u r einfügen läßt. Seine Lösung ist einfach: Quoad culpa kann „jedes vernunftbegabte Geschöpf sündigen, wenn es in seiner bloßen N a t u r betrachtet w i r d " (I q.63 a . l ) ; der geschaffene Wille hat die natürliche Fähigkeit, sich nicht nach dem ihm zugewiesenen Endzweck zu richten. Bei einem reinen Geist ist nur eine Sünde denkbar, die nicht des Leibes bedarf, d. h. Stolz, der dem rechtmäßigen Herrn den Gehorsam verweigert, und daraus folgend Neid auf diejenigen, die Gottes Gunst genießen - in diesem Fall: die Menschen (a. 2). Was das genaue Ziel von Satans Stolz betrifft, stellt T h o m a s ohne Umschweife fest: „ D e r Engel hat ohne Zweifel dadurch gesündigt, daß er danach strebte, wie Gott zu sein". Und damit kann nur gemeint sein, d a ß Satan selbst der Urheber seiner endgültigen Seligkeit sein wollte (a.3). Diese Selbstüberhebung kann sich nicht im ersten Augenblick von Luzifers Dasein ereignet haben, der mit seiner Erschaffung zusammenfällt, sondern m u ß im zweiten M o m e n t geschehen sein. Ein reiner Geist, mit Wahlfreiheit und im Stand der G n a d e geschaffen, entschied der Engel durch seine erste Wahl einer H a n d l u n g über seine endgültige Seligkeit oder Verdammnis (a.6). Der Engel, der als erster sündigte, war am wahrscheinlichsten der oberste von allen, denn dadurch hatte er den meisten G r u n d zu glauben, er könne seine Seligkeit durch eigene Kraft besitzen (a.7). Die anderen sündigten, indem sie seinem Vorbild folgten (a.8). Quoad poena mögen einige kurze Hinweise genügen. Die Strafe m u ß mit einer rein geistigen N a t u r vereinbar sein, d. h. den Intellekt und Willen betreffen. Z w a r haben die D ä m o nen nicht ihr natürliches Wissen von G o t t verloren und mögen auch ein Stück geoffenbarten Wissens bewahrt haben; aber sie sind n u n m e h r des affektiven Wissens, das zur Liebe führt, b e r a u b t (q. 64 a . l ) . Ihr Wille ist verhärtet im Bösen (a.2). Zu diesem Schmerz des damnum k o m m t ein Schmerz des sensus hinzu: auch wenn für körperlichen Schmerz unzugänglich, k ö n n e n sie doch den Schmerz des Selbstwiderspruchs empfinden, d a ß nämlich ihr Wille nicht begehrt, w o f ü r er geschaffen ist (a.3). In einem letzten Artikel erläutert T h o m a s , daß z w a r die Dämonen ihren Platz in der Hölle haben, daß aber viele sich in unserer Welt aufhalten, w o sie die Menschen zum Bösen zu verführen trachten (a.4). 4.3.2. Die Franziskaner. Die Dämonologie der —»Franziskaner unterscheidet sich nicht wesentlich von der thomistischen, auch wenn sie sich enger an Augustin anschließt. -»Bona-

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venturas weitläufige Darstellung in C o m m . Sent. II d.5 a. l f und d.6 wird in Brev. II, c.7 k n a p p zusammengefaßt. Da das erste Prinzip zugleich der höchste G o t t ist, schuf dieser alle Kreaturen gut, aber keine ihm gleich. Die Engel waren nicht vollkommen, wohl aber vervollkommnungsfähig und damit zugleich auch fehlbar. Luzifer sündigte durch Selbstüberhebung und Ehrgeiz. Selbstüberhebung brachte ihn dazu, sich zu „seinem eigenen Prinzip", Ehrgeiz, sich zu seinem eigenen Zweck zu machen. So fiel „der erste der Engel" (Brev. 11,7,1). „Durch den Fall wurde er unbußfertig, halsstarrig, blind, von der Betrachtung Gottes ausgeschlossen, unordentlich in seiner Betätigung und ganz von dem Bestreben erfüllt, den Menschen durch vielfältige Versuchung in die Irre zu f ü h r e n " (ebd.). Gleichwohl, so heißt es in dem Opusculum De Regno Dei, stehen die bösen Engel nicht außerhalb der H a r m o n i e des Universums (44). Entsprechend dient das Vorhandensein von drei Ebenen - guten Engeln, Mittelgeschöpfen ( = die Menschheit), bösen Engeln - „der H a r m o n i e des Universums, der größeren Herrlichkeit der Menschheit und dem volleren Lobe G o t t e s " (ebd.). Johannes —»Duns Scotus widmet der Dämonologie weder im Opus Oxoniense noch in den Reportata Parisiensia einen speziellen Abschnitt, sondern behandelt sie an verschiedenen Stellen innerhalb der Angelologie. Zwei seiner Lösungen verdienen besondere Erwähnung. Z u m einen wird als die Sünde der Engel - die erst nach einer gewissen Zeit ihres Daseins geschah (Rep. Par. II d.4 q.un) — nicht Stolz, sondern übermäßige Selbstliebe, d. h. eine Abart der Sinneslust, genannt (d.6 q . l f ) . Z u m zweiten können die gefallenen Engel - zumindest die geringeren unter ihnen obwohl n u n m e h r verstockt im Bösen, gleichwohl Willensregungen haben oder Taten vollbringen, die natürlich oder sogar moralisch gut sind. Dies freilich ist nur eine Güte ex genere, die allgemeine, vom O b j e k t herstammende Güte. Dagegen können sie nicht gut sein ex bonitate completa in specie, d. h. ihre Absicht bleibt zuinnerst böse (d.7 q.3 schol.7). Bei den großen Scholastikern spielt der Teufel für die Erklärung der Erlösung so gut wie keine Rolle. So lehrt T h o m a s von Aquino, daß die Erlösung notwendig war mit Rücksicht auf Gott, „nicht aber mit Rücksicht auf den Teufel" (Summa III q.48 a.4 ad 2f). Ähnlich h a t auch für Bonaventura der Teufel keinen legitimen Herrschaftsanspruch über die Menschheit (Comm. sent. III d.19 dubium 3). Die Theorie der Rechte des Teufels ist damit ausgeschaltet. Zugleich verliert der Teufel einen Großteil seiner früheren Bedeutung für die theologische Spekulation. 4.3.3. Das Spätmittelalter. Angesichts dieser Sachlage zeigt das ausgehende Mittelalter eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen theologischer Reflexion und der wachsenden Faszination in manchen Teilen der Gesellschaft für —>Hexen und Teufelsverehrung. N o c h die Instruktionen Alexanders IV. (1254—1261) an die römische—»Inquisition (1254) hatten Zauberei von deren Zuständigkeit ausgenommen, es sei denn, sie w a r mit Häresie verbunden: Zauberei unterlag der weltlichen, nicht der geistlichen Gerichtsbarkeit. Erst unter —»Johannes XXII. begann die Inquisition, sich mit Zauberei zu befassen. 1484 erließ Innozenz VIII. (1484—1492) die Bulle Summis desiderantes gegen Hexen. Zwei Jahre später erschien der berüchtigte Malleus maleficarum. Ein M o m e n t , das zur Ausbreitung der Magie beitrug, war die H i n w e n d u n g der H u m a n i s t e n (—»Humanismus) zu Esoterik und Okkultismus. 5.

Reformation

Die Theologie der Reformatoren brachte keine Veränderung der vom Mittelalter überk o m m e n e n Sicht des Dämonischen. —»Luther versteigt sich zwar nicht wie —»Melanchthon zu astrologischen Spekulationen (vgl. Manschreck 1 0 2 - 1 1 2 ) , spricht aber bereitwillig über die Erfahrung des Diabolischen in seinem eigenen Leben und beschreibt die Tätigkeit der bösen Engel (bes. WA.TR 1,403 f; 2,386; 6 , 1 2 0 f . 2 0 4 - 2 2 2 ) . Wie so mancher mittelalterliche Prediger vergleicht er das christliche Leben mit einem Kampf mit dem Teufel. Er sieht die Welt erfüllt von Engeln des Lichts und finsteren Engeln, die beide auf das menschliche Leben einwirken. Im Mittelpunkt aber steht f ü r ihn die Aufgabe, dem Teufel und den Engeln der

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Finsternis ihren angemessenen Platz im Heilsgeschehen zuzuweisen. Denn da sich nichts der Herrschaft Gottes entziehen kann, muß auch der Teufel den Willen Gottes tun. Daher spielt der Teufel bei Luther eine größere Rolle als in der vorangegangenen Theologie. Die seit der Väterzeit eher vernachlässigte Vorstellung des Kampfes zwischen Christus und Satan erreicht nun apokalyptische Dimensionen in unserem Leben: „. . . wir können nicht gen himel komen, wir müssen vorhin ynn die helle faren, wir können nicht Gottes kinder werden, wir werden denn zuvor des Teufels kinder. Denn alles was Gott redet und thut, das mus der Teufel geredt und gethan haben" (WA 31/1,249). So besitzt der Teufel in Luthers Denken theologisch keine Bedeutung für sich, sondern läßt uns lediglich die dunkle Seite Gottes erfahren. Dies steh t in Zusammenhang mit der theologia crucis. Paradoxerweise gelangt Luther durch seine Hervorhebung des Dämonischen zu einer erneuten Betonung der traditionellen Anschauung, daß der Mensch den Teufel nicht zu fürchten braucht. Bei —»Calvin gewinnt die Dämonologie wieder eine tiefe Nüchternheit. „Da murren einige, daß die Schrift nicht an mehr Stellen jenen Fall, seinen Grund, seine Art, seine Zeit und den näheren Vorgang genau beschreibe. Aber weil uns dergleichen nichts angeht, so war es besser, daß es, wenn nicht eben verschwiegen, so doch nur kurz berührt w u r d e " (Inst. 1,14,16). Gleichwohl bleibt Calvin im Rahmen der Tradition, wenn er feststellt, daß Satan und sein Gefolge unter den Engeln durch eigene Verderbtheit aus ihrem ursprünglich guten Stand fielen. Auch wenn sie ohne Gottes „Willen und Erlaubnis nichts ausrichten können" (17), sollen Christen ständig vor ihnen auf der H u t sein (13-15.18) und nicht auf den Irrtum derer hören, „die da schwätzen, die Teufel seien bloß schlechte Empfindungen oder verwirrte Gedanken, die uns unser Fleisch eingebe" (19). Auf kurze Sicht freilich behielt Luthers Drastik die Oberhand über Calvins Besonnenheit. Der Teufel erfuhr in den Kirchen der Reformation weiterhin, und häufig verstärkt, dieselbe zweigleisige Behandlung, die bereits im Spätmittelalter zu beobachten war. Einerseits spielt er die Rolle eines wichtigen theologischen Prinzips, andererseits ist er ein koboldartiges, aber boshaftes Wesen, das sich in vielerlei Formen und auf vielfältige Weise betätigt, mit dem Hexen verkehren und dem durch Gesetzeskraft Einhalt geboten werden muß; daher die Hexenjagden des 16. und 17. Jh. in Europa und Amerika. Entsprechende Verlautbarungen von Synoden (Montauban 1598, La Rochelle 1607, mehrere Synoden von Assen zwischen 1610 und 1620 u.v.a.) sind ebenso zahlreich wie solche katholischer Behörden. In England veröffentlichte J a k o b I. ( 1 6 0 4 - 1 6 2 5 ) unter eigenem Namen eine Daemonologia (1604) gegen die Skepsis eines Reginald Scot, der in seiner Discovery of Witchcraft (1584) den Glauben an Zauberei für einen papistischen Aberglauben erklärt hatte. Der —>Puritanismus, mit dem herausragenden Beispiel —>Miltons in Paradise Lost (1667), mißt Satan eine steigende Bedeutung bei. Überhaupt zeigt das englische 17. Jh. ein spezielles Interesse an Engeln wie Dämonen. Während unter den Piatonikern von —»Cambridge Henry More ( 1 5 1 4 - 1 6 8 4 ) Analogien zwischen —•Piatos Ideenlehre und der christlichen Vorstellung der unsichtbaren Welt erkennt, widmet Bischof Joseph Hall ( 1 5 7 4 - 1 6 5 6 ) den bösen Engeln in seiner Schrift The Invisible World (Works VIII, 138-218) beträchtlichen Raum. Im amerikanischen Puritanismus führte die Dämonenangst noch 1692 zur Hexenverbrennung von Salem bei Boston. Was die Dämonenangst schließlich verebben ließ, war der Einfluß der neuen Frömmigkeitsbewegungen des 18. Jh., in Deutschland des —»Pietismus, in England und Amerika der evangelikalen und der methodistischen Bewegung (—»Methodismus), mit deren aus einer warmen Liebe zu Gott gespeistem Vertrauen in das Gnadenhandeln Gottes sie zutiefst unvereinbar war. J. —»Edwards veröffentlichte eine Reihe von Reflexionen über Geschichte u n d Stand der Dämonen, worin er die Sünde der Engel als Ablehnung der Inkarnation deutet (Miscellaneous Observations: Works, VIII 1830,499); Luzifer sei „das Oberhaupt aller Engel" (ebd.) und ein „Typos Christi" gewesen (502), schließlich aber durch diesen entthront worden (503). Im Grunde freilich beschäftigte sich das Great Awakenittg, zu dessen wortgewaltigsten Protagonisten Edwards gehörte, nicht sonderlich mit dem Thema Dämonen. Da in der Erweckung selbst die Welt Satans und der Finsternis durch die Welt des Geistes

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Dämonen V

und des Lichts von neuem überwunden wurde, bestand kein Grund, ein Wesen zu fürchten oder in den Vordergrund zu rücken, das Jesus, der Heiland, bereits besiegt hatte. 6.

Gegenreformation

Wie im Bereich des Protestantismus wurden Teufelsverehrung und Hexenwesen auch in den Ländern der Gegenreformation fast das ganze 17. Jh. hindurch gesetzlich verfolgt, und zwar sowohl von weltlicher als auch von kirchlicher Seite. Richtlinien für das Vorgehen der geistlichen Gerichtshöfe finden sich in den päpstlichen Bullen Coeli et terrae (1585) und Omnipotentis Dei (1623) sowie in zahllosen Beschlüssen von Provinzialsynoden und lokalen Behörden. Allmählich jedoch ging die diesbezügliche Leichtgläubigkeit zurück. Alonso de Salazars Denkschrift an die spanische Inquisition (1614) und die anonym erschienene Warnung des deutschen Inquisitors Friedrich von Spee (1631) sind Marksteine auf dem Weg zu einer kritischeren Einstellung gegenüber der Behauptung teuflischen Wirkens (vgl. Rosenfeld). Die Versuche, mißbräuchliche oder irrtümliche Hexenprozesse einzuschränken, mehrten sich. 1637 trugen die Instruktionen Urbans VIII. (1623—1644) an geistliche Richter der neuen Denkweise Rechnung. Ludwig XIV. bereitete 1682 Hexenprozessen in Frankreich ein Ende, indem er Zauberei außerhalb der gerichtlichen Zuständigkeit stellte. In derselben Zeit bleiben Teufel und Dämonen Gegenstand theologischer Spekulation. Ambrosius Catharinus ( 1 4 8 4 - 1 5 5 3 ) erneuert in seinem Werk De gloria bonorum angelorum et lapsu malorum (1552) die Vorstellung, daß Luzifer wegen seines Strebens nach hypostatischer Vereinigung mit dem Wort Gottes gefallen sei. Derselbe Gedanke erscheint auch bei F. —»Suärez, der in seinen Traktaten De

malis angelis eorumque lapsu et culpa und De paenis angelorum . . . et de hello quem contra Deum et

hominesgerunt (Op. Omnia, Paris, II 1866) noch einmal einen breiten Überblick über die scholastische Dämonenlehre bietet. Suärez versucht, Thomas von Aquino und Duns Scotus miteinander in Einklang zu bringen, indem er Luzifers Sünde sowohl als Stolz wie als exzessive Selbstliebe beschreibt, die sich beide in dem maßlosen Verlangen nach hypostatischer Einheit mit dem Wort verbinden (De malis 8 - 1 3 ) . Diese Sünde geschah am ersten Schöpfungstag, wenngleich nicht im ersten Augenblick von Luzifers Existenz (21). Es ist de fide certa anzunehmen, daß viele Engel, und zwar aus allen Rängen, durch die Überredung Luzifers sündigten (18). Ihre Strafe ist ein Schmerz des damnum und des sensus zugleich, wobei der letztere in der Betrübnis über den Verlust der ewigen Herrlichkeit besteht (De paenis 4f). Die Dämonen sind blind und verstockt im Bösen (6-11). Suärez diskutiertauch die Beschaffenheit des Höllenfeuers (12-14), den Ort der Hölle (16f) und das selbsternannte „Amt" der Anfechtung, das die Teufel ausüben (18-21). Ob freilich alle Anfechtungen von Dämonen kommen, vermag er nicht zu entscheiden (19). Seit Suärez hat die katholische Theologie keinen nennenswerten Beitrag zur Dämonologie mehr geleistet. Katechismen, Bischofslehre und Dogmatik fahren fort, von Existenz und Einfluß des Teufels und seiner Engel zu reden, ohne jedoch besonderes Gewicht darauf zu legen.

7. Aufklärung

und moderne

Theologie

Die —»Aufklärung gab der theologischen Interpretation der überlieferten Dämonenlehre eine neue Richtung. Es verbreitete sich die Überzeugung, daß das Bild des Teufels als eine Hypothese zur Erklärung des —»Bösen dient. Sobald man zu einer rationaleren Erklärung gelangte, konnte man jene der Volksfrömmigkeit überlassen und die Dämonologie auf Mythologie reduzieren. Einer solchen Umdeutung trat zu Beginn des 19. Jh. die -^Romantik entgegen. —»Chateaubriand begeisterte sich in seiner Schrift Génie du Christianisme (1802) (11,4,9 f) an der Großartigkeit Satans in der dichterischen Schilderung vor allem Miltons und —»Klopstocks [Messias, 1748-1780). —»Goethe hatte im Faust (1790) mitMephistopheles eine ältere literarische Gestalt wiederbelebt. Für einige Dichter wurde der Teufel zu einem romantischen Helden (Thomas Moore: The Loves ofthe Angels, 1820; Byron: Heaven and Earth, 1823; Lamartine: La chute d'un ange, 1838). Bei Alfred de Vigny gewann Klopstocks Eloa weibliche, pathetische, liebenswerte Züge (Eloa, ou la soeur des anges, 1824). In derselben Zeit entwickelten spekulativere Denker metaphysische Konzeptionen des Teufels. Die Unfähigkeit der philosophischen Reflexion, das Problem des Bösen zu einer befriedigenden Lösung zu bringen, verstärkte die Neigung, das Böse nicht mehr in morali-

Dämonen V

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sehen, sondern in ontologischen Kategorien zu sehen. Für —»Kant (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793) ist das Böse ein radikales Prinzip in der menschlichen Natur, die Sünde eine apriorische Handlungsweise aus dem ursprünglichen Gebrauch der Freiheit. —»Schelling versteht in seiner Philosophie der Offenbarung (1858) das Böse als ein Grundprinzip des Eigenwillens und betrachtet Satan als das positive Prinzip dessen, was nicht sein sollte, und das negative Prinzip dessen, was ist. Ansichten wie diese blieben nicht ohne Einfluß auf die Theologie. So lehrte K. -n>Daub, der Teufel sei das „absolut Böse", ein „böses Prinzip", das „Widernatürliche", das seinen Ursprung weder in Gott noch im Menschen, sondern in sich selbst habe, ein „Etwas", welches „das Princip seiner selbst, und somit das Urprincip alles Gesetzwidrigen" sei (Judas Ischarioth, oder das Böse im Verhältnis zum Guten, 2 Bde., Heidelberg, II 1816, 371). Kein „integranterTheil der Schöpfung", ist es „im Gegentheil ein Einbruch in die Schöpfung und ein Abbruch derselben" (11,382). In Korrektur und Erweiterung dieser Auffassung arbeitete die —»Bibelwissenschaft des 19. Jh. den mythischen Charakter der symbolischen und metaphysischen Motive der Dämonologie heraus. So ist Satan etwa für D. F. —»Strauß eine mythische Verkörperung der Ablehnung von Jesu messianischem Selbstverständnis durch seine Gegner (Das Leben Jesu 4 1 8 4 0 , § 56). kritisch bearbeitet, Alle diese Momente wirkten auf die spekulative Theologie ein. —»Schleiermacher versteht die biblische Rede von Teufeln und Dämonen als rein kulturbedingt (vgl. Der christl. Glaube, 2 1 8 3 0 , § 45,2). Alles, was Satan betrifft, wird aus der Norm christlichen Glaubens ausgeschlossen. Damit erhält die Erlösungslehre größeres Gewicht; denn der Glaube an einen Teufel würde implizieren, „daß die Erlösung durch Christum minder notwendig wäre, wenn es keinen Teufel gäbe" (ebd.). Tatsächlich ist das „schwankende Bild" des Teufels nichts weiter als eine Personifikation des Bösen. Wenn ein Christ fortfährt, „Momente seines eigentlich christlich frommen Bewußtseins . . . sich durch dergleichen Züge zu vergegenwärtigen", bedeutet dies lediglich einen „dichterischen Gebrauch" der Vorstellung. Diese hat ihren angemessenen Platz in unserem „Liederschatz" (ebd., Zusatz), ist aber keine Glaubensaussage über die reale Existenz eines Teufels. Der Einfluß Schleiermachers hatte erheblichen Anteil an der Abwertung, die die Dämonologie im protestantischen Denken des 19. und 20. Jh. und in jüngerer Zeit auch im katholischen Denken erfuhr. Im Gefolge von J. —»Müllers Die christliche Lehre von der Sünde ( 1 8 3 9 6 1 8 7 7 ) betrachteten Ethiker und Moraltheologen immer wieder die Engel und Teufel der christlichen Uberlieferung als Personifikationen der Vorstellungen und Erfahrungen von Gut und Böse (1,4). A. —»Ritsehl verlegte den Ursprung des Bösen sowohl in die Mängel des Einzelmenschen als auch in den Druck von Seiten der Gesellschaft, wobei der Teufel und sein Reich im Gegensatz zum Reich Gottes die soziale Dimension der Sünde symbolisieren (Unterricht in der christlichen Religion, 4 1 8 9 0 , §§ 2 8 - 3 2 ) . Immerhin aber konnte noch der dänische Bischof Hans Lassen Martensen in seiner Christlichen Dogmatik (dän. Erstaufl. 1 8 4 9 ; dt. 1856) eine metaphysische Dämonenlehre vorbringen. Nach Martensen gibt es ein unpersönliches Prinzip des Bösen, das in denen, die Böses tun, Persönlichkeit gewinnt. Es fand die erste und vollkommenste Persönlichkeit in einem gefallenen Engel, dem Teufel, und strebt, wie die Erscheinung der Besessenheit lehrt, heute wie je danach, in Menschen persönlich zu werden. Auf diese Weise nimmt Martensen den größten Teil der biblischen Rede von Teufeln und Dämonen in sein System auf. Die meisten modernen Theologien sind darauf bedacht, das christliche Teuielsverständnis zu entmythologisieren. K. —»Barth (Kirchliche Dogmatik, III/3 1 9 5 0 , 6 0 8 - 6 2 3 ) behandelt die Dämonologie als Anhang zur Angelologie. Teufel oder Dämonen bilden für ihn ein Reich des Bösen, charakterisiert durch radikale Negation: es steht wider Gott, wider die Schöpfung, ist „Unwesen", „das Nichtige", das in sich selbst Wert und schließlich höchsten Wert beansprucht. Diese Welt des Bösen ist in unserer Welt am Werk und versucht, Gottes Plan zunichte zu machen. Da aber Barth einen Fall von Engeln leugnet, vermag er letztlich den Ursprung der Teufel nicht zu erklären. P. —»Tillich vermeidet dieses Dilemma, indem er den Teufel als eine Personifikation des Dämonischen auffaßt, d. h. der ethischen und religio-

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s e n Z w e i d e u t i g k e i t e n d e r E x i s t e n z u n d d e s L e b e n s (Systematische

Theologie,

III 1 9 6 6 ,

1 2 4 — 1 3 0 ) . A u c h d i e k a t h o l i s c h e T h e o l o g i e ist g e l e g e n t l i c h b e r e i t , d e n T e u f e l s y m b o l i s c h z u b e g r e i f e n , s o in P i e t S c h o o n e n b e r g s Theologie

der Sünde

K a t e c h i s m u s v o n 1 9 6 6 . W e n n d i e E n z y k l i k a Humani

( 1 9 6 6 ) o d e r im n i e d e r l ä n d i s c h e n

generis

—»Pius' X I I . ( 1 9 5 0 ) d i e j e n i g e n

t a d e l t , d i e f r a g e n , o b „ E n g e l p e r s ö n l i c h e G e s c h ö p f e s i n d " , b e s t ä t i g t sie d a m i t i m p l i z i t d i e P e r s o n h a f t i g k e i t a u c h d e r g e f a l l e n e n E n g e l . D a s Credo

Pauls VI. v o m 30. 6. 1 9 6 8 j e d o c h

enthält keinen Hinweis auf den Teufel oder böse Engel. Literatur J. C. Baroja, Las B r u j a s y su M u n d o , M a d r i d 1961. - H a n s - M a r t i n Barth, Der Teufel u. Jesus Christus in der Theol. M a r t i n Luthers, Göttingen 1967. - Gustav Davidson, A Dictionary of Angels, N e w York 1967. - Cécile Ernst, Teufelsaustreibung. Die Praxis der k a t h . Kirche im 16. u. 17. Jh., Bern u. a. 1972. - Francis X. Gokey, T h e T e r m i n o l o g y for the Devil and Evil Spirits in the Apostolic Fathers, W a s h i n g t o n 1961. - Bonifatius G ü n t h e r , Satan, der Widersacher Gottes, Aschaffenburg 1972. - Herbert H a a g , Abschied v o m Teufel, Einsiedeln 1973. - Ders., Teufelsglaube, Tübingen 1974. - Henry A. Kelly, The Evil, D e m o n o l o g y and W i t c h c r a f t . T h e Development of Christian Beliefs in Evil Spirits, N e w York 1968. - L e s z e k Kolakowski, Gespräche mit dem Teufel, M ü n c h e n 1 9 7 5 . - D e r s . , Kann der Teufel erlöst werden? Eine marxistische A n t w o r t : M e r k u r 28 (1974) 1 1 0 1 - 1 1 1 2 . - E d w a r d Langton, Supernatural. T h e Doctrine of Spirits, Angels and D e m o n s f r o m the M i d d l e Ages until the Present Time, Lond o n 1934. - Ders., G o o d and Evil Spirits, L o n d o n 1942. - Ders., Satan. A Portrait, L o n d o n 1946. Ders., Essentials of D e m o n o l o g y , L o n d o n 1949. - Eric Lionel Mascall (Hg.), T h e Angels of Light and the Powers of Darkness, L o n d o n 1954. - E d w a r d J. M o n t a n o , T h e Sin of the Angels. Some Aspects of the Teaching of St. T h o m a s , W a s h i n g t o n 1955. - Bengt N o a c k , Satanas u. Soteria, Kopenhagen 1948. H a r m a n n u s O b e n d i e k , Der Teufel bei M a r t i n Luther, Berlin 1931. - Alan M . Olson (Hg.), Disguises of the D e m o n i c . C o n t e m p o r a r y Perspectives on the Power of Evil, N e w York 1975. - Giovanni Papini, II Diavolo, Florenz 1954. - Satan, 1948 (EtCarm 27). - Emil Schneweis, Angels and D e m o n s According to Lactantius, W a s h i n g t o n 1944. - Georges T a v a r d , Die Engel, 1968 ( H D G 2/2b). - Frederick Sontag, The G o d of Evil. An A r g u m e n t for the Existence of the Devil, N e w York 1970. - M o n t a g u e Summers, The History of W i t c h c r a f t and D e m o n o l o g y , N e w York 1926. - Teufel, D ä m o n e n , Besessenheit. Z u r Wirklichkeit des Bösen, hg. v. W . Kasper u. a., M a i n z 1978. - R o b Van der H a r t , T h e Theology of Angels and Evils, N o t r e D a m e 1972. — Daniel Pickering W a l k e r , Spiritual and D e m o n i c Magic. From Ficino to C a m p a n e l l a , N o t r e D a m e 1975. - A. Winkelhofer, T r a k t a t über den Teufel, F r a n k f u r t 1961. H . Zweetsloot, Friedrich Spee u. die Hexenprozesse. Die Stellung u. Bedeutung der C a u t i o criminalis in der Gesch. der Hexenverfolgung, Trier 1954. Georges Tavard Dänemark I. K i r c h e n g e s c h i c h t l i c h II. D i e e v a n g e l i s c h - l u t h e r i s c h e d ä n i s c h e V o l k s k i r c h e

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I. K i r c h e n g e s c h i c h t l i c h 1. Mittelalter 1.1. Kirchengeschichtlicher Verlauf 1.2. Theologie, Geistesleben und Frömmigkeit 2. R e f o r m a t i o n 2.1. Kirchengeschichtlicher Verlauf 2.2. Theologie u n d Frömmigkeit 3. Neuzeit 3.1. Kirchengeschichtlicher Verlauf 3.2. D ä n e m a r k zugeordnete lutherische und nichtlutherische Kirchen in D ä n e m a r k 3.3. Äußere Mission 3.4. Theologie und Frömmigkeit (Anmerk u n g e n / Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 312) A b k ü r z u n g : D H = D a n m a r k s Historie (s. u., Abschn. 2 der Bibliographie) 1.

Mittelalter

1.1. Kirchengeschichtlicher

Verlauf.

Unter den Voraussetzungen f ü r das Eindringen des

C h r i s t e n t u m s nach D ä n e m a r k m u ß d a s politische Interesse der Karolinger u n d O t t o n e n an einer K o n t r o l l e des n o r d i s c h e n R a u m s u n d zugleich ihr Bewußtsein einer Missionspflicht h e r v o r g e h o b e n w e r d e n . H i n z u k o m m e n H a n d e l s v e r b i n d u n g e n zu d e n christlichen Kulturl ä n d e r n , die a u c h geistig-kulturelle A u s t a u s c h b e z i e h u n g e n n a c h sich z o g e n . —»Willibrods Missionsversuch b e r u h t e auf einer Z u s a m m e n a r b e i t zwischen der fränkischen M a c h t u n d d e m — » P a p s t t u m . D e n H i n t e r g r u n d d e s n ä c h s t e n , v o n —>Ebo v o n R e i m s u n d —»Ansgar g e tragenen V o r s t o ß e s bildet das Bestreben des Karolingerreiches nach M a c h t a u s w e i t u n g im

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s e n Z w e i d e u t i g k e i t e n d e r E x i s t e n z u n d d e s L e b e n s (Systematische

Theologie,

III 1 9 6 6 ,

1 2 4 — 1 3 0 ) . A u c h d i e k a t h o l i s c h e T h e o l o g i e ist g e l e g e n t l i c h b e r e i t , d e n T e u f e l s y m b o l i s c h z u b e g r e i f e n , s o in P i e t S c h o o n e n b e r g s Theologie

der Sünde

K a t e c h i s m u s v o n 1 9 6 6 . W e n n d i e E n z y k l i k a Humani

( 1 9 6 6 ) o d e r im n i e d e r l ä n d i s c h e n

generis

—»Pius' X I I . ( 1 9 5 0 ) d i e j e n i g e n

t a d e l t , d i e f r a g e n , o b „ E n g e l p e r s ö n l i c h e G e s c h ö p f e s i n d " , b e s t ä t i g t sie d a m i t i m p l i z i t d i e P e r s o n h a f t i g k e i t a u c h d e r g e f a l l e n e n E n g e l . D a s Credo

Pauls VI. v o m 30. 6. 1 9 6 8 j e d o c h

enthält keinen Hinweis auf den Teufel oder böse Engel. Literatur J. C. Baroja, Las B r u j a s y su M u n d o , M a d r i d 1961. - H a n s - M a r t i n Barth, Der Teufel u. Jesus Christus in der Theol. M a r t i n Luthers, Göttingen 1967. - Gustav Davidson, A Dictionary of Angels, N e w York 1967. - Cécile Ernst, Teufelsaustreibung. Die Praxis der k a t h . Kirche im 16. u. 17. Jh., Bern u. a. 1972. - Francis X. Gokey, T h e T e r m i n o l o g y for the Devil and Evil Spirits in the Apostolic Fathers, W a s h i n g t o n 1961. - Bonifatius G ü n t h e r , Satan, der Widersacher Gottes, Aschaffenburg 1972. - Herbert H a a g , Abschied v o m Teufel, Einsiedeln 1973. - Ders., Teufelsglaube, Tübingen 1974. - Henry A. Kelly, The Evil, D e m o n o l o g y and W i t c h c r a f t . T h e Development of Christian Beliefs in Evil Spirits, N e w York 1968. - L e s z e k Kolakowski, Gespräche mit dem Teufel, M ü n c h e n 1 9 7 5 . - D e r s . , Kann der Teufel erlöst werden? Eine marxistische A n t w o r t : M e r k u r 28 (1974) 1 1 0 1 - 1 1 1 2 . - E d w a r d Langton, Supernatural. T h e Doctrine of Spirits, Angels and D e m o n s f r o m the M i d d l e Ages until the Present Time, Lond o n 1934. - Ders., G o o d and Evil Spirits, L o n d o n 1942. - Ders., Satan. A Portrait, L o n d o n 1946. Ders., Essentials of D e m o n o l o g y , L o n d o n 1949. - Eric Lionel Mascall (Hg.), T h e Angels of Light and the Powers of Darkness, L o n d o n 1954. - E d w a r d J. M o n t a n o , T h e Sin of the Angels. Some Aspects of the Teaching of St. T h o m a s , W a s h i n g t o n 1955. - Bengt N o a c k , Satanas u. Soteria, Kopenhagen 1948. H a r m a n n u s O b e n d i e k , Der Teufel bei M a r t i n Luther, Berlin 1931. - Alan M . Olson (Hg.), Disguises of the D e m o n i c . C o n t e m p o r a r y Perspectives on the Power of Evil, N e w York 1975. - Giovanni Papini, II Diavolo, Florenz 1954. - Satan, 1948 (EtCarm 27). - Emil Schneweis, Angels and D e m o n s According to Lactantius, W a s h i n g t o n 1944. - Georges T a v a r d , Die Engel, 1968 ( H D G 2/2b). - Frederick Sontag, The G o d of Evil. An A r g u m e n t for the Existence of the Devil, N e w York 1970. - M o n t a g u e Summers, The History of W i t c h c r a f t and D e m o n o l o g y , N e w York 1926. - Teufel, D ä m o n e n , Besessenheit. Z u r Wirklichkeit des Bösen, hg. v. W . Kasper u. a., M a i n z 1978. - R o b Van der H a r t , T h e Theology of Angels and Evils, N o t r e D a m e 1972. — Daniel Pickering W a l k e r , Spiritual and D e m o n i c Magic. From Ficino to C a m p a n e l l a , N o t r e D a m e 1975. - A. Winkelhofer, T r a k t a t über den Teufel, F r a n k f u r t 1961. H . Zweetsloot, Friedrich Spee u. die Hexenprozesse. Die Stellung u. Bedeutung der C a u t i o criminalis in der Gesch. der Hexenverfolgung, Trier 1954. Georges Tavard Dänemark I. K i r c h e n g e s c h i c h t l i c h II. D i e e v a n g e l i s c h - l u t h e r i s c h e d ä n i s c h e V o l k s k i r c h e

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I. K i r c h e n g e s c h i c h t l i c h 1. Mittelalter 1.1. Kirchengeschichtlicher Verlauf 1.2. Theologie, Geistesleben und Frömmigkeit 2. R e f o r m a t i o n 2.1. Kirchengeschichtlicher Verlauf 2.2. Theologie u n d Frömmigkeit 3. Neuzeit 3.1. Kirchengeschichtlicher Verlauf 3.2. D ä n e m a r k zugeordnete lutherische und nichtlutherische Kirchen in D ä n e m a r k 3.3. Äußere Mission 3.4. Theologie und Frömmigkeit (Anmerk u n g e n / Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 312) A b k ü r z u n g : D H = D a n m a r k s Historie (s. u., Abschn. 2 der Bibliographie) 1.

Mittelalter

1.1. Kirchengeschichtlicher

Verlauf.

Unter den Voraussetzungen f ü r das Eindringen des

C h r i s t e n t u m s nach D ä n e m a r k m u ß d a s politische Interesse der Karolinger u n d O t t o n e n an einer K o n t r o l l e des n o r d i s c h e n R a u m s u n d zugleich ihr Bewußtsein einer Missionspflicht h e r v o r g e h o b e n w e r d e n . H i n z u k o m m e n H a n d e l s v e r b i n d u n g e n zu d e n christlichen Kulturl ä n d e r n , die a u c h geistig-kulturelle A u s t a u s c h b e z i e h u n g e n n a c h sich z o g e n . —»Willibrods Missionsversuch b e r u h t e auf einer Z u s a m m e n a r b e i t zwischen der fränkischen M a c h t u n d d e m — » P a p s t t u m . D e n H i n t e r g r u n d d e s n ä c h s t e n , v o n —>Ebo v o n R e i m s u n d —»Ansgar g e tragenen V o r s t o ß e s bildet das Bestreben des Karolingerreiches nach M a c h t a u s w e i t u n g im

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Z u s a m m e n h a n g innerdänischer M a c h t k ä m p f e . Ein Durchbruch gelang der Mission allerdings erst mit der Errichtung von Bistümern in Ripen, Schleswig und Ärhus durch —»Otto d. Gr., die Adaldag von Hamburg-Bremen (—»Bremen) als Suffragane unterstellt wurden (ca. 948). Bald darauf nahm König Harald Blauzahn die T a u f e (965). Das Geschehen des Religionswechsels ist ein vieldiskutiertes Problemfeld. Der Übergang von der altnordischen Kultur mit ihren Glaubensvorstellungen, ihren Rechtsbegriffen und sozialen Verhaltensmustern zur christlich-mittelalterlichen Kultur hat sich in D ä n e m a r k früher und reibungsloser vollzogen als sonst im N o r d e n . Der T a u f e H a r a l d s d ü r f t e eine längere Zeit wirksamen, aus der geographischen Lage und dem Handelsverkehr erwachsenen christlichen Einflusses vorausgegangen sein. Die schriftliche Überlieferung über die nordgermanische Religion (—»Germanische Religion) in D ä n e m a r k ist recht dürftig, doch spiegelt sich der Glaubenswechsel in G r a b f u n d e n u n d Runeninschriften, deren herausragendste der große Runenstein von Jelling (Ostjütland) ist, auf dem H a r a l d k u n d g i b t , er h a b e „die D ä n e n zu Christen g e m a c h t " . Auch von der M i s s i o n s m e t h o d e u n d -predigt haben wir k a u m Kenntnis. Der politisch-gesellschaftlichen Verfassung der germanischen Stämme entsprechend werden sich die Missionare zunächst an den König g e w a n d t h a b e n , der aber seine Entscheidungen k a u m u n a b hängig vom Adel getroffen haben wird. Die V e r k ü n d i g u n g h a t wohl den G e d a n k e n Gottes als des Schöpfers betont, und für den Übertritt scheint insbesondere die Frage nach dem machtvolleren Gott von Bedeutung gewesen zu sein. M a n glaubte sich überzeugt, d a ß der neue G o t t dem alten Verlangen nach Frieden, W o h l f a h r t und Erntesegen besser entsprechen könne. Ein Wechsel der K u l t ü b u n g und Lebensweise bereitete dagegen größere Schwierigkeiten. Von besonderem Interesse ist hier die Auseinandersetzung um die Kontinuität heiliger Stätten. Ljungberg h a t der älteren Auffassung, d a ß von einer Kultkontinuität an solchen Orten geredet werden müsse, zugunsten der Vorstellung einer dreiphasigen Entwicklung widersprochen, doch hat neuerdings Olsen a u f g r u n d kirchenarchäologischer Untersuchungen festgestellt, d a ß in D ä n e m a r k heidnische Kultanlagen unter Kirchen nicht nachweisbar sind. Die Volksreligiosität aber hat die A b s c h a f f u n g des heidnischen Kultwesens überdauert u n d sich, wenn auch in „christlicher" U m f o r m u n g , fast bis in die G e g e n w a r t hinein erhalten. Keine Rede k a n n dagegen von einer äußeren —»Germanisierung des Christentums sein, da dessen Lehre und Gottesdienst bei seinem Vordringen nach D ä n e m a r k längst schon in feste Form gebunden waren.

W ä h r e n d der Zeit des englisch-dänischen Großreiches (1018—1042) nahmen die Könige eine selbständige Haltung gegenüber dem Erzbistum H a m b u r g - B r e m e n ein, das sich durch den in der dänischen Kirchensprache bleibende Spuren hinterlassenden englischen Einfluß in seiner Stellung bedroht sehen mußte. Unter Knut d. Gr. ( 1 0 1 8 - 1 0 3 5 ) weihte Erzbischof Aethelnod von —»Canterbury Bischöfe für dänische Diözesen, doch gelang es U n w a n von H a m b u r g - B r e m e n ( 1 0 1 3 - 1 0 2 9 ) und Kaiser Konrad II. ( 1 0 2 4 - 1 0 3 9 ) unter territorialen Zugeständnissen, die erzbischöfliche Geltung Hamburg—Bremens zu sichern, und Knuts Romreise gab seine Bindung an das Reich und die internationale Kirche zu erkennen. Unter Svend Estridsen ( 1 0 4 7 - 1 0 7 6 ) setzte in vollem U m f a n g die Entwicklung von einem Wikingerreich zu einem in die westeuropäische Kulturwelt sich eingliedernden Nationalstaat ein. Die Kirche erhielt eine feste Organisationsstruktur mit acht Bistümern, und das Verlangen nach einem nationalen Erzbistum brachte zwangsläufig ein gespanntes Verhältnis zu -^»Adalbert von H a m b u r g - B r e m e n mit sich. Das Z u s a m m e n w i r k e n von Königtum und Kirche setzte sich fort und fand Ausdruck in den reichen Z u w e n d u n g e n und Privilegien Knuts IV. ( 1 0 8 0 - 1 0 8 6 ) für das Bistum Lund. Seinem Sohn Erik Ejegod ( 1 0 9 5 - 1 1 0 3 ) gelang es bei einer Pilgerreise nach R o m , die Heiligsprechung seines von den Bauern als Tyrann getöteten Vaters und zugleich die Erhebung Lunds zum dänischen Erzbistum (1104) zu erreichen, dessen Jurisdiktionsbereich D ä n e m a r k , —»Schweden, —»Norwegen und —»Island umfaßte. Knuts S c h e n k u n g s u r k u n d e f ü r das Bistum Lund ist das älteste abschriftlich erhaltene dänische Dip l o m ( D i p l o m a t a r i u m Danicum 1/2, 1963, N r . 21). Die ältere Forschung hat sein kirchliches Engagem e n t überzeichnet und ihn zu Unrecht a u f g r u n d der Darstellung des Saxo G r a m m a t i c u s (ca. 1150—ca. 1220) u n d der hagiographischen Literatur ( „ O d e n s e l i t e r a t u r " , Gertz, Vitae 6 2 f ) als gregorianisch eingestellten Reformherrscher angesehen (zur Widerlegung s. C. Weibull und Spätere: D H 95).

In der Folge sah sich der König den gregorianischen Reformforderungen (—»Papsttum) konfrontiert, und es verdient Beachtung, daß eine Volksbewegung der Zölibatsforderung (—»Zölibat) N a c h d r u c k verlieh. Vor allen anderen zeigte jetzt das Königtum eine Freigebigkeit gegenüber der Kirche, a u f g r u n d derer die Errichtung von etwa 2 0 0 0 steinernen Kir-

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chenbauten möglich wurde, deren Mehrzahl noch heute in Dienst steht, und erkannte der Kirche —»Immunität zu, während zugleich die Zehntpflicht ( ^ A b g a b e n ) in Gestalt des Kirchen-, Pfarr- und Bischofszehnten durchgeführt wurde (letzter allerdings lange in der Form eines festen Geldbetrages, der „Bischofsgabe"). Beträchtlichen Einfluß auf diese Entwicklung übte der erste Erzbischof Asser ( 1 1 0 4 - 1 1 3 7 ) aus, ein machtvoller, europäisch ausgerichteter, nachdrücklich für das Reformprogramm eintretender Kirchenfürst. Klöster wurden gegründet und —»Domkapitel eingerichtet, und die Constitutiones canonicae des Lunder Domkapitels zeigen sichtlich den Einfluß von -H>Cluny (E. Jorgensen 2 6 . 5 8 f). Entgegen der Ansicht der älteren Forschung kann man ihm nicht zum Vorwurf machen, daß Adalbero von Hamburg-Bremen ( 1 1 2 3 — 1148) sich mit einer Papstbulle von 1133 (Diplomatarium Danicum 1/2, Nr. 57) erneut die nordische Kirche zu unterwerfen suchte (Christensen, Asser 4 1 f). Als jedoch er und sein Nachfolger Eskil ( 1 1 3 7 - 1 1 7 7 ) , der erste dänische Prälat von internationalem Format, in innerdänische Machtkämpfe eingriffen, kam es zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung zwischen regnum und sacerdotium. Auf der Heimkehr von einer Reise nach Clairvaux und Rom wurde Eskil überfallen - ein Ereignis, das den schwebenden Konflikt zwischen —»Friedrich I. und Hadrian IV. ( 1 1 5 4 - 1 1 5 9 ) zum Ausbruch brachte - , und der Brief, den er aus der Gefangenschaft an König, Kirche und Volk von Dänemark richtete, bringt in einzigartiger Weise seine gregorianische Gedankenwelt und die bernhardinische Prägung seiner Frömmigkeit (—»Bernhard von Clairvaux) zum Ausdruck (Diplomatarium Danicum 1/2, Nr. 119). Auf dem Tag von Ringsted (Seeland) 1 1 7 0 kam es zu einer den König eindeutig als Sieger erweisenden Versöhnung zwischen Eskil und Waldemar d. Gr. ( 1 1 5 4 / 5 7 — 1 1 8 2 ) . Autorität und Legitimität des Königs wurden bekräftigt und das sakrale —»Königtum bekundet, indem Eskil entgegen früherer Weigerung Waldemars Sohn salbte und krönte und seinen 1131 ermordeten Vater Knut Laward zum Heiligen erhob. Allerdings mußte der König dazu um Eskils Hilfe nachsuchen (zur Diskussion um das Verständnis der Vorgänge s. D H 3 3 9 ) . Kennzeichnend für Eskils gregorianische Orientierung ist auch, daß er den —»Zisterziensern (in Herresvad, Schonen) und —»Prämonstratensern (in Tommarp, Schonen) Eingang verschaffte, sowie sein Einsatz für die Anerkennung des kanonischen Rechts: Die seeländischen und schonischen Kirkelove (kirchliche Rechtsordnungen) von ca. 1 1 7 0 sind letztlich kirchliche Vertragsvereinbarungen zwischen Bischof und Bauern, durch die örtliches Recht wie z. B. die freie Pfarrwahl dem kanonischen Recht angepaßt werden sollte, das bald normative Bedeutung erlangte. Im eigentlichen Hochmittelalter ( 1 1 7 0 - 1 2 4 1 ) herrschte Einvernehmen zwischen König und Kirche bei starker Tendenz zu einer religiös begründeten königlichen Alleinherrschaft. Daraus erklärt sich das Wohlwollen des Königs dem kanonischen Recht gegenüber und seine Freigebigkeit gegen die Kirche. Die Erzbischöfe Absalon ( 1 1 7 7 - 1 2 0 1 ) und Anders Suneson (gest. 1228) unterstützten loyal die Feldzüge gegen die Wenden (—»Slawen, —»Mecklenburg). Schon die Eroberung von Arkona auf Rügen (1168) hatte-^Alexander III. als —»Mission betrachtet; Zisterzienser aus Esrom (Seeland) begründeten Klöster in Dargun (Bez. Neubrandenburg) und Kolbatz (bei Stettin), und der Kreuzzugsgedanke (—»Kreuzzug) erhielt wesentliche Bedeutung für die große dänische Ostexpansion nach —»Finnland, Livland und Estland (—»Baltikum), deren Hintergrund die deutsche Kolonisation in diesem dänischen Interessenbereich war. In den folgenden hundert Jahren von 1241 bis 1 3 4 0 - „ p o l i tisch die uneinigsten und unglücklichsten für das Land" (Christensen, Kongemagt 69) wurden heftige Auseinandersetzungen zwischen Königtum und Kirche ausgetragen. Wegen der Forderung nach Kirchenfreiheit wurde der Bischof von Roskilde ins Exil getrieben, und Erzbischof J a k o b Erlandsen (gest. 1274), der sich zum Wortführer ausgesprochen radikal papalistischer Vorstellungen machte, wünschte Änderungen des Gewohnheitsrechtes, das sich um die schonische Kirchenordnung (Skänske Kirkelov) gebildet hatte. Widerstand seitens des Königs und der Bauern beantwortete er mit der Androhung des —»Interdikts. Der Streit endete schließlich mit der Gefangensetzung und Vertreibung des Erzbischofs. Das Interdikt blieb wirkungslos, und der König vermochte Papst Gregor X . ( 1 2 7 1 - 1 2 7 6 ) einen Kompromiß abzugewinnen. In den folgenden Auseinandersetzungen zwischen König Erik

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Menved ( 1 2 8 6 - 1 3 1 9 ) und den Erzbischöfen Jens Grand (gest. 1327) und Esger Juul (gest. 1325) kamen die gleichen Mittel zur Anwendung. Ausschlaggebend war die Frage nach der Einbeziehung des Kirchengutes in den sich vollziehenden Feudalisierungsprozeß (—»Lehnswesen). Den Sieg trug der König davon, da —»Bonifatius VIII. mit seiner Entscheidung den Erzbischof im Stich ließ. In den dreißiger Jahren des 14. Jh. zerfiel das Reich. Es war an ausländische Fürsten verpfändet, unter denen namentlich Graf Gerhard III. von Holstein ( 1 3 0 4 - 1 3 4 0 ) eine bedeutsame Rolle spielte, und war 1 3 3 2 - 1 3 4 0 ohne König. Die Reichseinheit wurde indessen durch die Bedeutung zur Geltung gebracht, die jetzt dem Danehof, der von der hohen Geistlichkeit und dem Reichsadel gestellten Reichsversammlung, zufiel, und die gesamte Kirche stand hinter dem Erzbischof, wenn auch Schonen für eine Reihe von Jahren an Schweden kam. Unter größten wirtschaftlichen Opfern, nicht zuletzt auch seitens der Kirche, gelang schließlich Waldemar IV. Atterdag ( 1 3 4 0 - 1 3 7 5 ) die Wiederherstellung der Reichseinheit mit Ausnahme Schleswigs. Die geistige Grundlage des Erneuerungswerkes wird im Landfrieden von 1 3 6 0 erkennbar, der auf die Staatstheorien —»Ockhams und des —»Marsilius von Padua zurückgreift (Christensen, Kongemagt 192). Das Entwicklungsgefälle auf ein Staatsund Nationalkirchentum verstärkte sich unter enger Zusammenarbeit von Königtum und Kurie, während die erzbischöfliche Amtsgewalt durch die Finanzpolitik des avignonesischen Papsttums ausgehöhlt wurde. Königin Margarete I. ( 1 3 7 5 - 1 4 1 2 ) , die in der Kalmarer Union (1397—1523) den gesamten Norden unter sich vereinte, und ihr Nachfolger Erich von Pommern ( 1 3 9 6 — 1 4 3 9 ) setzten die aktive Politik gegenüber der Kurie fort und brachten alle bedeutsamen kirchlichen Ämter unter ihre Kontrolle. Zugleich aber ist für Margaretes Herrscherideal kennzeichnend, daß ihre Freigebigkeit insbesondere in der Form von Meßstiftungen in der nordischen Geschichte beispiellos ist, und Erich ließ das Birgittenkloster (—»Birgitta) in Maribo (Lolland) errichten (1418) und brachte die —»Karmeliter und —»Kartäuser ins Land. Bei der Besetzung des Erzbistums Uppsala und des Bistums Schleswig erlitt er allerdings auch Niederlagen gegenüber den Domkapiteln und dem Papst. Auf den Konzilien von —»Konstanz (Peder Lykke und Hans Skondelev) und Basel (—»Basel-Ferrara-Florenz) (Ulrich Stygge und Nie. Ragwaldi) spielten die Legaten des dänischen Königs eine recht hervorstechende Rolle, während Auswirkungen der konziliaren Reformbestrebungen in den Statuten der Provinzialsynode von Kopenhagen 1425 nicht unmittelbar ablesbar sind (Losman 146). Lykke scheint aber unter dem Einfluß der Vorstellungen —»Gersons von einer Gleichstellung weltlicher und geistlicher Gewalt gestanden zu haben, deren Wirkung ihren Höhepunkt unter Erzbischof Hans Laxmand (gest. 1443) erreichte, der 1443 Christoph III. (1440—1448) zum Archirex regni Daniae krönte (Skyum-Nielsen: Scandia 23). Gemeinsam erließen sie weltliche und geistliche Gesetze und Verordnungen. Nach einigen Jahren des Zögerns trat Dänemark dem Wiener Konkordat von 1 4 4 8 bei, und bei einer persönlichen Zusammenkunft mit ^ S i x t u s IV. erhielt Christian I. ( 1 4 4 8 - 1 4 8 1 ) weitreichende Nominationsrechte für entscheidende kirchliche Ämter (1464). Bald darauf erfolgte die päpstliche Genehmigung zur Errichtung einer vollständigen Universität (—»Kopenhagen). Dem König fiel so erneut die wirkliche Macht in der Kirche zu, und während einer innenpolitischen Krise um 1 5 0 2 kam es zu einem Zusammenstoß zwischen ihm und dem aus bürgerlichem Hause stammenden, letzten geweihten Erzbischof Birger Gunnersen (ca. 1 4 4 0 - 1 5 1 9 ) . 1.2. Theologie, Geistesleben und Frömmigkeit. Der erste bedeutende Gelehrte des hier angesprochenen Zeitraumes war Anders Suneson. Bemerkenswert ist sein über 8 0 0 0 Verszeilen langes Lehrgedicht Hexaemeron, in dem er die gesamte kirchliche Lehre behandelt. Insgesamt war er eifrig um eine Hebung des geistigen und sittlichen Niveaus der Geistlichkeit bemüht, hielt im eroberten Riga theologische Vorlesungen und rief bereits 1 2 2 2 die —»Dominikaner ins Land. Ein anderer, kennzeichnender Ausdruck des Zeitgeistes ist das jütische Recht (Jydske Lov) von 1241, dessen Vorrede auf dem Dekret —»Gratians basiert, in dem aber auch die Eigenständigkeit der königlichen Macht nachdrücklich betont wird (Landskabslove II, l l f ) . Ansehen genoß während des ganzen europäischen Mittelalters

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Saxo Grammaticus mit seinen Gesta Danorum, in denen die Sagageschichte und die Zeit von Harald Blauzahn bis zum Ende des 12. Jh. dargestellt wird (zu der mit C. Weibull, Saxo 1915 in Gang gekommenen Forschungsdiskussion s. Boserup: Saxostudier). Z u r —»Scholastik steuerten Dänen bei, die sich an der Universität —>Paris aufhielten. Der selbständigste s von ihnen ist Boethius von Dacien (um 1270), der u. a. den gesamten —»Aristoteles kommentierte (CPDMA IV—VI). Von Bedeutung waren auch M a r t i n von Dacien (gest. 1304) und Johannes von Dacien (2. H. 13. Jh.) (Roos 4 9 7 f ) . Neuere Untersuchungen haben eine verstärkte Predigttätigkeit (—»Predigt) im 14. und 15. Jh. erkennen lassen, doch sind lediglich sieben Sammlungen auf Latein oder Dänisch erhalten. Sie sind unselbständig, inhaltlich 10 konservativ und zeigen keinen Reflex der zeitgenössischen theologischen Diskussion (Riising). 1 Birger Gunnersen h a t persönlich einen Güterkomplex von rund 80 H ö f e n als wirtschaftliche Grundlage einer ewigen Meßstiftung zu Ehren Mariens in Lund zusammengebracht, das Sanctuarium Birgerianum (1512), die größte Stiftung dieser Art im nordischen Mittelalter. Im übrigen aber gibt es nicht viele schriftliche Quellen, die einen Einblick in das is religiöse Leben des Spätmittelalters ermöglichen. Hier und da sind einige Stunden- und —»Gebetbücher der allgemein verbreiteten Art erhalten (Middelalderens danske Bonneboger). Doch werden diese Materialien in reichem M a ß e von der bildenden Kunst ergänzt (Danmarks Kirker Iff; H o r s k x r : D K H II, 1962, 2 8 1 - 3 1 6 ; Catalogue of Wall-paintings). 2.

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2.1. Kirchengeschichtlicher Verlauf. Wie anderwärts war auch in D ä n e m a r k die —»Reformation nicht lediglich ein religiös-kirchliches Geschehen, sondern bestimmt von einem Zusammenwirken politischer, wirtschaftlicher und religiöser Faktoren. Der Ausgangspunkt war die Erhebung gegen Christian II. ( 1 5 1 3 - 1 5 2 3 ) , einen für die Zeit typischen Herrscher, der in seinem Machtstreben, gestützt auf das —»Bürgertum, dem Hochadel und der Kirche 25 energisch entgegentrat, dessen brutales Vorgehen in —»Schweden jedoch zum A u f r u h r führte, durch den auch die von ihm erneuerte nordische Union ihr Ende fand. 2 Bei der Besetzung des Erzbistums Lund und anderer Ämter beging er grobe Ubergriffe, so daß es während des gesamten Zeitraumes der Kämpfe um die Reformation keinen kanonisch geweihten Erzbischof gab. Zugleich aber gibt seine kirchliche Gesetzgebung ein positives Interesse am Re30 formkatholizismus zu erkennen, und mit der Bestellung des Erasmianers Paulus Helie (ca. 1480— nach 1534) zum Universitätslektor förderte er humanistische Studien, während sich die Berufung —»Karlstadts nach Kopenhagen (1521) schnell als eine Fehlentscheidung erwies. Als Christian nach seiner Vertreibung D ä n e m a r k zurückzugewinnen versuchte, wurde er festgenommen und saß bis zu seinem Tode (1559) in H a f t , spielte jedoch weiterhin noch 35 eine gewisse mittelbare politische Rolle, da er Schwager -^Karls V. und seine eine Tochter mit Kurfürst Friedrich II. von der —»Pfalz ( 1 5 4 4 - 1 5 5 6 ) vermählt w a r .

Der Vorwurf der Ketzerei spielte ihm gegenüber eine wesentliche Rolle, und sein Nachfolger Friedrich I. ( 1 5 2 3 - 1 5 3 3 ) mußte sich in seiner Handfeste (1523) ausdrücklich von der „lutherischen Ketzerei" distanzieren. Es lag jedoch nicht im Interesse des Königs, daß der 40 Hochadel sich des Kirchengutes bemächtigte, und in den während der Folgejahre in dieser Frage geführten Auseinandersetzungen verstand er den inneren Gegensatz zwischen den geistlichen und weltlichen Mitgliedern des Reichsrates auszunutzen - zum Vorteil für die wachsende evangelische Bewegung in den großen Handelsstädten. Auf den Herrentagen von Odense 1526 und 1527 mußten die von ihren adligen Standesgenossen im Stich gelassenen 45 Bischöfe große wirtschaftliche Zugeständnisse machen. Der König gewährte Toleranz für evangelische Prädikanten, untersagte, in Z u k u n f t für dänische Bischöfe um päpstliche Bestätigung nachzusuchen, und steuerte auf diese Weise tatkräftig sein Ziel an: eine nationale, reformkatholische Kirche unter königlicher Leitung. Möglicherweise h a t er auch eine lutherische Kirche gewollt; jedenfalls wurde am Hof das Freitagsfasten nicht mehr eingehalten, 50 und eine Tochter vermählte er mit Herzog —»Albrecht von Preußen (1526). In Viborg und M a l m ö entstanden jetzt evangelische Predigerschulen, und es erwuchs eine polemische Literatur.

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Nach Friedrichs T o d vertagte der R e i c h s r a t die K ö n i g s w a h l , ein Bürgerkrieg brach aus, Lübeck verbündete sich in dem B e s t r e b e n , seine Stellung im Ostseehandel wiederzugewinnen, mit M a l m ö und G r a f Christoph von O l d e n b u r g und trat für die Wiedereinsetzung des inhaftierten Christian II. ein. Ihm stand der k a t h o l i s c h e H o c h a d e l gegenüber, der die K r o n e Friedrichs Sohn, dem Herzog Christian von Schleswig und Holstein a n b o t , der bereits in seinem kleinen Lehen um Hadersleben eine lutherische R e f o r m a t i o n durchgeführt hatte (.Haderslebener Artikel-, J e r g e n s e n ) . Er trug 1 5 3 6 den Sieg davon (Christian III., 1 5 3 4 / 1 5 3 6 — 1 5 5 9 ) . Dieser als „ G r a f e n f e h d e " in die G e s c h i c h t e eingegangene Bürgerkrieg war keineswegs ein Religionskrieg. Beide Rivalen waren evangelisch und dem —»Schmalkaldischen Bund zugetan. Christian aber ließ nun sämtliche katholischen B i s c h ö f e , denen m a n die alleinige V e r a n t w o r t u n g für den Krieg z u s c h o b , festsetzen. D a s Kirchengut fiel der Krone zu, und durch einen Herrentagsrezeß ( O k t o b e r 1 5 3 6 ) wurden evangelische —»Superintendenten berufen ( M o n u m e n t a I I / l , 1 4 3 f), für die schon bald wieder der Bischofstitel üblich wurde. M i t einer R e i h e von Feierlichkeiten, bei denen J . -^»Bugenhagen eine herausragende Rolle spielte, wurde im A u g u s t / S e p t e m b e r 1 5 3 7 die offizielle Einführung der R e formation bekundet: Bugenhagen k r ö n t e das K ö n i g s p a a r und ordinierte die sieben neuen Superintendenten, w o m i t die Kirche die apostolische Sukzession verlor. Außerdem wurde eine Kirchenordnung (Kirkeordinans) erlassen und die zwischenzeitlich zum Erliegen gekommene Universität wieder eröffnet. Führender Geistlicher als Superintendent von Seeland, R a t g e b e r des Königs und Universitätsprofessor war D r . theol. Peder Palladius ( 1 5 0 3 - 1 5 6 0 ) . Er hat Beträchtliches für die U m s c h u l u n g der sämtlich in ihren Ämtern verbleibenden Geistlichen und die Unterweisung der Laien in der lutherischen Lehre geleistet, unter anderem durch unablässige Visitationsreisen und ein beachtliches schriftstellerisches Schaffen (s. u. A b s c h n . 2 . 2 ) . Andere bedeutende Superintendenten waren sein Bruder Niels Palladius in Lund (gest. 1 5 6 0 ) und H a n s T a u s e n in R i p e n ( 1 4 9 4 — 1 5 6 1 ) . Hinsichtlich der wirtschaftlichen Verhältnisse hielt m a n an der im Mittelalter herrschenden Auffassung fest, d a ß die einzelnen Kirchen und Pfarren selbständig vermögensfähige Rechtspersönlichkeiten seien. Die Zehntfreiheit des Adels wurde bestätigt und G u t , das nachweislich für Seelenmessen und J a h r e s g e d ä c h t n i s s e gestiftet w a r , zurückgegeben. Lediglich das Bischofsgut wurde zugunsten der K r o n e eingezogen, und die neuen Superintendenten bezogen neben Naturalleistungen ein festes G e h a l t als königliche Amtsträger. Die alten Patronatsrechte ( - » P a t r o n a t ) blieben bestehen, und die Z e h n t p f l i c h t wurde in ihrer Drittelung in Pfarr-, Kirchen- und den nun zum „ K ö n i g s z e h n t e n " umgewandelten Bischofszehnten aufrechterhalten. Die D o m k a p i t e l ließ m a n mit ihren Ä m t e r n und Einkünften bestehen, reformierte sie jedoch evangelisch. Den Klosterinsassen wurde eine milde Behandlung zuteil. Wer wollte, k o n n t e im Kloster verbleiben und auch weiterhin das M ö n c h s h a b i t , aber keine Tonsur tragen und sollte sich evangelisch unterweisen lassen. V e r b o t e n wurden indessen die Bettelorden. Klostergut sollte nicht o h n e Z u s t i m m u n g von K r o n e und R e i c h s r a t veräußert werden, doch sind wir über die Auflösung der Klöster und ihres Grundbesitzes nur mangelhaft unterrichtet. Christian III. nahm eine zentrale Stellung ein. Ihm fielen durch die Reformation beträchtliche wirtschaftliche und politische Vorteile zu, doch sind die Machtverhältnisse zwischen ihm und dem Reichsrat nicht ganz durchsichtig (Friis, Christian III.). Auch wenn der König - oder vielmehr wohl Bugenhagen - in'der Vorrede zur Kirchenordnung zwischen der „Ordnung Gottes" und „der des Königs" unterscheidet, erhielt das Land ein ausgeprägtes landesherrliches -^Kirchenregiment, in dem der König in innere kirchliche Angelegenheiten eingriff, so wie er sich auch in deutschen Lehrstreitigkeiten engagierte, dies aber seinen Theologen untersagte. Er forderte durchgängige Lehreinheit, insbesondere gerade auch in der Abendmahlslehre (—»Abendmahl), um deretwillen er J. —»Laski auswies, und verlangte von den führenden Theologen die Unterzeichnung einer „orthodox" lutherischen Tabella de coena Domini (1557) (ed. Rordam I V , 7 8 - 8 6 ) . Nach Abschluß eines Freundschaftsvertrages mit Kaiser Karl V. (1544) verhielt er sich im Blick auf die deutschen Religionskämpfe kaiserfreundlich neutral und ließ seine deutschen Glaubensgenossen im ^Schmalkaldischen Krieg und bei anderen Gelegenheiten im Stich. Hier wie in der dynastischen Politik war er ein ausgesprochener Realpolitiker, persönlich aber war er überzeugter Lutheraner mit ausgeprägten theologischen Interessen — so führte er etwa einen anhaltenden, regen persönlichen Briefwechsel mit den Wittenberger Reformatoren ^ L u t h e r , —»Melan-

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chthon, —»Jonas, Bugenhagen und —»Major - , und man kann ihn insofern als „Betefürst" kennzeichnen (Schwarz Lausten, Religion).

2.2. Theologie und Frömmigkeit. Mit der Forderung nach einer gewissen Lehrfreiheit unter Wahrung der kirchlichen Einheit bildete der Reformkatholizismus, wie ihn vor allem Paulus Helie (Poul Helgesen) vertrat, eine wesentliche Voraussetzung der Reformation. Mit seiner Betonung des Schriftprinzips, der Gnadenlehre und dem Leitbild et pia eruditio et erudita pietas [religiöse Bildung und gebildete Religiosität] war Helie ein typischer Ubergangstheologe. Er hat als Universitätslehrer viele geprägt, verblieb aber selbst innerhalb der alten Kirche (J. O. Andersen, Helie 51). Der zweite große Humanist war Christiern Pedersen ( 1 4 8 0 - 1 5 5 4 ) , der sowohl weltlich-humanistische (—»Humanismus) als auch religiös-erbauliche Schriften verfaßte, darunter auch eine dänische Übersetzung des Neuen Testamentes ( 1529). Er wurde lutherisch und war Hauptbeteiligter an der dänischen Bibel Christians III. von 1550 (—»Bibelübersetzungen). Auch unter den ersten evangelischen Prädikanten lebte das humanistische Erbe fort; sie gehörten eher in den Zusammenhang der zwinglischen, oberdeutschen als der Wittenberger Ausformung der Reformation (N. K. Andersen). Die Kirchenordnung von 1537 enthielt keine Bekenntnisverpflichtung, doch die Literatur, auf die die Geistlichen durch sie verwiesen wurden, steht deutlich im Zeichen der Wittenberger Theologie. Das bestätigt auch die große, lateinische wie dänische literarische Hinterlassenschaft des in —»Wittenberg gebildeten Peder Palladius wie auch Niels Palladius', dessen pastoraltheologische Schriften und Beiträge zur —»Ars-moriendi-Literatur - die ersten in dänischer Sprache — eine klare lutherische Bußfrömmigkeit (—»Buße) erkennen lassen (Schwarz Lausten, Niels Palladius 148 f). In der Abendmahlslehre scheinen die führenden Theologen rein lutherisch gedacht zu haben. Eine eigene Meßordnung, die während der Zeit der Reformationskämpfe in Malmö ausgebildet worden war, stellt eine Ubergangsform dar, die auf den über Rostock vermittelten Straßburger und Nürnberger Gottesdienstordnungen wie auch auf Luthers Deutscher Messe beruhte (—»Gottesdienst). Sie wurde auf die Dauer von derjenigen der Kirchenordnung von 1537 verdrängt (Mogensen 208). Das erste größere —»Gesangbuch war das von Hans Thomissön (1569), doch waren zuvor schon mehrere kleinere Sammlungen erschienen. Hymnologische Untersuchungen der jüngsten Zeit haben ihre deutschen Vorlagen und ihre wechselseitigen Beziehungen aufgedeckt (vgl. ARG Lit. 3 [1974] Nr. 978). Im übrigen ist die Entwicklung der dänischen Liturgie nach der Reformation noch nicht hinlänglich erhellt (vgl. Kornerup: DKH IV, 1959, 79 f.85). Einen ausgezeichneten Einblick in das Bestreben, den „Papismus" zu bekämpfen und den Laien das Luthertum nahezubringen, bietet das Visitationsbuch (Visitatsbog) des P. Palladius (Danske Skrifter V), das überhaupt zu den bedeutendsten Schriften der dänischen Literatur zählt.

3. Neuzeit Verlauf. In der frühen Neuzeit verstärkte sich das Überge3.1. Kirchengeschichtlicher wicht des Staates über die Kirche (—»Kirche und Staat). Kennzeichnend für das Zeitalter der Orthodoxie (—»Orthodoxie, altlutherische) war der Konfessionszwang, dem die Confessio principuorum articulorum doctrinae ac fidei ecclesiarum danicarum von 1561 (ed. Bj. Kornerup, Kopenhagen 1953), die Zensurbestimmungen von 1562 sowie die Fremdenartikel von 1569 (ed. Rordam: Kirkelove II, 5 9 f . l 2 6 f ) entsprachen. Traditionalismus und Uniformitätsbestreben führten zu Abgrenzungen nach beiden Seiten. Auf kursächsischen Druck hin wurde Professor Niels Hemmingsen ( 1 5 1 3 - 1 6 0 0 ) , die bedeutendste Gestalt im Raum der dänischen Kirche und Universität des 16. Jh., amtsenthoben, weil deutsche —»Kryptocalvinisten sich auf die unlutherische Abendmahlslehre seines Syntagma (Kopenhagen 1574) berufen hatten, aber andererseits wurde auch die —»Konkordienformel von König Friedrich II. ( 1 5 5 9 - 1 5 8 8 ) abgelehnt. In beiden Fällen spielten außenpolitische Rücksichten eine Rolle. Kriege und Naturkatastrophen brachten Anfang des 17. Jh. einen materiellen Niedergang mit sich, eine Bußbewegung fand Resonanz, und der Bischof von Seeland Hans Poulsen Resen ( 1 5 6 1 - 1 6 3 8 ) führte zusammen mit der königlichen Kanzlei 1629 eine strenge Kirchenzuchtordnung (—»Kirchenzucht) unter Einrichtung eines calvinistisch inspirierten Ältestenamtes (s. TRE 2,568 ff) und Anwendung des —»Bannes durch. Im gleichen

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J a h r wurde die theologische Amtseingangsprüfung eingeführt. Ein Staatsstreich setzte 1 6 6 0 die erbliche M o n a r c h i e durch, die bald darauf zum Absolutismus führte. Z u den treibenden Kräften dieser Entwicklung zählte Bischof Hans Svane von Seeland ( 1 6 0 6 — 1 6 6 8 ) , der zum Erzbischof ernannt wurde, dem einzigen, den es seit der R e f o r m a t i o n in D ä n e m a r k gegeben hat. Die Begründung der neuen Staatsform lieferte Prof. Hans Wandal ( 1 6 2 4 - 1 6 7 5 ) : Der König ist Gottes Stellvertreter auf Erden; ihm ist jedoch nur das ius circa sacra, nicht das ius in übertragen. Die geistliche Vollmacht in der Kirche liegt ganz bei der Geistlichkeit, und der König erhält nicht die Bezeichnungsummus episcopus (Ius regium, Kopenhagen, I - V I 1 6 6 3 - 1 6 7 2 ) . Im Königsgesetz (Kongelov) von 1 6 6 5 werden diese Grundsätze festgelegt, und in dem das Kirchenrecht umfassenden zweiten Buch des Gesetzbuches Christians V. (Danske Lov) näher ausgeführt ( 1 6 8 3 ) : Die Kirche ist keine selbständige Körperschaft, und daher gibt es auch kein eigenständiges Kirchenrecht.

sacra

Ein geplantes Collegium consistoriale (—»Konsistorium) kam nicht zustande, vielmehr wurden die kirchlichen Angelegenheiten für das Königreich von der dänischen, für die Herzogtümer von der deutschen Kanzlei des Königs behandelt, während die Bischofsernennung bei ihm selbst lag und die freie Pfarrwahl aufgehoben wurde. Der Kopenhagener—»Pietismus, der von Anfang an (um 1 7 0 4 ) unter starkem Einfluß des radikalen Flügels des schleswiger Pietismus stand, zeigt eine ausgeprägt kirchenkritische Haltung. Die o r t h o d o x e Geistlichkeit untersagte die Versammlungen, doch Ende der zwanziger J a h r e des 18. J h . kam es nach der Ankunft J . K. —»Dippels noch einmal zu einem Aufflackern der Bewegung. Demgegenüber gewann der hallische Pietismus vor allem durch den Hofprediger Franz Julius Lütkens ( 1 6 5 0 - 1 7 1 2 ) großen Einfluß auf König und H o f und entfaltete eine Reihe von Initiativen - die —»Dänisch-hallische Mission in T r a n k e b a r , das Missionskollegium ( 1 7 1 4 ) , das Waisenhaus ( 1 7 2 7 ) und die Errichtung von etwa 2 4 0 ländlichen Schulen. O b w o h l auch die —»Brüderunität schon in den zwanziger Jahren Eingang in Kopenhagen gefunden und persönliche Verbindungen zum Kronprinzen und späteren König Christian VI. angeknüpft hatte, behauptete doch der in großem Umfang von der kirchlichen Erweckungsbewegung in Nordschleswig beeinflußte staatskirchliche hallische Pietismus das Feld. M i t dem „Generalkircheninspektionskollegium" wurde ein Zensurorgan eingerichtet, das Herrnhutertum in Grenzen gewiesen, ein neues Volksschulgesetz eingeführt, und durch ein Konventikelplakat ( 1 7 4 1 ) wurden Laienversammlungen der Aufsicht des Gemeindepfarrers unterstellt. Um die Jahrhundertmitte gewannen die Ideen der —»Aufklärung an Boden, insbesondere durch die Wirksamkeit des Dichters Ludvig Holberg ( 1 6 8 4 - 1 7 5 4 ) , der jeglichem Aberglauben und aller Metaphysik entgegentrat. Er war kein Atheist, sah aber das Eigentliche des Christentums in der Ethik. Während der kurzen Diktatur des deutschen Arztes J o h a n n Friedrich Struensee ( 1 7 7 0 - 1 7 7 2 ) kam es zu liberalen Reformen im Blick auf Feiertage und Eherecht; die Zensur wurde aufgehoben mit der Folge, daß sich auch Angriffe gegen die Geistlichkeit vernehmlich machten. Am bemerkenswertesten aber ist, daß jetzt die Herrnhuter Religionsfreiheit erhielten und ihre noch bestehende Niederlassung in Christiansfeld (Nordschleswig) gründeten (s. u.). Ende des Jahrhunderts griff erneut eine vor allem von O t t o H o r r e b o w ( 1 7 6 9 - 1 8 2 3 ) in der Zeitschrift Jesus og Fornuften [Jesus und die Vernunft] ausgehende heftige Kirchenkritik um sich, und die Kirche sah sich beständig in die Verteidigung gedrängt. Andererseits gewann aber auch der von der Zeit an die Religion angelegte M a ß s t a b der Nützlichkeit große gesellschaftliche Bedeutung. N a c h dem Staatsstreich von 1 7 8 4 vermochten fortschrittsfreundliche Gutsherren und Intellektuelle eine Reihe von Reformen durchzuführen, denen ganz entscheidende Bedeutung für die Emanzipation der Bevölkerung in sozialer, wirtschaftlicher und kirchlicher Hinsicht zukam und die in mancher Hinsicht die Grundlagen des modernen D ä n e m a r k legten. Am wichtigsten waren die Agrarreformen mit Bauernbefreiung, die Schulreform und die kirchlichen R e f o r m e n mit einem neuen Lehrbuch, einem neuen Gesangbuch und einer neuen Gottesdienstordnung (Bischof Nikolai Edinger Balle, 1 7 4 4 - 1 8 1 6 ) . Die zeitgenössischen Toleranzvorstellungen kamen den nichtlutherischen Christen (s. u.) und den Juden zugute. Eigenartigerweise aber fühlten

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sich viele führende Persönlichkeiten des Geisteslebens vom —»Okkultismus angezogen, eine Tendenz, die durch den Besuch J. C. —»Lavaters in Kopenhagen (1793) zusätzlichen Auftrieb erhielt. Um 1 8 0 0 vollzog sich ein Umschwung in der dänischen Kirchengeschichte. Bis dahin hatte sie im wesentlichen die Bewegungen im deutschen Raum nachvollzogen, jetzt aber trat eine Reihe schöpferischer Persönlichkeiten in Erscheinung, die der dänischen Kirche eine eigenständige Prägung gaben, —»Kierkegaard, —>Grundtvig, Hans Lassen Martensen ( 1 8 0 8 - 1 8 8 4 ) , Jakob Peter Mynster ( 1 7 7 5 - 1 8 5 4 ) , wie überhaupt das 19. Jh. eine Blütezeit des dänischen Geisteslebens war (u. a. der Dichter Hans Christian Andersen [ 1 8 0 5 - 1 8 7 5 ] , der Bildhauer Bertel Thorvaldsen [ 1 7 7 0 ( ? ) - 1 8 4 4 ] ) . Gewiß spielten auch Anstöße von außen eine Rolle, wesentlich aber war, daß Männer wie Mynster und Grundtvig im Bruch mit der—»Romantik zu einem biblischen Christentum zurückfanden. Die kennzeichnendste Erscheinung des Jahrhunderts ist die volkstümliche Erweckungsbewegung (—»Erweckung). Sie begann unter der Landbevölkerung Mitteljütlands als bußpietistisch begründete Auseinandersetzung mit den Behörden um Gesang- und Lehrbücher (de staerke Jyder [die starken Jütländer], um 1800ff). Auf Fünen hob die Erweckung in älteren Herrnhuter Kreisen an, und auf Seeland entstand ein ausgeprägt kirchenkritisches Konventikelchristentum. Mit Verboten und gerichtlichen Verfahren stellte sich die Staatskirche, deren führender Vertreter der konservative und hochkirchliche Mynster als Bischof von Seeland war, gegen die Bewegung. Diese erfuhr um die Jahrhundertmitte eine Differenzierung. Ein Teil verband sich mit dem kirchlich-sakramental eingestellten „Grundtvigianismus", der durch seine Volkshochschulen (—»Volksbildungswesen) insbesondere unter der Landbevölkerung eine beträchtliche Aufklärungsarbeit unter Betonung auch des völkischen und nationalen Gedankens (die Kriege um Schleswig 1848—1850 und 1864) leistete und damit große Bevölkerungsgruppen kirchlich, sozial und politisch wachrief. Andere pietistisch Erweckte verharrten zeitweise in einer entschiedenen Laienbewegung (—»Laie), einige fanden zu den Baptisten und anderen Gemeinschaften, und es entstand ein „Verein für -^Innere Mission" (Forening for Indre Mission). Als dessen Leitung 1 8 6 1 an den Pfarrer Vilhelm Beck ( 1 8 2 9 - 1 9 0 1 ) kam, nahm auch diese Bewegung kirchlichen Charakter an, blieb aber dabei weithin bestimmt von der pietistischen Forderung nach —»Bekehrung, Trennung von der Welt und neuem Leben und verhielt sich dem politischen und geistigen Leben gegenüber zurückhaltend. Indessen hat die selbständige Kopenhagener Innere Mission (Kobenbavns Indre Mission) eine beachtliche christlich-soziale Wirksamkeit entfaltet. Eine dritte Richtung bildeten diejenigen, die sich in ihrer kirchlichen und geistigen Haltung an Mynster und Martensen ausrichteten und sich 1 8 9 9 im „Kirchlichen Zentrum" (Kirkeligt Centrum) zusammenfanden. Alle drei Gruppierungen sind in zahlreichen kirchenpolitischen Auseinandersetzungen aufeinandergestoßen und üben im kirchlichen Leben, nicht zuletzt in Fragen der Stellenbesetzung, immer noch beträchtlichen Einfluß aus. Eine Erweckungsbewegung besonderer Prägung entstand in Bornholm im Kreise des Pfarrers Peter Christian Trandberg ( 1 8 3 2 - 1 8 9 6 ) , der unter dem Einfluß Kierkegaards stand und aus Protest gegen die Verweltlichung der Volkskirche eine —»Freikirche mit Laienpredigern bildete, deren bedeutendster der Schmied Hans Christian Moller ( 1 8 3 4 - 1 9 0 7 ) war („Bornholmer", „Mollerianer"). Die Gemeinschaft löste sich allerdings bald wieder auf, und ihre Anhänger kehrten in die Volkskirche zurück, wo sie sich seit 1 8 9 2 im „Evangelisch-lutherischen Missionsverein" (Evangelisk-luthersk Missionsforening) zusammenfanden, der auch heute noch eine spürbare Wirkung im dänischen kirchlichen Leben ausübt. Theologisch steht die Bewegung unter dem Eindruck von Carl Olof Rosenius ( 1 8 1 6 - 1 8 6 8 ) und dem schwedischen Neuevangelismus (—»Gemeinschaftsbewegungen). 3 1848 wurde die absolutistische Staatsform durch eine demokratische Verfassung abgelöst und mit dem Grundgesetz ( G r u n d l o v ) von 1 8 4 9 , dessen Hauptverfasser der nachmalige Bischof Ditlev Gothard Monrad (1811 —1-887) war, die allgemeine Religionsfreiheit verkündet. Die im Grundgesetz getroffenen Regelungen der kirchlichen Verhältnisse blieben auch bei dessen Reform 1953 erhalten.

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Die evangelisch-lutherische Kirche gilt danach nicht mehr als —»Staatskirche, sondern als —»„Volkskirche" (folkekirke) und „wird als solche v o m Staat unterstützt". Diese Unterstützung besteht u. a. in gesetzlichen Regelungen für Feiertage und den Religionsunterricht in der Volksschule sowie der Erhebung von Kirchensteuern von den Kirchengliedern. D a r ü b e r hinaus leistet der Staat unmittelbare finanzielle Zuwendungen an die Kirche. Weiterhin enthält das Grundgesetz die Absichtserklärung, daß die Verhältnisse der Volkskirche „durch Gesetz geregelt werden sollen". Eine geplante Synodalverfassung kam jedoch nicht zustande, und es ist üblich geworden, daß der religiös neutrale Reichstag bzw. nach der Verfassungsreform von 1 9 5 3 das Folketing die erforderlichen Gesetze erläßt. Die oberste Leitung obliegt dem politisch ernannten Kirchenminister, und die Volkskirche verfügt über kein einheitliches geistliches Leitungsamt wie etwa ein Bischofskollegium mit Entscheidungsvollmacht in Fragen von Lehre und Gottesdienst oder dem Recht, die G e s a m t k i r c h e zu vertreten. Die Beziehungen zum Weltrat der Kirchen ( - ^ Ö k u m e n e ) und zum —»Lutherischen Weltbund werden über den „Zwischenkirchlichen Rat der dänischen V o l k s k i r c h e " (Den danske Folkekirkes mellemkirkelige Rad) bzw. das „Dänische Nationalkomitee des Lutherischen W e l t b u n d e s " (Det lutherske Verdensforbunds danske Nationalkomite) aufrecht erhalten, doch haben diese O r g a n e keinen offiziellen Status und müssen letztlich als „private" Einrichtungen gelten. Treffend ist diese einmalige Regelung des Verhältnisses von Kirche und Staat bezeichnet worden als „eine recht wohlgeordnete A n a r c h i e . . die gezeigt hat, daß sie funktionieren k a n n " (H. K o c h : R G G 3 2 , 1 2 ) . Die Religionsfreiheit brachte Vorstöße von Sekten mit sich, doch ernster als sie war Kierkegaards Auseinandersetzung mit dem volkskirchlichen Christentum, deren Wirkungen in der vom Kulturradikalismus ausgehenden Kirchenkritik spürbar wurden. Auch die Arbeiterbewegung empfing von ihm Anstöße, und als Reaktion darauf nahm in Kopenhagen nach deutschem Vorbild eine organisierte Stadtmission karitative Gemeindearbeit auf, zwei Diakonissenhäuser wurden gegründet, und 1 8 7 8 begann der C V J M seine Tätigkeit. Einen beträchtlichen Beitrag zum Kirchenbau und zur christlich-sozialen Arbeit leistete die „Kopenhagener Kirchenstiftung" (Kabenhavns Kirkefond, 1 8 9 6 f), die von einem durch den englischen christlichen —»Sozialismus geprägten Akademikerkreis ins Leben gerufen worden war (Christensen 2 9 2 f). Innerkirchlich wurde während der zweiten Hälfte des 19. J h . eine Diskussion um die —»Kirchenverfassung geführt, bei der die kirchlichen Gruppierungen kirchenpolitisch in Erscheinung traten. Wesentliche „Freiheitsgesetze" kamen zur Verabschiedung, das Gesetz über Aufhebung des Pfarrzwangs ( s o g n e b ä n d s l o s n i n g , s. v. w. Lösung der Gemeindebindung) mit dem R e c h t , sich einen Pfarrer frei auszuwählen ( 1 8 5 5 ) , und das Gesetz über „ W a h l g e m e i n d e n " , das ursprünglich mindestens je zwanzig Hausständen, seit 1 9 7 2 je fünfzig Personen das Recht freier Gemeindebildung um einen Geistlichen der Volkskirche gibt ( 1 8 6 8 / 7 3 ) . Grundlage der kirchlichen —»Demokratie wurden die Gemeinderäte, die weitgehende Befugnisse erhielten (Pfarrwahl, Bischofswahl, Verwaltung von Kirchen- und Pfarrgut). Im Laufe der Zeit, vor allem seit der Abschaffung des Zehnten ( 1 9 0 3 ) , hörte die Kirche auf, eine selbständige wirtschaftliche G r ö ß e zu sein. Ihr Jahresetat beläuft sich 1 9 7 8 auf etwa 1,2 Milliarden dänische Kronen; davon stammen etwa 2 5 Millionen aus kirchlichen Eigenmitteln, 2 1 8 Millionen beträgt der direkte Staatszuschuß, und die Kirchensteuer erbringt etwa 9 5 7 Millionen. Seit der Entstehung des sozialen Wohlfahrtsstaates der jüngsten Zeit ist die Kirche in zunehmendem M a ß e zu einer Institution in diesem geworden. Die —»Sozialdemokratie, die während dieser Entwicklung am längsten in der Regierungsverantwortung gestanden hat, führt die Trennung von Staat und Kirche nicht mehr in ihrem Programm.

3.2. Dänemark nemark.

zugeordnete

lutherische

Kirchen und nichtlutherische

Kirchen in Dä-

N a c h d e m K r i e g v o n 1 8 6 4 g i n g d i e K i r c h e des H e r z o g t u m s S c h l e s w i g in d i e L a n -

d e s k i r c h e v o n - » S c h l e s w i g - H o l s t e i n e i n . In d e n S t ä d t e n w u r d e d e u t s c h s p r a c h i g e r H a u p t g o t tesdienst eingeführt. Eine gewisse B e d e u t u n g erhielt der „ K i r c h l i c h e Verein für Innere M i s s i o n in N o r d s c h l e s w i g " ( K i r k e l i g Forening

for

Indre

Mission

i Nordslesvig,

1 8 8 7 ) , der poli-

tisch neutral sein wollte. N a c h d e m W i e d e r a n s c h l u ß N o r d s c h l e s w i g s an D ä n e m a r k

1920

b i l d e t e n s i c h in T o n d e r n , H a d e r s l e b e n , A p e n r a d e u n d S o n d e r b u r g d e u t s c h e G e m e i n d e n inn e r h a l b der V o l k s k i r c h e s o w i e eine freie d e u t s c h e „ N o r d s c h l e s w i g s c h e G e m e i n d e " m i t Sitz in T i n g l e f f , die s e i t 1 9 2 4 d e r ( 1 9 7 7 in d e r N o r d e l b i s c h e n K i r c h e a u f g e g a n g e n e n ) s c h l e s w i g holsteinischen

L a n d e s k i r c h e a n g e s c h l o s s e n ist. A u f d e r a n d e r e n S e i t e b e s t e h e n in S ü d -

s c h l e s w i g d ä n i s c h e G e m e i n d e n ( 2 3 P f a r r e r ) . S i e s i n d in d e r v e r e i n s r e c h t l i c h „ D ä n i s c h e n K i r c h e in S ü d s c h l e s w i g " (Dansk

Kirke

i Sydslesvig)

organisierten

z u s a m m e n g e s c h l o s s e n , die

i h r e r s e i t s d e r 1 9 1 9 g e g r ü n d e t e n G e s e l l s c h a f t „ D ä n i s c h e K i r c h e i m A u s l a n d " (Dansk Udlandet)

Kirke

i

a n g e h ö r t u n d ü b e r d i e s e d e r d ä n i s c h e n V o l k s k i r c h e v e r b u n d e n ist. D e r d e u t s c h e n

e v a n g e l i s c h e n G e m e i n d e in K o p e n h a g e n w a r s c h o n 1 5 5 8 d i e S t . P e t r i - K i r c h e ü b e r t r a g e n w o r d e n , in d e r s i e s i c h n o c h h e u t e v e r s a m m e l t . In — » G r ö n l a n d w u r d e n n a c h A b s c h l u ß d e r M i s s i o n 1 9 2 1 d i e z w a n z i g b e s t e h e n d e n P f a r r e i e n als P r o p s t e i u n t e r d e m B i s c h o f v o n K o p e n -

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hagen zusammengefaßt. Die Färöer mit fünfzig Gemeinden erhielten 1963 einen gleichfalls dem Bistum Kopenhagen unterstellten Vizebischof. Von den nichtlutherischen Kirchen waren die —»Baptisten, die über Deutschland ins Land gekommen sind, bereits vor Verkündung der Religionsfreiheit (1849) eine Reihe von Jahren wirksam und hatten an den betont biblizistischen Teil der Erweckungsbewegung angeknüpft. öffentlich-rechtlichen Status erhielten sie allerdings erst 1952. Sie zählen gegenwärtig (1976) 6 6 0 0 Gemeindeglieder und verfügen über 76 Kirchen und ein theologisches Seminar. Die Brüdergemeine h a t als evangelische —»Freikirche und Glied der —»Brüderunität noch immer eine Gemeinde in Christiansfeld (s.o.) mit 181 Gliedern, die zumeist ebenfalls der Volkskirche angehören. Die reformierte Kirche erhielt bereits 1682 ein Privileg; in Kopenhagen h a t sie eine deutsch- und eine französischsprachige, in Fredericia (Ostjütland) eine dänischsprachige Gemeinde - insgesamt etwa 800 Glieder mit drei Pfarrern. Der Katholizismus vermochte u m 1600 durch das Wirken von Jesuitenkollegien (—»Jesuiten) eine gewisse Anziehungskraft auf junge Dänen auszuüben. Als er jedoch, vor allem durch Laurentius Nicolai Norvegus SJ ( 1 5 4 0 - 1 6 2 2 ) , einen direkten Missionsversuch in D ä n e m a r k unternahm, wurde er durch strenge königliche Verfügung verboten (1613). Dennoch gab es Konversionen — die berühmteste ist die des Astronomen und Geologen Nicolaus Steno (Niels Stensen, 1638 —1686), der Bischof und Apostolischer Vikar der N o r d i schen Mission wurde. Katholische Gemeinden gab es auch vor 1849 schon bei einigen ausländischen Botschaften in Kopenhagen sowie in der „Freistadt" Fredericia, und 1851 erhielt die Kirche öffentlich-rechtlichen Status. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung zeigt die Z a h l ihrer Gemeindeglieder sinkende Tendenz; 1976 betrug sie 25 000 (entsprechend einem Bevölkerungsanteil von rund 0 , 4 5 % gegenüber 2 2 1 3 7 entsprechend r u n d 0 , 6 5 % im Jahre 1921) mit fünfzig Pfarrkirchen und 124 Geistlichen (Molland 156; zu allen nicht-lutherischen Kirchen sei auf dieses Werk in seiner dänischen Ausgabe hingewiesen). 3.3. Äußere Mission. Z u r Zeit des Pietismus war die Missionsarbeit in T r a n k e b a r (—»Indien; s. o.), der Finnmark (—»Norwegen) und - » G r ö n l a n d aufgenommen worden. Die Volkskirche als solche betreibt keine —»Mission; diese liegt vielmehr bei einer Reihe privater Gesellschaften auf volks- oder freikirchlicher Basis, die im „Dänischen Missionsrat" (Datisk Missionsräd) zusammenarbeiten. Am größten ist die „Dänische Missionsgesellschaft" (Dattsk Missionsselskab). Sie w u r d e 1821 von Bone Falch R ö n n e ( 1 7 6 4 - 1 8 3 3 ) , dessen kirchliche Wirksamkeit von der englischen evangelikalen Erweckung bestimmt war, begründet. Der Etat der Gesellschaft beläuft sich (1977) auf 9,4 Millionen dänische Kronen, und sie h a t 65 Missionare im Dienst (Ärbog, red. v. Jessen, 1977, 95 f; Ubersicht über die dänische Missionstätigkeit: Lindhardt, D K H 8 , 3 2 9 f ; vgl. auch H . Koch: R G G 3 2 , 1 7 f ) . 3.4. Theologie und Frömmigkeit. Die Theologie der O r t h o d o x i e wird von H . P. Resen repräsentiert, der die Lehreinheit zwischen Luther und M e l a n c h t h o n aufweisen will (De locis communibus Philippi Melanchthonis, Kopenhagen 1620); er verficht einen schroffen —»Supranaturalismus und eine lebendige Bußfrömmigkeit und hat im übrigen 1607 die erste dänische Bibel auf der Grundlage der Ursprachen herausgebracht (—»Bibelübersetzungen). Am bedeutsamsten aber war J. R. —»Brochmand. Eine eigentümliche Gestalt war der Adlige Holger Rosenkrantz ( 1 5 7 4 - 1 6 4 2 ) , der in seinen Abhandlungen, von denen viele noch unveröffentlicht sind, mit der o r t h o d o x e n Lehre brach und sich katholischen Vorstellungen unter Betonung des subjektiven M o m e n t s in der Rechtfertigungslehre zuwandte. Er richtete auf seinem Gut eine Akademie ein, in der eine tiefe Frömmigkeit gepflegt wurde. In der Andachtsliteratur stellten zu Beginn der Epoche Ubersetzungen aus dem Deutschen den überwiegenden Teil der Publikationen, im Laufe der Zeit aber erhielten praktisch-theologische Einflüsse aus England im Bereich der Predigt und für die —»Erbauungsliteratur zunehmende Bedeutung. Doch übersetzte m a n jetzt auch Werke der vorreformatorischen deutschen —»Mystik. Die bedeutendsten Liederdichter waren H a n s Christensen Sthen (ca. 1540—1611) und T h o m a s Hansen Kingo ( 1 6 3 4 - 1 7 0 3 ) , dessen Lieder immer noch häufig gesungen werden. Kennzeichnend für die kirchlich gebundene pietistische Frömmigkeit war

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Erik Pontoppidans ( 1 6 9 8 - 1 7 6 4 ) Erklärung zu Luthers Kleinem Katechismus, Sandhed til Gudfrygtighed (Kopenhagen 1738), die für Generationen zum Lehrbuch im Dänisch- und Religionsunterricht wurde, und sein Collegium pastorale practicum (Kopenhagen 1757). Ein hervorragender Prediger war der Hofgeistliche Peder Hersieb ( 1 6 8 9 - 1 7 5 7 ) . Als Kirchenlieddichter unübertroffen ist Hans Adolph Brorson ( 1 6 9 4 - 1 7 6 4 , seit 1741 Bischof in Ripen); nicht zuletzt seine Weihnachtslieder werden noch immer gerne gesungen, und die Choralsammlung Troens rare Klertodie (1739) ist die markanteste literarische Ausformung des dänischen Pietismus. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. gewann der Supranaturalismus Chr. —»Wolfis Einfluß. Eine literarische —»Apologetik gewann Gestalt (Ove Hoegh-Guldberg [ 1 7 3 1 - 1 8 0 8 ] ) , und der deutsche Hofprediger Johann Andreas Cramer ( 1 7 2 3 - 1 7 8 8 ) hinterließ ein umfangreiches homiletisches Werk (22 Bde.!) mit dem für die Aufklärungszeit kennzeichnenden Abheben auf Moralität und soziale Ordnung. Beträchtliche Verbreitung fand Struensees Bekehrungsgeschichte, die Balthasar Münter gleich nach dessen Hinrichtung 1772 niederschrieb. Auch die konservative —»Neologie fand in Bischof N. E. Balle einen bedeutenden Vertreter, und unter den Universitätsprofessoren genoß vor allem Friedrich Münter ( 1 7 6 1 - 1 8 3 0 ) großen europäischen Ruf als Theologe, Archäologe und Numismatiker. Typisch für die zeitgenössische Hochschätzung von Unterricht und Aufklärung sind die Einführung einer strengeren Amtseingangsprüfung (1788), die Herausnahme des höheren Schulwesens aus der geistlichen Schulaufsicht und die Einrichtung von Seminaren für Volksschullehrer. Um die Wende zum 19. Jh. waren das Bischofskollegium und die Universitätstheologen immer noch von der Aufklärungstheologie bestimmt, die jedoch einem moralischen —»Rationalismus Platz machen mußte (Henrik Georg Clausen [1759—1840]). Größere Bedeutung erhielt indessen ein stärker biblisch und dogmatisch orientiertes Verständnis des Christentums, wie es vor allem Jakob Peter Mynster (1775-1854) vertrat, der als Prediger und Bischof (ab 1854) zur führenden Gestalt im kirchlichen Geistesleben wurde. Um 1835 machte sich bei den tonangebenden Theologen der Einfluß der —»Tübinger Schule geltend, in der neutestamentlichen Wissenschaft - Henrik Nicolai Clausen ( 1 7 9 3 - 1 8 7 7 ) und Carl Emil Scharling (1803—1877) — ebenso wie in der systematischen Theologie bei Hans Lassen Martensen (Schjörring 8f.23f). Martcnsen ( 1 8 0 8 - 1 8 8 4 ; seit 1838 Dozent und später Professor in Kopenhagen, seit 1854 Bischof von Seeland) war um den Ausgleich von Christentum und Kultur bemüht, distanzierte sich aber in Annäherung an die traditionell lutherische Lehre vom Hegelianismus (—»Hegel). Dem „Grundtvigianismus" gegenüber ablehnend, zurückhaltend gegenüber dem Individualismus der Erweckungsbewegung und mit Kierkegaard im Streit liegend, verkörpert er in typischer Weise jene Strömung, die sich im „kirchlichen Zentrum" (s. o.) sammeln sollte. Große Bedeutung erhielten seine Christliche Dogmatik und seine Christliche Ethik, in der er u. a. auch ein positives Interesse an der Arbeiterbewegung bekundete. Seine frühe Bekanntschaft mit F. v. —»Baader hat ihn sein Leben lang geprägt.

Die bedeutendsten Theologen des 19. Jh. waren Kierkegaard und Grundtvig, von deren nachhaltiger Wirkung auf die kirchengeschichtliche Entwicklung schon die Rede war (s. o.). Am Ende des Jahrhunderts, in dem es übrigens auch zu heftigen Angriffen auf die theologische Fakultät kam, war der führende Universitätstheologe der Dogmatiker Peder Madsen (1843 — 1911), der im wesentlichen eine von dem Erlanger Franz Hermann Reinhold Frank ( 1 8 2 7 - 1 8 9 4 ) inspirierte Erfahrungstheologie (—»Erfahrung) vertrat. Außerhalb der Universität verwirklichte sich selbständiges theologisches Denken in der eigenständigen Versöhnungslehre (—»Versöhnung) des Gemeindepfarrers Otto Moller (1831 — 1915), die unter schroffer Polemik gegen das lutherisch-orthodoxe Verständnis aus altkirchlichen Voraussetzungen entfaltet wird (Prenter, Skabelse 434 ff [nur im dänischen Original]; KjeldgaardPetersen 234f). Die Einführung der historisch-kritischen Methode in der —»Bibelwissenschaft um die Jahrhundertwende zog kirchenpolitische und politische Erregung nach sich, desgleichen auch das Fußfassen der —»Liberalen Theologie. Ihre führende Gestalt war der Religionsphilosoph Frederik Christian Krarup ( 1 8 5 2 - 1 9 3 1 ) . Eine weitreichende kirchliche Wirksamkeit, nicht zuletzt im Bereich der Ökumene, entfaltete auch der Kirchenhistoriker

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und spätere Bischof von Hadersleben Valdemar Ammundsen ( 1 8 7 5 - 1 9 3 6 ) . Auch der Kopenhagener Systematiker Eduard Geismar (1871 — 1939) übte einen bedeutenden Einfluß aus. Für die exegetische und religionsgeschichtliche Forschung war vor allem die Arbeit von Wilhelm Grönbech ( 1 8 7 3 - 1 9 4 8 ) , Johannes Munck ( 1 9 0 4 - 1 9 6 5 ) und Johannes Pedersen ( 1 8 8 3 - 1 9 7 7 ) von Bedeutung (zur Theologie, den Theologen und der Hochschulpolitik im 19. und 20. Jh. vgl. L. Grane, Det teologiske Fakultet: Kobenhavns Universitets Historie 1 4 7 9 - 1 9 7 9 , red. v. S. Ellehöj/L. Grane, Kopenhagen, V 1980, i. Ersch.). Die folgenreichste Entwicklung des 20. Jh. war der sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen vollziehende Umschwung. Angeregt vom Studium Luthers und Kierkegaards und unter dem Eindruck K. —»Barths und R. —»Bultmanns nahm eine Gruppe von Theologen eine energische Auseinandersetzung mit dem Jesusbild der liberalen Theologie und deren Genieästhetik auf, die in besonderer Schärfe in der auch heute noch erscheinenden Zeitschrift der Bewegung, Tidehverv (1926ff), geführt wurde, in der das kirchliche Wirken der Inneren Mission, die Jugendbewegung und anderes mehr rücksichtsloser Kritik unterworfen wurden, aber auch zahlreiche gewichtige theologische Beiträge zu Wort kamen. Zugleich entfaltete sich aber auch eine kirchliche barthianische Linie und gewann Bedeutung für dieUniversitätstheologie und das kirchliche Leben (Niels Hansen Söe, [1895 —1978]). In jüngster Zeit sind Kristen Ejner Skydsgaard (geb. 1902) und Regin Prenter (geb. 1907) als profilierte Systematiker und ökumeniker hervorgetreten (Soe, Teologi 180 f. 189 f). Das Interesse der systematisch-theologischen Arbeit gilt vor allem Kierkegaard und Grundtvig (Niels Thulstrup [geb. 1924]; vgl. dazu J. Sick: R G G 3 2, 1 4 - 1 7 ; auf diesen Artikel sei auch für die neuere dänische theologische Arbeit verwiesen; vgl. dazu auch Soe, Teologi), während Theologen wie Johannes Slök (geb. 1916) und Knud Eiler Logstrup (geb. 1905) ihren Ruf mit ihrem von der —>Existenztheologie bestimmten Schaffen begründeten. Sie fanden übrigens beide - wie auch R. Prenter — ihr Wirkungsfeld in der 1932 an der noch jungen Universität Ärhus eingerichteten, 1945/46 mit Prüfungs- und Promotionsrecht ausgestatteten theologischen Fakultät. Einen eigenständigen Beitrag zur gegenwärtigen theologischen und gesellschaftspolitischen Diskussion hat jüngst der Kopenhagener Dogmatiker Ole Jensen (geb. 1937) geliefert, indem er die ökologische Krise (—»Umwelt) in Beziehung zur Theologie bringt. Er übt Kritik an einer „naturfeindlichen" Philosophie und Theologie und wendet sich insbesondere gegen W. —»Hermann und R. Bultmann. Die kirchenhistorische Arbeit hat sich namentlich auf die dänische Kirchengeschichte des 19. Jh. sowie auf die dänische und deutsche Reformationsgeschichte konzentriert (vgl. z. B. die Arbeiten von Leif Grane zu Luther). Außerdem setzte in den sechziger Jahren eine vor allem von dem Kirchenhistoriker Hai Koch (geb. 1904) angeregte umfassende Erforschung der religiösen Verhaltensweisen der dänischen Bevölkerung ein. Anmerkungen 1

2

3

Auch die kirchliche Organisation war Gegenstand jüngerer Untersuchungen, u. a. das Domkapitel von Roskilde und die eigentümliche jütländische, an die Verwaltungsgliederung in Syssler anknüpfende „Sysselpropstei", ein dänisches Gegenstück zu dem anderweitig bestehenden Archidiakonat (—»Bistum). Desgleichen gibt es Untersuchungen und Ausgaben der Annalen- und Legendenliteratur und liturgischer Bücher. Eine Ubersicht über die dänischen Klöster bietet DKH I, 3 5 1 f (vgl. Koch: HT[D] 10/3), doch fehlen umfassende Arbeiten zum Klosterwesen (vgl. indessen McGuire). Zur Analyse des „Stockholmer Blutbades" (1520), der Hinrichtung politischer Gegner in einem als Ketzerprozeß sich gebenden Verfahren, sei vor allem auf Skyum-Nielsen verwiesen; zur weiteren Diskussion vgl. auch die Angaben in ARG Lit. 1 (1972) Nr. 7 3 3 - 7 3 5 . Die Erweckungsbewegung ist in jüngster Zeit gründlich quellenmäßig erfaßt (Vsekkelsernes frembrud) und aufgearbeitet worden. Dabei heben einige Untersuchungen nachdrücklich auf ihren Zusammenhang mit wirtschaftlichen und sozialen Umschichtungsprozessen ab (Lindhardt, Vaekkelse; H. Koch, DKH IV; ders., Kirkeskifte; Baago), während andere demgegenüber zurückhaltend sind (Clausen; Tönnesen). Quellen und

Literatur

Ganz allgemein sei verwiesen auf die systematische Bestandsaufnahme der dänischen Literatur von 1 4 8 2 - 1 8 3 0 : Bibliotheca Danica, hg. v. Christian V. Bruun, 5 Bde., Kopenhagen 1 8 7 7 - 1 9 1 4 ; Suppl.

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1 8 3 1 - 1 8 4 0 , red. v. H. Ehrencron-Müller, Kopenhagen 1948 2 1 9 6 1 - 1 9 6 3 . - Für die Zeit nach 1840 ist die dänische Nationalbibliographie (Dansk Bogfortegneise) zu konsultieren. — Systematische Bibliographie der Zeitschriftenartikel: Dansk Tidsskriftindex, Kopenhagen 1915 £f. (Kirchen)historiscbe Spezialbibliographie: Torben Christensen/Jakob Gronbsek/Erik Nörr/Jorgen Stenb^k, Kirkehistorisk Bibliografi, Kopenhagen 1979. - B. Erichsen/Alfred Krarup, Dansk historisk Bibliografi, 3 Bde., Kopenhagen 1 9 1 7 - 1 9 2 7 2 1929 (syst. Verz. der dän. u. nichtdän. einschlägigen Fachliteratur). - Fortsetzung: Henry Bruun, Dansk historisk Bibliografi 1 9 1 3 - 1 9 4 2 , 6 Bde., Kopenhagen 1 9 6 6 - 1 9 7 7 u. desgl. 1 9 4 3 - 1 9 4 7 , ebd. 1956. - Bente Pedersen, Dansk historisk Arsbibliografi 1 9 6 7 - 1 9 6 9 , Kopenhagen 1 9 7 2 - 1 9 7 4 (wird fortges.). - Es fehlt mithin noch eine Bibliographie für die Jahre 1 9 4 8 - 1 9 6 6 . - Vgl. außerdem: Excerpta Historica Nordica, ed. Lorenz Rerup, Kopenhagen, I 1955; VII 1973 (so weit bisher erschienen). Biographisch-bibliographische Nachschlagewerke: H. Ehrencron-Müller, Forfatterlexikon. . . indtil 1814, 12 Bde. u. Erg. Bd., Kopenhagen 1 9 2 4 - 1 9 3 9 . - Thomas Hansen Erslew, Almindeligt dansk Forfatterlexicon, 6 Bde., Kopenhagen 1 8 4 3 - 1 8 6 8 ; Reg.-Bd., ebd. 1877 2 1 9 6 2 - 1 9 6 4 . Weitere wichtige Nachschlagewerke: DBL. — KLMN(D). — Immer noch von gewissem Wert: KLN. - Verz. aller gedruckten dän. theol. Dissertationen 1 9 0 0 - 1 9 7 5 : Teologisk Stat. Kirkelig Händbog 1975, ed. Den danske Praesteforening og Kirkeministeriet, Kopenhagen 1975, 1 9 - 2 3 (das alle fünf Jahre erscheinende Handbuch bringt eine Beschreibung aller dän. Pfarrgemeinden u. Biographien aller dän. Theologen der Gegenwart). Reihen, Periodika (mit zahlreichen wichtigen Quellenveröffentlichungen u. kirchenhistorischen Beiträgen): ANOH. - DM. - DTT. - HT(D). - KHS. - Mediaeval Scandinavia, ed. Odense University Press, 1968 ff. - Scandia. Tidskrift för historisk forskning, Lund 1928 ff. - Scandinavian Journal of History, Stockholm 1976 ff. Zu Abschn.

J

(Mittelalter):

Bibliographie: DH, jeweils hinter den einzelnen Abschnitten sowie S. 5 1 3 - 5 7 9 (umfassend, mit eingehenden Erläuterungen; als Ergänzung hierzu wird im Nachstehenden spezifisch kirchenhistorische Literatur aufgeführt). Quellen: Adami Bremensis Gesta Hammaburgensis, hg. v. Bernhard Schmeidler, 3 1 9 1 7 (MGH.SRG); neue Ausg.: Quellen des 9. u. 11. Jh. zur Gesch. der hamburgischen Kirche u. des Reiches, "1974 (AQDG 11) 1 3 7 - 5 0 3 (Textausg. u. dt. Ubers, v. Werner Trillmich).-Acta Pontificum Danica, ed. Alfred Krarup, Kopenhagen 1932. — Annales Danici medii aevi, ed. Ellen Jörgensen, Kopenhagen 1 9 2 0 - 1 9 2 1 . -Bibliotheca Liturgica Danica, ed. Knud Ottosen, Kopenhagen, I 1970. -Bullarium Danicum ( 1 1 9 8 - 1 3 1 6 ) , ed. Alfred Krarup, Kopenhagen 1932. - A Catalogue of Wall-paintings in the Churches of Medieval Denmark 1 1 0 0 - 1 6 0 0 , ed. Knud Banning, 4 Bde., 1977 (KHS[K]). - Consuetudines Lundenses. Statutter for kannikesamfundet i Lund c. 1123, hg. v. Erik Buus, Kopenhagen 1978. — Corpus Codicum Danicorum medii aevi, ed. Johannes Brondum-Nielsen, 9 Bde., Kopenhagen 1 9 6 0 - 1 9 7 3 . - Corpus Philosophorum Danicorum medii aevi, ed. Det danske Sprog- og Litteraturselskab, 7 Bde., Kopenhagen 1 9 5 5 - 1 9 7 7 (wird fortges.). - Danmarks gamle Landskabslove med Kirkelovene, red. v. Johannes Bröndum-Nielsen/Poul Johannes Jorgensen, 8 Bde., Kopenhagen 1 9 3 2 - 1 9 6 1 . Danmarks Kirker, ed. Nationalmuseet, 24 Bde., Kopenhagen 1933 ff (wird fortges.). - Diplomatarium Danicum, ed. Det danske Sprog- og Litteraturselskab. I. R. (bis 1223), 5 Bde., Kopenhagen 1 9 5 7 - 1 9 7 7 (wird fortges.); II. R. ( 1 2 5 0 - 1 3 3 9 ) , 12 Bde., ebd. 1 9 3 8 - 1 9 6 0 ; III. R. ( 1 3 4 0 - 1 3 6 6 ) , 7 Bde., ebd. 1958 — 1972 (wird fortges.) (begleitend erscheint in Danmarks Riges Breve eine dän. Ubers.). — Zu weiteren Briefsammlungen u. Urkundenausgaben s. DH 5 2 4 - 5 2 7 . - Martin Clarentius Gertz, Vitae Sanctorum Danorum, Kopenhagen 1908 -1912.-LiberDaticusRoskildensis, ed. Alfred Otto, Kopenhagen 1933. - Libri memoriales Capituli Lundensis, ed. C. Weeke, Kopenhagen 1 8 8 4 - 1 8 8 9 . - Middelalderens danske Bonnebeger, hg. v. Karl Martin Nielsen, 4 Bde., Kopenhagen 1 9 4 5 - 1 9 6 3 . - M a n u a l e curatorum secundum ecclesie Rosckildensis, ed. Johannes Freisen, Köln 1898. - Saxonis Gesta Danorum, ed. Jörgen Olrik/Hans Rzder/Franz Blatt, 2 Bde., Kopenhagen 1931 - 1 9 5 7 . - Scriptores minores historiaeDanicae medii aevi, ed. Martin Clarentius Gertz, 2 Bde., Kopenhagen 1 9 1 7 - 1 9 2 2 . - U n i v e r s i t a s Studii Haffnensis. Stiftelsesdokumenter og Statutter 1479, ed. Jan Pinborg, Kopenhagen 1979. Literatur: Erik Arup, Danmarks Historie, 2 Bde., Kopenhagen 1 9 2 5 - 1 9 3 2 = 2 1961. - Jakob L. Balling/Poul Georg Lindhardt, Den nordiske kirkes Historie, Kopenhagen 4 1979. - Henry Bruun, Poul Laxmand og Birger Gunnersen, Kopenhagen 1959 = 1975 (Lit.). - Aksel E. Christensen, The Jelling Monuments: MedSc 8 (1975) 7 - 2 0 . - Ders., Archbishop Asser, the Emperor and the Pope: Scandinavian Journal of History 1 (1976) 2 5 - 4 2 . - D e r s . , Kongemagtog Aristokrati, Kopenhagen 1945 = 1968 = 1976. - Ders., Vikingetidens Danmark, Kopenhagen 1969 2 1977. - Troels Dahlerup, Det danske Sysselprovsti i Middelalderen, Kopenhagen 1968 (Lit.). - Danmarks Historie, hg. v. Inge SkovgaardPetersen/Aksel E. Christensen/Helge Paludan, Kopenhagen, I 1977 (Lit.). - Martin Gerhardt/Walther Hubatsch, Deutschland u. Skandinavien im Wandel der Jahrhunderte, Bonn 1950, Darmstadt 2 1 9 7 7 . -

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Indem Dante, über die christliche Lehre von der persönlichen Unsterblichkeit hinausgehend, an der Formkraft der Seele auch im Jenseits festhält, gibt er den Seelen der Abgeschiedenen einen neuen Schattenleib; ein genialer Einfall, in dem das Geheimnis der unerschöpflichen Lebensfülle der Commedia zu suchen ist. Denn nur so konnte Dante zum „Dichter der irdischen W e l t " (Erich Auerbach) werden und die geschichtliche Wirklichkeit des Diesseits ins Jenseits übertragen. Aus den schweifenden Schatten des antiken Hades und den blassen Beispielfiguren vorangegangener christlicher Jenseitsdarstellungen werden in der dramatischen Bewegtheit der Danteschen Begegnungen Menschen aus Fleisch und Blut, deren Worte ebenso Mitgefühl wie Zorn im Wanderer hervorrufen und ihn in menschlichen Schicksalen den göttlichen Heilsplan begreifen lehren. Die Abgeschiedenen, die sich Dante bald stumm, bald im Gespräch präsentieren, sind teils Zeitgenossen, teils Gestalten aus der profanen Geschichte und aus der Bibel, teils Geschöpfe der Sage und Dichtung. Die ins Jenseits transponierte Wirklichkeit wirdiwfc specie aeternitatis gesehen. Deshalb bedeutet jede Gestalt der Commedia mehr als sie selbst und weist auf das sie transzendierende Ziel der Dichtung, wodurch jedoch der sensus litteralis nicht aufgehoben, wohl aber durch den sensus allegoricus überhöht wird. Der Bezug jeder einzelnen Gestalt und jeder Episode auf die Gesamtkonzeption verleiht dem Werk seine innere Einheit. In der poetischen Veranschaulichung gewinnt das Programm einer politisch-religiösen Reform, wie es die Monarchia enthält, ein Höchstmaß an Evidenz. Auf der dunklen Folie der Zeitgeschichte ersteht das Idealbild einer vollkommenen Gesellschaft, in welcher das durch die Konstantinische Schenkung (—»Constitutum Constantini) gestörte Gleichgewicht zwischen Sacerdotium und Imperium wiederhergestellt sein wird, nachdem ein gottgesandter Retter die jede Gemeinschaft zerstörende Gier der Menschen nach Besitz und M a c h t überwunden hat. Analog zu Kaiser und Papst, den beiden Führern der Menschheit, agieren die beiden Führer Dantes: Vergil und Beatrice. Vergil symbolisiert die philosophische Unterweisung, Beatrice die theologische Offenbarung. Zugleich fühlt sich Dante mit beiden menschlich aufs innigste verbunden: mit Vergil, dem Künder der römischen Größe, dessen Aeneis sein dichterisches Vorbild ist, mit Beatrice, deren Liebe den jungen Dante beseligt und den reifen M a n n aus der Verstrickung in die Sünde befreit. Auf der Verbindung von dichterisch gestalteter menschlicher Wirklichkeit und metaphysischer Sinnfülle, eine Verbindung, die nicht nur Vergil und Beatrice, sondern grundsätzlich alle Gestalten der Commedia auszeichnet, beruht wohl die überzeitliche Wirkung des Weltgedichts.

Danzig 3.

353

Nachwirkung

Wie alle großen Dichtungen hat die Commedia immer wieder zu neuen Deutungen herausgefordert. Ihre Kommentierung begann unmittelbar nach dem T o d e des Dichters, ihre öffentliche Auslegung mit Giovanni Boccaccio. 1862 veröffentlichte Karl Witte die erste kritische Ausgabe der Commedia, die in alle Kultursprachen übersetzt worden ist; ins Deutsche seit Lebrecht Bachenschwanz ( 1 7 6 7 - 1 7 6 9 ) rund 5 0 mal. Auf die von Witte 1865 gegründete „Deutsche Dante-Gesellschaft" folgten entsprechende G r ü n d u n g e n in anderen Ländern (Italien 1888). Organe der Dante-Forschung sind u. a. das Deutsche Dante-Jahrbuch (seit 1865) und dieStudi Danteschi (seit 1920). In Florenz und Mailand bestehen besondere Lehrstühle für Dante-Philologie. Quellen Le opere di Dante. Testo critico della Società Dantesca Italiana, Florenz 1921 2 1960. - La Vita N u o v a , hg. v. Michele Barbi, Florenz 1932. - Il Convivio, hg. v. G. Busnelli/G. Vandelli, Florenz 1934; hg. v. E. Quaglio, ebd. 1964. - De Vulgari Eloquentia, hg. v. Aristide M a r i g o , Florenz 1938; hg. v. P. G. Ricci, ebd. 1957. — Rime della „Vita N u o v a " e della Giovinezza, hg. v. M . Barbi/F. Maggini, Florenz 1956. - M o n a r c h i a , hg. v. Pier Giorgio Ricci, M a i l a n d 1965. - La C o m m e d i a secondo l'antica vulgata, hg. v. Giorgio Petrocchi, 4 Bde., M a i l a n d 1 9 6 6 - 1 9 6 7 . - Rime della maturità e dell'esilio, hg. v. M . Barbi/V. Pernicone, Florenz 1969. - Die Göttliche Komödie. Ital. u. Dt., übers, v. H e r m a n n Gmelin, 3 Bde., Stuttgart 1 9 4 9 - 1 9 5 1 . - Ders., K o m m . , 3 Bde., Stuttgart 1 9 5 4 - 1 9 5 7 . Literatur Bibliographie: T h e o d o r O s t e r m a n n , Dante in Deutschland. Bibliogr. zur dt. Dante-Literatur 1 4 1 6 - 1 9 2 7 , Heidelberg 1929. Atti del Congresso Internazionale di Studi Danteschi, 2 Bde., Florenz 1 9 6 5 - 1 9 6 6 . - Erich Auerbach, D a n t e als Dichter der irdischen Welt, Leipzig 1 9 2 9 . - M i c h e l e Barbi, Dante, Florenz 1933. - Enei clopedia Dantesca (Direttore U m b e r t o Bosco), 6 Bde., R o m 1 9 7 0 - 1 9 7 8 . - H u g o Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, F r a n k f u r t a. M . 1942. — Etienne Gilson, D a n t e et la Philosophie, Paris 1939. - Francesco M a z z o n i , Contributi di filologia dantesca, Florenz 1966. - B r u n o N a r di, Dal Convivio alla C o m m e d i a , R o m 1960. - Friedrich Schneider, Dante, W e i m a r 5 1 9 6 0 . - Aldo Vallone, Dante, M a i l a n d 1971. - Nicola Zingarelli, La Vita, i tempi e le opere di Dante, 2 Bde., M a i l a n d 1931.

August Buck

Danzig 1. Mittelalter

1.

2. R e f o r m a t i o n und f r ü h e Neuzeit

3. 1 8 . - 2 0 . J a h r h u n d e r t

(Literatur S. 357)

Mittelalter

Danzig wird als Gyddanizc erstmalig 9 9 7 in V e r b i n d u n g mit der Mission des Bischofs —»Adalbert von Prag erwähnt. Dieser taufte dort damals einen Fürsten — vermutlich einen pomoranischen Gaufürsten — und „viele H e i d e n " . Das Dorf St. Albrecht bei Danzig erinnert an dieses Ereignis. Adalberts Bekehrungsaktion ist jedoch nur eine kurze Episode und bleibt ohne Folgen. Danach tritt eine Überlieferungslücke von etwa 120 Jahren ein. 1119—1121 wird Pomoranien von Polen unterworfen, der östliche Teil (Pommerellen) 1123 in die kirchliche Organisation Polens eingegliedert. Dabei k o m m t Danzig zur Diözese Leslau (Wloclawek). Diese Regelung h a t jedoch zunächst keine kirchlichen M a ß n a h m e n zur Folge. Diese werden erst von den selbständigen Herrschern Pommerellens in den siebziger Jahren des 12. Jh. eingeleitet. Um 1175 ruft der Uberlieferung nach Fürst Subislaw deutsche Zisterzienser aus Kolbatz bei Stettin ins Land. Diese lassen sich in der N ä h e von Danzig an einem O r t nieder, den sie Oliva nennen. Subislaws Sohn S a m b o r l . verleiht den M ö n c h e n durch eine in seiner Burg Danzig am 18. M ä r z 1178 ausgestellte U r k u n d e ein Landgebiet um Oliva (zunächst 7 Dörfer, deren Anzahl durch Schenkungen im 13. Jh. erheblich erhöht wird). Damals sind schon deutsche Geistliche in Danzig tätig, auch ist die Existenz einer

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Danzig

Burgkapelle anzunehmen. Wahrscheinlich entstehen schon bald danach (vermutlich um 1190) die ältesten Danziger Kirchen St. Katharinen und St. Nikolai. 1227 lassen sich —»Dominikaner aus Krakau in Danzig nieder. Ihnen wird die St. Nikolaikirche als Gotteshaus übergeben. Für die deutsche Marktsiedlung aber, die um den Langen Markt herum entsteht und die in dieser Zeit Stadtrecht erhält („Rechtstadt"), wird die Pfarrkirche zu St. Marien erbaut (wahrscheinlich um 1240). Spuren dieser ersten Marienkirche haben sich nicht erhalten. 1308 erwirbt der Deutsche Orden Pommerellen mit Danzig. Trotzdem bleibt die kirchliche Zuständigkeit des Bischofs von Leslau bestehen. Seine Rechte werden durch den Archidiakon („Archidiakonat Pommerellen") und den Offizial (geistlichen Richter) wahrgenommen. Das Amt des Offizials wird zuweilen dem Pfarrer der Katharinenkirche übertragen. Während der Ordenszeit werden in Danzig neue Kirchen errichtet, so in der Rechtstadt der Neubau von St. Marien (1343), ferner die Kirchen zu St. Johannis (1353) und St. Petri und Pauli (1385), in der um 1380 begründeten „Jungstadt" die Kirche St. Bartholomäi. Als Klöster entstehen das Birgitten-Nonnenkloster in der Rechtstadt ( 1 3 9 6 , 1 4 0 0 Angliederung eines Mönchsklosters; —»Birgitta/Birgittenorden), das Karmeliterkloster in der Jungstadt (1400; —»Karmeliter) und das Franziskanerkloster in der Vorstadt (St. Trinitatis, 1422; —»Franziskaner). Außerdem lassen sich in Danzig —»Beginen des Dominikanerordens nieder (1387). Am Stadtrand und außerhalb der Stadt werden Hospitäler eingerichtet (Rechtstadt: St. Gertrud, Hl. Geist; Altstadt: St. Georg, St. Elisabeth, Hl. Leichnam, St. Jakob; Niederstadt: St. Barbara; Jungstadt: St. Georg, St. Michaelis oder „Aller Gottes Engel", St. Rochus). Von diesen zehn Hospitälern gehen später drei wieder ein (Altstadt: St. Georg; Jungstadt: St. Georg, St. Rochus). Nach dem Abbruch der Jungstadt (1454) werden die Pfarrkirche St. Bartholomäi, das Karmeliterkloster und das Hospital St. Michaelis in die Altstadt verlegt. 1454 erhebt sich das Preußenland und mit ihm Danzig gegen die Herrschaft des Deutschen Ordens und unterstellt sich der Krone Polens. Danzig wird eine Gesamtgemeinde unter der Führung der Rechtstadt. Sie wird in 6 Pfarrbezirke aufgegliedert (St. Marien, St. Katharinen, St. Johannis, St. Bartholomäi, St. Petri und Pauli, St. Barbara). Haupt-Pfarrkirche wird St. Marien; dort übt nun der König von Polen das Patronatsrecht aus. Am Ende des 15. und Anfang des 16. Jh. erhalten die meisten Kirchen ihre endgültige Gestalt (St. Johannis 1465, St. Katharinen 1486, St. Nikolai 1487, St. Bartholomäi 1491, St. Marien 1502, St. Petri und Pauli 1514, St. Trinitatis 1514). Die weitaus größte Kirche von Danzig und Westpreußen, die Haupt-Pfarrkirche zu St. Marien, bietet nach ihrer Vollendung Platz für 2 4 0 0 0 Menschen. Ihr berühmtestes Kunstwerk wird das Jüngste Gericht des Brügger Malers Hans Memling. 2. Reformation

und frühe

Neuzeit

Die Reformation findet in Danzig schon früh Eingang. 1520 erscheint dort Luthers Schrift über die zehn Gebote, 1522 hält der „Sturmprediger" Jakob Hegge seine ersten reformatorischen Predigten. Im August 1524 erzwingt eine Volksversammlung die Einsetzung von evangelischen Predigern an 5 der 6 Pfarrkirchen. Im Januar 1525 wird nach einem Aufruhr der katholisch-konservative Rat gestürzt; der neue Rat nimmt Verbindung zu Luther auf. Aber im April 1526 erscheint König Sigismund I. von Polen mit einem Heer in Danzig, hält über die Aufrührer ein strenges Strafgericht und stellt die früheren kirchlichen Zustände wieder her. Der Geist der Reformation kann jedoch nicht unterdrückt werden. Infolge der fast ständigen Abwesenheit der katholischen Pfarrer gewinnen die evangelischen Prediger entscheidenden Einfluß. Als solche wirken Alexander Svenichen» ( 1 5 2 6 - 1 5 2 9 ) und Pankratius Klemme (1529—1546), letzterer im Sinne Luthers. Am 4. Juli 1557 erhält Danzig ein königliches Religionsprivileg, das den Gebrauch des Abendmahls in beiderlei Gestalt gestattet. Die volle Anerkennung des —»Augsburger Bekenntnisses wird jedoch erst am 12. Dezember 1577 durch König Stephan Bathory ausge-

Danzig

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sprochen. Tatsächlich aber führt Danzig schon 1557 die Reformation voll durch. Alle Pfarrund Hospitalkirchen werden lutherisch, ebenso die Kirchen im Danziger Landgebiet. In der Marienkirche bleibt allerdings der Hochaltar noch bis 1572 dem katholischen Pfarrer vorbehalten. Von den vier Klöstern bleiben drei (die der Dominikaner, Karmeliter und Birgittinen) katholisch. Das Franziskanerkloster wird aufgelöst; in ihm wird ein evangelisches „Akademisches Gymnasium" eingerichtet (1558). 1 5 6 7 wird als oberstes geistliches Gremium das „Geistliche Ministerium" geschaffen; es erhält die Aufgabe, die Kandidaten für das Predigtamt zu prüfen und zu ordinieren. Erster Senior des Ministeriums (gleichzeitig Erster Pfarrer an der Marienkirche) wird Johann Kittel (bis 1590). Die geistliche Gerichtsbarkeit auch über Protestanten verbleibt in bestimmten Fällen (Ehesachen, Unzuchtverbrechen) dem Offizial des Bischofs von Leslau. Alle Versuche von katholischer Seite, die Stellung der evangelischen Kirche in Danzig zu erschüttern, scheitern. So bleibt das Urteil des königlichen Hofgerichts, das die Marienkirche der katholischen Kirche zuspricht (1594), wirkungslos. Den —»Jesuiten wird das Recht zur Niederlassung in der Stadt verweigert. Sie lassen sich daraufhin schließlich in dem bischöflichen Dorf Altschottland nieder und begründen dort ein Kollegium (1616). Der einzige von den Katholiken in Danzig erzielte Erfolg ist die Gewährung einer eigenen Pfarrkirche auf Grund eines Edikts von König Johann III. Sobieski vom Jahre 1 6 7 7 („Königliche Kapelle", 1678). Die Bestimmung des Edikts jedoch, daß fortan 6 Katholiken der „Dritten Ordnung" angehören sollen, wird nicht beachtet. Hervorragendster Exponent der damals in Danzig herrschenden antikatholischen Stimmung ist Dr. Ägidius Strauch, Rektor des Akademischen Gymnasiums und Pastor zu St. Trinitatis (in Danzig 1669—75; 1678—82). In den in den fünfziger Jahren des 16. Jh. beginnenden Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Calvinisten nimmt der Rat der Stadt zunächst eine gemäßigt lutherische Haltung ein (Danziger Konkordienformel, 1562). Später nähert er sich reformierten Anschauungen (1573 Freistellung des Exorzismus, 1575 Übernahme des von —»Kryptokalvinisten verfaßten Corpus doctrinae Christianae). Trotz Beibehaltung der Augsburgischen Konfession werden auch reformierte Pastoren nach Danzig berufen; ihr Führer ist J a k o b Fabricius (Schmidt), von 1 5 8 0 bis 1613 Rektor des Akademischen Gymnasiums und Pastor zu St. Trinitatis. Nach einem über dreißigjährigen Kanzelkrieg zwischen Lutheranern und Reformierten erwirkt schließlich die lutherisch gesinnte Bürgerschaft ein königliches Mandat, das den Ausschluß der Reformierten von allen Ämtern verfügt (1612). Nun setzt eine lutherische Reaktion ein; ihre Führer sind Johann Corvin (Senior 1 6 1 8 - 4 3 ) und Johann Botsack ( 1 6 3 1 - 4 3 Rektor des Akademischen Gymnasiums, 1 6 4 3 - 6 1 Senior) sowie Abraham —»Calov, der von 1643 bis 1650 als Rektor des Gymnasiums in Danzig wirkte. Das Geistliche Ministerium, dessen Arbeit infolge der lutherisch-reformierten Streitigkeiten jahrzehntelang unterbrochen war, nimmt 1629 seine Tätigkeit wieder auf; es gewinnt hohe Autorität in kirchlichen und theologischen Fragen. Angriffe auf die lutherische Orthodoxie werden im sog. „Rahtmannschen Streit" ( 1 6 2 0 - 2 8 ) und im sog. „Statianischen Streit" ( 1 6 3 6 - 4 3 ) abgewehrt. In beiden Fällen siegt Johannes Corvin, sowohl über Hermann Rahtmann, Pastor zu St. Katharinen, als auch über Martin Statius, Diakon zu St. Johann. - Der Festigung der —»Kirchenzucht dienen die—»Kirchenordnungen des 16. und 17. Jh.; zu erwähnen sind hier die Kirchenordnung von 1557, die Gottesdienstordnung für die Marienkirche (1567), die Kirchenordnungen für das Stüblauer Werder (1582), das Land Heia (1583) und das Danziger Land (1591) sowie die Visitationsordnung für das Danziger Land (1648). Auch Kirchenbauten werden in dieser Zeit noch durchgeführt. 1 6 3 4 erhält die Katharinenkirche einen B a r o c k h e l m , 1 7 3 8 ein Glockenspiel. Als neue Kirchen werden St. Salvator ( 1 6 3 5 ) , die Lazarettkirche ( 1 6 4 2 ) und die Spendhauskirche ( 1 7 0 0 ) erbaut; St. Salvator (Abbruch während der Schwedenkriege 1 6 5 6 , Neubau 1 6 9 5 / 9 7 ) ersetzt die kleine Hospitalkirche zu St. Gertrud.

Die Bedeutung der Reformierten geht zurück. 1631 werden sie auf die Kirchen St. Petri und Pauli und St. Elisabeth beschränkt (letztere wird 1821 Garnisonkirche). Allen Sekten wird die Niederlassung in der Stadt verwehrt. Das gilt auch für die Mennoniten (—»Menno

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Danzig

Simons/Mennoniten). Diese dürfen sich zwar im Danziger Landgebiet ansiedeln, jedoch keine Gotteshäuser errichten. 3. 18.-20.

Jahrhundert

Am Ende des 17. Jh. dringt der -h> Pietismus in Danzig ein. Er erschüttert die Herrschaft der Orthodoxie. So kann Konstantin Schütz, Pastor zu St. Marien, in seiner Auseinandersetzung mit Samuel Schelwig, dem Rektor des Akademischen Gymnasiums ( 1 6 9 2 - 1 7 0 3 ) , seinen gemäßigt pietistischen S t a n d p u n k t durchsetzen, ebenso George Abicht, Rektor des Akademischen Gymnasiums, gegenüber Pastor H a u c k e ( 1 7 2 8 - 3 0 ) . Radikale pietistische Bewegungen („Konventikel") werden jedoch unterdrückt. Dem sich seit der Mitte des 18. Jh. ausbreitenden —»Rationalismus tritt der Rat zunächst entgegen (Verbot der Freimaurer, 1763), später aber duldet er doch die Einführung rationalistischer Gedanken in den Religionsunterricht der Danziger Schulen {Unterweisung zur Glückseligkeit nach der Lehre Jesu, 1788). 1793 fällt Danzig an ^ P r e u ß e n . Von 1807 bis 1814 ist es Freistaat von N a p o l e o n s Gnaden, 1814 kehrt es zu Preußen zurück. 1830 wird in Preußen eine „ U n i o n " zwischen Lutheranern und Reformierten hergestellt. Damit wird auch die Danziger reformierte Gemeinde St. Petri und Pauli in die evangelische Landeskirche eingegliedert. 1814—31 und 1 8 8 6 - 1 9 2 0 ist Danzig Sitz des westpreußischen Konsistoriums, 1 8 8 7 - 1 9 1 7 Tagungsort der westpreußischen Provinzialsynode. Generalsuperintendenten Westpreußens sind Emil Taube ( 1 8 8 4 - 9 2 ) , Gustav Adolf Doeblin ( 1 8 9 3 - 1 9 1 1 ) und Wilhelm Reinhard ( 1 9 1 1 - 2 0 ) . Von den Kirchen Danzigs wird die Hospitalkirche „Aller Gottes Engel" 1807 während der Kämpfe um die Stadt zerstört. Die durch den Rationalismus verursachte Ermattung des religiösen Lebens h a t zur Folge, daß einzelne Kirchen geschlossen werden, so St. Jakob (1812), die Lazarettkirche (1812), die Spendhauskirche (1833) und die Heilig-Geist-Kirche (1838). Andererseits finden sich Ansätze zu religiöser Erneuerung in der „Erweckungsbew e g u n g " der Pastoren T h e o d o r Kniewel ( 1 7 8 3 - 1 8 5 9 ) , Wilhelm Philipp Blech ( 1 8 0 6 - 5 5 ) und Friedrich K a r m a n n (1805—71), ebenso in der Begründung kirchlicher Vereine, so der Danziger Bibelgesellschaft (1814), des westpreußischen Missionsvereins (1826), des Danziger Gustav-Adolf-Vereins (1844, seit 1879 westpreußischer Provinzial-Hauptverein), des Provinzialvereins f ü r —»Innere Mission (1875), des Evangelisch-kirchlichen Hilfsvereins (1889), des —»Evangelischen Bundes (1890), der Evangelischen Frauenhilfe (1899) sowie der Jünglings- und Jungfrauenvereine (seit 1888, seit 1910 Provinzial-Verband). Im Kirchenkreis Danzig-Stadt wird 1823 die 1807 zerstörte Kirche von Weichselmünde wieder aufgebaut, außerdem 1839—41 eine Kirche in Neufahrwasser errichtet (Pfarrstelle dort schon 1833). 1 8 3 3 - 9 3 wird Weichselmünde vom Pfarrer von Neufahrwasser betreut, danach wird es eigene Pfarrgemeinde. Ferner entstehen neue Pfarrgemeinden und Pfarrkirchen in Schidlitz (1895), H e u b u d e (1897), Langfuhr (Lutherkirche 1896; Christuskirche 1918). Auch die Danziger Katholiken, die seit 1821 dem Bistum Kulm (Sitz Pelplin) unterstehen, können ihre Stellung weiter ausbauen. Z w a r werden die Danziger Klöster — Dominikaner, Karmeliter und St. Birgitten - nach 1815 aufgelöst, die Klosterkirchen jedoch in katholische Pfarrkirchen umgewandelt. Das gleiche geschieht mit der Klosterkirche in Oliva; die dortige katholische Pfarrkirche wird den Evangelischen übergeben (1833). Pfarrkirchen werden auch die Klosterkirche in St. Albrecht und die frühere Jesuitenkirche in Altschottland. Neue katholische Kirchen entstehen in Neufahrwasser (St. Hedwig, 1858), Schidlitz (St. Franziskus, 1906) und Langfuhr (Herz-Jesu-Kirche, 1911). 1920 wird Danzig und seine Umgebung als „Freie Stadt" vom Deutschen Reich abgetrennt. Die evangelischen Christen Danzigs bleiben im Verbände der preußischen Landeskirche (Evangelische Kirche der altpreußischen Union). Danzig bildet in ihr eine Kirchenprovinz mit 5 Kirchenkreisen (Danzig-Stadt, Danziger H ö h e , Danziger Nehrung, Danziger Werder, Großes Werder). An ihre Spitze tritt Generalsuperintendent Paul Kaiweit (bis 1933). 1925 wird das katholische Bistum Danzig geschaffen. Bischöfe werden Eduard Graf

Darby/Darbysten

357

O'Rourke (bis 1938) und Carl Maria Splett ( 1 9 3 8 - 4 5 ) . Im Bistum werden bis 1 9 3 9 insgesamt 15 neue Gotteshäuser erbaut, davon 3 polnisch-katholische Kirchen. Die Anzahl der Katholiken in Danzig ist im 17. und 18. Jh. sehr gering; sie nimmt im 19. Jh. ständig zu (Anteil der Katholiken an der Bevölkerung der Stadt Danzig: 1840: ca. 2 0 % ; 1861: 2 3 % ; 1910: 3 2 % ; 1 9 2 0 : 3 4 % ; der Freien Stadt Danzig: 1 9 2 4 : 3 6 , 8 % ; 1 9 2 9 : 3 8 , 5 7 % ) . Von den Danziger Katholiken gehören etwa 1 0 % dem polnischen Volkstum an. Im Zuge des —»Kirchenkampfes wird Generalsuperintendent Kaiweit durch Bischof Johannes Beermann ersetzt. 1 9 3 9 wird der „Reichsgau Danzig-Westpreußen" geschaffen; seine Fläche deckt sich mit der des „Kirchengebietes Danzig Westpreußen" (seit 1940), dessen Leitung Bischof Beermann übertragen wird. Der katholische Bischof von Danzig wird 1939 auch Administrator des Bistums Kulm. 1945 wird die deutsche Bevölkerung fast restlos vertrieben, die evangelischen Kirchen werden der polnisch-katholischen Kirche übergeben. Den wenigen evangelischen Christen im Raum von Danzig wird nur die kleine Friedenskirche in Zoppot zur Verfügung gestellt. Dort wird ein polnisch-evangelischer Pfarrer eingesetzt. Deutscher Gottesdienst wird verboten. Der katholische Bischof Splett wird 1945 verhaftet und erst 1956 aus der Haft entlassen. Die vertriebenen Glieder der evangelischen Kirche von Danzig und Westpreußen organisieren sich nach 1945 in Westdeutschland im „Hilfskomitee für die Evangelischen aus Danzig-Westpreußen"; dieses wird dem Ostkirchenausschuß angeschlossen. Die vertriebenen Katholiken begründen den „Danziger Bistumsrat". Literatur Georg Reinhold Curicke, Der Stadt Danzig hist. Beschreibung, Danzig 1 6 8 7 . - Daniel Gralath, Versuch einer Gesch. Danzigs, 3 Bde., Königsberg 1 7 8 9 - 9 1 . - Christoph H a r t k n o c h , Preußische Kirchenhistoria, Frankfurt, M . 1 6 8 6 . - Walter Hubatsch, Gesch. der Ev. Kirche Ostpreußens, Göttingen 1 9 6 8 . - Erich Keyser, Danzigs Gesch., Danzig 2 1 9 2 8 . - Gottfried Lengnich, Gesch. der preußischen Lande kgl.-polnischen Antheils, 9 Bde., Danzig 1 7 2 2 - 5 5 . - Gotthilf Löschin, Gesch. Danzigs, 2 Bde., Danzig 1 8 2 2 . - Heinz Neumeyer, K G v. Danzig u. Westpreußen in ev. Sicht, 2 Bde., Leer 1 9 7 1 - 7 7 ( L i t . ) . - E d u a r d Schnaase, Gesch. der ev. Kirche Danzigs, Danzig 1 8 6 3 . - C a s p a r Schütz, Historia rerum Prussicarum, Zerbst 1 5 9 2 . - P a u l Simson, Gesch. der Stadt Danzig, 4 Bde., Danzig 1 9 1 2 - 1 8 . - R i c h a r d Stachnik, Die Kath. Kirche in Danzig, Münster 1 9 5 9 . - Franz Steffen, Die Diözese Danzig, Danzig 1926.

Heinz Neumeyer

Darby, John

Ne/sow/Darbysten

J. N. Darby (geb. 1 8 . 1 1 . 1 8 0 0 in London, gest. 2 9 . 4 . 1 8 8 2 in Bournemouth) trat 1 8 1 5 in das Trinity College in Dublin ein, studierte zunächst Jura, unterwarf sich dann einer strengen, asketisch gefärbten Kirchlichkeit und wurde 1825 zum Deacon und ein Jahr darauf zum Geistlichen der anglikanischen Kirche ordiniert. 1828 kam er in einen Kreis erweckter, endzeitlich orientierter Bibelchristen um den Zahnarzt A. N. Groves. Dieser schlug vor, in aller „Einfachheit" zur Erbauung zusammenzukommen, um das Brot miteinander zu brechen. 1834 verließ Darby die anglikanische Kirche. Zuvor waren seine theologischen Einsichten auf den endzeitlichen Fragen gewidmeten „Powerscourt-Konferenzen" gewachsen. Trotz des Wachstums freier Versammlungen auf den britischen Inseln ging Darby 1 8 3 9 in die Schweiz, wo er in Auseinandersetzung mit Dissidentengemeinden in Genf und Lausanne den für ihn kennzeichnenden Gedanken des radikalen Verfalls der Kirche entwickelte (—>Chiliasmus). In England spaltete sich 1 8 4 5 die größte Versammlung der Brüder in Plymouth, weil Darby seinem Widersacher B . W . Newton Klerikalismus vorwarf. In einem Zirkularschreiben (1848) exkommunizierte er die Bethesda-Gemeinde in Bristol, da sie Glieder aus dem Newton-Kreis aufgenommen hatte. Fortan war die Bewegung in die „exklusiven" und „offenen Brüder" gespalten. Letztere standen unter Leitung des früheren Hallenser Theologiestudenten Georg Müller, dem Waisenhausvater von Bristol, während Darby die „Exklusiven" anführte. Beide Gruppen wurden durch ausgedehnte Reisen Müllers und Darbys auf dem europäischen Kontinent, in Nordamerika und Australien verbreitet. Friedrich Wilhelm

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Darby/Darbysten

Baedecker trug den Typus der offenen Brüder nach Rußland und wirkte befruchtend auf die Petersburger Erweckung. Im Zentrum der Anschauungen Darbys steht seine Lehre von der —»Kirche oder Versammlung. Sowohl die National- und Landeskirchen wie auch die —»Freikirchen können nicht als „wahre Kirche" gelten: Erstere treiben Verrat an der Universalität der Kirche, letztere geben vor, etwas Verfallenes wiedererrichten zu können, wozu ihnen die Vollmacht fehlt. Darby will angesichts der Apostasie der Kirche die Einheit des Leibes Jesu jenseits aller Benennungen am „Tisch des Herrn" zur Darstellung bringen. Dort kommen die in Glaube, Lehre und Wandel reinen Glieder in der Versammlung der „zwei oder drei" (Mt 18,20) zum allsonntäglichen Brotbrechen und in der Erwartung der baldigen „Entrückung" (rapture) zusammen. Zur Reinerhaltung der philadelphischen Brautgemeinde ist die Absonderung von allem Übel („evil", d.h. von allen Denominationen der „Welt", notfalls auch von ganzen Gemeinden der eigenen Bewegung wie z.B. Bristol) notwendig. Der Verzicht auf alle hierarchischen, institutionellen oder sakramentalen Elemente soll der Verwirklichung des —»Priestertums aller Gläubigen dienen. Der Grundsatz der Absonderung hat kurz vor und erst recht nach Darbys Tod zu einer Fülle von Spaltungen in den exklusiven Versammlungen, oft wegen nichtiger Anlässe, geführt (Kelly, Raven, Stoney, Stuart, James Taylor sen. und jun.). Das Wirken des Lehrers Carl Brockhaus bestimmte die Ausbreitung darbystischer Versammlungen in Deutschland. Brockhaus und Darby gaben gemeinsam mit Julius Anton v. Poseck und dem Holländer Hermann Kornelius Voorhoeve die sog. Elberfelder Bibel (Neues Testament: 1855; Neues Testament u. Ps: 1859; Bibel: 1871) heraus, die weit über die Versammlungskreise hinaus Verbreitung fand. Brockhaus verhinderte unter den exklusiven „Elberfelder Brüdern" Spaltungen. Daneben entwickelten sich die Gemeinden der offenen Brüder, die oft richtungsgebende Kontakte zu anderen christlichen Kreisen unterhielten (Gemeinschaften, Blankenburger Konferenz, —»Evangelische Allianz, Verband gläubiger Offiziere unter General v. Viebahn, Toni v. Blücher, Allianzbibelschule zunächst Berlin, dann Wiedenest). Im Dritten Reich erfolgte am 1 3 . 4 . 1 9 3 7 ein Verbot der Versammlung. Uber 1000 Brüder trafen sich daraufhin zu einer genehmigten Beratung in Wuppertal und empfahlen den Zusammenschluß der (exklusiven) Versammlung und der (offenen) „kirchenfreien christlichen Gemeinden" zum „Bund freikirchlicher Christen" (BfC). Schon 1938 kam es zu Kontakten zwischen dem BfC, dem Bund —»Freier evangelischer Gemeinden und dem Bund der Baptistengemeinden (—»Baptisten) mit dem Ziel einer engeren Gemeinschaft. BfC und Baptistengemeinden vereinigten sich 1942 zum „Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, Körperschaft des öffentlichen Rechts". Einige exklusive Versammlungen hatten allerdings dem Verbot widerstanden, andere traten nach dem Krieg aus dem Bund aus, weil sie das Predigertum als Gefahr für das allgemeine Priestertum und die Beziehungen zum Weltbund der Baptisten fürchteten. Diese Gemeinden bildeten einen „Freien Brüderkreis", der den exklusiven Absolutheitsanspruch und die Enge der darbystischen Versammlungen ablehnt. Durch die „Scofield Reference Bible" wirken Darbys Ideen bis heute in Teilen des amerikanischen —»Fundamentalismus nach. Die Gesamtzahl der Mitglieder ist wegen der Organisationslosigkeit nur schätzbar, dürfte aber 5 0 0 0 0 0 , in Deutschland ca. 3 0 0 0 0 nicht übersteigen. Quellen John Nelson Darby, Collected Writings, 34 Bde., Kingston-on-Thames 2 1 9 6 1 - 1 9 6 7 . -Letters of John Nelson Darby, 3 Bde., ebd. o. J. — Versammlungen der „Brüder". Bibelverständnis u. Lehre, mit einer Dokumentation der Gesch. v. 1937 bis 1950, Dillenburg 1977.

Literatur Erich Geldbach, Christi. Versammlung u. Heilsgesch. bei John Nelson Darby, Wuppertal 3 1 9 7 5 . Gerhard Jordy, Die Brüderbewegung in Deutschland, Wuppertal, I 1979.

Erich Geldbach

Darwin/Darwinismus

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Darwin, C^ar/es/Darwinismus 1. Entstehung und Durchsetzung der Lehre 2 . Das Evolutionsgeschehen 3. Stammesgeschichtliche Entstehung des Psychischen 4 . Sozialdarwinismus (Literatur S. 3 7 1 u. 3 7 5 )

1. Entstehung

und Durchsetzung

der

Lehre

1 . 1 . Schon —»Aristoteles hatte die Fülle tierischer Arten in neun von niederen zu höheren aufsteigenden Kategorien gegliedert. Eine solche Stufenleiter der Organisationshöhe wurde späterhin mit zunehmender Kenntnis der Tiere und ihres anatomischen Baues vollständiger untergeteilt, aber meist als eine Reihe nacheinander erfolgter Schöpfungsakte betrachtet. Erst im 18. Jh. kam es gelegentlich zu Spekulationen über eine Veränderung der Arten im Laufe der Erdgeschichte und über die Möglichkeit, verschiedene Arten und Gattungen jeweils auf gemeinsame Stammformen zurückzuführen. Derartige Hinweise finden sich bei —>Leibniz, Buffon, —>Kant, —>Goethe (Bildung; Entwurf), St. Hilaire und Erasmus Darwin. Begründet wurde die Abstammungslehre dann durch Lamarck (1809), der in seiner Philosophie zoologique die Wandelbarkeit der Arten aufzeigte, den stammbaumartigen Zusammenhang der Tierformen darstellte und dabei auch schon den Menschen mit einbezog. Dieser kenntnisreiche Forscher machte zugleich den Versuch, die Umwandlungen kausal zu erklären. Er nahm an, daß Änderungen der Umweltverhältnisse zu Abänderungen der Tiere führten, weil neu auftretende Bedürfnisse die Entstehung neuer Eigenschaften und neuer Organe auslösen. Dabei seien Veränderungen von Organen infolge stärkeren Gebrauchs oder Nichtgebrauchs allmählich erblich geworden. Obwohl in den nächsten Jahrzehnten auch einige andere Biologen stammesgeschichtliche Vorstellungen entwickelten, fanden Lamarcks Ansichten relativ wenig Beachtung, und es wurde ihnen auch von namhaften Forschern wie z. B. Cuvier widersprochen. Erst mit Charles Darwins Veröffentlichungen begann der Siegeszug der Abstammungslehre. 1.2. Charles Darwin, 1809 als Sohn eines erfolgreichen Arztes geboren, hatte zunächst Medizin, dann drei Jahre lang Theologie in Cambridge studiert, aber nebenher, seiner eigentlichen Neigung entsprechend, sich viel mit Geologie, Botanik und Zoologie befaßt. Das unerwartete Angebot, als Naturforscher die Weltreise eines kleinen Expeditionsschiffes mitzumachen, bestimmte dann seinen späteren Lebensweg. Zu der abenteuerlichen Fahrt startete der 22jährige 1831, um erst nach fünf Jahren zurückzukehren. Anschließend lebte er, bald glücklich verheiratet, aber nicht selten durch vegetative Störungen behindert, als Privatgelehrter. Durch Veröffentlichung seiner Reiseberichte und einzelner geologischer Untersuchungen wurde er bald weiten Kreisen bekannt. Die Fülle der während dieser Expedition gemachten sorgfältigen Beobachtungen wurde zur Grundlage seiner späteren Werke. Die von ihm anfänglich geteilte, damals noch vorherrschende Uberzeugung, daß Tier- und Pflanzenarten von jeher unveränderlich seien, begann er bald aufzugeben. Funde fossiler Säugetiere in Südamerika, die mit rezenten Arten verwandt waren, die Abwandlungen von Finkenarten auf verschiedenen Inseln der Galapagosgruppe sowie Beobachtungen über Schutzfarben bei Tieren lehrten ihn, daß die Arten sich im Laufe geologischer Epochen gewandelt haben mußten. Wie seine erhalten gebliebenen Tagebücher erkennen lassen, skizzierte er schon bald nach seiner Heimkehr (1842—1844) eine Hypothese der „Transmutation der Arten" (vgl. de Beer). Aber er zögerte, seine neuen Ansichten zu veröffentlichen. Statt dessen sammelte er unermüdlich weiteres Beweismaterial. In dem schon am Ende des 18. Jh. erschienenen Werke von T. R. Malthus über die Prinzipien des Bevölkerungszuwachses fand er eine Bestätigung seiner eigenen Beobachtungen über die meist starke Überproduktion von Nachkommen bei allen Tieren und Pflanzen, der eine entsprechend starke Reduktion im Kampf um das Dasein folgt. Diese Feststellungen waren wichtig für die von Darwin entwickelte Theorie der natürlichen Auslese, die eine befriedigende Erklärung für die Entstehung der Artwandlungen bot und die späterhin zunehmend, auch experimentell, erhärtet wurde. Diese Selektionstheorie bildet die wesentlichste Grundlage auch der heutigen „synthetischen Evolutionstheorie", und nur von ihr kann in

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engerem Sinne als von Darwinismus gesprochen werden. Darwinismus ist also nicht etwa gleichbedeutend mit Evolutionstheorie, die bereits von Lamarck begründet worden war. 1858 entschloß sich Darwin endlich auf Drängen seiner Freunde, seine revolutionierenden Ansichten zu veröffentlichen; der unmittelbare Anlaß dafür war die Korrespondenz mit Alfred Rüssel Wallace, einem anderen großen englischen Biologen, der jahrelang Forschungsreisen im Malayischen Archipel durchführte und der gleichfalls zu dem Ergebnis gekommen war, daß sich die Arten im Laufe der Zeit verändert haben und daß dies vornehmlich durch natürliche Auslese der jeweils vorteilhafteren Varianten erklärt werden könne. So trug denn Darwin 1858 den Inhalt des entscheidenden Briefes von Wallace auf einer Sitzung der berühmten alten „Linnean Society" in London vor und berichtete zugleich ausführlich über seine eigenen entsprechenden Ansichten. Im nächsten Jahr erschien dann Darwins Hauptwerk On the Origin ofSpecies by Means of Natural Selection, dessen 1. Auflage (1250 Exemplare) schon am Tage des Erscheinens ausverkauft war. Nach einer Darstellung der Variation und der Züchtungsweise von Haustieren durch künstliche Auslese, was bis zu gewissem Grade als Modell der natürlichen Auslese bei freilebenden Tierarten gelten kann, behandelt das Werk die Auslese durch Faktoren der unbelebten wie belebten Umwelt, die stammesgeschichtlichen Fortschritte der körperlichen Organisation und die Gesetze stammesgeschichtlicher Wandlungen, wobei zunächst ein Einfluß von Gebrauch und Nichtgebrauch von Organen im Sinne Lamarcks nicht ausgeschlossen wird. Schwierigkeiten für seine Theorie sah Darwin besonders in der Entwicklung äußerst vollkommener Organe wie der Wirbeltieraugen. Dem Einwand, daß manche völlig neuen Organstrukturen sich plötzlich eingestellt hätten, begegnete er mit dem Hinweis darauf, daß sich auf frühen embryonalen Stufen Flügel von Vögeln und Fledermäusen und die verschiedensten Beintypen von Säugetieren nur erst relativ geringfügig unterscheiden. Auch die verschiedenen Instinkte der Tiere hielt er für erklärbar durch natürliche Auslese von erblichen Varianten. Ähnlich wie vor ihm Lamarck folgerte er, daß die Abstufung des Verwandtschaftsgrades im natürlichen System der Organismen auf einen gemeinsamen Stammbaum schließen läßt, was durch embryologische Entwicklung und durch das Auftreten von rückgebildeten, funktionslos gewordenen rudimentären Organen noch besonders erhärtet wird. Von der neuen Theorie war die Mehrzahl der Biologen begeistert, weil zahllose, bis dahin unverständliche Tatsachen nun eine kausale Erklärung fanden und die Grundlage für eine einheitliche Auffassung der Lebewesen geschaffen war. Besonders die Befunde der Anatomie verwandter Tiergruppen wurden im Sinne stammesgeschichtlicher Zusammenhänge begreiflich. Daß sich die Evolutionstheorie unverhältnismäßig schnell in wissenschaftlichen Kreisen durchsetzte, ist auch dem begeisterten Einsatz von Thomas Huxley in England und Erpst Haeckel in Deutschland (—»Monismus) zu danken. Anfänglich wurde aber auch von manchen Biologen scharfe Kritik geübt. 1.3. Zunächst hatte Darwin den Menschen noch nicht in den tierischen Stammbaum einbezogen, doch hatte er bereits angedeutet, daß durch die Evolutionstheorie „Licht fallen wird auf die Entstehung des Menschen und seine Geschichte". Da eine solche Auffassung unvereinbar war mit der orthodoxen christlichen Lehre, wurde Darwin bei einer Sitzung der „British Association" vor allem von Bischof Wilberforce heftig angegriffen, zugleich allerdings von Thomas Huxley glänzend verteidigt. Erst nachdem Huxley durch sein Buch Evidence as to Man's Place in Nature und Ernst Haeckel in seiner Generellen Morphologie der Organismen und in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte die Ableitung des Menschen von äffischen Vorfahren dargestellt hatten, veröffentlichte auch Darwin ein entsprechendes zweibändiges Werk The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, in dem er die anatomischen, embryologischen, physiologischen und auch die psychischen Ähnlichkeiten zwischen Menschenaffen und Menschen besprach (vgl. auch Haeckel, Anthropogenie). Von fossilen Vorfahren des Homo sapiens war aber zu dieser Zeit nur erst der Neandertalerfund bekannt. Während fast alle Biologen bald überzeugt waren, daß der Mensch aus einer tieri-

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sehen Vorfahrenreihe hervorgegangen sei, blieben die meisten Theologen und viele Laien noch lange Zeit skeptisch. Erst die Fülle der im 20. Jh. entdeckten verschiedenen Zwischenformen zwischen Affen und Menschen ließ schließlich die Kritiker verstummen. 1.4. Die durch Darwins Werke bewirkte generelle wissenschaftliche Anerkennung der Abstammungslehre und die natürliche Erklärung der Evolution durch erbliche Variation und Selektion wirkte sich in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen aus. Die Paläontologie erhielt dadurch eine neue Grundlage, und der Anthropologie und —»Psychologie eröffneten sich neue Fragestellungen. Als bedeutungsvoll erwies sich die Selektionserklärung auch für soziologische Theorien. Vor allem ergaben sich aber völlig neue Aspekte für Philosophie und Theologie. Der epochale Erfolg Darwins, der auch über andere biologische Probleme publiziert hatte, beruhte auf der Universalität seiner Kenntnisse, auf seiner kritischen Betrachtungsweise und seiner Fähigkeit, in der Vielfalt seines Wissens die großen Linien und die entscheidenden Zusammenhänge herauszufinden. Aber dieser größte Biologe des letzten Jahrhunderts hatte weder besondere Titel noch Orden oder andere Auszeichnungen erhalten. Erst nach seinem Tode (1882) widerfuhr ihm die hohe Ehre, neben anderen Großen seines Volkes in der Westminster-Abbey beigesetzt zu werden (vgl. Barlow; Darwin, Autobiographie; J . Huxley/Kettlewell). Im letzten Viertel des 19. und im Laufe des 20. Jh. häuften sich die Beweise für die Evolutionstheorie in schneller Folge. An Fossilien aus sukzessive abgelagerten Gesteinsschichten konnte in vielen Fällen die schrittweise Umwandlung von Arten in neue Arten (z. B. bei Ammoniten und Schnecken) und von Gattungen in neue Gattungen (z. B. bei vielen Säugetierordnungen) aufgezeigt werden. Zwischen verschiedenen höheren Kategorien wie Ordnungen und Klassen von Tieren und Pflanzen wurden vermittelnde fossile Zwischenformen entdeckt (z. B. zwischen devonischen Fischen und Amphibien, zwischen triassischen Reptilien und Säugetieren). Dies erlaubte es, in zunehmend detaillierterer Weise einen Gesamtstammbaum zu entwerfen. Auch konnte die zum Menschen führende tierische Stammesreihe genauer belegt werden (s. u. Abschn. 2.4). Und soweit keine oder nur ungenügende fossile Reste speziell von niederen Tiergruppen vorlagen, weil diese keine erhaltungsfähigen Hartteile aufwiesen, gaben Untersuchungen über embryonale und larvale Stadien Hinweise auf die Struktur stammesgeschichtlicher Vorfahren, denn die Jugendstadien sind meist konservativer als spätere Stadien (biogenetische Regel). Oftmals konnten bei solchen Studien auch „Umwege der Entwicklung" festgestellt werden, aus denen stammesgeschichtliche Abläufe der Vorfahren erschlossen werden konnten. So zeigen z. B. Säugetierembryonen noch Anlagen von Kiemenspalten auf, was auf im Wasser lebende Vorfahren hinweist. Schnabeltiere (Piatypus), die zu den Säugetieren gehören, legen noch Eier wie ihre Reptilienvorfahren. Vogelembryonen haben getrennte Schwanzwirbel-Anlagen wie Reptilien. Zudem wurden in immer größerer Anzahl rudimentäre Organe und Strukturen entdeckt, deren Vorhandensein nur so verstanden werden kann, daß es sich bei den stammesgeschichtlichen Vorfahren noch um funktionsfähige Gebilde handelte (z. B. Hinterbeinrudimente bei manchen Schlangen, Schleichen und Walen, rudimentäre Flügel bei manchen Schmetterlingen, Laufkäfern und Heuschrecken). Als wichtig erwies sich auch, daß viele ursprünglich als Arten beschriebene Tierformen nur geographisch einander ersetzende Rassen von Großarten, von Rassenkreisen, sind und daß extreme Glieder solcher Rassenkomplexe so stark wie „gute Arten" unterschieden sind, daß also die historische Ausbreitung einer Großart den Artbildungsprozeß widerspiegelt. Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des Evolutionsprozesses waren die Ergebnisse der seit 1900 sich entfaltenden Vererbungsforschung. Darwin hatte die erblichen Varianten aller Lebewesen mit Recht als das Material angesehen, an dem die natürliche Auslese angreift, aber er hatte sich noch keine Vorstellungen machen können von der Entstehungsweise und vom Ausmaß dieser Variabilität. So wie fast allen Biologen seiner Zeit waren ihm die wichtigen experimentellen Resultate Gregor Mendels (1866) unbekannt geblie-

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ben, demzufolge die Erbmerkmale von diskreten Erbfaktoren gesteuert werden. Erst die Entdeckung der verschiedenen Typen von Mutationen und die Aufklärung des Mechanismus der steten Neukombination von Genen führte zum ausreichenden Verständnis der erblichen Variabilität. Schließlich erschloß dann die Kenntnis der Struktur und der Wirkungsweise der Gene, die bis in den molekularen Bereich hinein vorangetrieben werden konnte, das Verständnis der basalen Abläufe der Artbildung. Zahlreiche Selektionsexperimente und das Studium des genetischen Wandels in Populationen bestätigten die Richtigkeit von Darwins Deutung des Evolutionsvorganges. Alle diese Erkenntnisse ermöglichten es dann auch, lamarckistische Erklärungen des evolutiven Geschehens, wie sie noch auf einer gemeinsamen Konferenz mit Genetikern von Paläontologen und manchen vergleichenden Anatomen 1927 in Tübingen vertreten wurden, definitiv auszuschalten. Die Fülle neuen Wissens hat die Auffassung des Evolutionsvorganges so weitgehend vervollkommnet, daß es nun üblich wurde, zunächst vonNeodarwinismus und schließlich von synthetisch er Evolutionstheorie zu sprechen. Die von Darwin erkannten Grundprinzipien — individuelle, erbliche Variabilität, Überproduktion von Nachkommen, natürliche Auslese und Wirkung von Isolation gelten aber bis zur Gegenwart als wichtigste Hauptfaktoren der Artwandlungen. 2. Das

Evolutionsgeschehen

2.1. Die derzeit vorherrschende Auffassung des Evolutionsgeschehens kann in folgender Weise gekennzeichnet werden (neuere zusammenfassende Darstellungen z.B.: J. Huxley; Simpson; Dobzhansky, Genetics; ders. u. a., Evolution; Mayr; Rensch, Probleme; ders., Weltbild). Von entscheidender Bedeutung ist das Verständnis der Wirkungsweise der Erbfaktoren. Durch die Entdeckungen von J. D. Watson und F . H . C. Crick im Jahre 1953 wurde deutlich, daß die Gene nicht verschiedenartige, auf den Chromosomen hintereinander aufgereihte Eiweißstoffe sind, sondern daß sie durch Abschnitte auf langen fadenartigen Molekülen von Desoxyribonucleinsäuren (DNS) repräsentiert sind. Diese schraubig gewundenen Fadenmoleküle bestehen stets aus zwei immer gleichen Strängen, in denen eine Phosphat- und eine Zuckergruppe miteinander abwechseln. Verbunden sind die beiden Stränge durch mit dem Phosphat verknüpfte Purin- und Pyrimidinbasen, von denen normalerweise nur 4 Arten auftreten, die paarweise miteinander verknüpft sind. Die verschiedenartige Auswirkung der Gene bei der Entwicklung eines Individuums kommt lediglich dadurch zustande, daß die Reihenfolge der beiden stets gleichen Basenpaare verschieden ist. Wichtig ist, daß die Erbmerkmale aller Lebewesen durch diese DNS bestimmt sind (bei Bakterien zum Teil durch einsträngige Ribonucleinsäuren) und daß die Verschiedenheit von Tier- wie Pflanzenarten letztlich nur durch die unterschiedliche Sequenz der Basenpaare sowie durch die Länge und Anzahl solcher Fadenmoleküle bestimmt ist. Diese Feststellung erhärtet die Auffassung, daß alle Tiere und Pflanzen untereinander verwandt sind und einem gemeinsamen Stammbaum angehören. Die Stammbaumvorstellung ist auch insofern zutreffend, als niemals Individuen neu entstehen. Es handelt sich vielmehr um einen kontinuierlichen Lebensstrom. Eine ununterbrochene Folge von unreifen und reifen Fortpflanzungszellen durchzieht die Kette der Generationen als fortlaufende Lebensfäden (z. B. beim Menschen: befruchtetes Ei — daraus im Embryo hervorgehende unreife, im Erwachsenen reife Keimzellen, die wieder zu einem befruchteten Ei führen können). Zugleich gehen von den Genen bei der embryonalen Entwicklung durch Differenzierung vielzellige Gewebe und Organe hervor, deren Strukturen und Funktionen dazu beitragen, den Fortlauf des Lebensfadens zu sichern. Auf Grund zahlloser molekulargenetischer Untersuchungen konnte der komplizierte Mechanismus weitgehend geklärt werden, durch den die DNS der Gene bei der Entwicklung eines Individuums das Zustandekommen verschiedener artspezifischer Eiweißstoffe bewirkt, die ihrerseits zum Teil als Enzyme die Entstehung weiterer jeweils artspezifischer Verbindungen und Zellstrukturen bestimmen. Derart geht also von den Genen ein Strom von Ordnung aus, der es verständlich macht, daß sich keine Entropie auswirkt.

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2.2. Die Evolution beruht darauf, daß das Gefüge der Erbfaktoren sich ändert, welche die Strukturen und Funktionen einer Tier- oder Pflanzenart bestimmen. Das kann geschehen durch Mutationen oder durch Neukombination der vorhandenen Gene, wie sie bei geschlechtlicher Fortpflanzung durch die Vereinigung der Anlagen eines männlichen und eines weiblichen Individuums zustandekommt. Die große Bedeutung der Sexualität beruht in erster Linie darauf, daß der natürlichen Auslese stets eine sehr große Zahl von Varianten in jeder Population geboten wird, von denen bei starken Umweltänderungen wenigstens einzelne die Chance haben, erhalten zu bleiben. In vielen Fällen findet eine Fortpflanzung auch ohne Sexualität statt (besonders bei Einzellern, Schwämmen und Polypen). Eine Variabilität kommt dann nur durch Mutation zustande. Hätte sich nicht schon frühzeitig, bereits auf der Organisationsstufe von Einzellern, Geschlechtlichkeit entwickelt, so hätte die Evolution einen viel langsameren Verlauf genommen, und es gäbe derzeit wahrscheinlich noch keine höheren Tiere und keine Menschen. Normalerweise garantieren die Gene eine erbliche Konstanz der von ihnen eingeleiteten Entwicklungsprozesse jedes Individuums durch Hunderte oder Tausende von Generationen. Aber gelegentlich tritt dann doch einmal eine Änderung, eine Genmutation ein, deren Entstehung durch cytologische und molekulargenetische Studien oft weitgehend aufgehellt werden konnte. Sie beruht darauf, daß bei der Ergänzung des doppelsträngigen DNS-Moleküls aus einem Einzelfaden ein Basenpaar ausfällt oder andersherum eingefügt oder verdoppelt wird oder daß eine „falsche Base" eingefügt wird (vgl. Bresch/Hausmann). Das führt dann zu einer Veränderung der Eiweißsynthese, weil bei deren Bildung eine andersartige Aminosäure eingeschaltet wird, wie das z. B. bei zahlreichen Mutanten des Blutfarbstoffs Hämoglobin aufgezeigt werden konnte (vgl. z. B. Dobzhansky, Genetics). Alle Gene können „richtungslos" mutieren, doch sind die Mutationsraten der einzelnen Gene sehr verschieden. Zumeist wirken sich Genmutationen an mehreren anatomischen Strukturen und physiologischen Funktionen aus. Es können aber auch Chromosomenmutationen dadurch auftreten, daß ein kleines Endstück eines Chromosoms abbricht oder ein Chromosomenabschnitt mit einem anderen Chromosom verschmilzt oder ein Abschnitt nach Schlingenbildung um 180 Grad gedreht eingefügt wird. Weiterhin gibt es Genommutationen durch Verdoppelung oder Vermehrfachung des ganzen Chromosomensatzes (Polyploidie) oder Verdoppelung einzelner Chromosomen (Heteroploidie). Die Mehrzahl der aufgetretenen Mutationen störte die normale Entwicklung und wurde in den folgenden Generationen durch natürliche Auslese ausgemerzt, während die neutralen sowie die seltenen vorteilhaften Erbänderungen erhalten blieben. Entsprechend unterlagen auch die durch Neukombination der Gene bei der Befruchtung entstehenden Varianten einer Selektion. Als auslesende Faktoren wirkten sich vor allem Änderungen der unbelebten Umwelt, z. B. des Klimas, die Einwirkung von Feinden, Parasiten und Krankheitserregern sowie von Konkurrenten um Nahrung und Fortpflanzungspartner aus. Auf allen Stadien ihrer Entwicklung und zu allen Jahreszeiten hatten und haben die Lebewesen solche „Auslese-Examina" zu bestehen, so daß die Populationen lebenstüchtig blieben und die Art nicht ausgerottet wurde. Mutationen, Neukombinationen von Genen, Bastardierungen von Populationen und geographischen Rassen, natürliche Auslese und Isolation von Populationsgruppen sind die basalen Faktoren aller Evolution. Diese genügen auch, um die Entstehung zweckmäßiger Strukturen zu erklären. Je nach dem Zusammenspiel dieser Faktoren gab es verschiedene Wege der Artbildung. Waren auftretende Mutanten einer Auslese nicht unterworfen, so konnte es zu richtungslosen Abwandlungen kommen (z. B. Nasen- und Ohrenformen von Menschenrassen, Farbmuster von Schmetterlingen). Herrschte ein bestimmter „Selektionsdruck" vor, so zeigen oft viele Arten parallele Abwandlungen (z. B. klimaparallele Änderungen der Größe und Färbung von geographischen Vogel- und Säugetier-Rassen). Oftmals wurde durch Selektion die Tendenz gefördert, daß einzelne Organe oder Strukturen im Verhältnis zum Gesamtkörper schneller oder langsamer wuchsen. Das führte gelegentlich zu vorteilhaften Proportionsänderungen (vgl. J. Huxley, Problems; Rensch, Probleme; ders.,

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Homo sapiens). Bei der zum Menschen führenden Stammesreihe kam es z. B. zu einer zunehmenden Vergrößerung des Gehirns im Verhältnis zur Kopfgröße und zu einer Vergrößerung des Vorderhirns im Verhältnis zum Gesamthirn. In vielen Stammesreihen wurde die Anzahl der Nervenzellen im Gehirn und damit die Anzahl assoziativer Verknüpfungsmöglichkeiten erhöht, so daß kompliziertere Hirnleistungen und ein plastischeres Verhalten möglich wurden. Weil durch Änderungen einzelner Erbmerkmale die Beziehungen verschiedener Strukturen und Funktionen sich änderten, wirkten sich diese in komplizierter, ganzheitlicher Weise aus. 2.3. Genügen nun die besprochenen Evolutionsfaktoren, um auch die stammesgeschichtliche Entstehung neuer Organe und völlig neuer Baupläne, also neuer Familien, Ordnungen und Klassen von Organismen, zu erklären? Das wurde oftmals bezweifelt, weil die Bildung hochkomplizierter Organe, wie z. B. der Wirbeltieraugen, nicht durch richtungslose Mutationen und Selektionsprozesse erklärbar zu sein schien, weil sich in manchen Stammesreihen gleichgerichtete Entwicklungstendenzen langfristig fortsetzten (Orthogenesen) und ein „Ziel" anzustreben schienen, weil in verschiedenen Tierklassen und im Stammbaum als ganzem eine zunehmende Höherentwicklung stattgefunden hat und weil Phasen schneller Artaufspaltung in fast regelhafter Weise von Phasen der Verlangsamung der Neubildungen gefolgt waren, was schließlich mit dem Aussterben der Formen endete. Solche Feststellungen führten manche Paläontologen und vergleichenden Anatomen dazu, zusätzlich zu den basalen Artbildungsfaktoren noch besondere „evolutionäre Triebkräfte" oder „richtungsgebende Prinzipien" vorauszusetzen. Gelegentlich wurde auch, speziell von theologischer Seite, die Ansicht vertreten, daß die gesamte Evolution einem bestimmten Plan gefolgt sei, dessen Ziel das Werden der Menschheit war (vgl. z. B. Teilhard de Chardin; Bröker). Eingehendere Analysen lehrten jedoch, daß auch die über die Artbildung hinausgehenden transspezifischen Evolutionsabläufe ausreichend durch die basalen Artbildungsfaktoren verständlich gemacht werden können (vgl. z. B. Simpson; Rensch, Probleme; ders., Weltbild). Das stete Fortwirken von Mutation, Neukombination von Genen, natürlicher Auslese und Isolationsprozessen führte zwangsläufig zu immer weitergehenden Strukturänderungen und der allmählichen Herausbildung neuer Baupläne. Konkurrenz zwischen rationeller strukturierten Tiergruppen und älteren, weniger vorteilhaft strukturierten Gruppen endete oftmals damit, daß die letzteren weitgehend oder gänzlich ausgerottet wurden. So verschwanden z. B. die am Anfang des Tertiär noch weit verbreiteten Beuteltiere, und sie blieben nur dort in größerer Artenzahl erhalten, wo es die später entwickelten Raubtiere noch nicht gab wie speziell in Australien. Entsprechend blieben die einst weit verbreiteten Halbaffen, soweit sie nicht nur nächtlich aktiv waren, nur in Madagaskar erhalten, wo es keine höheren Affen gab. Neue lebenswichtige Organe haben sich in verschiedenen Tiergruppen oftmals unabhängig voneinander entwickelt. Das gilt z. B. für die für eine Orientierung im Räume so wichtigen Blasenaugen mit Netzhaut und Linse, die sich sowohl bei manchen Quallen als auch bei Borstenwürmern, Schnecken und Tintenfischen sowie bei Wirbeltieren herausbildeten. Die Entstehung des so hoch komplizierten Auges der Wirbeltiere und des Menschen kann durchaus auf der Grundlage von Mutationen und Ausleseprozessen verstanden werden. Modellmäßig zeigen das die verschieden hoch entwickelten Lichtsinnesorgane anderer Tiergruppen. Schon bei Würmern hatte eine mutative Vermehrung nebeneinander liegender Sehzellen infolge zusätzlicher Zellteilungen einen positiven Selektionswert, weil das eine bessere Hell-Dunkel-Unterscheidung gestattete. Vorteilhaft war eine Einwölbung einer solchen Sehzellfläche zum Grubenauge, das bereits ein Richtungssehen ermöglichte. Die Weiterentwicklung zu einer Augenblase und die Ausbildung eines rundlichen, durchsichtigen festeren Körpers darin, d. h. einer Linse, erlaubten ein Bildsehen und damit ein Reagieren auf Einzelheiten des Bildes. Derartige Organisationsstufen von Augen finden sich bei Arten von Hohltieren, Borstenwürmern und Schnecken (vgl. Abb. 101 bei Rensch, Probleme 2 7 7 ,

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3. Aufl. 298). Bei Wirbeltieren entwickelten sich auch noch die Anpassungsfähigkeit an das scharfe Sehen von Nahem und Fernem (Akkommodation) sowie an schwächere und stärkere Belichtung (Adaptation). Beides bildete sich bei Wirbeltieren in zunehmender Vervollkommnung heraus. Starke Abweichungen, die zur Herausbildung neuer Baupläne führten, entstanden auch durch einen Funktionswechsel der Organe. Aus Flossen der devonischen Fischgruppe der Quastenflosser (Crossopterygier) z. B. entwickelten sich beim Übergang zum Landleben die Extremitäten der Amphibien und aus deren Vorderextremitäten später die Flügel von Flugechsen, Vögeln und Fledermäusen sowie die Arme von Affen und Menschen. Daß die stammesgeschichtliche Entwicklung der Organismen aber etwa einem bestimmten Plan folgte, ist mit Rücksicht auf die natürliche Erklärungsmöglichkeit nicht anzunehmen (s. u. Abschn. 2.5). Was die oftmals sich über viele Jahrmillionen erstreckenden, anscheinend auf ein Ziel gerichteten Orthogenesen anlangt, so konnte zumeist wahrscheinlich gemacht werden, daß diese durch Gleich- oder Ähnlichbleiben spezieller Auslesefaktoren in der Kette der zeitlich aufeinanderfolgenden Arten und Gattungen zustandegekommen sind. So wurde z. B. im Laufe der Tertiärzeit bei der sich herausbildenden Familie der Pferdeartigen (Equiden) die Zehenzahl sukzessive von 4 bzw. 3 auf eine reduziert, weil das ein schnelleres Laufen im offenen Gelände ermöglichte. Zugleich zeigten diese Stammesreihen zumeist eine sukzessive Steigerung der Körpergröße, was eine größere Beschleunigung bei der Flucht vor großen Raubtieren ermöglichte und zugleich einen Vorteil bei der Verteidigung und bei der Konkurrenz der Hengste um eine Stute bedeutete. Da der Gesichtsteil des Schädels stets die Tendenz hatte, schneller zu wachsen als der Gesamtschädel (positive Allometrie), so wurde der Kopf während der Phylogenese zunehmend stärker langgestreckt. Auch bei vielen anderen Starnmesreihen der Säugetiere erwies sich eine Zunahme der Körpergröße und damit auch der Körperkraft als vorteilhaft (Copesche Regel). In vielen Stammesreihen der Säugetiere wurde das Vorderhirn absolut größer, und es wurde dabei die Anzahl der Hirnzellen und der assoziativen Verknüpfungsmöglichkeiten vermehrt, was ein gesteigertes Lernvermögen und ein plastischeres Verhalten ermöglichte. Zugleich nahm die Größe des Stirnhirns, in dem besonders viele assoziative Schaltungen Zustandekommen, im Verhältnis zum Gesamthirn zu. Das trug wesentlich zu einer generellen Höherentwicklung (Anagenese) bei, die auch in verschiedenen anderen Klassen des Tierreichs und im Stammbaum als ganzem festzustellen ist. Zudem entwickelten sich auch bei anderen lebenswichtigen Organen rationeller fungierende Strukturen, was jeweils einen Auslesevorteil bedeutete. So wurde z. B. im Stamme der Wirbeltiere von den Fischvorfahren bis zu den Reptilien, Vögeln und Säugetieren die Struktur und Funktion des Blutkreislaufs zunehmend intensiviert, und aus wechselwarmen Reptilien wurden gleichwarme Vögel und Säugetiere. Durch zunehmende Vergrößerung der inneren Oberflächen der Därme wurde eine intensivere Resorption der Nahrung ermöglicht. Auch durch mancherlei andere organische Verbesserungen wurden die höheren Wirbeltiere zunehmend unabhängiger von der Umwelt und autonomer. 2.4. Eine Höherentwicklung ist auch kennzeichnend für die von äffischen Vorfahren zum Menschen führende Stammesreihe. Dabei war ebenfalls die zunehmende Vergrößerung des Gehirns und des Vorderhirns im Verhältnis zum Gesamthirn von entscheidender Bedeutung. Derzeit sind fossile Schädel und andere Skeletteile von Hunderten von Individuen primitiverer Menschenrassen und von Vormenschen bekannt, welche die verschiedensten Zwischenstufen zwischen Homo sapiens und Vorfahren mit äffischen Merkmalen kennzeichnen. Da es sich um einen etwas verzweigten Stammbaum handelt, ist noch umstritten, welche spezifischen Formenreihe direkt zum heutigen Menschen führte. Zusammengefaßt und etwas simplizifiert ergibt sich derzeit etwa folgendes Bild (vgl. z. B. von Koenigswald; Heberer, Abstammungsgesch.; ders., Abstammungslehre; Gieseler; M. G. u. R. E. Leakey; Walker/Leakey). Alle fossilen Reste des Jetztmenschen stammen aus den letzten 4 0 0 0 0 bis 8 0 0 0 0 Jahren. Zuvor lebten die sogenannten Neandertaler und Präneandertaler, die unter anderem durch eine etwas flachere Stirn und starke Überaugenbögen charakterisiert sind. Von den Präneandertalern, die es

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schon vor mehr als 200 000 Jahren gab, stammen einerseits die eigentlichen Neandertaler ab, die offenbar als Seitenzweig in Westeuropa ausstarben, und andererseits, über praesapiens -Typen, die heutigen Menschen. Die Neandertaler verfügten bereits über eine altsteinzeitliche Kultur. Ritzzeichnungen und kleine plastische Figuren, die sie verfertigten, weisen auf künstlerische Fähigkeiten hin. Nach der Bestattungsart von Toten zu urteilen, hatten sie wahrscheinlich bereits Vorstellungen von einem Fortleben nach dem Tode. - Die nächstältere Entwicklungsstufe kann unter dem Artbegriff Homo erectus (= Pithecanthropus) zusammengefaßt werden. Es waren das Menschen mit einem durchschnittlich etwas kleineren Hirnraum von etwa 750 bis 1050 ccm (Homo sapiens: meist 1 2 0 0 - 1 8 0 0 , durchschn. 1360 ccm), mit äffisch vorspringender Kieferpartie, aber mit einem dem heutigen Menschen sehr ähnlichen Gebiß. Sie lebten vor etwa 2,5 Mill. bis 4 0 0 0 0 0 Jahren von Europa bis China und Java sowie in Nord-, Ost- und Süd-Afrika. Sie verfertigten Steinwerkzeuge verschiedenen Typs, und in China (Sinanthropus) benutzten sie auch bereits Feuer. Einige fossile Reste ähnlicher, aber noch etwas primitiverer Typen aus Ost- und Südost-Afrika, die vor etwa 1 , 5 - 2 Mill. Jahren lebten, können als Homo habilis bezeichnet werden. Der Hirnraum betrug etwa 5 8 0 - 6 8 7 ccm (alle Hirnraumangaben nach Holloway). Auch ihnen darf wahrscheinlich die Herstellung primitivster Steinwerkzeuge zugeschrieben werden. Die ältesten Steinwerkzeuge sind auf 2,6 Mill. Jahre datiert (Leakey/Behrensmeyer). - Eine noch primitivere Stufe derHominiden stellen die Australopithecinen dar, die sehr äffische Merkmale aufweisen, aber bereits aufrecht gingen. Ihre Schädel haben eine vorspringende Kieferpartie, zum Teil ähnlich weiblichen Schimpansen. Der Hirnraum betrug 430—560 ccm, lag also in der Variationsbreite heutiger Menschenaffen. Das Hirn, nach Schädelausgüssen beurteilt, hatte eine menschliche, nicht menschenäffische Proportionierung. Auch die Bezahnung war hominid. Der älteste Unterkiefer von Laetolil in Tansania ist 3,5 Mill. Jahre alt. Es werden zwei Gruppen unterschieden: die derben Australopithecus robustus mit riesigen Backenzähnen und die grazileren Australopithecus africanus. Daß sie unbearbeitete Steine und Knochen benutzten, ist nicht unwahrscheinlich, daß sie einfachste Werkzeuge herstellten, ist umstritten. Reste von etwa 150 Individuen fossiler Hominiden aus dem Gebiet des Turkana-Sees (Rudolfsees) in Ostafrika gehören teils zu Australopithecinen beider Arten, teils zum Homo erectus (Walker/Leakey). Die drei gefundenen Schädel des Letzteren hatten einen Hirnraum von 775 - 8 5 0 ccm. Das Alter des ältesten dieser Schädel wurde auf 2,5 Mill. Jahre bestimmt. Da so viele Entwicklungsstufen aus Afrika bekannt sind, ist es möglich anzunehmen, daß die Evolution des heutigen Menschen in diesem Kontinent begann und vom Australopithecus über den Homo habilis zum Homo erectus und später weiter zu Vorstufen von Homo neanderthalensis und Homo sapiens führte. Es ist aber auch möglich, daß die zum heutigen Menschen führende Stammesreihe im südasiatischen R a u m begann, ausgehend von dem von dort bekannten Ramapithecus, der nach Simons' Urteil schon ein Hominide w a r . D a die entsprechenden, leider bisher noch recht unvollständigen Reste 8 , 5 - 1 3 Mill. J a h r e alt sind, besteht allerdings eine zeitliche Fundlücke bis zur nächsthöheren Stufe von zumindest 5 Mill. Jahren. Doch ist zu beachten, daß der älteste, etwa 2 Mill. Jahre alte Homo erectus von J a v a zum Teil besonders ursprünglich ist. Das gilt sowohl für den Meganthropus, der den afrikanischen Australopithecinen ähnelt, als auch für den Homo erectus modjokertensis. Wenn die asiatische Herkunft der Hominiden genauer erweisbar werden sollte, dann hätten sich die Homo erectus-Rassen von dort her nach Europa und Afrika hin ausgebreitet. Schließlich ist es auch denkbar, daß die Evolution der Gattung Homo parallel sowohl in Südasien als auch in Afrika ablief, weil eine Hirnvervollkommnung hier wie dort einen hohen Auslesewert hatte und eine Höherentwicklung bedingte. Der Übergang von stärker kletternder Lebensweise zum zweibeinigen Laufen war wahrscheinlich durch die spättertiäre Versteppung von Ostafrika und Nordwestindien ausgelöst worden. Die entstehende offene Landschaft mit ihrem Wildreichtum bot viel Nahrung, und ein vierbeiniges Laufen, um Wild zu erbeuten und die Beute zu tragen, w a r im hohen Grase erschwert. So hatten Varianten mit besserem Laufvermögen einen erhöhten Selektionswert. Von ganz entscheidender Bedeutung für die Herausbildung der menschlichen Sonderstellung im Reiche der Lebewesen w a r die Entwicklung einer—»-Sprache, die wahrscheinlich auf der Stufe des Homo habilis und des Homo erectus durch sukzessive Ausbildung einer motorischen Sprachregion an den Schläfenseiten des Stirnhirns und durch Änderung der Luftröhren- und Zungenstruktur ermöglicht wurde (Huxley, Uniqueness; Rensch, Probleme; ders., H o m o sapiens). Uber bildliche Begriffe, auch solche abstrakter Art, und über die Fähigkeit, Handlungen zu planen, verfügten die spättertiären menschenäffischen Vorfahren

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wohl nicht anders als heutige Menschenaffen. Die Sprache hatte den Vorteil, Begriffe für Gegenstände, Tätigkeiten und Eigenschaften genauer zu fixieren und dann vor allem auch kausale und logische Beziehungen durch Wörter zu kennzeichnen und dadurch kompliziertere Denkabläufe und entsprechende Satzbildungen zu ermöglichen. Vor allem aber erlaubte das Sprechen, individuelle Erfahrungen anderen Individuen der Gemeinschaft, speziell auch der Jugend, mitzuteilen. So entstand auf nichterblicher Grundlage eine geistige Tradition, durch die das Wissen von Generation zu Generation anzuwachsen vermochte. Es kam zu einer zunehmend beschleunigten Evolution und Höherentwicklung der materiellen und geistigen Kultur, die viel schneller ablaufen konnte als die körperliche Evolution, weil dafür nicht erst erbliche geeignete Änderungen und langwierige Ausleseprozesse erforderlich waren. Eine Selektion wirkte sich dabei insofern aus, als unzureichende Erkenntnisse und Bräuche durch zutreffendere ersetzt und primitivere durch höhere Kulturen abgelöst wurden. Dabei kam es auch zur Ausrottung unterlegener Volksstämme. Intensiviert und wiederum wesentlich beschleunigt wurde die Kulturentwicklung durch die Erfindung der —>Schrift und später des Druckes, weil dadurch unendlich viele Erfahrungen und Erkenntnisse auf allen Wissensgebieten festgelegt und weithin verbreitet werden konnten, für deren Speicherung das Gehirn eines Menschen nicht ausreichte. Bücher und ganze Bibliotheken stellen gewissermaßen Übergehirne mit unzähligen „extramentalen Assoziationsketten" dar, an die sich Menschen jederzeit durch Lesen anschalten können. - Ähnlich wie alle Wissenschaften, technischen Einrichtungen und Verwaltungsstrukturen machten auch fast alle Religionen eine Evolution durch. Dabei spalteten sie sich meist in verschiedene Sonderreligionen und Sekten.

2.5. Von großer theoretischer Bedeutung ist es, daß sowohl die Artwandlungen als auch die Evolution höherer systematischer Kategorien von vielen stammesgeschichtlichen Gesetzlichkeiten bzw. Regeln bestimmt wurde. Als Beispiele seien nur genannt das zeitproportionale Auftreten von Mutanten und neuen Genkombinationen und das stete Wirken von Selektion; die biogenetische Regel; die Regeln klimaparalleler Evolution bei Säugetieren und Vögeln; die Copesche Regel zunehmender Körpergröße in den Stammesreihen von vielen Säugetierordnungen; die durchschnittlich schnellere Evolution von Landtieren gegenüber jeweils verwandten Gruppen von Meerestieren (Rensch, Laws; ders., Biophil; ders., Weltbild). Da nun offenbar alles Geschehen in der Natur einschließlich aller biologischen Abläufe durch universale Kausalgesetzlichkeit, mikrophysikalische Konstanten und Relationen, logische und Wahrscheinlichkeitsgesetzlichkeit determiniert ist (Rensch, Gesetzlichkeit), kann vermutet werden, daß die Evolution der Organismen eine unmittelbare Fortsetzung der gesetzlichen Entstehung von Sonnensystem, Erde, Lebensvorstufen und ersten primitiven Einzellern ist. Eine solche Auffassung setzt voraus, daß auch die Lebewesen, von denen die Stammesgeschichte ihren Ausgang nahm, naturgesetzlich zustandekamen. Das ist noch nicht ausreichend experimentell bewiesen, kann aber als sehr wahrscheinlich gelten. Die dafür grundlegenden Erkenntnisse basieren auf Ergebnissen der Virusforschung, vor allem aber auf biochemischen Experimenten. S. L. Miller hatte den Nachweis führen können, daß in einem Gasgemisch, das der sauerstofffreien Uratmosphäre der Erde während der ersten beiden Jahrmilliarden ihrer Existenz entsprach, durch elektrische Entladungen eine Anzahl komplizierter organischer Moleküle synthetisiert wurde, darunter auch Aminosäuren und andere Stoffe, die für den Aufbau von Lebewesen notwendig sind. Diese zunächst ganz überraschenden Befunde führten dazu, daß von verschiedenen Forschern ähnliche Versuche durchgeführt wurden, bei denen zum Teil auch andere Energiequellen benutzt wurden. Dabei gelang es, unter präbiologischen Bedingungen 14 von den 20 bei Organismen auftretenden Aminosäuren, den Bausteinen von Eiweißstoffen, zu synthetisieren. Auch konnten eiweißartige Substanzen (Proteinoide) aus Aminosäuregemischen über erhitzter Lava gewonnen werden. Andererseits ließen sich ebenfalls unter präbiologischen Bedingungen Nucleotide, die Bausteine von Nucleinsäuren, herstellen und deren Vereinigungsmöglichkeit zu Nucleinsäuren aufzeigen. Wurden basische Eiweißstoffe oder auch die erwähnten Proteinoide mit Nucleinsäuren in einer Lösung zusammengeführt, so vereinigten sich diese zu sogenannten Coazervaten in Form mikroskopisch kleiner Kügelchen. An solchen Coadzervatkügelchen konnte auch modellmäßig gezeigt werden, wie ein elementarer „Stoffwechsel" Zustandekommen konnte. Alle diese Experimente lehren, daß in den ersten beiden Jahrmilliarden nach der

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Erdentstehung ständig komplizierte organische Syntheseprodukte entstehen und in Gewässern i m m e r mehr angereichert werden k o n n t e n . Für Selektionsvorgänge bei solchen Vorstufen w a r wahrscheinlich eine Verteilung in Poren bestimmter T o n e u n d Gesteine wichtig. Es ist auch denkbar, d a ß in dieser Entwicklungsphase bei noch sauerstofffreier A t m o s p h ä r e schließlich einmal solche Nucleinsäuren entstanden u n d sich mit Eiweißstoffen zu Coazervaten verbanden, die einer identischen Selbstvermehrung fähig w a r e n , wenn dies gewiß auch ein Vorgang von extremer Seltenheit gewesen sein wird. Selbst w e n n eine solche Selbstvermehrung der Nucleinsäuren, also von Erbträgern, zunächst noch nicht so vollk o m m e n wie die D N S der echten Lebewesen funktionierte, so k o n n t e sich doch die Erblichkeit erster Lebensvorstufen, w e n n auch ungenau, wenigstens zu einem gewissen Prozentsatz bestimmen. Derart einer Selbstvermehrung fähige Protobionten hatten gegenüber nicht selbstvermehrungsfähigen, ähnlichen Vorstufen einen großen Selektionsvorteil. Sie vermehrten sich und konnten sich stärker ausbreiten. Schließlich w a r es auch möglich zu zeigen, d a ß f ü r echte Lebewesen charakteristische Zellorganelle wie Zellwände, M i t o c h o n d r i e n und Ribosomen (welche die Polypeptid- bzw. Eiweißsynthesen bewerkstelligen) ebenfalls lediglich durch chemische u n d physikochemische Reaktionen Zustandekommen k o n n ten.

Die hier nur ganz kurz angedeuteten Ergebnisse experimenteller Untersuchungen machen jedenfalls die A n n a h m e sehr wahrscheinlich, d a ß erste einzellige Lebewesen, wie sie fossil aus 3,4 und 3,8 M r d . Jahre alten Ablagerungen bekannt sind (Pflug), stufenweise lediglich auf G r u n d chemischer Bindegesetze zustandekamen (neuere zusammenfassende Darstellungen: z. B. Oparin; Eigen; ders./Schuster; K u h n ; Dickerson; Kaplan). Im Hinblick auf die zahllosen n a c h p r ü f b a r e n Beweismittel der Abstammungslehre und die fundierenden experimentellen Ergebnisse werden die Auffassungen der Biologen von den meisten christlichen Theologen nicht mehr in Zweifel gezogen. Dabei ist die Auffassung vertreten worden, d a ß G o t t den Ablauf der Phylogenese geplant habe, die zur Stufe des Menschen führen sollte, wie dies z. B. die Jesuitenpatres Teilhard de Chardin und J. F. Ewing und der Fundamentaltheologe W. Bröker darstellten. Allerdings ist dann immer noch nicht leicht verständlich, w a r u m d a f ü r eine sich über drei Milliarden Jahre erstreckende Stammesgeschichte nötig wurde, w a r u m es dabei so häufig zu Fehlentwicklungen kam, zu Formen, die wieder ausstarben, w a r u m so viele Parasiten und Krankheitserreger entstehen mußten, die Menschen wie Tiere quälten und quälen, und w a r u m infolge der jeweils so starken Überproduktion von N a c h k o m m e n so viele Individuen vorzeitig u m k o m m e n mußten. Andererseits ist es natürlich möglich, Glauben und Wissen prinzipiell voneinander zu trennen und dabei keinen Anstoß daran zu nehmen, d a ß sie einander zum Teil widersprechen (—>Glaube und Denken). Aber es ist nur allzu begreiflich, wenn viele Menschen beide Weltbilder vereinen und nur eine „ W a h r h e i t " haben wollen, war doch die Lehre von der „doppelten W a h r h e i t " , wie sie —»Duns Scotus, —»Occam, F. Bacon u. a. vertraten, schließlich nicht zu Unrecht von vielen Theologen und Religionsphilosophen b e k ä m p f t worden. Eine unpersönliche, panentheistische Gottesvorstellung (—»Gott), die mit naturwissenschaftlichen und philosophischen Ansichten vereinbar wäre — man denke an —»Johannes Scotus Eriugenas deus in creatura, G. —»Brunos Identifizierung von Gott mit der natura naturans, B. -^»Spinozas deus sive natura, —»Goethes Gottnatur, Haeckels Tbeophysis usw., also an eine Gleichsetzung von Göttlichkeit und Naturgesetzlichkeit —, ist freilich der christlichen Auffassung nicht a d ä q u a t . 3. Stammesgeschichtliche

Entstehung

des

Psychischen

3.1. Schwierigkeiten kann der christlichen Theologie auch ein anderes Evolutionsproblem bereiten: die stammesgeschichtliche Entstehung des Psychischen (-^Seele). Von biologischer Seite werden diese Fragen wenig und oft unzureichend behandelt, weil dabei philosophische Ansichten und religiöse Überzeugungen berührt werden. So mag es genügen, hier n u r eine auf biologischer und erkenntnistheoretischer Grundlage mögliche Auffassung kurz zu skizzieren (vgl. Rensch, Gedächtnis; ders., Weltbild; ders., Gesetzlichkeit). Mit völliger Gewißheit k a n n nur jeder Mensch von sich selbst angeben, d a ß er psychische P h ä n o m e n e erlebt. Als solche bewußten Prozesse k o m m e n in Frage: Empfindungen bzw. W a h r n e h m u n g e n , Vorstellungen, Gefühle und Willensprozesse, die normalerweise zu

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einem Bewußtseinsstrom bzw. zu Denkabläufen verschmolzen sind; Entsprechendes kann man auch bei anderen Menschen voraussetzen, wie durch sprachliche Verständigung bestätigt wird. Bei Tieren sind wir auf Analogieschlüsse auf Grund der Struktur ihrer Hirne und Sinnesorgane sowie ihres Verhaltens angewiesen. Für unsere tierische Vorfahrenreihe sind Schlüsse noch dadurch erschwert, daß wir nur diesen Arten jeweils ähnliche, heute lebende Vertreter einigermaßen gut beurteilen können. Für das generelle Problem der stammesgeschichtlichen Psychogenese genügt es jedoch, Struktur und Verhalten verschieden hoch entwickelter Organisationsstufen in absteigender Reihenfolge zu diskutieren. Ein prinzipieller Unterschied zwischen Menschen und Tieren bezüglich des Vorhandenseins psychischer Phänomene besteht offenbar nicht, denn bei den höchsten Tieren, den Menschenaffen, sind Analogieschlüsse auf psychische Phänomene durchaus zwingend. Schimpansen, Orang-Utans und Gorillas haben ein dem Menschen sehr ähnliches, in größtenteils entsprechende Funktionsgebiete gegliedertes Gehirn und die gleiche Art von Sinnesorganen. Sinnes- und Nervenzellen ihres Hirns fungieren in völlig gleicher Weise wie bei uns, und dementsprechend entstehen auch assoziative Verknüpfungen und Gedächtnisspuren in gleicher Weise. Menschenaffen verhalten sich so, als ob sie Begriffe, auch solche abstrakter Art, bilden. Sie lernen ohne menschliche Anleitung, einfache Werkzeuge zu benutzen und zu verbessern (vgl. Köhler; Lethmate u. a.). Die Fähigkeit, in komplizierten Labyrinthen einen kleinen Eisenring jeweils zügig den richtigen Weg zum Ziel zu bewegen, ohne in Sackgassen zu geraten, wobei sie zuvor das Labyrinth sorgfältig längere Zeit musterte, kann nur so gedeutet werden, daß die betreffende Schimpansin Vorstellungsreihen möglichen Handelns gegeneinander a b w o g , ehe sie mit dem Bewegen des Ringes begann (Rensch/Döhl). Menschenaffen lassen auch Gefühle, Stimmungen und Affekte sowie Willensäußerungen erkennen. Wie zahlreiche Experimente gelehrt haben, vermögen Schimpansen anstelle der ihnen fehlenden Sprechfähigkeit zahlreiche Gesten der menschlichen Taubstummensprache oder die Verwendung von optischen Symbolen für O b j e k t e , Tätigkeiten, Eigenschaften sprachähnlich zu gebrauchen. Sie können kurze Sätze aus drei oder vier Symbolen bilden, damit Bitten aussprechen und auch fragen (vgl. z. B. die beiden Aufsätze der Gardners; Premack; R u m b a u g h ; hinsichtlich anderer höherer Tiere vgl. z. B. Rensch, Probleme Kap. 1 0 ; ders., Gedächtnis; ders., Weltbild Kap. 15).

Im übrigen mag genügen, darauf hinzuweisen, daß bei allen Wirbeltieren die meisten Sinnesorgane, speziell z. B. die Augen, prinzipiell entsprechend fungieren wie beim Menschen und daß die Nervenzellen des Hirns bei Lernversuchen vielerlei assoziative Verknüpfungen zu bewirken vermögen und daß bei Fischen monatelange Gedächtnisleistungen nachgewiesen werden konnten. Einschließlich der Fische unterliegen viele Wirbeltiere auch bestimmten optischen Täuschungen wie ein Mensch. Es wäre doch wohl abwegig anzunehmen, daß alle diese Tiere sich nur wie Reflexmaschinen verhalten. Zudem ist doch jedermann mit Recht überzeugt, daß etwa ein Hund, ein Vogel oder auch ein Fisch mit seinen jeweils ähnlich gebauten Augen auch wirklich „sieht". Bei den anzunehmenden psychischen Phänomenen braucht es sich aber keineswegs um ein „Selbstbewußtsein" zu handeln, denn dafür müßte eine Verknüpfung mit einem Ich-Begriff vorliegen. Die höheren wirbellosen Tiere wie die Insekten und die zu den Mollusken gehörigen Tintenfische haben ganz anders strukturierte Gehirne und andere Augentypen. Aber auch bei ihnen fungieren die Hirnnervenzellen in gleicher Weise wie bei Wirbeltieren. Tintenfische wie Bienen vermögen die Unterscheidung optischer Muster zu erlernen, also Gleichheit, Ungleichheit und Ähnlichkeit zu erfassen und erlernte Aufgaben wochenlang oder wenigstens einige Tage (Bienen) lang zu behalten. Wenn wir bei Fischen Empfindungen, Differenzierungsfunktionen und Gedächtnis voraussetzen, so wäre es kaum zu rechtfertigen, dies bei höheren Wirbellosen zu leugnen. Solche psychischen Phänomene müssen dabei aber nicht in einen Bewußtseinsstrom eingebettet sein. Sehr viel vager werden entsprechende Schlußfolgerungen bei niederen vielzelligen Tieren. Diese haben ebenfalls Sinneszellen verschiedener Art, Nervenzentren und Nervenzellen, die prinzipiell ähnlich wie bei höheren Tieren fungieren. Auch konnten einfache Lernvorgänge erwiesen werden, und manche Meeresborstenwürmer vermögen das Erlernte etwa ei-

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nen Tag lang zu behalten. Wenn wir bei solchen Tieren rein hypothetisch auch schon Sinnesempfindungen annehmen wollen, so könnte dies nur deshalb geschehen, weil zu vermuten ist, daß die psychischen Phänomene höherer Tiere sich aus Vorstufen entwickelt haben. Primitive Empfindungen und deren Vorstufen sind dabei eventuell als isolierte Prozesse zu denken.

3.2. Betrachtet m a n echte psychische Phänomene im üblichen dualistischen Sinne als etwas f u n d a m e n t a l vom Materiellen Verschiedenes, dann ist es schwer verständlich, w o h e r sich das Geistige im Laufe der Stammesgeschichte neben dem Materiellen einstellen, k o m plizieren u n d höher entwickeln konnte. Dieser gedanklichen Schwierigkeit kann man durch die A n n a h m e entgehen, d a ß alle Materie, d. h. letztlich auch alle Atome, Elementarteilchen und Energiefelder, bereits eine protopsychische N a t u r haben, was keineswegs bedeuten muß, daß sie „beseelt" wären. Die Annahme einer ambivalenten protopsychischen N a t u r ermöglicht die Vorstellung, d a ß in den hochkomplizierten Systemen fungierender Gehirne dann psychische Phänomene als etwas prinzipiell Neuartiges Zustandekommen konnten. Eine solche Auffassung w ü r d e einem panprotopsychischen Identismus entsprechen, wie er von Philosophen wie Spinoza, Fechner, Avenarius, Rickert, Clifford, E r d m a n n , Ziehen, Schlick, Feigl u. a. sowie von Naturforschern wie Whitehead, Haeckel, Globus, Wright, Birch und mir selbst angenommen wurde. Die gleichen Probleme liegen vor bei der individuellen Entwicklung der psychischen P h ä n o m e n e des Menschen. Die befruchtete Eizelle und die frühen Embryonalstadien lassen nichts Psychisches erkennen. Erst wenn in späten Fötalstadien Sinnes- und Nervenzellen sowie ein Gehirn entwickelt sind, machen Reaktionen auf Reize vorgeburtliche Empfindungen wahrscheinlich. Nach der Geburt sind dann Empfindungen und Gefühlsbetonungen, bald auch assoziative Abläufe und Gedächtnisprozesse unbezweifelbar. Setzen wir eine p r o t o psychische, ambivalente N a t u r der körperlichen Materie voraus, so kann das Entstehen psychischer P h ä n o m e n e als neue Systemeigenschaften des sich herausbildenden und in Funktion tretenden Gehirns gedeutet werden. Die alternative Annahme, daß auf irgendeinem Entwicklungsstadium auf irgendeine Weise Geistiges bzw. eine fertige „Seele" eingesenkt würde, m u ß als sehr unwahrscheinlich gelten, weil es sich nicht vorstellen läßt, woher diese gekommen sein soll und wie ihre Tätigkeit mit den H i r n f u n k t i o n e n im Sinne einer prästabilierten H a r m o n i e (im Sinne von Leibniz) laufend v e r k n ü p f t wurde. Vor allem ist dabei zu bedenken, d a ß geistige Eigenschaften, wie z. B. besondere Begabungen oder geistige Schwächen, erblich sind, also von Eltern und Voreltern übermittelt werden. Und wenn menschliche Ei- und Samenzellen bzw. die in deren Chromosomen enthaltenen Desoxyribonucleinsäure-Moleküle geistige Eigenschaften übertragen, d. h. eine embryonale Entwicklung bestimmen können, die dann bei der Entwicklung des Gehirns zum Auftreten spezieller geistiger Fähigkeiten führt, so liegt auch im Hinblick auf diese Tatsachen die A n n a h m e einer protopsychischen N a t u r von Molekülen nahe. Diese kurzen Ausführungen über ein schon von Darwin beachtetes Problem können wegen ihres spekulativen Charakters nur eine Lösungsmöglichkeit der Fragen andeuten. Vor allem sollen sie nur die schwierige Problematik beleuchten. M a n c h e angeführten naturwissenschaftlichen Befunde und Auffassungen der phylogenetischen wie ontogenetischen Psychogenese sind mit christlichen Überzeugungen bislang wohl nicht leicht zu vereinen. Wenn im dualistischen Sinne eine den T o d überdauernde Seele angenommen wird, so bleibt zu fragen, auf welcher Vormenschen-Stufe diese denn bereits vorauszusetzen ist (Homo erectus? Australopithecus?) und ob sie nicht gar auch bei höheren Tieren angenommen werden müßte, etwa wie —»Leibniz dies f ü r die zentralen „ M o n a d e n " aller Geschöpfe a n n a h m . Eine Schwierigkeit ist auch damit gegeben, daß sich „Geist" und „Seele" wissenschaftlich nicht unterscheiden lassen. So sind noch mancherlei Probleme zu klären, ehe die Differenzen zwischen einem naturwissenschaftlichen (—»Naturwissenschaften) und einem christlichen —»Weltbild einmal beseitigt sind.

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4.

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eugenischer Vorstellungen. Die Erkenntnis, daß die stammesge4.1. Entwicklung schichtliche Herausbildung des Menschen durch die gleichen Faktoren zustandekam wie die Entstehung neuer Tierarten und daß die dafür entscheidende Höherentwicklung auf das Wirken natürlicher Auslese zurückzuführen ist, hatte schon bald nach dem Erscheinen von Darwins Werk On the Origin of Species dazu geführt, diese Erkenntnis auch auf die künftige Weiterentwicklung der Menschheit anzuwenden. Da bei zivilisierten Völkern die natürliche Auslese stark verringert ist, wurde befürchtet, daß schlechte Erbanlagen sich im Laufe der Zeit anreichern und vorteilhafte sich nicht genügend durchsetzen würden. Nachdem im ersten Viertel des 20. Jh. erkannt worden war, daß auch beim Menschen in jeder Generation Mutationen auftreten, die überwiegend schädlich sind, wurden die Bedenken noch verstärkt. Alle derartigen Erkenntnisse hatten zu Vorschlägen geführt, durch Maßnahmen verschiedener Art solchen schlechten Zukunftsaussichten entgegen(uwirken. Es wurde üblich, diese Bestrebungen unter der Bezeichnung Sozialdarwinismus zusammenzufassen. Soweit entsprechende Pläne ethische Normen oder politische Tendenzen berührten, wurde auch von einem Ethischen und einem Politischen Darwinismus gesprochen. Darwin selbst war an der Entwicklung des Sozialdarwinismus nicht unmittelbar beteiligt. Eine erste Grundlage hatten sozialdarwinistische Vorstellungen durch die Untersuchung von Darwins Vetter Francis Galton erhalten, der sich seit 1866 mit der Vererbung geistiger Fähigkeiten befaßt hatte. Das Studium der Lebensläufe und der Familiengeschichte bedeutender und erfolgreicher Männer hatte ihm gezeigt, daß Begabung, geistige Energie und Charakterstärke erblich bedingt sind. Diese Auffassung untermauerte er durch quantitative, mathematisch fundierte Feststellungen. Wichtig für seine Schlüsse war es, daß er oft eine weitgehende Ubereinstimmung bei Zwillingen fand. In seinem Buch Hereditary Genius, in dem er seine Ergebnisse zusammenfaßte, forderte er im Sinne von Darwins Selektionstheorie eine strenge Auslese im menschlichen Konkurrenzkampf und eine Beachtung der genetischen Grundlagen bei der Eheschließung, um einen steten Fortschritt seiner Nation zu erzielen. So wurde er zum Begründer einer Wissenschaft, die er als Eugenik bezeichnete. In einem späteren Vortrag (1904) in der neu gegründeten „Sociological Society" definierte er Eugenik als „the science which deals with all influences that improve the inborn qualities of a race". „What nature does blindly, slowly and ruthlessly man may do providently, quickly and kindly. As it lies within his power, so it becomes his duty to work in that direction" (zit. nach Forrest 2 5 6 f ) . Mit Ausleseverhältnissen beim Menschen hatte sich auch der Soziologe und Philosoph Spencer (Principles) befaßt, der schon vor Darwin (Theory) die Bezeichnung „survival of the fittest" verwendet hatte. Er trat für eine uneingeschränkte Freiheit des Konkurrenzkampfes ein, weil die Erfolgreichen jeweils am meisten zum Fortschritt der Menschheit beitragen. Daß dabei Unterlegene zugrundegehen, betrachtete er als einen natürlichen Ablauf. Staatliche Fürsorge für diese Schwachen hielt er für abwegig, weil das den Fortschritt nur hemmen würde. Da es sich bei der Auslese im Konkurrenzkampf zunächst um nichterbliche, nur zum Teil um erbliche, aber nicht exakt feststellbare Fähigkeiten handelt, darf Spencer eigentlich nicht als Sozialdarwinist bezeichnet werden. Th. Huxley entgegnete später, daß die im Konkurrenzkampf Erfolgreichen keineswegs immer die wertvolleren seien und daß es gerade

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zum Wesen der Zivilisation gehöre, die Schwachen zu schützen. Wallace wies außerdem d a r a u f h i n , daß eine A n h ä u f u n g von Reichtum und dessen Vererbung an die N a c h k o m m e n die soziale und damit auch biologische Auslese hemme. Die Ideen Galtons, aber auch Spencers wurden bald in anderen Ländern aufgegriffen. Amerikanische Multimillionäre fühlten sich in ihrer Auffassung bestätigt, d a ß ihr Reichtum Beweis ihrer Tüchtigkeit sei. Auch sie verkannten, d a ß es sich bei Darwins und Galtons Selektionsprinzip nur um die Auslese erblicher Anlagen handelte. In Deutschland erschienen Bücher von A m m o n , Ploetz und Tille, in denen auf die Gefahr hingewiesen wurde, daß infolge der in Kulturländern zu sehr verringerten natürlichen Auslese Erbkrankheiten sich immer mehr anreichern w ü r d e n . So wie der englische Physiologe H a y k r a f t (vgl. Auslese) hielten sie Kindersterblichkeit, körperliche Schwäche und zu A r m u t führende Untüchtigkeit für unerläßliche Auslesefaktoren. Weil diese aber nicht mehr genügten, forderten sie deren Verstärkung. Ploetz ging so weit, sogar ein h u m a n e s Abtöten nicht nur mißgestalteter und besonders schwächlicher, sondern auch aller nach dem 45. Lebensjahre der M u t t e r und dem 50. Lebensjahre des Vaters Geborenen zu empfehlen. Andererseits sollten erbgesunde begabte und tatkräftige Menschen stärker als bisher gefördert werden. Wie auch Tille meinte, müsse das Erbrecht abgeschafft werden, um schärfere Selektionsbedingungen zu gewährleisten. M a n glaubte an eine Züchtbarkeit hochqualifizierter Menschen, etwa im Sinne von —»Nietzsches Übermenschen. Alle diese von berechtigten Bedenken ausgehenden, aber viel zu weit gehenden und zu robusten Vorschläge führten jedoch zunächst nicht zu praktischen M a ß n a h m e n . Sie wirkten sich jedoch später im ^ N a t i o n a l s o zialismus in gefährlicher Weise aus, als brutale Vernichtung „ u n w e r t e n " Lebens ( ^ E u t h a nasie) gutgeheißen w u r d e und imperialistisches Denken (-^Imperialismus) und Rassendünkel (—»Rassismus) propagiert wurden. Besonders aufgeschlossen für eugenische Vorstellungen war man am Anfang des 20. Jh. in den Vereinigten Staaten. Die dortige Regierung hatte 1906 einen wissenschaftlichen Ausschuß gegründet, der die Möglichkeiten f ü r eine Verbesserung der menschlichen Erbanlagen studieren sollte. Diese Untersuchungen führten in einigen Staaten dazu, d a ß gesetzlich bestimmt wurde, männliche Geisteskranke und minderwertige Straftäter nach Beurteilung durch ein Ärzteteam durch Vasektomie u n f r u c h t b a r zu machen. Das galt nicht als Strafe, sondern nur als V o r s o r g e m a ß n a h m e zur Beschränkung einer weiteren Ausbreitung schlechter Erbanlagen (Holmes; Popenoe; Hofstadter). In Deutschland war eine Zeitlang das Werk von Schallmayer führend, durch das nicht nur das Verständnis f ü r eine Beschränkung erbkranken Nachwuchses, sondern auch f ü r eine Förderung des erblichen Begabungsniveaus verbreitet wurde. Vor allem wies dieser Arzt d a r a u f h i n , daß es auch Aufgabe der Politiker sei, die erbliche Lebenstüchtigkeit des Volkes durch geeignete M a ß n a h m e n zu erhalten. 4.2. Fortschritte der Humangenetik. Die schnell intensiver werdende, ergebnisreiche Erforschung der Vererbungsmechanismen bei Lebewesen wirkte sich auch auf das Verständnis menschlicher Erbleiden aus. Die Humangenetik wuchs zu einer allgemein anerkannten wissenschaftlichen Disziplin heran. Die Kenntnis von Erbkrankheiten und die Feststellung ihres d o m i n a n t e n oder rezessiven Auftretens wurde gefördert durch die Untersuchung größerer Verwandtschaftskreise über 3 bis 6 Generationen hinweg. Als besonders aufschlußreich erwies sich das Studium eineiiger Zwillinge, die im Unterschied zu zweieiigen Zwillingen die gleichen Erbanlagen besitzen und deshalb gewöhnlich gleichen Erbleiden unterworfen sind (v. Verschuer, Faktoren; Shields; Skodak/Skeels). Dabei konnte auch eine Vererbung bestimmter geistiger Merkmale, wie spezieller Begabungen, der Konzentrationsfähigkeit, der Willensschwäche und des T e m p o s des Denkens festgestellt werden (Erlenmeyer-Kimling/Jarvik u.a.). Auch beim Menschen gelang es nun, verschiedene Erbanlagen einzelnen der 24 verschiedenen menschlichen C h r o m o s o m e n zuzuordnen. M a n begann, die Häufigkeit des Neuauftretens bestimmter M u t a t i o n e n , d . h . die Mutationsraten, zu berechnen. Die Ergebnisse der zahllosen entsprechenden Untersuchungen wurden in genetischen u n d neu-

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gegründeten humangenetischen Zeitschriften veröffentlicht und auf humangenetischen Kongressen diskutiert. Es entstanden nicht wenige zusammenfassende humangenetische Werke und Lehrbücher (wie z. B. die von Baur/Fischer/Lenz; F. Lenz; v. Verschuer; Becker; Stern; Vogel; W. Lenz; Degenhardt). 4.3. Moderne Eugenik. Die vielfältigen humangenetischen Ergebnisse machten es möglich, für eugenische Bestrebungen eine solide Grundlage zu schaffen. Die „Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene (Eugenik)" hatte schon 1 9 3 2 einmal „Leitsätze" veröffentlicht, die von utopischen Plänen absahen und sich auf durchführbare Maßnahmen beschränkten. Dabei wurde auch gefordert, die Eugenik als obligatorisches Lehr- und Prüfungsfach für Mediziner einzuführen, was dann auch in den folgenden Jahren im Zusammenhang mit der Einrichtung humangenetischer Lehrstühle und Institute erfolgte. Von einzelnen Punkten abgesehen, gelten die Leitsätze heute noch, doch erwiesen sie sich als ergänzungsbedürftig. Besonders wichtig ist gegenwärtig immer noch die Aufklärung aller Volksschichten und speziell der Jugend über Erbleiden, Mutationen und den Sinn eugenischer Forderungen. Alle Menschen sollten wissen, daß in den Keimzellen eines Jeden mehrere - nach Mullers Untersuchungen (Estimate) 6 - 1 0 schädliche Erbanlagen vorhanden sind. Diese wirken sich bei den N a c h k o m m e n aber gewöhnlich nicht aus, weil sie rezessiv vererbt werden. Sie werden jedoch als Defekte kenntlich, wenn der männliche und der weibliche Ehepartner die gleiche Anlage aufweisen. Das kann am ehesten bei naher Verwandtschaft eintreten, z. B. Heirat von Vetter und Kusine. Erbliche Schäden können derzeit zum Teil durch medizinische M a ß n a h m e n weitgehend behoben werden, wie dies z. B. der Fall ist bei Zuckerkrankheit durch Z u führen des H o r m o n s Insulin, bei Fruchtzucker-Intoleranz durch fruchtzuckerfreie Ernährung, bei der zu schweren Schäden von Leber und Niere sowie zu Schwachsinn führenden Galaktosämie durch milchzuckerfreie Ernährung des Kindes und bei manchen angeborenen Mißbildungen wie z. B. der Hasenscharte durch chirurgische Eingriffe. Es ist aber für entsprechende Patienten zu bedenken, daß die Erbanlagen in den Keimzellen unverändert bleiben und an N a c h k o m m e n weitergegeben werden. Ganz allgemein sollen die weiblichen wie männlichen Keimzellen vor der Einwirkung von Röntgenstrahlen und anderen kurzwelligen Strahlen bewahrt werden, weil anderenfalls Mutationen ausgelöst werden, die ganz überwiegend schädlich sind. Anzustreben ist eine relativ frühe Eheschließung. Die Zeugung von Kindern zwischen dem 18. und 3 0 . Lebensjahr der Frau und unterhalb des 5 0 . Lebensjahres des M a n n e s verspricht am ehesten eine erbgesunde N a c h k o m m e n s c h a f t . Bei Frauen nimmt vom 3 5 . Lebensjahr an die Tendenz zu Änderungen in den C h r o m o s o m e n zu, die zu Schäden (z. B. Mongoloidie) führen können. Es ist jedoch neuerdings möglich geworden, manche zu erwartenden schweren Schäden schon während der Embryonalzeit eines Kindes durch Untersuchungen der C h r o m o s o m e n in Zellen des Fruchtwassers festzustellen (Fuchs). Wenn eine solche pränatale Diagnose es wahrscheinlich macht, daß besonders schwerwiegende Schäden zu erwarten sind, kann es ratsam sein, einen —»Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Bei erblichem Schwachsinn ist eine Sterilisation zu empfehlen, der aber der Patient zustimmen m u ß (Nachtsheim, Für u. wider). Bei allen Zweifelsfällen bezüglich der Weitergabe möglicher Erbkrankheiten an die N a c h k o m m e n ist es angezeigt, eine humangenetische Beratungsstelle aufzusuchen (Fuhrmann/Vogel). Im übrigen muß es als Verpflichtung eines modernen Staates angesehen werden, für entsprechende Aufklärung und notwendige M a ß n a h m e n zu sorgen (Nachtsheim, Pflicht).

Fraglos sind alle genannten eugenischen Vorschläge und Maßnahmen außerordentlich wichtig, um das erbliche Gefüge eines Volkes im Sinne sozialdarwinistischer Vorstellungen vor einer zunehmenden Verschlechterung zu bewahren. Man muß sich aber darüber klar sein, daß die genetische Grundlage vieler Erbkrankheiten noch nicht ausreichend erforscht ist. In verschiedenen Fällen kommen die Leiden durch das Zusammenwirken verschiedener Gene zustande. Auch wirken oft erbliche und nichterbliche Faktoren in schwer zu klärender Weise zusammen. Zudem kann ein Gen verschiedene Wirkungen entfalten, je nachdem in welcher Genkombination es auftritt. Eine schädliche Erbanlage kann sogar gelegentlich von Vorteil sein. So ist die Sichelkrankheit der roten Blutkörperchen normalerweise ein schwerer Erbschaden. Ihr Auftreten kann aber auch nützlich sein, weil sie der Erkrankung an tropischer Malaria entgegenwirkt. Insgesamt sind die Perspektiven hinsichtlich des erblichen Gefüges der Menschheit in bezug auf die fernere Zukunft bislang nicht günstig. Alle eugenischen Vorschläge und Maßnahmen können bei den heutigen Kulturvölkern wahrscheinlich nicht bewirken, daß die mangelnde „brutale", natürliche Auslese ersetzt wird. Mutationen werden auch weiterhin

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von Generation zu Generation sich im Erbgefüge eines Volkes anreichern, und diese sind überwiegend schädlich. Da sie aber zumeist rezessiv auftreten, sind sie, wie erwähnt, zunächst nicht erkennbar, und dies umso weniger, als Zusammentreffen der gleichen schlechten Erbanlage bei Mann und Frau und damit Auftreten des Erbschadens infolge Homozygotie immer seltener wird, weil es infolge des modernen Verkehrs und des Flüchtlingswesens kaum noch abgeschlossene Inzuchtgebiete gibt und Fremdheiraten immer häufiger werden. So wird wahrscheinlich die Anreicherung mit schädlichen rezessiven Erbanlagen vielleicht noch auf ein paar Jahrhunderte hinaus nicht kenntlich werden. Es ist aber nicht auszuschließen, daß doch einmal ernstere Folgen eintreten. Deshalb hatte sich eine internationale Konferenz von Experten mit diesem Problem befaßt. Die entsprechenden Vorträge wurden von Wolstenholme herausgegeben. Der Vorschlag des Genetikers Muller (Estimate; Birthright), Spermatozoenmaterial von (anscheinend) erbgesunden Männern tiefgekühlt aufzubewahren und nach dem Tode der Spender zur künstlichen Befruchtung zu verwenden, mag zunächst allzu radikal und ethisch fragwürdig erscheinen, doch könnte man möglicherweise darauf zurückgreifen, wenn die Belastung der Menschen mit schädlichen Erbanlagen ein gefährliches Ausmaß annehmen sollte. Wenn man den Begriff des Sozialdarwinismus so weit faßt, daß man darunter alle Bestrebungen versteht, durch die in die natürliche Fortentwicklung der Menschheit eingegriffen werden soll, dann sind dazu auch die Vorschläge und Maßnahmen zu rechnen, durch die einer wirtschaftlich untragbaren Übervölkerung in vielen Ländern entgegengewirkt werden soll. Darwin hatte gezeigt, daß eine Überproduktion von Nachkommen in jeder Generation bei allen Lebewesen nötig ist, um die unausbleiblichen, meist hohen Verluste im Daseinskampf zu kompensieren, und daß die Überproduktion auch insofern von Vorteil ist, als sich die natürliche Auslese intensiver auswirkt. Als sich der Homo sapiens herausbildete, war es notwendig, daß die Frauen 1 0 - 1 4 Kinder zur Welt brachten, um die Art zu erhalten. Erst als die Auslese mit zunehmender Zivilisation stärker reduziert wurde, d.h. speziell in den letzten drei bis vier Jahrhunderten, kam es in verschiedenen Ländern zu einer Übervölkerung und den damit verbundenen Ernährungsschwierigkeiten. Das führte dazu, eine Geburtenbeschränkung zu propagieren, wie dies zuerst von Malthus, allerdings im Hinblick auf die ärmere Bevölkerung Englands, geschah. In unserem Jahrhundert haben sich nun schon in nicht wenigen Ländern solche Maßnahmen als notwendig erwiesen, um Hungerkatastrophen zu vermeiden. Das hat aber auch zu vieldiskutierten Problemen geführt, weil derartige Bestrebungen mit ethischen und religiösen Vorstellungen kollidierten (vgl. auch die Angaben bei Rensch Kap. 6B). Literatur Otto Ammon, Die natürliche Auslese beim Menschen, Jena 1 8 9 3 . - Erwin Baur/Eugen Fischer/Fritz Lenz, Menschliche Erbkrankheitslehre, München 1 9 2 1 . - Dies., Menschliche Erblehre u. Rassenhygiene, München 1 9 3 6 . - Peter Emil Becker (Hg.), Humangenetik, 5 Bde., Stuttgart 1 9 6 4 — 1 9 6 6 . — Hedwig Conrad-Martius, Utopien der Menschenzüchtung. Der Sozialdarwinismus u. seine Folgen, München 1 9 5 5 . - Karl-Heinz Degenhardt (Hg.), Humangenetik. Ein Leitfaden für Studium, Praxis u. Klinik, Lövenich 1 9 7 3 . - L . Erlenmeyer-Kimling/L.F. Jarvik, Genetics and Intelligence: Science 1 4 2 ( 1 9 6 3 ) 1 4 7 7 - 1 4 7 9 . - D . W . Forrest, Francis Galton. The Life and Work of a Victorian Genius, New York 1 9 7 4 . - Fritz Fuchs, Genetic Amniocentesis: Scientific American 2 4 2 / 6 ( 1 9 8 0 ) 3 7 - 4 3 . - Walter Fuhrmann/Friedrich Vogel, Genetische Familienberatung, Berlin 1 9 6 8 . - Francis Galton, Hereditary Genius, London 1 8 6 9 . - D e r s . , Eugenics. Its Definition, Scope and Aims, London 1 9 0 5 . John R. Haykraft, Natürliche Auslese u. Rassenverbesserung, Leipzig 3 1 8 9 5 . - Oscar Hertwig, Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus, Jena 1 9 1 8 . - Richard Hofstadter, Social Darwinism in American Thought, B o s t o n 2 1 9 5 5 . - Samuel Jackson Holmes, The Trend o f t h e R a c e , New York 1 9 2 1 . - T h o m a s Henry Huxley, Evolution and Ethics, London 1 8 9 3 . —Fritz Lenz, Menschliche Auslese u. Rassenhygiene (Eugenik), München "'1931. - Ders., Die soziologische Bedeutung der Selektion: Gerhard Heberer/Franz Schwanitz (Hg.), Hundert Jahre Evolutionsforschung, Stuttgart 1 9 6 0 , 3 6 8 - 3 9 6 . - Widukind Lenz, Medizinische Genetik, Stuttgart 1 9 6 1 . - T h o m a s Robert Malthus, Essay (s.o. Abschn. 1—3). - H e r m a n Joseph Muller, An Estimate of the Mutational Damage in M a n from Data on Consanguineous Marriages: Proceedings of the National Academy of Sciences 4 2 ( 1 9 5 6 ) 8 5 5 - 8 6 2 . - Ders., Man's Future Birthright. Essays on Science and Humanity, ed. E. A. Carlson, Albany

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Daub

1 9 7 3 . - Hans Nachtsheim, Für u. wider die Sterilisierung aus eugenischer Indikation, Stuttgart 1 9 5 2 . Ders., Unsere Pflicht zur praktischen Eugenik: Bundesgesundheitsbl. 1 9 6 3 / 1 8 , 2 7 7 - 2 8 6 . - A. Ploetz, Die Tüchtigkeit unserer Rasse u. der Schutz der Schwachen, Berlin 1 8 9 5 . - Paul Popenoe, Rassenhygiene (Eugenik) in den Vereinigten Staaten: Archiv für Rassen- u. Gesellschaftsbiologie 15 ( 1 9 2 5 ) . Bernhard Rensch, H o m o sapiens (s.o. Abschn. 1 - 3 ) . - Wilhelm Schallmayer, Vererbung u. Auslese im Lebenslauf der Völker, J e n a 1 9 0 3 • 1 1918. - J a m e s Shields, M o n o z y g o t i c T w i n s , Brought up Apart and Brought up Together, L o n d o n / N e w Y o r k / T o r o n t o 1 9 6 2 . - M . S k o d a k / H . M . Skeels, A Final Follow-up Study of O n e Hundred Adopted Children: Journal of Genet. Psychol. 7 5 ( 1 9 4 9 ) 8 5 - 1 2 5 . Herbert Spencer, A Theory of Population, Deduced from the General Law of Animal Fertility: Westminster Rev. 5 7 ( 1 8 5 2 ) 4 6 8 - 5 0 1 . - Ders., T h e Principles of Sociology, London 1 8 7 6 . - Curt Stern, Principles o f H u m a n Genetics, San Francisco 3 1 9 7 3 . - Alexander Tille,Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik, Leipzig 1 8 9 5 . - O t m a r v. Verschuer, Wirksame Faktoren im Leben des Menschen. Beobachtungen an eineiigen u. zweieiigen Zwillingen durch 2 5 Jahre, Wiesbaden 1 9 5 4 : - Ders., Genetik des Menschen, München/Berlin 1 9 5 9 . - Ders., Eugenik. Kommende Generationen in der Sicht der Genetik, Witten 1 9 6 6 . - Friedrich Vogel, Lehrbuch der allg. Humangenetik, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1 9 6 1 . - Alfred R. Wallace, H u m a n Progress. Past and Present. Human Selection. T r u e Individualism. Scientific and Social Studies, London 1 9 0 0 . - G o r d o n Wolstenholme (ed.), M a n and his Future, London 1 9 6 3 .

Bernhard Rensch Daseinsanalyse —»Heidegger, Martin Datenverarbeitung/Datenschutz —> Kommunikationswissenschaft Daub, Karl 1.

(1765-1836)

Leben

Als Sohn eines Reitknechts am 2 0 . 3 . 1 7 6 5 in Kassel geboren und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, aber schon während der Gymnasialzeit durch die Lektüre von Schriften Piatos zur Philosophie hingezogen, studierte Daub seit 1 7 8 6 Philologie, Philosophie, Geschichte und Theologie in —»Marburg, wo er im Hause des Philosophiehistorikers Tiedemann Aufnahme fand. Infolge ausgezeichneter Leistungen durfteer bereits 1 7 8 9 das theologische Examen ablegen und wirkte nach der philosophischen Promotion seit 1 7 9 1 als Stipendiatenmajor und Privatdozent in Marburg. Wegen seines Eintretens für die der damaligen Regierung gefährlich erscheinende kritische Philosophie Kants wurde er 1 7 9 4 gegen seinen Willen als (Gymnasial-)Professor für Philosophie an die Hohe Landesschule in Hanau versetzt. Auf Veranlassung des ihm aufgrund seiner psychologisch-moralischen Erstlingsschrift Uber Lebensgenuß ( 1 7 9 3 ) gewogenen Heidelberger Kirchenrats J . F . Mieg wurde Daub schon Ende 1 7 9 5 als Professor der Theologie nach —»Heidelberg berufen, wo er vierzig Jahre lang, vom meist kleinen Kreis seiner Hörer wegen seines eindrucksvollen Lehrpathos und seiner von tiefreligiösem Ethos getragenen Wissenschaftlichkeit hoch verehrt, bis zu dem ihn am 2 2 . 1 1 . 1 8 3 6 auf dem Katheder ereilenden Schlaganfall gelebt und gelehrt hat und von 1 8 0 3 bis etwa 1 8 1 3 auch der geachtete Mittelpunkt der Theologischen Fakultät sowie der Heidelberger —»Romantik gewesen ist. 2. Werk Daubs theologische Entwicklung verläuft parallel zur Geschichte des Deutschen —»Idealismus: Während noch seine Katechetik ( 1 8 0 1 ) ihn als Anhänger der auf Moral gegründeten Vernunftreligion —»Kants erweist, zeigen bereits die Abhandlungen Orthodoxie und Heterodoxie, Die Theologie und ihre Enzyklopädie und Über das theologische Element in den Wissenschaften neben Einflüssen der Romantik den Ubergang Daubs zur spekulativen Natur- bzw. Identitätsphilosophie -^Schellings, die dann besonders aus den Theologumena ( 1 8 0 6 ) sowie der darauf aufbauenden Einleitung in das Studium der christlichen Dogmatik ( 1 8 0 9 / 1 0 ) spricht, bis endlich das durch Schellings Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit angeregte, bisweilen geradezu mystisch-gnostisch anmutende Fragment Judas Ischarioth oder das Böse im Verhältnis zum Guten ( 1 8 1 6 / 1 8 ) Höhepunkt und

Daub

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zugleich Ende der Schellingschen Periode markiert. Inzwischen hatte D a u b schon —»Hegels frühe Schriften und die Phänomenologie des Geistes eifrig studiert, 1816 als Prorektor die Berufung Hegels betrieben und nach dessen zweijährigem Wirken in Heidelberg sowie dem intensiven Studium von Hegels Logik die endgültige H i n w e n d u n g zur Hegeischen Philosophie vollzogen, die er nun, zunächst in seinen philosophischen und dogmatischen Vorlesungen, später auch in Die dogmatische Theologie jetziger Zeit (1833) vertrat, wobei die letztere ausdrücklich dem Andenken Hegels gewidmet ist. Diese, der Philosophie seiner Zeit folgende Entwicklung hat später zu dem Vorwurf geführt, seine Theologie sei,wetterwendisch'; sie erfolgte jedoch aus innerer Notwendigkeit, nämlich aus dem Bemühen, die strenge Objektivität des christlichen Glaubens im organischen System der christlichen Dogmen und damit die absolute Wissenschaftlichkeit der Theologie durch ihre Verbindung mit der spekulativen Philosophie inhaltlich zu begründen und methodisch abzusichern (vgl. Einl. in das Studium der christl. Dogmatik 3 6 5 f ) . Für die Eigenständigkeit des spekulativen Ansatzes von D a u b sprechen sein — sowohl philosophische Reflexion als auch religiöse Kontemplation beinhaltender und zugleich auf den Lebensbezug ausgerichteter — eigentümlicher Begriff von Spekulation, sowie vor allem die von ihm stets als Grundvoraussetzung von Theologie geforderte, auf der ,Resignation' auf Ich und Welt beruhende Religion in Form des Abhängigkeitsgefühls — also eines N a t u r und Weltbewußtsein transzendierenden Gottesbewußtseins. Der G r u n d für das Scheitern von D a u b s spekulativem System im weiteren Verlauf der Theologiegeschichte liegt neben der Abwertung und Ausblendung der historisch-kritischen Dimension von Theologie in der Schwäche, d a ß in dieser Theologie „das spekulativ vorausgesetzte und spekulativ als notwendig zu erweisende D o g m a besonders leicht illusorisch werden konnte. Fehlte der Wille zur Voraussetzung, so wurde alle Deduktion sinnlos und ergebnislos . . . An der Gewißheitsfrage bzw. am Gewißheitsverlust entscheidet sich das Schicksal des spekulativen Versuchs" (Pfeiffer, Diss. 173). D a u b ist auch kirchenpolitisch hervorgetreten, indem er, gemeinsam mit seinem lutherischen Kollegen F . H . C . Schwarz 1821 in die Generalsynode delegiert, als Mitglied der Abendmahlskommission und Mitverfasser der Unionsurkunde am Z u s t a n d e k o m m e n der Kirchenunion in —»Baden beteiligt war. 3.

Nachwirkung

Eine theologische Schule h a t Karl D a u b nicht gebildet, zumal er grundsätzlich die Unabhängigkeit des Lehrlings vom Lehrer wünschte (Die dogm. Theol. V). In diesem Sinne ist nun aber gerade seine Wirkung auf die Entwicklung einzelner Theologen bemerkenswert; sei es, d a ß sie wie L. —»Feuerbach durch D a u b zur Hegeischen Philosophie hingeführt w u r d e n , sei es, d a ß sie wie R. —»Rothe und K. I. —»Nitzsch in einer Art Synthese aus Elementen der spekulativen Theologie Daubs mit der Glaubenslehre —»Schleiermachers später ihre eigene Vermittlungstheologie entwickelten. Literarisch weitergewirkt haben besonders Daubs Theologumena und die darauf aufbauende Einleitung in das Studium der christl. Dogmatik, die z. B. Th. Lehmus, den späteren Wegbereiter der fränkischen —»Erweckungsbewegung, tief beeindruckten. Daubs letzte Veröffentlichung, die durch D . F . —»Strauß' Leben ]esu veranlaßte Abhandlung über Die Form der christlichen Dogmen- und Kirchenhistorie (1836), w u r d e von weitreichender Bedeutung f ü r S. —»Kierkegaard, den sie an die theologische G r u n d f r a g e des Verhältnisses von Glaube und Geschichte h e r a n f ü h r t e und insofern indirekt auch dessen spätere Lösung dieses Problems im Begriff der Gleichzeitigkeit mit Jesus vorbereitete. Nicht nur wegen seines letztlich gescheiterten Versuchs einer spekulativen Begründung der Theologie, sondern auch infolge des labyrinthischen Stils seiner Schriften m u ß D a u b heute als eine von der Theologie immer noch „fast vergessene G r ö ß e " (Pfeiffer, Diss. 7) gelten. Quellen Uber Lebensgenuß. Ein psych.-moralischer Versuch: Phil. J o u r n a l f ü r M o r a l i t ä t , Religion u. M e n schenwohl, hg. v. K. C h r . Erhard Schmidt/Fr. W. Daniel Snell, Gießen, I I / l 1793, 8 0 - 1 2 1 . - Predigten

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nach Kantischen Grundsätzen, Königsberg 1 7 9 4 = Brüssel 1 9 6 8 (Aetas Kantiana 5 8 ) . - Lb. der Katechetik zum Gebrauch seiner Vorl., Frankfurt a . M . 1 8 0 1 . - Das Schulwesen des 18. J h . , den Volksunterricht in der Religion betreffend: J o u r n a l für Veredelung des Prediger- u. Schullehrerstandes, hg. v. J o n a than Schuderoff, Altenburg, 1 1 8 0 2 , 1 4 9 - 1 9 4 . - O r t h o d o x i e u. Heterodoxie. Ein Beitr. zur Lehre v. den Symbolischen Büchern: Studien, hg. v. Daub u. Creuzer, Heidelberg, I 1 8 0 5 , 1 0 4 - 1 7 3 . - Die T h e o l . u. ihre Enzyklopädie im Verhältnis zum akademischen Studium beider. Frgm. einer Einl. in die letztere: ebd., II 1 8 0 6 , 1 - 6 9 . - T h e o l o g u m e n a sive doctrinae de religione christiana ex natura dei perspecta repetendae capita potiora, Heidelberg 1 8 0 6 . - Über das theol. Element in den Wiss., bes. in der T h e o l . selbst: H J L 1 ( 1 8 0 8 ) 1 - 3 3 . - Einl. in das Studium der christl. Dogmatik aus dem Standpunkt der Religion, Heidelberg 1 8 0 9 (Studien 5) = ebd. 1 8 1 0 . - T r a c t a t i o de homine mortis sibi conscio, quae est commentationis de mortuorum resurrectione pars prior, Heidelberg 1 8 1 6 = Heidelberger Prorektoratsreden. III. 1 8 1 5 - 1 8 4 0 . - J u d a s Ischarioth oder das Böse im Verhältnis zum Guten. Zwei H . in einem Bd., Heidelberg, 1/1 1 8 1 6 ; I I / l 1 8 1 8 . - V o r r . zu:Wilhelm Friedrich Rinck, Beitr. zur Prüfung des luth. u. ref. Lehrbegriffes v. dem hl. Abendmahl u. der Gnadenwahl nach dem W o r t e Gottes, Heidelberg 1 8 1 8 . - D e humanitate, Heidelberg 1 8 2 4 = Heidelberger Prorektoratsreden. III. 1 8 1 5 - 1 8 4 0 . - R e z . v. Philipp Konrad M a r h e i n e k e . Die Grundlehren der christl. Dogmatik, 2 1 8 2 7 : Berliner J b . für wiss. Kritik, Nov. 1 8 2 7 , Nr. 2 1 1 f. 2 1 5 f; Febr. 1 8 2 8 , N r . 2 3 - 2 8 ; Aug. 1 8 2 8 , Nr. 2 5 - 3 2 . - Die dogm. Theol. jetziger Zeit oder die Selbstsucht in der Wiss. des Glaubens u. seiner Artikel, Heidelberg 1 8 3 3 . - Darst. u. Beurteilung der Hypothesen in Betreff der Willensfreiheit. Vorl., hg. v. J . C. Kröger, Altona 1 8 3 4 . - Uber den Logos. Ein Beitr. zur Logik der göttlichen N a m e n : T h S t K r 3 3 ( 1 8 3 3 ) 3 5 5 - 4 1 0 . - Die F o r m der christl. Dogmen- u. Kirchenhistorie: Z s . für spekulative T h e o l . , hg. v. Bruno Bauer, Berlin, 1/1 1 8 3 6 , 1—60; 1/2 1 8 3 6 , 6 3 - 1 1 2 ; I I / l 1 8 3 7 , 8 8 - 1 6 1 . - D. Karl Daubs phil. u. theol. Vorl., hg. v. P. K. M a r h e i n e k e / T . W . Dittenberger, 7 Bde., Berlin 1 8 3 8 - 1 8 4 4 .

Literatur E r n s t - O t t o Braasch, Die Mitglieder der Generalsynode 1 8 2 1 . Biographien. III. Die ref. Geistlichen, Nr. 1 5 : Vereinigte Ev. Landeskirche in Baden 1 8 2 1 - 1 9 7 1 , hg. v. Hermann Erbacher, Karlsruhe 1 9 7 1 , 6 9 9 f . - A u g u s t Christian Eberlin, Nekrolog des Geheimen Kirchenrats u. Prof. der Theol. D. Karl D a u b zu Heidelberg: A K Z 16 ( 1 8 3 7 ) 2 0 1 - 2 1 4 . - Wilhelm G a ß , Gesch. der prot. Dogmatik in ihrem Zusammenhang mit der T h e o l . überhaupt, Berlin, IV 1 8 6 7 , 3 8 5 - ^ 4 1 5 . - Wilhelm H e r r m a n n , Die spekulative Theol. in ihrer Entwicklung durch D a u b , H a m b u r g / G o t h a 1 8 4 7 . - Emanuel Hirsch, KierkegaardStud., I I I / l 1 9 3 1 (SASW 3 2 ) 9 3 - 1 0 5 . - Ders., Gesch. der neuern ev. T h e o l . , Gütersloh s 1 9 7 5 , V 372—374 u. ö. — Heinrich Holtzmann, Art. D a u b : Badische Biographien, hg. v. F r . v . W e e c h , Karlsruhe, I 1 8 7 5 , 1 6 0 - 1 6 6 . - Klaus Krüger, Der Gottesbegriff der spekulativen Theol., 1 9 7 0 ( T B T 19) (Lit.). Erhard Pfeiffer, Z u r Erinnerung an Karl D a u b : Z T h K 17 ( 1 9 3 6 ) 2 7 3 - 2 7 9 . - Ders., Karl Daub u. die Krisis der spekulativen Theol., Diss. Leipzig 1 9 4 3 (Lit.). - Karl Rosenkranz, Erinnerungen an Karl D a u b , Berlin 1 8 3 7 . - Uwe Schott, Die Jugendentwicklung Lydwig Feuerbachs bis zum Fakultätswechsel 1 8 2 5 , 1 9 7 3 ( S T h G G 10) 8 2 - 1 1 0 . - Horst Stephan/Martin Schmidt, Gesch. der dt. ev. Theol. seit dem dt. Idealismus, 3 1 9 7 3 ( S T ö . T 9) 8 9 - 9 8 . - D a v i d Friedrich Strauß, Schleiermacher u. D a u b in ihrer Bedeutung für die Theol. unserer Zeit, Leipzig 1 8 3 9 2 1 8 4 4 , 3 - 2 1 2 . - Eduard Zeller, Dr. K. Daubs System der christl. D o g m a t i k : T h J b ( T ) 1 ( 1 8 4 2 ) 7 4 5 - 7 6 0 (Rez.).

Uwe Schott

David I. Altes Testament II. Judentum III. Neues Testament

384 387

I. Altes Testament 1. N a m e 2 . Quellen 3 . David und Saul ideologie (Literatur S. 3 8 3 )

4 . David als König über J u d a und Israel

5. Königs-

David (dawid, Aaviö, Aavsiö), Sohn des Isai (lat. Jesse), König von Juda und Israel, Gründer der Dynastie zu Jerusalem, regierte von ca. 1 0 0 0 - 9 6 1 v.Chr. David war Judäer aus Bethlehem und nach Ruth 4 , 1 7 Urenkel von Boas und Ruth aus Moab. Der Name seiner Mutter wird nicht erwähnt. ISam 1 6 , 1 0 f; 1 7 , 1 2 undl Chr 2 , 1 3 - 1 6 weichen hinsichtlich der Zahl der Geschwister Davids voneinander ab.

David I

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1. Name Der N a m e David findet sich über 800 mal im Alten Testament, abgesehen vom Vork o m m e n in den Psalmenüberschriften. Seine Bedeutung ist immer noch unklar. Die herkömmliche Interpretation ist „Geliebter, Liebling". In dem däwidüm der Mari-Texte, das man als „Stammeshäuptling, F ü h r e r " interpretierte, sah man eine mögliche Etymologie, was aber als durch Landsberger und T a d m o r (129-131) widerlegt gelten kann. Das W o r t da-'u-dum erscheint in den Texten von Ebla und scheint die traditionelle Meinung zu bestätigen (gegen Stamm, 1 6 5 - 1 8 3 , der den N a m e n David von död [Onkel, Bruder des Vaters] herleitet). 2.

Quellen

Das biblische Material findet sich in der Hauptsache in I Sam 16—1 Reg 2; I Chr 1 1 , 1 0 - 4 7 ; 12; 27 und in den Einleitungen zu Ps 3 , 1 8 , 3 4 , 51, 5 2 , 5 6 , 5 7 , 59, 60, 6 3 , 1 4 2 . In einigen Fällen hat der kürzere ägyptische Text der LXX bessere Lesarten als M T . Das beste Beispiel ist die Goliatherzählung, von der die LXX I Sam 1 7 , 1 2 - 3 1 ; 1 7 , 5 5 - 1 8 , 5 nicht bringt. Die biblische Erzählung kann in drei Abschnitte eingeteilt werden: 1. Davids Aufstieg zur M a c h t (I Sam 16—11 Sam 5; 8); 2. die Ladeerzählung (I Sam 4—6; II Sam 6); 3. die Hofgeschichte oder die Erzählung von der Thronnachfolge Davids (II Sam 7; 9 - 2 0 ; I Reg 1-2). 2.1. Die Geschichte von Davids Aufstieg enthält zahlreiche Dubletten und Widersprüche, welche zu dem Schluß geführt haben, d a ß der Deuteronomist verschiedene Quellen benutzte (Noth, Überlieferungsgesch.; Komm, zu I und II Sam). David wurde dreimal bei Saul eingeführt (I Sam 16,1—3; 1 6 , 1 4 - 2 3 ; 17). Die erste Perikope ist deuteronomistisch und von fraglichem Wert als frühe Tradition. Die zweite scheint alte Traditionen zu bewahren. Die dritte birgt einige Probleme, könnte aber ebenfalls frühe Tradition widerspiegeln. Nach dieser dritten Erzählung begann Davids Aufstieg im israelitischen Heer damit, daß er die Herausforderung des Philisterhelden Goliath annahm. Ein Problem, das später in I Sam 1 7 , 5 5 - 5 8 auftritt, ist die Tatsache, d a ß Saul David nicht gekannt zu haben scheint; diese Verse fehlen aber in der LXX. II Sam 21,19 berichtet, d a ß Goliath von Elhanan getötet wurde, aber das ist nicht unbedingt ein Widerspruch. H o n e y m a n (23) argumentiert, d a ß Elh a n a n Davids ursprünglicher N a m e , David dagegen erst sein Herrschername war. Darüber hinaus k o n n t e gezeigt werden, d a ß Goliath wie ein ägäischer Kriegsheld ausgerüstet war, ähnlich den Helden H o m e r s (de V a u x , C o m b a t s ; Galling). Es ist darüber hinaus seit langem bekannt, d a ß die Philister ursprünglich aus dem Gebiet der Ägäis stammten (Strobel) (—»Philister und Israel). Paralleltexte zum Lied, das Saul und David huldigt, finden sich in I Sam 18,7; 2 1 , 1 2 ; 29,5. Die Verwendung dieses Liedes als Erklärung für Sauls Eifersucht kennzeichnet ein frühes Mißverständnis einer frühen hebräischen Dichtung: Die Verwendung des formelhaften Paares 1000 und 1 0 0 0 0 bedeutet einfach eine ungezählte Menge wie in I Sam 18,8; Dtn 3 2 , 3 0 ; Ps 91,7 und nicht, daß David besser als Saul war. Der Sinn des Gedichtes war, d a ß Saul und David beide beim Volk beliebt waren. Zweimal wird Samuels T o d erwähnt (I Sam 2 5 , 1 ; 28,3); zweimal verschonte David Saul (I Sam 24; 26); zweimal verhandelte David mit den Philistern (I Sam 2 1 , 1 0 - 1 5 ; 2 7 , 1 - 7 ) ; zweimal wird Sauls T o d beschrieben, allerdings auf verschiedene Weise (I Sam 3 1 ; II Sam 1). Trotz der verschiedenen Quellen unterschiedlichen Wertes argumentiert Weiser, daß das H a u p t t h e m a , das dieses heterogene Material zusammenbindet, die Legitimierung von Davids Anspruch auf den Thron Israels gegenüber Sauls N a c h k o m m e n sei. Der prodavidische deuteronomistische Redaktor sammelte Material, um seine These zu stützen, daß David die Nachfolge Sauls antreten sollte: 1. wegen der göttlichen Erwählung (I Sam 16,1—13);2. aufgrund dynastischer Sukzession (David hatte Sauls Tochter geheiratet); 3. durch militärische Tapferkeit; 4. weil er vom Volk erwählt war. Die erste Begründung w a r die wichtigste. Die Erzählung betont nicht so sehr Davids Tugenden, sondern die göttliche Erwählung (s.a.

380

David I

R e n d t o r f f ) . Die d e u t e r o n o m i s t i s c h e R e d a k t i o n ist in den S a m u e l b ü c h e r n nicht so deutlich wie in den K ö n i g s b ü c h e r n , sie ist j e d o c h in der A n l a g e u n d S t r u k t u r der E r z ä h l u n g k l a r erkennbar (Carlson 20—37). 2 . 2 . D i e Erzählung

über

die Bundeslade

v e r w e n d e t der D e u t e r o n o m i s t , u m D a v i d s L a -

deheiligtum in —»Jerusalem zu legitimieren ( C a m p b e l l ) u n d u m die K o n t i n u i t ä t z w i s c h e n D a v i d u n d der v o r h e r g e h e n d e n G e s c h i c h t e u n d Religion zu zeigen ( T i m m ) . 2.3.

D e r T e x t der Hofgeschichte

o d e r der Erzählung

von der Thronnachfolge

w u r d e z u e r s t v o n R o s t 1 9 2 6 isoliert u n d w u r d e als Thronfolgeerzählung

Davids

b e k a n n t . R o s t hält

sie für eine G e s c h i c h t s e r z ä h l u n g , die S a l o m o als r e c h t m ä ß i g e n T h r o n f o l g e r darstellte. G u n n zeigt die h o h e literarische Q u a l i t ä t der E r z ä h l u n g , deren h i s t o r i s c h e r W e r t seit l a n g e m erk a n n t ist (v. R a d , A n f a n g ) . W h y b r a y u n d H e r m i s s o n sehen in der E r z ä h l u n g E l e m e n t e , die B e z i e h u n g e n zu L e h r e u n d Stil der —»Weisheit e r k e n n e n lassen. W ü r t h w e i n zufolge erweiterte ein R e d a k t o r einen ursprünglich viel k ü r z e r e n T e x t . S c h u l t e ( 1 3 8 - 1 8 0 ) b e h a u p t e t , d a ß der N a c h d r u c k der E r z ä h l u n g in d e r U n t e r s t ü t z u n g D a v i d s u n d seines K ö n i g t u m s lag. F l a n a g a n b e s c h r e i b t zwei Stufen in d e r E n t w i c k l u n g des M a t e r i a l s : U r s p r ü n g l i c h eine G e s c h i c h t e D a v i d s u n d seines K a m p f e s zur A u f r e c h t e r h a l t u n g seines K ö n i g t u m s , w u r d e sie s p ä t e r u m g e w a n d e l t in eine G e s c h i c h t e v o n S a l o m o s T h r o n n a c h f o l g e , i n d e m die B a t h s e b a - E p i s o d e u n d die T h r o n b e s t e i g u n g s s z e n e hinzugefügt w u r d e n . 3. David

und

Saul

Bald nachdem David b e i ^ S a u l und im Heer eingeführt war (I Sam 1 6 - 1 7 ) , wurde e r - n a c h deuteronomistischer Sicht - ein populärer Held und damit Gegenstand von Sauls Eifersucht. Gemäß dem kürzeren T e x t der L X X zu I Sam 18 faßte Saul eine persönliche Abneigung gegen David und gab ihm ein militärisches Kommando, um ihn aus Jerusalem zu entfernen. David jedoch wurde noch beliebter beim Volk, und Sauls Tochter Michal verliebte sich in ihn. Saul versprach David ihre Hand gegen einen Brautpreis von 1 0 0 Philistervorhäuten. Dieser gewann Michal und sicherte sich so einen Platz am Hofe des Saul (I Sam 2 2 , 1 4 ; 2 0 , 2 5 ) . Der Bruch zwischen Saul und David vertiefte sich, wurde jedoch durch Jonathan, den vertrautesten Freund Davids, aufgehalten (Morgenstern). Sauls Eifersucht wurde so groß, daß David zur Flucht gezwungen war. Er ging nach Nob (1 Sam 2 1 ; Ps 5 2 , 1 ) und dann möglicherweise nach R a m a (I Sam 1 9 , 1 8 - 2 4 ) . Danach suchte er die Philister in Gath auf (I Sam 2 1 , 1 0 - 1 5 ; vgl. Ps 3 4 , 1 ) , mußte jedoch fliehen und ließ sich mit einer Freischärlerbande in Adullam nieder (I Sam 22). Seine Streitmacht wurde so stark, daß er Kegila vor den Philistern entsetzen konnte (I Sam 23). Obwohl Saul ihn verfolgte, verschonte David dennoch dessen Leben und bewahrte sich das Vertrauen Jonathans. Schließlich verließ David Juda und suchte Zuflucht bei den Philistern und stellte sich selbst unter den Schutz des Achis von Gath. Er ließ sich mit seiner Freischärlerbande in Ziklag nieder. Hier sorgte er für den Lebensunterhalt seiner Männer und deren Familien dadurch, daß er Beutezüge gegen die Amalekiter und andere räuberische Stämme unternahm. Der T e x t berichtet auch von einer Beuteverteilung an die Ältesten in Juda (I Sam 3 0 , 2 6 - 3 1 ) . Im zweiten J a h r seines Aufenthalts in Ziklag planten die Philister einen großen Feldzug gegen Saul. David durfte nicht an der Schlacht teilnehmen, und als er nach Ziklag zurückkehrte, fand er seine Stadt von den Amalekitern zerstört. David übte Vergeltung und holte sich seinen Besitz wieder zurück. Er kehrte nach Ziklag zurück, und die Nachricht von Sauls Tod erreichte ihn durch einen Amalekiter, der für sich in Anspruch nahm (im Gegensatz zu I Sam 3 1 , 4 ) , den verwundeten König getötet zu haben. Dieser bot David das königliche Diadem (nezär) und den Armreif ('äs'ädä) an. David jedoch befahl, zum Erstaunen des Boten, seinen T o d und stimmte sein Klagelied über den Tod Sauls und Jonathans an (Shea). Die Philister nahmen Palästina zumindest von der Jesreelebene bis zum Negeb im Süden in Besitz. Das geschlagene israelitische Heer wurde von Abner dazu gebracht, Ischbaal, Sauls Sohn, in Mahanaim in Gilead zum König einzusetzen (vgl. Buccellati 1 9 5 - 2 1 2 und Soggin: R S O 4 0 ) . David zog nach Hebron, wo er zum König gesalbt wurde und 7 ' / 2 Jahre (II Sam 2 , 1 1 ) als Vasall der Philister regierte (Alt, Staatenbildung; Soggin, Reign 3 4 3 - 3 6 3 ) . Die Herrschaft Ischbaals dauerte nur 2 Jahre und endete mit seiner Ermordung. Sein Untergang wurde durch den Verlust der Unterstützung Abners markiert, der sich selbst des Thrones zu bemächtigen versucht hatte (II Sam 2 , 7 - 1 1 [ L X X ] ) . Abner wandte sich David zu und bot ihm den Thron über Israel an, ohne daß berichtet wird, was Abner sich davon versprach. Er wurde von J o a b in Blutrache getötet; dadurch wurde der Weg frei für David zur Königsherrschaft über Juda und Israel (II Sam 5 , 1 - 5 ) .

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Davids Aufstieg zur Macht, der die Dynastie Sauls verdrängte, wurde auf verschiedene Weise erklärt. Es scheint, daß im alten Israel eine gewisse Unsicherheit bei der Festlegung der dynastischen Erbfolge herrschte. Alt (Staatenbildung) sieht ein Fortdauern dieses Musters in der nordisraelitischen Geschichte. Bright (Gesch. 1 8 2 - 2 0 0 ) und Soggin (Königtum; Reign) sehen in David einen Mann mit —»Charisma und Fähigkeiten, der durch göttliche Designation und Akklamation des Volkes auf den Thron gelangte; Alt allerdings geht nicht so weit. Auf jeden Fall stimmen sie darin überein, daß David dafür verantwortlich war, daß die Königreiche von Juda und Israel vereinigt wurden (—»Geschichte Israels). 4. David als König über Juda und

Israel

Die biblischen Texte lassen eine chronologische Beschreibung der Ereignisse der 33 Regierungsjahre Davids nur mit Mühe zu. 4.3. Militärische Erfolge. David mußte sich als erstes einem Angriff der Philister stellen (II Sam 5,17; Bright, Gesch. 1 8 6 f ; Noth, Gesch. 173; vgl. Eißfeldt 522); anschließend nahm er Jerusalem ein (II Sam 5,6; I Chr 11,4). Nach II Sam 8 , 1 0 - 1 2 ; I Reg 1 1 , 1 5 - 2 5 führte David gegen die Nachbarn Palästinas Krieg und eroberte —»Moab, —»Ammon, —»Edom, AramZoba und Aram-Damaskus (—»Aramäer und Israel) (Ps 6 0 , l f ) . Außerdem nahm er die kanaanäischen Stadtstaaten ein, die sich in Palästina gehalten hatten. Unter David erreichten Israels Grenzen ihre größte Ausdehnung überhaupt. Yadin ( 3 4 1 - 3 5 1 ) beschreibt einige Aspekte der Strategie, die David gegen Ammon und Aram anwandte. Malamat hält den biblischen Bericht über die Niederlage Hadadesers, des Königs von Aram, für historisch, ebenso die Beschreibung der gesamten Ausdehnung des Reiches Davids. David knüpfte auch diplomatische Beziehungen durch die Heirat der Tochter des Talmar, des Königs von Geschur (II Sam 3,3; I Chr 3,2), und durch Salomos Heirat mit Naama, einer ammonitischen Prinzessin. Indirekt beeinflußte Davids militärische Aktivität auch die Phönizier und Assyrer (—»Phönizien und Israel, ^»Assyrien und Israel). Die Niederlage der Philister öffnete den Phöniziern, die mit David befreundet waren (II Sam 5,11; I Chr 14,1), den Weg, ihren Seehandel auszuweiten und zu entwickeln. Die Niederlage Hadadesers beseitigte die Bedrohung Assyriens durch die Aramäer. Nach einer Inschrift Assurdans II. ( 9 3 4 - 9 1 2 ) waren die Aramäer während der Regierungszeit des Assurrabi II. ( 1 0 1 2 - 9 7 2 ) , eines Zeitgenossen Davids, in assyrisches Territorium bis zu einem Punkt östlich des Tigris vorgedrungen. Salmanasser III. ( 8 5 8 - 8 2 4 ) erwähnt, daß die Aramäer während der gleichen Periode die assyrische Stadt Mutkimu am oberen Euphrat gestürmt hatten. 4.2. Herrschaft. Zwei Texte liefern eine Liste der Verwaltungsbeamten unter David: II Sam 8 , 1 5 - 1 8 und I Chr 1 8 , 1 4 - 1 7 aus der Frühzeit seiner Herrschaft einerseits und II Sam 20,23—26 aus der Spätzeit andererseits. Es wird allgemein angenommen, daß Davids Ministerkabinett auf ägyptischem Vorbild beruht (Begrich; Bright, Organization; de Vaux, Titres). Joab war Oberbefehlshaber über das Heer, das die stehende Truppe der 6 0 0 und das größere Heer aus dem Heerbann der Stämme mit einschloß. -^Josaphat war der königliche Herold (mazkir). —»Zadok und Abjathar waren Priester. Seria war der Sekretär {söfer) oder Außenminister, dem alle offizielle Korrespondenz oblag. De Vaux (Titres) vermutet, daß Seria ein Ägypter war. Benaja war der Kommandant der 3 0 oder der Palastwache (II Sam 2 3 , 2 4 - 3 9 ) . Unsicherheit besteht darüber, was die Aussage „die Söhne Davids waren Priester" (nur II Sam 8,18) bedeutet. Adoram hatte das Amt eines Fronministers (nur II Sam 20,24). Ira war Davids Priester (nur II Sam 20,25). Es ist nicht sicher feststellbar, welche Aufgaben er hatte. Die Verwaltung der verschiedenen Gebiete des Reiches folgte—soweit das aus Details ersichtlich wird — keinem einheitlichen Muster (Alt, Staatenbildung; Großreich; Bright, Organization). So wurde David z.B. König von Ammon (II Sam 12,30); Moab wurde Vasall Davids (II Sam 8,2), und Edom wurde durch nestbim, militärische Statthalter oder Gouverneure, regiert (II Sam 8,14). Das Gebiet Judas wurde wieder nach einem anderen Modell

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David I

regiert. Cross/Wright datieren die Provinzliste Jos 15,21—62 in die Regierungszeit Josaphats und behaupten, daß sie eine frühere Provinzverwaltung unter David widerspiegelt. Ein anderer Gesichtspunkt von Davids Verwaltung wird in der Einrichtung der Asylstädte Jos 2 0 (—»Asylrecht) und der Levitenstädte Jos 21 sichtbar. Die ersteren h a b e n bisher wenig Aufmerksamkeit gefunden. Die Liste der Asylstädte erhielt wahrscheinlich ihre gegenwärtige F o r m im 7. Jh. Sie spiegelt aber hinsichtlich des Ursprungs der Institution Verhältnisse des 10.Jh. wider (Albright, Religion 1 3 6 - 1 4 0 ; de Vaux, AT I, 2 5 8 - 2 6 3 ; II, 201—203). Die Städte wurden eingerichtet, u m die Blutrache einzuschränken. Die Institution kam wahrscheinlich erst in der Spätzeit von Davids Herrschaft aufgrund der Forderung der Gibeoniten (II Sam 21,1—9) auf (Cazelles 165 — 175). Albright (Levitical Cities; Religion 136—140) hat dargelegt, d a ß die Liste der Levitenstädte Jos 21 auf die Zeit Davids zurückgeht und d a ß sie auf eine Ansiedelung von Priestern hinweist, die dazu dienen sollte, die Ausbreitung der religiösen Lehre und Praxis sicherzustellen (—»Levi/Leviten). David u n t e r n a h m Schritte, um die religiösen Überlieferungen von Jahwe wieder zur Geltung zu bringen. Er ließ das Zeltheiligtum in —> Jerusalem aufbauen und holte die Bundeslade zurück. Die Religion, die David begünstigte, mag einige synkretistische Elemente in sich gehabt haben, wie Soggin vermutet (Synkretismus; Beitr. 1 5 - 1 9 ) , aber nicht in dem Grade, wie es Ahlström (Psalm 89) beschreibt. Den —»Tempel erbaute David nicht (das k o m p l e x e literarische Problem von II Sam 7 und —»Nathans Sinneswandel soll hier nicht erörtert werden [vgl. N o t h , David u. Israel; v. N o r d h e i m ; Ahlström: V T 11]). Der letzte Punkt auf unserer Liste der administrativen Tätigkeiten ist die Volkszählung. Die Beschreibung in II Sam 24 scheint chronologisch nicht an der richtigen Stelle zu stehen, und wir können daher nicht mit Sicherheit sagen, w a n n w ä h r e n d der Regierungszeit Davids die Z ä h l u n g stattfand. Die Volkszählung stellte eine Bedrohung des Volkes dar, weil sie ein endgültiger Schritt weg vom Stämmebündnis der freiwilligen Unterstützung des Königs und Heeres hin zu Steuer und militärischer Z w a n g s a u s h e b u n g w a r . Die Plage, die als Z o r n Gottes interpretiert wurde, k ö n n t e allgemein verbreitete Gefühle widerspiegeln. Hinsichtlich der Kultur scheint David Anstöße zur Entwicklung von Musik u n d Poesie gegeben zu haben (Albright, Religion 140ff). 4.3. Familie. David n a h m während seines Lebens acht namentlich bekannte Frauen (I Sam 18,27; 25,42.43; I Chr 3 , 2 - 5 [Bathsuba = Bathseba]), er hatte 6 in H e b r o n (II Sam 3, 2 - 5 ; I Chr 3 , 1 - 4 ) und 13 in Jerusalem geborene Söhne (II Sam 5,14; I Chr 3 , 5 - 9 ; 1 4 , 4 - 7 fügt Eliphelet und H a g a h hinzu) und eine Tochter, T a m a r (I Chr 3,9). Aus II Sam 5,13 kann man schließen, d a ß er noch andere Kinder mit Konkubinen hatte. Wir finden in der Hofgeschichte (s.o. Abschn.2.3) auch eine Beschreibung der Schwierigkeiten, die David mit seinen Kindern hatte. Amnon verliebte sich in T a m a r , Absaloms Schwester. Auf den Vorschlag seines Cousins J o n a d a b hin verleitete er T a m a r dazu, mit ihm allein zu sein, und vergewaltigte sie (II Sam 1 3 , 1 - 2 2 ) . Absalom trug den H a ß zwei Jahre lang mit sich h e r u m , auf eine Gelegenheit w a r t e n d , bis er Amnon töten k o n n t e (II Sam 1 3 , 2 3 - 3 3 ) . Absalom floh, w o r a u f h i n David seine Rückkehr verlangte. Es wurde kein Versuch u n t e r n o m m e n , Absalom zu bestrafen. Als Absalom zurückkehrte, machte er sich selbst zum König und vertrieb David und sein stehendes Heer aus Jerusalem (II Sam 15). Alt (Staatenbildung; Stadtstaat Samaria; vgl. Buccellati) zeigte auf, d a ß ein solcher Aufstand, der von den nordisraelitischen Stämmen unterstützt wurde, nur in einer Situation stattfinden konnte, in der die nördlichen Stämme kein starkes Gefühl für die Stammeseinheit mit J u d a hatten (II Sam 20). Absaloms Truppen wurden besiegt, er selbst getötet und David wieder inthronisiert. Sogar dann noch beklagte David den T o d seines Sohnes so sehr, d a ß er beinahe den Respekt seiner Leute verlor, w u r d e aber von J o a b aus der Trauer herausgerissen (II Sam 19). 5.

Königsideologie

Im Vorstehenden w u r d e gezeigt, d a ß David auf dem von Saul ererbten Konzept der Königsherrschaft a u f b a u t e und die Verbundenheit mit der älteren Tradition des Stämmebun-

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des festzuhalten und zu stärken versuchte. D i e W i e d e r h e r s t e l l u n g des Z e l t e s u n d der Lade w e i s e n in diese R i c h t u n g . Cross ( M y t h 2 2 9 - 2 7 3 ) v e r m u t e t auf G r u n d v o n Ps 1 3 2 , 1 1 f u n d II Sam 2 3 , 1 — 5 - T e x t e n , die er in die R e g i e r u n g s z e i t D a v i d s datiert —, d a ß die u n e i n g e schränkte, i m m e r w ä h r e n d e V e r h e i ß u n g der K ö n i g s h e r r s c h a f t an D a v i d n o c h nicht zu diesem frühen Z e i t p u n k t erfolgte u n d d a ß k e i n e A n z e i c h e n auf eine Ü b e r n a h m e der k a n a a n ä ischen I d e o l o g i e der g ö t t l i c h e n A d o p t i o n h i n d e u t e n . D e V a u x (Roi) u n d C a l d e r o n e unterstützen C r o s s ' T h e s e , d a ß D a v i d a m S t ä m m e b u n d u n d an einer e i n g e s c h r ä n k t e n B e z i e h u n g zu J a h w e festhielt. Erst später, w ä h r e n d der H e r r s c h a f t —»Salomos, w u r d e n a c h C r o s s die k a n a a n ä i s c h e K ö n i g s i d e o l o g i e e n t w i c k e l t , w i e sie in Ps 8 9 (Ahlström, Psalm 8 9 ) u n d an anderen Stellen (vgl. E a t o n ) dargestellt ist. Eine natürliche F o l g e der K ö n i g s i d e o l o g i e w a r die M e s s i a s v o r s t e l l u n g (—»Messias) v o m idealen d a v i d i s c h e n K ö n i g , der die V e r h e i ß u n g einer i m m e r w ä h r e n d e n D y n a s t i e erfüllen würde. V o n R a d ( G e s c h . t h e o l . ) w e i s t dies für I/II R e g nach. U n t e r s c h i e d l i c h e A s p e k t e des M o t i v s erscheinen a u c h in der p r o p h e t i s c h e n Literatur. A m 9 , 1 1 f bezieht sich auf die D y n a stie D a v i d s , u n d Jes 8 , 2 3 - 9 , 6 beschreibt d e n idealen K ö n i g . In d e n P r o s a a b s c h n i t t e n des Jer e m i a b u c h e s w u r d e als V e r h e i ß u n g für die Z u k u n f t ein N a c h k o m m e D a v i d s ( 2 3 , 5 f) o d e r die W i e d e r k e h r D a v i d s ( 3 0 , 8 f) v e r k ü n d e t . In den n a c h j e s a j a n i s c h e n O r a k e l n heißt es, d a ß der N a c h k o m m e D a v i d s Gerechtigkeit u n d R e c h t bringen w i r d (Jes 1 1 , 3 — 9 ; 1 6 , 1 — 5 ; 3 2 , 1 — 8 ; 5 5 , 1 — 5 ) , u n d n a c h Ezechiel w i r d der n e u e D a v i d ein H i r t e , Fürst u n d K ö n i g sein (Ez 3 4 , 2 3 f; 3 7 , 2 4 f ; z u m G a n z e n s. S e y b o l d ) . Literatur Gösta Werner Ahlström, Der Prophet N a t h a n u. der Tempelbau: V T 11 (1961 ) 113 - 1 2 7 . - Ders., Psalm 89, Lund 1959. - William F. 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David II

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Lawrence A. Sinclair II. Judentum 1. Schwerpunkte der Aktualisierung Davids in rabbinischer Zeit 2. Schicksale und T a t e n Davids als exemplarischer Ausdruck jüdischer Identität und jüdischen Vertrauens (Quellen/Literatur S. 3 8 7 )

Der biblische David als glänzender König und charismatische Frömmigkeitsgestalt beeindruckte das Judentum aller Zeiten und Schattierungen. Vom 2. Jh. v. Chr. an wurde David zur dynastischen Urfigur für Herrscher (Hasmonäer, Herodier) und Hierarchen (Patriarchen, babylonische Exilarchen; —»Amt III), zur Motivgestalt für endzeitlich orientierte Enthusiasten und Revolutionäre (—»Messias/Messianische Bewegungen) und zur religiösen Leitfigur von Gruppen, denen an Aufbau und Konsolidierung eines traditionskonformen Gemeindelebens gelegen war. Im folgenden geht es um David als idealtypische Leitfigur des traditionell-religiösen Judentums mit seinen intellektuellen (—»Halacha) und spirituellen (—»Gebet, —>Haggada, Predigten) Komponenten. Die traditionell-religiöse Deutung Davids erfuhr im rabbinischen Schrifttum, das z.T. normativ wurde, ihre vielfältigste Ausprägung. 1. Schwerpunkte

der Aktualisierung

Davids in rabbinischer

7.eit

Der schillernde biblische Held David konnte von der vorwiegend halachisch bestimmten jüdischen Religion der nachbiblischen Zeit nicht unbesehen als Vorbild gebraucht werden. Er wäre sonst zu einem den Frieden der Institution gefährdenden Idol geworden. Die Indienstnahme Davids für Ideale weisheitlich-religiöser jüdischer Gruppen geschah schon in frühjüdischer Zeit (Berger; Nolan). Die Rabbinen, die sich als Tradenten und Kritiker frühjüdischer Ansätze verstanden, differenzierten diese Vorlagen in der Halacha, im —>Midrasch, in der haggadischen Predigt und in Anweisungen zu Gebet und Frömmigkeit weiter aus. In frühamoräischer Zeit hatte das rabbinische Davidsbild bereits deutliche Umrisse: David galt als prophetischer König, als Vorbild der Frömmigkeit, als vom „Geist der Heiligkeit" geführte Offenbarungsgestalt mit verbindlicher Botschaft und Hoffnung für die Juden. Der bedeutendste Interpret bzw. „Theologe" Davids war Rav (Abba Arika, gest. 247 n. Chr.), der Gründer der Gelehrtenakademie von Sura in Babylonien. Seine Aussprüche verraten religionspolitische Klugheit: Weder messianische Abenteurer noch jüdische Patriar-

David II

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eher und Exilarchen sollten sich für ihre Ideologien und Manipulationen auf David berufen können. David sei einzig im Sinne der gesetzlichen Offenbarung und für die spirituelle Sinngebung traditionsverbundener Gemeinschaften zu interpretieren (z.B. bShab 5 6 a ; bYev 9 6 b - 9 7 a ; bQid 7 6 b ; bSan 4 8 b ; 9 8 b ; MTeh 30,4; Steinmann III, 2 0 1 - 2 3 7 ) . Den Rabbinen war selbstverständlich, daß sich alles in den Samuel-, Königs- und Chronikbüchern über David Berichtete so zugetragen hatte, wie es dort stand. Auch das —>Psalmenbuch stamme ganz oder fast ganz von David. Wo in Überschriften in der Bibel andere Verfassernamen stehen, sei David noch mit seiner redigierenden Hand darüber gegangen (bPes 117a; MTeh 1,6). Das Psalmenbuch sei also zur Rekonstruktion des Lebens und vor allem der religiösen Haltung und Sendung Davids beizuziehen. In vielen halachischen Diskussionen wurden davidische Bibelworte als Argumentationshilfen verwendet. Daraus erwuchsen kleine literarische Einheiten, die aus stereotypen Kombinationen von Bibelworten und kurzen Anwendungssätzen bestanden. In mehreren Fällen wurden diese Einheiten zu haggadischen Lehrvorträgen bzw. Homilien für Sabbate und Feiertage ausgestaltet. Als Ergebnis halachisch-midraschischer Diskussionen stand für die Rabbinen fest, daß David alle Psalmen, bzw. einen großen Teil, im Hinblick auf die (rabbinische) Gebets- und Versammlungsgemeinschaft Israels verfaßt hatte. Ein die homiletische Tendenz anzeigender Satz lautet: „Jeden Abschnitt, den David im Buch der Psalmen gesagt hat, hat er mit Bezug auf sich selbst und mit Bezug auf ganz Israel gesagt" (MTeh 24,3; vgl. bPes 117 a; bBer 3 a). Darauf folgen eine ethische Anwendung (man solle sich um religiöse Freude bemühen) und ein diskreter Hinweis auf die eschatologische Zukunft. In ähnlichen Abschnitten wird gesagt, David sei eine personale Zusammenfassung, ein Typus Israels. Es sei daher gleichwertig, wenn die „Versammlungsgemeinschaft Israels" einen Psalm spreche, wie wenn David selbst ihn spreche (PesR 36,1 f; MTeh 4,1). David sei ein brüderlicher Lehrer der Gemeinde (sibbür) und ein unerbittlicher Zurechtweiser des jüdischen Volkes {cam) (bSot 40a). Er sei sich seiner engen spirituellen Verbindung zur (rabbinischen) Gemeinde bewußt gewesen. Er habe z.B. so gebetet: „Herr der Welt, wenn ich betend vor dir stehe, möge dir mein Gebet nicht verächtlich sein, denn die Augen Israels hängen an mir und meine Augen hängen an dir. Wenn du mein Gebet erhörst, dann ist es, wie wenn du ihr Gebet erhörst" (MTeh 25,5). Auch die halachische Verbundenheit Davids mit der jüdischen Gemeinschaft wurde von den Rabbinen hervorgehoben. Sie schilderten ihn als Muster eines observanten rabbinischen Juden, der auch auf die Erfüllung kleinster ritueller Vorschriften achtete (MTeh 35,2; bMak 10a). Schon als junger Mann sei er im Midraschhaus gesessen, zuerst als Schüler, später als Vorsitzender des Gremiums. Dabei habe er sich durch äußere und innere Bescheidenheit ausgezeichnet: „So wie er in seiner Kleinheit für sich selbst bescheiden war, so war er es auch dem gegenüber, der in der Torakenntnis größer war" (bMeg I I a ; vgl. b M Q 16 b). Er habe einen Teil des Tischsegens eingeführt (bBer 48 b) und die 24 Priesterwachen für den Tempeldienst festgelegt (bTaan 2 7 a ; MTeh 1,1). Ferner habe er halachische Entscheidungen gefällt, z.B. darüber, wer zum Volk Gottes gehöre und wer nicht (bYev 7 8 b - 7 9 a ) . Täglich habe er sich ins Studium der Tora vertieft. An einem Pfingstsabbat sei er sanft gestorben, als er gerade die Tora-Lektüre unterbrach, um nachzuschauen, woher liebliche Musik an sein Ohr dringe (bShab 3 0 a - b ; RuthR 1,17). - Alle diese Schilderungen sollten rabbinisch gestimmte Menschen dazu bewegen, in David einen „Leuchtturm" für die eigene gesetzeskonforme Lebensgestaltung zu finden. 2. Schicksale und Taten Davids als exemplarischer dischen Vertrauens

Ausdruck jüdischer Identität und jü-

Keine Gestalt wird in der hebräischen Bibel so vielschichtig geschildert wie David. Die rabbinischen Autoritäten nützten alles für ethische und weltanschauliche Untermalungen aus (Rosner). Am brauchbarsten für Unterweisung und Stärkung der Schüler und Anhänger erwiesen sich Davids Verstrickungen in Schuld, seine Reue, die ihm gewährte Verzeihung, Diskussionen über die schöpfungs- und offenbarungsgeschichtliche Position Davids und die mit David in Zusammenhang gebrachten jüdischen Zukunftshoffnungen.

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David II

2.1. Schuld, Reue, Verzeihung. Am häufigsten werden die Sünde Davids mit der Frau des Hethiters Urija, Batscheba, und die damit zusammenhängende Ermordung Urijas diskutiert (II Sam 11). Daneben werden als Sünden erwogen: Davids Volkszählung (I Chr 21), sein Verfluchen der Feinde und Sauls (Ps 18,1), seine zu unverbindliche Charakterisierung der Tora als (bloßen) „ G e s a n g " (Ps 119,54) und seine zu weiche Erziehung seines Sohnes Absalom (II Sam 13 — 15). Folgende Schlüsse werden draus gezogen: David sei vor allem für die Sünde mit Batscheba mit schwerem (16-fachem) Leid bestraft worden (MTeh 3,4; bSan 107a—b). Er habe so vorbildhaft „Umkehr getan", daß er eine H o f f n u n g und ein Fürbitter für jeden sündigen Israeliten geworden sei (MTeh 40,2; 51,1; 51,3). Gott habe ihm (wie auch dem Mose) die Sünde nicht aufgrund von Werken verziehen, obwohl David Werke vorzuweisen gehabt hätte, sondern „ganz u m s o n s t " , bzw. aus reiner Gnade (hinam) (Sif Dev 26). Die Verzeihung der Sünden Davids sei zur Zeit der Regierung Salomos „ d e m ganzen Volk und ganz Israel" offenbar geworden (bShab 3 0 a ; M T e h 7,6). David habe aus seinen Sünden hohe, f ü r die Juden allgemein geltende Ethik gelernt: Gott lasse jeden Überheblichen jämmerlich „ a n einer Sache straucheln, die sogar Schulkinder kennen" (bBer 6 2 b ) . Sexuelle Vergehen mit einer zweifelhaft verheirateten Frau seien weniger schwer als die öffentliche Beschämung eines Gefährten (bBN 59 a). M a n dürfe Feinde nicht verfluchen, sonst falle der Fluch auf den Verfluchenden zurück (bSan 48 b). 2.2. Schöpfungs- und offenbarungsgeschichtlicher Rang. Nach rabbinischer Halacha ist Jude, wer eine jüdische Mutter h a t oder zum Judentum übergetreten ist (mQid 4,7 u. ö.). D a die Urgroßmutter Davids, Ruth, eine Moabiterin gewesen war, versuchten engmaschige Gesetzesausleger David daraus einen halachischen Makel anzuhängen. Die Diskussion darüber wurde jedoch gegen sie entschieden (mYev 8,3; bYev 76b—77a). Um jede gesetzliche Diskriminierung Davids zu unterbinden, wurde Ruth von der Mehrheit der Rabbinen mit hoher Wertschätzung bedacht (bBer 7 b ) . Außerdem wurden Abstammungstheologien entworfen: David stamme von der Moseschwester Miryam ab (SifDev 78; bSot 11 b). Er sei bereits von A d a m geschaut und ersehnt worden (Yalq 1,41; T a n Cod. Vat.Ebr 34,1,32; b S a n 3 8 b; M T e h 4,9; 82,10). Darüber hinaus w u r d e David zu einem schöpfungstheologischen und offenbarungsgeschichtlichen Archetypen erhoben: „Die Welt wurde nur um Davids willen erschaf-, f e n " (bSan 98 b). Das irdische Ansehen und Wohlergehen der Israeliten hängt von David ab. W ä r e er nicht dauernder Fürbitter, wären alle Israeliten n u r „Verkäufer von M ü l l " (bSot 4 9 a ) . Durch sein Gebet habe er die Naturgewalten gezähmt (bHag 12b). O b w o h l sich David selbst nur als „Tagelöhner" (sakkir) Gottes eingeschätzt habe (MTeh 25,1), sei er für alle Zeiten der „ H a u s s o h n " (ben bayit) Gottes, den Israel zu beachten habe (MTeh 24,2; 25,5). O b w o h l er der jüngste Sohn Isais gewesen sei, habe ihn G o t t zum Erstgeborenen (b e khör), d.h. zum Herrscher in dieser und in der kommenden Welt gemacht (MTeh 5,4; PesR 34,8). 2.3. Hoffnungen auf die Endzukunft. Die Rabbinen deuteten David als Propheten (bSot 48 b) und damit hauptsächlich als Visionär endzeitlicher Drangsale und Heilsgeschehnisse (MTeh 3,7). Sie stellten sich ferner - mit den meisten jüdischen Gruppen aller Zeiten vor, der endzeitliche „König Messias", bzw. „Sohn Davids", habe in David seine bedeutsamste Präfiguration. Allerdings wird das Verhältnis zwischen David und der (bzw. den) endzeitlichen Repräsentations- und Heilsgestalt(en) nicht eindeutig umschrieben. Es reicht von Fremdheit bis zur vertraulichen Nähe, ja beinahe Identifikation. Gewöhnlich wird die davidische Messiasgestalt nicht mit bestimmten Charakteristika umschrieben. W o Beziehungen zwischen David und Messias ausgedrückt werden, heißt es etwa, der Messias sei „ein anderer David{'aher)". Er verhalte sich zu David wie der Kaiser zum Vizekaiser (bSan 98 b). Vom Messias als dem David redivivus kann n u r beschränkt gesprochen werden: Im Anschluß an Deutungen von H o s 3,5 („Danach werden die Söhne Israels umkehren, und sie werden den Herrn, ihren Gott suchen, und David, ihren König") entwickelte sich die esoterisch-messianische Auffassung, die David-Dynastie bestehe trotz ihres äußeren Verschwindens hintergründig weiter. Sie sei nur „ a b w e s e n d " (MTeh 24,2 zu Ps 24,1). Gott wolle, d a ß man vorwärts schaue zu David, „der König sein wird bis zum Ende der Geschlechter" (BerR

David III

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8 8 , 7 ) . In der Neumondsliturgie wird seit alters dreimal gerufen: „ D a v i d , der König von Israel, lebt und besteht". Wie der M o n d auch dann weiter bestehe, wenn er unsichtbar sei, so bestehe das H a u s Davids weiter und werde wieder sichtbar werden ( P R E 5 1 , 1 2 3 a; Elbogen 1 2 2 — 1 2 6 ; Scholem, Idea). Die im Achtzehngebet begegnende Bitte um baldige Verwirklichung der Herrschaft Davids wurde in der rabbinischen Gebetstradition nicht nur messianisch verstanden, sondern auch als Ausdruck der Sehnsucht nach vormessianischem Durchschimmern einer vom Geiste Davids geprägten Lebensordnung (vgl. I. B i c k e r m a n n : H T h R 55 [1962] 1 6 3 - 1 8 5 . Quellen Da alle jüd. Gruppierungen der nachbibl. Zeit der bibl. Davids-Gestalt je eigene Aktualisierungen gaben, sind die Quellen zahlreich (—»Judentum). Hier werden nur primärliterarische Abschnitte aufgezählt, in denen David besonders dicht vorkommt. Frühjudentum: Sir 4 7 , 1 - 2 2 ; PsSal 17; 18; Weish 7 - 9 ; 5 syr.-apokr. Pss; 4QFlor; l l Q P s a ; Josephus, Ant VI,156-VII,394; LibAnt 5 9 - 6 3 . Rabbinisches Judentum: Zusammenstellungen in: Chayim N. Bialik/J.H. Rawnitzki (ed.), Sefer ha-'aggada, Tel Aviv 1960, 8 8 - 9 2 . - Louis Ginzberg, The Legends of theJews.Philadelphia, IV 7 1 9 6 8 , 8 1 - 1 2 1 , VI 5 1968, 2 4 5 - 2 7 6 . - Am häufigsten kommt David vor im MTeh (ed. S. Buber, Wilna 1892). Sonstige traditionelle jüd. Literaturzusammenstellungen in: Miqra'öt ged61öt zu I/II Sam, I/II Reg,I/II Chr und Ps.Übersichten überDavid in den versch. jüd. Liturgien und in den esoterischen Literaturen gibt es nicht. Literatur Klaus Berger, Die königl. Messiastraditionen des NT: NTS 20 (1973/74) 1 - 4 4 . - Ismar Elbogen, Der jüd. Gottesdienst in seiner gesch. Entwicklung, Frankfurt M931 (Nachdr. Hildesheim 1967). - M . Guttmann, Art. David in der Agada: EJ(D) 5 (1930) 8 2 6 - 8 3 3 . - Brian M. Nolan, The Royal Son of God. The Christology of Mt 1 - 2 in the Setting of the Gospel: OBO 23 (1979) 158 - 1 6 9 . - Louis I. Rabinowitz, Art. David in the Liturgy: EJ 5 (1971) 1 3 2 9 - 1 3 3 1 . - A r t . David ba-Talmud, ba-Midras uba mesoret ha-camamit: Encycl. Hebr. 12 (Jerusalem 1969) 69 - 71. - Ahraham Rosner, Davids Leben u. Charakter nach Talmud u. Midrasch, Bern 1907. — Gerschorri Scholem, The Messianic Idea in Judaism, New York 1971. - Ders., Art David in Kabbalah: EJ 5 (1971) 1331.-Elieser Steinmann, B " er ha-Talmud, 4 Bde., Tel Aviv 1 9 6 5 - 1 9 6 7 . - Israel M. Ta-Schma, Art. David in the Aggadah: EJ 5 (1971) 1 3 2 6 - 1 3 2 9 . - M. Tuchner, David ba-Sifrüt, ha-hadasah: Encycl. Hebr. 12 (1969) 72f. Clemens T h o m a III. Neues T e s t a m e n t David wird im Neuen T e s t a m e n t 5 9 m a l genannt, v o r allem in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte. Als historische Gestalt wird er Act 2 , 2 5 . 2 9 ff u.ö. erwähnt, als A u t o r von Psalmen R o m 4 , 6 ; 1 1 , 9 ; H e b r 4 , 7 ; 1 1 , 3 2 . D e r Verfasser des Matthäusevangeliums greift die Ineinssetzung von David/Bethlehemund Messiastradition auf, indem er M i 5 , 1 in diesem Sinn interpretiert ( M t 2 , 1 — 1 2 , bes. 5 f; vgl. Füller 1 6 3 ) , um zu beweisen, d a ß Jesus der Messias war. Auch Lk 2 , 4 . 1 1 ist Bethlehem, die „Stadt D a v i d s " (vgl. I S a m 1 6 , 1 — 1 3 ) , der Geburtsort Jesu (vgl. insgesamt H a h n 2 6 8 ff). Die Geschlechtsregister Jesu ( M t 1 , 1 — 1 6 ; Lk 3 , 2 3 — 3 8 ) weisen Jesus als Davididen aus. Auch die frühen Schichten des Johannesevangeliums kennen diese T r a d i t i o n (Joh 7 , 4 0 - 4 2 ) . O b Jesus in genealogischem Sinne tatsächlich als Davidide bezeichnet werden darf, ist u m stritten (zur Diskussion vgl. Burger 9 — 1 5 ) . N e b e n diesen Bezügen auf die Davidtradition tritt der christologische Titel „Davidss o h n " (bzw. „Wurzel, S p r o ß , Z w e i g , N a c h k o m m e D a v i d s " ) verschiedentlich im Neuen T e stament auf (—»Jesus Christus; s. M t 9 , 2 7 ; 1 2 , 2 3 ; M k 1 0 , 4 7 f p a r . u . ö . ; vgl. Kee 1 2 5 ) . D e r Titel w a r gleichbedeutend mit „ M e s s i a s " und bezeichnete g e m ä ß seiner Verwendung im Alten T e s t a m e n t (II S a m 7 , 1 2 ; J e s 1 1 , 1 ; J e r 2 3 , 5 ) und in außerbiblischen Quellen (PsSal 1 7 , 2 1 - 2 5 ; zu Q u m r a n vgl. Kee 1 2 6 ) eine königlich-politische bzw. militärische Gestalt. D e r Titel spielte in der frühen Gemeinde eine Rolle (Joh 7 , 4 2 ; R o m 1 , 3 ; II T i m 2 , 8 ; A p k 5 , 5 ; 2 2 , 1 6 ; vgl. Füller 1 6 3 ; H a h n 2 5 1 ff). Im Matthäusevangelium führen ihn stets andere als J e sus oder die Jünger im M u n d . Kritik an dem Titel entstand früh ( M k 1 2 , 3 5 ff par. M t 2 2 , 4 1 f f / L k 2 0 , 4 1 ff), u m das M i ß v e r s t ä n d n i s Jesu als einer militärisch-revolutionären G e stalt auszuschließen und seine eschatologische Bedeutung als G o t t e s s o h n hervorzuheben (Kingsbury 9 9 - 1 0 3 ; H a h n 2 6 5 f ; s. auch Fitzmyer 7 8 4 - 7 8 6 ) .

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David von Augsburg

David als vorbildlicher Frommer, dem es nachzueifern gilt, wird im Neuen Testament Lk 1,69; Act 4 , 2 5 ; 7,45 f; 1 3 , 2 2 ; Hebr 11,32 erwähnt. Act 2 , 2 5 - 2 8 wird Ps 16, der David zugeschrieben wird, zitiert und im Folgenden ( V . 2 9 - 3 1 ) auf den Messias bezogen: da David gestorben und begraben worden ist, spricht Ps 1 6 , 1 0 in Wirklichkeit von der Auferstehung des Messias. Auch Ps 110,1 wird prophetisch ausgelegt (V.34): auch hier spricht David nicht über sich selbst, sondern über die Erhöhung des Messias; denn David ist nicht zum Himmel aufgefahren. M k 2 , 2 3 - 2 8 par. M t 1 2 , 1 - 8 / L k 6 , 1 - 5 verteidigt Jesus das Ährenraufen seiner Jünger am Sabbat, wobei er auf I Sam 21,2—7 zurückgreift (der Priester Ahimelech gibt David und seinen Leuten Schaubrote zu essen, obwohl nur Priester sie essen dürfen). Literatur Christoph Burger, Jesus als Davidssohn, 1 9 7 0 (FRLANT 98). - Joseph Fitzmyer, Die Davidssohn-Uberlieferung u. Mt 2 2 , 4 1 - 4 6 (u. die Parallelstellen): Conc(D) 2 (1966) 7 8 0 - 7 8 6 . - Reginald Füller, The Foundations of N T Christology, New York 1 9 6 5 , 1 6 2 - 1 6 4 . - Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel, " 1 9 7 4 (FRLANT 8 3 ) 2 4 2 - 2 7 9 . - Howard Kee, Community of the New Age, Philadelphia 1 9 7 7 , 1 2 4 - 1 2 9 . - Jack Kingsbury, Matthew. Structure, Christology, Kingdom, Philadelphia 1 9 7 5 , 9 9 - 1 0 3 . - Eduard Lohse, Art. viögAaviö: T h W N T 8 ( 1 9 6 9 ) 4 8 2 - 4 9 2 . - Alfred Suhl, Der Davidssohn im Matthäus-Evangelium: Z N W 5 9 ( 1 9 6 8 ) 5 8 - 8 1 .

Lawrence A.Sinclair David von Augsburg (um 1.

1200/1210-1272)

Leben

Der wohl aus Augsburgstammende—»Franziskaner soll um 1 2 4 0 Novizenmei Sterin Regensburg gewesen sein. Dort sind 1 2 4 6 er und —»Berthold von Regensburg als päpstliche Visitatoren zweier Kanonissenstifte bezeugt. Irgendwann nach Augsburg zurückgekehrt, wo er 1272 starb, blieb David mit Berthold als dessen zeitweiliger Reisebegleiter verbunden. Wie weit er auch eigene Predigtreisen unternahm, ist ungewiß. Falls er Verfasser eines Inquisitionstraktates gegen die Waldenser ist (s.u. Abschn. 2.1.3), war er wohl bei Verhören zugegen. 2.

Werk

2.1.1. Davids Hauptwerk De exterioris et interioris hominis compositione . . . folgt in seinen drei Büchern (I: Formula de compositione hominis exterioris ad novicios; \\:Formula de interioris hominis reformatione ad proficientes; III: De Septem processibus religiosorum) ausdrücklich (11,4) der Stufenordnung der Epistola ad fratres de Monte Dei des —»Wilhelm von St.Thierry (PL 1 8 4 , 3 0 7 - 3 6 4 ) , die David dem —»Bernhard von Clairvaux zuschreibt und neben —»Gregor I. besonders häufig zitiert: status incipientium = animalis, proficientium = rationalis, perfectorum = spiritualis. David sieht in der compositio [Ordnung] des „äußeren Menschen", was für Ordensnovizen besonders wichtig zu lernen ist, worin sich aber auch fortgeschrittene Ordensleute immer üben müssen: klösterliche Regel, Disziplin und Haltung als äußere Kundgabe, Form und Stütze innerer Werte. Schon der eigentliche Novizentraktat (Comp. I) öffnet sich, besonders in seinem zweiten Teil (c.27—41), den Perspektiven des „Fortschreitens" (profectus) und der Verinnerlichung, welche dann Comp. II beherrschen: Im Kampf mit den Lastern und der Einübung der Tugenden werden des Menschen ursprüngliche Unschuld und Gottähnlichkeit wiederhergestellt (11,5—9: fortschreitende interior reformatio der drei Seelenkräfte ratio, voluntas und memoria als imago Trinitatis [—»Augustin]). Vergegenwärtigt man sich schließlich (Comp. III), wie das ganze geistliche Leben auf seine Vollendung hin zu ordnen ist, so ist der Umgang mit den Tugenden (c. 2 7 - 5 1 ) zwar die höchste und entscheidende Ubungsstufe (der sechsteprocessas) auf dem Weg zur Vollkommenheit. Diese selbst zu erreichen (c. 52—70: Processus septimus, qui in sapientia consistit), bleibt uns nur —»das Gebet, das in seiner innerlichsten Weise uns so der göttlichen Gegenwart und Wirksamkeit öffnet, daß wir über uns selbst hinausschreiten, übt

David von Augsburg

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omnes vires animae et potentiae ... in quandam divinae conformitatis et aeternae stabilitatis similitudinem transformantur [wo alle Kräfte und Vermögen der Seele . . . zu einer gewissen Ähnlichkeit göttlicher Gleichgestalt und ewiger Beständigkeit umgeformt werden] (11,62,2). Als „Einigung" mit Gott (63,8: Bezug auf I Kor 6,17) und contemplationis excessus (64,1) ist —»Mystik im eigentlichen Sinne hier ein Eingehen in die Vollkommenheit, das sich in der Praxis nie von den Stufen zur Vollkommenheit, d.h. der—»Askese, trennen läßt. Die mystische Kontemplation, deren Begleiterscheinungen (Visionen, „Trunkenheit des Geistes" u. a.) eher zurückhaltend erörtert werden, wird denen, die ihr ganzes geistliches Leben auf sie hin orientieren, doch nur in besonders begnadeten Augenblicken zuteil. 2.1.2. Als Novizenmeister begegnet uns David auch in zwei kurzen Traktaten und in drei Begleitschreiben zu seinem Hauptwerk. In dessen Nähe stehen eine kurze Zusammenfassung von Comp. III, 53 f. 57 sowie ein Traktat, der die dort unterschiedenen drei Weisen des Gebetes in selbständiger Weise zu sieben Stufen entfaltet, indem er die eigentlich kontemplativen Gebetsweisen (vierte bis sechste Stufe; darüber noch die Gottesschau nach I Kor 13,12; I Joh 3,2; II Kor 12,2—4) ausdrücklicher abstuft als Comp. 111,63. Davids Erklärung der Ordensregel von 1223 ist von Lempp nur unvollständig herausgegeben. 2.1.3. Wie bei einzelnen dieser Opuscula ist auch bei einem Tractatus de haereticorum die Zuschreibung an David umstritten.

inquisitione

2.2. Eine beträchtliche Zahl von deutschen Texten, meistens in handschriftlichen Gruppierungen oder Sammlungen begegnend, teilweise von hohem geistlichen und literarischen Rang, zeigt, daß auch in Deutschland das „anhebende Schrifttum des Ordens" sich „gleich neben dem Latein, volkssprachlich äußerte" (Ruh 47), und läßt David in der Mitte eines Wirkungsbereiches erkennen, in dem man zwischen seinen eigenen deutschen Schriften und solchen seines Kreises weniger dem Inhalt als dem Uberlieferungsstand und der Ausdrucksweise (Satzrhythmus u.a.) nach zu unterscheiden versucht (womit freilich besonders verschiedenen Kleintexten [Gebeten, Fragmenten] nicht sicher beizukommen ist). Die Forschung ist sich heute weitgehend einig, daß David selbst am ehesten folgende Texte zuzuschreiben sind: 1/2. die beiden ersten Traktate bei Pfeiffer, Mystiker (Die sieben Vorregeln der Tugend und Der Spiegel der Tugend); 3. ebd. Traktat III und ders.: ZDA 9 (Von der Offenbarung und Erlösung des Menschengeschlechts); 4. Die sieben Staffeln des Gebetes nach Ruh 55 in der von ihm herausgegebenen deutschen Version ebenso authentisch wie die lateinische (s.o. Abschn. 2.1.2); 5. Pater noster; 6. Ave Maria. 3.

Nachwirkung

Von den bekannten Handschriften enthalten ca. 88 Comp. I—III, mehr als 280 Teile davon, weitere Ubersetzungen und Bearbeitungen davon, besonders deutsche und niederländische. Florentius Radewijns (gest. 1400), Gerhard Zerbolt (gest. 1398), Johannes Mauburnus (gest. ca. 1510) und andere Vertreter der—»Devotio moderna empfahlen den Profectus (Comp. I—III) oder das Speculum monachorum (Comp.I) und übernahmen vieles daraus in eigene Schriften. Auch bei Franziskanerobservanten wie Bernhardin von Siena (gest. 1444), bei Kartäusern und, im Bereich der benediktinischen Reform, bei Johannes von Kastl (um 1400) fand das Werk Anklang. Zu den Druckausgaben s. G K W I V , 1930, N r . 4 6 4 4 - 4 6 4 9 ; VII, 1938, Nr. 8 1 6 1 - 8 1 6 9 , und Quaracchi-Ausgabe X V I I I - X X . Davids deutsche Schriften, als solche weniger verbreitet, dienten als Muster für ähnliche Texte und mit diesen zusammen als Bausteine für allerlei Sammlungen und Bearbeitungen. Quellen Zu2.1.:Fr. David ab Augusta O. F. M., De exterioris et interioris hominis compositione secundum triplicem statum incipientium, proficientium et perfectorum libri tres. Ed. a PP. Collegii S. Bonaventurae, Quaracchi 1 8 9 9 (enthält auch 2 der 3 Begleitschreiben). - D e officio magistri noviciorum; Qualiter novicius se praeparet ad h o r a m ; De oratione; Expositio regulae, hg. v. Eduard Lempp: Z K G 1 9 ( 1 8 9 9 ) 3 4 0 - 3 5 9 . - Jacques Heerinckx, Le „Septem gradusorationis" de David d'Augsbourg: R A M 1 4 ( 1 9 3 3 ) 1 4 6 - 1 7 0 . - Wilhelm Preger, Der T r a c t a t des David v. Augsburg über die Waldesier: A H K B A W 1 4 / 2 (1878) 1 8 1 - 2 3 5 .

Dehn

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Zu 2.2.: Dt. Mystiker des 14. Jh., hg. v. Franz Pfeiffer, Leipzig, I 1845 = Göttingen 1907, 3 0 9 - 3 9 7 . 4 9 8 - 5 6 7 (7 Traktate, 12 kurze Betrachtungen u. Gebete u. eine wohl nicht David selbst zuzuschreibende dt. Version v.Septemgradus fs.o. zu 2.11). - David v. Augsburg, Die sieben Staffeln des Gebetes, hg. v. Kurt Ruh, München 1965 (Kleine dt. Prosadenkmäler des MA 1 ) (s. o. 398,31 ). - Franz Pfeiffer, Bruder David v. Augsburg I: ZDA 9 (1853) 1 - 5 5 (Erg. s. Dt. Mystiker 3 4 1 - 4 4 8 ) . -Francis Mary Schwab, David of Augsburg's paternoster' and the authenticity of his German works, München 1971 (Münchener Texte u. Unters, zur dt. Lit. des MA 32) (Textausg.: 8 8 - 1 2 2 ) . - Kurt Ruh, Franziskanisches Schrifttum im dt. MA, II, im Druck (enthält Textausg. v. Ave Maria). Zu 3.: Tage Ahldén, Nonnenspiegel u. Mönchsvorschriften. Mittelniederdt. Lebensregeln der Danziger Birgittinerkonvente, 1952 (AUG 1952/2) ( 1 9 5 - 2 3 7 : Textausg. einer lat.-niederdt. Bearb. von Comp. 1 , 1 - 2 4 für Nonnen). Literatur André Rayez, Art. David d'Augsbourg: DSp 3 (1957) 4 2 - 4 4 (Lit.). - Kurt Ruh, Art. David von Augsburg: VerLex 2 2 (1980) 47—58 (verzeichnet die Lit. am vollständigsten; vgl. auch Schwab [s.o. Quellen, Abschn. 2.2], 214—220). —Dagobert Stöckerl, Bruder David v. Augsburg. Ein dt. Mystiker aus dem Franziskanerorden, München 1914.

Martin Anton Schmidt De Vio, Tommaso

—»Cajetan

Debora/Deboralied —»Geschichte Israels Debrecen —»Ungarn Dehn, Günther

(1882-1970)

Dehn entstammte einer bürgerlichen, nicht sehr kirchlichen Beamtenfamilie. Der nach dem Lebenssinn suchende Student der Germanistik und Geschichte empfing durch gemeinsames Bibellesen mit einem Theologen wichtige Anstöße, die ihn zu einer Art Bekehrung und im 4. Semester zur Theologie führten, für die die Lektüre —»Kierkegaards und die biblische Botschaft selbst bestimmender wurden als bedeutende akademische Lehrer. Als Berliner Domkandidat und Inspektor stieß er auf Christoph —»Blumhardt, Heinrich Lhotzky und den Schweizer religiösen —»Sozialismus, was sein kirchliches Arbeitsverständnis formte. 1911 wurde er Pfarrer an der Reformationsgemeinde im Arbeiterviertel Berlin-Moabit. Wie sein Mitkandidat Friedrich Siegmund-Schultze war er um das Verhältnis der sozialistischen Arbeiterschaft zur Kirche bemüht und betätigte sich in der Jugendarbeit. Nach der Revolution begründete er 1919 nach Schweizer Vorbild einen „Bund sozialistischer Kirchenfreunde", wurde aber durch Karl —»Barths Tambacher Vortrag grundsätzlich gegen jedes Bindestrich-Christentum bestimmt. So blieben seine Mitarbeit am —» Evangelisch-Sozialen Kongreß 1920 und seine Mitgliedschaft in der SPD 1 9 2 0 - 1 9 2 2 Episode. Im „Bund der religiösen Sozialisten" war er, nach Kontroversen mit Erwin Eckert und Leonhard —» Ragaz 1924, ein kritischer Mitarbeiter, für den Gottes Wort und die durch dieses bestimmte Kirche jenseits aller soziologischen Bindungen liegt, aber gerade dadurch eine vorurteilsfreie, realistische Sicht des Menschen und der Gesellschaft bedingt. Der weltanschaulich weniger geprägte Neuwerkkreis war ihm am ehesten gemäß. Ein Vortrag in Magdeburg am 6. November 1928 im Schatten des Young-Plan-Volksbegehrens mit kritischen Bemerkungen zur religiösen Weihe des Krieges und des Gefallenen-' gedächtnisses, zugleich betonter Pflicht der Kirche zur Völkerversöhnung brachte ihn ins deutschnationale Schußfeld und trug ihm sogar eine formale Mißbilligung seines Konsistoriums ein. Anläßlich seiner Berufung nach —»Heidelberg im Dezember 1930 wurde die Pressekampagne gegen den angeblichen „Pazifisten" erneuert, was ihn zum Verzicht nötigte. Die Berufung nach —»Halle zum November 1931 gedieh durch organisierten studentischen Terror und später, nach Abrücken von Fakultät und Senat, durch Boykott zum „Fall Dehn", der nach dem Staatsstreich in Preußen 1932 eine Beurlaubung und 1933 die Entfernung aus dem Staatsdienst zeitigte.

Dehn

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Selbst in der Bekennenden Kirche begegnete er vielen Vorbehalten. Als Dozent der Theologischen Schule Berlin wurde er im Sondergerichtsprozeß vom Dezember 1 9 4 1 zu einem Jahr Gefängnis und Pensionsentzug verurteilt. Durch Bischof W u r m fand er als Pfarrverweser in Ravensburg Verwendung. 5

Der Restitution in Berlin kam 1 9 4 5 der Ruf nach -n>Bonn zuvor, w o er 1 9 4 6 - 1 9 5 2 die Praktische Theologie, auch mit praktischer Auslegung des Neuen Testamentes, wirkungsvoll vertrat. Im rheinischen Pastoralkolleg und durch maßgebliche Mitarbeit am Evangelischen Katechismus ( 1 9 6 0 ) der Landeskirche gewann er weitere Resonanz.

Mit seinen frühen Arbeiten, zum guten Teile fußend auf Erhebungen im Berliner Schulio und Berufsschulbereich, ist Dehn ein Pionier empirischer Religionssoziologie in Deutschland, was die Ehrenpromotion von Münster 1 9 2 6 anerkannte. Seine Bibelauslegungen, besonders seine Predigtmeditationen gehören zu den eindrücklichsten Beispielen einer der „Theologie des W o r t e s " verpflichteten reinen Textpredigt. Seine eigentliche Domäne w a r die Katechetik, die er nicht von der religiösen Erziehung isolierte. Am stärksten hat sich in 15 seiner Disziplin behauptet sein Buch über die Amtshandlungen ( 1 9 5 0 ) wegen der ihm eigenen großartigen Nüchternheit und Sachlichkeit. Nicht ein wirkungsvolles Lebenswerk, vielmehr die bemerkenswerte Klarheit seiner theologischen und kirchlichen Existenz und die erstaunliche Hellsicht gegenüber seiner Zeit, ihren Erbschaften und Bewegungen, haben ihn der kirchlichen Zeitgeschichte bereits zu ei20 ner Symbolfigur werden lassen, in dessen „ F a l l " die Sache des Kirchenkampfes gewissermaßen vorweggenommen wurde.

Quellen Bibliographie:

Henning Theurich, Bibliographie Günther Dehn: ThLZ 97 (1972) 3 9 1 - 3 9 7 [145 Titel],

Autobiographien: Hsl. (1965): Album Professorum der Ev.-Theol. Fak. Bonn [im Dekanat] II, 25 3 6 - 4 1 . - Die alte Zeit, die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen, München 1962 2 1964. - Die Personalakte befindet sich im Univ. Archiv Bonn.

30

35

40

45

Schriften: Proletarier-Jugend, Berlin-Lichterfelde 1912. - Großstadtjugend. Beobachtungen u. Erfahrungen aus der Welt der großstädtischen Arbeiterjugend, Berlin 1919 2 1922. - Das Problem der Arbeiterjugend, Sollstedt 1 9 2 0 . - D i e rel. Gedankenwelt der Proletarierjugend, Berlin 1923 3 1926. - Dies zusammenfassend u. weiterführend: Proletarische Jugend. Lebensgestaltung u. Gedankenwelt, Berlin 1929 3 1933. - I c h bin der Herr, dein Gott. Zwölf rel. Reden, Berlin 1924. - D e r Gottessohn. Eine Einf. in das Evangelium des Markus, Berlin 1929 "1934; neu u. d. T.: Jesus Christus, Gottes Sohn, Berlin 1940, 'Hamburg 1953. - Kirche u. Völkerversöhnung. Dokumente zum Halleschen Universitätskonflikt, Berlin 1931 2 1 9 3 2 . - G e s e t z oder Evangelium? Eine Einf. in den Galaterbrief, Berlin 1 9 3 4 3 1 9 3 8 . Man and Revelation, London 1936. - Engel u. Obrigkeit. Ein Beitr. zum Verständnis v. Rom 13,1-7, in: Theol. Aufs. FS Karl Barth, München 1936, 9 0 - 1 0 9 . - Meine Zeit steht in Deinen Händen. Bibl. Meditationen für alle Sonn- u. Feiertage des Kirchenjahres, Berlin 1937 2 1 9 3 8 . - Die zehn Gebote Gottes. Nach Luthers KIKat für Kinder erklärt, Göttingen 1 9 3 9 6 1 9 6 5 . - Mein Herz hält Dir vor Dein Wort. Bibl. Meditationen, Berlin 1940. - Unsere Predigt heute, Stuttgart 1946; auch 1946 (ThSt [B] 19); Nachdr. im Ausz.: Die Aufgabe der Predigt, hg. v. Gert Hummel, 1971 (WdF 234) 1 8 9 - 1 9 7 . - Die Amtshandlungen der Kirche, Stuttgart 1950. - Der christl. Glaube. Das apostolische Glaubensbekenntnis nach Luthers KIKat für Kinder erklärt, Göttingen 1953 3 1965. - Mit Ernst Wolf: Gottesrecht u. Menschenrecht, 1954 (TEH NF 42). - Urchristl. Gemeindeleben, dargestellt an den 7 Sendschreiben der Offenbarung Johannis, Witten 1954. - Vom christl. Leben. Auslegung des 12. u. 13. Kap. des Briefes an die Römer, Neukirchen 1954. - Jesus u. die Samariter. Eine Auslegung von Joh 4 , Neukirchen 1956. - D i e Welt vor 1914, Hamburg 1956. -Bleibe bei uns, Herr. Bibl. Meditationen, Hamburg 1959. - Mitarbeit in: Herr, tue meine Lippen auf. Hg. v. Georg Eichholz, 5 Bde., Wuppertal-Barmen 1 9 3 9 - 1 9 5 5 2 1 9 5 4 - 1 9 5 9 ) . - Mit-Hg. v. VF (1) 1940 (1941) - (4) 1947/48 (1949/50) Literatur

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Ernst Bizer, Der „Fall Dehn": FS für G. Dehn zum 75. Geburtstag, hg. v. Wilhelm Schneemelcher, Neukirchen 1957, 2 3 9 - 2 6 1 . - Renate Breipohl, Rel. Sozialismus u. bürgerliches Geschichtsbewußtsein z.Zt. der Weimarer Republik, Zürich 1971 (bes. 2 5 7 - 2 6 1 ) . - N i e l s Hasselmann, Predigthilfen u. Predigtvorbereitung Gütersloh 1977, 5 4 - 5 5 . - Prof. G. Dehn: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Univ. Chronik u. Bericht über das akademische Jahr 1969/70 (Bonn 1971) 2 1 - 2 4 . - Werner Prokoph, Die

Deismus

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politische Seite des „Falles Dehn": WZ(H).GS 16 (1967) 2 4 9 - 2 7 1 . - Hermann Sasse, Der Hallesche Universitätskonflikt: KJ 59 (1932) 7 7 - 1 1 3 . - Klaus Scholder, Die Kirchen im Dritten Reich, Frankfurt, I 1977 (bes. 2 1 6 - 2 2 4 ) (Lit.). - R e l . Sozialisten, hg. v. Arnold Pfeiffer, Olten/Freiburg 1976, 2 9 3 - 2 9 6 (Lit.). - Heinrich Vogel/Günther Härder, Aufgabe u. Weg der Kirchl. Hochschule Berlin 1 9 3 5 - 1 9 5 5 , Berlin 1956. - Antje Vollmer, Die Neuwerkbewegung 1 9 1 9 - 1 9 3 5 , Phil. Diss. Berlin 1973. J . F . Gerhard Goeters

Deismus 1. Begriff 2. Entstehung und Bedeutung einer deistischen Literatur in England im 17. und 18. Jh. 3. Nachwirkungen des englischen Deismus in Frankreich und Deutschland (Quellen/Literatur S. 404) 1.

Begriff

1.1. Allgemeine Bedeutung und historische Wurzeln.Das Phänomen Deismus ist schwerlich auf einen einheitlichen Begriff zu bringen. Soweit ein rationaler, aufs Moralische ausgerichteter monotheistischer Gottesglaube (—»Gott) für ihn charakteristisch ist, läßt sich der Deismus nicht einmal einem bestimmten einzelnen Zeitabschnitt der europäischen Geschichte zuordnen. Der neuzeitliche Deismus hat gewisse Parallelen schon in der antiken Philosophie, besonders der —»Stoa. Bereits in der Zeit des frühen Christentums kannten Kirchenväter wie —»Augustin diese religiöse Grundhaltung als theologia naturalis (vgl. De civ. Dei VI, 6 - 1 0 ) . Den Begriff der natürlichen Theologie übernahm Augustin von dem römischen Altertumsforscher Varro ( 1 1 6 - 2 7 v. Chr.), der mit ihm die philosophische Religionsart von der im Staatsinteresse stehenden theologia civilis und von der theologia mythica der Ungebildeten unterschied. Doch ist zu berücksichtigen, daß die Kirche zu allen Zeiten eine —»Natürliche Religion auch aus der Bibel selbst kannte (vgl. Rom 1,19 ff; 2,14f). In theologischen Summen der —»Scholastik konnte die Reichweite der grundsätzlich als wertvoll erachteten philosophischen Theologie erörtert werden. Berühmtes Beispiel dafür ist die erste Quaestio der Summa theologiae des -^»Thomas von Aquin. Von dem für deistisches Gedankengut aufgeschlossenen Orden der —»Freimaurer sagte Lessing, seine Idee sei so alt wie die bürgerliche Gesellschaft, ja, sie sei im Wesen des Menschen selbst begründet; die Freimaurerei habe nur nicht immer so geheißen (Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer, 1778/80, 1. Gespräch u. Schluß des 4. Gesprächs). Im Ubergang vom 19. zum 20. Jh. tauchten in der protestantischen —»Liberalen Theologie bei A. v. —»Harnack und E. —»Troeltsch deistische Elemente auf („undogmatisches Christentum", Kritik am christlichen „Absolutheitsanspruch" usw.). Auch in der Gegenwart sind deistische Traditionen noch virulent, z. B. bei dem in staatlichen Verfassungen verankerten Gottesbegriff sowie bei der religiös-humanistischen Grundlegung von Toleranz, Dialog, —»Menschenrechten, Grundwerten. Gleichwohl empfiehlt es sich, den Deismus, eingegrenzt, als ein spezifisch neuzeitliches Phänomen zu werten und zu beschreiben. Schließlich ist der Begriff erst in der Neuzeit geprägt worden. Im französischen Sprachraum ist um die Mitte des 16. Jh. wohl erstmals von „Deisten" (déistes) die Rede. Diese verstehen sich selbst als denkende, duldsame Verehrer des höchsten Wesens „deus"/ „ G o t t " ; ferner als Gegner einerseits aller Atheisten, andererseits aller intoleranten religiösen Eiferer. Dogmatisch gebundene kirchliche Kreise sehen freilich in diesen Deisten alsbald nur verkappte Atheisten, die ihren religiösen Indifferentismus und Libertinismus mit einem monotheistischen Lippenbekenntnis — der sonst zu erwartenden Verfolgung wegen — kaschierten. Der reformierte Theologe Pierre —»Viret schreibt in seiner Instruction Chrestienne (Genf 1564) an hervorgehobener und seit Ende des 17. Jh. oft zitierter Stelle (s. T R E 4 , 3 9 1 ) , unlängst habe er von einer „Bande" gehört, deren Selbstbezeichnung „Deisten" sei. Diese „Monstren" seien noch schlimmer als Türken und Juden, mit denen sie die Nichtanerkennung Jesu Christi als des lebendigen Sohnes Gottes und Erlösers teilen. Es gebe Deisten, die auch die Unsterblichkeit der -^»Seelen, andere, die die Vorsehung Gottes leugnen und sagen, Gott beteilige sich überhaupt nicht am „gouvernement des choses humaines". Viret beklagt, gerade hochgebildete Zeitgenossen seien dafür anfällig, sich mit dem Gift der deistischen Spielart des Atheismus zu infizieren (franz. Originaltext: Lechler VIII f; er wurde als Beweis kirchlichen Versagens dem Deismus gegenüber bereits abgedruckt bei P. —»Bayle, Art. Viret: ders., Dictionnaire Historique et Critique, 1 6 9 5 - 9 7 ) .

Deismus

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Formal kennzeichnend für den Deismus ist in der Sicht Virets die dogmatische Reduktion. Auch wird die Wiederkehr gewisser, von der Kirche längst als häretisch erkannter antiker, z.B. epikuräischer, Religionsauffassungen vermutet. Virets Wiedergabe der als erneut virulent betrachteten antiken Gottesbegriffe schließt offensichtlich an den Diskussionsstand in Ciceros De natura Deorum an. Virets Polemik enthält bereits die später üblich gewordene Charakterisierung des Deismus als einer Anschauung vom Schöpfergott (—»Schöpfer/Schöpfung), der in die von ihm einmal gemachte Welt nicht mehr eingreift. Besonders die Humanisten seien für diese Gedanken anfällig. Viret spricht als Mann der —»Reformation, der eine Entwicklung beklagt, in der das Deismusphänomen auf folgende Weise historisch verwurzelt ist: Schon vor der Reformation gab es bei den Humanisten der italienischen —>Renaissance (—»Humanismus) bestimmte, an platonischer und stoischer Philosophie orientierte Vorstellungen von einer bald zu verwirklichenden Religions- und Kirchenreform. Diese Vorstellungen, die eine spiritualistische (d. h. eine jedes sinnenfällige „Vehikel" des Glaubens und des Geistes verschmähende) Tendenz aufwiesen, waren dann freilich durch die biblischere und auch kirchlichere Reform, wie sie im 16. Jh. tatsächlich bewirkt wurde, blockiert und in den Untergrund gedrängt worden. Doch zeigt das Aufkommen der Deisten als einer gebildeten Minderheit in der zweiten Hälfte des 16. Jh., daß das Anliegen einer humanistischen Religionsreform mit stark ethischem Charakter und mit Geringschätzung von „Zeremonien", „Dogmen" und „Priesterkirche" weiterhin eine in der Tiefe der damaligen Ereignisse gärende, zur Aufklärung der Moderne vorwärtsdringende Kraft geblieben ist. Zusammenfassend läßt sich sagen: Der Deismus entstand in der zweiten Hälfte des 16. Jh. in von reformierter Theologie (Calvinismus) beeinflußten Gebieten als eine Neubelebung religiöser Reformideen des in der italienischen Renaissance des 15. Jh. verwurzelten Humanismus. Obwohl der Deismus auch einige kulturgeschichtlich irreversible Impulse der Reformation selbst in sich aufnahm, trat er doch in die neuere Geschichte ein als eine Gegenkraft gegen die von der Reformation hinterlassenen konfessionellen Streitigkeiten. Damit ist die These von Philipp, der die Renaissance als „die Mutter des Deismus" bezeichnete (71), zwar positiv aufgenommen, aber zugleich historisch und sachlich weitergeführt. 1.2. Deismus im Verhältnis zu Pantheismus und Theismus. „Man hat im 17. Jh. Deismus genannt, was wir heute Pantheismus nennen" (Scholz, Begriffsgesch. 320). Deismus und (rationaler) —»Pantheismus waren in der zweiten Hälfte des 17. Jh. kaum zu unterscheiden. —»Spinoza konnte wegen seiner rationalen „pantheistischen" Gottesauffassung Deist genannt werden; J. Toland (s. u. Abschn. 2.3.2), typischer englischer Deist, betitelte andererseits seine 1720 edierten Altersgedanken Pantheisticon. Seit dem letzten Drittel des 17. Jh. begegnet neben „Deismus/Deisten" auch das Begriffspaar „Theismus/Theisten" und wird mit ersterem längere Zeit promiscue gebraucht. Der Unterschied ist bloß ein philologischer. Das eine Mal liegt die lateinische, das andere Mal die griechische Gottesbezeichnung zugrunde. Doch in der zweiten Hälfte des 18. Jh. beginnen einige, „Deismus" und „Theismus" begrifflich zu unterscheiden. Nach D. Diderot ( 1 7 1 3 - 1 7 8 4 ) kann ein Theist heißen, wer grundsätzlich überzeugt ist von der Existenz Gottes, von der Realität eines moralisch Guten und eines moralisch Bösen, von der Unsterblichkeit der Seele und von den Strafen/Belohnungen im Jenseits. Was den Gedanken einer göttlichen Offenbarung betrifft, so will der Theist ihn weder leugnen noch bestätigen. Oder er entscheidet diese Frage je nach dem, welche Beweisgründe ihm dargeboten werden. Der Deist dagegen, der in Diderots Sicht mit dem Theisten nur in der Anerkennung der Existenz Gottes und der Realität eines moralisch Guten und Bösen übereinstimmt, leugnet die Offenbarung, die Unsterblichkeit der Seele und die jenseitigen Strafen/Belohnungen (Oeuvres complètes, hg. v. J. Assézat, Paris, I 1875, 479). - Diderots Unterscheidung hat jedoch am tatsächlichen, historischen Erscheinungsbild des Deismus, zumal in dessen klassischer Heimat England, keinen Anhalt. Hier gibt es im 17. und 18. Jh. viele Deisten, die jene Theologumena, die sie Diderot zufolge leugnen müßten, für begründbar hielten. - Kant unterscheidet folgendermaßen (Kritik der reinen Vernunft, 2 1 7 8 7 = 1968, B 6 5 9 - 6 6 1 ) : Der Deist gelangt durch gedankliche Schlußfolgerung auf dem Wege einer transzendentalen Theologie bis hin zum „Urwesen". Er faßt Gott beispielsweise als das alles Sein verursachende Sein. Für ihn ist die Wirklichkeit Gottes nur eine aus den

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Denkgesetzen heraus erschlossene. Gott steht ihm eigentlich außerhalb der Wirklichkeit. Der Theist dagegen sieht Gott im Zuge einer natürlichen Theologie in Analogie zum geistigen Wesen des Menschen. Für ihn ist Gott beispielsweise die höchste Intelligenz. Beide, Deist und Theist, schließen jedoch, nach Kant, eine Offenbarung aus: Sie schöpfen die Gotteserkenntnis aus der Vernunft. Der Theist freilich hat von der Analogie zur (menschlichen) Natur her eine gewisse Anschauung vom göttlichen Wesen, auf die der Deist vollkommen verzichten muß. Der Theist kann Gott etwa Verstand, Freiheit und das Garantieren der natürlichen und sittlichen Weltordnung zuschreiben. Diese Überlegungen führen Kant zu der bekannten These, „der Deist glaube einen Gott, der Theist aber einen lebendigen Gott".

Auch Kants Klassifizierung trifft den Deismus, wie er zuvor ein Jahrhundert lang in England sich entwickelte, kaum. Denn dort stand die transzendental-ontologische Frage nach dem Grund des Seins durchaus nicht im Vordergrund. Es ließe sich wohl zeigen, daß Kant seine Deismusdefinition dadurch gewonnen hat, daß er sie im Anschluß an das viel zu einseitige Bild vom Deismus aufbaute, dem zufolge der Gott der Deisten einem Uhrmacher vergleichbar wäre, der, nachdem er die „Weltenuhr" einmal gemacht und angestoßen hat, nie mehr in sein von nun an selbstlaufendes Produkt eingreift. Merkwürdigerweise bezeichnet dieses Bild aber keineswegs den in der Geschichte des Deismus hervorgetretenen Kerngedanken, wie folgende Zusammenstellung von 16 immer wiederkehrenden, wesentlichen Merkmalen des Deismus zeigen kann. 1.3. Regelmäßig wiederkehrende Motive des Deismus sind 1) die Zurückweisung des Absolutheitsanspruchs einer—»Religion/—»Konfession/Denomination; infolgedessen 2) die Förderung und die Forderung der religiösen Toleranz/Gewissensfreiheit und insbesondere 3) die Behauptung der Gleichwertigkeit echter —»Frömmigkeit in Judentum, Christentum und Islam. Diese Behauptung wird abgesichert vor allem durch 4) die mehr oder weniger gelehrte Ausarbeitung eines Religionsvergleichs. Auch hat besagte Behauptung zum Hintergrund 5) das Gefühl, es existiere eine verborgene Gemeinschaft vernünftiger Gottesverehrer aller Zeiten und aller Länder (zu dieser Gemeinschaft können schon die vor dem „Gesetzgeber Mose" auftretenden Ur-Gestalten: Abraham, Noah und sogar Adam gerechnet werden). Damit hängt zusammen 6) die Annahme einer vermeintlich historisch sehr frühen, natürlich-vernünftigen und monotheistischen „Ur-Religion", die dann im Laufe der Zeiten in den verschiedenen Kulturen entstellt worden sei durch „Fabeln", „Aberglauben" und vor allem durch „Priesterbetrug". Wichtig ist, daß immer auch behauptet wird 7) die völlige Suffizienz dieser natürlich-vernünftigen Ur-Religion. 8) Der Glaube an die Existenz einer übernatürlichen —»Offenbarung wird teils zurückgewiesen, teils aber ausdrücklich als „möglich" anerkannt (etwa mit der Begründung, unmündigen Menschen, die sich ihrer Vernunft noch nicht bedienen können, helfe Gott mit der Offenbarung nach). 9) Deisten gestatten sich ein freies, von dogmatischen Traditionen und von religiösen Institutionen unvoreingenommenes Denken über sämtliche Gegenstände der Religion („free-thinking"). 10) Sie finden den wesentlichen Gehalt aller Religionen im moralisch-ethischen Bereich. 11) Sie unterziehen die Bibel einem Auslegungsverfahren, bei dem diese Bibel durch teils historische, teils naturwissenschaftliche (empiristische), teils moralische Kritik „gereinigt" wird (vgl. T R E 6, 348—354). 12) Sie denken Gott in Affinität zum Gott der Philosophen bzw. zur Metaphysik. 13) Sie lehnen die allgemeinkirchliche Christologie und Trinitätslehre ab und lassen in aller Regel eine Neigung zu den „Häresien" der Sozinianer (—»Sozzini/Sozinianer), —»Unitarier, Arianer (—»Arianismus) erkennen. 14) Sie haben kaum Sinn für den individuellen Charakter religiöser Lebensäußerungen, vielmehr nehmen sie eine eigentümliche Typisierung, Standardisierung und Uniformierung religiöser Gehalte oder Lehren vor. 15) Sie neigen nicht zu Schul- oder Gemeindebildungen (Ausnahmen: die drei freilich scheiternden Versuche deistischer Kultgemeinschaft bei Toland, Voltaire, Robespierre). 16) Deismus bewirkt Entkirchlichung oder setzt diese bereits voraus. 1.4. Probleme einer Definition. Diese Merkmale erweisen den Deismus als eine eng mit der neuzeitlichen —»Aufklärung verbundene Kraft. E. Troeltsch nannte ihn „die Religionsphilosophie der Aufklärung" (533). Eine Definition des komplexen Phänomens ist jedoch schwierig, wenn nicht unmöglich. Lechler hat folgende Definition gewagt (460): „Der

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Deismus i s t . . . seinem Begriff nach eine auf den Grund freier Prüfung durch das Denken gestützte Erhebung der natürlichen Religion zur N o r m und Regel aller positiven Religion". Diese Definition sollte aber mindestens in folgender Richtung ergänzt werden: Der Deismus beansprucht, mit rationalen Mitteln die volle H ö h e der geoffenbarten Religion zu erreichen, und er beansprucht überdies, kritisch, wirksam und befreiend an die Ursachen der gesellschaftlichen Konflikte heranzukommen, in die Europa durch die konfessionell verschiedenen Formen des Glaubens an die geoffenbarte Religion seit der Reformation hineingeführt wurde. 2. Entstehung

und Bedeutung

einer deistischen

Literatur

in England

im 17. und 18. Jh.

2.1. Das Einwirken der politischen Situation und der Geschichte Englands. Gerade in —»England ist der Zusammenhang zwischen den im Gefolge der Reformation entstandenen gesellschaftlichen Konflikten und der Entstehung einer deistischen Literatur offenkundig. Der englische Deismus ließe sich unter Absehung von der politischen Situation Englands im 1 7 . / 1 8 . Jh. nicht adäquat erfassen. Der Gegensatz zwischen anglikanischen Episkopalisten (—»Episkopalismus) und reformierten —»Presbyterianern, den sog. Puritanern (—»Puritanismus), hat nicht allein zu —»Cromwells Großer Revolution von 1637/38 und später auch zur Toleranzakte von 1689 geführt, sondern dieser Gegensatz war auch der eigentliche Nährboden für den englischen Deismus.Hinzu kommen in England freilich noch begünstigende Traditionen und Konstellationen aus der Zeit vor der Reformation und aus der frühen Reformationszeit. Auf drei solcher historischen Voraussetzungen sei besonders hingewiesen. Erstens hat der ausgesprochen nominalistische Akzent der spätmittelalterlichen scholastischen Theologie Englands (Roger Bacon, —»Duns Scotus, Wilhelm von —»Ockham) Bedeutung erlangt für den —»Empirismus späterer, in der Geschichte des Deismus wichtiger Philosophen wie J. Locke und D. Hume. Zweitens stand England schon im 14. und 15. Jh. durch das Auftreten der biblizistischen Anhänger John —»Wyclifs vor der Notwendigkeit, mit Glaubensgegensätzen unter Staatsbürgern fertig zu werden. Unvergessen blieben in diesem Zusammenhang die um die Mitte des 15. Jh. unternommenen theologischen Vermittlungsbemühungen des römisch-katholischen Bischofs Reginald Peacock. Drittens begünstigte die starke Präsenz führender humanistischer Gelehrter in England an der Wende vom 15./16. Jh. - John Colet ( 1 4 6 6 - 1 5 1 9 ) , ^ E r a s m u s (wirkte 1 5 1 1 - 1 4 in Cambridge), Thomas ^ M o rus, John —»Fisher - sowohl den späteren liberalen anglikanischen —»Latitudinarismus als auch den Deismus selbst. Morus' Schrift Utopia (1516) enthält sogar bereits die detaillierte Vorformulierung eines vernünftigen Gottesglaubens. Alle diese historischen Voraussetzungen des englischen Deismus werden in unserer Zeit noch näher erforscht, wobei besonders italienische Wissenschaftler (Sina, der hinter dem englischen Deismus insbesondere reformiert e Theologie stehen sieht; Motzo Dentice di Accadia; Rossi) umfangreiche Veröffentlichungen bereits vorgelegt haben. Zu den schwierig zu bestimmenden Rahmenbedingungen des englischen Deismus gehören auch die Wechselwirkungen zwischen vordeistischer und deistischer Literatur in England und entsprechenden Impulsen in Holland, Frankreich und Italien. Die Bedeutung der reformatorischen Theologie selbst darf für die inhaltliche Erfassung des deistischen Gedankenguts nicht in der Weise vernachlässigt werden, daß nur von einem nach der Reformation sich wieder meldenden religiösen Humanismus zu sprechen wäre. Vielmehr liegen auch in den unmittelbaren Auswirkungen der Reformation selbst Elemente, die in deistische Fragestellungen eingegangen sind. Sehr wichtig wurde z. B. die seit der zweiten Hälfte des 1 6 . Jh. im Protestantismus mit immer größerer Subtilität vollzogene Unterscheidung derjenigen Glaubensartikel, die als fundamental (heilsnotwendig) betrachtet wurden, von den nicht-fundamentalen. N a c h England w a r dieses Verfahren durch dieStratagemata Satanae ( 1 5 6 5 ) des J a c o b u s —» Acontius vermittelt worden, der hierdurch Konfessionsstreitigkeiten zu schlichten hoffte. Schon die frühesten anglikanischen Latitudinarier — J o h n Haies of E t o n ( 1 5 8 4 — 1 6 5 6 ) , William —»Chillingworth - übernahmen von Acontius, der so die Geschichte der Toleranz in England befruchtete, diese Unterscheidung. In der lutherischen altprotestantischen O r t h o d o x i e Deutschlands wurde die rechte Abgrenzung der —»Fundamentalartikel dann freilich im 17. Jh. strittig. Johann Hülsemann ( 1 6 0 2 - 1 6 6 1 ) beispielsweise kannte 14 fundamentale Glaubensartikel, zu denen aber nicht die Dogmen von der Kirche und von den Sakramenten Taufe und Abendmahl in direkter

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Weise gehörten. In dieses ganze Verfahren konnten dann auch die Deisten in der Weise „einsteigen", daß sie einfach die Zahl der Fundamentalartikel noch weiter reduzierten. Damit erschöpfte sich freilich ihr Anschluß an die Wirkungsgeschichte der Reformation noch nicht. Letztere fand vielmehr auch dort Eingang, wo der Deismus z. B. gekennzeichnet war durch das Streben nach persönlicher Gewißheit und nach Frieden für das Gewissen - ein Zug, der etwa bei dem deutschen Deisten H.S. Reimarus (s. u. Abschn. 3.2) ganz hervorstechend war.

Beim englischen Deismus standen im 17. Jh. zunächst die Fragen der religiösen Toleranz und des Verhältnisses von—> Kirche und Staat im Vordergrund. Im Übergang zum 18. Jh., als in England die Zensur aufgehoben wurde, rückte das Interesse an der Bibelkritik und der rationalen, moralischen Reinigung des Glaubens an die erste Stelle. Die Autoren der deistischen Literatur Englands waren — und das ist charakteristisch — meist keine Theologen und auch keine Kirchenbeamten. Der Bürger begann, Religionsschriftstellerei zu betreiben. Den wissenschaftlichen Wert dieser Literatur hat man allerdings unter dem Einfluß der späteren Kritik durch deutsche Universitätstheologen meist zu sehr herabgesetzt. Man hat, besonders hinsichtlich der letzten Phase dieser Literatur, oft abwertend von journalistischer Religionsschriftstellerei gesprochen, obwohl die universitäre theologische Bibelexegese später manche bahnbrechende Beobachtung solcher Deisten zu rezipieren genötigt war. Da die „deistische Sturmflut in England" (vgl. die übertreibende Überschrift bei Hirsch I, Kap. 14) schon Mitte des 18. Jh. verebbte, konnte bereits zu dieser Zeit von dem presbyterianischen Prediger John Leland die Geschichte der Bewegung in Angriff genommen werden (s. Lit.verz.). Seiner Entscheidung, die Geschichte des englischen Deismus mit Lord Herbert v. Cherbury zu eröffnen, pflegen die Gesamtdarstellungen bis heute zu folgen. 2.2. Die Intention der Deisten. Edward —»Herbert von Cherbury wandte sich nach langjähriger politischer Praxis mit voller Kraft der wissenschaftlichen Überwindung der geistigreligiösen Ursachen konfessionsbedingten Streits und Leids zu. Er glaubte hierfür keinen geringeren Beitrag leisten zu sollen als den einer, sichere Regeln und Gesetze angebenden, völligen Neubegründung unserer Wahrheitserkenntnis (—»Wahrheit). Die Frage nach dem religiös Wahren bildete nur einen Teilaspekt seines Hauptwerks De veritate (1624), als dessen Autor er auf seinem Grabstein erwähnt zu werden wünschte. Religiöse Wahrheiten fallen in seinem System in den Bereich der angeborenen ewigen Vernunftwahrheiten, der zu unterscheiden ist vom Bereich der empirischen Vernunftwahrheiten, die mit sinnenfälligen Gegenständen übereinstimmen müssen. 2.2.1. So wie der für die Sache des konfessionellen Friedens ebenfalls engagierte Niederländer Hugo —»Grotius gegebene Rechtsstrukturen auf ihren „naturrechtlichen Kern" zurückführte, suchte Cherbury hinter die geschichtlich gewordenen Religionsformen zurückzugehen auf eine natürliche Ur-Religion. In seinem eigentümlichen Glauben an die reale Existenz einer solchen ältesten „Religion der Natur" mochte er durch diesbezügliche Ideen des humanistischen französischen Staatsrechtslehrers Jean Bodin (ca. 1539 — 1596) bestärkt worden sein. Es ging Herbert freilich weniger um die Etablierung einer neuen religionsgeschichtlichen Theorie als vielmehr um ein aktuelles politisches Programm. Für dieses Programm ist außer der Wahrheits-Schrift auch einzusehen Herberts Abhandlung De religione gentilium errorumque apud eos causis (1645). Seine Zusammenstellung von fünf „katholischen", weil den ewig-vernünftigen Kern jedweder Religion ausmachenden Wahrheiten hat große Berühmtheit erlangt: „1. Es ist eine höchste Gottheit. 2. Ihr gebührt Verehrung. 3. Tugend und Frömmigkeit sind der wesentliche Teil des Gottesdienstes. 4. Sünden müssen durch Reue und Umkehr wieder gutgemacht werden. 5. Aus Gottes Güte und Gerechtigkeit resultieren, zeitlich und ewig, Lohn und Strafe" (s. auch T R E 4 , 5 9 7 , 4 4 ff). - Diese wenigen „Fundamentalartikel" einer deistischen Frömmigkeit kehrten später in noch knapperer Form wieder in Kants drei Postulaten der praktischen Vernunft: „Gott, Freiheit, Unsterblichkeit".

Die Möglichkeit einer übernatürlichen Offenbarung wurde von Herbert nicht bestritten, obwohl ihm die Erkenntnis religiöser Wahrheit nicht an ihr zu hängen schien. Was religiöse Wahrheitserkenntnis zuverlässig macht, das geht, wie er meinte, auf einen angeborenen Gemeinbesitz zurück (ideae innatae, notitiae communes), der sich an in allen Völkern übereinstimmenden religiösen Aussagen ablesen läßt (consensus gentium) und der im übrigen auch dem Naturgesetz entspricht. Was sich auf dem Weg eines Religionsvergleichs als regelmäßig wiederkehrende Wahrheit ermitteln läßt, ist auch vernünftige und allgemeingül-

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tige Wahrheit. Eine übernatürliche Offenbarung aber hat überhaupt nur für denjenigen Gültigkeit, der sie selber erlebte in der für den Empfang göttlichen Geistes erforderlichen Herzensreinheit. Daß sich die Religionen im Laufe der Zeiten trübten und zur Ursache wider-religiöser Kämpfe wurden, dies geht, nach Herbert, auf die Rechnung der „Priester" und deren Kulte und Dogmen. Das Unwahre an den Religionen hängt in dieser Sicht immer mit dem zusammen, was ihnen historisch zugewachsen ist („Depravationsprinzip"). Allerdings ist es nicht Herberts Art, Äußerungsweisen der positiven Religionen nun doch wieder wie ein gegen Häresien wachsamer Dogmatiker in „wahre" und in „falsche" einzuteilen. Vielmehr wird gerade diese traditionelle qualitative Unterscheidungsweise ersetzt durch eine neue, quantitativ messende Einteilung der Religionen und Konfessionen in vollkommenere und weniger vollkommene. Darauf hat schon Scholz in der Einleitung seiner Edition religionsphilosophischer Texte Herberts (Religionsphil. 21) hingewiesen. Diese Herbertsche „Theorie der —»Religionsgeschichte" bedeutet eine zuerst viel zu wenig beachtete Revolution in der neuzeitlichen Welt des Christentums. Mit Herbert beginnt im Bereich des Christentums die Möglichkeit, die Frage der gesellschaftlichen Brauchbarkeit des Glaubens der Frage seiner Wahrheit vorzuordnen. Der Deismus führt damit die humanistische Eigenart fort, die echte Religion als das Herzstück des Kulturfortschritts zu begreifen. Z u den frühen Kritikern H e r b e r t s g e h ö r t e der lutherische T h e o l o g e J o h a n n e s M u s a e u s in J e n a ( 1 6 1 3 - 1 6 8 1 ) . Z w a r begegnete er d e r H e r b e r t s c h e n B e r u f u n g a u f eine n a t ü r l i c h e G o t t e s e r k e n n t n i s mit einer in d e r Prinzipienlehre a l t p r o t e s t a n t i s c h e r D o g m a t i k begründeten Weitherzigkeit. A b e r er befand mit guten r e f o r m a t o r i s c h e n G r ü n d e n , H e r b e r t h a b e d a s U n v e r m ö g e n der menschlichen N a t u r übersehen, sich aus d e r Sünde d u r c h sittlich-vernünftige A n s t r e n g u n g befreien zu k ö n n e n ; und er h a b e folglich a u c h die B e d e u t u n g d e r göttlichen G n a d e u n d des C h r i s t u s g e s c h e h e n s v e r k a n n t . U b e r h a u p t reichten die fünf F u n d a m e n t a l w a h r h e i t e n H e r b e r t s k e i n e m M e n s c h e n zum Heil aus (De luminis naturae et ei innixae theologiae naturalis insufficientia ad saiutem dissertatio contra Edoardutn Herbert de Cherbury, Baronem Anglum, Jena 1668).

2.2.2. Thomas -n>Hobbes und John Locke (s. u. Abschn. 2.2.4) erarbeiteten im 17. Jh. Alternativen zu Lord Cherburys Programm. Hobbes entfaltete im Leviathan (1651) und in De cive (1642 erstmals in den Druck gegeben) eine Gegenposition zum Deismus. Ihr zufolge führt der Weg zum Religionsfrieden nicht über die „Rückkehr" zur (vermeintlich) natürlich-vernünftigen Ur-Religion, sondern über die Entwicklung eines ganz konsequenten Staatskirchentums, bei dem der politische Souverän auch alle geistlichen Vollmachten in Händen halten soll. Sah L o r d C h e r b u r y stets in den „ n a t ü r l i c h e n U r s p r ü n g e n " das V o l l k o m m e n e , so hält nun H o b b e s die im Z u g e einer geschichtlichen b z w . politischen E n t w i c k l u n g „ g e f o r m t e n " Z u s t ä n d e für die besten: H ö h e r als alle natürlichen F r ü h f o r m e n d e r Religion steht ihm die g e f o r m t e o d e r positive Religion. Die Religionen der menschlichen F r ü h z e i t w a r e n , so meint er, ein E r z e u g n i s der F u r c h t v o r N a t u r e r s c h e i n u n g e n u n d eines p r i m i t i v - „ w i s s e n s c h a f t l i c h e n " Strebens, U r s p r ü n g e und letzte U r s a c h e n zu erfassen. D e r G l a u b e an W u n d e r u n d an O f f e n b a r u n g e n ist im R a h m e n s o l c h e r U r - R e l i g i o n d a n n allerdings ein A u s d r u c k d e r „ w i s s e n s c h a f t l i c h e n " R e s i g n a t i o n . - A n d e r s steht es mit d e m C h r i s t e n t u m als einer gef o r m t e n Religion mit einer p r o p h e t i s c h e n - a l s o aufs Politische b e z o g e n e n - O f f e n b a r u n g . H o b b e s h a t , t r o t z m a n c h e r a l t t e s t a m e n t l i c h - t h e o k r a t i s c h e r u n d sonstiger e x z e n t r i s c h e r Eigenheiten, ein viel besseres G e s p ü r für die E v a n g e l i z i t ä t des C h r i s t e n t u m s als e t w a H e r b e r t v o n C h e r b u r y . H o b b e s k e n n t nur einen einzigen f u n d a m e n t a l e n Artikel des C h r i s t e n t u m s , n ä m l i c h das B e k e n n t n i s „ J e s u s ist der M e s s i a s " , das alles theologisch W e s e n t l i c h e enthalte. A n d e r s als die Deisten u n d als H e r b e r t glaubt H o b b e s an die sündige V e r d o r b e n h e i t d e r m e n s c h l i c h e n N a t u r und an unser völliges Angewiesensein a u f G o t t e s G n a de.

2.2.3. In England wurde das Ideengut von Hobbes sofort auf den Universitäten bekämpft. Die hochkirchlich orientierte Universität —»Oxford traf mit der der Low Church zuneigenden Universität von —»Cambridge in dem Urteil zusammen, die Wurzel der Lehre Hobbes vom Menschen müsse ein sittlicher Indifferentismus, ja, ein verborgener Atheismus sein. In Cambridge suchte man gegen diese Einflüsse eine den Menschen als freies Individuum erhebende, platonische Philosophie zu mobilisieren und theologisch fruchtbar zu machen (—»Cambridge, Platoniker von). Dadurch erhielt die liberaleBroad Church Party, d. h. die latitudinaristische Partei der zu den puritanischen „Nonkonformisten" hin vermitteln-

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den Anglikaner, ihre geistige Nahrung. Historische Kontur gewann die Bewegung der Latitudinarier durch Bischof Edward Stillingfleet ( 1 6 3 5 - 1 6 9 9 ) . Durch ihre mildere Art der Verteidigung des Anglikanismus bereiteten diese Männer einer zunehmenden Duldung deistischen Gedankenguts - dessen Veröffentlichung freilich niemals ohne Widerspruch und Widerlegungsversuche von Seiten der anglikanischen Kirche blieb — den Weg. Stillingfleet verteidigte zwar die Zuverlässigkeit der Bibel gegen deistische Kritik und griff auch direkt den Deismus Lockes an; aber er hielt doch nicht mehr die herkömmliche Gleichsetzung der Deisten mit den Atheisten, denen ja nun eher ein Mann wie Hobbes zugerechnet wurde, aufrecht (vgl. Irenicum [1659, gedr. 1661]; Origines sacrae [1662; mit einer wichtigen Unterscheidung zwischen Deisten und Atheisten]; A Letter to a Deist [1677 2 1697]). 2.2.4. Nach Herbert v. Cherbury und Hobbes legte John Locke ( 1 6 3 2 - 1 7 0 4 ) eine dritte, in der Geschichte der Neuzeit überaus einflußreich gewordene Konzeption zur Entschärfung konfessionsbedingter gesellschaftlicher Konflikte vor. Locke trat, Hobbes widersprechend, für die völlige Trennung von Kirche und Staat ein. Als Achtundzwanzigjähriger erhielt er den Auftrag, eine Verfassung für die nordamerikanische Provinz Carolina zu entwerfen. Die von ihm ausgearbeitete Konstitution wurde in Carolina 1669 rechtskräftig. Sie verlangte von jedem Bürger, irgendeiner Kirche als praktizierendes Mitglied anzugehören. Und es wurde vermerkt, eine religiöse Vereinigung könne dann als Kirche anerkannt werden, wenn sie aus sieben oder mehr Personen besteht, und wenn sie davon ausgeht: 1. daß ein Gott ist, 2. daß Gott öffentlich verehrt werden soll, 3. daß es Gesetzespflicht ist, der Wahrheit Zeugnis zu geben, wenn ein Bürger von den Regierenden dazu aufgefordert wird. — Lokkes Konstitution fordert auch: Niemand soll religiöse Versammlungen anderer stören oder jemanden wegen dessen religiöser Meinung oder Art der Gottesverehrung herabsetzen. Man darf Lockes Zusammenstellung von Mindestmerkmalen einer Kirche nicht als ein besonders dürftiges deistisches Credo auffassen. Seine Minimalisierung des Religionsgehalts besagt nicht, daß sich das Heilsnotwendige so eng zusammenfassen ließe, sondern daß der Staat bei einer Religion oder Kirche nicht mehr als nur diese Rahmenbedingungen zu überprüfen habe. Diese Feststellung ist wichtig, denn oft übersah die theologische Kritik an den „dogmatischen Reduktionen" der „Deisten", daß hier, was wie eine verkürzte Religion aussah, in Wahrheit nur die Betrachtung der Religionen und Konfessionen vom Blickwinkel des Gesetzgebers aus gewesen ist. Von Lockes vier Briefen über Toleranz (1685/86, 1690, 1692 und 1704) erreichte der erste die größte Nachwirkung. Die Einleitung eröffnete Locke mit dem Bekenntnis: „Ich erachte die Toleranz für das wichtigste und charakteristische Kennzeichen der wahren Kirche." Locke betrachtete die Haltung der —»Toleranz aber auch für den Staat nicht als nachteilig, erspare sie diesem doch gesellschaftlichen Unfrieden und sogar Kriege. Direkt in die Theologie eingreifend, behauptete er auch, daß gewissensbedingte Abweichungen von traditionellen Dogmen, falls sie im Einzelfall mit einem unbescholtenen Leben einhergehen, dem Seelenheil weniger gefährlich sind als die der Bruderliebe ermangelnde fanatische Verfolgung um religiöser Grundsätze willen. Damit hat Locke Herbert v. Cherburys Relativierung der religiösen Wahrheitsfrage fortgesetzt. Folgenreich war in Lockes erstem Brief die Bestimmung der je verschiedenen Aufgabe von Kirche und Staat. „Kirche" ist eine Vereinigung, die den Zweck hat, Gott nach jeweils gutdünkender Weise öffentlich zu verehren, um hierdurch das ewige Leben zu erwerben. Alle Kirchengesetze sollen hierauf ausgerichtet und beschränkt sein. Nichts darf in der Kirche ausgehandelt werden mit Bezug auf den Besitz bürgerlichen oder weltlichen Guts. Kirchenzuchtmaßnahmen dürfen den Betroffenen in seiner bürgerlichen Reputation nicht schädigen. Mitglied einer Kirche kann man nur aufgrund eigener, unerzwungener Entscheidung werden. Demgegenüber ist der Staat eine Vereinigung für die Wahrnehmung bürgerlicher Interessen, insbesondere solcher der zeitlichen und materiellen Wohlfahrt. Der Staat darf sein Handeln nicht mittels religiöser Gebräuche stützen oder rechtfertigen. Direkt gegen Hobbes gerichtet stellte Locke fest, die weltliche Obrigkeit habe auch keinerlei Vollmacht zur Seelsorge; sie müsse sämtliche religiösen Überzeugungen dulden, nur nicht Auswirkungen, die gegen bürgerliche Gesetze verstoßen. Den Begriff eines „christlichen Staates" hielt Locke für sinnwidrig.

Während diese Bestimmungen, wie Lechler formulierte, „ihren Gang durch die Welt genommen haben" (177), und während Locke als philosophischer Empirist mit dem Hauptwerk An Essay concerrting Human Understanding (1690) bahnbrechend wirkte, stieß er in

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seiner Eigenschaft als werbender Publizist für seine private Religionsauffassung und als Bibelkommentator doch auf starken kirchlichen Widerspruch. Hier erwies er sich als Deist, obwohl er Cherburys Anschauung von den ideae innatae zurückwies und lehrte, Gottes Existenz sei uns nicht durch eingeborene Vorstellungen bekannt, Gott werde von der empirisch untersuchenden Vernunft via causalitatis aus der Existenz des Kosmos heraus erschlossen. Deist war Locke darin, daß er diese vom Empirischen ausgehende —»Vernunft auch für die maßgebliche und ausreichende religiöse Erkenntnisquelle hielt, wobei er bezeichnenderweise die Möglichkeit einer inhaltlich nichts Zusätzliches aussagenden, bekräftigenden oder verstärkenden Offenbarung nicht ausschloß. Die These von Hobbes, das Christentum stehe auf einem einzigen fundamentalen Glaubensartikel, dem Bekenntnis „Jesus ist der Messias", übernahm Locke in der Schrift The Reasonableness of Christianity as delivered in the Scriptures ( 1 6 9 5 ) . Aber er tat es mit der Hobbes fernliegenden doktrinär-deistischen K o m mentierung, alle übrigen Glaubensartikel könnten notfalls unbekannt, unangenommen oder ungeglaubt bleiben. Locke gab zwischen 1 7 0 5 und 1 7 0 7 eigene Auslegungen paulinischer Briefe heraus. Vor allem durch seine empirisch-moralische exegetische Methode wirkte er geradezu epochemachend auf die deutsche rationalistische Schriftauslegung im 18. Jh. ein. Bei deren Vertretern galt Locke als Apologet des Christentums. Im 19. Jh. urteilte freilich A. —»Tholuck, der diese ganze Richtung bekämpfte (Vermischte Sehr. 28 f), Lockes Paraphrasen zu den Paulus-Briefen enthielten „die jämmerlichste Verwässerung und Verflachung" der paulinischen Theologie. 2.3. Deistische —>Sckriftauslegung. Das Bibelverstehen der englischen Deisten (—»Bibelwissenschaft) seit Ende des 17. Jh. bis zur Mitte des 18. Jh. (hierzu jetzt Reventlow 4 7 0 — 6 7 1 ) ging, dem Anspruch nach, vorurteilsfrei mit dem methodischen Zweifel der Wissenschaft an die T e x t e heran und richtete sich auf ein Dreifaches: J . wurde eine religionsgeschichtliche Relativierung des in der Bibel Berichteten versucht. Dies geschah vor allem durch den Aufweis von außerbiblischen Parallelen und Einflüssen. Religionsgeschichtliche bzw. historische Relativierung bedeutete zugleich auch Darlegung des allgemeinen, vernünftigen und gar nicht „übernatürlichen" oder „geheimnisvollen" Charakters des Bibelinhalts. 2. zielte die deistische Exegese auf die kritische Analyse zweier der F o r m und dem Inhalt nach als problematisch betrachteter Überlieferungsstränge der Bibel, der alttestamentlichen Weissagungsbeweise und der Wunderberichte. 3. wurde eine moralisch-kritische Exegese durchgeführt. Die folgenden Beispiele für diese drei Zielsetzungen beschränken sich auf einige geschichtlich einflußreich gewordene T e x t e und Autoren. 2.3.1. Charles Blount (1654 — 1693), ein Verehrer des Werks von Herbert v. Cherbury und ein Schüler von Hobbes, nannte sich bereits selbst einen Vertreter des Deismus. Er eröffnete den Reigen einer wirkungsvollen, aber in den Grundgedanken meist unselbständigen Religionsschriftstellerei. Seine Ubersetzung von The Two First Books of Philostratus, concerning the life of Apollomus Tyaneus (1680) wollte zu einem Vergleich zwischen Jesus Christus und dem antiken Wundertäter Apollonius von Tyana anregen. Im übrigen begegnen bei ihm viele typisch deistische Anliegen, wie z. B. die Forderung der Gewissensfreiheit, die Favorisierung der stoisch-neuplatonischen Gotteslehre des Altertums, die Rückführung religiöser Opferpraktiken auf „Priesterbetrug" (Great is Diana of the Epbesians, 1680) und die Zusammenfassung des deistischen Glaubens in dem Satz: „Die Moral steht in der Religion höher als das Geheimnis" (Works, II 1695,91). 2.3.2. Einflußreicher als Blount war John Toland ( 1 6 7 0 - 1 7 2 2 ) mit dem im Alter von 25 Jahren verfaßten Buch Christianity not mysterious (erstmals gedr.: 1696). Sein Verfasser verdankte Locke die theoretische Grundlegung, insbesondere auch die Art der Unterscheidung von Vernunft und Offenbarung. Indem Toland einem geheimnis- und dogmenfreien und so angeblich bibelgemäßen, vernünftigen Christentum das Wort redete, meinte er, ein Apologet der anglikanischen Kirche zu sein, die steckengebliebene Reformation weiter voranzubringen und das Christentum durch zeitgemäße Interpretation gegen den Atheismus zu verteidigen. Gleichwohl kam es zu einer Flut kirchlicher Gegenschriften aus mehreren Konfessionen. Auch Leibniz (vgl. dessen Annotiunculae ad librum de Christianismo mysteriis carente, 1701) entdeckte theologische Mängel und häretische, unitarische Tendenzen in diesem Entwurf eines mysterienfreien Christentums. Zu den deutschen Bewunderern Tolands gehörten H. S. Reimarus und die preußische Königin Sophie Charlotte, der Tolands Letters to Serena (1704) zugedacht waren. Eine bedeutsame Biographie Tolands schrieb J. L. v. —»Mosheim (De vita, factis etscriptis]oannis Tolandi commentatio, Hamburg 1722).

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2.3.3. Anthony Collins ( 1 6 7 6 - 1 7 2 9 ) verteidigte das Recht auf freie wissenschaftliche Bibeluntersuchung. Sein Werk A Discourse of Free-Thinking (1713) definiert in der Einleitung das „Menschenrecht" des Freidenkens (—»Freidenker) als den „Gebrauch des Verstandes in dem Bestreben, den Sinn jedes beliebigen Satzes herauszufinden bei der Betrachtung der Art der Beweise für oder gegen ihn". Freidenken sei wohltätig für Staat und Kirche; es befreie ein Land von Hexenprozessen und Priestermacht über ein unaufgeklärtes Volk. In gewisser Weise trat Collins für ein zentrales Anliegen der Reformation ein, für die Zurückweisung eines Glaubens, der ungeprüft und unverstanden von Autoritäten übernommen wird. Collins historisch-kritische Exegese der sog. Weissagungsbeweise des Alten Testaments atmete auch darin reformatorische Gesinnung, daß sie Stützen des Glaubens zerstörte, die in Wahrheit keine sind. In der Schrift A Discourse ofthe Grounds and Reasons ofthe Christian Religion (1724) argumentierte er z. B. bezüglich der Prophezeiung von Jes 7,14, sie gehe nicht auf Jesus, sondern auf das eigene Kind des Propheten. Bei aller Fraglichkeit einzelner Hypothesen sprach Collins hier doch für künftige Exegese Richtungweisendes aus, und er bewirkte deshalb auch eine breite, aufgeregte Diskussion dieses Themas. 2.3.4. Beim Theologen Thomas Woolston ( 1 6 7 0 - 1 7 3 3 ) spitzte sich alles auf die Frage zu, ob im Neuen Testament, wenn schon keine buchstäbliche Erfüllung, so doch wenigstens eine allegorische oder typologische Wiederkehr alttestamentlicher Historie vorliege. Diese Möglichkeit wurde ihm zur fixen Idee, so daß er dazu überging, das gesamte Neue Testament als eine allegorische Transposition alttestamentlicher Realien zu deuten. Neutestamentliche -H> Wunder, sagt Woolston in seinen Discourses on the Miracles of Our Saviour ( 1 7 2 7 - 1 7 2 9 ) , sind keine geschichtlichen Tatsachen, sondern aufs Alte Testament bezogene Allegorien. Die allegorische Deutung wird zum scheinbar rationalen Instrument einer ebenso scheinbaren historisch-kritischen Wunderkritik, die freilich unter den Zeitgenossen größte Publizität findet. - Eine weitere, sonderbare Einlassung zu diesen Fragen liegt vor in der Schrift von Thomas Morgan ( 1 6 8 0 - 1 7 4 3 ) The moral philosopher, in a dialogue between Philalethes, a Christian Deist, and Theophanes, a Christian }ew (3 Bde., 1 7 3 7 - 1 7 4 0 ) . Der Gott des Alten Testaments wird, manichäisch, als ein untergeordnetes Gottwesen verstanden. Seine Propheten waren nicht zu wirklicher Weissagung befähigt, besonders nicht zu einer ins Neue Testament hinüberreichenden. Zwischen beiden Testamenten besteht eine qualitative Kluft. Gesetze und Religion Moses sind national eingeschränkt, während wir im internationalen Christentum die Religion und das Gesetz der Natur wiederhergestellt finden. Die christliche Lehre muß von jüdischen bzw. alttestamentlichen Reminiszenzen gereinigt werden. Das Ergebnis ist dann ein rein moralisches Christentum mit arianischer Jesuslehre. Morgan bezeichnete sich selbst als einen „christlichen Deisten". 2.3.5. Deisten bevorzugten überwiegend das Neue, manchmal aber auch das „natürlichere" Alte Testament. Der Charakter und die Moral herausragender biblischer Gestalten wie—>David oder—»Paulus wurden oft als anstößig empfunden. Zu Paulus äußerte sich besonders polemisch und bereits literarkritisch die Apostelgeschichte mit den paulinischen Briefen vergleichend Peter Annet (History and character ofSt. Paul examined, 1749). Annet hielt auch die Auferweckung Jesu für unwahrscheinlich, da diese im Neuen Testament auf literarisch ungereimte Weise bezeugt sei (The Resurrection of Jesus considered, 1744). 2.4. —»Shaftesbury. Einzig in seiner Art ist das (auch in Frankreich sehr einflußreich gewordene) deistische Denken des durch Locke und die Platoniker von Cambridge geschulten Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury, eines Politikers und Moralisten anglikanischer Konfession. Seine bedeutsamste Leistung w a r die Ausarbeitung der These, das Tun des moralisch Guten werde durch die religiöse Aussicht auf Belohnung oder Strafe im Jenseits nicht gefördert. Jede gute T a t sei in sich selber lohnend, und der Glaube an eine künftige Vergeltung schädige geradezu die wahre Tugend (An Jnquiry Concerning Virtue or Merit, 1 6 9 9 , ins Deutsche übers. 1 7 4 5 durch J. J . Spalding). Mit diesem Gedanken wurde damals für das Empfinden vieler eine Hauptbastion des traditionellen Offenbarungsglaubens eingerissen. Die „Autonomie der M o r a l " schien herausgestellt und sogar die Behinderung wahrer Moralität durch die Kirchen und ihre Lehren aufgezeigt worden zu sein. Voltaire hat Shaftesbury, der seine Tugendlehre am griechischen Ideal vom Schönen und Guten orientierte, „einen der kühnsten englischen Philosophen" genannt, der „voller Verachtung der christlichen Religion" gewesen sei (Lechler 2 6 3 ) . Eigentümlich war Shaftesburys Theorie von der Bedeutung des „ S p o t t s " als einer Wahrheitsprobe. Echt und wertvoll ist, was durch Spott nicht zerstört werden kann. Die originelle Weise, wie der Test des Lachens und des Burlesken auch auf Phänomene aus dem Bereich des Christentums angewandt wurde, zeugt, wie schon Shaftesburys Moralbegriff, nicht nur von Unverständnis für den christlichen Glau-

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Deismus

ben. Shaftesbury w u r d e von anglikanischen Gelehrten wie William W a r b u r t o n und John Brown literarisch bekämpft. 2 . 5 Endphase des englischen Deismus. Als späte Blüte des englischen Deismus erschien die „Bibel der Deisten", das Alterswerk des in O x f o r d promovierten Juristen Matthew Tindal (1657—1733), Christianity as Oldas the Creation, or the Gospela Republication of the Religion ofNature (1730; 1741 von J. L. Schmidt ins Deutsche übers.; vgl. T R E 6 , 3 5 0 , 2 4 f). Sie verdichtet die nun hundertjährige Geschichte des englischen Deismus seit Lord Cherbury in der Sprache einer zweiten Einfachheit: „ G o t t will, d a ß allen Menschen geholfen werde, und sie zur Erkenntnis der Wahrheit k o m m e n " (I Tim 2,4) - das ist der theologische Grundgedanke. G o t t gibt allen, auch denen, die die Bibel nicht kennen, die nötigen Grundregeln f ü r glückliches, menschliches Leben an die H a n d in der Form des Gesetzes der N a t u r . Es ist identisch mit der wahren Ur-Religion. Diese wiederum ist ein Mittel, das die M o r a l (die zum Glück führende Lebensregel) zum einzigen Zweck hat. Jesus selbst hat mit seinem Evangelium nur diese Ur-Religion wieder aus dem Schutt der sie überlagernden menschlichen Z u sätze freigelegt. In einem angehängten Schlußkapitel analysierte Tindal kritisch die f ü r den kirchlichen Offenbarungsglauben plädierenden Argumente des Deismus-Gegners Samuel —»Clarke. „ N a c h h a l l " des englischen Deismus sind die Schriften des Autodidakten T h o m a s C h u b b (1679—1747) zu religiösen Streitfragen aus der Zeit zwischen 1715 —1740 und des mit Voltaire befreundeten Viscount H e n r y St. John Bolingbroke ( 1 6 7 8 - 1 7 5 1 ) , dessen Essay on Man (1734) das Christentum als eine von Mose, Paulus und Piaton konstituierte, k o r r u m pierte Naturreligion begreift. Um 1740 ist die vitale Zeit des englischen Deismus vorbei. M i t dem Auftreten der Methodisten (—»Methodismus) beginnt in der Kirchengeschichte Englands eine neue Zeit. Auch gelingt es einzelnen anglikanischen Theologen, religiöse und gedankliche Unzulänglichkeiten des Deismus jetzt überzeugend offenzulegen. Das gilt vor allem von Joseph —»Butler. Sogar dem Deismus der Mentalität nach nahestehende Autoren beginnen, dessen Grundlagen anzuzweifeln und zu vernichten. Henry Dodwell d. J. (1700—1784) hält gerade die G r u n d a n n a h m e des Deismus, daß ein höchstes Wesen existiert, f ü r unbewiesen. Die Vernunft, so legt er in Christianity not founded on Argument (1742) dar, veranlaßt die methodische H a l t u n g des Zweifeins, nicht die des Glaubens. Also ist es nichts mit dem Gottesgedanken der Vernunft. Auch Jesus h a t nicht um rationales Einverständnis geworben; er bestimmte in Vollmacht den Weg der Wahrheit. Entsprechend ist die biblische O f f e n b a r u n g eine Sache der Autorität, sie a k k o m m o d i e r t sich nicht der Vern u n f t . — David —»Hume schließlich gibt zu verstehen, die deistische A n n a h m e eines natürlich-religiösen Ur-Monotheismus sei unhaltbar, da in der Religionsgeschichte der —»Polytheismus dem Monotheismus vorangehe. Hinter der ältesten Religion aber stehe weder, wie H o b b e s vermutete, eine naive Spekulation über die N a t u r noch, wie Herbert v. Cherbury lehrte, die Institution eines natürlichen Sittengesetzes, sondern nichts als das „Schwanken zwischen Furcht und H o f f n u n g " der Menschen inmitten ihrer alltäglichen Verhältnisse (The natural History of Religion, 1755). Auch H u m e s 1779 p o s t h u m erschienene Dialogues concerning Natural Religion melden grundlegende Zweifel an der Möglichkeit einer „natürlichen Theologie" an. 3. Nachwirkungen

des englischen

Deismus

in Frankreich

und

Deutschland

3.1. Antikirchliche, materialistisch-atheistische Zuspitzung in Frankreich. Beim Übergang des Deismus von England nach —»Frankreich fand „seine Erhebung zu weltgeschichtlicher M a c h t s t a t t " (Troeltsch 535). N u r die Ergebnisse, nicht die Gründe des englischen Deismus wurden rezipiert. Wünschten viele englische Deisten bis hin zu Tindal, das wahre Christentum zu restituieren, so w a r dies f ü r die Gesprächspartner und geistigen Erben in Frankreich kein Motiv mehr. Ihnen ging es immer deutlicher um Kritik der Religion überh a u p t (^Religionskritik) und um Aufklärung. Ihre politische und gesellschaftliche Lage w a r eine andere, weil in Frankreich Kirche und Religion weithin mit dem römischen Katho-

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Deismus

lizismus gleichzusetzen waren und weil noch unmittelbar bis zur —französischen Revolution eine strenge Religionszensur ausgeübt wurde. Dabei waren in Frankreich sogar schon früher als in England skeptische Gedanken laut geworden: Humes These etwa (s. o. Abschn. 2.5), daß das deistische Vertrauen, die Vernunft erweise die Existenz Gottes mit wissenschaftlicher Sicherheit, ungerechtfertigt sei, hatte in Frankreich Pierre Bayle (s. o. Abschn. 1.1) schon mehr als 5 0 Jahre zuvor vertreten. Im 18. Jh. aber verbreitete sich in Frankreich immer mehr der Eindruck, die Religion trage als wichtigste Stütze des feudalen, absolutistischen Staats die Hauptschuld an Unfreiheit, Ungleichheit und Unbrüderlichkeit. 3.1.1. Bei Rousseau und Voltaire erhielten sich noch am ehesten, wenn auch in neuem Gewände, einige ursprüngliche Bestrebungen des englischen Deismus. Es blieb vor allem der Glaube an die Existenz eines höchsten Wesens oder Willens; ferner, bei Voltaire, auch das Bedürfnis, Ungereimtheiten oder Widersprüche in biblischen Aussagen aufzuzeigen. —»Rousseau, der J. Locke (s. o. Abschn. 2.2) viel verdankte, veröffentlichte mit dem ins vierte Buch seines Emile (1762) hineinkomponierten Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars eine neue Spielart deistischen Denkens. Die natürliche Religion des Vikars ist nicht nur eine Religion der Vernunft, sondern auch eine Religion des Herzens oder der individuellen Empfindung (welches ist die rechte Religion? — die meinige!). Damit war eine interessante Synthese von deistischen und bereits auf die Zeit der Romantik vorausweisenden Gedanken vorgetragen (vgl. auch Lettre à Christophe de Beaumont [1763]; Lettres écrites de la montagne [1764]). >Voltaire hielt sich 1726—1729 in England auf und verbreitete danach in Frankreich die Gedanken zahlreicher englischer Deisten. Er bekämpfte die christliche Religion und Kirche, die er nicht als eine von Jesus gewollte Hinterlassenschaft ansah. Aber er hielt, materialistischen Tendenzen in seinem eigenen Denken entgegen, den Glauben an einen Baumeister der Welt in sich aufrecht. 3.1.2. Den Übergang vom Deismus zum —>Atheismus und —»Materialismus vollzog vor allem Denis Diderot (1713-1784), der zusammen mit Jean d'Alembert (1717-1784) die im Geiste Voltaires verfaßt e Encyclopédie (1751-1772) herausgab. Die Enzyklopädisten setzten bei ihren das Christentum betreffenden Artikeln grundsätzlich ein deistisches Religionsverständnis voraus. Die Zuspitzung im Sinne eines religionskritischen Materialismus förderten besonders: Julien Offroy de Lamettrie (1709—1751) mit den Schriften Histoire naturelle de l'âme (1745), L'homme plante und L'homme machine (1748); Paul Thiry d'Holbach (1723-1789) mit den Schriften Le christianisme dévoilé (1761; hier ist Karl —»Marx' späteres Verständnis der Religion als Opium des Volkes vorformuliert), Lettres à Eugénie (1768), L'esprit de Judaïsme (1769), Histoire critique de Jésus-Christ (1770), Examen critique de la vie et des ouvrages de Saint-Paul (1770) und schließlich Système de la nature (1770), wo eine systematisch vollendete materialistische Weltanschauung samt atheistischer Religionskritik entfaltet wird. Thiry d'Holbachs Religionskritik wurde in das charakteristische moderne französische Freidenkertum hinein fortgestaltet durch -^Saint-Simon und dessen Schüler August Comte (1798-1857), den Begründer der Soziologie. 3.2. Rationalistische Theologie und Philosophie in Deutschland. Deutschlands Begegnung mit dem Deismus betraf am meisten den Protestantismus. Sie verlief in zwei Phasen. Die erste fiel in die Zeit der altprotestantischen -^Orthodoxie. Hier fand früh Lord Cherburys natürlicher Gottesbegriff Beachtung, und zwar erstmals bei Johannes Musaeus (s. o. Abschn. 2.2.1). Die evangelischen Dogmatiker bemühten sich im 17. Jh. um eine den Wissenschaftscharakter der Theologie sichernde Schulmetaphysik. Daher konnte die vernünftige Gotteslehre der Deisten als philosophische Annäherung an den christlichen Gottesbegriff bzw. als „natürliche Theologie" anerkannt werden. Gleichzeitig wurde aber die Angewiesenheit christlicher Theologie auf die übernatürliche Offenbarungsquelle betont, weshalb der Deismus eben doch als ein unzulänglicher „Naturalismus" bewertet war. Die englischen Deisten wurden, kritisch, „Naturalisten" genannt, was mit der 1 6 9 6 in England von dem Apologeten William Nichols eingeführten Bezeichnung Natural-Religion-Men korrespondierte. Die jüngere Phase der Begegnung fällt ins 18. Jh.; sie ist mit der Geschichte des theologischen und philosophischen —»Rationalismus eng verbunden. Die Entwicklung verläuft hier aber anders als in Frankreich, was u. a. mit einer unterschiedlichen Situation der Philosophie hier und dort zusammenhängt. In Deutschland bestimmen vor Kant im 18. Jh. G. W. —»Leibniz und dessen Schüler Chr. —> Wolff die Lage, zumal die der Universitätsphilosophie.

Deismus

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Durch diese beiden Denker wurde die Philosophie in Deutschland zwar endlich der Theologie gegenüber selbständig, doch war bei beiden die Metaphysik so angelegt, daß sie der offenbarungsmäßigen, biblischen Erkenntnis Gottes eher diente als schadete. Während der englische Deismus sich im 18. Jh. an einer Metaphysik orientierte, die Lockes Sensualismus mit von —»Newton herrührenden Einflüssen eines mechanistischen Weltbildes verband, und während in Frankreich, dessen dominierender Philosoph —»Descartes war und blieb, schon materialistisch gedacht werden konnte, herrschte in Deutschland noch eine Wissenschaftslehre vor, die kirchliche Lehren und Interessen mit einbezog. Leibniz, „um der Theologie willen Mathematiker geworden" (Schepers 293), faszinierte durch seine Grundlegung eines Wissenschaft und Religion umfassenden modernen Denkens und durch seine vielfachen politischen Bemühungen um konfessionelle Reunionen, die den Frieden in Europa sichern sollten (^Unionen, Kirchliche). Wolff wirkte durch sein akademisches Erziehen zum Denken, sodann durch sein vielgelesenes Buch Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (1720) und durch seine Theologta naturalis methodo scientifica pertractata (1739) prägend auf mehr als eine Generation protestantischer Theologen. Einige seiner Schüler öffneten sich partiell dem englischen Deismus, aber sie gaben den empfangenen Impulsen eine eigene Gestalt, nämlich die der sog. Neologie ( = mittleres Entwicklungsstadium des theologischen Rationalismus in Deutschland, bei dem Vernunft und Offenbarung in Harmonie vereinigt sind; vgl. T R E 4,600 f). Einige Repräsentanten dieser Richtung sind: der Dogmatiker Siegmund Jakob Baumgarten ( 1 7 0 6 - 1 7 5 7 ) , der von Halle aus deistische englische Literatur in Deutschland bekannt machte; der geistliche Erfolgsschriftsteller J. J. —»Spalding; der Begründer der „liberalen Theologie" J. S. —>Semler, der bedeutsam wurde durch seine Unterscheidung zwischen „öffentlicher Religion" (deren Lehren der Landesherr bestimmt) und „privater Religion" (die den Landeskindern gleichwohl als je individuelle Glaubensweise zusteht). Eine ebenfalls vom „Wolffianismus" ausgehende Nebenlinie ist die sog. Physikotheologie im ersten Drittel des 18. Jh. Sie versuchte den „Erweis" Gottes aus der wunderbaren und in allen Teilen als zweckmäßig erachteten Einrichtung der Natur. Als Astro-, Pyro-, Hydro-, Insektotheologie usw. brachte sie heute merkwürdig anmutende Entwürfe hervor. Auch hier gibt es Rückverbindungen nach England, etwa zur Religio Medici (1643) des Thomas Browne oder zu The Sacred Theory ofthe Earth (1684) von Thomas Burnet als inspirierenden und in einer eigentümlichen Zwischenstellung zwischen Deismus und Anti-Deismus stehenden Werken (hierzu: Philipp 66ff).

Nur einen großen, wirklichen „Deisten" hat Deutschland im 18. Jh. hervorgebracht: Hermann Samuel -^Reimarus in Hamburg. Die von ihm selbst veröffentlichten Abhandlungen über die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754 5 1782) erregten vor allem durch die These Aufsehen, die wahre Religion sei ebensogut durch das Studium des menschlichen Herzens und der Natur erlernbar wie durch den Katechismus. Viel einflußreicher und weithin als provokant empfunden wurden jedoch die nach Reimarus' Tod von —»Lessing zwischen 1774 und 1778 veröffentlichten Fragmente eines Ungenannten. Sie entstammten dem (erst 1972 im vollständigen deutschen Originaltext edierten) Werk-Apo/ogi'e oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, das Reimarus in zwanzigjähriger Arbeit verfaßte. Im Durchgang durch die ganze Bibel bestätigte und vertiefte es kritische Exegesen englischer Deisten, um die Ungereimtheit des Kirchenglaubens zu erweisen und um den stets von Verfolgung bedrohten vernünftigen Gottesverehrern gediegene Argumente an die Hand zu geben. Die besonders Paulus „zur Last gelegten" dogmatischen Lehren von der Erbsünde, der Genugtuung Christi für unsere Sünden, der Rechtfertigung aus Glauben und der Prädestination wurden als nicht jesusgemäß und als moralwidrig betrachtet. In der Offenbarungsfrage gebrauchte Reimarus das Argument, es bestehe ein Unterschied zwischen dem Glauben an eine Offenbarung, derer man selbst gewürdigt worden ist, und dem Glauben an die Versicherung anderer, ihrerseits eine solche Offenbarung empfangen zu haben. So argumentierte schon der englische Deist Toland (s. o. Abschn. 2.3), und Lessing rezipierte wiederum von Reimarus her diese Unterscheidung in Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777). Dem Deismus stand Lessing selbst aber kritisch gegenüber, da er die Offenbarung als ein göttliches Erziehungsmittel ansah (Die Erziehung des Menschenge-

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schlechts, 1780) und überhaupt den orthodoxen christlichen Gottesglauben für substantieller hielt, als es manche vorschnelle deistische Verächtlichmachung tat. Vielschichtige Beziehungen zur deistischen Tradition weist die Religionsphilosophie von I. —>Kant auf. Gegen diese Tradition sprach sich Kant niemals aus. Aber noch als sein AIterswerkDi'e Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) erschien, hätte ein offenes Bekenntnis zur deistischen Religionsauffassung wegen des Wöllnerschen Religionsediktes (1788) ungünstige Folgen gehabt. In den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) suchte Kant gegen Hume die praktische Rationalität des Glaubens an die Existenz Gottes zu verteidigen. Kant selber wollte „Theist" sein, wenn er auch im Sinne seiner eigenen Distinktion (s. o. Abschn. 1.2) oft eher wie ein Deist argumentierte. Auf der anderen Seite war es gerade Kant, der den Deismus auch in Deutschland an die Grenze seiner inneren Möglichkeiten brachte, indem er „Gott" in der Kritik der reinen Vernunft aus dem Bereich des Wissens bzw. der theoretischen Erkenntnis herausnahm und damit die Grundlagen der Leibniz-Wölfischen Metaphysik zerstörte. Heinrich Heine schrieb in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835) über Kants Kritik der reinen Vernunft-. „Dieses Buch ist das Schwert, womit der Deismus hingerichtet worden in Deutschland" (241). 3.3. Das „Ende" in der Romantik - aber unerledigte Fragen. Eine neu erwachte Vorliebe für „positive", geschichtlich gewachsene Religion ließ den Deismus zur Zeit der —»Romantik als eine veraltete Weltanschauung erscheinen. Auch beim „verfeinerten Deismus" könne man nur von „übelzusammengenähten Bruchstücken von Metaphysik und M o r a l " (Schleiermacher, Über die Religion, 1799, Uraufl. 25) sprechen. Trotz dieser Beurteilung des Deismus als einer avitalen, areligiösen Konstruktion, und trotz der eine Generation später erfolgenden Erledigung des Deismus im Zuge der linkshegelianischen Religionskritik, stellten sich gegen Ende des 19. Jh. in der liberalen protestantischen Theologie wieder Parallelen und Affinitäten zu deistischen Positionen ein (s. o. Abschn. 1.1). Die danach im 2 0 . Jh. dominierende, offenbarungszentrierte —»Dialektische Theologie betrachtete den Deismus erneut als einen theologischen Irrweg der Vergangenheit. Sein Pelagianismus und seine Anthropozentrik galten diskussionslos als unmöglich. Aber heute zeigt es sich, daß die Fragen und Anliegen des Deismus auch die Ära der Dialektischen Theologie noch überdauern. Der Deismus hält mit der philosophischen Gottesfrage die Erkenntnis offen, daß Gott aufrichtige Verehrung auch außerhalb der Kirchen entgegengebracht wird und daß Gott umgekehrt der Gesellschaft über den Bereich der Theologie und über den Raum der Kirche hinaus zu denken gibt. Der im 16. Jh. von Humanisten betriebene, sodann von den Deisten weitergeführte Versuch, das Christentum umzuformen in Moral, enthält überdies ein bis heute nicht wirklich ausgestandenes Problem. Ein Problem einerseits für die Kirchen, die die Auflösung des —»Corpus Christianum und damit das Aufhören der gesellschaftlichen Inanspruchnahme der Kirchen als „Volkserzieher" und als „Werte-Lieferanten" bis heute noch nicht verschmerzt und in ihre eigene geistliche Erneuerung überführt haben. Ein Problem andererseits für die säkularisierte Gesellschaft, die ihre eigene ethische Verpflichtung noch nicht genügend erkannt hat. Quellen (Nachdrucke

und Neuausgaben

seit 1960,

Auswahl)

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Eine Interpretation des Heptaplomeres, 1 9 6 4 (StRGG 2). - Mario M . Rossi, La vita, le opere, i tempi di Edoardo Herbert di Chirbury, 3 Bde., Florenz 1 9 4 7 . - Heinrich Schepers, Art. Leibniz: R G G 3 4 ( 1 9 6 0 ) 2 9 1 - 2 9 4 . - Dorothy B. Schlegel, Shaftesbury and the French Deists, Chapel Hill, N. C. 1 9 5 6 . - Martin Schmidt, Art. Engl. Deismus: R G G 1 2 ( 1 9 5 8 ) 5 6 - 6 9 . - H e i n r i c h Scholz, Zur ältesten Begriffsgesch. von Deismus u. Pantheismus: PrJ 142 ( 1 9 1 0 ) 3 1 8 - 3 2 5 . - Ders., Die Religionsphil, des Herbert v. Cherbury. Auszüge aus ,De veritate' ( 1 6 2 4 ) u. ,De religione gentilium' ( 1 6 6 3 ) mit Einl. u. Anm., hg. v. H. Scholz, Gießen 1 9 1 4 . - Mario Sina, L'avvento della ragione. „ R e a s o n " e „above reason" del razionalismo teologico inglese al deismo, Mailand 1 9 7 6 (ausführl. Quellenverz.). - David Friedrich Strauß, Hermann Samuel Reimarus u. seine Schutzschr. für die vernünftigen Verehrer Gottes, Leipzig 1 8 6 2 . Roland N . Stromberg, Religious Liberalism in Eighteenth-Century England, Oxford 1 9 5 4 . - Friedrich August Gottreu Tholuck, Vermischte Sehr., Hamburg, II 1 8 3 9 . - Norman L. Torrey, Voltaire and the English Deists, New Haven 1 9 3 0 . - E r n s t Troeltsch, Art. Deismus: R E 3 4 ( 1 8 9 8 ) 5 3 2 - 5 5 9 . - J o h n Tulloch, Rational Theology and Christian Philosophy in England in the Seventeenth Century, 2 Bde., 2 1 8 7 4 = Hildesheim 1 9 6 6 . - Charles Welsh, A Note on the Meaning of Deism: A T h R 38 ( 1 9 5 6 )

Deißmann

406

160ff. - Bronislaus Wietrzychowski, Kants Religionsphil. u. der engl. Deismus, Diss. Phil. Breslau 1918. - Justus Winkelmann, Die Offenbarung. Dogm. Studien, Gütersloh 1913. Christof Gestrich Deißmann, Adolf

(1866-1937)

Als Pfarrersohn und -enkel am 7 . 1 1 . 1 8 6 6 im nassauischen Langenscheid/Lahn geboren, verlebte Deißmann seine Kindheit in einer vom Vater kirchlich-konservativ bestimmten und von der Mutter mit eher pietistischer Frömmigkeit erfüllten Atmosphäre. Die Gymnasialzeit verbrachte er in Wiesbaden; besondere Anregungen verdankte er ihr ebensowenig wie dem in Tübingen und Berlin absolvierten Theologiestudium ( 1 8 8 5 — 1 8 8 8 ) , zu dem ihn, der schon früh — zunächst vielleicht als mit der Theologie konkurrierend empfundene — historisch-philologische Neigungen verspürte, der Vater bestimmt hatte. Deißmanns Weg in die Wissenschaft begann 1 8 9 1 , als er nach Ablegen der kirchlichen E x a m i n a sowie kurzer Hilfspredigertätigkeit zu G.Heinrici nach M a r b u r g ging — „ m i t einem starken Interesse für die Umwelt des Neuen T e s t a m e n t s " und dem Ziel der Lizentiatenpromotion (Selbstbiographie 5 0 ) . Mit einer Arbeit über Die neutestamentliche Formel „in Christo]esu" (Marburg 1 8 9 2 ) erreichte er das gesteckte Ziel und darüber hinaus die Habilitation recht schnell; zugleich hatte er auch bereits zu dem einen der beiden ihn als Gelehrten bestimmenden Arbeitsfelder gefunden: zur Erforschung der — als „Christusmystik" interpretierten — paulinischen Frömmigkeit. Als ihr „Kenn- und Losungswort" (Selbstbiographie 50) sah Deißmann jene Formel an; sie charakterisiere „das Verhältnis des Christen zu Jesus Christus als ein lokal aufzufassendes Sichbefinden in dem pneumatischen Christus" (Formel 97) - eine Interpretation, die zur weithin gültigen Meinung der neutestamentlichen Wissenschaft wurde, bis E. Käsemann und R. —»Bultmann den ekklesiologischen Bezug der paulinischen ev XQIOTÜ)-Formeln zu erwägen begannen (ein Abriß der Forschungsgeschichte bei N.Gäumann, Taufe u. Ethik, München 1967, 5 8 - 6 0 ) . Auch die zweite Erkenntnis, die seine wissenschaftliche Arbeit prägte, gewann Deißmann bereits in M a r b u r g . Schon hier erfaßte er die außerordentliche Bedeutung, die die am Ende des 19. und zu Beginn des 2 0 . Jh. massenhaft bekannt werdenden nichtliterarischen Zeugnisse der hellenistischen Welt (Inschriften, Ostraka und vor allem Papyri) für das Verständnis des Neuen Testaments und speziell für die Einordnung der Sprache der griechischen Bibel in die profane griechische Sprachgeschichte, für die „Säkularisation der dogmatischen Philologia s a c r a " also (Selbstbiographie 6 2 ) , haben mußten. Die Bibelstudien (Marburg 1 8 9 5 ) und Neuen Bibelstudien (ebd. 1 8 9 7 ) , letztere schon im mit einem Lehrauftrag am dortigen Predigerseminar verbundenen Herborner Pfarramt ( 1 8 9 5 - 1 8 9 7 ) entstanden, waren erste Früchte der neuen Einsichten, die epochemachend wirkten und z . T . heute noch gültig sind. Vor allem trifft dies auf Deißmanns zwar nicht unbestritten gebliebenen (vgl. M.Silva: Bib. 61 [1980] 198 - 2 0 4 ) , im wesentlichen aber weithin rezipierten (s. z. B. H. Köster, Einf. in das NT, Berlin 1980, 110) Nachweis zu, daß die neutestamentlichen Schriftsteller kein semitisierendes, dem paganen griechischsprachigen Zeitgenossen kaum verständliches - und gelegentlich selbst im 19. Jh. noch als inspiriert verteidigtes -,Bibelgriechisch' geschrieben haben, sondern die im hellenistischen Zeitalter gesprochene griechische Allgemeinsprache verwandten, die Koine. Das auf der Basis dieser Einsicht von Deißmann geplante Wörterbuch zum Neuen Testament (s. Neue Bibelstudien VII) hat dann freilich erst W. —»Bauer geschaffen. Auf Deißmanns durchaus fachmännische Begegnung mit der Papyrologie — er edierte z. B. Septuaginta-Papyri und andere altchristliche Texte (Heidelberg 1905) und besaß selbst eine Ostrakasammlung (ed. P . M . Meyer, Griech. Texte aus Ägypten, Berlin 1 9 1 6 , 1 0 5 - 2 0 5 ) -gehtauch seine in der Folge von zahlreichen Neutestamentlern übernommene Unterscheidung zwischen wirklichen (unliterarischen Privat-)Briefen und lediglich die Briefform benutzenden (literarischen) Episteln zurück (Bibelstudien 1 8 7 - 2 5 2 ; kritisch: W.G. Doty, The Classification of Epistolary Literature: CBQ 31 [1969] 1 8 3 - 1 9 9 ) ; nicht weniger in der Interpretation der neuen Texte wurzelt Deißmanns Vorschlag, das Urchristentum soziologisch überwiegend in den Unterschichten beheimatet zu sehen (Das Urchristentum und die unteren Schichten, Göttingen 2 1 9 0 8 ; zum Stand der Forschung jetzt A. J. Malherbe, Soziale Ebene u. lit. Bildung: W. A. Meeks [Hg.], Zur Soziologie des Urchristentums, 1979 [TB 62] 1 9 4 - 2 2 1 ) .

Deißmann

407

Deißmanns Berufung auf einen neutestamentlichen Lehrstuhl erfolgte 1897 nach —»Heidelberg. Neben intensiver wissenschaftlicher Tätigkeit - 1908 mit dem auch auf das Interesse weiterer Kreise berechneten Werk Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt (4. völlig neubearb. Aufl., Tübingen 1923) gekrönt - fand er hier ausgiebig Gelegenheit zum Austausch mit den führenden Gelehrten seiner Universität (u.a. W. Windelband, A. Dieterich, E. ^>Troeltsch, M. —> Weber); zudem knüpfte er zahlreiche internationale Kontakte, vorzugsweise nach England und Skandinavien, und fand auch — von den nationalsozialen Gedanken F. -^»Naumanns bewegt - Zeit zur Wahrnehmung öffentlicher Pflichten als Stadtverordneter und Volkshochschullehrer. Einem anscheinend sogar von B. Weiß befürworteten (Selbstbiographie 68) Ruf folgend, ging Deißmann 1908 nach —»Berlin, wo sich seine Wirksamkeit nun freilich immer stärker in kirchenpolitische und ökumenische Bereiche verlagerte, auch wenn 1911 nochmals ein größeres Werk mit wissenschaftlichem Anspruch erschien: Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze (2. völlig neubearb. Aufl., Tübingen 1925). „Ein Protest gegen den papierenen Paulus der L e h r b ü c h e r " (Selbstbiographie 6 7 ) , zieht es die in der Habilitationsschrift angelegten Linien zu einem Gesamtbild des ganz von „Christusmystik" und „Christuskult" bestimmten Apostels aus, bei dessen Interpretation als Mystiker Deißmann zwar mit W . —»Bousset und A. —»Schweitzer einig sein konnte (s. A . F . Verheule, Wilhelm Bousset, Diss. Utrecht 1 9 7 3 , 2 0 4 - 2 0 6 ) , von anderer Seite aber heftige Kritik erfuhr; besonders s c h a r f u n d Deißmann persönlich treffend E . S c h w a r t z : G G A 1 7 3 ( 1 9 1 1 ) 6 5 7 - 6 7 1 (vgl. Deißmanns Replik: Paulus 2 2 3 2 - 2 4 9 ) ; sachlich weiterführend, weil die mystischen Züge bei Paulus auf ihre wahren Dimensionen reduzierend, später Deißmanns Schüler M . —»Dibelius, Paulus u. die Mystik, München 1 9 4 1 ( = ders., Botschaft u. Gesch., Tübingen, II 1 9 5 6 , 1 3 4 - 1 5 9 ) .

Vollends mit Beginn des 1. Weltkrieges traten Deißmanns kirchlich-politische Aktivitäten in den Vordergrund seiner Arbeit. An die Protestanten im neutralen Ausland richtete sich der von 1914 bis 1921 erschienene Evangelische Wochenbrief des Mitunterzeichners der 1914 von R. —»Seeberg verfaßten Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches; nach innen wandten sich zahlreiche Reden, Andachten und Predigten (vgl. etwa die Sammlung Deutscher Schwertsegen. Kräfte der Heimat fürs reisige Heer, Stuttgart/Berlin 1915), die zwar weitgehend von der in der deutschen Kriegspredigt jener Jahre üblichen Topik geprägt waren (W. Pressel, Die Kriegspredigt 1 9 1 4 - 1 9 1 8 in der ev. Kirche Deutschlands, Göttingen 1967, Reg. s. v. Deißmann), aber doch der Fürbitte auch für den vom Leid betroffenen Kriegsgegner und der Erinnerung an die grenzüberschreitende Gemeinschaft der Christen nicht entbehrten (Schwertsegen 4 9 ; Pressel a.a.O. 139). Nach dem Krieg nahmen dann die Mitwirkung in vielerlei Gremien (z.B. im Fachausschuß für Theologie in der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, in der Generalsynode der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union und im Auslandsausschuß des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes) sowie vor allem die intensive Mitarbeit in der sich nun organisierenden ökumenischen Bewegung Deißmann so in Anspruch, daß nicht nur seine Beteiligung an der Forschung fast ganz aufhörte, sondern auch seine übrigen akademischen Aktivitäten wie z. B. die Lehrtätigkeit darunter zu leiden begannen (vgl. die kritischen Bemerkungen H.Lietzmanns [Glanz u. Niedergang der Dt. Univ., Berlin 1979, 651.728] und H.-D. Wendlands [Wege u. Umwege, Gütersloh 1977,20]). Dennoch lehnte Deißmann, eifriger Besucher ökumenischer Kongresse (u. a. der Weltkirchenkonferenz für Praktisches Christentum in Stockholm 1925, über die er den amtlichen deutschen Bericht erstattete [Die Stockholmer Weltkirchenkonferenz, Berlin 1926]) und seit 1929 auch Mitglied des ökumenischen Rates für Praktisches Christentum, den 1922 an ihn ergangenen Ruf als Landesbischof von Nassau nach Wiesbaden ab, wohl hauptsächlich, um das für die Pflege internationaler Beziehungen zentral gelegene Berlin nicht verlassen zu müssen. Am —»Kirchenkampf war der für das Amtsjahr 1930/31 zum Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität Gewählte nicht mehr direkt beteiligt; freilich hat er mehrfach aus der Bekennenden Kirche stammende Texte mitunterzeichnet, so 1933 das Gutachten Neues Testament und Rassen-

408

Dekalog I

frage (H. Liebing, Die Marburger Theologen u. der Arierparagraph in der Kirche, M a r b u r g 1 9 7 7 , 1 6 - 1 9 ) . Hochgeehrt — als Ehrendoktor von Aberdeen, St. Andrews, Manchester, O x ford, Uppsala, W o o s t e r / O h i o und (postum) Athen — starb Deißmann am 5 . 4 . 1 9 3 7 ; sein Grab fand er auf dem Friedhof von Wilnsdorf bei Berlin (Kreis Teltow). Sein umfangreicher Nachlaß gelangte in die (Ost-)Berliner Stadtbibliothek, w o er sich noch heute befindet. Werke Eine vollst. Bibliogr. fehlt. - Auswahlbibliogr.: Selbstbiographie (s.u.), 7 6 - 7 8 ; Härder (s.u.), 18—20. Die Hauptwerke sind im Text genannt. — Außerdem: Zur Methode der bibl. Theol. des NT: ZThK 3 (1893) 1 2 6 - 1 3 9 (wiederabgedr.: Das Problem der Theol. des NT, hg. v. G. Strecker, 1975 [WdF 367] 6 7 - 8 0 ) . - D i e sprachl. Erforschung der griech. Bibel, 1898 (VTKG 12). - Die Sprache der griech. Bibel: T h R l ( 1 8 9 8 ) 4 6 3 - 4 7 2 ; 5 (1902) 5 8 - 6 9 ; 9 (1906) 2 1 0 - 2 2 9 ; 15 (1912) 3 3 9 - 3 6 4 . - A r t . Hell. Griech.: RE 3 7 (1899) 6 2 7 - 6 3 9 . - Die Hellenisierung des semitischen Monotheismus: NJKA 11 (1903) 1 6 1 - 1 7 7 . — Evangelium u. Urchristentum: Beitr. zur Weiterentwicklung der christl. Religion, München 1905, 7 7 - 1 3 8 . - Die Urgesch. des Christentums im Lichte der Sprachforschung, Tübingen 1910. - Die dt. Theol. u. die Einheit der Kirche: IMW 13 (1919) 3 3 7 - 3 6 2 . - Zur ephesischen Gefangenschaft des Apostels Paulus: Anatolian Studies. FS W . M . Ramsay, Manchester 1923, 1 2 1 - 1 2 7 . [Selbstbiographie:] Die Religionswiss. der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. v. E.Stange, Leipzig, I 1925, 4 3 - 7 8 . -Forschungen u. Funde im Serai, Berlin 1933. —Hss. aus Anatolien in Ankara u. Izmit: ZNW 34 (1935) 2 6 2 - 2 8 4 . Literatur Würdigungen zum 70. Geburtstag, Nachrufe: Martin Dibelius: DtPfrBl 4 0 (1936) 781 f . - W a l t e r Dreß: EvDt 13 (1936) 405. - Hans Lietzmann: ZNW 35 (1936) 2 9 9 - 3 0 6 . - Wilhelm Michaelis: DtPfrBl 4 0 (1936) 782 f. - Johannes Schneider: ebd. 7 8 3 - 7 8 5 . -Friedrich Siegmund-Schultze: ChW 51 (1937) 3 3 3 - 3 3 6 . Günther Baumbach, Bereit zu neuem Anfang. Zum 100. Geburtstag von Adolf Deißmann: ZdZ 2 0 (1966) 4 5 0 - 4 5 2 . - Gertrud Frischmuth, Adolf Deissmann: ökum. Profile, hg. v. G. Gloede, Stuttgart, I 1961, 2 8 0 - 2 9 0 . - Günther Härder, Zum Gedenken an Adolf Deissmann, Bremen 1967. - Hermann Strathmann, Art. Deißmann: NDB 3 (1957) 571 f. Eckhard Plümacher Dekalog I. Altes Testament II. III. IV. V.

Judentum Neues Testament Ethisch Praktisch-theologisch

413 415 418 428

I. Altes Testament 1. Bezeichnung 2. Zehnzahl 3. Textvarianten lieferung 6. Bedeutung (Literatur S.412) 1.

4. Form und Gattung

5. Herkunft und Uber-

Bezeichnung

Der sog. klassische oder ethische Dekalog von E x 2 0 , 2 - 1 7 = D t n 5 , 6 - 2 1 ist das einzige alttestamentliche „ Z e h n w o r t " , das im Judentum wie im Christentum eine außerordentliche Wirkungsgeschichte hatte. Dabei handelt es sich um eine als Gottesrede eingeleitete Reihe von Verboten und Geboten, die Gottes- und Menschenrecht fordern und schützen. Diese „Zehn G e b o t e " sind aber weder numeriert (daraus erklären sich die unterschiedlichen Z ä h lungen in der christlichen Überlieferung; vgl. die Tabelle bei Nielsen 16) noch im direkten Kontext als „ Z e h n w o r t " bezeichnet. Der griechische Ausdruck Dekalog hat seinen alttestamentlichen Rückhalt nur in zwei deuteronomisch/deuteronomistischen Zusammenstellungen von „ z e h n " und „ W o r t e " , die sich freilich mit höchster Wahrscheinlichkeit auf E x 2 0 / D t n 5 beziehen: '"sceraet haddebarim in Dtn 4 , 1 3 ; 1 0 , 4 ( L X X in 1 0 , 4 oi dexa Xöyot). In E x 3 4 , 2 8 ist der einzige weitere Beleg für diesen Ausdruck offensichtlich auf die ganz andere Reihenbildung von E x 3 4 , 1 0 - 2 6 (früher „kultischer D e k a l o g " genannt) bezogen. So be-

Dekalog I

409

zeugt der gegenüber Ex 20par. sowie vergleichbaren Reihen sekundäre Ausdruck „ Z e h n w o r t " nur die besondere Wertschätzung des ,ethischen' Dekalogs in der deuteronomistischen Schule, ist also kaum vor dem 6. Jh. v.Chr. gebräuchlich gewesen. Mit der mnemotechnischen Chiffre „ Z e h n ( w o r t ) " ist zugleich die Entstehungsgeschichte der Reihe abgeschlossen. Die Überlieferung von den zwei steinernen Tafeln, auf die (Mose oder) G o t t selbst „diese W o r t e " geschrieben hatte (Ex 3 2 ; 34; Dtn 9f), ist nur Dtn 5,22 direkt auf 5 , 6 - 2 1 bezogen; im Kontext von Ex 20 erscheint sie gar nicht. Im übrigen wird im Alten Testament nirgends auch n u r der Versuch gemacht, die Zehn G e b o t e auf die zwei Tafeln zu verteilen. Eine schematische Aufteilung des überlieferten Textes in je fünf G e b o t e ergäbe angesichts der Längenunterschiede ein erdrückendes Übergewicht der sog. 1.Tafel; eine thematische Aufteilung (Verhältnis zu G o t t bzw. zum Nächsten) w ü r d e daran nichts ändern. Der Befund zeigt: Die beiden Motive (zehn Worte, zwei Tafeln) sind u n a b h ä n g i g voneinander, aber wohl sogar auch u n a b h ä n g i g von Ex 2 0 p a r . entstanden. Überdies hat die deuteronomistische Schule die alte Lade J a h w e s z w a r als „ B u n d e s l a d e " , d . h . als Behälter des Bundes-Gesetzes verstanden (I Reg 8,9), aber nirgends behauptet, d a ß (nur) der Dekalog Inhalt dieser Lade gewesen sei. So gibt es ein ganzes Geflecht von (überwiegend deuteronomistischen) Anspielungen d a r a u f , d a ß der Dekalog Israels herausragendes ,Grundgesetz' w a r .

2.

Zehnzahl

Das „ Z e h n g e b o t " läßt sich aber keinesfalls als „allgemeine Gesetzes-Form" im Alten Testament bezeichnen (Auerbach), sondern es bildet vielmehr die auffällige Ausnahme. Von Dekalogen im Plural kann nur auf der Basis von literarkritischen Operationen und literarischen Rekonstruktionen geredet werden. So läßt sich die Reihe von Ex 3 4 , 1 0 - 2 6 n u r durch mehr oder weniger willkürliche Streichungen von zwölf (oder mehr) Sätzen auf zehn reduzieren. Entsprechende Reduzierungen sind nötig, um die thematisch höchst verschiedenen Reihen im —»Heiligkeitsgesetz (bes. in Lev 18—20) oder in Ez 18 hier ü b e r h a u p t geltend machen zu können. Eher plausibel ist die Reduzierung der zwölf Fluchsätze auf zehn in Dtn 27,15—26 (—»Segen und Fluch). Abgesehen davon, daß es sich bei vielen dieser ,Analogien' ohnehin nicht um Gebotsreihen handelt (vgl. z.B. Ps 15), m u ß die Zehnzahl also überall durch Eingriffe in Reihen von meist 1 2 - 1 5 Sätzen erst hergestellt werden. W o das geschieht, wird ipso facto konzediert, d a ß die Zehnzahl kein „Formgesetz" war, daß also die alttestamentliche Überlieferung selbst sie entweder nicht bewahrte oder, wahrscheinlicher, weder sah noch suchte. Ungeachtet der Zählungsschwierigkeiten sogar in Ex 20par. kann dieser Text vor allen vergleichbaren als der alttestamentliche Dekalog gelten, dem die deuteronomistische Schule auch mit der Chiffre „ Z e h n w o r t " zur kanonischen Dignität verhalf. 3.

Textvarianten

Die beiden Dekalog-Fassungen von Ex 2 0 / D t n 5 unterscheiden sich ihrerseits an mehr als 20 Stellen voneinander. Dabei handelt es sich meist u m kleinere, präzisierende Zusätze der Fassung von Dtn 5. Echte Ausdrucks-Varianten finden sich beim Sabbatgebot (Ex: zakör [gedenke]; D t n : s a m ö r [beachte]) sowie bei den beiden letzten Geboten. Am deutlichsten unterscheiden sich die beiden Fassungen in der Begründung des Sabbatgebotes (—»Sabbat). Sie erfolgt in Ex 2 0 , 1 1 mit einer Anspielung auf den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht: „ D e n n in sechs Tagen schuf J a h w e den Himmel und die Erde . . . , und er ruhte am siebenten Tage. D a r u m segnete Jahwe den Sabbattag und heiligte i h n " (vgl. bes. Gen 2,2 f). Demgegenüber erweitert Dtn 5,15 das Sabbatgebot mit der Erinnerung an das geschichtliche' Urd a t u m des israelitischen Credos: „ D e n k e daran, daß du Knecht/Sklave warst im Lande Ägypten und daß Jahwe . . . dich von dort herausgeführt h a t . . . ; d a r u m hat Jahwe . . . dir befohlen, den Sabbattag zu begehen ('sh)." Natürlich ist dieser deuteronomische Zusatz keine primäre Begründung der Sabbat-Institution, sondern eine paränetische Motivierung, wie sie in derselben Sprache und Intention auch ganz anderen ethischen Weisungen beigef ü g t wird (vgl. Dtn 1 5 , 1 2 - 1 4 . 1 5 ) . Das Stichwort für Dtn 5,15 w a r freilich in 5 , 1 4 b (= Ex 2 0 , 1 0 b ) mit „dein Knecht und deine M a g d " vorgegeben; dort ist sogar noch hinzugefügt: „ d a m i t dein Knecht und deine M a g d ruhen wie du selbst". - Der aus dem l . J h . v . C h r .

410

Dekalog I

stammende Papyrus Nash (—>Bibelhandschriften), die älteste direkte Bezeugung des hebräischen Dekalogtextes, bietet einen von den beiden alttestamentlichen Fassungen nur leicht abweichenden Mischtext (vgl. Jepsen 275 —281 mit Text des Pap. Nash). — Es gab also in alttestamentlicher Zeit niemals einen Normtext des Dekalogs. Das Verwunderliche ist aber nicht, daß die Varianten entstanden, sondern daß sie ohne Ausgleich kanonisiert wurden. 4. Form und

Gattung

In formaler Hinsicht zerfällt der Dekalog in zwei Teile: Ex 2 0 , 2 - 6 bilden eine Jahwerede, in 20,7 ff wird von Jahwe in der 3. Person geredet. Dieser Mangel an formaler Geschlossenheit ist ein Hinweis darauf, daß der Dekalog durch das Sammeln und Auswählen von Verboten wie durch bewußte literarische Gestaltung entstanden ist. Im zweiten Teil überwiegen, von kürzeren oder längeren Zusätzen abgesehen, die knappen Verbote in der sprachlichen Form 2. Person Sing. Imperfekt Indikativ mit der Verneinungspartikel 16'. A. —»Alt (Ursprünge) zählte sie zum „apodiktisch formulierten Recht", das er „volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch" nannte und „in den grundlegenden Institutionen der Frühzeit Israels" verwurzelt sah. Die seither geführte wissenschaftliche Debatte nötigt freilich zu der Einsicht, daß solche Gebote oder Verbote weder auf Ex 20par. oder vergleichbare Reihen noch auf Israel und seine kultischen Institutionen beschränkt sind, sondern sich in verschiedenen altorientalischen Lebens- und Textbereichen finden (—»Formgeschichte, —•Recht). E. Gerstenberger spricht bei „nichtkonditionalen, nichtrituellen, meist negativ und in direkter Anrede formulierten und für das tägliche Leben normativen Geboten" (27) generalisierend von „Prohibitiven", deren „ursprüngliche nationale und religiöse Gebundenheit" er zu Recht als eine Fiktion bezeichnet (109). Der Gebrauch der Verbotsform „Du sollst n i c h t . . . " ist zudem in vielen Lebensbereichen gleichsam der natürliche, so daß dafür kaum ein einziger ,Ursprungsort' (Gerstenberger: das Sippenethos) angegeben werden kann. Aber es besteht kein Zweifel daran, daß längere Reihen von Prohibitiven jeweils das Resultat formaler Vereinheitlichungsbestrebungen sind. Das gilt für spezielle, thematische Reihen ebenso wie für die thematisch gemischte, also ,universale' Reihe des Dekalogs. Israel hat „selbst am Dekalog lange gearbeitet, bis er nach Form und Inhalt so universal und so knapp geworden ist, um als eine zureichende Umschreibung des ganzen Willens Jahwes an Israel gelten zu können" (G. v. Rad, Theol. des Alten Testaments, 1 6 1969, 205). Der ,prohibitive' Kern des Dekalogs entzieht sich darum auch beinahe grundsätzlich jeder genaueren Altersbestimmung; aber verglichen mit den mehr speziellen Sammlungen gehört die universale Reihe des Dekalogs eher einem späteren Stadium an - und dies noch ganz abgesehen von der einleitenden Gottesrede. Zu seiner herausgehobenen Stellung und Geltung gelangte Ex 20par. also sowohl durch den das religiöse und soziale Leben umfassenden Charakter der Gebotsreihe als auch (und vor allem) durch die Verbindung der das ,Menschenrecht' schützenden Gebote der sog. 2. Tafel mit der das Gottesrecht wahrenden Jahwerede am Anfang (vgl. Perlitt 83 - 9 0 ) . Letztere trägt das sprachliche Gewand der deuteronomischen Theologie (so schon H. Schmidt; ganz anders jetzt wieder Lohfink). Mit der „Selbstvorstellungs"- (Zimmerli, Ich bin Jahwe) oder „Huldformel" (Jepsen) „Ich bin Jahwe, dein Gott" wird alles im Dekalog Folgende an den rechten theologischen Ort gerückt: Der Befreier aus Ägypten, Israels Gott, verbietet Israel andere Götter. Die deuteronomische Präambel ist eine theologische Begründung und homiletische Explikation des 1. Gebotes, die in Ex 20,2 f.5 f über das Bilderverbot hinweg entfaltet wird (Zimmerli, Das zweite Gebot). Erst in dieser Synthese von „Gebot und Predigt" (Reventlow) wurde der Dekalog zum klassischen „Beispiel für die Stilisierung von Prohibitiven als Jahwerede" (Gerstenberger 57). Die Unterordnung alles Gebotenen unter jenes grundlegende Verbot anderer Götter fand ihre endgültige Formulierung in der deuteronomischen Konzentration der Religion und Theologie Israels. Erst mit dem „Ich" Jahwes in der Präambel konnte der Dekalog seinen „Sitz im Leben" in der Gottesoffenbarung am Sinai finden.

Oekalog I

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Diese Wachstums- und Kompositionsgeschichte des Dekalogs erübrigt eine der Pflichtübungen der Forschung, nämlich die Rekonstruktion eines ,Urdekalogs'. Alle einschlägigen Versuche (eine Auswahl bei Nielsen 64—74) verdanken sich dem Verlangen nach formaler Einheitlichkeit oder gar Gleichheit der „Zehn W o r t e " . Wer solche Gleichförmigkeit für primär hält und darum rekonstruieren möchte, muß: 1. beim 1.—5. und 1 0 . G e b o t sekundäre Erweiterungen annehmen und einer Urgestalt absprechen. Das ist nur möglich unter der unbeweisbaren Voraussetzung, es habe vor dem Hinzukommen der Jahwerede eine von paränetischen Intentionen freie Reihe von zehn gleichförmigen Gebotssätzen gegeben. Sieht man dagegen die Besonderheit und literarische Grundform dieses singulären „ Z e h n w o r t s " an Jahwerede und Paränese gebunden, so fallen nur wenige begründende Satzteile als Zusätze heraus. Gerade die solche Erweiterungen betreffenden Differenzen der beiden Fassungen in Ex und Dtn lassen vermuten, daß der Dekalog vom Sinai/Horeb allezeit theologisch expliziertes ,Gesetz' war. 2. beim 6.—8.Gebot unsinnigerweise sekundäre Verkürzungen annehmen. Aber der ,universale' Dekalog hat seine Anfänge in der Sammlung kleiner Prohibitivgruppen, die allenfalls als solche gleichförmig waren. Es ist vollends gegen alle Vernunft, 1. und 2. gleichzeitig zu vertreten. 3. beim 4 . und 5. Gebot eine negative Formulierung erfinden („du sollst am Sabbat nicht arbeiten" u. ä.). Dann müßte freilich erklärt werden, warum die alttestamentlichen Sammler und Tradenten des Dekalogs den Mangel an Gleichförmigkeit buchstäblich erst hergestellt hätten. Angesichts der Vielfalt der formalen Differenzen sowie der Gegenläufigkeit der zur Aufhebung jener notwendigen Operationen ist die Rekonstruktion eines „Urdekalogs" beinahe ohne jeden wissenschaftlichen Wert. Das hohe Formvermögen Israels beugte sich hier dem Gewachsenen und Überkommenen. 5. Herkunft

und

Überlieferung

Mit—»Mose hat der Dekalog nicht mehr zu schaffen als das—»Deuteronomium auch. Es war dieselbe deuteronomisch/deuteronomistische Schule, die dem Dekalog zu seiner überlieferten Gestalt und herausgehobenen Stellung im werdenden —»Pentateuch verhalf (Perlitt 8 9 - 1 0 2 ) . Dtn 5 beweist, daß E x 2 0 , 2 - 1 7 eine selbständige, zitable Einheit ist. In Dtn 5 hat sie den kompositionellen Zusammenhang bewirkt, in Ex 19 ff hat sie ihn zerrissen, denn dort schließt der ältere Kontext ein Zitat dieser Art geradezu aus (was dann logisch auch für jede hypothetische Urgestalt gilt). Die redaktionelle Einführungsformel Ex 2 0 , 1 verbindet 2 0 , 2 — 1 7 nur „locker mit der Erzählung von der Gotteserscheinung am Sinai" (M. Noth, Das zweite Buch Mose [Exodus], 6 1 9 7 8 [ATD 5] 129). Ex 2 0 , 1 8 - 2 1 andererseits knüpft nicht an den Dekalog an, sondern muß im jetzigen T e x t die Brücke schlagen zum gleich folgenden—»Bundesbuch, das weit früher im Rahmen der ,Sinaiperikope' von E x 19—24 stand als der Dekalog. Als der Dekalog an den ,Sinai' geriet, war seine Dignität schon unbestritten. V o n jener Zeit und theologischen Bewegung ab, der er seine eigene Gestalt verdankt, sollte der Dekalog als das Konzentrat der Willensoffenbarung Jahwes am Sinai gelesen werden; darum wurde und blieb er allen übrigen (älteren wie jüngeren) Rechtscorpora vorangestellt. Aber dieser Einschub als solcher beweist, daß der Dekalog unabhängig von der Sinaitheophanie und so auch literarisch außerhalb der Sinaiperikope an Gestalt und Bedeutung herangewachsen war. Zeit und Umstände der Bemühung um die weitere Hervorhebung des Dekalogs lassen sich an Dtn 5 erkennen, denn dort wird er in der die Sinai-Ereignisse rekapitulierenden M o serede als das maßgebliche Dokument des Horeb-,Bundes' deklariert. Diese entscheidende Deutung wurde erst möglich, als der Dekalog selbst durch die Jahwerede zum konzentrierten Ausdruck aller Zusagen (Ich - dein Gott) und Forderungen Jahwes (keine anderen Götter) geworden war. „ T h e conception of Yahweh in the Commandments as a whole is essentially that o f Deuteronomy" (C. F. Whitley, Covenant and Commandment in Israel: J N E S 2 2 [ 1 9 6 3 ] 4 6 ) . So beweisen sowohl die Einfügung in die Sinaiperikope als auch die Voran-

412

Dekalog I

Stellung v o r das d e u t e r o n o m i s c h e Gesetz, d a ß der D e k a l o g in d e u t e r o n o m i s t i s c h e r Z e i t virulent w a r u n d schließlich z u m b ü n d i g s t e n A u s d r u c k u n d D o k u m e n t des n u n als b'rit [Bund] gedeuteten israelitischen Gottesverhältnisses w e r d e n k o n n t e (—»Bund). D a r u m w u r d e Ex 20,2—17 d e m älteren B u n d e s b u c h u n d D t n 5,6—21 d e m d e u t e r o n o m i s c h e n Gesetz v o r a n g e stellt, so d a ß schließlich das D e u t e r o n o m i u m geradezu als Explikation des D e k a l o g s erscheinen k o n n t e . Die religiösen wie die ethischen Elemente des D e k a l o g s h a t t e n eine lange Vorgeschichte in Israel, a b e r zu einer Einheit u n d G a n z h e i t w u r d e der D e k a l o g k a u m vor d e m 7. J h . , u n d eine einzige, im W o r t l a u t feste F a s s u n g f a n d er bis an die Schwelle der n e u t e s t a m e n t l i c h e n Z e i t nicht. D a s m o n a r c h i s c h e Israel k a n n t e u m f ä n g l i c h e u n d ältere G e s e t z e s s a m m l u n g e n , das nachexilische J u d e n t u m k a n n t e den D e k a l o g u n d kodifizierte gleichwohl neue, u m f ä n g liche S a m m l u n g e n von Gesetzen. Aber es bleibt erstaunlich, d a ß sich in der n a c h - d e u t e r o nomistischen Literatur des Alten T e s t a m e n t s keine Spuren des Dekalogs finden. W o in späten Psalmen (1; 19B; 119) der Schatz der töra gepriesen w i r d , ist k a u m speziell der D e k a l o g im Blick. 6.

Bedeutung

Seine alttestamentliche H e r v o r h e b u n g wie seine nach-alttestamentliche W i r k u n g s g e schichte v e r d a n k t dieses D o k u m e n t der israelitischen Religionsgeschichte d e r b e i n a h e singulären d e u t e r o n o m i s c h / d e u t e r o n o m i s t i s c h e n Z u s a m m e n b i n d u n g alles dessen, w a s J a h w e f ü r Israel w a r , g e w ä h r t e u n d wollte. G l a u b e n u n d H a n d e l n Israels f a n d e n in d e r G r u n d s t r u k t u r des D e k a l o g s gültigen A u s d r u c k : Alle G e b o t e h ä n g e n a m 1. G e b o t , dieses a b e r an der P r ä a m b e l „Ich bin J a h w e , dein G o t t , d a r u m sollst du . . . " So b e r u h t die bleibende B e d e u t u n g des D e k a l o g s auf seiner konzentrierten u n d a u s b a lancierten Z u o r d n u n g von G a b e u n d A u f g a b e f ü r Israel. Er zielt nicht auf (kasuistische) Vollständigkeit, s o n d e r n auf d a s Wesentliche, auf das Wesen der Religion Israels. In seiner elementaren Strenge u n d K ü r z e schützt der D e k a l o g das Gottsein G o t t e s e b e n s o wie das Menschsein des M e n s c h e n . U m dieser seiner G r u n d s ä t z l i c h k e i t willen k a m er an den literarischen O r t , den er behielt: als d e r erste u n d v o r n e h m s t e A u s d r u c k der O f f e n b a r u n g des Rechtswillens J a h w e s a m Sinai. Theologisch g e h ö r t der D e k a l o g z u m alttestamentlichen ,Gesetz', d a s G e h o r s a m f o r d e r t . M i t der Ubersetzung „ D u , w i r s t ' nicht m o r d e n " usw. w ü r d e Freiheit v o n Gesetz u n d G e h o r s a m n u r erschlichen. Aber die G e b o t e im D e k a l o g r u h e n auf der Z u s a g e , die G e h o r s a m e r m ö g l i c h t : „Ich bin dein G o t t . " ( Z u m G a n z e n vgl. auch —»Geb o t , - ^ G e s e t z ; z u m Einzelnen —»Bilder, - ^ E h e , —»Eigentum, - ^ M o n o t h e i s m u s ) . Literatur Albrecht Alt, Die Ursprünge des israelit. Rechts (1934): ders., KS zur Gesch. des Volkes Israel, München, I 1953, 2 7 8 - 3 3 2 . - Elias Auerbach, Das Zehngebot - allg. Gesetzes-Form in der Bibel: VT 16 (1966) 2 5 5 - 2 7 6 . - Gerhard Johannes Botterweck, Form- u. überlieferungsgesch. Stud. zum Dekalog: Conc(D) 1 (1965) 3 9 2 - 4 0 1 . - Georg Fohrer, Das sog. apodiktisch formulierte Recht u. der Dekalog: ders., Stud. zur atl. Theol. u. Gesch., 1969 (BZAW 115) 120 - 1 4 8 . - Erhard Gerstenberger, Wesen u. H e r k u n f t des „apodiktischen Rechts", 1965 ( W M A N T 20). - H a r t m u t Gese, Der Dekalog als Ganzheit betrachtet: ders., Vom Sinai zum Zion, 1974 (BEvTh 64) 6 3 - 8 0 . - Alfred Jepsen, Beitr. zur Auslegung u. Gesch. des Dekalogs: ders., Der Herr ist Gott. Aufs, zur Wiss. vom AT, Berlin 1978, 7 6 - 9 5 . Ludwig Köhler, Der Dekalog: T h R 1 (1929) 1 6 1 - 1 8 4 . - M. Lestienne, Les dix „paroles" et le decalogue: RB 79 (1972) 4 8 4 - 5 1 0 . - Sigmund Mowinckel, Z u r Gesch. der Dekaloge: Z A W 55 (1937) 2 1 8 - 2 3 5 . - Ernest W. Nicholson, T h e Decalogue as the Direct Address of God: V T 27 (1977) 4 2 2 - 4 3 3 . - Hendrik van Oyen, Ethik des AT, Gütersloh 1967, 1 0 2 - 1 3 2 . - Lothar Perlitt, Bundestheol. im AT, 1969 ( W M A N T 36) 7 7 - 1 0 2 . - Anthony Phillips, Ancient Israel's Criminal Law. A New Approach to the Decalogue, O x f o r d 1970. - Henning Graf Reventlow, Gebot u. Predigt im Dekalog, Gütersloh 1962. —Harold Henry Rowley, Moses and the Decalogue: ders., Men of God, London 1963, 1 - 3 6 . - H a n s Schmidt, Moses u. der Dekalog: Eucharisterion. FS H e r m a n n Gunkel, I 1923 (FRLANT 36) 7 8 - 1 1 9 . - Josef Schreiner, Die Z e h n Gebote im Leben des Gottesvolkes, 1966 (BiH 3). - Johann Jakob Stamm, DreiiSig Jahre Dekalogforschung: ThR 27 (1961) 1 8 9 - 2 3 9 . 281 - 3 0 5 . - Ders., Der Dekalog im Lichte der neueren Forschung, Bern/Stuttgart 1962.

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Dekalog II

Z « einzelnen Geboten: ,Präambel': Karl Elliger, Ich bin der Herr — euer Gott: ders., KS zum AT, 1 9 6 6 (TB 3 2 ) 2 1 1 - 2 3 1 . - Norbert Lohfink, Die These vom „ d t r . " Dekaloganfang - ein fragwürdiges Ergebnis atomistischer Sprachstatistik: Stud. zum Pentateuch. FS Walter Kornfeld, Wien 1 9 7 7 , 9 9 - 1 0 9 . - W a l t h e r Zimmerli, Ich bin Jahwe: ders., Gottes Offenbarung. GAufs., 1 9 6 3 2 1 9 6 9 (TB 19) 1 1 - 4 0 . - Fremdgötter: Rolf Knierim, Das erste Gebot: Z A W 7 7 ( 1 9 6 5 ) 2 0 - 3 9 . - Werner H. Schmidt, Das erste Gebot, 1 9 6 9 (TEH 165). -Bilder: Karl-Heinz Bernhardt, Gott u. Bild. Ein Beitr. zur Begründung u. Deutung des Bilderverbotes im AT, 1 9 5 6 (ThA 2). - Walther Zimmerli, Das zweite Gebot: ders., Gottes Offenbarung. GAufs., 1 9 6 3 2 1 9 6 9 (TB 19) 2 3 4 - 2 4 8 . - S a b b a t : Niels-Erik Andreasen, Recent Studies of the O T Sabbath: Z A W 8 6 ( 1 9 7 4 ) 4 5 3 - 4 6 9 . - Emst Jenni, Die theol. Begründung des Sabbatgebotes im AT, 1 9 5 6 (ThSt 46). —Eltern: Rainer Albertz, Hintergrund u. Bedeutung des Elterngebots im Dekalog: Z A W 9 0 ( 1 9 7 8 ) 3 4 8 - 3 7 4 . - Johann Gamberoni, Das Elterngebot im AT: BZ N F 8 (1964) 1 6 1 - 1 9 0 . - Heinz Kremers, Die Stellung des Elterngebotes im Dekalog: EvTh 21 ( 1 9 6 1 ) 145 —161. — Totschlag: Johann Jakob Stamm, Sprachliche Erwägungen zum Gebot „Du sollst nicht töten": T h Z 1 ( 1 9 4 5 ) 81 - 9 0 . -Diebstahl: AlbrechtAlt, Das Verbot des Diebstahls im Dekalog: ders., KS zur Gesch. des Volkes Israel, München, I 1 9 5 3 , 3 3 3 - 3 4 0 . - Friedrich Horst, Der Diebstahl im AT: ders., Gottes Recht. Stud. zum Recht im AT, 1961 (TB 12) 1 6 7 - 1 7 5 . -Lügenzeugnis: Hans Joachim Stoebe, Das achte Gebot: WuD NF 3 ( 1 9 5 2 ) 108 - 1 2 6 . - Maurice E. Andrew, Falsehood and Truth: Interp. 16 ( 1 9 6 3 ) 4 2 5 - 4 3 8 . - Begehren: Johannes Herrmann, Das zehnte Gebot: Beitr. zur Religionsgesch. u. Archäologie Palästinas. FS Ernst Sellin, Leipzig 1 9 2 7 , 6 9 - 8 2 . - William L. Moran, The Conclusion of the Decalogue: CBQ 2 9 ( 1 9 6 7 ) 5 4 3 - 5 5 4 . - Vgl. ferner die Kommentare zu Ex u. Dtn.

L o t h a r Perlitt II. Judentum 1. Bezeichnung 1.

2. In der Liturgie

3. In der Exegese

4. In der Philosophie

(Literatur S . 4 1 5 )

Bezeichnung

Von Dtn 4 , 1 3 ; 1 0 , 4 (s. o. Abschn. 1.1) her kannte die jüdische Tradition den Dekalog unter dem Begriff '"sceraet haddib'rot. -H> I s a a k A b r a b a n e l ( K o m m , zu E x 2 0 ) e r ö r t e r t , o b damit „ S p r ü c h e " oder „ G e b o t e " gemeint seien, wobei er dreizehn im Dekalog tatsächlich enthaltene G e b o t e zählt (—»Mose ben M a i m o n zählt fünfzehn). Er folgert, daß sich die „ Z e h n W o r t e " auf die zehn unterschiedlichen Redeeinheiten, die das V o l k hörte, beziehen sowie auf die dazwischenliegenden Redepausen. Möglich ist auch, daß frühere Zweifel über die Zählung der Sprüche in den beiden Akzentuierungssystemen — supra- und infralinear — zum Ausdruck k o m m e n , insofern der T e x t dadurch in dreizehn oder zehn Verse unterteilt wird. Beide Systeme werden von den meisten Gemeinden akzeptiert, jedoch gibt es Unterschiede im konkreten Gebrauch. Einige benutzen das supralineare System für die öffentliche und das infralineare System für die private Lesung; andere wiederum benutzen das infralineare System für die Lesung des Wochenabschnittes, das supralineare System hingegen für d a s Shavuot-Fest (Pfingsten). 2 . In der

Liturgie

Unbeschadet seiner fraglosen Wichtigkeit ist der D e k a l o g im jüdischen Denken, besonders auf dem Gebiet der Liturgie, seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert von einiger Zwiespältigkeit umgeben. Ursprünglich im täglichen Tempeldienst rezitiert ( m T a m 5 , 1 ) und auch in Phylakterien aus der Zeit des Zweiten Tempels enthalten, ist er später entfernt worden, um die Behauptung häretischer Sekten (minim) zu widerlegen, am Sinai seien nur die Zehn G e b o t e erteilt worden (yBer I,3c). D e r Papyrus Nash belegt die liturgische Rezitation des Dekaloges in Ägypten vor dem 13. J h . , im übrigen aber taucht er nur als Element der individuellen täglichen Religionsausübung nach dem M o r g e n g e b e t (Baer 1 5 9 ) oder in den mä'madöt (private tägliche Lektüre von Bibel-, M i s c h n a - und Talmudabschnitten in Verbindung mit verschiedenen Gebeten) auf. W ä h r e n d ihn die Reformbewegung wieder in den Sabbatgottesdienst einführte, wird der Dekalog ansonsten in der traditionellen Praxis nur dann gelesen, wenn er im regulären Wochenabschnitt auftaucht ijitrö und wa' aethanän), sowie beim Shavuot-Fest. Seine Bedeutung k o m m t dann durch das Stehen der Gemeinde bei seiner Verlesung zum Ausdruck, o b w o h l über diese Praxis diskutiert wurde und M a i m o n i -

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Dekalog II

des sich dagegen in einem Responsum (Zevin 326) aussprach, damit die Menschen nicht dächten, ein Teil der Tora sei wichtiger als ein anderer. 3. In der Exegese Die jüdische Exegese konzentrierte sich besonders auf die Abgrenzung der Gebote, deren Verteilung auf die zwei Tafeln und auf die Unterschiede zwischen Ex 20 und Dtn 5 sowie auf die Erforschung der Bedeutung der einzelnen Gebote. Der erste Satz wird nicht lediglich als eine Glaubensaussage verstanden, sondern als ein spezifisches erstes Gebot, an die Existenz Gottes zu glauben (Maimonides, sefer hammiswöt: miswòt ' a se, 1; jad h a zaqä: hilkòt j'sódè hàttòra, 1; vgl. die Kommentare Abrahams ben Meir ibn Esra, Sfornos und Nachmanides', zu Ex 20,1). In der rabbinischen Literatur werden die ersten zwei Gebote deswegen als besonders wichtig angesehen, weil sie in der 1. Person formuliert sind und von Gott direkt zum Volk gesprochen werden (bMak 24 a). Im zehnten und siebten Gebot hingegen sah man alle übrigen Gebote impliziert, weil ihre Übertretung unausweichlich auch zur Verletzung der anderen führen muß. Nach der vorherrschenden Meinung verteilten sich die Gebote gleichmäßig auf die beiden Tafeln, während eine Minderheit glaubte, daß jede Tafel den vollständigen Text enthielt (ShemR 47; vgl. Mekh Yitrò 8). Die Unterschiede zwischen den beiden Versionen löste man durch die Annahme auf, daß beide zugleich proklamiert wurden (bShevu 20b; bRHSh 27a), wie sie sich in dem im 16. Jh. in den mystischen Kreisen von Safed zur Begrüßung der Sabbat-Braut verfaßten Hymnus l'kädödt widerspiegelt: ^ G e d e n ke' und ,Halte' (die jeweiligen Einführungsworte des vierten Gebotes) wurden uns durch eine Äußerung des einen und einzigen Gottes übermittelt". Ibn Ezra (Komm, zu Ex 20) entschärfte die geringeren Divergenzen durch den Hinweis, daß unbeschadet unterschiedlicher Worte und Buchstaben in jedem Fall dieselbe Bedeutung ausgedrückt sei — „Worte sind wie Körper, Bedeutungen sind wie Seelen, und der Körper ist das Gefäß der Seele. Daher entspricht es in jeder Sprache dem Brauch der weisen Männer, die Bedeutung zu wahren und nicht über Änderungen von Worten betroffen zu sein, solange sie den Sinn gewährleisten"; die größeren Ergänzungen von Dtn 5 erklärte er als von Moses hinzugefügte erläuternde Glossen. 4. In der

Philosophie

Jüdische Philosophen haben die Natur des Sinai-Geschehens und den Unterschied zwischen der Auffassung des Volkes und der des Moses erforscht (Maimonides, More han e büklm 2,33). Von besonderer Bedeutung war dieErklärungdesDekalogesals einer Essenz aller Gebote. —»Philo (Decal) bezeichnete die Zehn Gebote als „Hauptpunkte des Gesetzes" und arbeitete die verschiedenen Gruppen von Gesetzen, die unter jedes einzelne Gebot fallen, heraus. Die Behauptung, daß ähnliche Ansichten in der frühen rabbinischen Literatur auftauchen, ist in Frage gestellt worden (Urbach, Sages 361); gelegentlich wird explizit vor der Betonung des Dekaloges auf Kosten der anderen Gesetze gewarnt (SifDev 1,3). —» Jehuda Hallevi (Kuzari 2,28) nannte ihn „die Wurzel des Wissens"; —» Bachja ibn Paquda (hòbòt hàll e babòt 1) sah im Schema entsprechend dem Dekalog zehn Hauptprinzipien enthalten; —> Josef Albo ('iqqarim 3,26) betrachtete die Gebote der ersten Tafel als theologisch, die der zweiten Tafel als ethisch, und alle zusammen als Konzentrat des Gesamtinhaltes der Religion; Abraham bar Hiyya (hajgjòn han-naspxs 4) entwickelte eine einheitliche Klassifikation, indem er nach Mensch und Gott, Mensch und Familie, Mensch und Mensch unterteilte; ähnlich erläuterten Abrabanel und Shmuel David Luzzato die Bedeutung des Dekaloges in ihren Kommentaren zu Ex 20. Innerhalb der Liturgie gliederten die 'azharöt [Weisungen], Hymnen für Shavuot, die 613 Gebote und Verbote unter den Titeln der Zehn Gebote (Saadja 191 ff). Die Volkstümlichkeit des Dekaloges als eines homiletischen Aufhängers wird durch den midras '"saeraet haddib'rót, einer Sammlung von Erzählungen aus der gaonäischen Epoche, bestätigt.

Dekalog III

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Literatur Seligman Baer, Sedär c a bödat jisra'el, Berlin 1 9 3 6 . — Louis Ginzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia 1 9 4 6 , 1 1 1 , 1 3 9 - 1 4 4 ; V I , 4 9 - 5 4 . - S o l o m o n Goldman, The Book of Human Destiny. III. From Slavery to Freedom, New York 1 9 5 8 , 5 3 4 - 6 8 9 . - Aharon Yaakov Greenberg, 'ittüre törä, Tel Aviv, III 1 9 7 0 , 1 6 0 - 1 6 7 . - Abraham bar Hayya, The Meditation of the Sad Soul, London 1 9 6 9 , 2 3 f. 1 3 0 - 1 3 9 . - A . Z . Idelsohn, Jewish Liturgy and Its Development, New Y o r k 1 9 3 2 = 1 9 6 7 . - B . S . Jacobson, Meditations on the Torah (hebr.), Tel Aviv 1 9 5 6 , 9 2 - 9 8 . - Menahem M . Kasher, Humas töra s'lemä, New York, X V I 1 9 5 4 . - E l i j a h u Ki-Tov, Sepärhapparasijöt, Jerusalem 1 9 6 4 , 4 0 8 - 4 3 7 . Nehama Leibowitz, Studies in Shemot, The Book of Exodus (hebr.), Jerusalem, I 1 9 7 6 , 2 9 0 - 3 5 1 . Y o m - T o w Levinsky, Sepär h a m m o t a d i m , Tel Aviv, I I I 2 1 9 5 3 , 2 7 — 3 1 . - S i d d u r R. Saadja Gaon, ed. Israel Davidson u . a . , Jerusalem 1 9 4 1 , 1 9 1 - 2 1 6 . - Heinrich Schneider, Der Dekalogin den Phylakterien v. Qumran: B Z N F 3 ( 1 9 5 9 ) 1 8 - 3 1 . - Ephraim E. Urbach, Mismarot ü m a ^ m a d o t : Tarb. 4 2 ( 1 9 7 3 ) 3 0 4 - 3 2 7 . - Ders., The Sages, Jerusalem 1 9 7 5 , 3 6 0 - 3 6 6 . - G e z a Vermes, The Decalogue and the Minim: In Memoriam Paul Kahle, 1 9 6 8 ( B Z A W 103) 2 3 2 - 2 4 0 . - Frederick Ercolo Vokes (s.u. Abschn. III). - S h m u e l Hakohen Weingarten, ' a s ä r ä t haddibb e röt vah"luqqato: BetM 19 ( 1 9 7 4 ) 5 4 9 - 5 7 1 . M . Wiener, Der Dekalog in Josef Albos dogm. System: FS L. Baeck, 1 9 3 8 , 1 0 7 - 1 1 8 . - Solomon Josef Zevin, H a m m o ' 3 d i m bah'laka Tel Aviv 2 1 9 4 9 , 3 1 7 - 3 2 6 .

Jonathan Magonet III. Neues Testament 1. Vorkommen 2. Synoptische Jesusworte 3. Paulus 4. Die theologische Relevanz der neutestamentlichen Dekalogrezeption (Anmerkungen/Literatur S . 4 1 7 )

1.

Vorkommen

Im Neuen Testament erscheint weder der Begriff „Dekalog" noch wird der Dekalog als ganzer zitiert. Nur Einzelgebote oder Aufzählungen von Geboten (—»Gebot) der sog. 2. Tafel begegnen, vor allem in synoptischen Jesusworten und bei Paulus; sonst: 4. Gebot (römischkatholische/lutherische Zählung) Eph 6,2f innerhalb einer Haustafel, 6. und 5. Gebot Jak 2,11 als Argumentation für die Einheit des sittlichen Willens Gottes (F. Mußner, Der Jakobusbrief, 2 1 9 6 7 [HThK 13/1], 125), ohne Gebotscharakter mehrfach in Act und Apk Anspielungen auf Ex 20,11. 2. Synoptische

Jesusworte

Synoptische Jesusworte, die Dekalogsätze zitieren, sind entweder sehr wahrscheinlich authentisch oder spiegeln zumindest deutlich die Intention der Predigt Jesu wider. Die Aussagerichtung ist aber anders als im Alten Testament, da Dekaloggebote entweder in polemischem Kontext zitiert werden oder ihre Überbietung verlangt wird. Wiedas zeitgenössische Judentum verschärft Jesus zuweilen das—»Gesetz, doch nicht im Sinne eines Prinzips; denn er setzt auch Torabestimmungen bewußt (gegen Braun II, 7—14) außer Kraft, z. B. Lev 11 in Mk 7,15. Toraverschärfung im Blick auf Dekalogsätze wird an den beiden ersten Antithesen der —»Bergpredigt (Mt 5,21 ff.27ff) deutlich, wo das 5. und 6. Gebot radikalisiert werden. Dies träfe auch für die 4. Antithese (Mt 5,33 ff) zu, falls mit Jepsen (85) Ex 20,7 als Verbot des Meineids zu fassen ist (—>Eid). Gegen die pharisäische Praxis, unsittliche Qorbangelübde nicht zu lösen, weil ein vor dem Herrn abgelegtes Gelübde nicht gelöst werden kann (vgl. Num 30,3), setzt Jesus Mk 7,9—13 die Geltung des 4. Gebots: Wer Gottes Heiligkeit und somit das 1. Gebot gegen Gebote, die mitmenschliches Verhalten regeln, ausspielt, hat ein falsches Gottesverständnis. Alle Verehrung Gottes ist nur sinnvoll, wenn darüber nicht Gottes Dasein für den Menschen übersehen wird. So fügt sich Mk 7 , 9 - 1 3 bestens in die Gesamtverkündigung Jesu ein und erhebt Anspruch auf Authentizität (W. Grundmann, Das Evangelium nach Markus, 7 1977 [ThHK 2], 194; Hübner, Synopt. Tradition 1 4 6 - 1 5 5 ; Pesch I, 3 6 8 - 3 7 7 ; Westerholm 7 6 - 8 0 ; nicht authentisch: vor allem Berger 484—496). Ohne eigens das Sabbatgebot zu zitieren, interpretiert Jesus Mk 2,27 dieses im Sinne alttestamentlicher Begründung (Dtn 5,12 ff) gegen verfälschende inhumane Kasuistik als Gebot „um des Menschen willen".

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Dekalog III

Mk 1 0 , 1 7 - 2 2 par. Mt 19,16ff/Lk 18,18 ff nennt Jesus auf die Frage, wie ewiges Leben zu erwerben sei, Gebote der 2. Tafel 1 . Dieses Schulgespräch beruht „auf historischer Überlieferung einer Gegebenheit" 2 . In der matthäischen Parallele wird an die Reihe der Dekalogsätze das Gebot der Nächstenliebe Lev 19,18 angeschlossen (V. 19) und so die 2. Tafel als dessen Konkretion interpretiert - ganz im Rahmen der matthäischen Redaktion, die dieses Gebot (zusammen mit dem der Gottesliebe) als das größte Gebot im Gesetz herausstellt (vgl. Mt 22,34 - 4 0 mit Mk 12,28 - 3 1 ; dazu Bill. 1,907). Doch entspricht diese redaktionelle Modifikation Mt 19,19 intentional der Verkündigung Jesu, für die die Rezeption der Dekalogsätze kein Selbstzweck ist. Aber — wie schon in Mk — bedeutet selbst totale (V. 20) Ausrichtung des Lebens nach der 2. Tafel nicht Vollkommenheit. (Nach Mt 5,48 ist erst vollkommen, wer das Gebot der Nächstenliebe durch das der Feindesliebe radikalisiert.) Im wesentlichen hat Merklein recht, wenn er als Handlungsprinzip der —»Ethik Jesu die —»Herrschaft Gottes sieht3. Daß Dekaloggebote in Jesu Verkündigung an entscheidender Stelle begegnen, jedoch für das damalige Judentum nur partiell eine Rolle spielen (z. B. nicht in Test XII, wohl aber bei Philo, z. B. Decal 154), zeigt, wie gerade von Jesus zumindest eine Renaissance der Dekalogrezeption ausgeht. Man stellt die Dinge auf den Kopf, wenn man mit Berger die neutestamentlichen Dekalogstellen als Beweisstellen für eine spätjüdisch-hellenistische Auffassung deklariert, weil gemäß einem angeblichen „Gesetzesbegriff des Spätjudentums" die Gebote „die in der Form der sozialen Reihe gefaßten Dekaloggebote" seien4. Daß freilich Jesus nicht losgelöst von einer „neuen Sensibilität im Judentum" für das Liebesgebot (D. Flusser, A New Sensitivity in Judaism and the Christian Message: HThR 61 [1968] 107—127) gesehen werden darf, ist hiermit nicht bestritten.

3. Paulus Nur in Rom verweist Paulus auf den Dekalog. In Rom 1 3 , 8 - 1 0 faßt er, darin Mt 19,16 ff vergleichbar, Gebote der 2. Tafel unter dem Liebesgebot Lev 19,18 zusammen. Im Gegensatz zu Gal 5,14, wo er in einem früheren Stadium seiner theologischen Entwicklung, gekennzeichnet durch einen fast radikalen Antinomismus, dem quantitativ verstandenen ganzen Gesetz des Mose (Gal 5,3: ÖÄOV zöv vößov) das sog. „ganze" Gesetz für den Christen (o itäg vöfiog), das in dem nur einen Gebot der Nächstenliebe besteht, kontrastierte, meint er jetzt in Rom 13,8 — 10 mit „Gesetz" wirklich die Tora. Doch zeigt der Zusammenhang mit Rom 14 (keine kultische Unreinheit), daß Rom 13,8 - 1 0 implizit auch Reduktion der Tora aussagt5. Erfüllung des mosaischen Gesetzes durch die Liebe ist freilich nur „im Wandel nach dem Geist" (Rom 8,4) möglich, wodurch dem Glaubenden dieses Gesetz zum „Gesetz des Geistes des Lebens" (Rom 8,2) geworden ist (Lohse). Damit ist energisch das Gesetz als Heilsteeg abgewehrt. Wie IV Makk 2,6 und Rom 13,9 wird Rom 7,7 das Verbot zu begehren (9. und 10. Gebot) ohne Akkusativobjekt zitiert und somit verallgemeinert (E. Käsemann, An die Römer, 3 1974 [HNT 8 a] 184). Kraft dieser Verallgemeinerung dient es - anders als Gal 3,19 (Hübner, FRLANT 119, 27. 63 f.71 ff) - i m Rahmen der Rechtfertigungslehre des Rom der Sündenaufdeckung. 4. Die theologische

Relevanz der neutestamentlichen

Dekalogrezeption

Ein Überblick über die Theologien des Neuen Testaments etwa seit F. Chr. —»Baur (posthum 1864) zeigt, daß der Dekalog in der Darstellung der Predigt Jesu thematisch kaum eine Rolle spielt. Gerade bei Baur, wo die Lehre Jesu, unter dem Gesichtspunkt ihres Verhältnisses zum Gesetz des Alten Testaments behandelt, als Darstellung des ursprünglichsten Inhalts des christlichen Bewußtseins dargestellt wird, d. h. als „eine, den reinsten sittlichen Geist athmende Religion", wird der Dekalog als solcher nicht thematisiert (Vorl. über ntl. Theol., Leipzig 1864 = Darmstadt 1973, 64). Heinrich Weinel, der ebenfalls Jesu Forderung einer neuen Gesinnung, nämlich des einheitlichen Ethos von Reinheit und Liebe, als Kern der Vollendung der sittlichen Religion betrachtet, bringt in dem entscheidenden § 26 nur am Randeden Hinweis auf Mk 10,19 (Bibl. Theol. des NT, Tübingen 4 1 9 2 8 , 87). Auch die von der existentialen Interpretation herkommenden Theologien des Neuen Testaments von Rudolf -^Bultmann und Hans Conzelmann thematisieren den Dekalogbezug Jesu nicht. Bultmann billigt den Forderungen des Alten Testaments nur deshalb Autorität zu, weil „das Hören dieses Du sollst. . . von vornherein eine Möglichkeit unseres eigenen Daseins ist" (Die Bedeutung des AT für den christl. Glauben: GV I, 322). Leonhard Goppelt jedoch verweist unter der Uberschrift „Die ethischen Forderungen Jesu" auf Mk

Dekalog III

417

7 , 9 — 1 3 : „ J e s u s ruft von M e n s c h e n s a t z u n g e n weg zu den G o t t e s g e b o t e n des A T " ( 1 5 9 ) ; doch ist diese „ Z i e l a n g a b e " nur eine unter dreien. B e d e n k t m a n , d a ß P a u l u s , a b g e s e h e n v o n R o m 7 , 7 , n u r R o m 1 3 , 8 - 1 0 d e n D e k a l o g rezipiert, j e d o c h l a n g e Z e i t , v o r a l l e m in d e r p r o t e s t a n t i s c h e n E x e g e s e , d e r — > R ö m e r b r i e f im G r u n d e n u r bis K a p . 8 t h e o l o g i s c h eine R o l l e spielte, so w u n d e r t es n i c h t , d a ß a u c h d a s T h e m a „Paulus und der D e k a l o g " recht stiefmütterlich behandelt wurde. Im F a k t u m , d a ß die n e u t e s t a m e n t l i c h e F o r s c h u n g n i c h t gewillt w a r , die D e k a l o g r e z e p tion i m N e u e n T e s t a m e n t m i t g r o ß e m t h e o l o g i s c h e n G e w i c h t zu v e r s e h e n , spiegelt sich w i der, d a ß diese Rezeption nur im K o n t e x t zentraler theologischer Aussagen geschah, nie aber w e g e n d e s D e k a l o g s als s o l c h e m . N e u e r d i n g s h a t S t r e c k e r d a r a u f h i n g e w i e s e n , d a ß n e b e n naturrechtlicher A r g u m e n t a t i o n ( R o m 1 , 2 6 f ; 2 , 1 4 f ) nicht zuletzt im Alten T e s t a m e n t niedergelegtes „ p o s i t i v e s R e c h t " w i e v o r a l l e m der D e k a l o g als A u s l e g u n g des G o t t e s w i l l e n s für die n e u t e s t a m e n t l i c h e P a r ä n e s e z e n t r a l e B e d e u t u n g h a b e ( 1 3 5 m i t A n m . 4 4 ) . D o c h sieht er das P r o p r i u m einer christlichen Ethik im N e u e n T e s t a m e n t nicht im ethischen P r o g r a m m , s o n d e r n in d e r c h r i s t o l o g i s c h e n D i m e n s i o n , die d i e j e d e m e t h i s c h e n S y s t e m i n n e w o h n e n d e T e n d e n z z u r G e s e t z l i c h k e i t in F r a g e stelle u n d d i e F r e i h e i t zur e t h i s c h e n E n t s c h e i d u n g b e g r ü n d e (ebd. 1 3 7 ) . D a s ist im Prinzip richtig. A b e r vielleicht d a r f m a n d o c h h i n s i c h t l i c h der materialen A u t o r i t ä t der n e u t e s t a m e n t l i c h e n D e k a l o g r e z e p t i o n ein S t ü c k weiter gehen a n g e s i c h t s d e r theologischen

Implikationen etwa von M k 7 , 9 - 1 3 oder angesichts der Frage, w o

d e n n n u n d e r t h e o l o g i s c h e O r t v o n R o m 1 3 , 8 — 1 0 ist, w e n n m a n gewillt ist, diese Stelle als A u s d r u c k d e r t h e o l o g i s c h e n E n t w i c k l u n g d e s P a u l u s zu i n t e r p r e t i e r e n 6 . D a n n f r a g t s i c h n ä m l i c h , i n w i e f e r n d i e n e u t e s t a m e n t l i c h e D e k a l o g r e z e p t i o n f ü r die sich in j ü n g s t e r Z e i t h e f tig m e l d e n d e F r a g e n a c h e i n e r —»Biblischen T h e o l o g i e r e l e v a n t ist. Anmerkungen ' N i c h t in der alttestamentlichen Reihenfolge. Pesch (II, 1 3 9 ) hat sich mit den Formulierungen „soziale Reihe mit D e k a l o g n ä h e . . . Es liegt kein Z i t a t des D e k a l o g s v o r " zu stark von Berger a b h ä n g i g gemacht. 2 Pesch II, 1 4 2 ; nach B r a u n (II, 8 4 ) dürften die A n t w o r t e n Jesu in dem Sinn geformt sein, in dem der irdische J e s u s s o l c h e r a r t Fragen b e a n t w o r t e t haben wird. 1 Merklein 1 0 6 : „ A u s dem G e b o t der N ä c h s t e n l i e b e und den D e k a l o g g e b o t e n der zweiten T a f e l läßt sich nicht ohne weiteres ableiten, d a ß m a n z. B. auf Wiedervergeltung verzichten oder den Feind lieben s o l l . . . (Der) Impuls, der das T o r a g e b o t . . . verschärfen läßt, . . . i s t . . . nicht in der T o r a , sondern in der B o t s c h a f t von der G o t t e s h e r r s c h a f t bzw. in der darin implizierten B o t s c h a f t von der radikalen Z u w e n d u n g G o t t e s zum M e n s c h e n zu s u c h e n . " 4

5

6

Berger 4 1 9 ; vgl. auch passim, v . a . 2 5 8 - 2 7 7 . 3 5 8 - 5 0 7 . Z u seiner Auslegung von M k 7 , 1 ff: H . H ü b ner, M k 7 , 1 5 u. das „ j ü d . - h e l l . " Gesetzesverständnis: N T S 2 1 ( 1 9 7 4 / 1 9 7 5 ) 4 6 2 - 4 8 8 . Z u r Begründung s. H ü b n e r , F R L A N T 1 1 9 , 3 7 f f . 7 6 f f ; zu R o m 1 3 , 8 - 1 0 (ohne den G e d a n k e n einer theologischen E n t w i c k l u n g des Paulus) v o r allem die K o m m e n t a r e zum R o m von O . M i c h e l ( K E K 4 ) und E. K ä s e m a n n ( H N T 8 a) z. St. U n a b h ä n g i g von der Frage nach einer theologischen E n t w i c k l u n g bei Paulus vgl. zur Frage des Gesetzes bzw. des D e k a l o g s als verbindlicher N o r m christlicher Lebensführung Schräge 2 2 8 ff. Literatur

Anselm L. B e n c z e , An Analysis o f R o m . 1 3 , 8 - 1 0 : N T S 2 0 ( 1 9 7 3 / 1 9 7 4 ) 9 0 - 9 2 . - Klaus Berger, D i e Gesetzesauslegung J e s u . I. M k u. Parallelen, 1 9 7 2 ( W M A N T 4 0 ) . - Peter Bläser, D a s Gesetz bei Paulus, 1 9 4 1 ( N T A 1 9 / 1 . 2 ) 4 1 - 4 6 . - H e r b e r t B r a u n , Spätjüd.-häretischer u. frühchristl. R a d i k a l i s m u s , 2 Bde., ' 1 9 7 1 ( B H T h 2 4 ) . - L e o n h a r d G o p p e l t , T h e o l . des N T , G ö t t i n g e n , I 1 9 7 5 , 1 4 8 - 1 5 6 . 1 5 8 - 1 6 1 . - F e r d i n a n d H a h n , D a s Gesetzesverständnis in R o m u. G a l : Z N W 6 7 ( 1 9 7 6 ) 2 9 - 6 3 . - H a n s H ü b n e r , D a s Gesetz in der synopt. T r a d i t i o n , Witten 1 9 7 3 . - D e r s . , D a s Gesetz bei Paulus, Ein Beitr. zum Werden der paulinischen T h e o l . , 1 9 7 8 2 1 9 8 0 ( F R L A N T 1 1 9 ) . - A l f r e d Jepsen ( s . o . A b s c h n . I ) . W e r n e r G e o r g K ü m m e l , Jesus u. der jüd. T r a d i t i o n s g e d a n k e : ders., Heilsgeschehen u. G e s c h . G A u f s . , 1 9 6 5 ( M T h S t 3 ) 1 5 - 3 5 . - Eduard L o h s e , ö vöfiogTOV Tivev/tarosTtji; t^A)ijBundesbuch). So führt z.B. Lev 19, Predigtperikope in neueren Auslesen, auf den Geist des Dekalogs. Ordnungsvorschriften kommen und gehen; als solche sind auch die 10 Gebote, genauer gesagt: der Dekalog, wie er im alttestamentlichen Text steht, nur „der Juden Sachsenspiegel" (WA 16, 378). Aber daß sie von innen beseelt werden müssen, wie auch von innen heraus ausgehöhlt werden können, ist das entscheidende und bleibende ethische Problem. So macht Lev 1 9 , 1 3 - 1 8 die Bedeutung der Gesinnung besonders an solchen Fällen sichtbar, wo die Schädigungsabsicht oder der Schädigungstatbestand dem Nächsten gegenüber schwer beweisbar und der Verlust rechtlich kaum einklagbar ist (Karl-Heinz Bernhardt: GPM 1962/1963, 265). Auch dies, daß die Sinai-Gesetzgebung sogar buchstäblich wiederholt werden mußte (wie immer man Ex 34,4 textkritisch beurteilen mag; und auch das—»Deuteronomium insgesamt bestätigt das gleich Auszuführende), zeigt sinnbildlich, wie viel an der Reife für das —»Gesetz liegt, d. h. wie sehr zum Objektiven das Subjektive, zum Statut in Stein der Geist im Herzen hinzutreten muß und wie sehr in Vergessenheit geraten kann und „erweckt und erfüllt" werden muß (vgl. Barth, KD III/2, 342), wie neu gesagt und ausdrücklich geltend gemacht werden muß, was an sich in der Seele des Menschen natürlicherweise angelegt ist. In seinem biblischen und damit geschichtlichen Kontext gesehen ist der Dekalog mehr als nur ein juristisches Gesetz. Daß er dies auch und zunächst ist, gibt ihm aber auch schon grundsätzliche Bedeutung, spricht sich doch hierin das Prinzipielle aus, was auch Paulus Rom 13,3 f sagen will: daß ein geordnetes gesellschaftliches Leben eine Wohltat Gottes ist, so sehr es der Macht der Staatsgewalt bedarf, um Recht auch durchzusetzen. „Mit apodiktischen Sätzen von durchaus rationaler Einsichtigkeit schützt er das menschliche Zusammenleben gegen das Gemeinschaftswidrige, damit zugleich den Einzelnen gegen das Unberechenbare, Unkontrollierbare, Anarchistisch-Böse in seinem Innern. Besonders die Reformatoren haben unterstrichen, wie Gottes Vorsehung durch das Gesetz das Menschengeschlecht vor der Vernichtung im Kampf aller gegen alle bewahre Der Dekalog schirmt den Menschen vor der gefährlichen Dynamik seines Wesens" (Locher, Problem 20). Den Gegensatz gegen einen Naturtrieb, der wild wuchern kann und der Kanalisierung bedarf, hat das Juri-

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Dekalog IV

stische mit dem eigentlich Ethischen gemeinsam. Daß wiederum nichts Widernatürliches verlangt werden darf, ist heute zum Problem einer evangelischen statt gesetzlichen Interpretierung der Gebote, besonders am Verbot des Ehebruches, geworden (—>Ehe). Die juristische Sphäre wird eigentlich immer erst in einer bestimmten Tendenz (marxistisch: von einem Klassenstandpunkt her) real. Indem der Dekalog als Gotteswort geltend gemacht wird, ist er aber in dem Maße Wohltat an allen Menschen, wie dieser Gott als Vater „aller Kreatur" gewußt wird. So sehr man dem rein alttestamentlichen Dekalog einen nationalen Standpunkt vorwerfen kann, so doch keinen sozialen Klassenstandpunkt innerhalb des Volkes gegen die sozial Schwächeren (s. Mal 2,10; Prov 14,31; bei Propheten besonders Mi 2,2 und Hos 4,2). Eine soziale Tendenz spricht sich darin aus, daß Gott als der Beschützer der Armen, der Witwen und Waisen bekannt wird. Im Gebot der Elternehrung (das Vater und Mutter gleichstellt!) liegt Entsprechendes, wenn es die Mahnung einschließt, die Eltern in sozialer Notlage, besonders im Alter, zu unterstützen (vgl. Mk 7,10 f). Überhaupt hat dieses Gebot Achtung vor Eltern und Älteren im jüdischen Volk begründet, dazu ermöglicht, daß das „Vaterhaus" für Jesus wichtiges Bild und Gleichnis für seine Predigt werden konnte. — Wenn der Dekalog in seiner späteren Wirkungsgeschichte sicher auch vom Klassenstandpunkt besitzender und herrschender Schichten aus praktiziert wurde, so unterstreicht das die Wichtigkeit dessen, daß die theologische Ethik nicht formal „den Dekalog" rezipiert, sondern diesen in seinem ganzen „interpretierenden Kontext des Geschehens und des Glaubens" (Locher, Problem 15), wozu alsdann hauptsächlich sein neutestamentlicher Kommentar, der auch alle nationalen Prärogativen ausräumt (Rom 2,14ff; 3,29), gehören wird. Aber daß Dinge, die erst einmal innerhalb eines Volkes ausgebildet werden mußten, nachher auf alle Welt übertragen werden können, zeigt das Sabbatgebot. Man sagt kaum zuviel, wenn man dieses die Keimzelle aller späteren Sozialgesetzgebung nennt. Mit dem Achtgeben auf die sozialen und humanen Akzente am Dekalog bzw. dessen biblischen Kommentierungen ist schon die Dimension des Ethischen an diesem erreicht. Eigentlich betreten wird sie durch das Moment der Gesinnung, des Motivs, des Subjektiven; und dieses wiederum erwächst daraus, daß der Mensch, der dem Dekalog gemäß leben soll, sich vor Gott gestellt weiß, den er „fürchten und lieben" (Luther) bzw. dem er dankbar sein soll (Heidelberger Katechismus). Wird der Dekalog als Entfaltung des Liebesgebotes verstanden (so —»Augustin; s. Hofmann 233), so ist der Raum des Ethischen am Dekalog offenkundig. Am deutlichsten kommt das Gesinnungsmäßige im Dekalog selbst in den Begehrsverboten zum Ausdruck; denn diese (vgl. Mi 2,2) wenden sich dagegen, daß man auf der Lauer liegt, um dem anderen etwas durch Machenschaften möglichst legal wegzunehmen (vgl. Schopenhauer: „Nicht wer grimmig, sondern wer klug dareinschaut, sieht furchtbar und gefährlich aus", Parerga u. Paralipomena I). 2. Die neutestamentliche

Qualifizierung

der

Dekalog-Ethik

Eine aktuale Verwendung des Dekaloges als christlicher Ethik am Neuen Testament vorbei ist heute undenkbar, ist aber in der früheren Kirchengeschichte manchmal die Folgeerscheinung eines Kanonsverständnisses bzw. Theologisierens überhaupt gewesen, das, indem es jedes Kapitel der Bibel für sich als selbständige Norm betrachtete, auch dem Alten Testament gegenüber ein unmittelbares und ganz direktes Verhältnis einnahm. So ließ sich der militante —>Puritanismus des Cromwell-Englands vom Kontext der Geschichte Israels her (mit der man sich identifizierte - eine negative Auswirkung des reformierten Ansatzes beim heilsgeschichtlichen Kontext!) und von Beispielen wie der Tötung Agags durch Samuel (I Sam 15,33) jene zweite Koordinate geben, die hinzukommen muß, wenn ein Dekalog-Gebot wie das Tötungsverbot unmittelbare Anwendung oder Nichtanwendung erfahren soll. — Wenn allein vom Neuen Testament her diese zweite Koordinate gegeben sein kann, so bedarf diese Forderung allerdings einiger grundsätzlicher Erwägungen, die über ein rein exegetisches Vermessen des Dekaloges im Geflecht neutestamentlicher Bezugnahmen auf ihn (s. o. Abschn. II) hinausgehen. So kann z. B. Rom 7,7 („Ich wußte nichts von der Lust, wo das Gesetz nicht hätte gesagt: ,Laß dich nicht gelüsten'") keine Festlegung darauf sein, das Begeh-

Dekalog IV

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ren der Begehrsverbote auf das „Gelüsten" im Sinne der Konkupiszenz-Erbsündenlehre zu beschränken, vielleicht gar den letzten beiden Geboten lutherischer Zählung (bzw. dem letzten reformierter Zählung) zentralen Rang einzuräumen (vgl. Locher: ZEE 13, 137). Wenn statt dessen von Jesu Zusammenfassung aller Gebote im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe her das erste Gebot als Hauptgebot und „vornehmstes Gebot" (Mt 22,36 ff) erscheint, dann ist erst dann der Schritt über das Alte Testament (besonders Lev 19 und Dtn 5) hinaus getan, wenn deutlich wird, wer dieser Gott ist, der den Menschen bei dem Anspruch behaftet: „Ich bin der Herr, dein Gott!" Das sichtbar zu machen, ist gleichbedeutend mit der Forderung: das Bild Jesu in seinem ganzen Wollen vor Augen zu stellen; und das verwandelt die formale Aussage, „vom 1. Gebot auszugehen" (was auch das Alte Testament, z.B. Lev 19, schon tut), zu der inhaltlichen, das Gesetz in das Evangelium eingebettet zu sehen. Damit ist mehr gemeint, als an die Stelle des alttestamentlichen Jahwe-Gottes den Gott als Vater Jesu Christi zu setzen und das „Gott war in Christus" (II Kor 5,19) zu bekräftigen. Es geht nicht einfach um einen neuen „Gottesbegriff", sondern darüber hinaus (letztlich im Gottesbegriff gewiß impliziert) um ein neues Geschichtsbild, Weltbild und Menschenbild überhaupt. Das Zäsurbewußtsein, Bewußtsein um eine Wende in der Geschichte mit Jesus Christus, muß nachvollzogen werden und die Überzeugung gewonnen werden, daß fortan Erfüllung der Gebote objektiv möglich ist, weil im Werk Christi der Fluch tragischer Ausweglosigkeit, das Non-posse non-peccare (Augustin) überwunden ist (Rom 5,12.ff). Auch ist „Evangelium" mehr als der Zuspruch der Vergebung der Sünden. „Evangelium" steht für Glaubensüberzeugungen überhaupt, wie im alten Bund die ganze israelitische Heilsgeschichte wie als ein großer Indikativ vor allen Imperativen stand. Die christliche Kirche muß dieses Fundament freilich ins Sachliche übersetzen und von der Schöpfungslehre her aller der Gegebenheiten gewahr weiden lassen, die das Erfüllen der Gebote überhaupt erst ermöglichen — wozu das dankbare Ergreifen eines ,Erbes der Väter' gewiß auch gehört. Aber heutiges Denken in Theologie und Kirche will das Zutrauen zur Sinnhaftigkeit der Gebote mehr im Blick nach vorwärts und auf künftige Anforderungen an Ethik gewinnen. So sehr Ethik Wertung ist, die sich nicht wissenschaftlich' beweisen läßt, so ist es doch eine bedrängende Frage, ob wirklich das Tun des Guten ,langes Leben' verbürgt. Die Frage, ob christliche Ethik der Wirklichkeit angemessen ist, wäre falsch gestellt, wenn sie darauf fixiert wäre, „wie diese Wirklichkeit ist". Vielmehr muß es die Frage sein: was diese Wirklichkeit, und diese in ihrer Entwicklungstendenz gesehen, „ihrer Struktur nach von uns fordert" (Dietrich v. Oppen, Das personale Zeitalter, 1960,43). Und da konstatieren heute Theologen und Soziologen in exempelhafter Übereinstimmung von Glauben und Wissen, daß die christliche Ethik „Zug um Zug" der — gerade künftigen — Hauptanforderung „entgegenkommt", „daß unsere Welt nicht mehr von der Seite und mit den Mitteln der Institution zu bewältigen ist, sondern zuerst und vor allem von der Person her" (ebd. 48 f). Gerade „die Gegenseitigkeit der Leistungen" kann nicht mehr soziologisches Grundgesetz sein (wie von Oppen im Blick auf die Bergpredigt konstatiert, ebd. 47). So ist es nicht nur „Liebe", was die Dekalogethik trägt, sondern auch der Glaube daran, daß die Gebote sinnvoll und vernünftig (Mt 7,24) sind und dem Menschen zu seinem Wohl und Heil verordnet sind und nicht einseitigen partikularistischen Interessen entspringen (denen gegenüber Mißtrauen wie das der Schlange im Paradies, Gen 3,1 ff, angebracht wäre), sowie Hoffnung, daß das Gut der Schöpfung und der Gottebenbildlichkeit des Menschen dessen Fall und Sünde durchhält. Gemessen an diesem Grundsätzlichen sind es Einzelheiten, wenngleich von nicht unerheblicher Bedeutung in der nachfolgenden Wirkungsgeschichte, was jetzt noch zur neutestamentlichen Qualifizierung des alttestamentlichen Dekalogs in der Sicht der theologischen Ethik zu sagen ist. Äußerlich gesehen ist die Konzentrierung im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe bzw. im 1. Gebot sehr viel weniger als das Hereinnehmen der ganzen Glaubenslehre (natürlich nicht der Schuldogmatik), eben Konzentrierung auf die Gesinnung der Liebe. Doch ist das nicht die große Vereinfachung im Sinne des Augustinwortes Ama et fac quod

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vis; und zu beachten ist sicher, wenn W. —>Eiert einschärft, daß die Liebe als Motiv zur Erfüllung, aber nicht als die Erfüllung selbst gemeint ist (s. § 9). Nur „individualethisch", d. h. einem Du gegenüber, kann „Liebe" Kompaß und nicht nur Motor sein; im Geflecht mehrerer sich überlagernder Ich-Du-Beziehungen und Ich-Wir-Einordnungen bedarf es intellektueller Einsicht als Sachkenntnis und Uberblicken von Folgen und „ethischem Horizont" (Trillhaas) — und wohl auch des Zwanges und der Drohung (wie Eiert betont). Das Neue Testament selbst bleibt der ganzen Weite der Sachproblematik zugewandt, wenn es die alttestamentlichen Verbote zu positiven Geboten umwandelt (nicht nur Eph 4,24ff, sondern auch Jesus: M t 19,21; vgl. 5,17), kennt überhaupt auch eine Linie zur Entfaltung, nicht nur zur Konzentrierung, besonders wo es die Dekalogethik zur Haustafelethik fortbildet (z. B. Eph 6,1—9) — was später in vielen Katechismen, auch in Luthers Kleinem Katechismus, die Anlage bestimmt hat. Freilich läßt das Stichwort „Haustafelethik" eine Spannung sichtbar werden, die zu Jesu elitärer Nachfolgeethik fraglos besteht (s. Mt 10,35 oder Lk 14,26) und ihren Grund in einer entsprechenden Spannung zwischen Dekalog und —»Bergpredigt als den zwei Angeln christlicher Ethik, oder auch Polen einer spannungsvollen Einheit, hat. Die Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21—48) sollten indes nicht so sehr als Radikalisierung der Dekalogethik verstanden werden (deren Folge nur war, zwei Stufen an christlicher Ethik zu unterscheiden: für alle geltende praecepta und für „Vollkommene" —>consilia evangelica), sondern vielmehr als ausdrückliches Zurückweisen eines nationaljüdischen Kommentars, den der Dekalog neben dem oben genannten sozial-humanen auch erfahren hat, so besonders V. 38 und 43. Heute wäre es der „bürgerliche" Kommentar zum Dekalog, wogegen sich Jesu Antithesen richten könnten. Aber das dürfte doch keine Tendenz zum „Auflösen" des Gesetzes in sich tragen. Das „ D u " des Imperativs der Dekaloggebote ist auch bei Jesus das in Allgemeingültiges einordnende „Auch d u " und nicht ein individuelles Befreien vom Allgemeingültigen. Allerdings ist Jesu Forderung an den „reichen Jüngling" (Mt 19,21) nicht allgemeingültig, was zeigen kann, daß bei der positiven Umformulierung der Verbote zu Geboten je Besonderes, aber auf dem Boden des Allgemeinverpflichtenden, zur konkreten Aufgabe werden kann. So mag jeder seinen Dekalog haben. Jesus wollte nicht „auflösen", sondern „bessere Gerechtigkeit" bringen (Mt 5,17ff); aber er wußte etwas vom Gesetz des Opfers: daß nur, wer seine Seele wagt, sie gewinnt und daß, wer bereit ist zu verlassen „Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen", eben dies „hundertfältig nehmen" wird (Mt 19,29). Der Kampfgedanke bleibt dem Ziel untergeordnet; und als solches bleibt doch dies: „Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äkker" (Mk 10,30). Einen Weg wie den der —»Zeloten in eine ,bessere Welt' hat Jesus mit seinem Gebot der Feindesliebe abgelehnt (vielleicht auch angesichts der Mauern Jerusalems beklagt, Mt 24,1 ff). Wenn es im Denken Jesu problematische Dekaloggebote gibt, dann—außer dem der Sabbatheiligung — das der Elternehrung, das bis heute eine Mehrzahl von Konfliktmöglichkeiten in sich birgt: s. Eph 5,31 f; vgl. Mk 7 , 1 0 - 1 4 . Aber doch wurde für Jesus das Vaterhaus zum Bilde und Gleichnis für Menschsein in der Welt und vor Gott. Da kann er vom Elternhaus im wörtlichen Sinne nicht gering gedacht haben. — Und auch für Paulus gilt: Er war nicht der Verfechter einer schlechthinnigen Emanzipation von Kult und Moral, sondern seine Ablehnung der Kultfrömmigkeit hatte nur gerade das Wichtignehmen des Ethischen und allgemeinmenschlicher Verpflichtungen, ja eines absoluten Gegensatzes von Gutem und Bösem, zu ihrer Innenseite (Rom 2,9 ff). 3. Problemgeschichte,

Impulse,

Aktualitäten

Als Gestaltprinzip für eine christliche Ethik hat der Dekalog, besonders in der altkirchlichen Theologie, die Schemata der Tugendlehre zur Konkurrenz gehabt, wie sich derartige von der griechischen Philosophie her anboten (—»Tugend). Diese konnten auch stärker das Gesinnungsmäßige und die Hinordnung auf das Liebesgebot zum Ausdruck bringen, wo-

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hingegen dem entfalteten Dekalog etwas vom spätjüdischen Gesetzesgeist und „tötendem Buchstaben" anzuhaften schien. Die Synthese zwischen diesen beiden Ansätzen, dem bei Geboten und dem bei Tugenden, ist später zu einem wichtigen Anliegen geworden. Seit dem 16. Jh. hat man versucht, der Dekalog-Pflichtenlehre durch Verschmelzung mit der Tugendlehre den Charakter des spezifisch Christlichen aufzuprägen (David —>Chyträus, vgl. auch schon Luther: WA.TR 1, 542f). Heute stellt sich das Erfordernis, die Offenheit für divergierende Möglichkeiten beim Geltendmachen von Dekaloggeboten dadurch zu überwinden, daß das subjektive Moment rechter Gesinnung wie instinktiv auf das von der Situation gebotene rechte Verhalten führt. Man spricht in diesem Sinne von „Habitualisierung von Verhaltensweisen" und sieht hierin ein Anknüpfen am alten Verlangen nach „Erziehung zur Tugend" (Harald Schultze, Überlegungen zu einer zukunftsorientierten Ethik: ZEE 16 [1972] 272). An jedem der Dekaloggebote und für den besonderen gesellschaftlichen Raum, auf den es bezogen ist, läßt sich zeigen, wie seine Forderung zu einer bestimmten christlichen Gesinnung „habitualisiert" werden kann (im einzelnen durchgeführt in H.-G. Fritzsche, Hauptstücke des christl. Glaubens, Berlin 1977 2 1979, Kap. 4). Das bedeutet freilich eine Wegwendung vom Anspruch „christlicher Soziallehren", dafür eine Hinwendung zur Erziehungsaufgabe christlicher Menschenführung, und es läßt damit einen dritten Ansatz zu theologischer Ethik hinter sich, der ebenfalls mit der Dekalogethik als Pflichtenlehre konkurriert hat und im direkten Gegensatz zur Tugendlehre steht: Erörterung und Mitsprache, wie die Dinge der Gesellschaft objektiv und an sich eingerichtet werden sollen (wohin die frühere Güterlehre, die nach dem Verhältnis des Christen zur Dingwelt wie Besitz, Arbeit oder Ehe als Institutionen fragt, sich notwendig weiterentwickelt hat). Immerhin steht die Dekalogethik als Pflichtenlehre diesem Ansatz näher als die reine Tugendlehre, besonders dadurch, daß die Zehnzahi der Gebote die ganze Breite des gesellschaftlichen Lebens (einschließlich des kirchlichen) thematisch erfaßt und die Erörterung der Pflichten kaum lösbar von der Sachfrage ist, zumal heute die erlebte Unerfüllbarkeit eines Gebotes nicht mehr ohne weiteres auf die Schuld des Gebotsübertreters und seine Vergebungsbedürftigkeit führt (im Sinne des zweiten Brauches des Gesetzes), sondern auch an eine Schuld der Gesellschaft und an ein Ungenügen bzw. Verändern der objektiven Verhältnisse denken läßt. So vermag die Dekalog-Pflichtenethik sowohl die Tugendlehre in ihrer Subjektorientierung in sich einzubeziehen als auch den Ansatz bei der Frage nach objektiver Richtigkeit der Dinge und Verhältnisse. Freilich ist der Grund dafür, daß der Dekalog als Gliederungsprinzip für eine christliche Ethik mehr und mehr aufgekommen ist (besonders seit —»Petrus Lombardus und der franziskanischen Volkspredigt, nachdem er bei Augustin als Entfaltung des Liebesgebotes erstmals voll in Erscheinung getreten war), das praktische, volksmissionarische und erzieherische Anliegen gewesen. In der alten Kirche wird nur auf einzelne Gebote, aber oft in der Abfolge wie im Dekalog (z. B. in der —»Didache), Bezug genommen und dominiert, wie gesagt, die Tugendlehre. Werden dieser Lasterkataloge angefügt, so erinnert dies wiederum an die Negativformulierungen der meisten Dekaloggebote. „Man sollte m.E. die hohe Bedeutung des Dekalogs für die älteste Christenheit, für das Neue Testament und für die altchristliche Literatur nicht bezweifeln, nur weil er verhältnismäßig selten und immer nur in Bruchstükken zitiert wird" (Locher: ZEE 13, 136f). Es ist später vor allem die Katechismusliteratur gewesen, die den Dekalog zum primären Ausgangspunkt hat werden lassen. Und daß dieser Ansatzpunkt auch ermöglicht, Sachfragen thematisch werden zu lassen (dabei so, daß man die thematische Initiative nicht an das gerade faktisch am meisten Diskutierte verliert), zeigt der sog. Holländische Katechismus. „Er gebraucht für die Darstellung der christlichen Lebensführung als unausgesprochene Leitlinie und ohne ausdrückliche Betonung die Ordnung der zehn G e b o t e . . . Die theologische Orientierung am Dekalog mit seinem zentralen religiösen Gehalt kann davor bewahren, die gesellschaftskritische und gesellschaftserneuernde Aufgabe der Christen in der Einstellung eines unmittelbaren, bloß säkularisierten Engagements zu sehen, was unserer unmittelbaren Gegenwart naheliegt" (Hofmann 238. 245).

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Auch in eigentlichen Lehrbüchern der Ethik ist vom 16. bis zum 19. Jh. der Dekalog oftmals der speziellen Ethik zugrunde gelegt worden, während über allgemeinere und grundsätzliche Begriffe wie —»Gewissen, —»Gesetz, —»Sünde, —»Wille/Willensfreiheit, -^Tugend, Stände in einem besonderen Teil gehandelt wurde. Von den Reformatoren hat Calvin seine Ethik am strengsten am Dekalog ausgerichtet (Institutio 11,8), —»Zwingli am wenigsten; für Luther ist außer an seinen Katechismus vor allem an seinen Sermon von den guten Werken von 1520 zu erinnern, der eine Auslegung der zehn Gebote darstellt. In der Ethik des 20. Jh. fällt an K. —»Barths Ethik (der Schöpfungswirklichkeit) in KD III/4 wieder eine teilweise Anlehnung an den Dekalog auf (vgl. II/2, 684ff), ebenso im Grundriß Systematiseber Theologie von Hans-Joachim Kraus (Neukirchen 1975). Vollständig nach den zehn Geboten gegliedert ist H.-G. Fritzsches Evangelische Ethik (Berlin 1961 2 1963 M 966), die indes mehr zur praktisch-theologischen Katechismusliteratur als zum theologischen System hintendiert. In der Abfolge der zehn Gebote steckt natürlich schon selbst ein systematisierendes Moment, vielleicht sogar auch das Problem einer Rangordnung der Werte. Die Zehnzahl als solche brauchte indes keine Rangordnung anzudeuten, kann aber zum Ausdruck bringen, daß Ethik und Guthandeln nicht als etwas Paradoxes und an sich Unmögliches vorausgesetzt werden, sondern als etwas Vernünftiges, Klares und Handliches, ja Handfestes, das sich beinahe von selbst versteht und an den zehn Fingern abzählen läßt. Das Problem einer Rangordnung ist aber zunächst schon durch die Hervorhebung des 1. Gebotes gestellt, in deren Konsequenz liegt, daß die weiteren Gebote diesem nicht zufällig angereiht werden. Es gibt viele Gesichtspunkte, ein Gefälle vom ersten zum zehnten Gebot deutlich zu machen (s. H.-G. Fritzsche, ebd. 262 f) oder auch umgekehrt zu zeigen, wie sich vor dem Raum jedes der Gebote (vom 2. ab) ein fundamentalerer und ihm voranstehender Raum auftut. Gewiß kann prinzipiell nicht zugestanden werden, daß es Dekaloggebote gibt, die wichtiger oder weniger wichtig als andere wären. Als Gottesgebote sind die zehn Gebote sicher gleich verbindlich. Aber wenn man ihnen zehn Existenzbereiche und Erlebniswelten des Menschen als ihren jeweiligen Raum oder „Sitz im Leben" entsprechen läßt, dann dürfte wohl zu sagen sein, daß z.B. der Welt des Besitzes und Eigentums, des Geldes und des Ökonomischen überhaupt (wenn das 7. Gebot als auf hierauf bezogen anzusehen ist) Fundamentaleres voransteht, wie dem Haben und Gelten des 7. und 8. Gebotes voranstehen: der Partner als der besondere (unaustauschbare) Gefährte (6. Gebot der lutherischen Zählung), Leben und Gesundheit überhaupt (5. Gebot), eine Welt der Tradition wie im Elternhaus (4. Gebot), allem menschlichen Werk das Werk Gottes (3. Gebot), überhaupt Gott und nicht der Mensch am Anfang steht (1. und 2. Gebot; s. H.-G. Fritzsche, Hauptstücke des christl. Glaubens [s.o.], Kap. 4). Sonst ist das Problem einer Rangordnung am Dekalog dadurch aufgekommen, daß die Gebote dem Mose aui zwei Tafeln übergeben worden seien (z.B. Ex 31,18). Im Anschluß hieran hat man später die Gebote in Pflichten (oder auch Liebe) gegenüber Gott und gegenüber Menschen aufzuteilen versucht (und hat die katholische Kirche diesen noch spezielle Kirchengebote wie als dritte Tafel angereiht). Diese Unterscheidung scheitert aber schon am Gebot der Feiertagsheiligung, das im Alten Testament nicht nur theozentrisch von der „Ruhe Gottes" am siebenten Schöpfungstag her begründet wird (Ex 20,8 — 11), sondern auch, und häufiger, sozial (Dtn 5,14) und damit als zu erweisende Wohltat auch am Mitmenschen verlangt wird. Beinahe schon als kurios empfindet man heute die Frage, ob das Gebot der Elternehrung zur ersten oder zur zweiten Tafel zu rechnen sei. Luther hat es in seinem Sermon von den guten Werken als „das erste Gebot der II. Tafel Mosis" bezeichnet, kommt im übrigen in dieser Schrift öfter auf Rangordnungen der Dekaloggebote zu sprechen, auch nach dem Gesichtspunkt unterschiedlicher Schwere von Sünde. Am Gebot zum Ehren der Eltern wird das Problem seines Stellenwertes' noch brisanter, wenn in ihm wie bei Luther der Gehorsam auch dem Lehrherrn und der —»Obrigkeit gegenüber eingeschlossen wird. Dem ist auch der —»Catechismus Romanus gefolgt, und dieser hat hierbei auch die kirchlichen Autoritäten in das 4. Gebot einbezogen. Bei Luthers entsprechendem Vorgehen muß man beachten, daß er nicht eigentlich die obrigkeitliche Autorität der eltetlichengleich-

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stellen wollte, sondern sie aus der elterlichen ableitet (historisch wie sachlich). „Aus der Eltern Oberkeit fließt und breitet sich aus alle andere. Denn wo ein Vater nicht allein vermag sein Kind aufzuziehen, nimmt er einen Schulmeister dazu" (WA 30/1,152). Das zeigt beinahe schon ein lutherischer Ethik so oft abgesprochenes demokratisches Denken, das Staatsgewalt ,von unten' versteht. Die Vorrangstellung einer ganzen „ersten Tafel" (wo das Neue Testament nur die Frage nach einem „vornehmsten Gebot" kennt) hat verhängnisvoll besonders dadurch gewirkt, daß die Zwei-Tafel-Unterscheidung zum Instrument der Handhabung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie, Kirche und Gesellschaft überhaupt wurde. Ein ganzer Schematismus an Dualitäten hat sich an die Zwei-Tafel-Unterscheidung bzw. -Rangordnung geheftet (jedenfalls in lutherischer Ethik im Anschluß an —»Melanchthons Epitome pbilosophiae moralis in der Ausgabe von 1546, ab 1550 unter dem Titel Ethicae doctrinae elementa), und zwar Dualitäten wie: theologische Ethik — philosophische Ethik, innere Welt der Gesinnung — äußere Aktionen und äußerliche Disziplin, Verhältnis zu Gott - Verhältnis zum Menschen, Individualethik - Sozialethik, Evangelium - Gesetz, Kirche - Obrigkeit, kirchliche Moral — staatliche Justiz usw. Tendenz war, entsprechend der —»Zweireichelehre, die Dinge der zweiten Tafel aus dem Raum besonderer christlicher Normierung herauszunehmen, wobei der neutestamentliche Begriff des —»Nächsten in den Schlußgeboten an den des Volksgenossen o. ä. verloren wurde. Sprach man andererseits den Fürsten und der Obrigkeit die Aufgabe zu, Hüterin auch der ersten Tafel zu sein und damit die wahre Lehre und „fromme Kulte" in den Kirchen durchzusetzen (besonders Calvin), so war der Grund für die Verschmelzung von „Thron und Altar" gelegt; und das gab in der —»Aufklärung auch Anlaß dazu, die Rangordnung der beiden Tafeln schlicht umzukehren und die bürgerlichen Pflichten über die „kultischen" zu stellen und diesen eigentliche ethische Verbindlichkeit abzusprechen. In der heutigen evangelischen Ethik ist an die Stelle der Zwei-Tafel-Unterscheidung die Hervorhebung des ersten Gebotes getreten. Durch diese wird jedes der Einzelgebote (statt daß die ,bürgerlichen' Pflichten von den kirchlichen abgerückt werden) unter eine einheitliche Glaubensgesinnung gestellt. Ob diese freilich „fürchten und lieben" (Luther) besagen soll, das führt die Dekalog-Problematik in die um „Gesetz und Evangelium" hinein. Dies vorbereitend muß aber noch auf folgendes eingegangen werden: Von sachlicher Bedeutung ist auch die Negativform der meisten Dekaloggebote. Sie hat nicht nur logische Gründe: daß ein Verbot allgemeingültiger auszusagen vermag (Hofmann 235 zu Thomas) und daß dadurch der Dekalog vorbildlich bleibt „in der weiten Freigabe positiv-konkreter Entscheidungen" (Locher: ZEE 13, 144). Allein dies schon bedeutet sachlich: so wenig wie möglich Bedingungen für das Zusammenleben stellen, nur das ausschließen, was Gemeinschaft schlechterdings unmöglich macht. Die Negativform muß im Zusammenhang damit gesehen werden, daß in der Bibel überhaupt das Ethische sich vielfach negativ, d.h. in reinigender, entlarvender oder anklagender Polemik geltend macht. So bei Propheten wie —> Arnos, —»Micha und —»Jesaja; aber auch bei Jesus und Paulus. Sowohl die Bergpredigt als auch die große Anklagerede gegen die Pharisäer in Mt 23 zeigen das Dominieren der Negativform, wie diese sachlich auch dem Bußruf zugrunde liegt. Der Grund hierfür ist der, daß das Ethische stets und schon seinem Begriffe nach einen Bruch am rein Natürlichen und eine Auswahl am faktisch Vorhandenen und in Willensfreiheit Möglichen darstellt. Was sein soll, ist weniger oder etwas ganz anderes als das, was ist. Theologisch grundsätzlich gesehen, ist es ein gewisses In-Rechnung-Stellen der Sünde, was hinter der so häufigen Negativform biblischer Ethik überhaupt steht. Man scheint vorauszusetzen, daß der Mensch das Gebot übertreten möchte und daß dem Sollen ein Widerstand entgegensteht. In diesem Sinne ist eine kritische Haltung zum „natürlichen Menschen" und dessen „Begehren" Ausgangspunkt biblischer Ethik und spricht sich darin eine Absage an den sokratischen Intellektualismus aus, demzufolge das Guthandeln eine Wissensfrage, aber keine Machtfrage ist. Nach biblischer Auffassung ist die Verwirklichung des Guten ein Kampfgeschehen; der Mensch muß einer Macht zum Bösen entrissen und in eine Macht zum Guten hineinge-

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stellt werden, wie es besonders Augustin im Anschluß an Rom 7 (und gegen —>Pelagius) gelehrt hat. Bedenklich an der Wirkungsgeschichte des Negativcharakters des Dekalogs ist freilich, daß sich mit diesem der Dekalog jeder Drohpredigt als Text anbot wie schon der Predigt der Vergänglichkeit und Todesverfallenheit alles Irdischen bei den —»Franziskanern im 14. und 15. Jh. (immerhin die erste eigentliche Volkspredigt und nicht ohne sozialkritische Elemente). Der Antinomismus (—>Agricola) der Reformationszeit hatte da recht, wo er eine Fehlentwicklung des Dekalogs zum „Gesetz" bekämpfte, die das Negative und Drohende an ihm überbetonte, das „Gesetz" vom Evangelium Jesu löste und zum abstrakten Zuchtmeister (Gal 3,24) überhaupt machte. Das konnte und kann bedeuten: Mißbrauch des Moralischen zur Entmündigung oder seelischen Deprimierung, auch Verächtlichmachung, des Menschen. Nur in Korrelation zum Evangelium ist das Gesetz die ttova lex christlicher Ethik. — Von der anderen Seite aus gesehen, „im Hinblick auf die heutigen Versuche, den Gegensatz von Gesetz und Evangelium verbaldialektisch einzuebenen", schrieb W. Eiert: Der Dekalog kann „niemals zu einer bloßen regula vitae werden, die dem Menschen nur zu sagen hätte, ,was er tun soll'. Er steht im Dienst der Vergeltung, ist immer auch Drohung" (90). Bedenken bis zum Protest hiergegen führen nun auf das wohl wichtigste Problem am Dekalog, wie am „Gesetz" überhaupt, heute: Sollte man nicht, im großen weltgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Rahmen, Gesetz und Gewalt als bloßes Provisorium, als Vorphase und bloße Hinführung zu einem Eigentlichen begreifen - statt es im kleinen und im individuellen Sinn als „Hinführung zu Christus", und jeden Tag neu, zu wollen, ohne daß damit in der Gesellschaft das Geringste geändert und für deren Fortschritt irgendetwas gewonnen wäre? Hatte nicht Paulus eine größere Vorstellung vom Neuen des Gekommenseins Jesu Christi und von ihm als „des Gesetzes Ende" (Rom 10,4), als daß dem Einzelnen ein größerer Seelsorger gesandt sei? An sein Wort im Galaterbrief, daß wir, seitdem Christus und der Glaube gekommen sind, „nicht mehr unter dem Zuchtmeister" des Gesetzes sind (Gal 3,25), hat sich mehr geheftet als das damalige Erfordernis, aus der Enge des Kultjudentums auszubrechen, nämlich die große Vision vom Unnötigwerden jeglichen Zwanges im gesellschaftlichen Leben und von einer gewaltlosen Menschenführung, der im kirchlichen Leben vorangehen oder entsprechen müsse das Dominieren, ja die Alleingeltung des Evangeliums von der Sündenvergebung und vom Angenommensein des Menschen vor Gott ohne jegliche Werke — und dies in einer Weise, daß hiermit keinerlei Sündenpessimismus, keinerlei Droh-, Straf- oder Bußund Einschüchterungspredigt einhergehen dürfe. Allein das Gewahrwerden der Liebe Gottes in Christus führe zur echten Buße, nicht Drohung mit Gottes Zorn und Gericht. Uberhaupt gehöre der „Decalogus auf das Rathaus" (s. bei Rudolf Hermann: Luthers Theol., hg. v. H. Beintker, Berlin 1967, 134). Das gab dem Problem noch den besonderen Akzent, christliche Ethik von allem rechtlich Regelbaren zu entlasten. Luther indes hat Christsein und das Moralische nicht trennen können; und er hat keinen Zugang zu der Vorstellung gehabt, daß Menschen, ohne im Gewissen einen fordernden und richtenden Gotteswillen verspürt zu haben, für das Evangelium empfänglich sein könnten. Mit seinen Disputationen gegen die „Antinomer", besonders vom Jahre 1537 (vgl. ApolCA IV und FC V), und ihrem Bekräftigen der fortwährenden Geltung des Gesetzes, besonders des Dekalogs, und mit Superlativen wie Mosissimus für Mose, war alsdann der lutherische „Zweitakt" von Gesetz und Evangelium, „fürchten und lieben", besiegelt, freilich in einer Weise, daß hiermit auch zu viel obrigkeitliche Gesetze, die im biblischen Gesetz impliziert schienen, auf den Namen Jesu Christi genommen wurden — obwohl der Jesus der Evangelien auch als der dasteht, der menschliches ,Gesetz' hinterfragt. So sehr die heutige Theologie Gesetz und Ordnung nicht weniger bejaht als die Väter, so ist sie doch allergisch geworden gegen den Gott der Ordnungen und menschlicher Ordentlichkeiten, der diese verbürgen soll. Wiederum ist Nächstenliebe als das besondere Christliche nicht von Goiiesliebe zu trennen und damit auch nicht das Begehrsverbot als Zusammenfassung der zweiten Tafel vom 1. Gebot.

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Daß „der Nächste", dessen Haus usw. ich nicht begehren soll, eine theologische Kategorie ist, die alles Soziologische sprengt, gibt auch den allgemeinmenschlichen Dekaloggeboten eine besondere theologische Qualifizierung. Wiederum muß als legitime Säkularisierung anerkannt werden (und das ist die Wahrheit des Antinomismus), daß es eine Entwicklung zur Entlastung des Ethischen durch verbesserte juristische (einschließlich völkerrechtliche) Regelungen auf Grund besserer Sachkenntnis sowie sozialerer gesellschaftlicher Verhältnisse gibt. Mochte früher der christlichen Ethik die Ersatzfunktion zufallen, fehlende Erzwingbarkeit oder mangelnde Definierbarkeit des Rechtes durch Appell an Moralbewußtsein, an Glauben und Gewissen zu kompensieren (Beispiel das Zinsnehmen oder Hilfe am Armen), so gilt heute doch mehr der Grundsatz, daß nicht auf das Gewissen gebunden werden darf bzw. nicht dem freien Ermessen des Einzelnen überlassen werden darf, was durch Rechtsvorschriften festgelegt und durch staatliche Organisation gewährleistet werden kann. An den Grenzen, die dem gezogen sind, zeigen sich alsdann die echten ethischen Ambivalenzen und Antinomien, die die Entscheidung des Einzelnen verlangen (z.B. —»Schwangerschaftsabbruch) — oder tritt Unrecht eklatant in Erscheinung, wenn positives Recht (oder ein rechtlich überhaupt nicht gedecktes Verwaltungsverfahren) sich gegen das allgemeinmenschliche Moralbewußtsein stellt und es zum jubere peccare (CAXVI; Befehl zum Sündigen, Befehlsnotstand) kommt. Ein Beispiel aus neuerer Zeit gibt der Hirtenbrief des Bischofs Galen von 1934 gegen die —»Euthanasie-Maßnahmen des Hitler-Reiches: Die Sittlichkeit ist nicht volks- oder rassengebunden. „Was die zehn Gebote sagen, steht als Sittengesetz in den Herzen aller Menschen, auch der Heiden geschrieben, wie der Apostel lehrt (Rom 1,18 ff). Was wird die Folge sein, wenn man das sittliche Naturgesetz, das alle Menschen ohne Unterschied der Rassen und Klassen verpflichtet, zerstört und wenn man die rechte Stimme des Gewissens trübt?" (s. bei Heinrich Portmann, Der Bischof v. Münster, Münster 1946, 9). Die Zukunftsvision eines vom Zwang befreiten Gesellschaftslebens hat sich in unserer Zeit eher erneuert als geschwächt. Dennoch erscheint heute als illusionär, wenn —»Schleiermacher, noch im Zäsurbewußtsein der Aufklärung denkend, erklärte: daß einst die bloße „Bekanntmachung der Regierung" genügen werde, daß jeder weiß, „das und das sei zu tun und so und so zu verteilen", dann werde „das übrige von selbst geschehen" und dann würden „keine eigentlichen Gesetze mehr nötig sein". Schleiermacher erhofft das von mehr Moralbewußtsein, d.h. davon, „daß der lebendige Trieb für das Interesse des Ganzen in den einzelnen kräftig ist" (Das christl. Leben. Vorlesungsnachschr. aus WS 1826/1827, zusammengestellt v. Hermann Peiter: ders., Sitte u. Lehre im Streit um das christl. Leben, HabSchr. Humboldt-Univ. Berlin, I 1968, 507). Stimmen der heutigen marxistisch-leninistischen Ethik sehen die „alten Gebote" der Bibel ebenfalls eschatologisch, aber erfüllbar auf Grund besserer objektiver Verhältnisse im „Kommunismus — einer Gesellschaft ohne Gewalt und Kriege". Zum Gebot „Du sollst nicht töten" schreibt O. G. Drobnizki: „Seine Befolgung war nicht nur praktisch unmöglich, sondern widersprach auch jeglicher gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit. Hier begann für die Sittlichkeit ein unlösbares Problem . . . Doch seltsamerweise lebte dieses Gebot, durch so viele Verbrechen und Barbarei, die mit seiner Hilfe gerechtfertigt wurden, herabgewürdigt, wider die Logik der Tatsachen im Bewußtsein der Menschen weiter und verlor nichts von seinem rigoros unversöhnlichen Charakter . . . " . So „muß also letzten Endes ein solcher Zustand der Gesellschaft hergestellt werden, in dem die Tötung eines Menschen unnötig wird. Das war die,äußerste' Schlußfolgerung des Moralbewußtseins" (vgl. Luther im Großen Katechismus: „Denn wo Totschlag verboten ist, da ist auch alle Ursache verboten, daher Totschlag entspringen mag", WA 3 0 / 1 , 1 5 8 ) . Ebenso „das Schicksal eines anderen alten Gebotes . . . , ,Du sollst nicht stehlen'... Hier geschieht annähernd das gleiche wie mit dem Gebot ,Du sollst nicht töten': Wenn sich die Erfüllung des moralischen Gebots als unmöglich im vollen Umfang erweist, d.h. wenn es beschränkt gültig ist, für die einen und gegen die anderen, soll man nicht das Gebot verwerfen, sondern seinen Sinn so verstehen, daß die Gesellschaft umgestaltet werden muß" (Ethik. Phil.-ethische Forschungen in der Sowjetunion, hg. v. A.G. Chartschew/Miller, Berlin 1976, 190.195).

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Christliche Ethik, die sich nicht als idealistische Gesinnungsethik oder Kantische Motivethik des bloßen „guten Willens" einordnen läßt (vgl. Mt 19,16 ff), rechnet zum Bestand der objektiven Verhältnisse bzw. „Strukturen" selbst, wenn christliche Verkündigung als Institution und Einflußnahme auf die öffentliche Meinung besteht, die zu couragiertem Verhalten des Einzelnen in der nie ausschließbaren Krisensituation ermahnt und das Gewissen schärft. Literatur Walter Dreß, Die Zehn Gebote u. der Dekalog. Ein Beitrag zu der Frage nach den Unterschieden zw. lutherischem u. calvinistischem Denken: T h L Z 7 9 ( 1 9 5 4 ) 4 1 5 - 4 2 2 . - Werner Eiert, Das christl. Ethos, Hamburg 1 9 4 9 2 1 9 6 1 , § 9 (Lit.). - Hans-Georg Fritzsche, Die Anfänge christl. Ethik im Dekalog: T h L Z 9 8 ( 1 9 7 3 ) 1 6 1 - 1 7 0 . - Rudolf Hofmann, Die Bedeutung des Dekalogs, theol. u. gesch., in der Sicht der kath. Moraltheol.: Z E E 13 ( 1 9 6 9 ) 2 3 0 - 2 4 5 . - Ulrich Kühn/Otto H. Pesch, Rechtfertigung im Gespräch zw. T h o m a s u. Luther, Berlin 1 9 6 7 (S. 4 7 ff ausführliche Angaben über Luthers Stellung zum Dekalog). - Gottfried W . Locher, Das Problem der Autorität der Zehn Gebote, Bern 1 9 6 8 (Berner Rektoratsreden 1 9 6 8 ) . - D e r s . , Der Geltungsgrad der Zehn Gebote: Z E E 13 ( 1 9 6 9 ) 1 2 9 - 1 4 5 . - Jan Milic Lochmann, Wegweisung der Freiheit. Abriß der Ethik in der Perspektive des Dekalogs, Gütersloh 1 9 7 9 . - Johannes Meyer, Hist. Komm, zu Luthers Kleinem Katechismus, Gütersloh 1 9 2 9 . - E. Nielsen, Die Zehn Gebote. Eine traditionsgesch. Skizze, 1 9 6 5 (AthD 8). - Wolfgang Trillhaas, Ethik, Berlin 1 9 5 9 , 2 8 8 . 3 6 4 ; 3 1 9 7 0 , 3 7 f f .

Hans-Georg Fritzsche V. Praktisch-theologisch 1.

Unterricht

Erst —>Luther hat dem Dekalog seinen festen Ort in der Unterweisung und zugleich den ersten Platz im —»Katechismus gegeben; vorher gehörte er zur Beichtvorbereitung (Surkau 1182). Luther meinte, sich damit in Einklang mit der Kirche zu befinden (WA 19,26), irrte sich aber betreffs des Dekalogs (Surkau 1180). Diesen versteht er als Aufforderung des uns alles Gute verheißenden G o t t e s : , , . . . lasse mich allein deinen Gott sein und suche ja keinen andern. Das ist: was dir mangelt an Gutem, des versieh dich zu mir . . . " (WA 3 0 / 1 , 1 3 3 ) und schließt: „Wo das Herz wohl mit Gott dran ist, und dies Gebot gehalten wird, so gehen die andern alle hernach" (ebd. 139). Neben dies von der Rechtfertigungsgewißheit herkommende Verständnis tritt schon bei —»Melanchthon eine Deutung als Lehr-norm (Catechesis puerilis, 1540 und Examen ordinandorum, 1552). Im Lauf der Geschichte (für die folgende Zusammenfassung sei auf die Arbeiten von J . M . Reu und besonders von H.-J. Fraas verwiesen) ist der Dekalog vielen Umdeutungen und Angriffen ausgesetzt gewesen. Die reformierte Beibehaltung des alttestamentlichen Textes führt im Unterricht zu Allegorisierungen (vgl. z. B. H. Graffmann, Unterricht im Heidelberger Katechismus, 1951, 43). Die —»Orthodoxie entnahm dem Dekalog eine Tugendlehre; der —»Pietismus machte ihn wieder zu Sündenspiegel und Richtschnur der Wiedergeburt (—»Spener) und verwarf ihn zugunsten der Unterweisung in Bibelsprüchen und Liedversen (—»Zinzendorf). Die —»Aufklärung baut auf dem Naturrecht eine Pflichtenlehre auf (Berliner Preisaufgabe, 1767). Auch —»Schleiermacher kritisiert seine Beibehaltung durch Luther, und in der kirchlichen Restauration ist die Gefahr der Deutung vom tertius usus her nicht zu übersehen (—»Zezschwitz; —»Palmer). Lietz entdeckt darin eine „verwerfliche eudämonistische Moral" und A. —»Ritsehl urteilt, daß durch ihn „unzählige Menschen in ihrer Wahrhaftigkeit geschädigt" worden seien. Bedeutsame Abhandlungen zum Dekalog als katechetischem Lehrstück boten F.L. Steinmeyer (1875) und E. Chr. —»Achelis (1905). Die Gründe für die Ablehnung des Dekalogs lagen meist in einem von außen an ihn herangetragenen Verständnis, z.B. Mißverständnis der Zuordnung von ^Gesetz und Evangelium, oder mangelnder exegetischer Klarheit und können nicht auf Luther fußen: ,^romissio omnium promissionum, fons et omnis religionis et sapientiae caput, evangelium, Christum promissum complectens" (WA 3 0 / 2 , 3 5 8 ) . Die genannten Deutungsschwächen sind noch in

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weitverbreiteten Unterrichtswerken der 50er Jahre festzustellen. Inzwischen hatten jedoch H. Kittel und O. Hammelsbeck eine neue Wertung des Katechismus und auch des Dekalogs gefordert. Kittel wandte sich gegen seine Behandlung als bloßen Anschlußstoff und schlug eine solche im Zusammenhang vor. Er verwies (Ev. Religionspädagogik, 1 9 7 0 , 4 4 4 ff) empfehlend auf K. Witt, Konfirmandenunterricht, 1959. Hammelsbeck entfaltete selbst ein Verständnis als „Lebenslehre, die sich nach dem Evangelium an den täglichen menschlichen Erfahrungen bewährt" (Der kirchl. Unterricht, 2 1 9 4 7 , 207). Aber die radikale Infragestellung des —»Religionsunterrichts am Anfang der 60er Jahre und die sich daraus notwendig ergebende Neubesinnung auf seine Aufgabe, seine Möglichkeiten und Inhalte machte auch vor der Normfrage nicht halt. Der neu entwickelte thematisch-problemorientierte Religionsunterricht sucht an Geboten die ethische Problematik am exemplarischen Fall auf und versucht damit, Einsicht in das Normproblem im persönlichen und sozialen Verhalten zu vermitteln. Dabei werden ebenso die geschichtliche Relativität wie die Notwendigkeit der Übersetzung ursprünglicher Intention und die Formulierung veränderbarer Normen erfahrbar. Das christologisch interpretierte 1. Gebot „eröffnet die theologische Dimension der ethischen Thematik" (Kaufmann 153). Bei dieser Konzeption brauchen nicht alle Gebote behandelt zu werden, kann bei der Umsetzung des sozio-kulturellen Hintergrundes des alttestamentlichen Textes in die industriell-technische Zivilisation und ihre Konsumgesellschaft z.B. das 4. Gebot wegen seiner herkömmlichen repressiven Auslegung aus der Primarstufe und dem Kindergottesdienst verbannt und in die nachpubertäre Erziehung verwiesen werden (Bargheer). Demgegenüber wird eine ekklesiologische Deutung dieses Gebotes geltend gemacht (Kremers) — beides mit Berücksichtigung exegetischer Arbeit, die nun durchgängig wird, aber, wie dieses Beispiel zeigt, allein noch nicht ausreicht. Die neue Situation ermöglicht zunächst nur die Vorlage von meist von Arbeitsteams verantworteten Modellen, die den Gesichtspunkt der Didaktik besonders berücksichtigen und naturgemäß oft stark voneinander abweichen (Bargheer; Kremers). So kommt eine der früheren Behandlung als Anschlußstoff ähnelnde Arbeit am einzelnen Gebot zustande, die es als Beispiel, Material oder Lösungspotential verwendet. Daran ändert sich auch nach dem Aufkommen von neuen Büchern für den Religionsunterricht grundsätzlich noch nichts. Es bleibt abzuwarten, ob eine sich abzeichnende Wende zu stärkerer Berücksichtigung der biblischen Tradition auch dem Katechismus bzw. dem Dekalog neue Möglichkeiten eröffnet. Der Konfirmandenunterricht kann nicht mehr überall auf einem geordneten Religionsunterricht aufbauen; er muß eigene Curricula entwerfen, zumal er sich moderner pädagogischer Fragestellung nicht entziehen kann. Daher gibt es für die Behandlung des Dekalogs eine Reihe von Möglichkeiten (Comenius-Institut, Dokumentation. I. Neue Rahmenordnungen . . . zum Konfirmandenunterricht, 1977). Mehrfach wird darauf hingewiesen, daß „nicht nur Lehre vermittelt werden soll" (Bayern, Braunschweig u. a.). Methodisch werden Wahl- und Pflichtkurse angeboten, keine festen Lehrpläne mehr vorgeschrieben (Kurhessen-Waldeck), dagegen Raum für Innovationen gelassen (Bayern u.a.). Schon daraus ergibt sich, daß der Katechismus und mit ihm der Dekalog nicht mehr die Rolle spielt wie noch vor wenigen Jahren. Das Memorieren wird beschränkt; allgemein ist von der Erklärung Luthers nicht mehr die Rede; gelegentlich wird sogar nur noch das 1. Gebot gelernt (Hessen-Nassau). Eine neue Situation könnte sich durch die derzeitige Debatte über die Grundwerte ergeben. Die Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz Grundwerte und Gottes Gebot enthält als Kernstück eine Dekalogauslegung (21—37). 2. Gottesdienst

und

Predigt

Als liturgisches Stück des Gottesdienstes kommt der Dekalog nur in der Württembergischen Kirchenordnung von 1553 vor. Hier folgt im reinen Predigtgottesdienst auf die Predigt die Rezitation des Dekalogs, Glauben und Vaterunser durch den Pfarrer; die Gemeinde spricht leise mit (E. Weismann: Leit. III, 1956, 62). Dagegen scheint der Dekalog niemals in der sog. „Offenen Schuld" im Gebrauch gewesen zu sein.

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Dekalog V L u t h e r h a t t e in d e r Deutschen

Messe

für den M o n t a g und Dienstag Katechismusgottes-

d i e n s t e v o r g e s c h l a g e n , in d e n e n d a n n a u c h d e r D e k a l o g g e p r e d i g t u n d h e r n a c h k a t e c h i s i e r t w e r d e n sollte ( W A

19,79).

E i n e g e s o n d e r t e D e k a l o g p r e d i g t s c h e i n t sich n a c h d e r G e s c h i c h t e d e r P r e d i g t b e s o n d e r s für die Z e i t e n a n z u b i e t e n , in d e n e n die Ö f f e n t l i c h k e i t in b e s o n d e r e r G e f a h r d e s V e r l u s t e s v o n W e r t m a ß s t ä b e n zu s t e h e n s c h e i n t . S o p r e d i g t e n - u m n u r z w e i B e i s p i e l e z u n e n n e n

-

- » B e z z e l 1 9 1 7 , P. B r u n n e r i m S o m m e r 1 9 4 5 ü b e r den D e k a l o g . D i e s e P r e d i g t e n sind B u ß p r e d i g t e n , die in d e n G e h o r s a m u n t e r G o t t e s G e b o t z u r ü c k r u f e n w o l l e n ; freilich e n t g e h e n d a b e i g e r a d e die l e t z t g e n a n n t e n n i c h t d e r G e f a h r , g e s e t z l i c h zu w e r d e n . - D a g e g e n gelten P r e d i g t e n v o n G . E b e l i n g d e r F r a g e n a c h d e r W a h r h e i t d e s D e k a l o g s in d e r E r f a h r u n g e i n e r u n b e d i n g t e n I n a n s p r u c h n a h m e , die n u r als A n g e b o t e v o n F r e i h e i t r e c h t v e r s t a n d e n w e r d e n k a n n , u n d d e m A u f w e i s , w i e d a s R e d e n v o n G o t t f ü r P r o b l e m e d e r m e n s c h l i c h e n Gesells c h a f t B e d e u t u n g g e w i n n t . A h n l i c h v e r w e i s e n H . G o l l w i t z e r s P r e d i g t e n d a r a u f , d a ß im D e k a l o g d e r m e n s c h e n s u c h e n d e , d e r B e f r e i e r - G o t t zu W o r t k o m m t , d u r c h d e n G o t t e s - u n d M e n s c h e n b e z i e h u n g u n t r e n n b a r w u r d e n u n d u m d e s L i e b e s g e b o t s w i l l e n h ö c h s t e Ideale r e l a t i v i e r t w u r d e n . In d e r O f f e n h e i t des D e k a l o g s z u m L i e b e s g e b o t w i r d seine c h r i s t o l o g i s c h e D e u t u n g g e s e h e n , als d e r e n A u s d r u c k a u c h die —»Goldene R e g e l g e n a n n t w i r d . Nur hinweisen kann ich auf H . Schröers Meditation, die sich um die christologische Deutung des Dekalogs besonders bemüht. Zu vergleichen sind auch die Predigtstudien, I V / 2 1 9 6 0 / 1 9 6 1 mir einer Reihenpredigt über das 1. - 5 . G e b o t und auf die Barbeitung aller Einzelgebote in G P M 3 2 ( 1 9 7 7 / 7 8 ) ( = W P K G 1 9 7 7 / 7 8 ) mit ihrem intensiven Gespräch zwischen Exegese und Systematik. Der Dekalog als Predigttext gewinnt neue Bedeutung (vgl. z . B . Sorg und Josuttis). Literatur Ältere Literatur bei Surkau (auch ausländische) und Fraas. - Aufschlüsse. Ein Glaubensbuch, Berlin 1 9 7 7 . - Friedrich W . Bargheer, Das „ G e b o t mit V e r h e i ß u n g " : Begegnung und Vermittlung. Gedenkschr. für Ingeborg R ö b b e l e n , Dortmund 1 9 7 2 , 2 0 1 - 2 1 0 . - Günther Bauer u . a . , Die Zehn Gebote. Fragen aus unserer Zeit, Stuttgart o. J . - Peter Brunner, Die Zehn Gebote Gottes, Wuppertal-Barmen o . J . ( 1 9 4 6 ) . - G e r h a r d Ebeling, Die Zehn Gebote, Tübingen 1 9 7 3 . - E v . Erwachsenenkatechismus, Gütersloh 1 9 7 5 . - J o h a n n e s Feiner/Lukas Vischer, Neues Glaubensbuch. Der gemeinsame christl. Glaube, Freiburg/Zürich s 1 9 7 3 . - Hans Jürgen Fraas, Katechismustradition, 1 9 7 1 (APTh 7). - Helmut Gollwitzer u . a . , . . . aus der Sklaverei befreit, Stuttgart 1 9 7 9 . - Grundwerte u. Gottes G e b o t , Gütersloh/Trier 2 1 9 7 9 . - J o h a n n Christoph H a m p e , Was wir glauben. Taschenbuch zum Ev. Erwachsenenkatechismus, Gütersloh 1 9 7 7 . - Kurt Henning, Das Grundgesetz Gottes, Stuttgart 1 9 6 2 . - Het Hoger Katechetisch Institut te Nijmwegen, D e Nieuwe Katechismus, Hilversum/Antwerpen 1 9 6 6 . - Manfred J o suttis (Hg.), G e b o t u. Freiheit, Göttingen 1 9 8 0 . - Hans-Bernhard Kaufmann, Thematisch-problemorientierter Religionsunterricht. Du sollst gegen deinen Nächsten kein falsches Zeugnis ablegen: Wolfgang G. Esser (Hg.), Z u m Religionsunterricht morgen, M ü n c h e n , II 1 9 7 1 , 4 3 — 1 6 0 . - H e i n z Kremers, Das Elterngebot: EvTh 2 1 ( 1 9 6 1 ) 1 4 5 - 1 6 1 . - Ernst Lange, Die zehn großen Freiheiten, Gelnhausen/Berlin 1 9 6 5 1 2 1 9 7 5 . - Friedrich Laubscher, Weg in der Wirrnis, Stuttgart 1 9 6 4 . - M a r c Lestienne, L e s d i x p a r o l e s e t l e d e c a l o g u e : R B 7 9 ( 1 9 7 2 ) 4 8 4 - 5 1 0 . - J a n Milic L o c h m a n n , Ehre Deinen Vacer und Deine Mutter: Ref. 2 5 ( 1 9 7 6 ) 4 5 3 - 4 5 9 . - W a l t e r Lüthi, Die Zehn Gebote Gottes, Basel 1 9 6 6 , - H a n s Peter Müller, Z u r Verkündigung der Zehn G e b o t e : W P K G 6 5 ( 1 9 7 6 ) 5 1 8 - 5 3 5 . - D i e t r i c h v. Oppen, Du sollst nicht s t e h l e n - h e u t e : Z E E 14 ( 1 9 7 0 ) 3 5 - 4 4 . - Lothar Perlitt (Hg.), Heidelberger Predigten, Göttingen, IV 1 9 7 3 . - Heinz S c h m i d t / J ö r g Thierfelder, Achtundzwanzig Unterrichtseinheiten :ur den Religionsunterricht im 5 . / 6 . Schuljahr, Stuttgart 1 9 7 6 , 1 2 3 - 1 2 5 . 2 2 9 - 2 4 8 . - H a n s Schmiedehausen, Katechismuspredigten: Dienst am W o r t 3 2 (Stuttgart/Göttingen 1 9 7 5 ) 4 9 - 1 0 0 . - J o s e f Schreir.er, Die Zehn Gebote im Leben des Gottesvolkes. Dekalogforschung und Verkündigung, 1 9 6 6 (BiH 3 ) . - H e n ning Schröer, Meditation über E x 2 0 , 1 - 2 1 : G P M 2 1 ( 1 9 6 6 / 1 9 6 7 ) ( = M P T h 1 9 6 6 / 1 9 6 7 ) 8 9 - 9 6 (Lit.). - B . H . Shulmann, T e n commandments and insights from group psychotherapy: J R H e 1 2 ( 1 9 7 3 ) 3 5 4 - 3 6 6 . - T h e o Sorg (Hg.), Dekalog heute. Predigthilfen zu den Zehn Geboten, Stuttgart 1979 (Lit.). - Hans-Werner Surkau, Art. Katechismus. II. Gesch. 3 . Katechismus-Unterricht: R G G 3 3 ( 1 9 5 9 ) 1 1 7 9 - 1 1 8 8 (Lit.). H a n s - W e r n e r Surkau Dekretale/Dekretalensammlungen

—»Kirchenrechtsquellen

Delitzsch, Franz Delitzsch, Franz Julius

431

(1813-1890)

Am 23. 2. 1813 in Leipzig geboren, studierte Delitzsch dort von 1831 bis 1835 Theologie, daneben semitische Philologie (bei H. L. Fleischer und J. Fürst). 1831 oder 1832 erlebte er eine Bekehrung, die ihn den Kontakt mit erweckten Kreisen suchen ließ und u. a. mit dem 1837 seines Dresdener Predigeramtes enthobenen und mit zahlreichen seiner Anhänger nach den USA ausgewanderten Martin Stephan in Verbindung brachte. Das Bekehrungserlebnis und die im Kreise um Stephan erlebte Begegnung mit einer dem —»Pietismus sowohl wie dem lutherischen Konfessionalismus verpflichteten Erweckungsfrömmigkeit haben Delitzschs eigene Frömmigkeit zeitlebens entscheidend geprägt und sind darüber hinaus auch für seine theologischen Überzeugungen von einschneidender Bedeutung gewesen. Nach dem Kandidatenexamen und der philosophischen Doktorpromotion widmete er sich, viel in erweckten Zirkeln verkehrend, der Edition bzw. Abfassung von Erbauungsschriften (z.B. Philemon oder das Buch von der Freundschaft in Christo. Den zerstreuten Bekennern des Herrn zur Belebung und Regelung ihrer Gemeinschaft gewidmet, Leipzig 1841, Gotha 3 1878; Das Sacrament des wahren Leibes und Blutes Jesu Christi. Beicht- und Communionbuch, Dresden 1844, Leipzig 7 1886), wobei sich auch ein bleibendes Interesse an christlicher Mystik (etwa J. —> Böhme) einstellte. Vor allem aber trieb er judaistische Studien (vgl. Zur Geschichte der jüdischen Poesie vom Abschluß der heiligen Schriften Alten Bundes bis auf die neueste Zeit, Leipzig 1836; Wissenschaft, Kunst, Judenthum. Schilderungen und Kritiken, Grimma 1838), die ihm freilich weniger Selbstzweck denn Vorbereitung für den angestrebten Beruf eines Judenmissionars waren. Als sich dieser auch aus freundlichen Kindheits- und Jugendeindrücken resultierende (vgl. Wagner 400 f) Berufswunsch so bald nicht verwirklichen ließ - nur gelegentlich hat Delitzsch in diesen Jahren praktische Missionsarbeit leisten können, etwa unter Studenten und anläßlich der Leipziger Messen —, entschloß er sich zur Habilitation, die 1842 in Leipzig erfolgte (De Habacuci prophetae vita atque aetate. Com• mentatio historico-isagogica, Lipsiae 1842). Nach vergeblichen, an den Spannungen zwischen Union und nichtuniertem Luthertum scheiternden Versuchen, in Preußen eine Hochschullehrerstelle zu erhalten, wurde er 1844 in Leipzig zum a.o. Professor ernannt und 1846 als Nachfolger von J. Ch.K. v. —»Hofmann zum Ordinarius für alt- und neutestamentliche Exegese nach —»Rostock berufen. Vier Jahre später folgte er seinem Vorgänger im Rostokker Amte nach —»Erlangen, nun auf eine Professur „für alttestamentliche Exegese, christliche Apologetik, theologische Moral und die darein einschlagenden Fächer". Wenn sich Delitzsch den kirchlichen Auseinandersetzungen der Zeit hier auch keineswegs entzog - vgl. z. B. sein für W. —»Löhe eintretendes Votum über Die bayerische Abendmahlsgemeinschaftsfrage (Erlangen 1852), seine Stellungnahme zur Entlassung des Rostokker Exegeten M. —»Baumgarten (1858) oder seine Auseinandersetzung mit K.F. A. Kahnis (Für und wider Kahnis, Leipzig 1863)—, so besteht der Ertrag seiner Erlanger Jahre doch hauptsächlich in der Ausarbeitung einer Reihe gewichtiger alttestamentlicher Kommentare. In ihnen erwies er sich als ebenso gelehrter wie eigenständiger Exeget, der freilich von seiner Erweckungsfrömmigkeit her leicht den Weg zu den ihn fortan stark prägenden hermeneutischen Grundsätzen der Hofmannschen Theologie fand. Bedeutsam waren insbesondere die — in steter Auseinandersetzung mit den exegetischen Gegnern (u. a. H. Hupfeld, H. —»Ewald und später J. —»Wellhausen) immer wieder umgearbeiteten - Kommentare über Die Genesis (Leipzig 1852, 5 1887 als Neuer Commentar über die Genesis), die Psalmen (Commentar über den Psalter, 2 Th., Leipzig 1859/60, 5 1894 als Biblischer Commentar über die Psalmen) und Jesaja (Biblischer Commentar über den Prophet Jesaia, Leipzig 1866 41889). Auch eine neutestamentliche Schrift hat Delitzsch kommentiert, und zwar den Hebräerbrief (Leipzig 1857). Als Voraussetzung für ein sachgerechtes Schriftverständnis gilt Delitzsch der persönliche Glaube an den von der Kirche verkündigten Jesus Christus. Die angeblich voraussetzungslose Exegese der historisch-kritischen Schule ist unfrei, „gebunden durch ihre dogmatischen Voraussetzungen, daß es keine übernatürliche Offenbarung Gottes gebe" (Genesis3 46). „Die Möglichkeit der Wunder und der Weissagung ist dem Gläubigen erfahrungsmäßig durch das Wunder der Wiedergeburt und die Wirkungen des Geistes an ihm selber verbürgt" (ebd. 48). Von der „durchgängigefn] fundamentalefn] Uebereinstimmung" der biblischen Schriften ist Delitzsch überzeugt (System der biblischen Psychologie, Leipzig

432

Delitzsch, F r a n z

2 1 8 6 1 , 15): Sie resultiert aus d e r - von Gott apriorisch gesetzten (vgl. Wagner 336) und sich stufenförmig entfaltenden - Heilsgeschichte, die sich vor allem in die alttestamentliche Vorbereitungsgeschichte und die im Neuen Testament bezeugte Erfüllungsgeschichte gliedert. Sachgerechte Exegese darf sich darum der Typologie bedienen, ja muß dies sogar, will sie die vorausdarstellende messianische Qualität alttestamentlicher Texte erkennen (vgl. bes. Delitzschs Psalmen- und Hoheliedexegese). Zur Heilsgeschichte gehört auch die Geschichte der Kirche, deren Heilserkenntnis im Verlauf ihrer Geschichte wächst und deren Heilserkenntnisfortschritt jede Theologie dienen muß - rationalistische Bibelexegese etwa dadurch, daß sie, im Gegenüber zu falscher Apologetik, der „Erkenntnis des organischen Ineinander des Göttlichen und Menschlichen in der Schrift" den Weg bahnt, „welche Erkenntnis den bereits keimenden Samen eines neuen Entwicklungsfortschrittes der kirchlichen Auslegung des A. T . in sich schließt" (Genesis 3 5 6 f). Das Wissen um die der Schrift wie Christus eignende menschliche Natur, ihre „Knechtsgestalt" (Jesaia 2 4 ) , mag es Delitzsch dann auch von seinen eigenen theologischen Prämissen her erleichtert haben, sich, wenn auch unter schweren Bedenken, doch von der Richtigkeit wesentlicher Erkenntnisse der kritischen alttestamentlichen ^Einleitungs Wissenschaft zu überzeugen, so z.B. von der exilischen Entstehung —»Deuterojesajas, der makkabäischen des —»Danielbuches und der weitgehenden Stimmigkeit der von A.--»Kuenen, A. Dillmann und Wellhausen vorgetragenen Analyse der Pentateuchquellen (—>Pentateuch). Prinzipiell hat Delitzsch seine der historisch-kritischen Forschung diametral entgegengesetzten hermeneutischen Überzeugungen freilich nie aufgegeben (vgl. Der tiefe Graben zwischen alter und moderner Theologie. Ein Bekenntnis, Leipzig 1888).

Im J a h r e 1 8 6 7 folgte Delitzsch einem R u f z u r ü c k n a c h Leipzig, w o er nun z u s a m m e n m i t C h r . E . L u t h a r d t u n d K a h n i s lange Z e i t d a s G e s i c h t der F a k u l t ä t p r ä g t e und diese zu e i n e m akademischen Anziehungspunkt von überdurchschnittlicher Ausstrahlungskraft

werden

ließ. Sein L e h r e r f o l g w a r e n o r m u n d reichte w e i t ü b e r D e u t s c h l a n d hinaus. N e b e n der F o r t setzung seiner e x e g e t i s c h e n , z u n e h m e n d a u c h P r o b l e m e n des B i b e l t e x t e s g e w i d m e t e n A r b e i t w a n d t e er sich wieder v e r s t ä r k t der —»Judenmission zu. N a c h d e m er s c h o n 1 8 6 3 die für die M i s s i o n u n t e r Israel w e r b e n d e Zeitschrift Saat auf Hoffnung

g e g r ü n d e t h a t t e — der Titel gibt

Delitzschs illusionslose, a u f schnelle E r f o l g e k a u m h o f f e n d e Einstellung treffend wieder—, folgte 1 8 7 0 o d e r 1 8 7 1 die G r ü n d u n g des „ E v a n g e l i s c h - l u t h e r i s c h e n Centraivereins für die M i s s i o n unter I s r a e l " u n d 1 8 8 6 schließlich die E r r i c h t u n g eines S e m i n a r s z u m S t u d i u m des J u d e n t u m s , das gleichzeitig als A u s b i l d u n g s s t ä t t e für J u d e n m i s s i o n a r e dienen sollte: des — n a c h Delitzschs T o d e s o b e n a n n t e n — Institutum

Judaicum

Delitzschianum

in Leipzig (heute

als Universitätsinstitut in M ü n s t e r / W . , mit d e m e r k l ä r t e n Ziel, „ a l s Stätte der F o r s c h u n g und L e h r e der besseren K e n n t n i s des C h r i s t e n t u m s unter den J u d e n und des J u d e n t u m s unter den C h r i s t e n " zu dienen, vgl. F Ü I 6 4 [ 1 9 8 1 ] 2 5 ) . D e m im letzten Viertel des 1 9 . J h . i m m e r aggressiver w e r d e n d e n —»Antisemitismus h a t sich Delitzsch leidenschaftlich entgegengestellt; eindrückliches Z e u g n i s hierfür sind z. B. seine gegen die H e t z s c h r i f t e n A. R o h l i n g s gerichteten P u b l i k a t i o n e n ( 1 8 8 1 - 1 8 8 3 ) . Delitzschs H e r z e n a m n ä c h s t e n s t a n d jedoch eine w e i t e r e m i t der J u d e n m i s s i o n z u s a m m e n h ä n g e n d e A u f g a b e : die spätestens seit 1 8 3 8 gep l a n t e Übersetzung

des Neuen

Testaments

ins

Hebräische.

Problematisch war hier vor allem die Wahl des den neutestamentlichen Schriften am ehesten entsprechenden hebräischen Idioms. Das alttestamentliche schien Delitzsch ebenso ungeeignet wie das mittelalterliche, schließlich entschied er sich mehr und mehr für das von Mischna und älterem Midrasch benutzte —»Hebräisch. Im Jahre 1 8 7 7 konnte die erste Auflage bei der Londoner „British and Foreign Bible Society" erscheinen; die folgende Auflagen ( " 1 8 9 2 , hg. v. G. Dalman) wurden stetig weiter verbessert. Allerdings hatte das Werk unter der Konkurrenz eines von dem Wiener Judenmissionar Isaak Salkinson veranstalteten Parallelunternehmens zu leiden, das in höheren Auflagen erschien und wesentlich größere Verbreitung fand. D e r in F o r s c h u n g , L e h r e und k i r c h l i c h e m L e b e n u n g e m e i n vielseitige Gelehrte s t a r b , a u c h jüdischerseits h o c h g e e h r t , a m 4 . 3 . 1 8 9 0 ; zu d e n „einflußreichsten a l t t e s t a m e n t l i c h e n E x e g e t e n des 1 9 . J a h r h u n d e r t s " g e h ö r e n d ( K r a u s 2 3 0 ) , h a t er d e n n o c h n i c h t schulbildend g e w i r k t , freilich zahlreiche Schüler besessen, d a r u n t e r G. - ^ D a l m a n u n d W . W . G r a f B a u dissin. Quellen Die wichtigsten Arbeiten sind im Text genannt. — Ausführliche Bibliographie: Wagner (s.u.) 4 4 6 - 4 9 8 . - Verzeichnis der Schriften Delitzschs: ebd. 4 7 0 - 4 9 4 .

Delitzsch, Friedrich

433

Literatur Samuel Ives Curtiss, Franz Delitzsch, Edinburgh 1891. - Hans-Joachim Kraus, Gesch. der hist.krit. Erforschung des AT, Neukirchen 2 1969, 2 3 0 - 2 4 1 . - Siegfried Wagner, Franz Delitzsch. Leben u. Werk, 1978 (BEvTh 80).

Eckhard Plümacher

Delitzsch, Friedrich

(1850-1922)

Der Assyriologe Friedrich Delitzsch (Sohn von Franz —»Delitzsch, geb. 3 . 9 . 1 8 5 0 in Erlangen, gest. 1 9 . 1 2 . 1 9 2 2 in L a n g e n s c h w a l b a c h ) b e g a n n sein a k a d e m i s c h e s W i r k e n in Leipzig ( 1 8 7 5 Privatdozent, 1878 a u ß e r o r d e n t l i c h e r , 1 8 8 5 ordentlicher Professor), folgte 1893 einem Ruf n a c h Breslau u n d 1899 schließlich n a c h Berlin. Delitzsch w a r einer der bedeutendsten Keilschriftforscher seiner Zeit. N e b e n seinen philologischen Arbeiten auf d e m Gebiet der Assyriologie u n d später auch der Sumeriologie galt sein Interesse der H e r a u s a r b e i t u n g v o n Z u s a m m e n h ä n g e n zwischen der alttestamentlichen Überlieferung u n d der sich rasch erschließenden Literatur u n d Kultur M e s o p o t a m i e n s . Bereits im J a h r e 1 8 7 6 veranstaltete der junge Privatdozent eine Ü b u n g u n t e r d e m T h e m a „ D i e Genesis u n d die Keilinschrift e n " . Z u n ä c h s t ging es ihm u m sprachliche Beziehungen. D a z u veröffentlichte er 1 8 8 3 in L o n d o n The Hebrew Language Viewed in the Light of Assyrian Research. Es folgten Prolegomena eines neuen hebräisch-aramäischen Wörterbuchs (Leipzig 1886). D a s W ö r t e r b u c h selbst blieb leider u n g e d r u c k t . In den neunziger J a h r e n t r a t e n d a n n die inhaltlichen Z u s a m m e n h ä n g e zwischen der babylonischen Literatur u n d d e m Alten T e s t a m e n t (—»Babylonien u n d Israel) stärker in den V o r d e r g r u n d . Seine Position h a t t e Delitzsch schon in seinem Buch W o lag das Paradies? (Leipzig 1881) dargelegt: D a s Paradies ist mit der historischen L a n d s c h a f t Babylonien zu identifizieren. D o r t m u ß die Wiege der ältesten H o c h k u l t u r gesucht w e r d e n , in deren Einzugsbereich auch das Alte T e s t a m e n t e i n z u o r d n e n ist. Ihre A n w e n d u n g f a n d diese H y p o t h e s e in einem öffentlichen V o r t r a g u n t e r dem T h e m a Babel und Bibel, den Delitzsch a m 1 3 . 1 . 1 9 0 2 in der Berliner S i n g a k a d e m i e hielt (Leipzig 1 9 0 2 6 1 9 2 1 ) u n d 1 9 0 3 bzw. 1905 d u r c h zwei weitere V e r ö f f e n t l i c h u n g e n unter d e m gleichen Titel ergänzte. Dieser V o r t r a g f ü h r t e zu d e m mit großer H e f t i g k e i t g e f ü h r t e n „Babel-Bibel-Streit" (s. T R E 5, 77, 5 0 ff; 6, 35 9, 7 ff). Der H a u p t a n s t o ß lag bei den K o n s e q u e n z e n , die Delitzsch aus Abhängigkeit u n d V e r w a n d t s c h a f t zu älteren babylonischen T e x t e n f ü r die B e w e r t u n g des Alten Tes t a m e n t s ziehen zu k ö n n e n glaubte: D a s religiös, sittlich u n d kulturell Wertvolle im Alten T e s t a m e n t ist babylonischer H e r k u n f t . M i t Hilfe der w i e d e r e n t d e c k t e n keilinschriftlichen Literatur k a n n es n u n m e h r von den Entstellungen d u r c h d e n israelitischen P a r t i k u l a r i s m u s ' befreit w e r d e n . In ganzer Schärfe kristallisierten sich diese K o n s e q u e n z e n f ü r Delitzsch allerdings erst w ä h r e n d des Babel-Bibel-Streits h e r a u s . Weiter a u s g e b a u t w u r d e n Delitzschs Ansätze d u r c h die sog. , P a n b a b y l o n i s t e n ' , insbes o n d e r e d u r c h seinen Schüler Alfred Jeremias u n d d u r c h H u g o Winckler. Ihr E x t r e m erreichte diese R i c h t u n g d u r c h Peter Jensen, der in seinem T o r s o gebliebenen W e r k Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur (2 Bde., Berlin 1 9 0 6 - 1 9 2 9 ) die A b h ä n g i g k e i t der gesamten Weltliteratur von babylonischen V o r b i l d e r n n a c h w e i s e n wollte. Delitzsch h a t nach Abklingen des „Babel-Bibel-Streites" n o c h einmal seine Position ausführlich dargelegt (Die große Täuschung, 2 T., Stuttgart/Berlin 1 9 2 0 - 1 9 2 1 ) . U n b e r ü h r t v o n aller Kritik k a m er dabei zu einer radikalen A b l e h n u n g des Alten T e s t a m e n t s . Seinen historischen u n d poetischen W e r t bestritt Delitzsch nicht; religiös aber b e z e u g t e s lediglich die jüdisch-partikularistische M o n o l a t r i e „ J a h o s " , der d u r c h eine „ g r o ß e Selbsttäuschung Israe l s " mit d e m „ w a h r h a f t heiligen G o t t " (El) gleichgesetzt w o r d e n ist. Dies ist „ a u c h aus sittlic h e n G r ü n d e n schlechterdings u n a n n e h m b a r . J a h o steht h i e r f ü r auf einer viel zu tiefen sittlichen S t u f e " (I, 7 4 f f ) . D e s h a l b f o r d e r t e Delitzsch das Ausscheiden des Alten T e s t a m e n t s aus d e r christlichen Theologie. D a m i t v e r b a n d er eine h e m m u n g s l o s e Polemik gegen d a s J u d e n t u m „ a u f d e u t s c h e m B o d e n " (—> Antisemitismus) u n d w u r d e so zu einem der geistigen

434

Demokratie I

W e g b e r e i t e r der — » D e u t s c h g l ä u b i g e n B e w e g u n g e n u n d d e r Politik g e g e n ü b e r d e m J u d e n t u m i m n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n . D r i t t e n R e i c h ' ( d a z u bes. I, 1 2 4 f f ) . Delitzschs b a b y l o n i s c h e I n t e r p r e t a t i o n des Alten T e s t a m e n t s ist f o r s c h u n g s g e s c h i c h t l i c h längst als I r r w e g e r k a n n t w o r d e n u n d k a n n als erledigt b e t r a c h t e t w e r d e n , wenngleich prinzipiell die M e t h o d e , aus Ä h n l i c h k e i t e n A b h ä n g i g k e i t e n zu k o n s t r u i e r e n , i m m e r n o c h gelegentlich A n w e n d u n g findet. U n b e s t r i t t e n bleibt Delitzschs B e d e u t u n g als Philologe. Seine Assyrischen

Lesestücke

(Leipzig 5 1 9 1 2 ) sind bis in die G e g e n w a r t ein Hilfsmittel z u r Erler-

n u n g des A k k a d i s c h e n . Sein b e w ä h r t e s Assyrisches

Handwörterbuch

(Leipzig 1 8 9 6 ) w u r d e

1 9 6 8 n o c h einmal nachgedruckt. Karl-Heinz Bernhardt

Demokratie I. E t h i s c h II. P r a k t i s c h - T h e o l o g i s c h

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I. E t h i s c h 1. Historische Voraussetzungen neuzeitlicher Demokratie 2 . Aufkommen und Entfaltung neuzeitlicher Demokratie 3 . Demokratieverständnis in Wissenschaft, Kirche und Theologie seit 1 9 4 5 4 . Fundamentalprobleme heutiger Demokratie im ethischen Urteil (Literatur S . 4 5 0 ) 1. Historische

Voraussetzungen

neuzeitlicher

Demokratie

Um die Mitte des 5. J h . v. Chr., in den Anfängen des perikleischen Zeitalters, kommt in Athen eine neue Bezeichnung für die gegenwärtige Ordnung des Gemeinwesens auf: noXizixd (Euripides, Hiketid. 4 3 0 f f ; Herodot 6 , 1 3 1 , 1 u . a . m . ) . Der öijfiog ist die Gesamtheit der Vollbürger, ohne Frauen, Unselbständige, Metöken und Sklaven, und er ist die Versammlung dieser Bürger, in welcher die politischen Entscheidungen getroffen werden. Die Selbstregierung des Volkes - die Ämter werden in periodischem Wechsel übernommen — wird als Ausdruck von Freiheit, von Gleichheit und Leben in Recht und Gesetz verstanden. M a n ist stolz darauf, daß die Obmacht in der Stadt vom Alleinherrscher über die aristokratischen Vielherrscher jetzt in die Hände des breiten Volkes übergegangen ist. Aber äußerer und innerer Niedergang im Peloponnesischen Krieg 4 3 1 - 4 0 4 wertete die Demokratie ab. Um 4 3 0 begann man, die Aktivbürgerschaft und die Verfassung bevorzugtnoXircia zu nennen. —»Piaton kritisierte die zügellose Freiheit und die bloß arithmetische Gleichheit, bei der der Bessere nicht im Verhältnis zu seiner Natur bedacht werde (leg. V I , 7 5 7 ) . In einer Sechsertypologie des —»Aristoteles stehen je eine gute und eine schlechte Verfassung einander gegenüber (pol. 1 2 7 9 a 2 2 - b l 0 ) . Sie folgen regelhaft aufeinander; immer wenn die bessere zerfallen ist, treiben die Verhältnisse einer anderen Verfassungsform zu: Monarchie/Tyrannis; Aristokratie/Oligarchie; Politie/Demokratie, wobei Aristoteles die Mischung von Oligarchie und Demokratie (Ochlokratie), eine politia permixta, empfiehlt (pol. 1 2 6 5 b 2 6 ; 1 2 9 3 b 3 3 ; 1 2 9 4 b 3 4 ; 1 3 0 7 b l 5 ) . Er stellt Demokratie zwischen Politie und Ochlokratie, ohne schon den letzteren Begriff zu verwenden. Im Lateinischen gibt es kein Äquivalent für Demokratie; das römische Gleichheitsverständnis steht einer solchen Herrschaftsform im Wege. Aequalitas und aequitas gibt es nur unter Standesgenossen. Das politische Recht und Gewicht hängen an der dignitas und auctoritas, am status, der dem Betreffenden in der res publica zukommt. Dennoch ist diese die „öffentliche Sache", die Sache der Gesamtheit. Sie prägte Institutionen und Rechtsvorstellungen, die auch vom Kaisertum nicht abgelöst, sondern - jedenfalls fiktiv - über Jahrhunderte fortgeführt wurde. Die Urchristenheit entnahm ihrem Christusglauben und Bibelverständnis Elemente der Kritik und der Legitimation von Herrschaft. Unvergessen waren die prophetische Kritik am Königtum und an Königen (z.B. J d c 8 —9; I Sam 8; II Sam 12 u . a . m . ; Crüsemann 1 9 f f . 1 2 8 f f . 2 1 5 f f ) oder Jesu Worte über das Niederhalten der Völker durch Fürsten ( M k 1 0 , 4 2 - 4 4 ) und die—»Bergpredigt mit dem Ruf zu Gewaltlosigkeit und Feindesliebe (Mt 5 , 3 8 - 4 8 ) . Unvergessen aber auch die biblische Grundvorstellung, daß alle Herrschaft auch ohne ihr Wissen und unter dem Anschein des Gegenteils von Gott in den Dienst genommen wird ( J e s 4 5 , l - 7 ; R o m 13,1—7), daß sie sich im —»Gericht am Rechtswillen Gottes messen lassen muß (Am 1 , 3 - 2 , 1 6 ) , aber darum auch Gehorsam fordern darf (I Petr 2 , 1 3 - 1 7 ) . Oft genug wird in der Christentumsgeschichte die eine oder die andere Seite, die Legitimation oder die Kritik der Herrschaft, überbetont, wobei doch das Zusammenhalten beider in der jeweiligen Situation geboten ist.

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Erst seit der mittelalterlichen Aristotelesrezeption zur Zeit des —»Thomas von Aquin wird in die biblischen, die volkstümlichen und die römischen Elemente politischen Denkens auch der Begriff der griechischen politia und mit ihr der democratia und überhaupt die aristotelische Sechsertypologie der Verfassungen eingebracht. Damit ist der Grund gelegt für die große Tradition der Politica scientia, die sich bis tief in die Neuzeit hinein zwischen praktischer Philosophie und theologischer Ethik bewegen wird. Den Begriff democratia kennt das Mittelalter von den griechischen Philosophen und Historikern, erkennt die Sache aber auch als ein Element, das manchen gegenwärtigen Verfassungszuständen beigemischt ist, was nach Thomas durchaus der lex divina entspricht (S.th. 2,1 q 105 a 1). Nur die reine Demokratie lehnte man als Pöbelherrschaft ab. Aber der potestas populi räumt man seit Thomas eine erhebliche Bedeutung ein. Beteiligtwerden des Volkes, Anhörung, Wahl und Zustimmung geben vielen Herrschaftsakten erst ihre volle Legitimität, und man verweist immer wieder auf biblische Texte, denen zufolge im alten Israel das Volk in ähnlicher Weise dabei war. Ebenso wirken germanisch-genossenschaftliche Gefolgschaftstraditionen und römische Rechtsüberlieferungen weiter. Bezeichnend ist die ursprünglich privatrechtliche, dann aber auch kirchenrechtliche und öffentlich-rechtliche Regel: Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet (Belege: Grundlagen der modernen Volksvertretung I, 115 ff. 183 ff). Sie ist seit dem 13. Jh. weit verbreitet und wird bei der Einberufung ständischer und kirchlicher Repräsentationsversammlungen viel verwendet. Diese heißen vom Beginn des 12. Jh. an in einigen Ländern, besonders aber in —»England, immer häufiger Parlament, so z.B. die 1275 und 1295 von Edward I. einberufene Vertreterversammlung der Nation. In solchem parlamentum wurden Gerichtshofbefugnisse durch politische Beratungen ergänzt. In der Regel Quod omnes tangit ist das Volk in seiner ständischen Repräsentation gemeint, nicht als Summe von Individuen. Im kirchlichen —»Konziliarismus sowie bei —»Marsilius von Padua, W.v. —»Ockham u.a.m. wird die potestas populi, wie sie in der Repräsentation zum Ausdruck kommt, erweitert und ihre Bedeutung für die Legitimität einer Herrschaft herausgestellt. —»Nikolaus von Kues bringt in der Concordantia catholica von 1433 ein zukunftsträchtiges Element ein: die Menschen seien von Natur — d. h. auch in ihrer Wesenheit nach dem Fall—aeque potentes et aeque liberi (II, 217). Daher kämen Herrschaft und Gesetz nicht anders als durch Wahl und Zustimmung legitim zustande. Das geht über die bisherige ständische Brechung des Gleichheitsbegriffs hinweg, knüpft aber an biblische und volkstümliche Vorstellungen von der ursprünglichen Schöpfungsgleichheit der Menschen an. Die Städte als genossenschaftliche Verbände freier Bürger (—»Bürgertum) ordneten kraft der von Kaiser und Reich verliehenen Rechte, Freiheiten und Privilegien ihre politischen Angelegenheiten selbst. Das geschah unter Beteiligung derjenigen, die als Bürger galten, aber unter Ausschluß der zahlreichen „proletarischen" Randgruppen, so daß mancherorts die Beimischung des demokratischen Elements zum aristokratischen der Patrizier von den Zeitgenossen als erheblich empfunden wurde. Der —»Humanismus zeigte vorwiegend aristokratische Neigungen, hingegen entwickelte die spanische Spätscholastik, abschließend in F. Vasquius, eine naturrechtliche Herrschaftsvertragslehre, derzufolge der Prinzeps einen evtl. sogar widerrufbaren Auftrag vom Volk hat. Bei den Reformatoren verschaffen sich gegenüber der aristotelisch geprägten Politica scientia die biblischen Beispiele und Intentionen größere Geltung. Auf der einen Seite stehen bei M. —»Luther die libertas christiana, die Lehre vom allgemeinen —»Priestertum aller Gläubigen, die Erinnerung daran, daß Gott die Gewaltigen vom Throne stößt und die Niedrigen, Armen, Rechtlosen erhebt (Lk 1,51 — 53; Mt 5 , 3 - 1 1 ) , weswegen auch das „Volk in allen seinen Ämtern" und die Niedrigen von Geburt mit obenan sitzen und beim Regieren helfen sollen (WA 30,367,4ff; 576,4 ff); auf der anderen Seite steht die Verpflichtung der Christen nach Rom 1 3 , 1 - 7 und I Petr 2,13 f, der von Gott gesetzten Obrigkeit Untertan zu sein und Dienst in öffentlichen Ämtern zu übernehmen. Bei Luther verbinden sich hierarchisch-patriarchalische und populistische Vorstellungen eigentümlich, wobei Ph. —»Melanchthon und die altlutherische Tradition vorwiegend erstere verstärkt hat. Demokratien gibt es für Luther in der —»Schweiz und in Dithmarschen. —»Deutschland ist für ihn eine Aristokratie, auf deren Freiheit im Vergleich zu den Monarchien England und Frankreich er stolz ist (WA.TR 4,238, Nr. 4342; 5,286 f, Nr. 5653b). Selbsthilfe nach mittelalterlichem Rechtsverständnis, Fehde, Herrsein ohne Dienst hält Luther für Mißachtung Gottes, der seinen Sohn für jeden Menschen dahingegeben hat und unter wahren Christen eine Gemeinschaft schafft, die keine Herrschaft von Menschen über Menschen dulden kann (—»Zweireichelehre). Auch in den weltlichen Zusammenhängen wacht Gott über das Wohlergehen der Menschen und sieht auf Dauer der Verletzung des gemeinen Nutzens, nach dem sich alle Herrschaft auszurichten hat, nicht untätig zu. Daher kommt menschlicher Widerstandsaktivität eine geringere und manchmal eine störende Bedeutung zu. Doch hat z. B. die Confessio, Instructio et Admonitio der (lutherischen) Magdeburger Pastoren 1580 darauf hingewiesen, daß jedermann in einem Amt — bis hinunter zu dem des Familienoberhauptes - zum Widerstand gegen Unrechtshandeln einer Obrigkeit legitimiert ist, was erheblichen Einfluß auf das theologische Verständnis des Widerstandes in Frankreich, Holland und Schottland gehabt hat (Olson 108). Ein ständisches Widerstandsrecht vertraten auch andere lutherische Zeitgenossen des Reformators, z. B. Andreas —»Oslander. Seit dem —»Augsburger Religionsfrieden von

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1555 entfielen im Deutschen Reich aber weitgehend die realen situativen Grundlagen für die Weiterentwicklung solcher Widerstandslehre, ähnlich wie bei den Hugenotten seit dem Edikt von Nantes 1598. Bei U. —»Zwingli wie J. —»Calvin ist es selbstverständlich, daß Herrschaft auf die Legitimation durch das Volk angewiesen ist, aber eher aristokratisch ausgeübt werden sollte (J. Calvin, Institutio IV, 20,8). Für Calvin gehen Herrscher und Volk (ständisch repräsentiert) eine mutua obligatio ein. Hier und bei Calvins Klausel über die Widerstandspflicht unterer Magistrate bei Unrechtshandlung des Herrschers (Institutio IV, 20,31; —» Widerstandsrecht) liegen die Ansatzpunkte für die so folgenreiche Herrschaftsvertragstheorie der calvinistischen —>Monarchomachen, die nach der Bartholomäusnacht 1572 Widerstand, ja Absetzung forderten, wenn ein Fürst nicht entsprechend den Bedingungen regiere, die zwischen ihm und den Untertanen (meist nicht schriftlich und nicht ausdrücklich) beim Herrschaftsantritt abgemacht waren. Der Jesuit Juan de Mariana (1536—1624) pervertierte diese Theorie 1599 dahingehend, daß jeder amtslose Private das Recht habe, mit Tyrannenmord dem Gemeinwesen zu helfen. Im Gegenzug gegen die Monarchomachen wollte Jean Bodins ( 1 5 2 9 - 1 5 9 6 ) Souveränitätstheorie die Unantastbarkeit und Neutralität der obersten Gewalt im Gemeinwesen jenseits des Streites der Religionsparteien sicherstellen, womit er zugleich - nach N. —»Machiavelli - den entscheidenden Schritt zur Dissoziierung von säkularer, juristisch-politischer Staatsbegründung und christlich-ethischer Herrschaftslehre tat und so das Prinzip des neuzeitlichen Staats hervorbrachte (Les six Livres de la République 1576, lat. 1586). Gegen Ende des 16. Jh. kam in Europa ein Neu-Stoizismus auf, der nicht Weltabwendung, sondern standhaftes Ausharren in römischer Selbstdisziplin lehrte. Besonders über Justus Lipsius (gest. 1606) ging er in die damals blühende Literatur der Politica scientia ein, zu der der reformierte Theologe Lambertus Danaeus, der Emdener Stadtsyndikus Johannes Althusius (vgl. Goedeking) und der antijesuitische katholische Kanonist Petrus Gregorius Tholosanus wichtige Werke beisteuerten.

2. Aufkommen

und Entfaltung

neuzeitlicher

Demokratie

Während in der lutherischen Tradition, besonders in Deutschland, alles Gewicht auf dem Dienstgedanken und der moralisch-rechtsstaatlichen Verpflichtung der Herrschenden, aber ohne —» Widerstandsrecht der Untertanen lag, entwickelte sich in den Generationen nach Calvin aus dem biblischen Bundesgedanken (—»Föderaltheologie) und einem neuen —»Naturrecht eine Gesellschafts- und Herrschaftsvertragstheorie, die dem Volk in seinen Ständen einen viel aktiveren Anteil am politischen Geschehen zumutete. 1581 konnten dementsprechend die niederländischen Generalstaaten —»Philipp II. als Tyrannen absetzen (—»Niederlande), 1649 ließ das englische (Rumpf-)Parlament, das die Souveränität der Krone in langen Auseinandersetzungen an sich gezogen hatte, Karl I. enthaupten (—»England). Doch führte der calvinistische Bundesgedanke, wie das Verhalten der englischen —»Presbyterianer und des Independentenfiihrers O. —»Cromwell zeigt, keineswegs zu demokratischen Gemeinschaftsformen, sondern favorisierte eher theokratische Normen mit einem streng fordernden Gemeinethos. Hingegen gaben die Kongregationalisten (—»Kongregationalismus), die —»Baptisten, die Seeker und die —»Quäker, also der „linke Flügel" des —»Puritanismus, dem Bundesgedanken eine demokratieanaloge Wendung. Sie rekrutierten sich meist aus den unteren Volksschichten und sahen die Gemeinden als brüderlichen Zusammenschluß aller derer, die als einzelne vom Geist erleuchtet und getrieben werden. In den politischen Konsequenzen stimmte das mit einem rationalistischen und individualistischen Naturrecht zusammen, das die Leveller 1647— 1649 in den Putney Debates der Soldatenräte des englischen Parlamentsheeres vertraten. Erstaunlich viele Prinzipien moderner Demokratie, insbesondere hinsichtlich der gleichen Wahlbeteiligung aller Männer bzw. deren Begrenzung durch einen Census, traten hier in der Form von Diskussionen und Anträgen zutage. Aber Cromwell bereitete dem ein schnelles Ende. Daß diese Ideen in mehreren Jahrhunderten englischer Geschichte sich langsam Geltung verschaffen konnten, war vor allem der relativ souveränen Stellung des Parlaments zu danken, welche dieses nach vielen Wirren seit der Glorious Revolution von 1688 behaupten konnte. Das Parlament, ursprünglich eine Institution ständischer Gerichtsbarkeit und Interessenvertretung, wandelte sich also zu dem politischen Organ, das am stärksten der Verwirklichung demokratischer Ideen und Einrichtungen Rückhalt gegeben hat. In den amerikanischen Siedlerkolonien mit ihrer höchst unterschiedlichen Geschichte

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(^Vereinigte Staaten von Amerika) sehen manche Forscher die erste Geburtsstätte realer Demokratie seit den Griechen. Freie Männer in gleicher Lage, nicht durch überkommene Muster einander politisch zugeordnet, schlössen Covenants ( 1 1 . 1 1 . 1 6 2 0 Mayflower-Covenant) vor Gott und untereinander und konnten zunächst nur mittels der Versammlung aller zu verbindlichen Regelungen kommen. Das geschah freilich ohne ausdrückliche Demokratiekonzepte. Ausnahmeäußerungen finden sich z.B. bei Roger Williams (1604—1683), der, aus Massachusetts von den geistlichen Führern der Theokratie in ihrem Kampf gegen die Antinomianer (z. B. Anne Hutchinson und ihre Anhänger) verbannt, das neue Gemeinwesen auf Rhode Island so charakterisiert: „It is agreed . . . that the form of Government established in Providence Plantations is Democraticall" (G.H. Blanke, Der amerk. Demokratiebegriff in wortgesch. Beleuchtung: Ib. Amerikastud 1 [1956] 41). Für John Wise als Kongregationalisten (von 1680—1725 in Ipswich, Massachusetts) gilt die demokratische Verfassung der Kirche als die ursprüngliche und die demokratische Staatsform als die angemessenste. Wohl wirkten überall in den Kolonien naturrechtliche Lehren mit biblisch-calvinistischen Bundestheorien zusammen. Damit aber eine demokratische Einstellung entstand, mußten —»Toleranz, religiöser oder philosophischer —»Individualismus und bestimmte institutionelle Vorstellungen über die Willensbildung und Regierung im Gemeinwesen hinzukommen. Ein zusammenfassendes und verbreitetes Konzept dieser Art gab es noch nicht. Darum stimmt das Urteil von R. R. Palmer: „Es kämpften keine ,Demokraten' in der amerikanischen Revolution" (205). Erst seit 1828 kamen mit der sog. Jackson-Demokratie in Amerika Demokratie-Konzepte in der Öffentlichkeit auf. Deutschland leistete besonders durch S. —»Pufendorf einen Beitrag von europäischem Format zur Naturrechtslehre. Aber Demokratie blieb in diesem Lande solange ein Wort der Gelehrtensprache, bis die —»Französische Revolution eine neue Lage schuf. Auch diese Revolution wurde nicht von Demokraten begonnen, sondern brachte erst Demokratie hervor, darunter die totalitäre Variante der Jakobiner, die viel von Rousseau übernahmen. Robespierre formulierte 1793, als die erste strikt republikanische Verfassung beschlossen wurde: „Die Demokratie ist ein Staat, in dem das souveräne Volk, von Gesetzen geleitet, die sein Werk sind, tut, was es tun kann, und durch Delegierte tun läßt, was es selbst nicht verrichten kann" (v. Beyme 14). Die praktische Schwäche dieser Definition war die Leitung durch die Gesetze. Hier wurde beiseitegeschoben, was —»Montesquieu 1748 in Esprit des lois so neuartig herausgearbeitet hatte: die Gewaltenteilung. Und hier zeigte sich die Gefahr der Demokratietheorie von J.-J. —»Rousseau in Du contrat social, 1762 (111,4). Sein Begriff derz/olonté générale setzte voraus, daß der Mehrheitswille auch die Wahrheit enthalte, die dissentierende Minderheit aber von ihrer irrtümlichen Meinung abgebracht und in die Identität mit der Gesamtheit gebracht werden müsse. Bei Robespierre änderte die von ihm jeweils erzwungene Mehrheit die Gesetze nach freiem Belieben und ging mit Terror gegen die Dissentierenden vor. Die römisch-katholische Kirche wurde in Abwehr der Versuche, sie in Frankreich der neuen Republik gleichzuschalten, und unter blutigen Verfolgungen durch die Jakobiner zum entschiedenen Feind der Demokratie, die von vielen Katholiken nun als späte Frucht des Unheils der Reformation verstanden wurde, so z.B. 1817 von dem berühmten Traditionalisten Joseph Marie de Maistre ( 1 7 5 4 - 1 8 2 1 ) . Ablehnung der materialistisch atheistischen Züge westlicher —»Aufklärung und Demokratie kennzeichnet spätestens seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon die herrschenden Einstellungen in deutscher Philosophie und Theologie. Die große Tradition der Politica scientia findet in Kirche und Theologie keine unmittelbare, bewußte Fortsetzung mehr - aristotelische praktische Philosophie und rationalistische Naturrechtslehre sind nicht mehr die Partner christlicher Ethik, denen man sich entgegenstellt und doch auf gemeinsamer Kommunikationsebene verbunden ist. Der konfessionalistische Protestantismus orientierte sich künftig an —»Autorität, am Gottesgnadentum des Monarchen, am christlichen oder zumindest sittlichen Obrigkeitsstaat, also antidemokratisch. Der freie Protestantismus, allen voran F. —»Schleiermacher, kämpfte für den —»Konstitutionalismus, d.h. den monarchischen Verfassungsstaat mit nationaler Repräsentation, so auch Johann Christoph v. Aretin

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1824, Carl Wenzeslaus v. Rotteck 1839 und der Katholik Joseph v. ^»Görres in seiner Frühzeit 1819 (s. W. Conze: GGB 1 [1972] 874f). Der preußische König brach 1821 die 1810 und 1815 gegebenen Verfassungsversprechen, weil Monarchie und Demokratie, wie die einschlägige Beratungskommission festgestellt hatte, unvereinbar seien. Demokraten waren fortan im Gebiet des Deutschen Bundes verfemt (Karlsbader Beschlüsse; —»Restauration). Dennoch,gehörte in den westlichen Ländern und Skandinavien der Demokratisierung die Zukunft, wie besonders die Revolutionen von 1830 und 1848 zeigten. Amerika, England, Niederlande, Belgien, Dänemark, Schweden und Norwegen und auch die Schweiz gaben bis zur Mitte des Jahrhunderts in ihren Verfassungen der Demokratie mehr Raum, erweiterten insbesondere das Wahlrecht. Alexis de Tocqueville stellte 1835/40 in De la Démocratie en Amérique (2 Bde., Brüssel 1835; dt.: Über die Demokratie in Amerika, Frankfurt 1956 [Auszüge]) als Folge dieser Staatsform dar, was tatsächlich, wie John St. Mill schon 1840 bemerkte, eher die Wirkung der industriellen Massenzivilisation war: größere Neigung zur Gleichheit als zur Freiheit, Mehrheitsdominanz, Nivellierung, besonders der Bildung. Die démocratie chrétienne hingegen versuchte in —»Frankreich die Versöhnung von Kirche und Massengesellschaft, abgelehnt von Papst Gregor XVI. ( 1 8 3 1 - 1 8 4 6 ) . In den preußischen Westprovinzen repräsentiert die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835 das Hinzukommen presbyterial-synodaler, demokratieaffiner Elemente in der Kirchenverfassung (Göbell; Huber/Huber I, 599ff). In —»Deutschland traten während der Revolution von 1848 die liberal-konstitutionellen Mehrheits- und die demokratisch-republikanischen Minderheits-Gruppen immer mehr auseinander, unbeschadet ihres Gegensatzes gegen Konservative und Reaktionäre. Schon in der Frankfurter Nationalversammlung erzeugte der politische und soziale Anspruch des Vierten Standes starke Ängste. Demokratie wurde mehr und mehr zur Sache der —»Arbeiterbewegung, die in der —»Sozialdemokratie ihre Vertretung fand (1869 Eisenach, 1875 Gotha), und hatte sonst nur noch in den freiheitlich-fortschrittlich-freisinnigen Kreisen des deutschen Bürgertums Anhänger (z. B. Th. Mommsen; R. Virchow; Theodor Storm). In seinem weit verbreiteten Buch Demokratie und Kaisertum (Berlin 1900) stellte F. —»Naumann fest, daß im Reichstag die Demokratie durch 8 6 2 5 0 0 bürgerliche und 2 1 0 7 100 sozialdemokratische Stimmen vertreten wurde. In beiden Gruppen lebte aus verschiedenen weltanschaulichen Hintergründen Antiklerikalismus, oft —»Atheismus. Das Kirchentum hatte mit den Demokraten nichts mehr gemein, und nur -»Evangelisch-Sozialer Kongreß und —»Religiöse Sozialisten sowie unbedeutende andere Gruppen hatten zu ihr noch Verbindungen. Den Katholiken war der Weg zu den Demokraten durch verschiedene Enzykliken —»Leos XIII. verbaut, zuletzt durch Graves de communi, 18.) 1.1901 (vgl. Schnatz). Den westlichen Demokratien unterlegen, im Diktat des Versailler Vertrages um Präsident Wilsons Friedensversprechungen betrogen, versuchten es die Deutschen in der „Weimarer Republik" mit einer „Vernunftdemokratie". Trotz günstiger Bedingungen bei der Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung (Art. 137.149) begannen alsbald prominente lutherische Theologen wie E. —»Hirsch, P. —»Althaus u.a. den Kampf gegen die „unsittliche", von westlicher, individualistischer Aufklärung geprägte, parlamentarische Mehrheitsdemokratie, einen großen Teil der deutschnational orientierten Pfarrerschaft und des nationalen Bürgertums sowie der Bauernschaft hinter sich wissend. Nur die großen, alten Repräsentanten der —»Liberalen Theologie A.v. —»Harnack, M. —»Rade, E. —»Troeltsch standen zur demokratischen Weimarer Republik, unterstützt von Religiösen Sozialisten. Schon unter dem Eindruck einer möglichen Machtübernahme Hitlers polemisierte F. —»Gogartens Politische Ethik 1932 theologisch gegen die „ewigen Menschenrechte", den Parlamentarismus, den bürgerlichen und marxistischen —»Sozialismus als Mächte, welche das Urphänomen menschlicher Existenz, nämlich das dem eigenen Stande und dem autoritativen Staate „Hörigsein" zerstören (170). Besonnenere Urteile über Demokratie und Protestantismus, z. B. solche von dem Juristen Rudolf Smend, fanden kaum Resonanz. Carl Schmitts, des einflußreichen Staatsrechtslehrers, destruktive Kritik an parlamentarischer Demokratie trug dazu bei, daß auch die gebildeten Deutschen Anfang 1933 nicht wußten,

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was sie preisgaben, als der neue Reichskanzler Hitler fast ohne Widerspruch Verfassungsstaat, Rechtsstaat, Grundrechte und demokratische Rechte beseitigte. Zu eben diesen Institutionen stand auch die katholische Soziallehre in einer unausgeglichenen Spannung, so daß die katholische Zentrumspartei es in ihrer staatstragenden Funktion während der Weimarer Republik sehr schwer hatte (Lutz 81 ff; —»Parteien). Z u r Renaissance der Demokratie, soweit sie vor dem Ende des 2. Weltkrieges einsetzte, trug die innere deutsche Emigration, die im Untergrund befindliche Opposition, die Bekennende Kirche und die Widerstandsbewegung höchstens indirekt bei. Anders die Emigration, z.B. T h o m a s M a n n und P. —»Tillich in den USA, der Jurist Gerhard Leibholz in England. Die Weltkirchenkonferenz von 1937 bereitete aber mitten in der weltweiten Krise der Demokratie unter den Schlägen von —»Faschismus und Stalinismus ein fundamentaldemokratisches sozialethisches Konzept vor, das 1948 bei der Gründungsversammlung des ö k u m e n i s c h e n Rates der Kirchen unter dem Stichwort „Verantwortliche Gesellschaft" verkündet wurde. Im Fazit unseres Uberblickes ergibt sich eine offensichtlich unterschiedliche geschichtliche Einstellung der Kirchen und Konfessionen zur Demokratie, auf die in anderer Weise schon E. -H»Troeltsch (602.702 ff) und M . —>Weber (79ff) verwiesen haben. Günstigen N ä h r b o d e n fand sie in den Ländern, die von reformierten bzw. calvinistisch-puritanischen Traditionen mitgeprägt waren, ständische Opposition gegen den a u f k o m m e n d e n Absolutismus entwickelten, rationale Naturrechtslehren a u f n a h m e n und im Zuge der —»Industrialisierung kräftige besitzindividualistische politische Theorien hervorbrachten (vgl. Macpherson 2 9 5 ff). H . R . Tawney hat behauptet, „ d a ß das Kernstück der puritanischen Lehre die individuelle Freiheit war und nicht das soziale Mitgefühl. Durch die Selbstdisziplin wurden im puritanischen Menschen diejenigen Eigenschaften gezüchtet, die ihn zum Beherrscher der anderen und zum Bezwinger einer feindlich eingestellten Welt machten" (276). Ist dieses Urteil, das mit M a x Webers Untersuchungen teilweise konvergiert, richtig, so ist verständlich, d a ß individualistische Demokratie mit ihrem Konkurrenzkampf um die Mehrheit und individualistische puritanische Religiosität gut zusammenstimmen. Die lutherische Tradition u n d gar das „ D e u t s c h t u m als säkularisiertes L u t h e r t u m " — um W. —»Elerts überzogene These zu zitieren - erzog zum Dienst „nicht f ü r sich, sondern f ü r den a n d e r n " und bevorzugte in der Ethik die sittlichen Gemeinschaften oder gar den sittlichen Staat vor dem Individuum, was zu einer frühen staatlichen Sozialgesetzgebung in Deutschland geführt h a t (1881 ff), aber den einzelnen zur Einordnung erzog. Daher war Demokratie bis 1918 eher die Sache der Nichtintegrierten u n d nach 1918 nicht die Sache derer, welche gegenüber dem westlichen Individualismus nicht die „Volksgemeinschaft" preisgeben wollten. Übereilt wäre aufgrund dieser historischen Entwicklungen der Schluß, in der lutherischen Theologie wäre kein Platz f ü r Demokratie, jedenfalls sofern diese nicht eine strikt individualistische Anthropologie impliziert. Freilich vollzog sich in Deutschland nach 1945 unter der forcierten Betonung der Freiheit der Person eine Individualisierung in solcher Radikalität, daß die Bedenken der lutherischen Tradition gegen Individualismus vergessen, die ganz anders gearteten Solidaritätsmuster, die sich im angelsächsischen Puritanismus entwickelt haben, bisher k a u m entdeckt scheinen. Es fragt sich, was das für ein Demokratieverständnis in Deutschland bedeutet. 3. Demokratieverständnis

in Wissenschaft,

Kirche und Theologie

seit

1945

3.1. Seit dem Ende des 2. Weltkrieges geben sich fast alle Staaten als Befürworter von Demokratie, wie z.B. 1951 eine Untersuchung der U N E S C O ergab (McKeon 4 7 2 f f ) . Niem a n d wollte auf die Legitimation verzichten, im Auftrag und als Willensvollstrecker des Volkes zu regieren. Doch erhielt und erhält der Demokratiebegriff nur durch die Konstellation, in die er hineingestellt wird, seine Bestimmtheit. Die USA traten, auch im Dekolonisationsprozeß der dem Krieg folgenden Jahrzehnte, als von Sendungsbewußtsein erfüllte Vork ä m p f e r einer weltweiten Demokratisierung auf und benutzten zunächst die U N O als eines der wichtigsten Instrumente dabei. Tatsächlich haben ihre Einflüsse nicht zuletzt im Zuge antikommunistischer Eindämmungspolitik und gegen die ideologische Absicht vieler Politi-

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ker m e h r Militärdiktaturen als Demokratien h e r v o r g e b r a c h t ; in der Regel unterdrücken diese —»Menschenrechte und Demokratie, wie z . B . die Republik Südkorea (—»Korea), die dennoch Schützling der USA bleibt. Entwicklung und Z u k u n f t einer so großen D e m o k r a t i e wie —»Indien ist schwer abzuschätzen, wie überhaupt die politischen M i s c h f o r m e n , die sich in den Staaten der 3. Welt ausgebildet haben, sich einer Beurteilung nach den klassischen p o litischen Kategorien entziehen und oft besser im Z u s a m m e n h a n g von Dependenztheorien zu charakterisieren sind. Der weitaus bedeutendste Gegensatz herrscht zwischen dem westlichen, d . h . vor allem angelsächsischen und dem östlichen, d . h . sowjetrussischen D e m o k r a tieverständnis, wobei k a u m vorauszusagen ist, o b die Volksrepublik -^»China einen eigenen sozialistisch-demokratischen W e g zu gehen vermag. V o n großer Bedeutung ist, d a ß in der Nachkriegssituation die von außen oktroyierte Demokratisierung Westdeutschlands u n d —»Japans gelang und in diesen wirtschaftlich so erfolgreichen Staaten von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert worden ist. 3.2. Für K. —»Marx und F. Engels, welche die bürgerliche, bloß formale, die Klassengegensätze nicht anfechtende Demokratie oft kritisierten, waren demokratische Formen nur Mittel für weiterreichende Zwecke. So formulierte Lenin ganz konsequent: „Die Diktatur des Proletariats, die Periode des Übergangs zum Kommunismus, wird zum ersten Mal Demokratie für das Volk, für die Mehrheit bringen, aber zugleich wird sie notwendigerweise eine Minderheit, die Ausbeuter niederhalten. Einzig und allein der Kommunismus ist imstande, eine wahrhaft vollständige Demokratie zu bieten, und je vollständiger diese sein wird, um so schneller wird sie entbehrlich werden, wird sie von selbst absterben" (Werke, X X V 1964, 476). Nach offizieller heutiger DDR-Lehre geschieht das mit dem allmählichen Hinüberwachsen der sozialistischen Staatlichkeit in die kommunistische Selbstverwaltung, wo mit dem Staat auch die demokratische Verteilung der Macht in den Händen der gewählten Volksvertreter absterben wird, freilich erst, wenn neben dem sozialistischen kein imperialistisches System mehr besteht (Heyden 256 f). Die sowjetisch-sozialistische Ideologie entwickelte für Ostmitteleuropa die Theorie der „Volksdemokratien" - ein Begriff, in welchem die inhaltslose Verdoppelung von „Volk" offenbar kaum auffällt, der aber eine deutliche Spitze gegen die „formalen" westlichen Demokratien enthalten soll - und für die dekolonisierten oder zu befreienden Länder, die von Feudalismus in den Sozialismus übergehen sollen, den Begriff der „nationalen Demokratien". Für Sowjetrußland selbst steht das Prinzip des „demokratischen Zentralismus" an erster Stelle; es garantiert das Führungsmonopol der KPdSU. Indessen ist man in den sozialistischen Ländern angesichts des immer weiter sich hinausschiebenden Übergangs in den Kommunismus gezwungen, Demokratisierung im bestehenden Sozialismus ernst zu nehmen. Man verweist auf die relativ hohe soziale Homogenität des Volkes - ausgenommen die Eliten — und den Vorrang, den die sozialen Grundrechte, einschließlich des Rechts auf Arbeit, vor den bloß formalen westlichen Bürgerrechten haben. Insofern man die Identität der Interessen jedes einzelnen in seiner Persönlichkeitsentfaltung mit den Interessen sozialistischer Gesamtgesellschaft behauptet, knüpft man an die rousseauistische Demokratietradition an. Abweichend von der orthodox-scholastischen Interpretation marxistischer Klassiker und heutiger sowjetischer Staatsrechtslehre entwickelte sich im Osten wie im Westen der sog. demokratische Sozialismus, der an den Humanismus des jungen Marx anknüpft, die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse auch in den Staaten des „real existierenden Sozialismus" kritisch untersucht und nicht bereit ist, Demokratie und Menschenrechte als Errungenschaften bürgerlicher Revolution der Entwicklung eines zentralistischen Systems zu opfern, eine Einstellung, die sich besonders deutlich in Prag 1968, in Polen, aber auch in China zeigt. Man sollte den sozialistischen Ländern keinesfalls vielfältige Ansätze zur Demokratisierung, besonders in den gesellschaftlichen Organisationen, absprechen, doch auch nicht verkennen, daß Demokratie hier eine potentielle revolutionäre Herrschaftskritik provoziert. Die Räte-Demokratie hat eine lange Tradition: Pariser Kommune 1871, russische Oktoberrevolution 1917, Räteregierungen in Teilen Deutschlands 1 9 1 8 / 1 9 , jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung usw. Sie gibt sich als Alternative zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, konzentriert alle Kompetenz bei der Urwählerschaft und bindet die Beauftragten in der unvermeidlichen Hierarchie der Räte an imperative Mandate. In revolutionären Ausnahmesituationen hat das eine gewisse Plausibilität, versagt aber in komplexen Gesellschaftssystemen, weil in einem Repräsentationssystem politische Einigungen an der Spitze nur möglich sind, wenn die Volksvertreter eine zureichende Bewegungsfreiheit haben, um aufgrund neuer, in der „Basis" nicht durchweg vorhandener Erkenntnisse zu Kompromissen und Mehrheitsentscheidungen fähig zu sein. Der Räte-Demokratie fehlt bisher eine zureichende theoretische Grundlage. 3.3. Die sozial- und politikwissenschaftliche Demokratietheorie ist vor allem in den USA entwikkelt worden und ist eng mit der angelsächsischen Wissenschaftsgeschichte verbunden. Die Neigung zur empirischen Überprüfung theoretischer Auffassungen führte zu Untersuchungen, in denen eine schok-

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kürende Differenz zwischen den klassischen Demokratiepostulaten und der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der amerikanischen Demokratie zutage trat. So verzichtete J. H. Schumpeter auf Begriffe wie „Volkssouveränität" und „Volkswille" und definierte: „Das Prinzip der Demokratie bedeutet dann einfach, daß die Zügel der Regierung jenen übergeben werden sollten, die über mehr Unterstützung (sc. in der Stimmabgabe der Wählerschaft) verfügen als die anderen, in Konkurrenz stehenden Individuen oder Teams" (433). Hier ist diepotestas populi offensichtlich wieder reduziert auf die in der Wahl erfolgende Zustimmung oder Ablehnung zu Vorschlägen, die der Gesamtheit von politischen Parteien oder Gruppen präsentiert werden. Kommt in der heutigen Demokratie dem Volk nur diese eingeschränkte Funktion zu, so ist es von höchster Bedeutung, die sozialen Bedingungen von demokratischer Partizipation empirisch zu erforschen und analytisch zu klären. Dazu haben die theoretisch-methodischen Ansätze verschiedener Wissenschaftsrichtungen wesentlich beigetragen. Der Behaviorismus betritt mit H. Tingsten, Political Behavior (1937) dieses Feld. Nach 1945 beherrscht er zunächst die amerikanische Politologie. Seine Psychologie kommt nicht durch einfühlendes Verstehen, sondern quantitativ messend zu ihren Schlüssen über menschliches Verhalten (stimulus-response-Schema). Survey-Methoden (Umfrageforschungen) erzielen, aufs äußerste verfeinert, oft präzise Verhaltensprognosen, z. B. in den Hochrechnungen bei Wahlen. Dem Behaviorismus verpflichtet ist die „Political-Culture"-Forschung (G.A. Almond; S. Verba u.a.; vgl. Greiffenhagen 437f). Seine auffallendste demokratietheoretische These lautet: Nicht möglichst verbreitete und intensive Partizipation ist optimal, sondern die Mitte zwischen politischer Apathie und starker Partizipation. Sie kollidiert mit dem traditionell demokratischen Ethos (Lit. v. Beyme 109). Der Funktionalismus untersucht mit Hilfe aggregierter Daten Funktionen bzw. Dysfunktionen unter dem Gesichtspunkt der Leistung für ein zu erhaltendes System, das durchaus auch kybernetisch als mehr oder weniger selbststeuernd verstanden werden kann. Nur im Blick auf das Ziel Systemerhaltung lassen sich dann Normen des Verhaltens, Rollen, institutionalisierte Verfahren, Organisationen formulieren. Begründungsdiskussionen zu demokratischem Verhalten, seine „Rechtfertigung" in humaner Perspektive, gestützt auf ein normatives Menschenbild („Würde des Menschen"), sind hier ein Fremdkörper (Lit. Beyme 1972, 113). Die Systemtheorie, durch Talcott Parsons in den USA, Niklas Luhmann in Deutschland weit verbreitet, läßt sich als eine Fortführung des Funktionalismus begreifen. Es handelt sich um ein flexibles Ordnungsmodell. Jedes politische System wird danach betrachtet, wie es sich durch Selektion und Reduktion aus einer komplexeren Umwelt ausgrenzt, welche inneren Organisationsleistungen es zur Aufrechterhaltung der Grenze aufbringt, wobei bestehende Leistungen durch funktionale Äquivalente ersetzt werden können, und welche Funktionen im selbststeuernden, kybernetisch betrachteten Wandel des Systems Überlebensvorteile gewährleisten. Systemvergleiche können sowohl das Demokratiepotential in komplexen Organisationen wie auch Vorzüge und Nachteile der Einrichtung von Demokratie ergeben (vgl. Luhmann; Narr/Naschold). Behaviorismus, Funktionalismus und Systemtheorie bringen keine Erkenntnisse vor, aus denen mit wissenschaftlichen Methoden normative Schlüsse gezogen werden könnten. Sie ermöglichen nicht die Begründung und Rechtfertigung der fundamentalen Postulate, die in demokratischen Einstellungen Verwirklichung suchen. Darin sind sie den analytischen —»Wissenschaftstheorien zugehörig und dem Kritischen —»Rationalismus verwandt. Für dessen Arbeitsweise ist besonders charakteristisch, daß sie Sein und Sollen scharf trennen, d. h. keine normativen Schlüsse aus analytischer Erkenntnis zulassen. Wir erkennen nicht Wirklichkeit, sondern Probleme, für die man Erklärungs- und Lösungsversuche (Hypothesen) vorschlagen und diese nach der Methode trial and error immer neu Falsifizierungsversuchen aussetzen kann. Aller Dogmatismus wird abgewiesen. Wissenschaft bedarf freilich metawissenschaftlicher Erörterungen und der logischen Analyse ihrer Begriffe, Methoden und Voraussetzungen, aber eben nicht in normativer, sondern in logischer Absicht. Hier ist also ein wissenschaftliches Denken ausgeschlossen, das von der Würde des Menschen ausgeht, diesen Anfang zu begründen und zu rechtfertigen versucht und daraus weitere Schlüsse für ein demokratisches Wertsystem zieht. Doch sollte nicht übersehen werden, daß die genannten Richtungen, die vorwiegend angelsächsisch, aber seit den 60er Jahren auch in der Bundesrepublik weit verbreitet sind, in den eigenen Prämissen und Verfahren demokratieanaloge Strukturen aufweisen und die Öffentlichkeit einer offenen Gesellschaft zur Voraussetzung haben. 3.4. Im Positivismusstreit der 60er Jahre (—•Positivismus/Neopositivismus) trat den analytischen Wissenschaftstheorien die dialektische, —»Kritische Theorie der Frankfurter Schule gegenüber. Unter gründlicher Revision der marxistischen Klassiker entwickelte man hier Theorien demokratischer Öffentlichkeit und Emanzipation, die dazu bestimmt waren, Praxis zu reflektieren und in aufgeklärte Praxis überzugehen. Die Kritische Theorie orientiert sich an den Widersprüchen, z. B. den Klassen- und Schichtengegensätzen in der Geschichte, und bedient sich einer —»Hermeneutik, welche nicht nur die subjektive Seite der Demokratieideen beachtet, sondern deren Zusammenhang mit materiellen gesellschaftlichen Interessenlagen aufdeckt und damit Möglichkeiten einer zunehmenden Demokratisierung aller Lebensbereiche erforscht. Gegen die objektivistischen Zwänge des Geschichtsverlaufs wird die

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selbstbestimmende Partizipation der Bürger mobilisiert, welche sich nicht durch die instrumenteile Vernunft das Feld ihrer Möglichkeiten beschneiden lassen wollen. Es setzt sich eine humanistische Perspektive durch, die herrschaftsfreie Kommunikation zum Ziel hat. Ihre Vertreter betreiben nicht wertfreie Wissenschaft, wie die analytisch-wissenschaftstheoretischen Richtungen zu tun vorgeben. Das eminente Interesse an den subjektiven Faktoren im Geschichtsverlauf schlägt die Brücke zu vom orthodoxen Marxismus abgewiesenen psycho-analytischen und sozialpsychologischen Forschungsrichtungen, das Interesse an den objektiven Faktoren aber führt zur Einbeziehung der sog. Polit-Ökonomie, die sich um den Zusammenhang der sonst weitgehend getrennten ökonomischen und politischen Wissenschaft kümmert. Die Kritische Theorie hat wie keine andere sozialwissenschaftlich-philosophische Richtung die theologische Ethik des Politischen inspiriert, insbesondere auf dem linken Flügel der Vertreter der Theologie von K. —»Barth und der Freunde von Helmut Gollwitzer. 3.5. Vielfach werden die analytischen Wissenschaftstheorien in der Bundesrepublik als einflußreiche, aber mit den deutschen Wissenschaftstraditionen schwer oder gar nicht zu vereinbarende Forschungsweisen empfunden, zu denen sich auch die Theologie kaum in ein wesentliches Verhältnis zu setzen vermag. Dabei ist gerade für die Jurisprudenz, die sich traditionell als dogmatisch-normative Wissenschaft auf dem Gebiet der Staatsrechtslehre verstanden hat, der Methodengegensatz besonders schroff, da sie die Destruktion von normativen Begründungen nicht hinnehmen kann. Doch fehlt es nicht an Versuchen, jene angelsächsischen Theorien und Methoden wegen ihrer enormen empirischen Fruchtbarkeit sich anzueignen. Eine wesentliche Brücke liegt in der Erneuerung der Praktischen Philosophie. Aus der Interpretation der philosophischen und politischen Klassiker werden Möglichkeiten politischen und moralischen Argumentierens zurückgewonnen, die immer aussichtsreicher erscheinen, je deutlicher es sich zeigt, daß auch die empirisch-analytischen Demokratieforschungen normative Implikationen enthalten, deren Klärung den empirischen und analytischen Theorien erst ihren vollen Wert gibt. 3.6. Die wissenschaftliche Demokratiediskussion nach 1945 wurde in der Bundesrepublik zunächst von Historikern, Zeitgeschichtlern und Juristen geführt. Die Bundesrepublik bezeichnete sich als demokratischen, sozialen Rechts- und Bundesstaat (Grundgesetz, Art. 20. 28) mit Grundrechten, welche „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht" binden (Art. 1.3). Demgegenüber ist die DDR „eine sozialistische deutsche Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen" (Verfassung der DDR, Art. 1). „Die Souveränität des werktätigen Volkes, verwirklicht auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus, ist das tragende Prinzip des Staatsaufbaus" (Art. 47,2). So bestimmt es die schon 1968 erneuerte Verfassung deutlicher als die erste von 1949. 3.7. Die staats- und verfassungsrechtliche Diskussion in der Bundesrepublik hat sich auf die Auslegung des Grundgesetzes konzentriert. Diese weist nach W. Leisner einen Mangel an Kritik ihrer eigenen Grundlagen auf. Man habe die Freiheitsfrage alle anderen Grundsatzfragen und alle Prinzipienkritik verdrängen lassen. „Die Kritiklosigkeit ist oberster Grundsatz dieser Staatsform der Kritik geworden" (12.17). Zweifellos haben andere Fragen mehr als das Demokratieprinzip die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, so z. B. die Diskussion über die Grundrechte, welche Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach ausgesprochen, daß inhaltliche Werte der positiven Rechtsordnung voranliegen, die vom Verfassungsgeber zu einer „Wertordnung" verbunden sind (Belege bei Hesse 4 Anm. 3 - 1 3 ) . Hier zeigen sich Einflüsse eines katholischen, aber auch von Protestanten übernommenen Naturrechtsdenkens (—»Naturrecht), dessen frühere Normen zu Werten modernisiert sind. Jedenfalls wird mit der Annahme einer solchen Wertordnung auf die prae- und metajuristischen Elemente der Verfassungsgrundlagen hingewiesen, also die Rechtsphilosophie angesprochen. Doch bestreiten mit K. Hesse viele Juristen, daß dem Gedanken der Wertordnung verfassungsrechtliche Bedeutung zukommen könne. In einer pluralistischen Gesellschaft seien Werte umstritten. Ihre vorläufige Funktion, in der Anfangszeit z. B. bei der Interpretation der Grundrechte zu helfen, sei hinfällig. Denn die Erarbeitung des konkreten normativen Inhalts und der Tragweite der Einzelgrundrechte, ihres Verhältnisses zueinander und def Voraussetzungen ihrer Begrenzung sei in der seitherigen, im ganzen kontinuierlichen Rechtsprechung geleistet. Ein fester Bestand von Gesichtspunkten und Regeln zur Beantwortung der einzelnen Grundrechtsfragen sei jetzt verfügbar (127f). Hesse verweist also darauf, daß der Prozeß der Rechtsprechung in der Interpretation der „Verfassung in der Wirklichkeit geschichtlich-konkreten Lebens" zu den „obersten Prinzipien des Rechts als dem letzten Grund der Legitimität führe". Nur das Rechtsgewissen könne bei einem Widerspruch von Verfassung und obersten Rechtsprinzipien die Verbindlichkeit der letzteren feststellen und ein Recht auf Widerstand begründen, das dann aber außerhalb verfassungsmäßiger Legalität liege (5.16). Mit dieser Konzentration auf Verfassungsauslegung wird gewiß die Rechtssicherheit gefördert, insbesondere indem unmittelbare Rückgriffe auf Werte abgewiesen werden. Doch hat sie auch zur Folge, daß die rechtsphilosophische Diskussion um Legitimitätsgrundlagen kaum Interesse finden und die politikwissenschaftlichen Demokratietheorien, besonders angelsächsischer Provenienz, in dieses nor-

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mative Denken kaum Eingang finden können. - Auch R . Zippelius führt die Diskussion um inhaltliche Kriterien der Legitimität nicht weiter als bis zu der Forderung, „fundamentale Menschenrechte zu respektieren und Interessen nur insoweit zu beeinträchtigen, als zur Wahrung überwiegender Güter zwingend erforderlich ist" ( 3 7 0 ) . - M . Kriele versteht „Staatslehre als Versuch der Aufklärung über die Realbedingungen von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit unter Auswertung der Geschichte des demokratischen Verfassungsstaates" ( 1 4 f ) . Er huldigt also durchaus nicht einem Rechtspositivismus, sondern orientiert sich an inhaltlich-normativen Formulierungen des Legitimitätsgrundes des demokratischen Verfassungsstaates. Doch klärt er nicht, wie die Vermittlung von Sein und Sollen von der Analyse des geschichtlich gewordenen demokratischen Staates zu heutigen normativen Entscheidungen wissenschaftlich möglich sei, d. h. er ignoriert hier den analytisch-wissenschaftstheoretischen Einspruch gegen Schlüsse von Sein auf Sollen. O f f e n b a r leben wir in einer Situation, in welcher die wissenschaftliche Vernunft diese Klärung nicht präzise zu leisten vermag, w o aber politische Philosophie und Rechtsphilosophie ohne die Begründung und Rechtfertigung von N o r m e n auch nicht auskommen. — P. G r a f Kielmannsegg k o m m t zu dem Ergebnis, daß Volkssouveränität kein tragfähiges normatives Fundament für ein freiheitliches Gemeinwesen, also keine Legitimation für Demokratie hergibt. Seine „ D e m o k r a tieprämisse" lautet: „Legitim ist der Staat, so wollen wir - Kant nutzend und abwandelnd - formulieren, der die Menschheit in jeder einzelnen Person als Z w e c k und nicht bloß als Mittel behandelt" ( 2 5 8 ) .

3.8. Angesichts der bisherigen Ablehnung westeuropäischer Demokratie konnte es der deutschen Theologie nicht leicht fallen, sie nach 1945 in ihrer Ethik des Politischen zu rezipieren. Eine gute Anknüpfung hat R. —»Niebuhr geboten. Seine in der reeducation weit verbreitete Schrift Die Kinder des Lichtes und die Kinder der Finsternis. Eine Rechtfertigung der Demokratie und eine Kritik ihrer herkömmlichen Verteidigung 1944 destruiert aufgrund eines biblischen Verständnisses der Sünde den anthropologischen Optimismus, der mit den christlich-aufklärerischen Demokratietraditionen Amerikas verbunden ist, zugunsten eines demütigen Realismus: „Des Menschen Sinn für Gerechtigkeit macht Demokratie möglich, seine Neigung zur Ungerechtigkeit aber macht Demokratie notwendig" (8). Eine pessimistische Beurteilung dürfe nicht nur den einzelnen Menschen als gefangen in der Erbsünde treffen, sondern auch und vor allem Menschen im Machtbesitz; ihnen werde durch demokratische Kontrolle Zügel angelegt. Diese an die obrigkeitlichen Autoritäten sich wendende Herrschaftskritik ist kaum in die lutherischen Theologien der (Not-) Ordnungen eingegangen, die sich eingehender mit Demokratie befaßten. - W. Künneth entfaltet eine biblisch begründete Metaphysik des theonomen Staates, dem Autorität gebührt, wie sie Texte wie Rom 1 3 , 1 - 7 ; I Petr 2,13 f der —»Obrigkeit zusprechen. Nur mühsam werden einige Demokratiepostulate in diesen Rahmen eingefügt, ohne daß die Strukturen des neuzeitlichen Verfassungsstaates und der Gewaltenteilung beachtet werden. Polemisch will Künneth „das Ideal christlicher Demokratie als Weltreform" treffen (526). Die —»Menschenrechte erkennt er im Blick auf den kommunistischen und nationalsozialistischen Gewaltstaat als „einen ausgesprochen positiven Faktor für die Gestaltung echter Staatsordnung" (189). H. Thielicke, der den —»Staat als Notordnung im Sinne des noachitischen Bundes (Gen 9) versteht und im Sinne neulutherischer —»Zweireichelehre seine Weltlichkeit betont, schätzt an der Demokratie besonders ihre einschränkenden Kontrollfunktionen und will, wie überhaupt im lutherischen Konservatismus ständig betont wird, vermeiden, „daß aus der Demokratie selbst so etwas wie eine Ersatzreligion wird" (323). — W. Trillhaas sieht bei aller Kritik doch in der Demokratie ein fruchtbares Konzept dessen, was die Reformatoren justitia civilis nannten. Er lehnt es ab, aus lutherischer Erbsündenlehre eine Demokratieunfähigkeit abzuleiten. An der Demokratie preist er ihre Kompromißfähigkeit, da sie mit dem übereinkomme, daß Christen alles in der Welt vor eschatologischem Hintergrund als vorläufig und ausgleichsbedürftig ansehen. Führen die lutherischen Ethiken über die angeführten Konzepte von Demokratie kaum hinaus, so zeigen doch einige der —»Denkschriften und Studien, die von Kammern und Kommissionen der EKD vorgelegt wurden, wie sehr eine implizite, freilich nicht präzisierte Bejahung von Demokratie schon im Jahrzehnt nach der Gründung der Bundesrepublik zur Selbstverständlichkeit geworden ist. In der kirchlich dominanten neulutherischen Tradition wird weiterhin die Idee des sittlich autoritativen —»Staates gepflegt, dem unvermindert der Verdacht des Obrigkeitsstaates anhängt. Das zeigte schlaglichtartig die erregte Diskussion über die erste gemeinsame katho-

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lisch-evangelische Studie, die 1970 unter dem Titel Das Gesetz des Staats und die sittliche Ordnung von den obersten Repräsentanten beider Kirchen herausgegeben wurde und die der weiteren kirchlichen H a n d h a b u n g der sog. „Grundwertediskussion" präludierte. Ein neuscholastisches und ein auf biblische Aussagen - besonders im Dekalog - bezogenes protestantisch verschleiertes Naturrechtsverständnis konvergiert hier. Eine ganz andere Linie des Demokratieverständnisses innerhalb theologischer Ethik hat K. —»Barth vor allem mit dem Vortrag Christengemeinde und Bürgergemeinde (München 1946) eröffnet. E. —»Brunner hatte in dem Buch Gerechtigkeit (Zürich 1943) ein christliches —»Naturrecht entworfen. Barth riet davon ab, aus dem „löcherigen Brunnen" des Naturrechts die entscheidende politische Erkenntnis der Christen zu schöpfen. Er wollte nicht nur zwischen dem weltlichen Gemeinwesen und der christlichen Gemeinde unterscheiden — einseitig durchgeführt bedeutet das Auslieferung des Politischen an seine Eigengesetzlichkeit und die Verweisung jedes einzelnen Christen auf sein privates —»Gewissen—,sondern auch auf Analogien zwischen beiden hinweisen. Tatsächlich sei die Bürgergemeinde in ihren Grundzügen und ihrem Geist analogiebedürftig und analogiefähig. Dem Glaubensgehorsam des Christen werde durch das Achten auf derartige Analogien Orientierung gegeben. „Es gibt schon eine Affinität zwischen Christengemeinde und der Bürgergemeinde der freien Völker" (32). Barth wollte damit zeigen, daß die Orientierung am Evangelium vom Reich Gottes die demokratische Consociation nicht bloß unter den eschatologischen Vorbehalt stellt, der für alles Irdische gilt, sondern sie auch durch Hinweise auf das Nächstenrecht (Erik Wolf) und auf Mitmenschlichkeit im Geist der —»Versöhnung mit konstruktiven Kriterien zu tiefer Humanität anleitet. Für den linken Flügel im europäischen Protestantismus und insbesondere für die Erben der radikalen Bekennenden Kirche in Deutschland hat Barths Demokratieverständnis große Bedeutung gewonnen. Die Arbeiten von Th. Strohm, E. Wolf und W. Kreck führen in dieser Richtung weiter. Auch H.-D. Wendland und A. Rieh haben unter Anregung durch das ökumenische Konzept der „Verantwortlichen Gesellschaft" in ihrer Sozialethik verwandte Überlegungen entwickelt. In der ö k u m e n i s c h e n Bewegung (—»Ökumene) selbst haben freilich die Probleme des „rapid social change", der neokolonialen Dependenz und der Befreiungsbewegungen in den Entwicklungsländern die Probleme der politischen Demokratisierung in den Hintergrund treten lassen gegenüber den elementareren Fragen der Emanzipation aus Strukturen, die Hunger und Mangel sowie Abhängigkeit auf Dauer zu stellen drohen. 3.9. Nach 1945 haben sich die katholischen Soziallehren hinsichtlich der Rezeption von Demokratie in einer ersten Phase strikt an die neuscholastisch-naturrechtlichen Theorien von —»Pius XII. und seinem Berater Gustav Gundlach SJ (s. Schwarte) gehalten. Das führt nicht nur zu scharfen Abgrenzungen gegenüber jeder Übertragung von Demokratie in die Kirche, sondern auch gegenüber Massendemokratie und plebiszitären Elementen in ihr. Den Rechten des Volkes korrespondiert eine hohe Autorität der öffentlichen Gewalten. Dem katholischen Gewissen wird Wahlpflicht auferlegt. Hirtenbriefe vermitteln Gesichtspunkte für die Prüfung künftiger „Autoritätsträger". Abgelehnt werden Abgeordnete und Parteien, die sich gegen das —»Naturrecht und die in ihm gegebenen wahren Staatsziele sowie gegen Privateigentum (—»Eigentum) und Bekenntnisschule wenden (Welty 227.231.240.243). Doch setzt sich mit dem II. —»Vatikanum und der Pastoralkonstitution über die Kirchein der Welt von heute (Lumen gentium , 1 9 6 5 ; 11,4) eine tief veränderte Sicht in Teilen des römischen Katholizismus durch. Benutzt das Konzil auch nicht das Wort Demokratie, so lehrt es doch die Sache unter Rückbezug auf die „altehrwürdige Lehre von der Volkssouveränität" (O. v. Nell-Breuning OP). Ebenso wichtig ist die Wandlung im Verständnis des Naturrechts (vgl. Simon). W. Kerber formuliert katholisches Verständnis der Unantastbarkeit der Grundrechte in ihrem Wesensgehalt (Art. 79 GG) so: „Damit hat der Verfassungsgeber, ohne das W o r t , N a t u r r e c h t ' zu verwenden, die gesamte Rechtsordnung der Bundesrepublik auf ein vorpositiv geltendes Naturrecht aufgebaut" (Hb. derchristl. Ethik, II 1978, 311). Es konnte in der T a t niemandem verborgen bleiben, daß die neuscholastische Naturrechtslehre

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mit dem Autonomiegedanken, der das Demokratiepostulat auf Selbstherrschaft des Volkes trägt, kollidierte. Die daraus resultierende Revision des katholischen Naturrechts schlägt sich in vielen Publikationen nieder (vgl. z.B. Böckle/Böckenförde). Im Kern geht es darum, den Verdacht zu überwinden, daß katholisches Naturrecht heteronome Forderungen an den Menschen stellt, wie dieses auf protestantischer Seite auch z.B. bei Künneths theonomem Staatsbegriff unvermeidlich ist. Nun zeigt man, daß — übrigens schon bei —»Thomas von Aquin — die gesetzgeberische Autonomie des Volkes durch die Unterstellung unter den transzendenten Anspruch Gottes transzendental getragen wird. Franz Böckle formuliert: „Das natürliche Sittengesetz besteht weder in einer Unterordnung, aus der Normen abgelesen werden können, noch in einer Summe vernünftiger Verhaltensregeln oder allgemeiner Rechtssätze. Es handelt sich vielmehr um jenes innere Gesetz, das den Menschen als sittliches Wesen zur Selbst- und Weltgestaltung beansprucht und ihn durch einfache Reflexion die wichtigsten der seiner Verantwortung unabdingbar aufgegebenen Ziele (fundamentale Rechtsgüter) erkennen läßt. Die Ausgestaltung der Rechts- und Sittlichkeitsordnung bleibt Aufgabe interpretierenden und determinierenden Suchens" (250). Der Wahrheitsgehalt des Naturrechts wäre demnach das unbedingte Verpflichtetsein, das aus des Menschen Stehen in einer Schöpfungsbeziehung hervorgeht. Er ist mit dem Autonomiepostulat der Demokratie vereinbar, sofern die Selbstbestimmung des Volkes nicht als Willkür, sondern als Ausdruck dessen, was alle verpflichtet, gedacht wird. Das Letztere ist qualifiziert, Gesetz und Recht zu werden, ist aber, wie gesagt, nicht vorgegeben, sondern als Erkenntnis aufgegeben. Diese Interpretation des Naturrechts — im Lichte von —»Kants Philosophie - wird protestantische Theologie weithin befriedigen. Dennoch läßt sie Barths Frage noch offen, wie sie sich dazu verhält, daß alle christliche Erkenntnis durch ihren Bezug auf Christus qualifiziert wird. Die Wendung kontinentaler katholischer wie protestantischer Theologie zu einer eher kritisch-solidarischen Einschätzung der Demokratie erstreckt sich bisher auf einige ihrer Elemente ohne Berücksichtigung vieler anderer. Darin liegt das Problematische, eine gewisse Unsicherheit Hinterlassende dieses kirchen- und theologiegeschichtlichen Vorgangs. 4. Fundamentalprobleme

beutiger Demokratie

im ethischen

Urteil

Theologischer Ethik fällt nicht die Aufgabe zu, eine christliche Lehre von der Demokratie vorzulegen, wohl aber die Wirklichkeit und die Theorien von Demokratie zu überprüfen. Aus dem Uberblick über die Geschichte der Demokratie und ihres Verhältnisses zum Christentum ergeben sich wichtige Erfahrungen und Einsichten, die aber vieldeutig sind. Auch in der wissenschaftlichen Interpretation von Demokratie konkurrieren viele disparate Theorien und Methoden miteinander. In der Realentwicklung der Demokratie und in ihrem Verständnis ist also nichts evident. Man steht vielmehr jeweils vor der Frage, welche der konkurrierenden Tendenzen zu fördern und welche zu hemmen man Grund hat. Bei dieser Prüfung werden sich theologisch-ethische Urteile von biblisch-christlichen Perspektiven und Intentionen leiten lassen. Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf Demokratie im m o d e r n e n Verfassungsstaat. Urteile zur Demokratie im „real existierenden Sozialismus" z. B. müssen andere Gesichtspunkte berücksichtigen. Im Verfassungsstaat der industriellen Massengesellschaften ist D e m o k r a t i e n u r in ihrer wechselseitigen Bedingtheit mit —»Menschenrechten und Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit u n d Sozialstaatlichkeit sowie politisch-gesellschaftlicher —»Öffentlichkeit auszulegen, also als Teil eines hochdifferenzierten neuzeitlichen Syndroms.

4.1. Auch Demokratie bedeutet Herrschaft von Menschen über Menschen. Sie bedient sich der Staatsgewalt nach innen und nach außen, wobei sie diese freilich an Recht und Gesetz bindet, sie bestimmten Personen anvertraut, zeitlich und sachlich begrenzt und der Kritik und Kontrolle unterstellt. Herrschaft unterliegt auch nach biblischem Verständnis der Kritik und bedarf der Legitimation. Sie ist in ihrer Unterschiedenheit und ihrer Z u o r d n u n g zu den geistlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen in der Gemeinschaft der Glaubenden zu beurteilen.

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Glaubende treten zueinander in eine brüderliche Beziehung, in der sie, gemeinsam auf das kommende Reich Gottes ausgerichtet, die Herrschaft des einen über den anderen nicht kennen, sondern sich wechselseitig dienen. Gerade nicht gegen den anderen, nicht in Gleichgültigkeit gegen, sondern in Z u w e n d u n g zu ihm und Hingabe für ihn finden sie ihre eigene Freiheit. Die Kirche soll diese Art herrschaftsfreier Kommunikation zur Darstellung bringen und einladen, an ihr teilzunehmen. Solche in brüderlichem Austausch geschehende Kommunikation kann nicht die Regeln hergeben f ü r den demokratischen politischen Prozeß, weil sie die Gaben des —»Geistes und der Befreiung von der —»Sünde voraussetzt. In einer noch unerlösten Welt gelingt der politische Prozeß nicht ohne ein Recht, das zwischen den Freiheitsansprüchen der einzelnen vermittelt und auch mit Z w a n g durchgesetzt werden kann. Er gelingt nicht ohne Herrschaft, weil ohne Instanzen, die in Konflikten die Kompetenz zur Entscheidung haben, kein politisches Gemeinwesen existenzfähig wäre. Doch erinnert das Reich Gottes daran, d a ß Z w a n g und Gewalt ultima ratio sein sollen, Kooperation und Einigung aber das Grundlegende im politischen Prozeß, auch wenn sich diese Kooperation durchaus auch in Konflikten vollzieht. Eine alte ethische Frage der Christen ist es, ob sie Ämter, die Zwangsgewalt ausüben müssen, übernehmen können, ohne der vom Glauben gewirkten Liebe zuwiderzuhandeln (—»Zweireichelehre). Überwiegend ist die Frage positiv beantwortet worden, aber mit der Maßgabe, daß die Amtsausübung nicht dem Eigeninteresse und dem Interesse der eigenen Gruppe gehorcht, sondern als bewußter Dienst am Ganzen des Gemeinwesens geschieht. Nach biblischer Sicht erfüllt das politische Gemeinwesen eine Funktion im welterhaltenden Handeln Gottes; Amtsausübung, die sich nach dem Rechtswillen Gottes richtet, ist also eine cooperatio cum deo. Daher ist auch Teilnahme an demokratischer Herrschaft für den Christen eine legitime Aufgabe, insbesondere wenn sie zugleich auf die Z ä h m u n g der aller Herrschaft innewohnenden Eigenmächtigkeit zielt. Dazu bietet die Demokratie, wie keine andere Herrschaftsform, Handhaben und Verfahren, ist sie doch auf Wechsel und Kontrolle der Regierenden hin angelegt. 4.2. Was die Größe —>Volk im Zusammenhang des Begriffs Volksherrschaft bedeutet, ist umstritten. Wo man das Volk als Nation verstand, erschien es als Größe mit eigenem geschichtsgeprägten Charakter und eigenem Sendungsbewußtsein. W o man es als die Summe der in einem Gesellschaftsvertrag zusammengeschlossenen Individuen betrachtete, konnte der Zweck des Gemeinwesens nur im Schutz und der Wohlfahrtsförderung für den einzelnen gesehen werden. In beiden Fällen wurden der demokratischen Herrschaft verschiedenartige Ziele gesetzt, und das Recht der Bürger, am politischen Prozeß vollberechtigt teilzunehmen, war verschieden begründet. Heute ist es sinnvoll, als „das Volk", von dem alle Staatsgewalt ausgehen soll (Art. 20,2 GG), die Gesamtheit der Mitglieder eines politischen Gemeinwesens zu betrachten, die in Schicksalsgemeinschaft die Folgen der Entscheidungen in diesem Gemeinwesen zu tragen haben. Ihr Mitentscheiden, der Rückbezug aller Gewalt auf ihren Willen wird also dadurch legitimiert, d a ß sie die Nächstbetroffenen sind. Diese Legitimation hat ihren Grund in der Überzeugung, daß der Mensch nie bloß als Objekt von Entscheidungen über ihn behandelt werden darf, sondern stets in möglichst großem Umfang die Chance zum Mittragen von Verantwortung haben soll. Sie gehört zu den fundamentalen demokratischen Maximen und impliziert einen Glauben an die Würde des Menschen, die nach Kant es niemals erlaubt, den Menschen bloß als Mittel und nicht auch als Selbstzweck zu behandeln. Dieses Verständnis der Menschenwürde steht in Affinität zur biblischen Überzeugung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Tödt 896f; —»Bild Gottes). Sieht man das Volk in der Demokratie als die Gesamtheit der von den Entscheidungen des Gemeinwesens Betroffenen und d a r u m Herrschaftsberechtigten, so erscheint Herrschaft nicht mehr als willkürliche Machtausübung, sondern als durch die Lage gebotenes Mitentscheiden über das, was Recht, Frieden und Gedeihen im Gemeinwesen ermöglicht. Volk ist die in einem Gemeinwesen zusammenlebende Verantwortungsgemeinschaft.

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4.3. Der Begriff der Demokratie hat sich gebildet im Emanzipationskampf gegen die Vorherrschaft von einzelnen - M o n a r c h e n , T y r a n n e n , Diktatoren — oder von G r u p p e n . Die Staatslehre Bodins nannte die faktische, ungeteilte, den Gesetzen nicht unterworfene Spitzengewalt: Souveränität. Die Existenz eines Souveräns garantierte, daß über alle politischen Streitfragen eine Entscheidung gefällt werden k o n n t e . Mit dem A u f k o m m e n der D e m o k r a tien ist das Volk funktional in die Stelle des Souveräns (einer Person oder Institution) aufgerückt, und ebendas drückt der Begriff der Volkssouveränität aus. Im Verfassungsstaat ist der Begriff der Volkssouveränität jedoch ein systemwidriger Anachronismus; denn ein Souverän, der über den Gesetzen steht, soll hier gerade nicht existieren. Wohl tritt die Volkssouveränität am Anfang eines Verfassungsstaates - w e n n er demokratisch zustande k o m m t — in Erscheinung, und sie träte auch nach seinem Ende wieder in ihr Recht (Kriele 226). Aber nachdem das Volk die Herrschaft an eine im Kernbestand nicht durch Volksbeschlüsse zu ändernde Verfassung gebunden h a t (z.B. an Grundrechte), ü b t es sie unter Respektierung bestimmter unverfügbarer Voraussetzungen aus. Es unterscheidet jetzt zwischen dem, was dem politischen Gestaltungswillen unterworfen ist u n d was ihm entzogen ist und als seine Voraussetzung a n e r k a n n t sein will (Rendtorff 2 1 6 f f ) . Diese Unterscheidung ist theologisch bedeutsam. Sie steht in einer Affinität zu der Glaubenserkenntnis, d a ß die Welt dem Menschen nicht zur willkürlichen Ausgestaltung oder Zerstörung überlassen ist, sondern sich der Z u w e n d u n g Gottes verdankt, d a r u m gewisse Grundzüge in sich trägt, die der Mensch als Voraussetzungen in seiner Existenz aufzusuchen und ihrem Sinne und seiner Eigenart entsprechend weiter zu gestalten hat. Diese Grundzüge begegnen als Anspruch Gottes, aber nicht h e t e r o n o m , sondern so, daß der Mensch sich von ihnen transzendental getragen und in die Möglichkeiten a u t o n o m e n Verantwortens seiner politischen Existenz in der Welt eingewiesen sieht. W o also Volksherrschaft sich mit dem Verfassungsstaat verbindet, respektiert sie in ihrer vernünftigen Selbstbegrenzung die Unverfügbarkeit gewisser Voraussetzungen, die meist mit dem Kürzel „ u n a n t a s t b a r e Mens c h e n w ü r d e " bezeichnet werden. Diese W ü r d e besteht gerade darin, d a ß sie nicht erst im politischen Prozeß hergestellt, daß sie also nicht zum Gegenstand von Entscheidungen gemacht werden k a n n , sondern dem allem voranliegt, o b m a n sie n u n theologisch als Geschenk Gottes, philosophisch als Zweckhaftigkeit des Menschen in sich selbst oder humanistisch als Ahnung von der Erhabenheit des Menschen auslegt. 4.4. Demokratie ist seit ihren Anfängen als Selbstherrschaft des Volkes und so als Ausdruck nach außen sich verwirklichender Freiheit begriffen worden. „Ein Stück Freiheit ist aber damit gegeben, d a ß man abwechselnd gehorcht und befiehlt" (Aristoteles, pol. 1 3 1 7 b 2f). An die Idee der Selbstherrschaft schloß neuzeitliches Fortschrittsdenken die H o f f n u n g an, d a ß in der Selbstherrschaft sich Selbstverwirklichung vollziehe, die dem Leben des einzelnen erst Sinn und Inhalt verschafft. Es erfolgte gerade in der totalen Demokratie rousseauischer Provenienz eine religiöse Aufladung von Demokratie, bei der die Identität von Herrschenden u n d Beherrschten unterstellt oder doch als unabdingbares Ziel angestrebt wurde. Diese immer wieder einmal aufflackernden utopischen Erwartungen werden in jeder demokratischen Praxis enttäuscht. Die Analyse des demokratischen Prozesses zeigt, d a ß dieses nicht anders sein k a n n ; denn politische Entscheidungen, die demokratisch erreicht werden, erfolgen nur im Extremfall einstimmig, in der Regel aber im Gegenüber von Mehrheit und Minderheit, weil weder absolut w a h r e Erkenntnis der Wirklichkeit noch Identität der Interessen der vielen einzelnen und G r u p p e n gegeben ist. Mehrheitsbeschlüsse bedeuten f ü r die Minderheit aber Fremdbestimmung. Die Enttäuschungserfahrung vieler Bürger, d a ß ihr durch Stimmabgabe oder in der Öffentlichkeit vertretener Entschluß k a u m einmal die politischen Gesamtentscheidungen e r k e n n b a r beeinflußt, d a ß der einzelne, was eine Fülle von Sachfragen angeht, sogar in seiner eigenen Partei oft oder vorwiegend in der Minderheit ist, gefährdet jede Demokratie, die weitreichende Selbstverwirklichungserwartungen weckt. Die Erfahrung, als Minderheit f r e m d b e s t i m m t zu werden, wird auch k a u m durch die Chance, Mehrheit zu werden, ausge-

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glichen, da jede Mehrheit wiederum in sich heterogene Willensbildungen einigen, d . h . Kompromisse schließen m u ß . Erst der vermag mit den ihn überstimmenden Mehrheitsbeschlüssen a u t o n o m umzugehen, der sich auf eine höhere Abstraktionsebene begibt und sieht, d a ß ein ihm zwar inhaltlich widerstrebender Beschluß doch verfassungsgemäß nach demokratischen Regeln zustande gekommen ist und insofern praktiziert, was sein Wille ist, nämlich daß der politische Prozeß demokratisch sein soll. Die Freiheit zu dieser Sicht wird freilich nur haben, wer nicht persönlich Selbstverwirklichung vom politischen Prozeß erwartet. In christlicher Perspektive ist dem Glaubenden diese Möglichkeit eröffnet, da er in der Erfahrung der A n n a h m e durch Gott (—»Rechtfertigung) eine Lebenserfüllung findet, die ihm die politische Welt nicht zum Mittel seiner Selbstverwirklichung werden läßt. Demokratische Tugend wird die Fähigkeit ausbilden müssen, auch und gerade in minoritären Dauersituationen die verantwortliche Beteiligung a m politischen Prozeß aufrecht zu erhalten, ungeachtet schwer erkennbarer Erfolgschancen. 4.5. Umstritten ist heute, o b „Demokratisierung" über die klassischen Institutionen und Verfahren des politischen Subsystems hinaus in anderen Subsystemen der Gesellschaft praktiziert werden k a n n und soll. M a n kann sich gegen derartige Demokratisierungstendenzen nicht auf die aristotelische Tradition der T r e n n u n g von Politik und Ö k o n o m i k und auf die bürgerlich-liberale T r e n n u n g von Staat und Gesellschaft berufen. Die Entwicklung des „sozialen Rechtsstaates" hat nämlich dazu geführt, „ d a ß die Aufgaben des Staates sich nicht mehr im Schützenden, Bewahrenden, nur gelegentlich Intervenierenden erschöpfen. Der Staat des (sc. Bonner) Grundgesetzes ist planender, lenkender, leistender, verteilender, individuelles wie soziales Leben erst ermöglichender Staat" (Hesse 86). Dem Staat sind weitgehende Aufgaben der „Daseinsfürsorge" (Forsthoff 2 2 ff) zugefallen. W. Hennis sieht in der immer weitergreifenden Demokratisierung letztlich eine revoltierende Nichtbereitschaft des neuzeitlich-emanzipierten Menschen, die kreatürlichen, durch Ungleichheiten bestimmten Voraussetzungen menschlichen Daseins anzunehmen (ders.: Greiffenhagen [Hg.] 70). Geht m a n indessen von der Regel aus, d a ß die von Entscheidungen Betroffenen in möglichst großem Umfang mitverantwortlich in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden sollen, so entfällt dieser Einwand. In der Wirtschaft wird seit der paritätischen —»Mitbestimmung, z.B. in der deutschen M o n t a n i n d u s t r i e 1951, erbittert u m die Verfahren und die Grenzen der M i t v e r a n t w o r t u n g der Arbeitnehmer und ihrer gewerkschaftlichen Vertretung gerungen. In den wissenschaftlichen Hochschulen, denen die Verfassungen und Gesetze durchweg eine gewisse Autonomie in der Regelung der eigenen Angelegenheiten sowie traditionell die Freiheit von Forschung und Lehre und neuerdings auch eine gewisse „Freiheit des Stud i u m s " zusprechen, hat sich faktisch die staatliche Aufsichts- und Kontrollausübung rigoros verstärkt, der faktische R a u m f ü r Partizipation von Studenten und Lehrkörper verengt. Die politische Demokratie h a t einen festeren Rückhalt, wenn sie sich auf demokratische Verfahren und Einstellungen in vielen gesellschaftlichen Sektoren stützen kann. Indessen m u ß demokratische Partizipation einige Bedingungen und Grenzen berücksichtigen. Einmal setzt der Grad der Komplexität und der Multifunktionalität einer Organisation der Mitbestimmung Schranken. Z u m andern wirkt die Abhängigkeit der Entscheidungsgremien einer Organisation von den Verantwortungsmechanismen anderer durchaus limitierend. Weiter liegt es auf der H a n d , daß das Zeitbudget der Bürger, die durchweg vielen Organisationen angehören, bei einer H ä u f u n g der Verpflichtungen überlastet wird, so d a ß Prioritätssetzungen hier unvermeidlich sind. Insgesamt zeigt sich also, d a ß demokratische Entscheidungsregeln des politischen Gesamtsystems sich nicht unverändert auf andere Subsysteme und auf Organisationen und Gruppen kleinerer Einheiten übertragen lassen. Indes ist festzuhalten, d a ß ein O p t i m u m an Partizipationschancen angeboten werden sollte, wobei von einer Spannung, nicht aber von einer Unvereinbarkeit mit Effizienz- und Leistungskriterien der betreffenden G r u p p e oder Organisation und ihrer Individuen auszugehen ist. Demokratie läßt sich nur in die Kirche übertragen (s.u. Abschn. II), wenn man aus ihrem Begriff das M o m e n t der Herrschaft eliminiert und die Regeln innerkirchlicher Entfaltung der potestas

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populi dei von der Grundvoraussetzung her entwickelt, daß wahre Kirche als creatura verbi Werk des hier und jetzt wirkenden —»Geistes Gottes ist. Die Ungleichheit der Gnadengaben (—»Charisma) und die Gleichheit der Bevollmächtigung zum Dienst wird hier zusammengedacht werden müssen. Manche durchaus nicht geistlich geprägte, sondern weltlich-vordemokratische Strukturen und Verhaltensmuster herrschen auch heute in den Kirchen als rechtlich verfaßten Organisationen. 4.6. Demokratie, nicht bloß als Topos neuzeitlicher Staats- und Verfassungslehre und politischer Organisation verstanden, sondern als umfassender Bewegungsbegriff, stellt sich vor allem in drei auf die Würde des Menschen bezogenen Grundpostulaten dar, nämlich denen der Freiheit, der Gleichheit und der gerechten Teilhabe, wobei das letztere in der —»Französischen Revolution den pathetischen Namen der Brüderlichkeit angenommen hat. Abstrakt für sich genommen weisen diese Begriffe eine unabsehbare Bedeutungsvielfalt auf. Sich wechselseitig im Zusammenhang des Demokratiepostulates bestimmend, kommt ihnen prägnantere Bedeutung zu, die für die ethische Prüfung des Demokratiebegriffs wichtig ist. —»Freiheit ist in diesem Zusammenhang vornehmlich als das Zusammenspiel von Selbstbestimmung des politischen Gemeinwesens und seiner Entscheidungszentren mit der Selbstbestimmung der einzelnen Glieder des Gemeinwesens auszulegen. Ihre negative Vorbedingung ist die Absicherung gegen äußeren Zwang, ihre positive die Vollmacht zu einer Selbstbejahung. Jeder Rechtszustand schließt ein, daß die Freiheit eines jeden mit der aller anderen zusammenbesteht, erfordert also, daß wechselseitige Einschränkungen der Freiheit nach einem allgemeine Zustimmung findenden Gesetz stattfinden. Demokratische Freiheit aber zielt auf mehr als jene die freie Willkür isolierter einzelner absichernde Rechtsfreiheit, nämlich auf eine Teilnahmefreiheit-, die Ermöglichung der Übernahme von Mitverantwortung in politischen Prozessen. Sie ist also nicht bloß öffentlich gesicherte Privatfreiheit, sondern läßt die am politischen Prozeß Beteiligten miteinander in Beziehung treten. Demokratische ist also kommunikative Freiheit. Sie vermag sich der Versuchung, herrschende und unterdrückende Freiheit zu werden, zu erwehren, wenn sie transzendentale Freiheit ist, insofern als sich in ihr der Wille einem ihm voranliegenden Gehalt öffnet, nämlich der Anerkennung aller anderer als freier Personen. 4.7. Das Postulat der Gleichheit hat den demokratischen Bewegungen oft die nachdrücklichste Radikalität gegeben. Es gibt einer Einstellung Ausdruck, die sich in den modernen industriellen Massengesellschaften weit verbreitet hat. Der Kampf um Gleichheit mobilisiert minderberechtigte Gruppen und Schichten, die im Verhältnis zu den Bevorrechtigten um Angleichung kämpfen. Er enthält also eine emanzipatorische Komponente (—»Emanzipation). Logisch bringt der Gleichheitsbegriff eine Form der Ubereinstimmung zum Ausdruck, die zwischen Ähnlichkeit und Identität liegt (Dann 997). Gleichheit wird immer in einer bestimmten Hinsicht ausgesagt. Im Demokratiezusammenhang geht es um gleichberechtigte politische Mitwirkungsrechte, aber auch um gerechte Anteile im Verteilungsprozeß, um gerechte Verteilung der Lasten und um die Chancengleichheit im Sinne des Zugangs zu Möglichkeiten der Ausbildung, beruflichen Stellung und Lebensmöglichkeiten, sofern sie von der Daseinsvorsorge des Staates abhängen. Der alte Grundsatz „jedem das Seine" meint eine proportionale, nach Tugenden, Fähigkeiten, Status und Leistung zuteilende Gleichheit, die vor allem auf Unterschiede abhebt. Dem stellt ein naturrechtliches, aber auch auf christliche Traditionen gestütztes Verständnis die wesenhafte Gleichheit der Menschen in Hinsicht auf ihr unverfügbares Personsein entgegen. Das Gleichheitsprinzip verpflichtet die Organe des demokratischen Gemeinwesens, gleiches Handeln gleich zu behandeln und dabei doch schwache Individuen und Gruppen, z. B. Minderheiten und Randgruppen, vor den Nachteilen einer Gleichbehandlung zu schützen. Die formale Gleichbehandlung (Gleichheit vor dem Gesetz) ist also nicht ausreichend. Es muß vielmehr auch ausgleichende materiale Gleichheit angestrebt werden, durch welche die realen Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Freiheitsrechten einander angenähert werden. Die Beseitigung natürlicher und in der individuellen Persönlichkeitsentfaltung liegender Ungleichheiten ist nicht der Sinn de-

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mokratischer Ausgleichs- und Gleichheitsbemühungen, kann aber die oft unerwünschte Folge einer Egalisierung sein, die der neuzeitlichen Rationalisierung tendentiell innewohnt. Das Gleichheitspostulat im Sinne von Gleichberechtigung ist die wichtigste Grundlage des Diskriminierungsverbots, das in Art. 3 des Bonner Grundgesetzes angesichts der Unterschiede von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Herkunft, Religion und politischer Anschauung formuliert wird und in engem Zusammenhang mit Art. 2,1, also dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit auszulegen ist (Huber/Tödt 91 f. 165 ff). 4.8. Das demokratische Postulat nach gerechter Teilhabe betont ein Moment, das im Postulat der Freiheit und der Gleichheit angelegt ist, aber doch der ausdrücklichen Hervorhebung und Sicherung bedarf. Freiheit ist oft genug individualistisch verstanden, Gleichheit als bloß formale Übereinstimmung ausgelegt worden, ohne daß in beiden das Moment mitmenschlicher, wechselseitiger Solidarität zum Zuge käme. Das demokratische Gemeinwesen aber ist darauf angewiesen, daß unbeschadet aller Interessenunterschiede und Konflikte im politischen Prozeß eine wechselseitige Zuwendung der Menschen mitspielt, welche Einigungen, Verständigungen und Eintreten füreinander möglich macht. Bei J. Rawls findet dieses M o m e n t der Solidarität einen eigentümlichen, rationalen Ausdruck. Er erwartet, daß alle Beteiligten sich fragen: Welche Regeln würde ein jeder für ein Gemeinwesen fordern, bei dem durch einen Schleier der Unwissenheit ihm verborgen ist, auf welcher Stufe er sich in ihm vorfinden wird - möglicherweise also auch auf der untersten? Dann würde ein jeder die besseren Aussichten der Begünstigten nur dann für gerecht halten, wenn sie nicht auf Kosten der Benachteiligten gingen, sondern zugleich zur Verbesserung von deren Lage beitrügen ( 9 6 . 1 0 4 . 160ff). Ungleichheiten wären also gerecht, sofern sie auch zum Vorteil der Benachteiligten ausschlügen. Die Solidarität zwischen Begünstigten und Benachteiligten gibt für Rawls das M a ß ab, in dem Freiheit sich entfalten und Ungleichheit als gerecht akzeptiert werden kann.

4.9. Christliche Ethik wird die aus dem Geschenk des Glaubens resultierende Freiheit, Gleichheit und wechselseitige Zuwendung nicht gleichsetzen mit den demokratischen Grundpostulaten, aber auch beide nicht in einen exklusiven Gegensatz zueinander bringen. Vielmehr wird Glaubenserkenntnis helfen, das in den demokratischen Postulaten zu entdekken, was jedermann unbedingt verpflichten kann. Christliche Ethik fragt also nach Kriterien, die es erlauben und gebieten, in dem Streit um die Auslegung demokratischer Postulate Partei zu ergreifen. So wird z. B. die Bindung der Freiheit der Begünstigten an das Kriterium ihrer Förderlichkeit für die Benachteiligten dem einleuchtend sein, dem das Evangelium die Parteinahme Gottes für die Armen und Unterdrückten vor Augen stellt und dem Menschen zumutet, entsprechend zu leben (Mt 5,48). Er wird eine demokratische Solidaritätsforderung als verwandt mit dem Gebot der Nächsten- und Feindesliebe erkennen können. Bei aller Unterschiedenheit gibt es also verbindliche Affinitäten zwischen Orientierung aus Glauben und Orientierung gemäß demokratischem Ethos. Freilich, so wenig es „die Demokratie" gibt, so wenig eine christliche Entscheidung für sie. Vielmehr sind es bestimmte geschichtliche Lagen und politische und gesellschaftliche Situationen, die zu Einstellungen, Urteilen und Handlungen herausfordern und zu bedenken geben, wie die Mitverantwortung aller Betroffener am besten zum Zuge kommen kann. Literatur Allgemein: Günther Bien u. a., Art. Demokratie: H W P 2 ( 1 9 7 2 ) 5 0 - 5 5 . - Otto Dann, Gleichheit u. Gleichberechtigung, Berlin 1 9 8 0 (Lit.). - Peter Graf Kielmannsegg, Volkssouveränität, Stuttgart 1 9 7 7 (Lit.). - Christian Meier u . a . , Art. Demokratie: GGB 1 ( 1 9 7 2 ) 8 2 1 - 8 9 9 . Zu 1.: Theodor Beza, De iure magistratuum in subditos et officio subditorum erga magistratus, Lyon u . a . 1 5 7 4 u . ö . , Nachdr. der Aufl. v. 1 5 8 0 , hg. v. Klaus Sturm, 1 9 6 5 ( T G E T 1 ) . - J e a n Bodin, Les six Livres de la République, Paris 1 5 8 3 = Aalen 1 9 6 1 . - J o s e f Bohatec, Calvins Lehre v. Staat u. Kirche, Breslau 1 9 3 7 = Aalen 1 9 6 1 . - Otto Brunner, Land u. Herrschaft, Wien 5 1 9 6 5 = Darmstadt 1 9 7 3 . Stephanus Junius Brutus (Pseudonym, vermutlich für Duplesis-Mornay oder/und H . Languet), Vindiciae contra tyrannos sive de principis in populum, populique in principem légitima potestate, o. O. 1 5 7 8 . - Frank Crüsemann, Der Widerstand gegen das Königtum, 1 9 7 8 ( W M A N T 4 9 ) . - Ulrich Duchrow, Christenheit u. Weltverantwortung, 1 9 7 0 (FBESG 2 5 ) (Lit.). - Horst Fuhrmann, „Volks-

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mokratischer Ausgleichs- und Gleichheitsbemühungen, kann aber die oft unerwünschte Folge einer Egalisierung sein, die der neuzeitlichen Rationalisierung tendentiell innewohnt. Das Gleichheitspostulat im Sinne von Gleichberechtigung ist die wichtigste Grundlage des Diskriminierungsverbots, das in Art. 3 des Bonner Grundgesetzes angesichts der Unterschiede von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Herkunft, Religion und politischer Anschauung formuliert wird und in engem Zusammenhang mit Art. 2,1, also dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit auszulegen ist (Huber/Tödt 91 f. 165 ff). 4.8. Das demokratische Postulat nach gerechter Teilhabe betont ein Moment, das im Postulat der Freiheit und der Gleichheit angelegt ist, aber doch der ausdrücklichen Hervorhebung und Sicherung bedarf. Freiheit ist oft genug individualistisch verstanden, Gleichheit als bloß formale Übereinstimmung ausgelegt worden, ohne daß in beiden das Moment mitmenschlicher, wechselseitiger Solidarität zum Zuge käme. Das demokratische Gemeinwesen aber ist darauf angewiesen, daß unbeschadet aller Interessenunterschiede und Konflikte im politischen Prozeß eine wechselseitige Zuwendung der Menschen mitspielt, welche Einigungen, Verständigungen und Eintreten füreinander möglich macht. Bei J. Rawls findet dieses M o m e n t der Solidarität einen eigentümlichen, rationalen Ausdruck. Er erwartet, daß alle Beteiligten sich fragen: Welche Regeln würde ein jeder für ein Gemeinwesen fordern, bei dem durch einen Schleier der Unwissenheit ihm verborgen ist, auf welcher Stufe er sich in ihm vorfinden wird - möglicherweise also auch auf der untersten? Dann würde ein jeder die besseren Aussichten der Begünstigten nur dann für gerecht halten, wenn sie nicht auf Kosten der Benachteiligten gingen, sondern zugleich zur Verbesserung von deren Lage beitrügen ( 9 6 . 1 0 4 . 160ff). Ungleichheiten wären also gerecht, sofern sie auch zum Vorteil der Benachteiligten ausschlügen. Die Solidarität zwischen Begünstigten und Benachteiligten gibt für Rawls das M a ß ab, in dem Freiheit sich entfalten und Ungleichheit als gerecht akzeptiert werden kann.

4.9. Christliche Ethik wird die aus dem Geschenk des Glaubens resultierende Freiheit, Gleichheit und wechselseitige Zuwendung nicht gleichsetzen mit den demokratischen Grundpostulaten, aber auch beide nicht in einen exklusiven Gegensatz zueinander bringen. Vielmehr wird Glaubenserkenntnis helfen, das in den demokratischen Postulaten zu entdekken, was jedermann unbedingt verpflichten kann. Christliche Ethik fragt also nach Kriterien, die es erlauben und gebieten, in dem Streit um die Auslegung demokratischer Postulate Partei zu ergreifen. So wird z. B. die Bindung der Freiheit der Begünstigten an das Kriterium ihrer Förderlichkeit für die Benachteiligten dem einleuchtend sein, dem das Evangelium die Parteinahme Gottes für die Armen und Unterdrückten vor Augen stellt und dem Menschen zumutet, entsprechend zu leben (Mt 5,48). Er wird eine demokratische Solidaritätsforderung als verwandt mit dem Gebot der Nächsten- und Feindesliebe erkennen können. Bei aller Unterschiedenheit gibt es also verbindliche Affinitäten zwischen Orientierung aus Glauben und Orientierung gemäß demokratischem Ethos. Freilich, so wenig es „die Demokratie" gibt, so wenig eine christliche Entscheidung für sie. Vielmehr sind es bestimmte geschichtliche Lagen und politische und gesellschaftliche Situationen, die zu Einstellungen, Urteilen und Handlungen herausfordern und zu bedenken geben, wie die Mitverantwortung aller Betroffener am besten zum Zuge kommen kann. Literatur Allgemein: Günther Bien u. a., Art. Demokratie: H W P 2 ( 1 9 7 2 ) 5 0 - 5 5 . - Otto Dann, Gleichheit u. Gleichberechtigung, Berlin 1 9 8 0 (Lit.). - Peter Graf Kielmannsegg, Volkssouveränität, Stuttgart 1 9 7 7 (Lit.). - Christian Meier u . a . , Art. Demokratie: GGB 1 ( 1 9 7 2 ) 8 2 1 - 8 9 9 . Zu 1.: Theodor Beza, De iure magistratuum in subditos et officio subditorum erga magistratus, Lyon u . a . 1 5 7 4 u . ö . , Nachdr. der Aufl. v. 1 5 8 0 , hg. v. Klaus Sturm, 1 9 6 5 ( T G E T 1 ) . - J e a n Bodin, Les six Livres de la République, Paris 1 5 8 3 = Aalen 1 9 6 1 . - J o s e f Bohatec, Calvins Lehre v. Staat u. Kirche, Breslau 1 9 3 7 = Aalen 1 9 6 1 . - Otto Brunner, Land u. Herrschaft, Wien 5 1 9 6 5 = Darmstadt 1 9 7 3 . Stephanus Junius Brutus (Pseudonym, vermutlich für Duplesis-Mornay oder/und H . Languet), Vindiciae contra tyrannos sive de principis in populum, populique in principem légitima potestate, o. O. 1 5 7 8 . - Frank Crüsemann, Der Widerstand gegen das Königtum, 1 9 7 8 ( W M A N T 4 9 ) . - Ulrich Duchrow, Christenheit u. Weltverantwortung, 1 9 7 0 (FBESG 2 5 ) (Lit.). - Horst Fuhrmann, „Volks-

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Demokratie II

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Heinz Eduard Tödt II. Praktisch-theologisch 1. Theologische Einordnung 2 . Geschichtliche Aspekte 3 . Bedingungen einer demokratischen Kirchenverfassung 4 . Demokratie als Lebensform in der Kirche (Literatur S. 4 5 7 ) Unter praktisch-theologischen Gesichtspunkten stellt sich die Frage nach der Demokratie als Frage nach der Möglichkeit demokratischer Rechtsordnungen und Lebensformen der Kirche dar. Eine strenge Abgrenzung von der sozialethischen Betrachtung ist dabei weder möglich noch überhaupt anzustreben.

1. Theologische

Einordnung

„Demokratie in der Kirche" ist kein genuin theologisches Thema. Der dem politisch-säkularen Denken entstammende Begriff wird vielfach als der kirchlichen Wirklichkeit unangemessen empfunden. Die Frage nach der Demokratie in der Kirche impliziert die Frage

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nach der letzten Legitimation von Kirchengewalt. Diese Frage wird weitgehend übereinstimmend mit dem Hinweis auf die Herrschaft Christi beantwortet (—»Königsherrschaft Christi). Die Kirche ist „bruderschaftliche Christokratie" (Wolf). In den verschiedenen christlichen Konfessionen gibt es Unterschiede hinsichtlich der Akzentsetzung; prinzipiell besteht ein Konsens darüber, daß die christliche Gemeinde nicht „ s o u v e r ä n " sein kann. Bei der Ablehnung der „Volkssouveränität" als eines Gestaltungsmoments kirchlicher Ordnung wird allerdings nicht selten übersehen, daß sie auch im staatlichen Bereich nur eingeschränkt gilt (s.o. Abschn. 1.4.3). Gerade im Interesse der Sicherung der Ursprungstradition hatte sich in der christlichen —»Gemeinde das —»Amt herausgebildet. Nach theologischem Verständnis beruht seine Vollmacht nicht auf dem Willen der Gemeinde, sondern ergibt sich aus göttlichem Recht. So kann das Amt der Gemeinde gegenübertreten, kann auch gegen den Willen der Gemeinde den Willen Gottes verkündigen. In den evangelischen Kirchen haben die Gemeinden mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Rechte der Mitwirkung bei der Berufung in das Amt. Trotzdem bleibt der Amtsträger der Gemeinde gegenüber selbständig und unabhängig; er hat kein imperatives Mandat. Diese Auffassung des kirchlichen Amtes ist, sieht man von kleineren Gruppen ab, gemeinchristlich. Auch hier gibt es allerdings bedeutsame Unterschiede. Die evangelische Tradition betont stärker als die katholische und orthodoxe das —»Priestertum aller Gläubigen. Allerdings konnte sich diese theologische Forderung keineswegs kirchenpraktisch deutlich genug umsetzen. Auch im evangelischen Bereich spricht man von —»Laien; ihre Bedeutung mußte in den letzten Jahrzehnten in mühsamen Prozessen theologisch herausgearbeitet werden (Mott; Kantonen; Kraemer u. a.). In der katholischen Kirche wurde durch das II. —»Vatikanum die hierarchische Verfassung der Kirche zwar bestätigt, aber doch die Bedeutung des ganzen Volkes Gottes in den Vordergrund gestellt. Gerade im Blick auf neuere kirchliche Entwicklungen gilt also, daß trotz einer grundsätzlichen Ablehnung eines demokratischen Strukturprinzips für die Kirche demokratieanaloge Strukturelemente betont werden. Eine praktisch-theologische Aufnahme von systematisch-theologischen Überlegungen muß, um zu handlungsrelevanten Ergebnissen zu k o m m e n , auch die sozialen Bedingungen des jeweiligen Handlungsfeldes berücksichtigen. V o n Soziologen werden diese allerdings unterschiedlich eingeschätzt (skeptisch Luhmann, Funktion der Religion 2 9 5 f. 3 1 1 f). M i t der Begründung, hierarchische, bürokratisch-professionelle und autokratische Strukturen würden eher als demokratische entfremdende, unterdrückende und verhärtende Sozialformen ausbilden, räumt dagegen Leayendecker demokratischen Kirchenordnungen eine höhere Effizienz und damit Priorität ein ( 3 0 6 f ) . Sie geht dabei ausdrücklich vom Konzept einer missionarischen Kirche aus. Die Notwendigkeit, die Ursprungstradition zu wahren, erlaubt jedenfalls, vom Organisationsziel her gesehen, nur solche Formen der Leitungsverantwortung aller Kirchenmitglieder, die den grundsätzlichen Konsens hinsichtlich der Geltung der Uberlieferung nicht infrage stellen.

2. Geschichtliche

Aspekte

Die Übernahme demokratischer Elemente in —»Kirchenordnungen ist in hohem M a ß e von dem jeweiligen gesellschaftlichen Gesamtkontext abhängig. Die damit notwendige exemplarische Herausarbeitung geschieht im wesentlichen am Beispiel von Entwicklungen in

den deutschen

Kirchen.

2.1. Im Laufe des 19. Jh. kam es in den evangelischen Landeskirchen Deutschlands zur Ausbildung von -^Kirchenverfassungen, die wesentlich von formaldemokratischen Prinzipien her mitbestimmt sind. Ausschlaggebend für die Entwicklung waren Veränderungen im staatlichen Bereich. Allerdings hätten demokratische Verfassungselemente nicht relativ problemlos übernommen werden können, wenn nicht entsprechende ekklesiologische Leitvorstellungen die Rezeption erleichtert hätten. Die Rezeption demokratischer Verfassungselemente war darüber hinaus durch die kirchenrechtliche Theoriebildung des 18. Jh. (Kollegialismus) vorbereitet. Die im 19. Jh. eingeleitete Entwicklung erhielt nach 1918 (Ablösung des landesherrlichen —»Kirchenregiments) einen neuen Impuls. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Erfahrungen der Auseinandersetzung der Kirche mit dem —»Nationalsozialismus (—»Kirchenkampf) verarbeitet. Dies führte zum Teil dazu, stärker die Unterschiede zwischen kirchlicher und staatlicher Verfassung herauszuarbeiten.

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Wichtigstes Element im Rahmen der Ausbildung formaldemokratischer Kirchenverfassungen ist die Ausbildung von Vertretungsorganen auf den verschiedenen kirchlichen Handlungsebenen. Diese werden im Laufe der Entwicklung mit wachsenden Kompetenzen ausgestattet. Sie erhalten zunehmend Rechte auch im Bereich geistlich-theologischer Kirchenleitung. Das Wahlrecht zu den Vertretungsorganen spiegelt die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in diesem Bereich deutlich wider (sukzessive Senkung des Wahlalters oder für die Einführung des Frauenwahlrechts). Entsprechend bestimmten Kirchenparteien insbesondere in der Zeit der Weimarer Republik das Bild der Synoden. Die Gruppenvielfalt der Volkskirche sollte in den Vertretungsgremien repräsentiert sein. In den kirchlichen Wahlordnungen wurde das Verhältniswahlrecht eingeführt. Die Übernahme formaldemokratischer Verfassungselemente fand keineswegs einhellige Zustimmung (vgl. Mutig), dabei verband sich nicht selten die Kritik an innerkirchlichen Demokratieformen mit einer generellen Demokratiekritik. Hinsichtlich ihrer Relevanz für die kirchliche Praxis dürfen die formaldemokratischen Elemente der Kirchenverfassungen keinesfalls überschätzt werden. Verfassungswirklichkeit und soziale Wirklichkeit klafften häufig genug auseinander. 2.2. Die Diskussion um die Demokratisierung der Kirche führte zwischen 1965 und 1975 zu einer Verlebendigung der demokratischen Verfassungselemente. Gemessen an den Zielvorstellungen der damaligen Kirchenreformbewegung ist dieses Ergebnis bescheiden, gemessen an der vorausgehenden synodalen Praxis indessen durchaus beachtlich. Die Kirchenreformdiskussion jenes Jahrzehnts hat starke Wurzeln in den Laienbewegungen des Evangelischen —»Kirchentags und des —»Katholikentags. Innerhalb der katholischen Kirche gehen beachtliche Anregungen vom II. —»Vatikanum aus. Zugleich müssen gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in den westlichen Industrieländern in Rechnung gestellt werden. Die Studentenunruhen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre schlagen sich im innerkirchlichen Bereich, in der Gestalt von Gruppen „außersynodaler Opposition" nieder. Die sozialen Unruhen unter den jungen Intellektuellen führten auf theoretischer Ebene, zum Teil beeinflußt durch die marxistische Demokratietheorie, zu einer deutlichen Kritik am parlamentarischen System. Alternative Demokratieverständnisse wurden mit dem Interesse diskutiert, Sozialformen zu verwirklichen, die ein höheres Maß der Emanzipation des Individuums, der Verwirklichung von Chancengleichheit und des Abbaus von Herrschaft überhaupt ermöglichen. Charakteristisch für die Diskussion ist die Ausweitung des Demokratiebegriffs auf nichtstaatliche Handlungsbereiche. Schulen und Hochschulen, Wirtschaftsbetriebe und Verbände sollen ein möglichst hohes Maß der Mitbestimmung aller Beteiligten ermöglichen. Das Demokratieverständnis erweitert sich im Rahmen dieser Diskussion immer stärker dahingehend, daß es eine umfassende Lebensform einer auf Emanzipation angelegten Sozialität meint. Genau diese Erweiterung des Begriffs auf nichtstaatliche Handlungsbereiche, ja auf den Gesamtvollzug sozialen Lebens, jedoch war kontrovers. Standen auf der einen Seite Befürworter eines Demokratisierungskonzepts wie Vilmar und Hondrich, so auf der anderen Seite Kritiker wie Hennis und Maier. Die Forderung nach Demokratisierung der Kirche wurde von den evangelischen Gruppen weniger auf einer grundsätzlich theoretischen Ebene als vielmehr pragmatisch formuliert. Man kritisierte hierarchisch-autoritäre und zugleich bürokratische Kirchenstrukturen. Demgegenüber verlangte man etwa eine striktere Gewaltenteilung zwischen Synode und Kirchenverwaltung bzw. Kirchenleitung. Man wollte, mindestens zum Teil, das Wahlrecht zu den landeskirchlichen Synoden in der Weise geändert sehen, daß Direktwahlen stattfinden. Man setzte sich für die Senkung des Wahlalters ein und forderte mehr öffentliche Transparenz der Entscheidungen. Entscheidungsprozesse sollten Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen nicht verschleiern, sondern offen austragen. Die Gruppenbildung in der Kirche, die den Meinungsstreit ermöglicht, wurde befürwortet. Innerhalb der synodalen Praxis fanden solche Forderungen zum Teil relativ schnell Berücksichtigung. Dies war um so eher möglich, als die Reformansätze keine grundsätzliche Anfrage an die gegebenen Kirchenstrukturen darstellten. Sehr viel nachhaltiger, gerade auch auf der theoretischen Ebene, wurde die Diskussion auf katholischer Seite geführt. Aufs ganze gesehen überwogen die Stimmen, die, wie etwa Karl Rahner, sorgfältig die Grenzen einer Demokratisierung der Kirche klar machten, zugleich aber jene in der Tradition angelegten demokratieanalogen Elemente herausarbeiteten, die es gestatteten, vorgetragene Reformforderungen zu rezipieren. Der Bensberger Kreis erhob in diesem Zusammenhang die Forderung nach „permanenten synodalen Strukturen" (93). Als Forum der theoretischen Diskussion erwies sich vor allem die Zeitschrift Concilium. Von nicht zu unterschätzendem Einfluß war die Arbeitsweise des holländischen Pastoralkonzils. Die gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland 1 9 7 1 - 1 9 7 5 in Würzburg hat ihrerseits die weitere Diskussion beeinflußt.

2.3. In der ökumenischen Diskussion ist die Frage nach demokratischen Kirchenstrukturen kein Thema. Die westdeutsche Demokratisierungsdebatte ist in der Besonderheit ihrer Problemstellung singulär geblieben. Dies heißt allerdings nicht, daß in ihr angesprochene Fragen nicht auch im ökumenischen Kontext verhandelt würden. Sie tauchen durchaus auf;

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dabei wird allerdings auf stärker theologisch geprägte Sprachmuster zurückgegrissen. So ist beispielsweise ein in breitem M a ß e verhandeltes T h e m a das der Stellung der —»Laien in der Kirche, insbesondere auch ihre M i t v e r a n t w o r t u n g in Leitungsfunktionen. Im Katholizismus (—»Römisch-katholische Kirche) kam es durch das Zweite Vatikanische Konzil zu einer Neuorientierung in Richtung auf kollegiale Beratung der Entscheidungen. Ausdruck dafür ist das Konzil selbst sowie die Einrichtung von Priester- und Laienräten auf der Diözesan- bzw. Ortsebene. In der Orthodoxie (—»Orthodoxe Kirchen) wird im Rahmen der seit den sechziger Jahren laufenden Vorbereitung eines panorthodoxen Konzils der Laienmitverantwortung verstärkt Aufmerksamkeit entgegengebracht. Im Anglikanismus (—»Anglikanische Kirchengemeinschaft) ist trotz grundsätzlich hierarchisch orientierter Kirchenverfassung ein faktisches Mitspracherecht von Pfarrern und Gemeinden, auch bei zentralen bischöflichen Entscheidungen gegeben. Im —»Protestantismus überwiegen demokratische Verfassungselemente um so stärker, je mehr synodal-presbyterial organisiert ein Kirchentum ist. Geht m a n v o m F a k t o r des jeweiligen gesellschaftlichen Kontextes aus, kann formuliert werden: J e stärker die D e m o k r a t i e a n s p r ü c h e auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ausgeprägt sind, desto gewichtiger sind Demokratiebedürfnisse innerhalb der Kirchen. Auch die hierarchisch verfaßten Kirchen erweisen sich zumindest im Blick auf informelle Regelungen der Laienmitsprache außerordentlich flexibel. Dies gilt vor allem für den Anglikanismus und für die O r t h o d o x i e , aber auch für den Katholizismus. W i e wichtig für formelle wie informelle „ d e m o k r a t i s c h e " Kirchenstrukturen etwa auch das jeweilige Finanzierungssystem der Kirche ist, zeigen amerikanische Kirchen und Gemeinden. T r o t z d e m mußte sich selbst im —»Methodismus die Beteiligung der Laien an geistlichen

Entscheidungen während des

1 9 . Jh. m ü h s a m durchsetzen ( M o e d e ) . Die Strukturen der Kirche in Afrika und Asien (—»Junge Kirchen) sind einerseits konfessionell bestimmt, andererseits wirken sich aber auch hier die jeweiligen kulturellen Kontexte aus. In afrikanischen Gemeinden beispielsweise haben die Pfarrer zwar eine starke, Häuptlingen oder Medizinmännern vergleichbare Stellung, trotzdem sind Mitspracherechte in der afrikanischen Tradition bereits angelegt. Selbst die Stammeshäuptlinge entscheiden häufig nicht autokratisch, sondern etwa im Gespräch mit anderen Teilvertrauensleuten des Stammes. Auch die Entscheidungsprozesse in den Synoden sind durch afrikanische Traditionen geprägt. Ist im europäischen Kontext die Mehrheitsentscheidung akzeptiert, so wird in den afrikanischen Synoden eher konsensusorientiert verfahren, d. h. die Diskussion wird so lange fortgesetzt, bis die Einmütigkeit unter allen Beteiligten hergestellt ist. 2.4.

Institutionskritische

Demokratisierungsbewegungen

gewinnen seit den sechziger

J a h r e n nicht nur in den kapitalistisch orientierten Industrienationen an Einfluß, sondern speziell auch in den Kirchen dieser Länder. Bei der Beurteilung dieses Phänomens m u ß dara u f geachtet werden, daß derartige Tendenzen eine lange Tradition haben. In diesem Z u s a m m e n h a n g ist nicht nur an den linken Flügel der R e f o r m a t i o n zu erinnern, sondern ebenso an F o r m e n der pietistischen Gemeinschaftsbildung und an die Organisierung von Laienaktivität in den christlichen Vereinsbildungen des 1 9 . J h . Die in diesem Z u s a m m e n h a n g seit den sechziger Jahren zu beobachtenden Gruppenbildungen sind außerordentlich vielfältig. In der katholischen Kirche ist hier in erster Linie ein Phänomen wie das der Basisgemeinden zu nennen. Sie sind insbesondere in Lateinamerika verbreitet, aber auch in Nordamerika und Afrika, in Italien, Frankreich und den Niederlanden. Charakteristisch für lateinamerikanische Basisgemeinden ist nach Greinacher, daß sich Christen zu Gruppen zusammenschließen, regelmäßig zusammenkommen, alltägliches Leben im Lichte der christlichen Überlieferung interpretieren, miteinander Gottesdienst feiern und gemeinsam ihre Situation der Unterdrückung verändern (Die Kirche der Armen, 42). Auch für Basisgemeinden in anderen Gesellschaften gilt, daß sie gottesdienstliches Leben und politisches Engagement miteinander verknüpfen. Darüber hinaus gibt es allerdings eine Vielzahl von Typen (Kleiner 194—197). Basisgemeinden wirken im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext „demokratisierend", weil Betroffene ihre politischen Interessen zu artikulieren lernen. Kirchlich gesehen wirken sie zum Teil antihierarchisch, dies gilt etwa für Basisgemeinden in den Niederlanden. Auch wenn von diesen Gemeinden die Verbindung mit der institutionellen Kirche gewahrt bleibt, zeigen sich doch deutliche Tendenzen, den grundsätzlichen Unterschied zwischen Klerus und Gemeinde zu relativieren. Die holländische Bischofssynode von 1980 hat demgegenüber die hierarchische Struktur der Kirche betont. Innerhalb des Protestantismus

sind entsprechende Gruppenbildungen nicht in gleichem Maße vor-

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handen. Hier ist sehr viel stärker zu beobachten, daß sich einzelne kirchliche Mitarbeiter oder ganze Kirchengemeinden an Gruppen beteiligen, die für die Durchsetzung der Rechte von Minderheiten oder solcher Bevölkerungsgruppen eintreten, die von politischen Entscheidungen gravierend betroffen sind. Die in den —»Vereinigten Staaten entwickelte Gemeinwesenarbeit fand dort sehr früh auch unter den Pfarrern, die in Slumgebieten arbeiteten, Interesse. Die Bürgerrechtsbewegung, in den sechziger Jahren in hervorragender Weise von Martin Luther —»King mitgeprägt, ist ein weiteres Beispiel für die Mitarbeit von Christen in gesellschaftlichen Gruppen, denen es um ein höheres Maß verwirklichter Demokratie geht. In Westdeutschland haben sich seit Ende der sechziger Jahre zunehmend Bürgerinitiativen zur Durchsetzung politischer Interessen gebildet. Sie sind keineswegs unumstritten. Kritik wird sowohl von konsequenten Verfechtern der Repräsentativdemokratie wie von marxistisch orientierten Theoretikern erhoben. Die größte Bedeutung haben die Bürgerinitiativen für Fragen des Umweltschutzes erlangt. 3. Bedingungen

einer

demokratischen

Kirchenverfassung

Auch wenn Demokratie keine anerkannte theologische Normvorstellung darstellt, an der —»Kirchenordnungen gemessen werden, besteht doch kein Zweifel daran, daß die Beteiligung der gesamten Gemeinde wichtiges Handlungsziel ist. Unter welchen sozialen Bedingungen steht aber nun kirchliches Handeln, das die Beteiligung aller Kirchenmitglieder, sei es beratend, sei es unmittelbar entscheidend, fördern will? Über die Verwirklichung von organisationsinterner Demokratie bzw. Verbandsdemokratie liegen eine ganze Reihe von Untersuchungen vor, die auch für die kirchliche Praxis von Bedeutung sind. Die Erforschung der Demokratie in Verbänden beschäftigt sich, wie schon die älteren Untersuchungen zeigen, primär mit—»Parteien und Gewerkschaften (vgl. Michels; Lipset u. a.). Wichtige auslösende Beobachtung war die Mitgliederapathie, d. h. die relativ geringe Beteiligung der Mitglieder an Leitungsentscheidungen der Organisation, auch wenn entsprechende formaldemokratische Regelungen vorlagen. Nehmen die älteren Unterscheidungen die Mitgliederapatie als gegeben hin, so versuchen neuere Untersuchungen, Organisationsformen zu entdecken, die eine höhere Partizipation ermöglichen und innerorganisatorische Demokratie begünstigen. So untersuchte beispielsweise Lipset eine amerikanische Gewerkschaft mit einem Zweiparteiensystem. Naschold hält die Demokratisierung von Organisationen für möglich, wenn u. a. folgende Bedingungen erfüllt sind: relativ hohes Ausbildungsniveau der Mitglieder, Sicherung der langfristigen Motivation, informelle Gruppenbildung, Ermöglichung von kollektiven Lernprozessen (83 f). Sehr viel kritischer schätzt Luhmann Demokratisierungsmöglichkeiten ein (Politische Planung 3 5 - 4 5 ) . Der Verwirklichung einer direkten Demokratie in Organisationen wird in hochkomplexen Gesellschaftssystemen im allgemeinen eine geringe Chance eingeräumt. Ein relativ hohes Demokratiepotential wird dagegen dem „verbandsinternen Gruppenwettbewerb" zugeschrieben. Darüber kommt dem Prinzip der Bildung relativ autonomer Subsysteme innerhalb der Organisation große Bedeutung zu. Trotz der Kritik an Nascholds Konzept wird zumindest im Blick auf Freiwilligkeitsorganisationen die Bedeutung von Bildungsprozessen, die zugleich Motivation zur Teilnahme erschließen, deutlich gesehen werden müssen. Die Einflußbegrenzung von Verbandsfunktionären, die Verbesserung des Verhältnisses von hauptamtlich und ehrenamtlich in der Organisation Tätigen, sind weitere wichtige Voraussetzungen für eine generelle Partizipationssteigerung und damit für ein höheres Maß der Teilnahme an Leitungsentscheidungen. Als Sozialgebilde unterliegen die Kirchen im Blick auf die Verwirklichung von „ D e m o kratisierungs"-Ansätzen den Bedingungen aller Organisationen. Die Anwendung von Konzepten der Verbändedemokratie auf die Kirche muß jedoch die besonderen religiösen Bedingungen in Rechnung stellen. 4 . Demokratie

als Lebensform

in der

Kirche

Demokratie als Lebensform in der Kirche war eines der Hauptthemen der westdeutschen Demokratisierungsdebatte (s. o. Abschn. 2 . 2 ) . Auch wenn man die in dieser Problemstellung implizierte Erweiterung des Demokratiebegriffs nicht übernimmt oder gar aus theologischen Gründen die Anwendung von Demokratietheorien auf die Kirche ablehnt, muß man zugestehen, daß in diesem Zusammenhang aufgeworfene Probleme für die kirchliche Praxis durchaus relevant sind.

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- In einer großen Anzahl von Kirchen gibt es neben dem ordinierten —»Pfarrer andere hauptberufliche Mitarbeiter, die eine ähnlich verantwortliche Tätigkeit wie der Ordinierte ausüben. Trotzdem ist häufig die Statusdifferenz zwischen ordinierten und nichtordinierten kirchlichen Mitarbeitern beträchtlich. Die Uberwindung dieser Differenz ist eine bislang noch ungelöste Aufgabe. - Die staatliche Gesetzgebung hat in Westdeutschland den hauptberuflich und zugleich abhängig Beschäftigten den Arbeitgebern gegenüber Mitspracherechte (—»Mitbestimmung) eingeräumt. Entsprechende Regelungen wurden nur zögernd von den Kirchen übernommen. Die Weiterarbeit an diesem Problemkomplex steht an. - Auf der informellen Ebene hat die Rezeption gruppendynamischer Erkenntnisse (—»Gruppendynamik) in der kirchlichen Praxis verstärkt zu einer Gruppenarbeit geführt, in der der Respekt jedes vor jedem anderen eingeübt werden konnte. Wichtig ist, daß das in Kleingruppen praktizierte Verhalten auch auf der Ebene des Entscheidungshandelns von Großorganisationen zu praktizieren ist. - Im Rahmen der Demokratisierungsdiskussion wurde verstärkt die Bedeutung der —»Sprache für die Herstellung von Chancengleichheit erkannt. Die Uberwindung von Sprachmustern, die die weniger Gebildeten ausschließen, wird zwar theoretisch postuliert, aber praktisch bestehen doch erhebliche Schwierigkeiten. - Die Kommunikationsformen von -»Predigt und —»Gottesdienst haben auch in den evangelischen Kirchen eher autokratisch-hierarchische als partnerschaftlich-brüderliche Züge. Neue Gottesdienst formen, die den Gedanken der Gleichheit der Christen untereinander betonen, haben sich demgegenüber noch nicht ausreichend entwickelt. - In den Kirchen gibt es wie in anderen Verbänden und Organisationen Menschen, die weniger als andere die Chance haben, verantwortliche Positionen zu übernehmen: In diesem Zusammenhang ist die Rolle der —»Frauen in der Kirche neu zu bedenken. - Im Rahmen der ökumenischen Diskussion steht sowohl die Analyse des Einflusses von rassistischen Ideen auf Kirchenstrukturen an, wie die weitere Ausgestaltung der Chancengleichheit im theologischen Dialog zwischen den europäisch-amerikanischen Kirchen einerseits und den afrikanischen und asiatischen Kirchen andererseits. - Die sich verstärkende Sensibilität für die Diskrepanz der Lebenssituationen in armen und reichen Ländern bzw. armen und reichen Kirchen ist ein weiterer Hinweis auf einen Aspekt ökumenischen Handelns, indem sich die Frage nach demokratischen Lebensformen mit zu Wort meldet. Unabhängig davon, ob derartige Problemstellungen mit dem Begriff „ D e m o k r a t i e " in Verbindung gebracht werden oder ob man sie in einem genuin theologischen Begriffszusammenhang behandelt, sind hier Sachverhalte thematisiert, die das Selbstverständnis von Kirchen berühren und zur praktischen wie theoretischen Weiterarbeit am Demokratie-Problem herausfordern. Literatur Cornelis van Andel, Synodale Elemente im Anglikanismus u. in den Ref. Kirchen der Niederlande: Conc(D) 7 (1971) 2 1 6 - 2 1 9 . - Ulrich Asendorf, Demokratie in der Kirche?, Stuttgart 1973. - HansDieter Bastian (Hg.), Experiment Isolotto, München/Mainz 1970. - Joachim Beckmann, Art. Parteien. VI. Kirchl. Parteien in Deutschland: RGG 3 5 (1961) 1 2 8 - 1 3 0 . - Hans-Jürgen Benedict, Bürgerinitiativen u. Schichtzugehörigkeit: Hans-Eckehard Bahr (Hg.), Politisierung des Alltags. 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459

Demut I

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Karl-Fritz Daiber Demoskopie -^Meinungsforschung, —»Sozialwissenschaften

Demut I. Altes Testament II. Judentum III. Neues Testament IV. Alte Kirche V.Mittelalter VI. Reformation VII. Neuzeit VIII. Ethisch

462 463 465 468 474 478 483

I. Altes Testament 1. Allgemeines 2 . Begriffe, Wortfeld, Streuung 5 . G o t t demütigt Menschen (Literatur S. 4 6 1 )

1.

3 . D e m u t vor M e n s c h e n

4 . D e m u t vor G o t t

Allgemeines

Für die Rolle der Demut in christlicher Theologie und Frömmigkeit gibt das Alte Testament nur eine relativ schmale, aber entscheidende Grundlage ab. Die Auslegungs- und Wir-

460

Demut I

kungsgeschichte (dazu Dihle; Melzer) hat diese Grundlage dadurch erweitert, daß humilitas oder Demut auch dort eingesetzt wurden, wo das Alte Testament das genau entsprechende Äquivalent nicht bietet. Im Gegensatz dazu wird das alttestamentliche Reden von Demut hier nur insoweit verhandelt, als es durch ein entsprechendes hebräisches Äquivalent abgedeckt ist. Damit entfallen z. B. Hinweise auf die Demut —»Abrahams, Gideons oder Jeremias (Gen 18; Jdc 6; Jer 1), die Selbsteinschätzung des Frommen als „Knecht" vor Gott u.a.m. 2. Begriffe,

Wortfeld,

Streuung

Demut steht in deutschen Bibelübersetzungen für mehrere hebräische Äquivalente. Unter diesen ist die Wurzel 'nh II am wichtigsten, und zwar als Verbum [sich ducken, sich beugen] (vgl. Kutsch), als Adjektiv 'anaw [demütig, sich beugend]; dagegen 'am [gebeugt, arm] (so mit Kutsch; anders Rahlfs; Birkeland) und als nur viermal klar belegtes Substantiv ('°nawah: Zeph 2,3; Prov 15,33; 18,12; 22,4; dazu noch 'änwah: Ps 45,5; 18,36). Ferner ist auf die Wurzeln spl und kn (ni) sowie auf das Adjektiv däl zu verweisen. Textlich unsicher sind II Sam 2 2 , 3 6 = Ps 18,36; Ps 118,21. ( Z u r L X X vgl. Kutsch 5 4 f f . 6 1 f f und Grundmann 6f, aber auch F. Hauck/S. Schulz: T h W N T 6 [1959] 6 4 7 - 6 4 9 . ) Demut wird im Alten Testament nie von Gott ausgesagt. Beim Menschen bezeichnet sie ein bewußtes Verhalten, das als gehorchen, sich unterordnen, sich beugen zu beschreiben ist, nicht aber äußere Armut oder Niedrigkeit als Geschick meint. Zum Wortfeld gehören daher Furcht Jahwes, Gerechtigkeit, Sanftmut, Umkehr. Folgen der Demut sind Reichtum, Ehre, Leben. Oppositionen sind Hochmut, Ungehorsam, nicht auf Jahwe hören, nicht umkehren, und deren Folgen dann Schande, Gericht, Untergang, Spott. Daher gehören auch prophetische Worte gegen Hochmut zum Kontext (Am 6,8; Jes 2,11 ff; 5,15; 10,5 ff; 13; Jer 13,16 f; Zeph 3,11 f; Ez 28,1 ff; positiv Mi 6 , 6 - 8 ; Zeph 2,3 f; Ps 131,1 f). Falsche Demut kennt ^ S i rach (12,11; 19,26; 29,5; auch 1 QS IX,22), der überhaupt häufig die Demut vor Gott und Menschen reflektiert (vgl. nur Sir 3,20ff). In —»Qumran wurde Demut gefordert (1 QS 111,8 f; IV,3; VIII,2), da sie sühnt und reinigt und zu den besonderen Kennzeichen der Gruppe gehört (1 QS 11,24; unklar: 1 Q M XIV,7). Wenn Demut heute im Sinn einer knechtischen Haltung überdeterminiert ist, so ist diese Konnotation im Alten Testament noch nicht angelegt. Demut ist dort eine der Grundhaltungen alttestamentlicher Frömmigkeit in Form eines bewußten Verhaltens vor Gott (sich anvertrauen) und den Mitmenschen (z. B. als Streitverzicht). Sie kennzeichnet nicht nur die Stellung des Knechts vor seinem Herrn (Rahlfs) oder den Zustand verminderter Kraft als Abweichen vom Normalen in negativer Richtung (Birkeland), sondern sie ist Erkenntnis der Abhängigkeit des Menschen von Gott und der Schuldhaftigkeit vor ihm und das dieser Erkenntnis entsprechende Verhalten. Von Demut sprechen häufig weisheitliche Texte (—»Weisheit), ferner Klagen und geschichtsdeutende Texte. 3. Demut vor

Menschen

In Prov 15,33; 18,12; 22,4 steht Demut innerhalb des weisheitlichen Tun-Ergehen-Zusammenhanges. Der Demütige ordnet sich der Weltordnung unter, die von Jahwe gesetzt ist, und kommt dann zu Ehren und Reichtum; Hochmut bewirkt das Gegenteil (Sir 1,27 f; 3,17; 4,8; 5,3; 10,14.17f.28.31; 13,20; 16,8; 18,21; 32,22; 45,4; Jdt 8,16; II Makk 9,18; vgl. das Adj. in Prov 11,2; 29,23; in Ez 17,14 spl). Demütige stehen unter besonderer Verheißung (Jes 57,15). Nach Num 12,3; Sir 45,4 war Mose besonders demütig. Ein Mensch kann den anderen demütigen (Gen 16,6.9; Jes 53,7; auch Gen 15,13; Ex 1,11 f; Num 24,24; kriegerisch in Jdc 8,28; 11,23; Neh 9,24; I Chr 18,1). Oft wird auch das Gewalttätige gegenüber einer Frau mit „demütigen" übersetzt (Gen 34,2; Dtn 22,24; Ez 22,11). Schließlich „beugt" der böse Mensch das Recht (Hi 37,23; vgl. Dtn 16,19; Ez 9,9 mit nth).

Demut I 4. Demut vor

461

Gott

Die zahlreichen Belege, nach denen die^nawim wohl nicht als besondere Gruppe innerhalb des nachexilischen Judentums (Rahlfs), sondern eher als stark Bedrängte und daher mit vornehmlicher Anwartschaft auf Jahwes Hilfe Gekennzeichnete sich finden, lassen die Nähe der Demut gegenüber Menschen zur Demut vor Gott erkennen. Neben Psalmtexten (Ps 9,13; 10,17; 22,27; 25,9 [ 2 x ] ; 34,3; 37,11; 69,33; 76,10; 147,6; 149,4) stehen Jes 11,4; 29,19; 61,1 und Zeph 2,3, während Am 2,7 zur Sozialkritik dieses Propheten gehört. Hiernach hört Jahwe das Rufen dieser Demütigen/Elenden; er leitet sie, sie hoffen auf ihn und trösten sich seiner Verheißungen. Jahwe schafft ihnen Recht, sie sind letztlich sein Volk (Ps 149,4). Nach Sach 9,9 f wird der endzeitliche Heilskönig (—»Messias) demütig sein, was nicht nur im Rahmen der altorientalischen Königsdemut zu sehen ist (Kutsch), sondern auch den Wandel des Messiasbildes (etwa gegenüber Jes 9) erkennen läßt (dazu: W. H. Schmidt: KuD 15 [1968] 1 8 - 3 4 ) . Demut ist als Gehorsam und Beugen unter Jahwes Willen das rechte Verhalten des Menschen vor Gott (Zeph 2,3; Ex 10,3 f als Kontrast; dann II Reg 22,19 = II Chr 34,27; Dan 5,22; auch Jer 36,7; 44,10). In den Chronikbüchern wird diese Demut insofern herausgestellt, als sich an ihr Zorn oder Güte Jahwes entschied (II Chr 7,14; 12,6; 30,11; 32,26; 33,12.19.23; 34,27; 36,12). Mi 6,8 jedoch gehört nicht hierher (s. Stoebe). Das Sich-Demütigen wird auch mit dem Fasten verbunden und bekommt dort den Nebenton der Selbstdemütigung (Lev 16,29.31; Esr 8,21; Jes 58,3.5; Jdt 4,7; vgl. Ps 35,13). 5. Gott demütigt

Menschen

Objekt dieser Demütigungen sind die Menschen allgemein, dann Jahwes Volk und auch die Daviddynastie. Neben den Psalmen des Einzelnen finden sich diese Aussagen vornehmlich in exilisch-nachexilischen Texten, wo das Demütigen durch Jahwe nach der Exilserfahrung zur Kategorie der Geschichtsdeutung wird (Dtn 8,2 f. 16; I Reg 8, 35 = II Chr 6,26; Lev 26,41; dann II Chr 13,18; 28,18; Ps 106,42), wobei manche Texte die Demütigung als nur eine vorübergehende sehen (Dtn 8,2 f. 16; I Reg 11,39; Nah 1,12; Ps 90,15; Thr 3,33). Wenn Jahwe demütigt, schickt er Not, Krankheit, Unglück, Feinde, wobei der Grund dafür stets in der Sünde des Menschen liegt. Jahwe demütigt aber auch Israels Feinde (meist als Verheißung: I Chr 17,10; vgl. Jes 25,5; Jdt 8,17; II Makk 8,35; Dan 4,34; dort als Kontrast: 5,19; 7,24) bzw. die des einzelnen Beters (Ps 55,20; 17,13 als Gewißheit bzw. Bitte). Aber der Beter weiß auch, daß Jahwe ihn selber demütigt, um ihn zur Umkehr zu führen (Ps 102,24; 119,67.71.75.107; auch Jes 53,4; Hi 22,29; 40,11). Und kommendes —»Gericht wird auch Demütigung bringen (Jes 2,9.17; 5,15; 13,11: stets spl). Literatur Harris Birkeland, arti u. anaw in den Psalmen, Oslo 1933. - Albrecht Dihle, Art. Demut: RAC 3 (1957) 735 - 778. - Walter Grundmann, r a n c t v ö q usw.: ThWNT 8 (1969) 1 - 27. - Johannes Hempel, Das Ethos des AT, 2 1 9 6 4 (BZAW 67) 2 4 . 1 7 6 . 1 9 5 . 3 2 3 f. - Hans-Joachim Kraus, Exkurs Die Armen: ders., Psalmen, 5 1 9 7 8 (BK 15/1) 1 0 8 - 1 1 1 . - Ernst Kutsch, Art. Demut: R G G 3 2 ( 1 9 5 8 ) 7 7 f . - D e r s . , ™nawab („Demut"). EinBeitr. zum Thema „Gott u. Mensch im AT", HabSchr. (masch.) Mainz 1 9 6 0 . Friso Melzer, Entstehung u. Wirksamkeit des christozentrischen Wortschatzes im Deutschen, dargelegt an dem Wort Demut: Thomas Michels/Ansgar Paus (Hg.), Sprache u. Sprachverständnis in rel. Rede, Salzburg/München 1973, 2 0 3 - 2 1 0 . - Alfred Rahlfs, ani u. anaw in den Psalmen, Göttingen 1892. Ernst Sellin, Beitr. zurisraelit. u. jüd. Religionsgesch., Leipzig, II/1 1897, 281 ff.294 ff.-Hans-Joachim Stoebe, Und demütig sein vor deinem Gott. Micha 6,8: WuD NF 6 (1959) 1 8 0 - 1 9 4 . - Leopold Zunz, Alte Sentenzen über Hochmut u. Demut: ders., GS, Berlin, III 1876, 2 1 4 - 2 2 0 . - Weitere Lit. -»Armut.

Horst Dietrich Preuß

Demut II

462 II. Judentum 1. Allgemeines S. 463)

2. Q u m r a n

3. T a l m u d und M i d r a s c h

4. Mittelalter

(Quellen u n d Literatur

1. Allgemeines Demut gilt in der hebräischen Bibel als höchste menschliche Tugend. Über —»Mose, den Gesetzeslehrer und Propheten, der „Gott von Angesicht zu Angesicht kannte" (Dtn 34,10) heißt es „und der Mann Mose war demütig ('attaw) mehr als alle Menschen auf dem Erdboden" (Num 12,3). Der Prophet—»Micha fordert von dem Menschen, sich „demütig" zu verhalten vor Gott (Mi 6,8, hier: haznea läkät, im Sinne von „verhalten, zurückhaltend"). In der Weisheitsliteratur wird Demut ('"nawah, oder sefal bäräk [wörtl. gebeugten Knies]) mit Gottesfurcht (jir' at '"lohim) gleichgesetzt (Prov 22,4; 15,33). Der Hochmütige (gewah ha leb) wird verdammt, der Demütige (auch sefal rüah, [wörtl. gebeugten Geistes]) hoch gepriesen (Prov 17,19). Die Unzulänglichkeit des Menschen, die Größe Gottes zu begreifen, läßt den Psalmisten die Frage stellen „Was ist der Mensch, daß DU seiner gedenkest..." (Ps 8,5). Er bittet Gott, den Demütigen ('anaw) auf den rechten Weg zu führen (Ps 25,9). 2. —>Qumran Demut ist ein Grundgebot der Bundesregel der Qumrangemeinde. „Gütige Demut" ('*nawah, 1 QS II, 24) und „demütige Gesinnung und Langmütigkeit" (1 QS IV, 3—5) werden von jedem Gemeindemitglied gefordert. Demut bedeutet Ausdruck vollkommener Nächstenliebe und Selbstverleugnung. Das „Ewige Gute" (tob 'diamim), das „reiche Erbarmen" (rob rahamim), Langmut ('eräk 'apajtm) und der „Geist der Demut" (rüah '"nawah) gehen einher mit „Klugheit und Weisheit", mit „gewaltiger Einsicht". Sie führen zum Gottesvertrauen (1 QS IV, 3 ff). Wie in den Reden der Propheten ist auch hier der Arme ('ani oder'äbjön) der Gerechte. Gott wird ihn vor den Bedrückungen des Gottlosen retten (1 Q H V,13ff). Die „Demütigen im Geiste" ('anwe rüah) sind „Männer der Wahrheit" ('anse 'ämät). Wie ein Knecht, mit Demut und Unterwürfigkeit, soll man dem Tyrannen begegnen (1 QS IX,22 ff). „In Demut den Hochfahrenden erwidern . . . (sich) mit zerknirschtem Geiste den Bedrückern (nähern), die mit dem Finger deuten, Nichtiges sprechen und Besitz raffen . . . " , lautet die Forderung nach völliger Selbstentsagung (1 QS XI,1). 3. Talmud und

Midrasch

Gelehrsamkeit und Weisheit bilden neben Demut und Gottesfurcht die Hauptattribute des Frommen oder des Gerechten. Gottesfurcht und Demut (jir'ah und '"nawah) gehören zu den 48 Tugenden, durch die man die Torah erwerben kann (mAv 6,5). Dem frommen Gesetzeslehrer, der sich so niedrig macht wie die Steppe und sich von jedem zertreten läßt, wird die Lehre zuteil (bEr 54a). Der „Fromme" ist auch „demütig". Hillel war fromm (hasid) und „demütig" ('anaw) (bSan I I a ) . Demut führt zur Erniedrigung. Gott liebt den, der sich selbst erniedrigt (maspil 'ät 'azmo, bEr 13 b). Die Gerechten demütigen sich vor Gott: Abraham („ich bin Staub und Asche", Gen 18,27), Mose und Aaron („wer sind wir", Ex 22,6) und David („ich bin ein Wurm und kein M a n n " , Ps 22,6); darum werden sie von Gott geliebt, wurde ihnen Größe verliehen (bHul 89a). Die Tugenden, durch die sich der Mensch die Liebe Gottes erwirbt, beinhalten vor allem Demut. Es werden u. a. aufgezählt Brüderlichkeit, Gottesfurcht, Unterwürfigkeit (s'fal bäräk), Demut ('"nawah), Genügsamkeit (me'at sehorah), Herzensgüte, Anstand (däräk äräz) (SER 83). Derjenige, der sich klein macht (maqtin 'azmo), den irdischen Eitelkeiten entsagt, sich zum Sklaven der Gesetzeslehre macht, wird in der kommenden Welt ein freier Mann sein (bBM 85 b). Wie auf einer Stufenleiter gelangt der Mensch auf dem Wege zur Vollkommenheit von Tugend zu Tugend. R. Pinchas b. Jair stellt die Frömmigkeit auf eine höhere Stufe als die Demut; dem widerspricht R. Josua b. Levi: erst durch die Frömmigkeit könne der Mensch zur Demut gelangen(bAZ 20b).

Demut DI

463

Auch Gott übt Demut. In Anlehnung an Ps 18,36 („deine Demut macht mich groß") wird die Frage gestellt: „Gibt es eine größere Demut als die Gottes?" (TanB Ber 4). Gottes Demut ist Ausdruck seiner Menschenliebe. Der irdische Lehrer - so die Haggada — läßt seine Schüler vorausgehen, nicht so Gott: Er kam den Engeln zuvor als Er diese aussandte, Abraham zu besuchen (Gen 18,1, ebd.). Gott läßt sich herab (steigt herunter), um dem Menschen ein Beispiel zu geben. Daher „stieg er herab um zu sehen" (Gen 11,5). Auch der irdische Richter soll sich vom Augenschein überzeugen, bevor er sein Urteil spricht (Midr. T. Noah 18). 4.

Mittelalter

Demut und Gottesfurcht sind die Grundelemente der jüdischen Morallehre im Mittelalter. Mose b. Nachman sieht in ihnen die Voraussetzung für die Erkenntnis der Allmacht und Allgegenwart Gottes (Igeret Musar). D i e n a w a h hält die Sünde fern, sichert dem Menschen die kommende Welt. Der Stolze erhebt sich wider Gott, der Gottesfürchtige bezwingt den Stolz. Den Demütigen erkennt man an seinem Verhalten. Er spricht mit Gelassenheit, sein Kopf ist stets geneigt, seine Augen niedergeschlagen, doch sein Herz wendet sich nach oben. Für die bedrängten Gemeinden Deutschlands nach dem zweiten Kreuzzug wurde der „Fromme" (Hasid) zum Idealbild gottesfürchtiger Lebensweise. Im Sefär H"sidim wird von dem Hasid Klugheit, Weisheit, eine gutwillige Seele ohne Zorn (näfäs razon lc 16 ka'as) verlangt (Ausg. Parma S. 8, Nr. 944); der Fromme soll den Spott seiner Mitmenschen nicht beachten (ebd. Nr. 82), er „soll sich über sich selbst erheben", das Böse, das man ihm antut, nicht vergelten (487, Nr. 1579), soll Josef, der seinen Brüdern verzieh, nacheifern (ebd.). Der Fromme unterzieht sich schwerster —»Askese, um die Sünden der Mitmenschen zu sühnen, der Gottesknecht Jesajas (Jes 53) dient ihm als Vorbild (381, Nr. 1556). Um seine Gottesfurcht unter Beweis zu stellen, muß er stets für die schwerste Versuchung für „die Heiligung Seines Namens" zu sterben bereit sein (82, Nr. 263). Der Fromme erträgt alle Beleidigungen, er weiß, daß es seine Demut ist, die ihn zum Gespött macht (60, Nr. 120). —>Bachja Ibn Paquda widmet in seinen Pflichten des Herzens einen Hauptabschnitt der Demut (bei ihm k'ni'ah, eher „Unterwürfigkeit"). Keni'ah bedeutet Niedergeschlagenheit und „Gebeugtheit der Seele" (siflut ha näfäs), Geringschätzung ihres Wertes (mi'ut 'ärkah), sie ist die höchste aller Tugenden (Kap. 1). Schicksalsschläge (Krankheit, Verarmung, Drangsal) machen die keni'ah notwendig (Kap. III). Nicht nur Demut vor Gott, sondern auch vor den Menschen prägt das Leben des Gottesfürchtigen (Kap. IV). Von der Erkenntnis der Größe Gottes, über das Gesetzesstudium, gelangt man zur k'ni'ah (Kap. 6). Der Verfasser stellt zehn Regeln für das Leben des „Demütigen" (niknah) auf. Das Verhältnis „Herr" (Gott) - „Knecht" (der Demütige, der Fromme) wird auf das Verhältnis „Mensch — Mensch" übertragen und somit zum Ausdruck wahrer Frömmigkeit und Gottesfurcht (Kap. 8). Fähigkeit und Nichtachtung aller irdischen Werte, die Freiheit, Gott allein zu dienen, die Liebe und der Segen Gottes, gehören zu dem „Nutzen" (to'elet) der Demut in dieser und in der kommenden Welt (Kap. 10). Quellen und Literatur Bachja ibn Paquda, Höböt ha lebaböt (Pflichten des Herzens), hg. u. übers, v. M. E. Stern, Wien 1856. - Peter Kuhn, Gottes Selbsterniedrigung in der Theol. der Rabbinen, München 1968. - Das Buch der Frommen (Sefär H"sidim), Rez. in Cod. de Rossi No. 1133, hg. v. J. Wistinetzki/J. Freimann, Frankfurt, M. 1924. - C. G. Montefiore/H. Loewe (Hg.), A Rabbinic Anthology, New York 1963. - Kitve Moses ben Nachman, Jerusalem, I 1964, 3 7 2 - 3 7 6 .

Marianne Awerbuch

III. Neues Testament sten

1. Der sprachliche Befund (Literatur S. 468)

2. Zum Begriff

3. Die Demut Jesu Christi

4. Die Demut der Chri-

464

Demut III

1. Der sprachliche

Befund

Die Wortgruppe raneiv- k o m m t im Neuen Testament recht häufig vor (s. Rehrl 1 7 3 - 1 9 0 ) , darunter 8 mal als TCLTieivög [demütig], so im M a g n i f i k a t L k 1 , 5 2 : „ H e r a b stürzt er Gewalthaber von T h r o n e n und erhöht Niedrige" (ijipwoEV rajieivovg) im Anklang an Ps 1 4 7 , 6 ; Hi 5 , 1 1 ; I Sam 2 , 6 - 1 0 . Gemeint sind die sozial Niedrigen. Vgl. R o m 1 2 , 1 6 und I P e t r 5 , 5 zusammen mit dem Herrenwort M t 1 1 , 2 9 „ . . . denn ich bin sanft und demütig von H e r z e n " . - 7 m a l findet sich raniivoqjgoavvt] [Demut]; davon 2 mal in negativer, 5 mal in positiver Bedeutung, so besonders Phil 2 , 3 : „In D e m u t achte jeder den anderen höher als sich selbst". Sehr wichtigKurEivoüveaDröv [sich selbst erniedrigen, demütigen]: M t 1 8 , 4 : „ W e r sich demütigt wie dieses Kind, ist der Größte im H i m m e l r e i c h " und M t 2 3 , 1 2 : „ D e n n wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht w e r d e n " . Und von Christus ausgesagt, Phil 2 , 8 : „in der (äußeren) Erscheinung als M e n s c h erfunden, erniedrigte er (demütigte er) sich selbst". Der folgende Überblick orientiert sich nicht ausschließlich am V o r k o m m e n des Wortes bzw. der Wortgruppe raneiv(s. dazu bes. Grundmann 15 ff), sondern versucht, über das rein Sprachliche hinaus das Phänomen der Demut insgesamt in den Blick zu bekommen.

2. Zum

Begriff

Es wurde bereits oft festgestellt, daß das griechische Wort rajretvog und seine Ableitungen in der Profangräzität in erster Linie mit einer negativen Konnotation versehen sind (vgl. Zorell 1 2 9 9 f ; Cremer/Kögel 1 0 4 1 - 1 0 4 4 ; Hastings372; Liddell/Scott 1756f; Grundmann 1 - 5 ) . Hier hat der Begriff fast immer den Sinn „sich wegwerfen, preisgeben, sklavisch denken und handeln". Im Alten Testament (s. o. Abschn. I), der Septuaginta und im Neuen Testament kommt diese Wortgruppe hingegen fast nur in positiver Bedeutung vor; sie beschreibt eine Gesinnung, eine Haltung oder ein Tun, das von dem Frommen verlangt wird, und zwar in seinem Verhältnis zu Gott ebenso wie auch zu den Mitmenschen (vgl. Rehrl 1 4 7 - 1 7 2 . 1 7 3 - 1 9 6 ) , mithin also eine Tugend. 3. Die Demut Jesu

Christi

Es geht im Neuen Testament um die Demut Jesu Christi und um die Demut der Christen. Auszugehen ist von der Person —* Jesu Christi und seinem Sohnesverhältnis zu Gott. So kennen wir ihn aus seinen eigenen Worten wie auch aus dem Zeugnis der Evangelien und der neutestamentlichen Briefe. Sein innerstes Geheimnis ist die Liebe zum Vater, liebende Ehrfurcht und bedingungsloser Gehorsam (Joh 4,34) bei gleichzeitigem Bewußtsein, aufs innigste mit dem Vater verbunden zu sein. So sieht ihn auch der Philipperhymnus (Phil 2,6—11), der uns den Zugang zur Demut Jesu eröffnet: „Er, der in göttlicher Gestalt war, nahm es nicht als einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an und wurde gleich einem jeden Menschen Er erniedrigte sich selbst und war gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Deshalb hat ihn Gott auch e r h ö h t . . . " {¿zandvojacv — vjiegvipajoev). Die Demut Jesu besteht also darin, daß er auf ein Erscheinen in der Gestalt des Gottgleichen oder des Sohnes Gottes verzichtete. Er verzichtete auf ein Erscheinen in göttlicher Macht und Herrlichkeit, wie er es seinem inneren Sein nach zu Recht hätte verlangen können (vgl. dazu Rehrl 17—22). Die Demut Jesu geht dabei über die „einfache" Demut hinaus, die nur den „Stolz" bricht und insofern als „Wahrheit" bezeichnet werden kann (wie es später auch Augustin tut, s. Schaffner 212), weil ein in dieser Weise Demütiger nichtrae^r an Ehre, Geltung, Hoheit beansprucht als ihm kraft seines Seins und seiner Stellung vor Gott und den Menschen zukommt. Es handelt sich hier vielmehr um den freiwilligen Verzicht auf Ehre, Geltung und Anerkanntsein, soweit dieser Selbstverzicht im Dienste Gottes und im Dienst des Menschen steht. So erscheint denn Jesus auch nicht als Herr und Meister, sondern als der Diener aller Menschen. Getragen ist dieser Selbstverzicht Jesu von ehrfürchtiger, gehorsamer Liebe zu Gott, seinem Vater, und zu den Menschen, die auch den Geringsten zu seinem Bruder macht. Diese Sicht der Demut Jesu wird deutlich durch eine Zusammenschau von z. B.Phil l - 2 u n d Joh 1 3 , w o a u f V . l („Da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis zum Ende" [e/g zsXog]) die Erzählung der Fußwaschung folgt mit der an-

465

Demut IV

schließenden Gegenüberstellung von xvgiog/öiödoxaÄog einerseits und öovXog andererseits ( 1 3 , 1 3 - 1 7 ) . - Jesu Demut erscheint also als eine stets tatbereite Haltung und Gesinnung, die ihn - motiviert durch die Liebe zu Gott und den Menschen — dazu bewegt, auf göttliche Ehre und Geltung vor den Menschen zu verzichten, damit er sein Erlösungswerk vollbringen kann. Demut ist also das Moment des Selbstverzichts, das jeder Liebe eigen ist, besonders jener Liebe, die bereit ist zu sterben, um zu retten, was verloren war (Lk 1 9 , 1 0 ) . 4. Die Demut der

Christen

Paulus verlangt von den Christen dieselbe Gesinnung in Sachen Demut, die Jesus ausgezeichnet hat: „Seid so gesinnt, wie Jesus Christus auch w a r " (Phil 2 , 5 ) , womit er auf die —»Nachfolge Jesu abheben will. Einmal verlangt Paulus Demut vor Gott: „Was hast du, was du nicht empfangen hast? Und wenn du es empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?" (I Kor 4,7), ein andermal gegenüber dem Bruder: „In Demut achte einer den anderen höher als sich selbst" (Phil 2,3). Aus dieser Gesinnung heraus wird der Einzelne erst fähig zum Dienen aus Liebe (Phil 2,1—5). Auch hierin folgt der Christ seinem Herrn, der nicht gekommen ist, „bedient zu werden, sondern zu dienen" (Mt 2 0 , 2 8 ) . Wie schon Jesu Liebe „Bruderliebe" und „Freundesliebe" (vgl. J o h 1 3 - 1 7 ) war und er überhaupt erst den „ M u t zum Dienen" in die Welt gebracht hat, so geht es auch den Jüngern Jesu um den Dienst am Menschen aus einer Haltung und Gesinnung heraus, die bereit ist, bei solchem Dienen jegliche Art der Selbsterniedrigung - bis hin zur Trennung von Christus — geduldig zu ertragen, wenn nur der Bruder dadurch gerettet werden kann (vgl. R o m 9,3). Bei Paulus findet diese Sicht wiederholt ihren Ausdruck, man denke nur an die Argumentation in II Kor 10—13 (—»Korintherbriefe).- Diese Haltung des weitgehenden Selbstverzichtes aus Liebe ist jedoch weit davon entfernt, sich selbst zu verachten oder gar wegzuwerfen. Sie kann sogar auf die eigene Würde und Stellung pochen (vgl. I Kor 9). D a ß der Jünger Jesu dann, wenn er Verkannt- und Verachtetwerden willig auf sich nimmt, sich von Gott nicht ungerecht behandelt weiß, weil er sich seiner eigenen Ohnmacht und Sündhaftigkeit und seiner Irrtumsfähigkeit bewußt bleibt, gehört in die Gesamthaltung dieses Demütigen hinein. Sie macht aber nicht ihr Wesen aus. Dieses besteht vielmehr in der aktiven Fähigkeit, „sich selbst hintan zu setzen" — soweit und sofern solche Hintansetzung und solches ertragene Hintangesetztwerden im Dienste Gottes und im Dienste des Nächsten (Menschen) erlaubt, weil förderlich ist. (Literatur S . 4 6 8 ) Stefan Rehrl IV. Alte Kirche 1. Nachapostolische Zeit (Literatur S . 4 6 8 )

1. Nachapostolische

2 . Orígenes

3 . Augustin

4. Mönchtum

5 . Zusammenfassung

Zeit

In der Literatur dieser Zeit wirkt das biblische Demutsverständnis nach, ohne daß es einschneidend variiert oder vertieft worden wäre (zum sprachlichen Befund vgl. Grundmann 2 5 ff). „Vielfach ist Demut nichts anderes als Vermeidung des Hochmutes, insbesondere des geistlichen Hochmutes der Propheten und Asketen" (Dihle 7 5 3 unter Berufung auf IgnPol 5 , 2 ; I Clem 13,1; 3 7 , 2 ; Herrn vis 3 , 1 0 , 6 ) . Ebenso bedeutet es oft auch nicht mehr als „Gemeinschafthalten mit den A r m e n " (Did 3 , 9 ; I Clem 3 0 , 1 f). A. Dihle faßt seinen Demutsbegriff etwas zu eng, wenn er die - » T u g e n d der Demut nur dort entstehen sieht, wo man „den Menschen schlechthin als niedrig, als um Gnade bittenden Sünder versteht" ( 7 4 1 ) oder sie „als freiwillige Selbsterniedrigung" ( 7 4 3 ) faßt. D a m i t verbaut er sich den W e g zu einer positiveren Beurteilung der Griechen und ihrer Religion ( 7 3 7 . 7 4 2 ; vgl. dagegen Rehrl 8 1 - 1 4 6 . 1 9 6 - 2 0 3 ; Schaffner 3 7 - 4 2 ; Trench 8 4 f ) . Dihle meint, d a ß „ n o c h im apostolischen Zeitalter . . . die Einfügung der Demut in ein System christlicher T u g e n d e n " beginne ( 7 5 2 ) , was auch die T u gendkataloge bewiesen (vgl. Vögtle). Nicht zustimmen wird man ihm allerdings darin, daß durch eine solche Zusammenstellung „aus der eschatologisch begründeten Demut das Kerygma ein Bestandteil in-

466

Demut IV

nerweltlicher Ethik, eine reine Verhaltensvorschrift w i r d " ( 7 5 2 ) , weil weder das Demutsverständnis Jesu n o c h das des Paulus in dem M a ß e eschatologisch geprägt sind, wie Dihle dies vorauszusetzen scheint (vgl. M t 1 1 , 2 9 f ; 2 0 , 2 8 ; L k 2 2 , 5 6 ; J o h 1 3 , 1 - 7 ; Phil 2 , 5 - 1 1 ) . Ersteres lebt aus der Erlöserliebe Jesu den Menschen gegenüber, letzteres sieht die Liebe zu Christus und den Brüdern als M o t i v der Dem u t an ( R o m 1 2 , 9 - 2 1 ; Eph 4 , 2 f; I K o r 1 3 , 4 - 7 ; I Petr 3 , 8 ) . - U n d eben weil die D e m u t schon im N e u e n T e s t a m e n t als Tugend verstanden ist, kann diese Sicht leicht eine Verbindung mit vergleichbaren H a l tungen der griechisch-römischen U m w e l t eingehen.

2. —*Origenes Orígenes sieht sich dem Vorwurf des Celsus konfrontiert, daß die Christen aus der richtigen Demut Piatons (Leg. IV,716ff) eine unwürdige und schmutzige gemacht hätten (Orígenes, Cels. 6,15). In bezug auf manche Formen der christlichen Selbsterniedrigung und Kasteiung (tCLJIELVOVV éavróv) stimmt ihm Orígenes durchaus zu (gemeint sind besonders extreme Formen der —»Askese und der —»Buße), sieht jedoch „die Wurzel der Erlösung" in der Demut Christi (comm. in Jo. 28,19). Falsche Demut gilt ihm als Unterwerfung unter die Sünde, wahre Demut als Unterwerfung unter Gott (hom. in Jos. 5). Orígenes setzt sich mit den Stoikern (—>Stoa/Stoizismus) auseinander; mit Hilfe seiner allegorischen Exegese kann er in der Interpretation von Lk 1,48 die Demut —>Marias mit den vier platonischen Haupttugenden identifizieren, wie auch mit der ázvcpCa, der fiergiórr/g und der ájiádeia der griechisch-philosophischen Ethik, wie er auch in Piatons „demütigem Gehorsam gegen die Dike" und in dessen Lehre vom „Gottähnlichwerden" die imitatio Christi erblickt (Dihle 755). Entscheidend aber ist die Antithetik Demut/Hochmut: Wie der Hochmut die Wurzel aller Sünde ist (hom. 9 in Ezech. 2), so ist die Demut die Wurzel aller Tugend. Die Demut ist also die universalste Tugend, wie auch die Demut Christi Wurzel der Erlösung der Menschen ist. Damit ist jedoch die Demut „aus der Liebe herausgefallen" und eine selbständige Größe geworden, die nicht mehr das Moment des Selbstverzichtes, wie es in Joh 13 zum Ausdruck kommt, schildert. Demut ist so verstanden als freiwillige Selbsterniedrigung in äußeren Werken der Buße und in der inneren Gesinnung des Sich-Geringachtens, wenn nicht gar des Sich-Verachtens. Damit ist die Grundtugend des Mönchtums geboren (s. u. Abschn. 4). Orígenes ist für die Entwicklung des Demutsverständnisses in der Folgezeit von großem Einfluß gewesen (vgl. Dihle 761.762f mit Belegen). 3. —»Augustin Für Augustin wird die Antithetik von Hochmut und Demut zur grundlegenden Aussage über die vita christiana. Die Demut Christi ist demnach das Neue, ohne Analogien in der griechischen Philosophie (vgl. Schaffner 55.60ff.84f). Zwar ist die vollkommenste Haltung, zu der der Mensch durch Gottes Gnade befähigt ist, die Liebe (Schaffner 64f), und alle selbsterworbenen und nicht von Gott stammenden Tugenden sind eher den Lastern zuzurechnen (vgl. Schaffner 64f). Die Tugenden sind allein als von Gott geschenkte echte vtrtutes (De civ. Dei 19,25 u.ö.). So definiert Augustin die virtus als ordo amoris (ebd. 15,22), und auch die Kardinaltugenden sind „Auseinanderlegung und Entfaltung der einen großen Gottesliebe" (Schaffner 66; vgl. Mor. eccl. 15,25). Obgleich Augustin jedes Tun und Wollen des Menschen in der von Gott geschenkten Liebe (caritas) zentriert, verfällt er nicht in einen Tugendmonismus. Hier in diesem Leben hat man nicht schon durch den Erwerb einer Tugend alle anderen; erst im seligen Leben wird es nur mehr die eine Tugend der Liebe geben (vgl. Gen. litt. 12,26,54). Der Mensch muß sich alles von Gott schenken lassen, und er vermag nichts aus eigener Kraft. Diese paulinische Grunderfahrung (vgl. I Kor 15,10; Gal 2,20) bestimmt auch den Lebensweg Augustins, wie er ihn in den Confessiones schildert (vgl. dazu Schaffner 67). — Die Bekämpfung des Stolzes also, die Erringung der Demut ist für den irdischen Lebensweg der Christen das zentrale Thema bei Augustin. Deshalb kann er alle, die „ein großes Gebäude aufführen wollen", auffordern, zuerst einmal auf das Fundament der Demut zu reflektieren (Serm. 69,1,2; vgl. 117,10,77). Diese Demut muß man von Christus lernen, dem fundamentum und doctor humilitatis, wobei Augustin sich immer wieder auf Phil 2,5 ff bezieht. Ihr Lehrmeister ist der Christus humilis, der Dens humilis. So wird ihm die

Demut IV

467

Demut, die „Beschützerin der Jungfräulichkeit", „beinahe zur ganzen Christlichkeit" (humilitas, quae pene una disciplina est, Tract. J o . 3,2). Es ist dem Christen darum angeraten, sich aus Liebe zum unveränderlichen Gott selbst zu vergessen oder sich ganz und gar (petiitus) im Vergleich mit Gott zu verachten (contemnite; vgl. Lib. 3 , 2 5 , 7 6 ) . Derart starke Ausdrücke müssen allerdings im Zusammenhang mit der gnadenvollen Erhebung der Menschen zur Würde der Gotteskinder gesehen werden, wenn nicht Augustins Lehre von der Demut mißverstanden werden soll (vgl. Schaffner 6 9 - 7 2 ) . Die Demut ist bei Augustin Anfang, Weg und Ende jeder —»Bekehrung, d. h. aller Hinwendung des Menschen zu Gott. Sie ist die universalste aller Tugenden, die aber zu wenig als M o m e n t der „selbstlosen" Gottes- und Nächstenliebe gesehen wird (vgl. Schaffner 2 5 7 f . 2 7 1 — 2 7 4 zum Verhältnis von Demut und Liebe bei Augustin). Augustin weiß, daß die Liebe Gottes bis zur Selbstvergessenheit geht (so Schaffner; vgl. De civ. Dei 1 4 , 2 8 ) , aber es ist nicht zu leugnen, daß die Demut geradezu die Voraussetzung der Liebe ist (vgl. Tr. in ep. loh. 1,6) und nicht so sehr im „ M o m e n t " der Liebe liegt. Denn auch der Weg der Gottesfurcht steigt von der Demut zur Höhe empor (de civ. Dei 2,7). Man kann also die Demut im Sinne Augustins als die „Mutter aller Tugenden" bezeichnen, wie sie —»Johannes Chrysostomus vor ihm genannt hat (hom. 3 0 in Act. 3). Weiter hat Pseudo-Athanasius die Demut „als die schönste und beste aller Tugenden, die das sicherste Fundament abgibt für die Vollendung der Tugend überhaupt", bezeichnet (v. Syncl. 5 9 ) ; —»Basilius von Caesarea spricht sie als „Elementartugend" an (renunt. 9), bei —»Pelagius ist sie die „Bewahrerin und Hüterin der Tugenden" (Ep. ad Celantiam 2 0 [ C S E L 2 9 , 4 5 1 ] ) , bei —»Cassianus gilt sie als „Lehrmeisterin aller Tugenden und sicherstes Fundament des himmlischen Baues, ein besonderes und hervorragendes Geschöpf des Erlösers" (Coli. 15,7,2). In den Apophthegmata Patrum (De matre Theodora 6 [PG 6 5 , 2 0 4 ] ; —»Mönchtum) bekennen die Dämonen, daß sie durch nichts besiegt werden als durch Demut; auch für ^ A m b r o s i u s gibt es nichts Höheres als die Demut (Luc. 8 , 4 0 ; vgl. Schaffner 8 6 - 8 9 ) . 4.

Mönchtum

Von diesem Verständnis der Demut als Lehrmeisterin, Mutter, Fundament, Hüterin aller Tugenden, vor allem auch der Liebe, ist die —»Benediktusregel geprägt, wonach sich das christliche Leben des Mönches in 12 Stufen entfaltet. Obgleich —»Benedikt von Nursia als erste Stufe der Demut die Gottesfurcht und das Eingedenksein der Gebote Gottes nennt, so sind doch die einzelnen Grade nicht als aus Gottes- und Nächstenliebe hervorgehend dargestellt. Sich gehorsam dem Vorgesetzten zu unterwerfen und in schwierigen Dingen geduldig zu sein; seine Sünden zu bekennen; zu glauben und zu bekennen, daß man für alles unwürdig und unnütz sei und daß man allen anderen gegenüber der Wohlfeilere sei usw., mag im Mönchsleben gut sein, von der Demut des Neuen Testaments ist es weit entfernt (vgl. weiter Dihle 7 6 5 — 7 7 6 ) . Zwar beginnt bei Benedikt die Demut mit der Gottesfurcht und führt hin zur Gottesliebe, die die Furcht nicht kennt. Schon bei Pachomius aber wird als vornehmster Ausdruck der Demut der „Gehorsam gegenüber dem O b e r e n " verstanden (praec. et reg. 3 [Boon]; Basilius, ascet. 1,3). Und „stärker als anderswo bleibt im Mönchtum die Verbindung mit der Buße lebendig" (Dihle 7 6 8 ) . Mönchsleben ist Demutsleben (ebd.). 5.

Zusammenfassung

Eine einheitliche Demutsauffassung gibt es in der Zeit der Alten Kirche nicht. Erst Origenes erlangt mit seiner Demutsauffassung weiterreichende Bedeutung. Augustin hat zweifellos am stärksten über die Demut reflektiert, ohne sie einem System von Tugenden einzuordnen. Überall wird die Demut als Tugend, wenn nicht gar als die „größte", als Lehrmeisterin, Mutter, Fundament aller Tugenden, aufgefaßt. Sie erscheint weitgehend losgelöst von ihrem neutestamentlichen Kontext (s.o. Abschn. III) und wird weniger als das M o m e n t des Selbstverzichts verstanden, das in jeder „selbstlosen" Gottes- und Nächstenliebe enthalten ist, die diesem erst M a ß , Grenze, Halt und Sinn gibt. (Weiteres —»Ethik)

468

Demut V

Literatur Felix Böhl, Die Demut ('nwh) als höchste der Tugenden. Bemerkungen zu Mt 5,3.5: BZ NF 20 (1976) 2 1 7 - 2 2 3 . - S . Carlson,The Virtueof Humility, Dubuque 1 9 5 3 . - H e r m a n n Cremer/Julius Kögel, Bibl.-theol. Wb. der ntl. Gräcität, Gotha 10 1915. - Albrecht Dihle, Art. Demut: RAC 3 (1957) 735 — 778. - Fred Owens Francis, A Reexamination of the Colossian Controversy, Diss. Yale Univ. 1965, 2 8 - 3 8 . - Leonhard Gilen, Die Demut des Christen nach dem NT: ZAM 13 (1938) 2 6 6 - 2 8 4 . Walter Grundmann, Art. zaneivogpcrX.: ThWNT 8 (1969) 1 - 2 7 . - A. v. Harnack, „Sanftmut, Huldu. Demut" in der alten Kirche: FG Julius Kaftan, Tübingen 1 9 2 0 , 1 1 3 - 1 2 9 . - J a m e s Hastings, Dictionary of the Bible, Edinburgh 1909, 372,1. - Ragnar Leivestad, TAI1EINOZ - TATIEINO&PQN: NT 8 (1966) 3 6 - 4 7 . - Henry George Liddell/Robert Scott, A Greek-English Lexicon, Oxford 9 1958. - Peter Ott, Die Umgestaltung in Christus, Einsiedeln/Köln 1940, 1 1 1 - 1 3 7 . - PGL, s. v. rcuiEivocpQOavvt]lxaneLv6cf>Q(av. - Matthias Premm, Von christl. Demut: ThPQ 99 (1940) 1 7 7 - 1 8 4 . - Stefan Rehrl, Das Problem der Demut in der Profan-Griech. Lit. im Vergleich zu Septuaginta u. NT, Münster 1961. - Otto Schaffner, Christi. Demut. Des Hl. Augustinus Lehre v. der Humilitas, 1959 (Cass. 17). Eduard Schweizer, Erniedrigung u. Erhöhung bei Jesus u. seinen Nachfolgern, 2 1962 (AThANT 28). Karl Thieme, Die christl. Demut. I. Wortgesch. u. Demut bei Jesus, Gießen 1906. — Anton Vögtle, Die Tugend- u. Lasterkat. im NT, 1936 (NTA 16/4.5). - Siegfried Wibbing, Die Tugend- u. Lasterkat. im NT, 1959 (BZNW 25). - Franz Zorell, Lexicon Graecum Novi Testamenti, Paris 1931. Stefan Rehrl

V. Mittelalter 1. Bernhard von Clairvaux 2. Franz von Assisi und Bonaventura 3. Thomas von Aquin 4. Johannes Tauler 5. Thomas a Kempis, Ludolf von Sachsen und Gabriel Biel (Devotio modema) 6. Johannes Gerson 7. Johann von Paltz und Johannes von Staupitz (Quellen/Literatur S.482). Das mittelalterliche D e m u t s v e r s t ä n d n i s orientiert sich einerseits an A u g u s t i n u n d andererseits a n der m o n a s t i s c h e n T r a d i t i o n . Im A n s c h l u ß a n —»Augustin ist die D e m u t Christi G r u n d der Erlösung u n d zugleich V o r b i l d d e r N a c h f o l g e (—»Nachfolge Jesu). In dieser ist die D e m u t d e r G l a u b e n d e n die W u r z e l aller —»Tugenden, die den H o c h m u t als U r s a c h e aller Laster ausschließt. Dabei w i r d sie als auf den G n a d e n e m p f a n g disponierender B u ß a k t oder teilweise auch zugleich — als A u s d r u c k der eingegossenen —»Gnade v e r s t a n d e n . Im Anschluß an das monastische Demutsverständnis, wie es u . a . im 7 . K a p . der —»Benediktusregel z u m A u s d r u c k k o m m t (s.o. A b s c h n . IV.4), w i r d die D e m u t als ein P u r g a t i o n s w e g beschrieben, der auf m e h r e r e n Stufen inneren u n d ä u ß e r e n Verhaltens zur E r k e n n t n i s d e r W a h r h e i t u n d z u m E m p f a n g der G n a d e f ü h r t . Speziell k a n n sie dabei als V o r w e g n a h m e des eschatologischen Gerichtes im Selbstgericht der —»Buße (nach I K o r 11,31) begriffen w e r d e n . 1. —>Bernhard von

Clairvaux

Das m o n a s t i s c h e D e m u t s v e r s t ä n d n i s findet im A n s c h l u ß an —»Benedikt von N u r s i a eine u m f a s s e n d e Auslegung in B e r n h a r d s T r a k t a t De gradibus humilitatis et superbiae (III, 13—59). B e r n h a r d versteht die D e m u t als T u g e n d der Selbsterkenntnis u n d Selbsterniedrig u n g in der W a h r h e i t , die den M e n s c h e n auf den E m p f a n g der h e i l i g m a c h e n d e n G n a d e (Caritas) u n d zur mystischen Wesensschau Gottes disponiert. „Humilitatis vero talis potest esse definitio: humilitas est virtus, qua homo verissima sui cognitione sibi ipse vilescit" [Von der D e m u t k a n n in d e r T a t eine solche Definition gegeben w e r d e n : Die D e m u t ist eine T u g e n d , d u r c h die der M e n s c h sich d u r c h die w a h r h a f t i g s t e Selbsterkenntnis wertlos w i r d ] (a.a.O. c . l , n.2.). Ziel der D e m u t ist die W a h r h e i t . Die D e m u t selbst ist die erste Stufe auf dem W e g zur W a h r h e i t . Sie d i s p o n i e r t z u m E m p f a n g der Caritas als der zweiten W a h r h e i t s s t u f e , auf der der M e n s c h den N ä c h s t e n in seiner Niedrigkeit selbstlos liebt. So schreitet er zugleich zur dritten W a h r h e i t s s t u f e vor, d . h . zur contemplatio der W a h r h e i t Gottes selbst (a.a.O. 3 , 6 ) . Auf der ersten Stufe w i r k t der S o h n , auf der zweiten der Heilige Geist, auf der dritten der Vater selbst ( a . a . O . 7 , 2 0 ) . D e r Sohn ist auf der ersten Stufe das w a h r e V o r b i l d der D e m u t (ebd.) u n d w ä h l t in d e r Selbsterkenntnis der D e m u t die —»Vernunft zu seiner Stellvertreterin, „ s o d a ß sie a u s E h r f u r c h t vor d e m (inneren) W o r t e , mit d e m sie innig v e r b u n d e n ist, als ihre eigene Anklägerin, Zeugin u n d Richterin gegen sich selbst das A m t der W a h r h e i t versieht. Aus

Demut V

469

dieser ersten Vereinigung des Wortes mit der Vernunft entsteht die Demut" (a.a.O. 7 , 2 1 ) . Im einzelnen gliedert sich die erste Wahrheitsstufe der Demut im Anschluß an Benedikt von Nursia in zwölf Grade. Die beiden ersten zielen darauf, sich in der Furcht Gottes vor jeder Sünde zu hüten und den eigenen Willen nicht zu lieben. Sie können noch außerhalb des Klosters stattfinden. Im Kloster (—»Mönchtum) regeln die nächsten vier Grade das Leben des Mönches gegenüber seinem Vorgesetzten. Sie umfassen den Gehorsam gegenüber dem Prior, das Bekenntnis der Sünden und die auf eigene Wertlosigkeit, Unwürdigkeit und Nichtigkeit zielende Selbstverurteilung. Die folgenden sechs Grade gelten dem Leben in der monastischen Gemeinschaft und dem demütigen Verhalten des Mönches bis in die körperlichen Gebärden hinein (a.a.O. introd.). Indem der Mönch diese Grade der Demut erklimmt, reinigt er seine Seele für den Empfang der Caritas und contemplatio und vollzieht zugleich in der Selbstverurteilung der Buße eine Vorwegnahme des eschatologischen Strafgerichtes Gottes (nach I Kor 11,31). Doch hat diese Antizipation des Endgerichtes die Gestalt der Hoffnung, nicht der Gewißheit, da vor Gott niemand außer Christus gerechtgesprochen wird. Alle menschliche Gerechtigkeit bleibt befleckt und bedarf zusätzlich der Reinigung durch das Verdienst Christi (Schwarz 101). Den daraus entspringenden rigoristischen Ernst der Demut auf der ersten Wahrheitsstufe kann Bernhard dadurch abmildern, daß er auch eine Demut auf der zweiten Wahrheitsstufe lehrt. Diese Demut entspringt der Liebe und erlaubt die freie Identifizierung mit der Selbsterkenntnis und Selbsterniedrigung auf der ersten Wahrheitsstufe. Denn die Liebe treibt die Furcht aus (Cant., Sermo 42,4,6). Doch bildet dieser Gesichtspunkt eine Ausnahme. Vornehmlich versteht Bernhard die Demut als auf den Empfang der Caritas und contemplatio disponierenden Bußakt auf der ersten Wahrheitsstufe. Ein ähnliches Demutsverständnis zeigt sich auch in den pseudoanselmischen Schriften De similitudinibus (PL 159, 6 0 6 - 7 0 8 ) und De mensuratione crucis (PL 159, 2 9 0 - 3 0 2 ) . 2. Franz von Assisi und

Bonaventura

Das monastische Demutsideal wurde am Übergang vom 12. zum 13. Jh. mit intensivem Leben erfüllt durch —>Franciscus von Assisi und den von ihm gegründeten Orden der —•Franziskaner. Franz von Assisi erneuerte das Ideal der —»Armut und nannte die Demut eine Schwester derselben. Demut und Armut charakterisieren das Selbstverständnis der Franziskaner. Sie „sollen nichts zu eigen haben . . . und als Pilger und Fremdlinge auf dieser Welt (I Petr 2,11) sollen sie dem Herrn in Armut und Demut dienen und vertrauensvoll um Almosen bitten gehen, ohne sich dabei zu schämen, weil der Herr sich unsertwegen auf dieser Welt arm gemacht h a t " (v. Balthasar 263). In dieser Armut und Demut sind sie die Erben des Himmelreiches, „an Gütern arm, an Tugenden aber reich" (ebd. 2 6 3 ) . So stehen die Brüder fest im katholischen Glauben und bewahren „die Armut und Demut und das heilige Evangelium unseres Herrn Jesus Christus" (ebd. 266). Dieser Nachfolge in Armut und Demut ist die vollkommene Freude verheißen, wie sie den Franziskanern leuchtend im Leben des Heiligen Franz vor Augen stand. Was Franz v. Assisi lebte, wurde durch —>Bonaventura in ein theologisches System gebracht. Im Gefolge der Rezeption der naturwissenschaftlichen, ethischen und metaphysischen Schriften des —»Aristoteles zu Beginn des 13. Jh. tritt ein Interesse an einer begrifflichpsychologischen Beschreibung jener vita spiritualis ein, die Franz von Assisi vorgelebt hatte. Bonaventura beschreibt sie, an diesen anknüpfend, als ein Itinerarium mentis in Deum (XII, 1—21). In platonisch-augustinischem Geist teilt er die Gesamtwirklichkeit in eine Welt außer uns, in uns und über uns, in der in jeweils zwei Stufen die Seele von der äußeren Welt über die innere zu Gott aufsteigt. Zu diesem Aufstieg bedarf es eines reinen Herzens und göttlicher Hilfe. „Denn wie sehr auch die Stufen in unserem Inneren wohlgeordnet sein mögen, es nützt nichts, wenn Gottes Hilfe uns nicht zur Seite steht. Die göttliche Hilfe aber begleitet jene, die aus demütigem und andächtigem Herzen bitten; und das heißt, zu ihm aufseufzen in diesem Tränentale, und das geschieht durch feuriges Gebet" (a.a.O. 1,1). Denn den Demütigen gibt Gott Gnade. „Humilitas fuit dispositio ad respectum gratiae" (Expos, in Ev. Lc

470

Demut V

1,48). Indem die D e m u t den H o c h m u t als Wurzel aller Sünden ausschließt, reinigt sie das Herz des Menschen und disponiert auf den Empfang der Gnade, die den mystischen Aufstieg der Seele zu Gott ermöglicht.

3. Thomas

von

Aquin

W ä h r e n d Bonaventura die D e m u t platonisch-augustinisch an den Anfang des mystischen Aufstiegs der Seele zu G o t t setzt, ordnet sie T h o m a s von Aquin aristotelisch in den auf die ewige beatitudo zielenden Seinsordo der natürlichen und übernatürlichen Tugenden ein. Z w a r h a t die Tugend der D e m u t (STh II/2 q 161 a 1) psychologisch ihren O r t im Strebevermögen des Menschen (ebd. a2) und gehört so in den Bereich der Kardinaltugend der temperantia bzw. modestia (ebd. introd.) und zügelt das Streben des Geistes, damit er nicht ungeordnet auf Großes aus ist, u n d hat ihr M a ß an der Selbsterkenntnis, damit jemand sich nicht dünke, mehr zu sein, als er ist (ebd. a 6 cp), dennoch bildet sie zugleich das Fundament der moralischen u n d der theologischen Tugenden, weil sie diese vor dem selbstherrlichen Zugriff des H o c h m u t e s bewahrt. „Et sie humilitas primum locum tenet: inquantum scilicet expellit superbiam, cui Deus resistit, et praebet hominem subditum et Semper patulum ad suseipiendum influxum divinae gratiae, inquantum evacuat inflationem superbiae" [Und so n i m m t die Demut die erste Stelle ein, insofern sie den H o c h m u t austreibt, dem Gott widersteht, und den Menschen darbietet als einen Unterworfenen und als einen solchen, der stets für den Einfluß der göttlichen Gnade offen ist, indem sie den aufgeblasenen H o c h m u t austreibt] (ebd. a5 ad 2). Bildet die Demut in dieser negativen Funktion das Fundament aller Tugenden, so wird sie doch vom Glauben in der positiven Funktion übertroffen, nämlich den Erkenntnisbezug aller Tugenden auf G o t t als summum bonum zu realisieren. „Et secundum hoc, fides ponitur fundamentum, nobiliori modo quam humilitas" [Und demgem ä ß ist der Glaube vorzüglicher als die Demut als ein Fundament zu bestimmen] (ebd.). In ihrer negativen, den H o c h m u t ausschließenden Funktion ist die Demut eine Disposition auf die geistlichen und göttlichen Güter, die mit den theologischen Tugenden Glaube, Liebe und H o f f n u n g empfangen werden: „Et sie humilitas est quasi quaedam dispositio ad liberum accessum hominis in spiritualia et divina bona" [Und so ist die D e m u t gleichsam eine bestimmte Disposition auf den freien Z u g a n g des Menschen zu den geistlichen und göttlichen Gütern] (ebd. a5 a d 4 ) . Da jene theologischen Tugenden selbst aber die geistlichen und göttlichen Güter empfangen, sind sie in ihrer Vollkommenheit mächtiger als die dispositio der Demut. ,£icut ergo perfectio est potior dispositione, ita etiam caritas et aliae virtutes quibus homo directe movetur in Deum, sunt potiores humilitate" [Wie die Vollkommenheit einer Sache mächtiger ist als das, was auf sie disponiert, so sind auch die Liebe und die andern Tugenden, durch die der Mensch direkt auf G o t t hin bewegt wird, vollkommener als die Demut] (ebd.). Die wider den H o c h m u t gerichtete D e m u t ist zugleich ein innerer Bußakt und ein diesem entsprechendes äußeres Verhalten, wie es z. T. in den zwölf Stufen des 7. Kap. der Regula Benedicti und den sieben Stufen des Purgationsweges der pseudoanselmischen Schrift De similitudinibus, auf die sich T h o m a s in STh II/2 q l 6 1 a6 ausdrücklich bezieht, zum Ausdruck k o m m t . Die inneren und äußeren Akte der Demut sind aber, so sehr sie nur auf den E m p f a n g der geistlichen Güter disponieren, bei T h o m a s schon selbst Ausdruck der zuvorkommenden Gnade Gottes, die mit dem eigenen Bemühen des Menschen zusammenwirkt. „Dicendum quod homo ad humilitatem pervenit per dúo. Primo quidem et prineipaliter, per gratiae donum. Et quantum ad hoc, interiora praecedunt exteriora. - Aliud autem est humanum Studium: per quod homo prius exteriora cohibet, et postmodum pertingit ad extirpandum inferiorem radicem" [Es ist festzustellen, daß der Mensch durch zwei Dinge zur Demut gelangt. Erstens und hauptsächlich nämlich durch ein Geschenk der Gnade. Und im Blick darauf gehen die inneren Dinge den äußeren voran. Das andere aber ist die menschliche Mühe, durch die der Mensch zuvor äußere Dinge verhindert und danach zum Ausreißen der inneren Wurzel gelangt] (ebd. a6 ad 2).

Demut V 4. Johannes

471

—>Tauler

Versteht T h o m a s die Demut im Z u s a m m e n h a n g der moralischen und theologischen Tugenden als einen von der zuvorkommenden G n a d e gewirkten tugendhaften Akt des Menschen, so wird in der Deutschen —»Mystik Johannes Taulers das Verständnis der Demut auf das Sein des Menschen vor Gott hin vertieft. Da die oberen Seelenkräfte des Menschen durch die M a c h t der Sünde anstatt auf Gott auf die geschöpflichen Dinge gerichtet und somit veräußerlicht sind, bedarf es der Selbsterkenntnis, Selbstverurteilung und Selbsterniedrigung in der Demut, um den Menschen in seinen oberen Seelenkräften wieder auf die reine Gottesliebe auszurichten. Dies geschieht, wenn der Mensch sich in der Demut nach innen in seinen Seelengrund wendet und sich seines kreatürlichen Nichtsseins vor Gott bewußt wird und sich der lauteren Liebe zu Gott als seinem ewigen Seinsgrund ausliefert. W e n n so der Mensch „den wirdigen bilden unsers herren Jhesu Christi volget in aller gedult u n d in senftmfitikeit und in demutkeit und in aller wise, als ir hie gehöret hant, do wirt der fride geborn der alle sinne Übertrift" (Pr. 53). Geduld, Sanftmut und D e m u t zählt Tauler zunächst zu den natürlichen Tugenden, die wie die sittlichen Tugenden „wisheit, gerechtikeit und stercke und messikeit" (Pr. 23) den Menschen auf den G n a d e n e m p f a n g vorbereiten. Diese natürlichen und moralischen Tugenden werden durch die Gnade bzw. die theologischen Tugenden Glaube, Liebe und H o f f n u n g vervollkommnet und in den göttlichen Seinsordo eingeordnet. „Also der heilige geist danne vindet daz der mensche das sine getüt, so k u m m e t er mit sime liehte danne und überlühtet daz natürliche lieht und güsset darin übernatürliche tugende, also gelobe, hoffenunge, g6tteliche minne und sine g e n a d e " (ebd.). Der Glaube f ü h r t die Selbsterkenntnis der Demut zur Erkenntnis des reinen Willens Gottes, die die V e r n u n f t übersteigt, die Liebe befreit die Demut von allen ihr noch a n h a f t e n d e n Eigenmächtigkeiten, und die H o f f n u n g nimmt ihr alle falsche Sicherheit (Pr. 55). „Dise demfitekeit die entsinkt al ze mole in ein abgründe und verlüret den namen und stet uf irem luterem nute und enweis nüt von demutkeit" (ebd.). Wahre D e m u t weiß gar nicht mehr, daß sie Demut, d. h. ein tugendhafter Verzicht auf die Geltung des eigenen Selbstwertes vor Gott, ist. So ist sie auch nicht mehr eine „gemachte, ein gedichte demutekeit, die ein swester ist und ein gespile der h o c h f a r t " , denn „in der schinender oder gesprochenre demutekeit d o lit die grosse demutekeit grobelichen unden und ist dicke harte verre dem verkleinende in dem underwurffe under Got und alle creaturen" (Pr. 22). Tauler stößt so vom tugendhaften Akt der D e m u t vor zum Sein des Menschen in der Demut vor Gott. Das eigene Nichtssein bzw. die reine Geschöpflichkeit vor G o t t wird in der Kraft des Heiligen Geistes aber nicht als Vernichtung, sondern als wahres Sein aus Gott erfahren. Der Heilige Geist k o m m t und verwandelt den Menschen und bewirkt, „das ime nüt der dinge smackent die ime e smachtent, und do ime vor gruwelte, daz gelust im nun, also smochheit, eilende, ein&te, lidekeit, indewendekeit, demfitikeit, verworffenheit, abegescheidenheit von allen creaturen, das ist nu sin aller hoheste w o n e n " (Pr.8). Diese lautere Demut ist nicht mehr eine natürliche Tugend, sondern eine Tochter der übernatürlichen Liebe. Denn „die minne ist ein müter der lutern demfitikeit, verkleinerunge dez menschen selber in einer underworffenheit under Gottes willen in grosser luterkeit" (Pr. 2). Es ist die grundlose Demut, um derer willen alle Geschlechter Maria selig preisen (Pr. 52). So vertieft Tauler mystisch die natürliche Tugend der D e m u t aus einer Vorbereitung auf den E m p f a n g der Gnade zu der beglückenden im Seelengrund sich ereignenden Erfahrung der M a c h t Gottes in der eigenen Niedrigkeit und Schwachheit. 5. Thomas

a Kempis,

Ludolf

von Sachsen und Gabriel

Biel

In der im 14. und 15. Jh. von den Niederlanden ausgehenden Frömmigkeitsbewegung der —»Devotio moderna wird das monastische Demutsideal in seiner religiös-sittlichen K o m p o n e n t e auch für die kirchlichen Laien entfaltet. - Namentlich das dem Thomas Hemerken a Kempis (—»Thomas von Kempen) zugeschriebene spirituelle Andachtsbuch De imitatione Christi (zu der in der Forschung umstrittenen Verfasserfrage vgl. R.Stupperich: R G G 3 6 [1962] 864 [Lit.]) verbreitet diese Art der mittelalterlichen Frömmigkeit. Auch hier

Demut V

472

ist die Demut die Wurzel aller christlichen Tugenden, die den Menschen gegen die Sünde der superbia auf den Empfang der heiligmachenden Gnade disponiert. „Den Demütigen schützt und befreit Gott; den Demütigen liebt er und tröstet er; zum demütigen Menschen neigt er sich; dem Demütigen schenkt er große Gnade, und nach seiner Erniedrigung erhebt er ihn empor zur Herrlichkeit. Dem Demütigen offenbart er seine Geheimnisse und zieht ihn lieblich zu sich und lädt ihn zu sich ein. Der Demütige ist auch in der Anfechtung im Frieden wohl geborgen, denn er gründet sich in Gott, nicht in der Welt" (11,2). Den Demütigen gibt Gott Gnade, und im Endgericht „wird als Richter walten, wer sich nur demütig menschlichen Gerichten unterwirft. Dann wird der Arme und Demütige eine große Zuversicht haben, und der Hochmütige wird sich in jeder Hinsicht ängstigen" (1,24). Indem der Mensch sich demütigt, tut er, was in ihm ist, und bereitet sich auf den Empfang der Gnade vor, die sein sittlich-religiöses Streben vervollkommnet. Dieses Verständnis von Demut findet sich auch in der Passionsmeditation der Vita Christi des —>Ludolf von Sachsen. In dem für uns vollbrachten Leiden Christi vollendet sich die Demut Christi, die affektiv in der Leidensnachfolge übernommen wird und zur Reinigung des Willens von allen verkehrten Affekten führt, so daß die Gnade im Menschen Wohnung nehmen kann. Diese Anschauung von der imitatio Christi wirkt auch weiter im Rosetum des Johannes Mauburnus (vgl. Elze: ZThK 62; ders.: FS H. Rückert 127ff). Auch der Spätscholastiker Gabriel —>Biel steht in dieser Tradition der Devotio moderna. Er sieht in der Demut einen Akt der Vorbereitung auf den Gnadenempfang (Expositio 55, Q. 13 — 16) und zugleich eine Folge der Gnade, die den Menschen in dieser bewahrt. So vertreibt die von Gott gewirkte humiliatio den Hochmut, und zwar sowohl den, der ihr voranging, als auch den, der sich wieder einzuschleichen droht. Entsprechend stellt er in Anknüpfung an Bernhard von Clairvaux fest: „Vere nihil esse efficacius adgratiam hanc vel inveniendam vel retinendam vel recuperandam, quam si Semper inveniaris ,non altum sapere, sed sapere ad sobrietatem'" [Es ist wirklich nichts wirksamer, diese Gnade zu erreichen oder zu bewahren oder wiederzuerlangen, als wenn du stets in der Haltung gefunden wirst, „nicht Hohes zu denken, sondern etwas Maßvolles" (Rom 12,3)] (ebd. 86, R . 5 - 7 ; Bernhard, Cant., Sermo 54). 6. Johannes

—>Gerson

Johannes Gerson knüpft in seinem Demutsverständnis stärker an die Vorstellungen der romanischen Mystik bei Bernhard und Bonaventura an und verbindet einen antispekulativen Nominalismus im Bereich der äußeren Erfahrung mit einer affektiv-mystischen Erkenntnis im Bereich der inneren Erfahrung. In ihrer affektiven Potenz kann die Seele die Möglichkeiten ihrer kognitiven Potenzen übersteigen und über sich selbst hinaus in Gott erhoben werden. Eine spezifische Weise solcher affektiven Gotteserkenntnis ist das —> Gebet. Es setzt einen frommen und demütigen Affekt voraus. „Oratio quidem describitur quod est elevatio mentis in Deum per pium et humilem affectum" [Das Gebet wird gewiß so beschrieben, daß es die Erhebung des Geistes in Gott ist durch einen frommen und demütigen Affekt] (1,43,4). Denn die Demut reinigt den Affekt und schließt den Hochmut,' die Wurzel aller Laster, aus. „Est igitur superbia radix cuiuslibet improbe affectionis, sicut ex adverso parturit omnem affectionem piam humilitas" [Es ist also der Hochmut die Wurzel jedes bösen Affekts, so wie umgekehrt die Demut jeden frommen Affekt gebiert] (11,8,14). Den Demütigen gibt Gott Gnade, und nichts ist so wirksam, um die Gnade zu erreichen oder zu bewahren oder wiederzugewinnen als die demütige Selbsterkenntnis (De elucid. scol. myst. theol. 9,2). 7. Johann

von Paltz und Johannes

von

Staupitz

Die im Orden der -»Augustiner-Eremiten benutzte —>Augustinusregel wurde den Novizen des Ordens in der Auslegung durch —>Hugo von St. Viktor bekannt gemacht (Expositio in regula beati Augustini, PL 1 7 6 , 8 8 2 - 9 2 4 ) . Auch nach Hugos Kommentar ist diehumilitas die Wurzel aller Tugenden und bewahrt die Werke der Menschen vor dem Zugriff des

Demut V

473

Hochmutes (ebd. 2). Den Demütigen gibt Gott Gnade (ebd.). Demut und Armut erzeugen die Liebe. Die Liebe aber fordert die Einheit. Die Einheit aber und die Eintracht machen uns zum Tempel Gottes, und wir erweisen uns als Schüler Christi, wenn wir die Einheit der Liebe Christi in der Demut festhalten (ebd.). Wie wenig vor diesem allgemeinen Hintergrund die verschiedenen Ordenstheologen der Augustiner-Eremiten ein einheitliches Demutsverständnis vertreten, läßt sich u.a. verdeutlichen an der Demutsauffassung bei Johann von Paltz, jenem für die Frömmigkeit am Vorabend der Reformation so bedeutenden Prediger in Erfurt, und bei Johannes von Staupitz, der zu einem der bedeutendsten Förderer Luthers werden sollte. Johann von ~^>Paltz entwickelt das monastische Ideal der Demut aus seiner Mariologie (—»Maria) heraus. Gott hat die Demut seiner Magd Maria angesehen (Lk 1,48). Er sandte auf das demütige Gebet der Jungfrau Maria hin seinen Sohn in die Welt zur Versöhnung der Menschen. Der Weg zu Gott bzw. zur Gnade führt deshalb über Maria, indem wir ihr demütig nachfolgen. „ I d e o , si volumus ipsam invenire et per eam dominum deum, debemus nos humiliare et ipsam discere humiliter, devote et reverenter salutare" [Deshalb, wenn wir sie (sc. Maria) selbst finden wollen und durch sie Gott, den Herrn, müssen wir uns demütigen und lernen, sie selbst demütig, fromm und ehrerbietig zu grüßen] (A G viv). Denn aus der Demut Marias sind nicht nur die Inkarnation, das Herabsteigen des Sohnes Gottes zu uns und die Erlösung der Welt hervorgegangen, sondern auch die Ordensgelübde und Klöster aufgerichtet und überhaupt die ganze christliche Religion begründet: „ E c c e quanta bona processerunt ex humilitate beatissimae virginis Mariae. Primum bonum: incarnatio filii dei et descensio ad nos et redemptio mundi. Secundum bonum: institutio sanctae religionis vo. . Tertium bonum.. . est fundatio totius religionis chritorum et fundatio monasteriorum.. stianae" [Siehe, wie große Güter aus der Demut der allcrscligsten Jungfrau Maria hervorgegangen sind. Das erste Gut umfaßt: Die Inkarnation des Sohnes Gottes und sein Herabsteigen zu uns und die Erlösung der Welt. Das zweite Gut umfaßt: Die Errichtung der Ordensgelübde und die Gründung der Klöster. . . . Das dritte Gut, das aus der Demut der allerseligsten Jungfrau hervorging, ist die Gründung der ganzen christlichen Religion] (A viY; B h v r ; B h v v ). Wer wie Maria sich demütigt, empfängt durch sie die Gnade Gottes. In der in der —»Buße vollzogenen Demütigung genügt Paltz die attritio. Doch ist es möglich, „unvollkommene Reue in vollkommene zu verwandeln, wenn man tut, was man kann, und große Hoffnung auf die Hilfe des Priesters setzt, d.h. in die Kraft der Sakramente" (Fischer 19). Verbindet Paltz so in seinem Demutsverständnis die menschliche Anstrengung mit der sakramentalen Gnade im Interesse volksnaher Frömmigkeit, so vertritt Johannes von —*Staupitz eine strikte Gnadentheologie. Demut ist für ihn eine Folge der Gnade. „In der devocio, die Staupitz mit Hugo als mentis in deum elevacio per pium et humile affectum, fide, spe et caritate subnixum definiert (vgl. Hugo v. St. Viktor, De modo orandi, PL 176,976B), ist es gerade die Gnade, die zu gänzlicher Überlassung des Ich an Gott führt" (Wolf, QFRG 9 , 1 0 5 f ) . Diese Überlassung des Ich an Gott geschieht in der conformitas mit dem Willen Gottes, wie er im Kreuz Christi offenbar geworden ist. In der Nachfolge des gekreuzigten Christus vollzieht der Mensch eine Selbstverurteilung (nach I Kor 11,31), die die eigene —»Anfechtung und das eigene Unvermögen in das Licht des Kreuzes Christi stellt. Entsprechend ist die Demut Grundlage und zugleich wichtigstes Glied der conformitas mit dem Willen Gottes. Indem der Mensch aufgrund der Gnade freiwillig in der Demut das Gericht Gottes im Kreuz Christi übernimmt, handelt er verdienstlich. Die Demut verdient nicht die Gnade, sondern ist ein Verdienst aufgrund der Gnade, das den Menschen in den prädestinatianisch verstandenen Seinsordo Gottes einordnet. Das Kreuz und die ihm entsprechende eigene Angefochtenheit widerspricht nicht der Prädestination, sondern entspricht ihr, weil Christus als der Erwählte Gottes den Weg des Kreuzes ging. „Verissimum itaque Signum praedestinationis et immediatum est conformitas passionis Christi" [Deshalb ist das wahrste und umittelbare Zeichen der Erwählung die Gleichförmigkeit mit der Passion Christi] (Sermo 92,20: LuJ 11 [1929] 74). (Quellen/Literatur S.482) Karl-Heinz zur Mühlen

474

Demut VI

VI. Reformation 1. Luther

2 . M e l a n c h t h o n , Zwingli und Calvin

(Quellen/Literatur S. 4 8 2 )

1. —>Luther In seiner 1. Psalmenvorlesung ( 1 5 1 3 - 1 5 1 6 ) greift Luther u.a. das bernhardinische Verständnis von Demut auf und definiert die Demut als „Geringschätzung, Verachtung und Verdammung seiner selbst" (WA 3 , 4 6 5 , 1 5 f). Doch versteht er die Demut nicht mehr wie Bernhard als eine in der Nachfolge Christi sich vollziehende Vereinigung von Vernunft und innerem Schöpfungslogos, sondern als Einverständnis des Glaubens in das im Kreuz Christi offenbar gewordene —»Gericht Gottes über den Hochmut und die Eigenmächtigkeit des Menschen. Legt man dieses Gericht tropologisch aus, so meint es das Selbstgericht des Menschen unter dem Gericht Gottes im Kreuz Jesu Christi. In der Schrift drückt der Begriff iudicium deshalb die wahre Natur der Demut aus (WA 3 , 4 6 5 , 1 3 ff; 4 6 2 , 3 0 f ) . Im Selbstgericht der Demut kann der Glaubende gemäß I Kor 11,31 das eschatologische Gericht Gottes vorwegnehmen und im Bußakt der im Glauben zu empfangenden Gerechtigkeit Gottes entsprechen. Luther deutet deshalb in der 1. Psalmenvorlesung die Gerechtigkeit Gottes tropologisch als fides Christi und versteht darunter den Glauben, der das im Kreuz Christi als Gericht und —»Gnade offenbar gewordene Werk Gottes an sich vollziehen läßt. Wer das Gericht Gottes im Selbstgericht der Demut übernimmt, dem gibt Gott seine —»Gerechtigkeit. Die Demut ist dabei als Akt des —»Glaubens verstanden, der dem Empfang der Gerechtigkeit in eben demselben Glauben vorangeht (vgl. WA, 3 , 3 4 5 , 2 9 f ) . Alles, was Christus als Werk Gottes dem sensus literalis nach ist, das ist der Glaube in uns nach dem sensus moralis (WA 3 , 4 5 8 , 8 - 1 1 ) . Dabei schließt die humilitas fidei für Luther anthropologisch noch die Möglichkeit ein, ständig d i t s u p e r b i a als Wurzel aller Sünden zu überwinden und so aktuell in uns die Gerechtigkeit Gottes in Christus zu realisieren. „Deshalb muß man sich vor allen Dingen demütigen, damit wir das Licht und die Gnade empfangen, ja vielmehr sie bewahren. Demut und Gnade wollen nämlich nicht voneinander getrennt werden, wenn auch die eine der anderen vorangeht, so wie Johannes der Täufer Christus, aber sie folgen einander sogleich auf dem Fuße" (WA 4 , 1 1 1 , 3 5 - 3 9 ) . Demut ist für Luther zur Zeit der 1. Psalmenvorlesung noch jene monastische Tugend, die als Buße der Gerechtigkeit Gottes in uns Raum gibt, indem sie diese vor dem Zugriff des Hochmutes bewahrt. Wie der Glaube ist sie Geschenk der Gnade und nicht mehr natürliche Disposition auf den Empfang der Gnade. Luther steht hier der Gnadentheologie seines Ordenslehrers Staupitz näher als den die natürlichen Kräfte des Menschen meritorisch auf den Gnadenempfang ausrichtenden Theologen Johann von Paltz, Gabriel Biel und auch Bernhard von Clairvaux. In der Römerbriefvorlesung Luthers ( 1 5 1 5 / 1 6 ) ändert sich durch den mit Hilfe der antipelagianischen Schriften Augustins interpretierten Paulus das Verständnis von —»Sünde und Gnade und damit auch das des Verhältnisses von humilitas und fides. Der Akzent verschiebt sich jetzt von der humilitas fidei auf die fides Christi selbst. Es ist nun allein der Glaube, der wider die als peccatum radicale begriffene bleibende Erbsünde die Gerechtigkeit Gottes extra nos in Christo ergreift (vgl. zur Mühlen, BHTh 4 6 , 93 ff. 148 ff). Die Demut bleibt dabei ein Bußakt des Glaubens, der in ihr angesichts der bleibenden Erbsünde die Niedrigkeit des Sünders vor Gott bekennt und auf jeden Selbstruhm vor Gott verzichtet. Luther versteht die Überwindung der Erbsünde in uns nun nicht mehr als aktuelle Möglichkeit der humilitas fidei, sondern als Möglichkeit des Glaubens, der ihre Überwindung extra nos in Christo ergreift. „Gott läßt uns darum in jener Sünde, im ,Zunder', in der sündlichen Begierde, um uns in seiner Furcht und Demut zu bewahren, damit wir uns so immer wieder zu seiner Gnade flüchten, immer uns ängstigend, wir würden uns versündigen, d.h. immer bittend, er möge uns die Sünde nicht anrechnen und zulassen, daß sie in uns herrscht" (WA 5 6 , 2 8 1 , 5 - 9 ) . Es ist deshalb eine Selbsttäuschung, sich nur an vergangene oder verborgene gegenwärtige Sünden zu erinnern, um einen Grund zur Demut zu haben. „Grund zur Demut" ist vielmehr, „daß die Sünde in uns bleibt, so aber, daß sie ,nicht über uns herrscht' (Rom 6,14), weil sie

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dem Geiste unterworfen ist, d a ß er sie zunichte mache, die vordem über ihn herrschte" (WA 56,314,4—6). Sie wird aber in uns beherrscht im Glauben an Christus, um dessen willen sie vergeben und nicht angerechnet wird. Denn Christus ist „ , u n s g e m a c h t . . . von Gott zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung' (I Kor 1,30). Das ist alles in uns nur durch den Glauben an ihn und durch die H o f f n u n g auf ihn. D a r u m gehört der ganze Lobpreis der Kirche . . . Christus, der durch den Glauben in ihr w o h n t , gleichwie alles Licht der Erde nicht von der Erde k o m m t , sondern Licht der Sonne ist, die sie erleuchtet" (WA 5 6 , 2 7 9 , 2 3 - 2 7 ) . Demut ist nun für Luther Erkenntnis und Anerkenntnis der eigenen Niedrigkeit angesichts der bleibenden Erbsünde, die allein durch die Gerechtigkeit Christi, die im Glauben in uns wohnt, überwunden und bedeckt ist. Es ist deshalb nicht zufällig, d a ß Luther im Scholion zu R o m 12,16 im Anschluß an die Annotationes des Erasmus zum Neuen Testament (vgl. J. Ficker zu W A 56,471,19) den Unterschied zwischen rajieivcüOLg als Demut im Sinne von Niedrigkeit vor Gott und TajiEivocpgoavvtj als Demut im Sinne eines tugendhaften Aktes, der demütig auf den eigenen Selbstwert vor Gott verzichtet und deshalb in der mittelalterlichen Theologie als Verdienst galt, herausstellt. So ist zu beachten, daß die Vulgata die Wendung humile in R o m 12,16 ohne Unterschied gebrauche, „ w ä h r e n d sie im Griechischen einmal ,Tapinosis' [rajicivcuotg], ,Tapinos' [raneivög] bedeutet und entsprechend ,humilitas', ,humilis' oder ,vilis', ,vilitas' nach ihrer eigentlichen lateinischen Bedeutung meint, nach welcher ,humilis' das Gegenteil von dem heißt, was hoch und vornehm ist, zum andern ,Tapinophrosyne' [TaneivoipQoavvrj] bedeutet, das von ,Tapinos' [•raneivög] und ,Phronin' [(pQOveZv], d . h . auf Niedriges bedacht sein, k o m m t . . . . Eine solche Gemütsbewegung ist die Demut, die man eine Tugend n e n n t " (WA 5 6 , 4 7 1 , 1 8 - 2 5 ) . Indem Luther neutestamentlich zwischen raneivwoig und Tajteivotpgoavvr] unterscheidet, begreift er die Demut.als niedriges Sein des Sünders vor Gott und setzt es kritisch ab gegen das mittelalterliche Verständnis von D e m u t als einer verdienstlichen Tugend. Wenn er umgekehrt auch an der Demut im Sinne von zanEivoqjQOovvr] festhält, versteht er darunter den Akt selbstloser —»Liebe, die den —»Nächsten in seinem Elend liebt, daraus aber keinen Anspruch vor Gott ableitet. Die D e m u t als Erkenntnis und Anerkenntnis der Niedrigkeit des Sünders vor Gott steht im Dienst der Rechtfertigung (vgl. Lienhard 309). Sie dient „ z u r Empfehlung der Gnade und zur Zerstörung der Vermessenheit" (WA 56,404,32). Als solche ist die D e m u t wie in der Tradition vollkommene Selbsterkenntnis (WA 56,346,19 f), durch die der geistliche Mensch sein Elend bzw. seine bleibende Erbsünde erkennt und bekennt. Sie k ä m p f t weiterhin als ständige Reue und —»Buße gegen den H o c h m u t (WA 56,194,21; 240,25; 253,3; 258,26) und ist als Wurzel aller Tugenden eine iustitia universalis, die G o t t und den Menschen das Ihre z u k o m m e n läßt (WA 56,199,28; 449,9). Sie verhindert den M i ß b r a u c h der Werke zur Selbstrechtfertigung vor G o t t und läßt sie so vor Gott angenehm sein (WA 56,370,20; 428,9; 441,1). Die eigene Niedrigkeit des Sünders vor Gott wird aber durch das —»Gesetz erkannt. „ D a s Gesetz demütigt, die G n a d e erhöht. Das Gesetz wirkt Furcht und Z o r n , die G n a d e H o f f n u n g und Barmherzigkeit. Durch das Gesetz geschieht Erkenntnis der Sünde, durch die Erkenntnis der Sünde aber Demut, durch die Demut wird G n a d e erlangt. So veranlaßt ein fremdes Werk Gottes endlich sein eigenes Werk, da er einen Sünder macht, um einen Gerechten zu m a c h e n " (WA 1 , 3 6 1 , 1 - 5 ) . So steht die D e m u t im Dienst der Gnade Gottes, die G n a d e Gottes bzw. die Gerechtigkeit Christi wird aber geschenkt allein im Glauben (WA 1,364,41). Die so verstandene D e m u t ist nicht ein Rest vorreformatorischer Mönchstheologie, sondern Ausdruck der sich seit der Römerbriefvorlesung immer klarer artikulierenden Rechtfertigungslehre (—»Rechtfertigung) Luthers. Z u dieser Klärung gehört auch der Tatbestand, d a ß Luther nach 1518 in der Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Sakramentslehre den die Gerechtigkeit Christi empfangenden Glauben als Glauben an die mit den —»Sakramenten verbundene Verheißung Christi versteht. Dieser Glaube schließt bleibend die Demut als das Bekenntnis der eigenen Nichtigkeit bzw. des Sünderseins vor G o t t ein. Wie wenig dieser Sachverhalt für Luther (im Unterschied zu bestimmten Lutherforschern; vgl. Bizer, Fides 194) problematisch ist, zeigt sich z. B. an seinem Gebrauch des hu-

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m/Z/tas-Begriffes in der 2. Psalmenvorlesung ( 1 5 1 9 - 1 5 2 1 ) . Dort kann Luther völlig ungeschützt sagen, daß der Mensch sola humilitate selig werde (vgl. WA 5 , 5 6 5 , 1 4 f f ) . Oder er stellt fest, „daß das Evangelium uns demütigt und zunichte macht vor Gott wie auch vor den Menschen, so daß wir auf beiden Seiten als Sünder und Verdammte erfunden werden, aber so, daß wir durch die Anerkennung unseres derartigen Übels die Gnade der Gerechtigkeit verdienen. . . . So hat uns vor Gott unsere Niedrigkeit (humilitas) erhöht. . . . Selig ist also der Niedrige (humilis), selig seine Niedrigkeit (humilitas), denn, weil sie um Gottes willen auferlegt worden ist, ist sie kostbar vor G o t t " (WA 5 , 6 6 1 , 1 0 - 2 0 ) . Von dieser Basis aus vollzieht Luther 1 5 2 1 auch eine neue, dem Neuen Testament entsprechende Auslegung des Magnifikat. Nicht mehr die Tugend der Demut macht Maria wie z. B. bei Johann von Paltz zum Mittler der Gnade Christi, sondern die Gnade Gottes in Christus selbst hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Luther macht deshalb auf die unangemessene Übersetzung der griechischen Vokabel Tcuieivcootg in Lk 1,48 durch ,Demut' im Sinne einer verdienstlichen Tugend aufmerksam: „Das wortle ,humilitas' habenn etlich hie zur ,demut' gemacht, alsz het die junckfraw Maria yhr demut anzogen und sich der berumet. . . . Wie solt man denn solche vormessenheit und hohmut dieszer reynen richtigen Junckfrawen zu schreiben, das sie sich yhrer demut rumette für got, wilchs die aller höchste tugend ist, und niemant sich demutig achtet odder rumet, denn wer der aller hohmutigist ist. Got erkennet alleyn die demut, richtet auch unnd offenbart sie alleyn, das der mensch nymmer weniger von der demut weisz, denn ebenn wenn er recht demutig ist" (WA 7,559,31—560,12). So rühmt sich Maria nicht einer bewußten sublimen Seelenhaltung vor Gott, sondern ihrer Niedrigkeit. „Der schrifft brauch ist, das sie ,humiliare' heisset ,nydrigen' und ,zu nicht machen', unnd darumb heyssen die Christen in der schrifft an vielen orttenn ,pauperes, afflicti, humiliati', ,arm, nichtige, vorworffene l e u t ' " (WA 7,560,13—15). Indem Luther humilitas mit „nichtickeit" übersetzt, kehrt er zum neutestamentlichen Sprachgebrauch in Lk 1,48 zurück. Maria ist deshalb ein exemplum humilitatis, insofern sie ein exemplum gratiae et fidei ist. „Sie sagt nit, man werd yhr viel guts nach sagen, yhr tugend preyssen, yhr junpferschafft oder demut erheben, . . . szondern allein davon, das sie got hat angesehen, davon wirt man sagen sie sey selig" (WA 7,567,34—37). Luther unterscheidet deshalb zwischen wahrer und gemachter Demut. Wahre Demut ist das Lob der Gnade Gottes im Bekenntnis des eigenen niedrigen Seins vor Gott. Gemachte Demut ist dagegen der tugendhafte Akt der Demut, der sich verdienstlich durch Selbsterniedrigung auf den Empfang der rechtfertigenden Gnade disponiert. Denn das allein in der Macht der Gnade aufzuhebende Verlorensein des Menschen vor Gott läßt sich durch einen Akt frommer Selbstreflexion gar nicht ausloten. Mit diesem Verständnis einer dem Evangelium entsprechenden Demut befreit Luther diese aus ihrer Vergesetzlichung und Institutionalisierung im Mönchtum und ihrer Einschränkung auf einen verdienstlichen, tugendhaften Akt in der mittelalterlichen Theologie (vgl. auch später: WA 1 8 , 6 3 2 , 2 9 ; 40/1,245,9; 3 7 2 , 3 ; 5 0 6 , 5 ; 4 0 / 2 , 1 0 7 , 8 . 3 3 ) . 2. Melanchthon,

Zwingli

und

Calvin

Diese bei Luther sich vollziehende theologische Korrektur des mittelalterlichen Demutsverständnisses wird bei Ph. —»Melanchthon bereits vorausgesetzt. Deutlich unterscheidet dieser in CA 2 7 zwischen der allein rechtfertigenden Kraft des Glaubens und dem mittelalterlichen Verständnis der monastischen —>Gelübde, in dem der Demut als Akt des mönchischen Gehorsams zusammen mit der Armut und der Keuschheit die Funktion eingeräumt wurde, in den Stand der Vollkommenen zu versetzen. Im Unterschied dazu gilt: „Denn die christliche Vollkommenheit ist, daß man Gott von Herzen und mit Ernst fürchtet, und doch auch Vertrauen faßt, daß wir um Christus Willen einen gnädigen, barmherzigen Gott haben" (CA 2 7 , 4 9 ) . Hat so die Demut jede die Gnade verdienende Funktion verloren, so kommt auch der Demut Marias keine heilsvermittelnde Funktion neben Christus zu. „Denn was wäre Christus not, wenn Maria das vermöchte? Denn wiewohl sie alles höchsten Lobes wert ist, so will sie doch nicht Christo gleich gehalten sein, sondern will vielmehr, daß wir die Exempel ihres Glaubens und ihrer Demut folgen sollen" (ApolCA 2 1 , 2 7 f ) . Sie ist ein Bei-

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spiel des Glaubens und der Demut, indem sie ihre Niedrigkeit vor Gott erkennt und bekennt, und darin Gott lobt, daß er diese Niedrigkeit angesehen und sich ihrer angenommen hat. Entsprechend hält Melanchthon an der Demut als einem Akt der Selbsterkenntnis des rechtfertigenden Glaubens fest. So war es nicht richtig, daß Petrus in Joh 13,6 die Fußwaschung Jesu zunächst zurückwies, anstatt sie als Ausdruck der Demütigung Christi zu erkennen, die gnadenhafter Grund unserer Erlösung und Nachfolge ineins ist (Annot. in Joh. 13,6; zit. Bizer, Theol. 255 Anm. 9). Weil Christus sich nach Phil 2,7 selbst um unsertwillen erniedrigt hat und auf den Gebrauch seiner göttlichen Macht im Stande der Niedrigkeit verzichtete (CR 21,626), sollen auch wir nicht hochmütig sein (CR 21,867) und uns nicht eines Selbstwertes vor Gott rühmen. Das im Glauben in uns geschehende Werk Gottes führt uns in die Buße, d. h. in die Erkenntnis der Sünde und in den Haß der Sünde. Indem uns Gott in dieser Erkenntnis demütigt, erhöht er uns zugleich (I Reg 2,6) (CR 21,111). Wie Melanchthon so macht auch U. —fZwingli einen eher zurückhaltenden Gebrauch von der Vokabel Demut. In seiner Auslegung des Magnifikat übersetzt er wie Luther in Lk 1,48 TajieivwaLg nicht mit Demut, sondern mit Niedrigkeit. Obwohl Maria „uß dem geschlecht Davids" war, „was sy doch arm und gar nütz fürnäm nach menschlichem pracht, als sy selber singt: ,Gott hat die schlechti [Niedrigkeit, Schlichtheit] siner dienerin angesehen' " (CR 8 8 , 4 0 1 , 9 - 1 1 ) . In ihrer Niedrigkeit hat sich Maria glaubend gänzlich der Macht Gottes ausgeliefert. „Darumb sol unser schlechte [Niedrigkeit] vonn Maria lernen, sich gott gantz und gar underwerffen, das, wenn got ein wort rede, wir uns demselben underwerffind und vestenklich gloubind, ob es schon nach unserem verstandt uns nit möglich d u n c k t . . . " (CR 8 8 , 4 1 6 , 1 0 - 1 3 ) . Entsprechend ist auch Gott „nit in hohem pracht oder schin" zu suchen, „sunder in der krypp, dazu wir uns demütigende und niderlassende in finden werden. Gott ist nüt widerwertigers an eim glöubigen menschen, weder ein hochtragen gmut, als Pet. seit 1. cap. 5 [I Petr 5,5]: ,Got widerstat den hochfertigen, aber den demutigen gibt er gnad.' All sin leben ist nüt änderst denn ein nidertracht [Beugung] und demüt" (CR 8 8 , 4 1 8 , 1 - 9 ) . So bezeichnet die Demut die Seinsweise des ganzen Menschen vor Gott. Sie ist deshalb auch die Signatur aller geistlichen Herrschaft unter den Christen (CR 89,299,16ff). Auch J. —>Calvin sieht in der Demut die Summe christlichen Lebens vor Gott, da die Demut als Selbsterkenntnis und Selbstverleugnung das Wesen der aus dem Glauben hervorgehenden Buße ausmacht. „Denn wer es gelernt hat, bei allem, was er auszurichten hat, auf Gott zu schauen, der wird dadurch zugleich von allen unnützen Gedanken abgewendet. Dies ist die Selbstverleugnung, die Christus mit solchem Nachdruck allen seinen Jüngern von ihrer ersten Lehrzeit an aufträgt. Hat diese Selbstverleugnung einmal unser Herz ergriffen, so läßt sie der Hoffart, der Aufgeblasenheit, der Prahlerei, dann aber auch dem Geiz, der Gier, der Ausschweifung, der weichlichen Wollust und all dem anderen, was aus unserer Selbstliebe entsteht, keinen Raum mehr" (Inst. III, 7,2). In solcher Selbstverleugnung werfen wir uns mit gedemütigten Herzen vor Gott nieder und begehren, daß er uns aus seiner reinen Güte und Barmherzigkeit von den Sünden losspreche (Inst. III, 4,9). Solche Selbstverleugnung der Buße ist notwendig, weil der Mensch immer wieder bestrebt ist, hochmütig seine Niedrigkeit vor Gott zu überspielen. Denn der Mensch fürchtet die Armut, Verachtung und Niedrigkeit vor Gott, und seine ehrgeizige und habgierige Gesinnung geht davon aus, „der Armut und Niedrigkeit [humilitas] zu entkommen" (Inst. III, 7,8). So versteht auch Calvin unter humilitas die Selbsterkenntnis und Selbstverleugnung, die Gott nichts anderes als die eigene Niedrigkeit darbietet. Sie ist auch die Würde, die zum Sakramentsempfang notwendig ist. Sie entspringt aber „vor allen Dingen in dem Glauben . . . , der alles bei Christus findet und nichts bei uns selbst" sucht (Inst. IV, 17,42). Die Demut als Selbsterkenntnis des Glaubens ist aber immer wieder von dem Hochmut bedroht, auf die Macht des eigenen Fleisches zu vertrauen. „Diese Vermessenheit kann Gott nicht besser dämpfen, als wenn er uns durch die Erfahrung beweist, an wieviel Schwachheit, ja, auch an wieviel Gebrechlichkeit wir leiden. . . . So gedemütigt, lernen wir, seine Kraft anzurufen, die uns allein unter der Last unserer Trübsal standhalten läßt" (Inst. III, 8,2). Der wahre Ursprung der Demut ist aber nach Calvin die göttliche —>Erwählung. Wir müssen immer wieder auf dieselbe zurückverwiesen

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werden, „damit es feststeht, daß uns Heil von nirgendwo anders her, als allein aus reiner Freundlichkeit Gottes zuteil wird; wer das . . . auslöschen w i l l . . . , r e i ß t . . . die Wurzel der Demut aus!" (Inst. III, 21,1). Der göttlichen Erwählung entspringt zugleich die —»Heilsgewißheit und die Demut, die alles selbstbegründete Heil des Menschen ausschließt. Sie setzt uns aber zugleich instand, die uns von Gott anvertrauten Gaben im Dienst der Liebe gegenüber dem Nächsten zu gebrauchen. Ja diese Liebe ist ein Kriterium dafür, ob wir uns vor Gott wahrhaft selbst verleugnen (Inst. III, 7,7). In dieser Weise hat Calvin einen evangelischen Begriff von Demut entwickelt, der von allen pelagianisierenden Tendenzen, die ihm namentlich in der monastischen Tradition anhafteten, frei ist. (Quellen/Literatur S.482) Karl-Heinz zur Mühlen VII. Neuzeit 1. Johann Gerhard 2. Johann Arndt, Philipp J a k o b Spener und August Hermann Francke 3 . Jesuitenorden 4 . 18. und 19. Jahrhundert (Quellen/Literatur S . 4 8 2 )

1. Johann

—>Gerhard

In der altprotestantischen —»Orthodoxie erhält die Demut einen festen Platz in einer Dogmatik, die alle pelagianisierenden Tendenzen einer sublimen Seelenhaltung des Menschen ausschließt. So ordnet J. Gerhard die Demut in seinen Loci theologici der —»Buße und innerhalb dieser der Reue (contritio) zu. Die Reue umfaßt nach Gerhard 1. die wahre Erkenntnis der Sünde, 2. die Empfindung des Zornes Gottes gegen die Sünden, 3. die Ängste und Schrecken des Gewissens, 4. die wahre Demütigung vor Gott, weil ja jemand, der die Härte der Sünde und die Schwere des göttlichen Zornes ernsthaft erkennt, sich vor dem Zittern erregenden Gericht Gottes demütigt, 5. das aufrichtige Bekenntnis der Sünde und 6. den ernsthaften Haß und das Verabscheuen der Sünde (111,15,63). Ist so die Demut als Selbsterniedrigung vor Gott ein wesentlicher Ausdruck der Reue, so ist sie wie diese keine verdienstliche Tugend. Es ist vielmehr zu beachten, „daß die Verheißung über die Vergebung der Sünden nicht von der Würde und Größe unserer Reue abhängt, sondern allein vom Verdienst Christi, der für unsere Sünden in vollkommenster Weise zerschlagen ist, deshalb soll das zerschlagene und gedemütigte Herz nicht auf die Größe und Würde seiner Reue blicken und nicht in ihr ein Heilmittel für seine Sünden suchen, sondern auf den am Mal des Kreuzes hängenden Christus blicken und aus dessen Wunden die Medizin für seine Wunden schöpfen" (ebd. 64). Die Ursache der Reue bzw. der Demut ist der Heilige Geist (ebd. 67), und das Instrument, durch das der Heilige Geist beide wirkt, ist die Predigt des Gesetzes (ebd. 70). Dieses Verständnis der Reue bzw. der Demut verteidigt Gerhard im einzelnen gegen den katholischen Kontroverstheologen R.—»Bellarmini und stellt besonders heraus, daß die Reue bzw. die Demut als Akt des Glaubens kein verdienstliches Werk ist. Wenn Gott sie dem —»Glauben vorangehen läßt, so wird damit „eine Ordnung beschrieben, die Gott in seinem Erbarmen und Heilen bewahrt, nicht aber ein Verdienst oder eine Ursache, um deretwillen sich Gott erbarmt und die Sünde vergibt" (ebd. 88). Die Reue bzw. die Demut ist vielmehr „der Vorläufer des Glaubens, durch den das Herz des Menschen vom Heiligen Geist bereitgemacht wird, daß es teilhaftig der Gnade Gottes sei" (ebd. 93). Der Glaube an Christus ist jenes Empfangsorgan, „quo cor contritum ac humiliatum promissionem evangelicam de remissione peccatorum gratuita amplectitur" [durch das ein zerschlagenes und gedemütigtes Herz die evangelische Verheißung von der umsonst erfolgenden Vergebung der Sünden umfaßt] (ebd.). Gerhard bindet so die Demut fest in einen ordo salutis ein und verhindert ein pelagianisierendes Verständnis derselben. 2. Johann

Arndt, Philipp Jakob

Spener und August Hermann

Francke

Der mit J. Gerhard befreundete —»/. Arndt durchbricht die reine Lehre der altprotestantischen Orthodoxie und räumt „frühpietistisch" in seinen Vier (später Sechs) Büchern vom wahren Christentum unter Aufnahme von Elementen der mittelalterlichen —»Mystik Johannes Taulers (s.o. Abschn. IV.4) und des Spiritualismus Valentin —»Weigels der Demut

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wieder eine eigenständige Funktion neben dem Glauben ein. „Viel Menschen suchen viel Mittel, mit Gott vereiniget zu werden, mit auswendigem Lesen und anderer Andacht. Aber in Wahrheit ist, nächst dem wahren, lebendigen Glauben, welcher das Herz reiniget von der Kreaturliebe,... kein besserer und leichterer Weg dazu, denn die wahre, gründliche Demut. Dieselbe aber muß nicht stehen in Worten oder äußerlichem Schein, sondern im Grunde des Herzens, daß der Mensch wahrhaftig sich für nichts halte in allen Dingen, es sei in geistlichen oder natürlichen Gaben" (111,5,1). Das wahre Christentum besteht für Arndt nicht im toten Buchstabenglauben, sondern im lebendigen Glauben, der innerlich realisiert, was die Schrift äußerlich bezeugt (1,5.6). Das innere Leben des Glaubens aber vollzieht sich in Demut und Liebe. „Weil ich aus Christo bin eine neue Kreatur geschaffen, so muß ich auch in Ihm leben und wandeln; ich muß mit Ihm und in Ihm im Elend sein; ich muß mit Ihm in Demut und Verschmähung der Welt, in Geduld und Sanftmut, in der Liebe wandeln" (1,6,3). Die Demut löst den Menschen von allem hochmütigen Verhaftetsein an sich selbst und an die Dinge der Welt. Sie führt nach innen, in den Seelengrund, wo der Mensch allein der lebendigen Gnade Christi inne wird. Die Seele empfindet „den göttlichen Trost, so das ewige Wort in uns redet. Davon Tauler sagt:,Wisset, daß das ewige Wort uns also unaussprechlich nahe ist, inwendig in unserem Grunde'" (111,15,1). So sehr Arndt hier auf die Mystik Taulers zurückgreift, so wenig setzt er sie einfach fort, sondern benutzt sie, um die Lehraussagen der lutherischen Orthodoxie mit innerem Leben zu füllen. Denn „der Glaube ist eine herzliche Zuversicht und ungezweifeltes Vertrauen auf Gottes Gnade in Christo verheißen, von Vergebung der Sünden und ewigem Leben, durch das Wort Gottes und den Heiligen Geist angezündet" (1,5,1). Doch bleibt die Gnade Christi tot, wenn wir sie nicht innerlich in Übung bringen. „Denn was ist's, daß du an das heilige Leiden deines Herrn gedenkest in einer erloschenen, blinden Liebe, bringest aber Christi Leiden nicht in die Uebung . . . So wirst du Christum nimmermehr recht sehen können, noch seine Wirkung in dir empfinden. Denn gleichwie die Sonne und der Himmel in der Tiefe der Erde wirken, also Christus in der Tiefe der Demut; wie er denn auch selber in seiner Niedrigkeit die höchsten Werke gewirket hat" (111,15,9). Die Gnade Christi wird in uns lebendig in der gründlichen Demut des Herzens. „In dieser Demut ist gegründet die wahre Buße" (111,21,5) und die „wahre Demut" behält den „Menschen allezeit im Frieden" (ebd.). Auf sieben Stufen wird dieser Friede erreicht. „Die erste Stufe ist, 1) sich in seinem Herzen geringer halten denn andere Leute, und gern gering sein. 2) Niemand verachten oder richten, sondern allezeit auf sich selbst sehen. Andere mögen tun, was sie wollen, sei du nur selbst deiner eingedenk. 3) Angebotene Ehre fliehen . . . 4) Verachtung geduldig leiden . . . 5) Mit geringen Leuten gern umgehen . . . 6) Gern und willig gehorsam sein . . . Durch diese Staffeln steigen wir bis zu der siebten in den Thron Salomonis und zum wahren Frieden" (111,5,4). In einer von Ph.J. —>Spener besorgten Ausgabe der Vier geistreiche(tt) Bücher vom wahren Christenthum (1674) befinden sich neben Anmerkungen Speners auch solche von Varenius und Dorsche, die die das reformatorische Glaubensverständnis überschreitenden mystischen und spiritualistischen Elemente zurückdrängen. „Durchgehend wehren die Anmerkungen eine Auffassung der Demut als verdienstlicher Tugend und menschlicher Qualität ab und deuten sie reformatorisch als Erfahrung der menschlichen Nichtigkeit" (Brecht 141). Grund der Demut ist der Glaube, ohne den die Demut nicht lebendig ist. Entsprechend antwortet Spener auf die Frage: Was ist Demut? „Wenn ein Mensch in Betrachtung der hohen Majestät Gottes und hingegen seines eigenen menschlichen Unvermögens und elenden Zustandes sich von Herzensgrund erniedrigt, alles Vermögen, Gaben und an Seel und Leib verliehene Güter Gott dem Herrn zuschreibt, und sich desselben ganz unwürdig schätzt, dabei auch herzlich gesinnt ist, solche verliehene Gaben, Geschicklichkeit, Güter und dergleichen zu seinen Ehren und des Nächsten Erbauung, zur Seligkeit in aller Einfalt anzuwenden" (Einfache Erklärung 32). Auch er kennt wie Arndt Stufen der Demut, läßt aber die siebte, den inneren Frieden schaffende Stufe der Demut aus (ebd. 119). Denn in der Demut bietet der Mensch Gott nicht eigene Würdigkeit, sondern nur eigene „noth und bedürfftigkeit" dar (Ev. Glaubenslehre 324). Entsprechend mißt auch Maria im Magnifikat „ihren tugenden

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nichts zu, sondern allein der Barmherzigkeit ihres Gottes, begehret vor andern nichts zu seyn, sondern gibet Gott die ehre alles dessen, was an ihr geschehen seye. Welches auch die rechte art der wahren demuth ist, daß sie nichts zu seyn begehret und glaubet, hingegen was Gott für würde und gutes ihr ertheilet, es ihm alles lediglich wieder heimweiset" (ebd. 894). Wer aber sich so vor Gott demütigt, der kann nicht anders, als „auch gegen menschen demütig seyn" (ebd.). Die gründliche Demut gehört zum wahren Glauben, ohne welche dieser nicht lebendig ist (ebd. 1212). Doch ist sie nicht eine mystische Realität neben dem Glauben, sondern dessen Lebendigkeit in der praxis pietatis. A.H. —»Francke bewegt sich dagegen wiederum stärker „in der Vorstellungswelt Arnds", wenn er seine —»Bekehrung beschreibt. Er ist „aber auch von . . . molinistischen Gedanken befruchtet worden. Man kann sagen, daß er in seiner Bekehrung ihre Ideen eigenständig nacherlebt hat" (Peschke, Bedeutung 315). Er fordert den Bußkampf als unbedingte Voraussetzung der Bekehrung, die über die mortificatio zur vivificatio führt. „Es geht ,in Cruce ad lucem'. ,Die Sache von der Mortification ist so nöthig / als der Articul von der Rechtfertigung.' Mitten im Erleben größter Demütigung erfolgt die Gründung des Glaubens" (Peschke, Bekehrung 113). Erst wenn der Mensch sich in der Demut von aller sündigen Verhaftung an die Welt lossagt, erfolgt der Durchbruch zum rechtfertigenden Glauben. Die im Bußkampf Gott dargebotene eigene Niedrigkeit ist die Voraussetzung für den Empfang des lebendigen Glaubens. Diese äußert sich aber auch in demütiger Liebe. „Ziehe dich niemals einem andern vor . . . Du bist Staub und der andere ist Asche. Für Gott seid ihr beide gleich. Darum laß es dir, soviel an dir ist, gleichviel sein, wo du gehst oder stehst. Die Liebe ist demütig und erweckt durch ihre Demut wieder bei andern Liebe" (Regeln 88). 3.

Jesuitenorden

Im katholischen Bereich setzt sich vor allem in dem von Ignatius von —»Loyola 1539 gegründeten Jesuitenorden die monastische Demutstradition fort, freilich mit der Besonderheit, daß die Demut des Ordensmannes Ausdruck der ins Herz eingegossenen Liebe ist (—»Jesuiten). Zu den traditionellen Gelübden Armut, Gehorsam und Keuschheit treten die Verpflichtungen für den Katechismusunterricht und das Gelübde strikten Gehorsams gegenüber dem Papst hinzu, wodurch der Jesuitenorden zur tragenden Kraft der Gegenreformation wird. Das aus diesen Gelübden resultierende Selbstverständnis des Ordens wird fundamental von der Demut bestimmt. „Im Hinblick auf das Kreuz heißt Ignatius die Gesellschaft die ,Geringste' (minima) und ihren Beruf einen Beruf der ,Demütigung und Erniedrigung', weil sie wie Christus ,Knechtsgestalt' angenommen hat, um,allen zu dienen'" (v. Balthasar 276f). Unterwerfung unter den Papst und den Ordensgeneral sind konkreter Ausdruck der Demut (ebd. 283). In der Demut gilt es, dem eigenen Stolz zu widerstehen (ebd. 301) und „in unserem Herrn nach . . . größerer Selbstverleugnung zu streben und nach beständigerer Abtötung in allen nur möglichen Belangen" (ebd. 295). Doch das ist nur möglich aufgrund der —>Liebe. Denn „das innere Gesetz der schenkenden und sehnenden Liebe . . . , das der Heilige Geist in die Herzen schreibt und einprägt", hilft „mehr als jede äußere Bestimmung" (ebd. 287). Die aus der Liebe hervorgehende Demut vermehrt auch die—»Gnade. Je demütiger und weitherziger sich jemand der „Göttlichen Majestät gegenüber zeigt, desto verschwenderischer wird er Sie sich gegenüber finden und desto mehr wird er in Bereitschaft sein, Tag für Tag größere geistige Gnaden und Gaben zu empfangen" (ebd. 300). Die innere Demut zeigt sich in den aus der monastischen Tradition bekannten äußeren Verhaltensweisen wie in der Kunst zum Schweigen, zum rechten Wort zur rechten Zeit, in der Bescheidenheit und Zurückhaltung in den Gebärden, darin, den Anderen höher zu achten als sich selbst sowie in heiliger Nüchternheit und Schlichtheit zu leben (ebd. 301). Die so verstandene Demut wird auch als die fundamentale Tugend in der wechselvollen Geschichte des Ordens festgehalten. So bleibt nach Constantin de Barbanson die erste Regel der Jesuiten die „Tugend der Demut, die Verachtung und Erniedrigung seiner selbst", durch den Heiligen Mund des Herrn verkündigt: Nisi efficiamini sicut parvuli (Adnes 1179). Unser Erlöser ist selbst

Demut VII

481

der „große Spiegel und das Beispiel jeglicher Art von D e m u t , . . . in seiner Krippe, an seinem Kreuz und in den anderen Mysterien seines Lebens" (ebd.). 4. 18. und 19.

Jahrhundert

Während so teilweise im Pietismus - wenn auch in reformatorischer Umprägung— und in starkem Maße in der katholischen Gegenreformation sich mittelalterliches Gedankengut im Demutsverständnis fortsetzt, wird dieses in der —»Aufklärung vornehmlich auf seine ethisch relevanten Inhalte hin interpretiert. Nun wird die Demut als die Tugend der Bescheidenheit und der Selbsteinschätzung unter dem moralischen Gesetz verstanden. Schon der an der Grenze zur Aufklärung stehende orthodoxe Theologe J . L . v. —»Mosheim formuliert: „Demut ist ein gläubiger und lebendiger Vorsatz des wiedergebornen Willens, den angebornen Hochmut des Herzens oder die große Meinung von unsern Vorzügen und Verdiensten durch den Glauben und die Vernunft bis auf den Tod zu verfolgen" (IV,370). - A. J. Baumgarten schließlich versteht die Demut als die „Fertigkeit zur möglichen Betrachtung der Vorzüge anderer", und bei J. Chr. Gottsched ist sie „ein billiger Richter eigener und fremder Vollkommenheiten, nicht dem zuwider, durch lobwürdige Taten nach Ehre zu streben" (Schütz 58). — I. —»Kant begreift die Demut dann als Selbsteinschätzung der eigenen inneren Würde als sittliches Wesen. „Das Bewußtsein und Gefühl der Geringfügigkeit seines moralischen Werts in Vergleichung mit dem Gesetz ist die Demut (humilitas moralis)", die sich wohl davor bewahrt, durch „Vergleichung mit anderen Menschen" und durch das Bestreben, sie zu übertreffen, zum Hochmut zu werden (VI,435). - Im deutschen —»Idealismus tritt dagegen das religiöse Moment des Demutsbegriffes wieder stärker hervor. So zeigt sich nach J. G. —»Fichte in der Demut der göttliche Charakter des selbständigen und selbsttätigen Ich. „Lasset uns selig sein in der einfachen Treue gegen das Göttliche in uns, demselben folgen, wie es uns zieht, und weder durch eigene Werkheiligkeit, noch durch Selbstzerknirschung uns allerlei ankünsteln, das nicht aus ihm ist" (111,394). — Nach F. D. E. —>Schleiermacher ist diese in der Demut sich zeigende Selbständigkeit des Ich nur als Ausdruck schlechthinniger Abhängigkeit des Menschen von Gott zu verstehen. Entsprechend lädt er in einer Predigt über Hiob 42,1—3 dazu ein: Wir wollen uns „gemeinschaftlich vor Gott demuethigen, und zwar erstlich vor seiner Allmacht, zweitens vor seiner Weisheit, und drittens vor seiner Gerechtigkeit" (1,66). Dieses Verständnis der Demut als Innewerden der eigenen schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen von Gott entzündet sich an dem reinen und wahren Gottesbewußtsein Jesu. „Demuth ist das beständige Bewußtsein vom Unterschiede zwischen uns und Christo, so daß der sittliche Werth eines jeden einzelnen im Vergleiche mit dem der anderen einzelnen gar nicht in Anschlag kommt" (Christi. Sitte 616). Diese Demut verhindert als sittliche Tugend zugleich den sittlichen Hochmut als eines Zur-Geltung-Bringens des eigenen sittlichen Selbstwertes oder Vorzugs gegenüber anderen. So ist die „christliche Demuth . . . der natürliche Name dieser Richtung der sittlichen Schönheit, dieses Gegensatzes gegen alle intellectuelle Eitelkeit, gegen allen geistlichen Hochmuth" (ebd. 615). - W . M . L . -^De Wette folgt Schleiermacher, will aber die Demut auf die Gottesbeziehung des Menschen einschränken (111,275f). — R. —»Rothe betont dagegen wiederum sowohl den religiösen wie den sittlichen Wert der Demut: „Die Demuth ist eben, noch ganz abgesehen von der Sünde, wesentlich ,das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl'. Es ist eine sehr richtige Bemerkung Kant's, daß sie nothwendig zugleich mit einer hohen moralischen Erhebung verbunden ist" (§ 651). — Für A. Ritsehl ist die Demut Ausdruck christlicher Vollkommenheit und wird von ihm deutlich gegen ein pietistisches Verständnis der Selbsterniedrigung abgegrenzt (vgl. Rechtfertigung III,604f). „Die christliche Vollkommenheit, welche dem persönlichen Vorbilde Christi entsprechen wird, gliedert sich in die religiösen Funktionen der Gotteskindschaft und Herrschaft über die Welt, nämlich den Glauben an die väterliche Vorsehung Gottes, die Demut, die Geduld, das Gebet, — und die sittlichen Funktionen des pflichtmäßigen Handelns im besonderen Beruf, und der Tugendbildung" (Unterricht § 59). Dabei ist die Demut „das Geheimnis des religiösen Menschen vor sich selbst" (ebd. § 61). Als Unterordnung unter die Fügung des allmächtigen und gnädigen Gottes ist sie geradezu „die

482

Demut VII

subjective Religion selbst" (Rechtfertigung 111,601), in der der Mensch allen Widerständen zum Trotz, die sich seinem sittlichen Handeln entgegenstellen, seine religiöse Selbständigkeit in der Welt wahrt und zugleich „die göttliche Verbindlichkeit der gemeinsamen sittlichen Aufgabe und unsere Verantwortlichkeit vor G o t t " anerkennt (ebd. 6 0 2 f). - Entsprechend bestimmt auch W . —>Herrmann die Demut als das von Jesus geschenkte innere Leben, das bereit ist „zum Verzicht auf ein eigenmächtig gewähltes Lebensziel", zum „Lebenwollen für andere" und zur „Ergebung in das Dienen" ( 5 7 5 ) . - In der —»Dialektischen Theologie wurde dieses Verständnis der Demut als Bestimmung des sittlich-religiösen Bewußtseins nicht rezipiert; statt dessen wird die Demut z.B. von K. —»Barth in Entsprechung zur Kondeszendenz Jesu Christi neu als Gehorsam des Glaubens definiert ( 7 0 8 ff). In der neueren katholischen Theologie wird die Demut als Tugend des Selbstverzichtes entweder mehr im Anschluß an das Neue Testament (B. Häring) oder an T h o m a s (V. Cathrein) bestimmt. - In der neueren Philosophie verfiel die Demut bei F. —»Nietzsche als ein gefährliches und verleumderisches Ideal dem Verdikt, oft nichts anderes zu sein als „Deckmantel für feige Furchtsamkeit, dem Geschick mit Entschiedenheit entgegen zu treten" (67), während M . —»Scheler sich in seiner Rehabilitierung der Tugend um eine neue Phänomenologie der Demut bemüht. Sie ist für ihn, orientiert an der Demut Jesu, die „innere seelische Nachzeichnung der einen großen Bewegung des Christlich-Göttlichen", das sich von seiner Hoheit in die Knechtschaft begibt (17). Nikolai H a r t m a n n sieht in der Demut ein „Distanzgefühl, das erdrückt und zugleich erhebt" ( 4 7 6 ) . Quellen Zu V: Sancii Bernardi op. omnia, Rom, I—II, ed. J. Leclercq/C.H. Talbot/H. Rochais, 1957f; III—VIII, ed. J. Leclercq/H. 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483

Demut V n i

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VIII. Ethisch 1. Die Demut vor dem Hintergrund einer allgemeinen Tugendlehre 2. Zur Gegenwartsbedeutung des fciimi/i/as-Verständnisses Luthers 3. Die ethischen Konsequenzen von Demut und Heiligung (Literatur S. 487) 1. Die Demut

vor dem Hintergrund

einer allgemeinen

Tugendlehre

In einer Zeit, da die Fragestellungen der Ethik sich vorwiegend mit sozialethischen und normativen Problemkreisen beschäftigen, mutet eine Auseinandersetzung mit der christlichen Tugend Demut, die sich nicht auf das rein Historisch-Deskriptive beschränkt, sonderlich an. Dieses Gefühl wird noch dadurch verstärkt, daß die Minderung ihres Stellenwertes innerhalb der protestantischen —»Ethik nicht erst mit der Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz des Evangeliums zu Beginn der 6 0 e r J a h r e einsetzte, sondern bereits mit der Dem o n t a g e der Tugendlehre im Ausklang des 19. Jh. begann. Die Gründe hierfür sind vor allem in der verstärkten Rückbesinnung auf die reformatorischen Anfänge in den 2 0 e r Jahren, w o v o n die schwedische Lutherforschung um A. —»Nygren und R . Bring eines der genuinsten Zeugnisse darstellt, sowie in der radikalen Ablehnung des Tugendbegriffes durch die —»Dialektische Theologie (vgl. Brunner 1 4 6 f f ) zu suchen. Dieses Pointieren des Scheidenden und E x t r e m e n gegenüber dem Organisch-Wachsenden, Beständig-Habituellen wurde in der modernen protestantischen Sozial- aber auch Individualethik zum Teil dergestalt weitergeführt, daß die erstgenannte sich vorwiegend mit gesellschaftskritischen Theorien verband und besonders das kritische, infragesetzende Element des Evangeliums hervorhob, während sich die Individualethik im Gefolge des Existentialismus in erster Linie mit den sogenannten Grenzsituationen beschäftigte. Obgleich z. B. A. Nygren und K. —»Barth die Demut gelegentlich erwähnen (vgl. Barth, K D . Reg.bd. 2 2 7 ) , ist sie aufs Ganze gesehen von untergeordneter Bedeutung, denn sie kann nur dort eine Rolle spielen, w o ihr Oberbegriff, die Tugend, von Relevanz ist. Diese Behauptung läßt sich durch eine Prüfung der einschlägigen Literatur belegen: Während die Demut überall dort, wo die Tugendlehre ein tragender Teil der Ethik ist, nämlich in der katholischen Sittenlehre sowie in ihrer Spiritualität, eine immer wiederkehrende Größe darstellt und durch einige Monographien als Haupttugend gewürdigt wurde (so zuletzt von Przy-

Demut Vili

484

w a r a ) , ist auf protestantischem Gebiet streng genommen seit A. ^»Ritschl und W . —»Herrmann nichts Grundlegendes mehr über die D e m u t gesagt worden. Eine echte N e u b e w e r t u n g der D e m u t ist deshalb eigentlich vollständig nur im R a h m e n einer Rehabilitierung der T u gendlehre möglich, was hier zu weit führen würde. Das Wesen des katholischen Tugendbegriffes entspringt letztlich der auf —»Aristoteles aufbauenden und durch die —»Scholastik verfeinerten Distinktion zwischen dispositio und habitus, w o n a c h —»Tugend nicht n u r etwas Angeborenes, sondern auch eine erworbene Fertigkeit ist. W i e der M e n s c h eine gewisse Fertigkeit in einem handwerklichen oder wissenschaftlichen Beruf erwerben k a n n , so vermag er seine sittliche Persönlichkeit zu bilden: „ A u f Grund dieser Erfahrungstatsachen kann man mit R e c h t die Fertigkeit (habitus) definieren als eine dauernde Eigenschaft (dispositio), welche durch Ü b u n g in einer von N a t u r vorhandenen Fähigkeit entsteht und dieselbe zu bestimmten Handlungen geneigt m a c h t " (Cathrein 2 7 3 ) . Ihre Gestaltung, und dies ist für die Stellung der D e m u t entscheidend, empfing die k a tholische Tugendlehre aus dem Zusammenspiel von antiker und neutestamentlicher T u gendlehre, das in der Synthese —»Thomas' von Aquin (fides, spes, Caritas plus prudentia, iustitia, temperantia, als deren Unterbegriff die humilitas, fortitudo [s. o . A b s c h n . V]) seinen H ö h e p u n k t und Abschluß erreichte. Durch ihre substantielle Verankerung in der Gnadenlehre (vgl. D i e k a m p / J ü s s e n II, 4 2 0 f f ; Sinner 1 6 4 f f ) ist ihre Stellung k a u m jemals so zu erschüttern wie die der protestantischen Tugendlehre. W e r sich im Hinblick a u f die protestantische Ethik nur z. B . der T r a g w e i t e des vor allem von K. —»Holl aufgegriffenen Problems des Verhältnisses von effektiver und forensischer Rechtfertigungslehre b e w u ß t wird und die streng dekalogische Deutung der Tugendlehre durch —»Luther betrachtet, k a n n verstehen, d a ß die Tugendlehre zwar als bleibendes Problem von —»Rechtfertigung und —»Heiligung bestehen blieb, aber trotz o r t h o d o x e r Modifikationsversuche k a u m zum tragenden Element werden konnte. Dies ändert sich erst in der auf F. D . E. —»Schleiermacher folgenden Epoche des —»Neuprotestantismus. Schleiermacher und in seinem Gefolge vor allem R . —»Rothe, A. Ritsehl, W . H e r r m a n n und E . —»Troeltsch erkannten, d a ß weder der —»Dekalog noch das klassische Schema der vier Haupttugenden als A n t w o r t auf die immer komplizierteren Probleme des modernen Lebens ausreichten. Sie beschrieben, mit unterschiedlicher Verlagerung der Akzente, die Tugendlehre in F o r m einer christlichen Stufenethik, d. h. als Werden einer sittlichen Persönlichkeit, die ihren Impuls aus dem Glauben an die —»Gnade Christi erhält und Stufe um Stufe unter strikter Einbeziehung aller weltlichen und beruflichen Pflichten versucht, eine Angleichung an und Vereinigung mit ihrem Vorbild zu erreichen. Der Unterschied zwischen dieser Tugendlehre und ihrer katholischen Entsprechung liegt in erster Linie in dem unterschiedlichen Verständnis der Gnadenlehre, die Entsprechung liegt in der gemeinsamen Auffassung der T u g e n d als eines Prozesses, in dem dann die D e m u t einen Teil bildet. V o r dem Hintergrund des Gesagten ergibt sich folgende Problemlage: Auf der einen Seite m u ß in Anknüpfung an die Fragestellung der - » L i b e r a l e n T h e o l o g i e versucht werden, der D e m u t einen Platz innerhalb des auf die Rechtfertigung folgenden Heiligungsprozesses zu sichern; auf der anderen Seite m u ß im bewußten R ü c k g r i f f auf die reformatorischen Errungenschaften jene F o r m von Synergismus vermieden werden, die der habituellen D e m u t innerhalb der katholischen Glaubenslehre zweifellos anhaftet (Cathrein 9 0 ) .

2. Zur Gegenwartsbedeutung

des humilitas-Verständnisses

Luthers

Für —»Luther ist D e m u t nicht eine Tugend neben anderen, sondern die Grundhaltung des Christen schlechthin (s. o . Abschn. V I . l ) . Dies ist das Gegenstück jener Karikatur von Demut als reinstem Ausdruck einer R e s s e n t i m e n t - M o r a l , wie sie F. —»Nietzsche zeichnet ( 1 1 7 0 u . ö . ) . In einer Zeit, in der die Nützlichkeitsfrage fast alle menschlichen Bereiche in Besitz gen o m m e n hat, ist dieses einfache „ S i c h - Ü b e r l a s s e n " , der Verzicht auf Nutzen und Dank auch in den tiefsten Fragen des Lebens, eine Paradoxie. Sie ist in dieser F o r m w o h l in der heutigen Zeit, und hier m u ß man M . —»Scheler recht geben, „die zarteste, die verborgenste und die schönste der christlichen T u g e n d e n " (Rehabilitierung 2 3 ) . Diese Art von christlicher D e m u t ist keine servile Unterwürfigkeit unter das Unrecht und

Demut VOI

485

die Mächtigen der Welt, sondern ihr Bezug ist immer ein religiöser. Der ständige Vergleich der eigenen Unvollkommenheit mit der absoluten Vollkommenheit Gottes zerbricht die menschliche Ursünde der superbia. Den tieferen Sinn des Mythos, der diesuperbia zum Ursprung des Teufels macht, haben nicht nur —»Augustin und Luther für ihre Zeit gedeutet, sondern auch z. B. Scheler und —>Bonhoeffer dem modernen und mündigen Menschen nahegebracht. Eine der Hochmut entgegengesetzte Demut ist jedoch kein zerknirschtes Arme-Sünder-Dasein, kein sich ständiges Vergegenwärtigen der aktuellen empirischen Sünden, wie dies mit großer Subtilität in Vorbereitung der Demutsübungen des Ignatius von —»Loyola geschieht (s. o. Abschn. VII.3). Die oft vollzogene Gleichsetzung von Zerknirschung über aktuelle Sünden und Demut widerspricht nicht nur dem humilitas-Begntí Luthers, für den zudem ja Sünde nicht Quantität sondern Qualität, nicht Tatsünde sondern Gesinnung ist, sondern hat, wie Ritsehl zu Recht bemerkt (111,601), auch in der Schrift keine Verankerung, da Jesus als das Urbild der Demut als von Sünden frei gezeichnet wird. Der Gegensatz hierzu, nämlich die höchste Form des Stolzes, die radikalste Einsamkeit und totale Unfähigkeit zur Liebe verkörpert sich für Luther im —>Teufel. Auch für die Satanologie Luthers gilt das Gleiche wie für den Mythos überhaupt, nämlich daß in seiner poetischen Verkleidung und in seiner bewußten Unwirklichkeit kritische Wahrheiten intuitiv ausgedrückt werden, wie sie das moderne, wissenschaftliche und auf Stringenz ausgerichtete Denken nicht mehr zu formulieren vermag. Innere Verschlossenheit, Einsamkeit und Lieblosigkeit kann man nicht durch bloße Anstrengung überwinden — die oft bezeugte Ungerechtigkeit der Liebe ist ein handgreiflicher Beweis hierfür - , sondern man muß wieder ein Kind werden und sich alles wieder schenken lassen, alles, auch das Einfachste, als Wunder neu erleben. Nur in dieser Selbsthingabe kann man Gott begegnen und sich „unter die Flügel der Henne Christi stellen" (WA 4 7 , 5 3 7 - 5 3 9 ) . Dieser Zug in Luthers Theologie ist von der Religionsphilosophie Schelers und der gleichzeitigen Lutherrenaissance aufgegriffen worden und bildet bei Nygren das Instrument zu einer Betrachtung der Dogmen- und Theeologiegeschichte von den Anfängen des Christentums bis zu Luther. Im Zusammenhang mit seiner Explikation des Agapemotives weist Nygren das habituelle, von Augustin und den Exerzitien entlehnte Demutsverständnis ab (49.76) und setzt dagegen seinen Agapebegriff, der aber rein sachlich den extremen humilitas-Begriff Luthers voraussetzt. Nygren vermeidet zwar im Interesse einer radikalen Scheidung der Theologie Luthers von der Mystik den Begriff Demut, aber er ist dessen ungeachtet derjenige Theologe, der die humilitas-Theologie Luthers mit ihren Konsequenzen am profiliertesten ausgebaut hat. Der einzelne Mensch ist in Anlehnung an Luther nichts mehr als der „Kanal" für Gottes herabströmende —»Liebe zum Nächsten. Der Mensch hat als Subjekt aufgehört zu existieren: „Das Subjekt der christlichen Liebe ist nicht der Mensch, sondern Gott selbst, doch so, daß die göttliche Liebe den Christenmenschen als ihr Werkzeug und Organ verwendet. Der Christ steht mitten zwischen Gott und dem Nächsten. Im Glauben empfängt er Gottes Liebe, in der Liebe gibt er sie weiter an den Nächsten" (577). Nygren hat hier den wichtigen Punkt der Einheit von Sittlichkeit und Religion in der Demut, mit der genannten Einschränkung, in ihrem theozentrischen Bezug hervorgehoben. 3. Die ethischen

Konsequenzen

von Demut und

Heiligung

Diese Klarheit und Eindringlichkeit der Weiterentwicklung des Lutherschen humilitasVerständnisses durch Nygren wird jedoch erkauft durch die Nichtberücksichtigung des Kontaktes des Christen zur Welt. Wie sich die Demut in den verschiedenen Lebenslagen unterschiedlich zeigt, so verworren und schwierig zu durchschauen ist der Weg des einzelnen Christen in die Ergebung. Die von Jesus angeführte Einfalt des Kindes wäre reine Tändelei, wenn sie nicht die Lebensgeschichte des reifen Menschen miteinbeziehen würde, wenn sie nicht in der Lage wäre, in dem Rätselhaften und in dem Leid eines langen Lebens die Führung Gottes zu sehen. Es kann nicht im Interesse des Reformators gewesen sein, das sittliche Wachstum und das vertiefte Demutsverständnis, wie sie jedes christliche Leben erfährt, zu leugnen. Gegenüber der katholischen Habituslehre, die den jeweiligen Stand des Gläubigen

486

Demut VIII

an den guten —»Werken mißt und für die der —»Glaube durch die vorausgehende Demut bestimmt ist (vgl. Cathrein 84), muß auf protestantischer Seite umgekehrt von einem Wachstum des Glaubens gesprochen werden (vgl. hierzu Mt 17,20). Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Auffassungen liegt darin, daß nach reformatorischer Ansicht die Rechtfertigung als Voraussetzung des Glaubens nicht wächst; hier gibt es nur ein Entweder-Oder, aber im Prozeß der Erneuerung kann man von einer Stärkung des Glaubens sprechen (vgl. Schleiermacher II, §§ 1 0 6 - 1 1 2 ) . Es ist selbstverständlich, wie Trillhaas zu Recht bemerkt (173), daß dem heutigen Menschen bei der Wertung des Begriffes der sittlichen Persönlichkeit andere Maßstäbe vorschweben als dem Idealismus und der Romantik und daß besonders das Soziale stärker einbezogen werden muß. Jedoch ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Wurzel der christlichen Tugendlehre und nicht zuletzt die der Demut, trotz der immer stärker werdenden Forderung nach sozialem Engagement, in der Individualethik verbleiben muß. Eine christliche —»Sozialethik unterscheidet sich von einer Sozialethik im weiteren Sinne doch gerade durch ihre Konzentration auf das Individuelle, denn die entscheidenden Punkte im menschlichen Leben, wie zum Beispiel der—»Tod und der Glaubenskampf, sind ganz und gar persönlich. Mußte der Liberalen Theologie ihr einseitiger Bezug auf die Individualethik vorgeworfen werden, so müssen in der gegenwärtigen theologischen Situation die individualethischen Aspekte ein Korrektiv zur Sozial- und Normethik bilden. Die Demut ist eine individualethische Größe. Obwohl der Reifungsprozeß des Menschen zu echter Demut immer im Bezug zur Gesellschaft geschieht und auch die Früchte der demütigen Gesinnung den Mitmenschen zugute kommen, wäre eine Forderung nach kollektiver Demut absurd, denn die Demut ist in erster Linie eine religiöse Größe, die dadurch entsteht, daß der einzelne Mensch in der Kompliziertheit seiner subjektiven Bezüge die Führung Gottes erkennt. Kein Mensch kann dies letztlich einem anderen abnehmen. Es ist zu bedauern, daß die protestantische Theologie in Deutschland es seit den Tagen der Liberalen Theologie mehr oder weniger versäumt hat, sich mit denjenigen Strömungen auseinanderzusetzen, die sich um die Klärung dieses schwierigen seelischen Prozesses bemühen. Dies sind einmal die auf W. James aufbauende angelsächsische, zumeist rein empirisch arbeitende —»Religionspsychologie und zum anderen die reiche Spiritualtheologie der katholischen Kirche. Ein interessanter Versuch zur Deutung der religionspsychologischen Größe Demut wurde unter tiefenpsychologischem Vorzeichen neuerdings von L. Gilen vorgenommen. Die genannten Untersuchungen stimmen darin überein, daß echte Demut und servile Unterwürfigkeit nichts miteinander zu tun haben, sondern daß Demut die Lebenshaltung des gereiften Menscheen ist und sich nur durch ihren religiösen Bezug von Resignation und Schwermut unterscheidet. Ein Uberblick über die grundlegende/>«w/7;ias-Literatur von Augustin, über die —»Mystik, Loyola, Luther (vgl. Söderblom) bis zu Herrmann zeigt, wie nahe beieinander Schwermut und Demut liegen, denn jede Form von Demut ist das Stillewerden nach einem Kampf, und Demut setzt immer das Erfahren der eigenen Grenze und die sittliche Krise voraus. Diese Krise kann auf der einen Seite in Hoffnungslosigkeit ausmünden, weil dann der Mensch sein Leben als verspielt ansieht und versteht, daß die Zeit der Möglichkeiten und Erwartungen unwiderruflich vorbei ist. Es ist der Zustand, in dem der Mensch sich selbst aufgibt, der Zustand, der in der Moraltheologie des Thomas als die größte Sünde bezeichnet wird (11—11,20,3) und der in der modernen Dichtung im Werk des irischen Dramatikers Samuel Beckett artikuliert wird. Aber im Grunde ist auf der anderen Seite diese Lebensschwermut Sehnsucht nach Liebe. Sie ist, wie Scheler hervorhebt, die Not der Geburt des Ewigen im Menschen. Demut als jene Stimmung der Ruhe, der Selbstübergabe, der Resignation in den die Sünde verurteilenden, strafenden Willen Gottes, aber gleichzeitig als das Erleben der Caritas Dei, der unverdienten, aber überreichen Liebe Gottes, ist keine Rückkehr zur unreflektierten Einfalt des Kindes, sondern das Erleben des unerklärlichen Leidens als Zeichen der Liebe Gottes. War Luther zu diesem befreienden Erlebnis in der Welt des mittelalterlichen Mönchtums gekommen, so steht vor dem modernen Menschen die Aufgabe, Gottes Wille und Güte

Demut Vili

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in einer Welt zu suchen und zu finden, die in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit ganz andere Maßstäbe hat als die des Reformators. Noch weniger als damals kann Demut die Abkehr von der konkreten Lebenslage des einzelnen Menschen beinhalten. W. Herrmann hat in seiner Ethik und vor allem in seinem für das evangelische Demutsverständnis wichtigen Artikel in R E 3 immer wieder darauf hingewiesen, daß die christliche Demut die durch die Allmacht Gottes erzeugte Willigkeit ist, sich dem konkreten Gegenüber wahrhaftig durch Dienen unterzuordnen. Obleich Herrmann die Demut enger faßt als Luther, ist es sein Verdienst, unter positiver Wertung des Ritschlschen Gedankengutes den Begriff Demut ein für alle Mal von seinem quietistischen Odium befreit und das sittliche Wollen, das Dienen, als die Vollendung des religiösen Erlebnisses von Demut verstanden zu haben. Diese Konzentration auf das Sittliche bedeutet keine Aufgabe ihres religiösen Grundes, sondern im Dienst am Nächsten, in einer konkreten Tätigkeit, verbirgt sich die Demut am besten, denn der wahrhaft Demütige will niemals als demütig erscheinen. Die Demut ist hier nach dem bekannten Wort Scrivers wie das Auge, das alles sieht, nur sich selbst nicht (725). Herrmanns Deutung des sittlichen Impetus von Demut ist jedoch zu sehr im Individualethischen befangen. Obgleich Demut in ihrem innersten Kern immer ein subjektives religiöses Erlebnis bleibt, kann sich das Dienen nicht nur auf die persönliche Sphäre, auf die konkrete Nächstenliebe beziehen, sondern sie muß auf jeden Fall das Soziale berücksichtigen. Es ist die Frage, ob die Kantsche Personalethik, die der Sittenlehre Herrmanns zugrundeliegt, gerade mit ihrer starken Konzentration auf die sittliche Autonomie des Individuums nicht dasjenige ist, was das spezifisch Zeitgebundene des Demutsverständnisses Herrmanns ausmacht, und nicht so sehr sein lutherischer Hintergrund; denn die Lehre Luthers vom —»Beruf schließt die sozialen Bezüge stärker ein, als dies eine ausgesprochene Individualethik vermag (vgl. Wingren). Die heutige theologische Diskussion ist der Frage, wie das soziale Dienen in einer Welt der Umweltzerstörung, der sozialen Ungerechtigkeit, des Wirtschaftsgefälles zwischen Nord und Süd usw. möglich ist, im verstärkten M a ß e nachgegangen, und diese Fragestellungen sind in der Tat in jeder christlichen Ethik von steigender Bedeutung. Hier kommt es überdies zu einem lebendigen Kontakt mit den Problemkreisen anderer Wissenschaften, ein Kontakt, der seit jeher die wissenschaftliche Theologie vorangetrieben hat. Gegenüber der Vielzahl und Mannigfaltigkeit der Probleme und des aktuellen Materials darf jedoch nicht vergessen werden, daß die christliche Sozialethik auf der Individualethik ruht und daß sich das Wesen der Demut nirgends und niemals im sozialen Dienen erschöpft, sondern im Grunde immer eine persönliche Begegnung des Einzelnen mit seinem Schöpfer ist. Mußte gegenüber dem Demutsverständnis von Herrmann das Recht und die Pflicht zum sozialen Dienen betont werden, so muß heute angesichts der schwindenden theologischen Substanz in der aktuellen christlichen Ethik das religiöse und individuelle Element und damit zwangsläufig die geschichtliche Dimension neu betont werden. So anachronistisch die Beschäftigung mit der Demut schon vielen modernen protestantischen Sozialethikern anmuten mag, soviel unverständlicher werden einer auf schonungsloser Konkurrenz aufbauenden Leistungsgesellschaft die Worte des Paulus „Was hast du aber, das du nicht empfangen hast?" (I Kor 4,7) sein. Literatur Otto Friedrich Bollnow, Maß u. Vermessenheit des Menschen. Phil. Aufs. NF, Göttingen 1962. DietrichBonhoeffer, Widerstand u. Ergebung,hg. v. E. Bethge, München 1 9 5 5 , 1 5 0 f f . - E m i l B r u n n e r , Das Gebot u. die Ordnungen, Tübingen 2 1933. - Father Canice, Humility. The Foundations of the Spiritual Life, Westminster, Md. 1951. - Viktor Cathrein, Moralphil. Eine wiss. Darlegung der sittlichen, einschließlich der rechtlichen Ordnung, 2 Bde., Freiburg i.Br. 1918/19. - Franz Diekamp/Klaudius Jüssen, Kath. Dogmatik nach den Grundsätzen des hl. Thomas, Münster, II u / 1 2 1 9 5 9 . - F e r n a n d - M a rie Fortin, La pierre d'Assise. Essai sur l'humilité, Montreal 1955. — René-A. Gauthier, Magnanimité. L'idéal de la grandeur dans la philosophie paienne et dans la théologie chrétienne, 1951 (BiblThom 28). - Leonhard Gilen, Zur Psychologie der rei. Persönlichkeit. Selbstwertstreben u. Demut, Regensburg 1977. - Romano Guardini, Vom Sinn der Schwermut, Zürich 1949. - Bernhard Häring, Das Gesetz

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Denck

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Aleksander Radler Denck, Hans (ca.

1500-1527)

1. Leben H. Denck wurde um 1500 in Heybach, Oberbayern, geboren. Zwischen 1518 und 1520 promovierte er an der Universität —»Ingolstadt. Die folgenden drei Jahre sahen ihn in Augsburg, Donauwörth und Regensburg auf der Suche nach einer geeigneten Anstellung. Ende 1522 lebte er in Basel, wo er seinen Lebensunterhalt als Korrektor verdiente. Seine Kenntnisse in den klassischen Sprachen lassen auf humanistische Neigungen schließen. Auf Empfehlung —»Oekolampads, in dem er einen verwandten Geist gefunden zu haben scheint, wurde Denck in —»Nürnberg zum Rektor der Schule an der Sebalduskirche berufen. Unzufrieden mit dem Fortgang der offiziellen Reformation, schloß sich Denck einem Kreis radikaler Anhänger der Gedanken —> Karls tadts und -»Müntzers an. Bereits am 13. Juni 1524 sprach der Nürnberger Rat einen Verweis gegen ihn aus, weil er seinen Schülern eigenmächtig untersagt hatte, bei der Feier der Messe zu assistieren. Im Januar 1525 verlangte man von ihm eine schriftliche Erklärung über seine Stellung zu Schrift, Sünde, Gerechtigkeit Gottes, Gesetz, Evangelium, Taufe und Abendmahl. Sein daraufhin abgefaßtes „Bekenntnis" wurde der Geistlichkeit zur Prüfung übergeben. Die rechtlichen Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Noch im Januar wurde Denck wegen „verführerischer, unchristlicher" Lehren verurteilt, seiner Stelle enthoben und aus der Stadt ausgewiesen. Diese Nürnberger Ereignisse warfen einen langen Schatten auf seinen weiteren Lebensweg. Im Herbst 1525 ließ sich Denck in aller Stille in Augsburg nieder. Hier empfing Hans —»Hut durch ihn die Taufe. Gerüchte über seine Tätigkeit gelangten bald zu Urbanus —»Rhegius, der vor allem an Dencks angeblicher Lehre einer allgemeinen Erlösung Anstoß nahm. Überdies wurde die Stadtobrigkeit auf seine Nürnberger Vergangenheit aufmerksam gemacht. Um einer öffentlichen Konfrontation auszuweichen, siedelte Denck nach —»Straßburg über. Aber die Nachricht von seinen abweichenden Überzeugungen lief ihm voraus. —»Bucer selbst hielt es für seine Pflicht, die theologischen Irrtümer des gefährlichen Häretikers bloßzulegen. Weihnachten 1526 war Denck von neuem ein heimatloser Flüchtling. Eine gemeinsam mit Ludwig Hätzer (ca. 1 5 0 0 - 1 5 2 9 ) geplante Übersetzung der alttestamentlichen Propheten brachte Denck nach Worms. Dort machte sich rasch sein Einfluß auf den Reformator der Stadt, Jakob Kautz (ca. 1 5 0 0 - nach 1532), bemerkbar. Denck und

Denck

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Hätzer schlössen ihr Projekt am 13. April 1527 ab (—»Bibelübersetzungen) und verließen dann Worms, bevor der Kampf gegen ihre Freunde mit voller Stärke begann. An ein öffentliches Auftreten war nicht mehr zu denken. Im August 1527 nahm Denck heimlich an der sogenannten „Märtyrersynode" in Augsburg teil, spielte dabei jedoch nur eine bescheidene Rolle. Im Oktober suchte der nirgendwo Gelittene Zuflucht in Basel, wo er auf Drängen Oekolampads eine selbstkritische Revision seiner Überzeugungen und seiner Beziehungen zum Täufertum verfaßte. Dieser Widerruf wurde postum veröffentlicht; denn Mitte November hatte die Pest seiner Odyssee ein Ende gesetzt. 2. Werk Der oben skizzierte Lebenslauf hilft zu verstehen, warum Dencks Hauptwerke in ihrer modernen Ausgabe weniger als 100 Seiten umfassen. Drei von ihnen: Was geredt sei, dass die Schrift sagt, Wer die Wahrheit wahrlich lieb hat und Vom Gesetz Gottes, entstanden 1526 in Augsburg. Von der wahren Liebe und Ordnung Gottes und der Kreaturen Werk fallen in das Jahr 1527 und sind in Worms erschienen. Sein Widerruf, seine Niederschrift über die Taufe und der Kommentar zum Propheten Micha erreichten die Öffentlichkeit nur indirekt. Obwohl der letztere auf Dencks Übersetzung in den Wormser Propheten basiert, ist seine Echtheit fraglich. Mit dem Nürnberger Bekenntnis, einem Brief an die Augsburger Zusammenkunft, Dencks letztem Brief an Oekolampad und Etliche Hauptreden ist die Reihe der erhaltenen Primärquellen aufgezählt. Die letzteren wurden nach seinem Tode als Anhang zur Theologia Deutsch (Ausg. Worms 1528) gedruckt. Von seinen Frühschriften sind nur einige lateinische und griechische Epigramme sowie kurze Briefe an den Humanisten Veit Bild (1481-1529) erhalten geblieben. Dencks Schriften entspringen einem Geist der Toleranz und bilden so eine Anklage gegen das Klima der Engstirnigkeit, das ihm zum Schicksal wurde. Zentrum seiner humanistisch-mystischen Frömmigkeit ist eine Schau der Gegenwart Gottes durch sein Wort in allen Menschen. Im irdischen Jesus sieht er den großen Lehrmeister und das verpflichtende Beispiel, im inneren Wort die ontologische Verbindung, die durch Vermittlung der Gnade ein Leben in Demut und Liebe ermöglicht. Die Liebe wird überhaupt zum Leitmotiv seines theologischen Denkens. Ein Gott der Liebe straft nicht um der Strafe, sondern um der Besserung willen. Im Heilsgeschehen bringt die göttliche Liebe das menschliche Wollen zur Übereinstimmung mit dem in Christus offenbarten göttlichen Zweck. Das Böse und die Sünde, die als Verlust göttlicher Güte gedeutet werden, überwindet der einzelne Gläubige durch Kooperation mit der göttlichen Gegenwart in ihm. In diesem Zusammenhang finden Dencks oft behaupteter Universalismus und seine Abweichung von den Lehren der Hauptreformatoren ihre Erklärung. Unfähig, Luthers Gefühl menschlicher Sündhaftigkeit zu akzeptieren, suchte Denck einen Mittelweg zwischen Prädestination und menschlicher Selbstverantwortung. Er warnte vor den Folgen von Luthers gesetzesfeindlichen Tendenzen. Gegenüber der vorwiegend polemischen Verwendung von Schriftzitaten in theologischen Streitigkeiten berief er sich auf das innere Wort. Ein wahrhaft geistliches Leben liegt nach seiner Auffassung irgendwo zwischen Affekt und Verstand. Durch seine Betonung der inneren Erfahrung wurden ihm Äußerlichkeiten zu bloßen Zeichen. Er ergriff für die -^»Täufer Partei, weil er die —»Taufe als Bekenntnis zu einer inneren Wiedergeburt und als deren äußeres Zeichen verstand. Was für die Erlösung des Einzelnen gilt, trifft auch für die gesamte Menschheit zu, wo die göttliche Liebe die Gottesferne des Menschen schließlich überwinde. Da für Denck alle Strafen Gottes dem Ziel der Besserung dienen, konnte er sich kaum mit der Vorstellung einer ewigen Hölle abfinden und meinte, daß die Unwilligen durch ausgedehntes Leiden zur Umkehr gebracht würden. In seinem Widerruf nimmt Denck seine Grundüberzeugungen nur zum Teil zurück. Er findet die Kindertaufe nicht in der Schrift angeordnet, erklärt sich aber zum Verzicht auf die Erwachsenentaufe bereit, um Ärgernis, Spaltung und Sektiererei zu vermeiden. Letztlich seien Äußerlichkeiten Adiaphora und nur als Wegweiser zu einem tieferen geistlichen Verständnis und zu christusähnlicher Lebensführung hilfreich.

Denifle

490 3.

Nachwirkung

Während die Zeitgenossen in Denck „den Papst, den Abt, den Apoll" oder „den Rabbi" der Täufer sahen, ist das Urteil der Historiker zwiespältiger. Einige spielen seine Bedeutung innerhalb des Täufertums als die einer Randfigur oder eines Halbtäufers herunter. Denck läßt sich nur schwer in eine separatistische Sektentypologie einordnen, da er an einer Bewegung teilnahm, die noch nicht zum eigentlichen Freikirchentum (—»Freikirche) durchgedrungen war. Hier liegt ein Grund für seinen Einfluß auch jenseits der engeren Grenzen der Sektengeschichte. Denn obwohl sein Gedächtnis in der hutterischen (—»Hutterische Brüder) und mennonitischen (—»Menno Simons/Mennoniten) Tradition gepflegt wurde, gehört er zugleich zu einer Gruppe von Radikalen, die ein Bindeglied zwischen mittelalterlichen mystischen Wurzeln (—»Mystik) und Zweigen des späteren —»Pietismus darstellen. Seine Hauptreden erlebten durch ihre Aufnahme in Editionen der Theologia eine besonders weite Verbreitung. Sie finden sich im Besitz des —»Schwenckfelders Daniel Sudermann ( 1 5 5 0 - 1 6 3 1 ) , J. —»Arndts und anderer Ubermittler spätmittelalterlicher Spiritualität. Interessanterweise taucht 1680 in Amsterdam eine Sammelausgabe von fünf seiner Schriften auf. Seitdem ist Denck verschiedentlich als der Schleiermacher der Reformation, als Rationalist oder ethischer Moralist, als Pietist und als Vorläufer eines undogmatischen Christentums wiederentdeckt worden. Quellen Hans Denck, Schriften. I. Bibliogr., hg. v. G. Baring; II. Rel. Schriften, hg. v. W . Fellmann; III. Exegetische Schriften, hg. v. dems., 1 9 5 5 - 1 9 6 0 (QFRG 2 4 = Q G T 6). - Andreas Osiander d.Ä., GA. I. Schriften u. Briefe 1 5 2 2 bis März 1 5 2 5 , hg. v. G. Müller/G. Seebaß, Gütersloh 1 9 7 5 . - Selected Writings of Hans Denck, hg. v. E. Furcha/F. Batties, Pittsburgh 1 9 7 5 / 7 6 . Literatur Georg Baring, Hans Denck u. Thomas Müntzer in Nürnberg 1 5 2 4 : ARG 5 0 ( 1 9 5 9 ) 1 4 5 - 1 8 2 . Klaus Deppermann, Melchior Hoffmann. Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte seines Denkens, Phil. HabSchr. Freiburg 1 9 7 5 . - Walter Fellmann, Irenik u. Polemik bei Hans Denck: LuJ 2 9 ( 1 9 6 2 ) 1 1 0 - 1 1 6 . - D e r s . , Martin B u c e r u . H a n s Denck: MGB 2 3 ( 1 9 6 6 ) 2 9 - 3 5 . - C l a u d e Foster, Hans Denck and Johannes Bünderlin: MennQR 3 9 ( 1 9 6 5 ) 1 1 5 - 1 2 4 . - Günther Goldbach, Hans Denck u. Thomas Müntzer, Diss. theol. Hamburg 1 9 6 9 . - Jan Kiwiet, The Life of Hans Denck: MennQR 31 ( 1 9 5 7 ) 2 2 7 - 2 5 9 . - Ders., The Theology of Hans Denck: MennQR 3 2 ( 1 9 5 8 ) 3 - 2 7 . - William Klassen, Was Hans Denck a Uni versalist?: MennQR 3 9 ( 1 9 6 5 ) 1 5 2 - 1 5 4 . - Bernhard Lohse, Hans Denck u. der „linke Flügel" der Reformation: Humanitas-Christianitas. FS W. v. Loewenich, Witten 1 9 6 8 , 7 4 - 8 3 . - S t e v e n Ozment, Mysticism and Dissent, New Häven/London 1 9 7 3 , 1 1 6 - 1 3 6 . - W e r n e r Packull, Mysticism and the Early South German-Austrian Anabaptist Movement 1 5 2 5 - 1 5 3 1 , Scottdale 1 9 7 6 , 3 5 - 6 1 . - Gottfried Seebaß, Müntzers Erbe. Werk, Leben u. Theol. des Hans Hut, Theol. HabSchr. Erlangen 1 9 7 2 . - Ders., Hans Denck: Fränkische Lebensbilder 6 ( 1 9 7 6 ) 1 0 7 - 1 2 9 .

Werner O. Packull Denifle, Heinrich Seuse

(1846-1905)

1. Leben H.S. (Taufname: Joseph) Denifle wurde als Sohn des Lehrers und Organisten Johann Denifle und dessen Ehefrau Anna, geb. Fischnaller, am 1 6 . 1 . 1 8 4 6 in Imst im Oberinntal geboren. Mit 12 Jahren besuchte er, inzwischen Vollwaise, das Gymnasium in Brixen. Unter dem Einfluß der Briefe von Dominique Lacordaire OP (1802-1861) trat er 1861 in den Dominikanerorden in Graz ein. Nach seiner Priesterweihe (22.7.1866) war er in der Seelsorge in Kaschau/Ungarn tätig. 1869 schloß er seine Studien am Collegium S. Thomae in Rom ab. In Saint Maximin, Departement Var/Südfrankreich, erwarb er die venia legendi. Einer kurzen Tätigkeit in Steinamanger/Ungarn folgte ein lOjähriger Aufenthalt in Graz, wo er als Lehrer an der Ordenshochschule, als Verwalter verschiedener Konventsämter und als Prediger am Dom tätig war. Zahlreiche Mitglieder des österreichischen Adels, zumal Frauen, wählten ihn zum Beichtvater und Seelenführer. 1873 legte er nach umfangreichen Studien in

Denifle

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deutschen, schweizerischen und österreichischen Bibliotheken erste Ergebnisse zur Mystikforschung vor. Die Kenntnisse in den historischen Hilfswissenschaften, vor allem der Paläographie, und in der Germanistik hatte er sich im mühevollen Selbststudium angeeignet. 1877 machte er sein Magisterexamen in Rom. 1880 wurde er als Sozius des Ordensmeisters Joseph Maria Larroca nach Rom berufen. Unter der Leitung von Tommaso Kardinal Zigliara (1833-1893) arbeitete Denifle mit an der von—»Leo XIII. geplanten Revision der Werke des —»Thomas von Aquino. Bibliotheksreisen führten ihn, z.T. in Begleitung Larrocas, der Ordensniederlassungen visitierte, 1881 nach Holland, England und Frankreich, im Frühjahr 1882 nach Südfrankreich und Paris, im Oktober 1882 nach Südfrankreich, Spanien, Portugal, Belgien, Norddeutschland und Österreich. Als 1881 das Vatikanische Archiv eröffnet wurde, berief der erste Archivar, Joseph Kardinal Hergenröther (1824-1890), Denifle als einen der drei Unterarchivare. In dieser Stellung, die er bis zu seinem Tod behielt, hatte Denifle Gelegenheit, wissenschaftliche Projekte der verschiedenen nationalen Römischen Institute zu inspirieren und zu fördern (z.B. das Römische Institut der Görresgesellschaft). Die wissenschaftliche und freundschaftliche Verbindung mit Gelehrten der ganzen Welt, ohne Unterschied der Konfession, unterstreicht die menschlichen Qualitäten des streitbaren Tirolers. Seine wissenschaftlichen Qualitäten wurden ausgezeichnet durch die Mitgliedschaft der Akademien zu Berlin, Göttingen, Prag, Wien und Paris, durch die Ehrendoktorwürde der Universitäten Münster und Innsbruck und durch die Orden des Kaisers von Österreich und der Republik Frankreich. Auf der Fahrt nach England, um in Cambridge zusammen mit F. —»Ehrle die Würde eines Ehrendoktors entgegenzunehmen, starb Denifle am 1 0 . 6 . 1 9 0 5 an den Folgen eines Schlaganfalls in München. Seine Grabstätte befindet sich in St. Bonifaz in München. 2. Werk Seine literarische Tätigkeit begann Denifle einer persönlichen Neigung entsprechend mit musiktheoretischen Themen. So wurde er nicht nur über die Theologie auf die Schriften des —»Aristoteles aufmerksam gemacht, deren intensives Studium ihm Grundlage für das Verständnis mittelalterlicher Philosophie und Theologie wurde. Über die —»Scholastik und deren engherzige Auslegung durch die sogenannte —»Neuscholastik hinaus wandte er sich der —»Mystik zu. Da die Vertreter der Mystik fast ausschließlich dem Dominikanerorden (—»Dominikaner) angehörten, wurde Denifle, indem er einen Ausschnitt der Ordensgeschichte bearbeitete, bedeutendster Kenner der deutschen Mystik. Das erste Werk, Das geistliche Leben (1873), war eine Sammlung von 2 5 0 0 Aussprüchen von Mystikern, nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet, die der Bischof von St. Gallen, Carl Johann Greith, angeregt hatte (9. Aufl. 1936). Die ungewöhnlich scharfe, aber sachlich nicht unberechtigte Kritik an Wilhelm Pregers Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter (1874) zeigt die Entschlossenheit Denifles, mit althergebrachten und neueren Irrtümern in der deutschen Mystikforschung aufzuräumen. In der kritischen Studie Der Gottesfreund vom Oberland und Nikolaus von Basel (1875) hatte Denifle gegen Karl Wilhelm Schmidt die Gestalt des Gottesfreundes als literarische Fiktion entlarvt. Dieses Ergebnis wurde allgemein anerkannt, nur übernahm man nicht die moralisierende Version von einem gemeinen Betrug, der sich hinter der Fälschung verberge. Die Arbeiten dieser frühen Phase zeichnen sich durch eine unmittelbare Nähe zu den Quellen aus. Denifle forderte in seiner Kritik Kenntnis der Handschriften, der modernen Theologie, der Kirchenväter und der Scholastiker, der Zeit- und Lokalgeschichte, der mittelhochdeutschen Sprache und Dialekte. Der „übernatürliche Standpunkt" sollte auf das Außerordentliche an den mystischen Erscheinungen aufmerksam machen. Daß seine Methode, wie er selbst behauptete, die Übertragung der aristotelisch-scholastischen Methode auf die Geschichte sei, hat bereits S. —»Merkle als „eine gelinde Selbsttäuschung" zurückgewiesen. Über Denifles Anteil an der Editio Leonina der Werke des Thomas besteht keine Klarheit. Unstimmigkeiten mit den Leitern der Ausgabe haben ihm den Rückzug von diesem Unternehmen erleichtert. Als Unterarchivar wollte er die Mystikstudien wieder aufnehmen,

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mußte sie aber nach Maßgabe der ihm zur Verfügung stehenden Quellen neu akzentuieren. So stieß er auf —»Joachim von Fiore und dessen Evangelium aeternum und weiter auf den Streit der Universität —»Paris mit den Bettelorden. Dabei stellte er fest, daß die Geschichte der Pariser Universität ihrer Bedeutung entsprechend bisher keine adäquate Darstellung gefunden hatte. Deshalb plante er ein fünfbändiges Werk, von dem nur der erste Band, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400 (1885), erschien (II. Die Verfassungsgeschichte mittelalterlicher Universitäten; III. Entstehung der Universität Paris; IV. Entwicklung der Universität Paris bis zum Ende des 13. Jahrhunderts; V. Der Streit der Universität Paris mit den Bettelorden). Zusammen mit dem späteren Direktor der Universitätsbibliothek von Paris, Emil Chatelain, gab Denifle das Chartularium Universitatis Parisiensis (4 Bde., 1889-1897) und das Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis (2Bde., 1889-1897) heraus. Die Bedeutung der Universität Paris als Brennpunkt philosophischer und theologischer Studien des Mittelalters war dadurch gesichert. Als eine Nebenarbeit bezeichnete Denifle La désolation des églises, monastères, hôpitaux en France pendant la guerre de cent ans (2 Bde., 1897-1899), mit 1063 ungedruckten Aktenstücken zumeist aus dem Vatikanischen Archiv. 1885 gründete Denifle zusammen mit Ehrle das Archiv für Literatur und Kirchengeschichte des Mittelalters, in dem er die reifen Früchte seiner Studien und Reisen einbringen konnte. Seiner Stellung am päpstlichen Archiv verdanken die Schrift über Die päpstlichen Registerbände des 13. Jahrhunderts und das Inventar derselben von 1339 (1886) und die Specimina palaeographica (1888), eine Festschrift für Papst Leo XIII., ihre Entstehung. Die Ankündigung eines Lutherbuches überraschte. Auf Grund seiner Belesenheit, seiner Kenntnisse der Scholastik und Mystik, seiner Arbeitskraft und seines Finderglücks waren die Erwartungen hoch. Luther und Luthertum in der ersten Entwicklung quellenmäßig dargestellt ( 1904) löste auf protestantischer Seite Entrüstung aus, katholische Forscher (S. Merkle; H. Grauert) hielten mit ihrer Kritik nicht zurück. Denifle hatte sich im Ton vergriffen. Sein Name wurde zum Schlachtruf der konfessionell aufgebrachten Massen. Die Studien über den Niedergang des Welt- und Ordensklerus im 15. Jh. hatten Denifle zu —* Luther als dem Schöpfer jener Gesellschaft, welche das Vollmaß des Niedergangs repräsentierte (Luther und Luthertum I, 1.25), geführt. Die zeitgenössische Polemik gegen die —» Los-von-Rom-Bewegung mag Denifle in seiner Verfallstheorie bestärkt haben. 3.

Nachwirkungen

Denifle hat in mehreren Sparten der Geschichte vom 12. bis 16. Jh. bahnbrechend gewirkt. Die Publikation von Quellen zur Theologiegeschichte hat deren Grundlagenforschung angeregt, worauf Martin Grabmann (1875-1949) in München weitergebaut hat (Grabmann-Institut zur Erforschung der Theologie und Philosophie des Mittelalters). Die Mystikforschung wurde durch Denifles Textausgaben und vor allem durch seine Forderung, auf die Zusammenhänge der Mystik und Scholastik und auf die Einbettung religiöser Bewegungen in die Zeitgeschichte zu achten, auf ein wissenschaftliches Niveau gehoben, auch wenn sich die Germanistik von dieser engen Verbindung heute wieder distanziert. Die Universitätsgeschichte hat Denifle aus der Isolierung und Selbstbespiegelung der Jubiläumsliteratur befreit und damit die Voraussetzungen für eine europäische Wissenschaftsgeschichte geschaffen. Der Ertrag für die Geschichte des Dominikanerordens ist beachtlich. Auch um die Lutherforschung hat sich Denifle, so unglaublich das klingen mag, Verdienste erworben. Allein die gewaltige Arbeit über Die abendländischen Schriftausleger bis Luther über Justitia Dei (Rom. 1,17) und Justificatio, Quellenbelege, die Denifle leider erst der zweiten überarbeiteten Auflage seines Lutherbuches beigab (1904), würde genügen, seinen Namen für die Lutherforschung aller Zeiten zu verewigen. Die scharfe und berechtigte Kritik Denifles an der Weimarer Lutherausgabe konnten deren Herausgeber nicht übergehen. Denifle hat die Forschung auf den jungen Luther aufmerksam gemacht und so eine Revision des Lutherbildes eingeleitet. Das psychologische Verständnis für Luthers Charakter ging ihm völlig ab. Das Verhältnis Luthers zur Scholastik, wie es Denifle beschrieben hat, nämlich die Abhängigkeit von —»Ockham, ist heute Allgemeingut geworden.

Denkschriften

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Quellen Johann Peter Kirsch, Le R.P. Denifle, O. P. Notice biographique et bibliographique (1844—1905): RHE 6 (1905) 6 6 5 - 6 7 6 . - Angelo Walz, Cenni bibliographici: Ang. 17 (1940) 2 4 9 f. - Ders., Verz. der Sehr. Denifles: Ang. 32 (1955) 3 4 7 - 3 5 8 . - Ders., Liste bibliographique des publications de Denifle: DHGE 4 (1960) 2 3 9 - 2 4 5 . Literatur Gottfried Fischer, Gesch. der Entdeckung der dt. Mystiker Eckhart, Tauler u. Seuse im 19. Jh., Freiburg/Schweiz 1931. - Martin Grabmann, P. Heinrich Denifle O.P. Eine Würdigung seiner Forschungsarbeit, Mainz 1905. - Ders., Heinrich Denifle OP u. Kardinal F. Ehrle SJ: PhJ 56 (1946) 9 - 2 6 . Hermann Grauert, P. Heinrich Denifle O. Pr. Ein Wort zum Gedächtnis u. zum Frieden: HJ 26 (1905) 9 5 9 - 1 0 1 8 = Freiburg 1906. - Herbert Grundmann, Vom Ursprung der Univ. im MA, 1957 (BVSAW.PH 103/2), Darmstadt 2 1964. - Adolf Herte, Das kath. Lutherbild im Bann der Lutherkomm, des Cochläus, Münster, II 1943. - Hubert Jedin, Die Erforschung der kirchl. Reformationsgesch. seit 1876. Leistung u. Aufgabe der dt. Katholiken, 1931 (KLK 5). - Walter Köhler, Ein Wort zu Denifles Luther, Tübingen 1904. - Sebastian Merkle, Heinrich Denifle: BJDN 18 (1917) 2 9 9 - 3 0 6 . - Michael Schmaus, Zum Gedächtnis Heinrich Denifles: MThZ 6 (1955) 2 7 5 - 2 8 5 . - Ders., Art. Denifle: NDB 3 (1957) 5 9 5 - 5 9 7 . - Josef Quint, Art. Mystik: RDL 2 2 (1965) 5 4 4 - 5 6 8 . - Otwin Spiess, Art. Denifle: DSp 3 (1957) 2 3 8 - 2 4 1 . - Angelo Walz, Analecta denifleana: Ang. 32 (1955) 1 2 4 - 1 4 0 . 2 2 0 - 2 5 2 . 3 1 7 - 3 5 8 = Rom 1955. - Ders., Note Storiografiche. Enrico Denifle: Ang. 17 (1940) 2 4 3 - 2 5 0 . - Ders., Denifle: DHGE 4 (1960) 2 2 1 - 2 4 5 . Joachim Köhler

Denkschriften,

Kirchliche

1. Begriff und Geschichte 2. Themen und Inhalte und Kriterien (Quellen/Literatur S.498) 1. Begriff

und

3. Wirkungen und Bedeutung

4. Struktur

Geschichte

Denkschrift bedeutet traditionell: 1. „Eingabe an die Behörde, welche die Lage der Dinge darstellt, um damit eine Bitte zu erreichen" (Grimmsches Wb. III, 942), „ein amtlicher oder in amtlicher Form abgefaßter Bericht über eine politische oder private Angelegenheit zur Vorlage bei einer zuständigen Instanz" (MEL VI, 442); 2. „Abhandlung einer gelehrten Gesellschaft" (Grimmsches Wb. III, 943). Beide Bedeutungen sind auch kirchengeschichtlich wirksam geworden. Die wirkungsvollste Denkschrift der neueren deutschen Kirchengeschichte w a r J . H . —»Wicherns Studie Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche ( 1 8 4 9 ) , mit dem Untertitel Eine Denkschrift an die deutsche Nation. Anscheinend nimmt Wichern hier die Tradition von Sendschreiben —»Luthers auf. Der Begriff,Sendschreiben'/,Sendbrief' meinte Schreiben an die —»Öffentlichkeit oder —»Obrigkeit, persönliche Schreiben mit Bedeutung für die res publica. Die Begrifflichkeit führt uns zu dem Problem öffentlicher Äußerungen von Kirche und Theologen. Dabei ist der Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas) zu berücksichtigen. Luthers Tätigkeit als politischer Berater seines Landesherren und seine Teilnahme an Fragen des öffentlichen Lebens ist von Kunst eingehend dargestellt worden. Als eine bedeutsame Denkschrift späterer Zeit ist z. B. J. A. —> Comenius' Angelus pacis zu den Friedensverhandlungen von Breda 1 6 6 7 zu nennen. Die Erarbeitung von solchen M e m o r a n d e n als Mittel der Öffentlichkeitsverantwortung der Kirche hat in der deutschen Kirche zur Zeit des Dritten Reichs neue Bedeutung gewonnen (—»Kirchenkampf). Die .Vorläufige Kirchenleitung" (VKL) der ,Deutschen Evangelischen Kirche' (DEK) verfaßte im Mai 1936 eine an Hitler gerichtete Schrift, in der gegen die Entchristlichungspolitik mit konkreten Hinweisen auf Nötigungen und Ubergriffe, Konzentrationslager und Führerkult, Protest aus Sorge um die Verantwortung des Gewissens erhoben wurde. Die unbeabsichtigte Veröffentlichung in der ausländischen Presse im Juli 1936 führte zu einer schweren Krise und einer mutigen Kanzelabkündigung, in der die Schrift explizit als „Denkschrift" bezeichnet wurde. Vorher wurde sie meistens als „Wort an den Staat" charakterisiert (vgl. Niemöller 33.26), die Wiedergabe des Textes in den Basler Nachrichten spricht von „Protestschrift". So wie diese Schrift dem klassischen Begriff der Denkschrift folgt, sind in der Zeit des Kirchenkampfes noch andere Denkschriften von Bedeutung verfaßt worden, z. B. die Denkschrift von Paul Gerhard Braune gegen die verbrecherische Euthanasieaktion „Gnadentod" vom

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Denkschriften

9. 7. 1940 (Nowak 1 3 3 - 1 3 8 ) . Auch die noch 1945 vor Kriegsende erarbeitete Studie des preußischen Bruderrats Von rechter Kirchenordnung (Text: Stein 1 7 4 - 1 9 6 ) trägt den Untertitel „Eine Denkschrift".

Die Denkschriften des Kirchenkampfes zeigen: Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche war wieder deutlich geworden. Es wurde auch vom „Öffentlichkeitsanspruch" gesprochen. Dieser Begriff taucht 1938 im Titel von A. de Quervains Der Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums auf, der Text selbst spricht allerdings nur von „Öffentlichkeitscharakter". Helmut Thielickes Schrift Kirche und Öffentlichkeit (1947) ist charakteristisch für die Diskussion nach 1945, die dann mit der offiziellen Anerkennung des „Öffentlichkeitsauftrags" der Kirche im Loccumer Vertrag (1955) einen vorläufigen Abschluß fand (zu Problem und Begrifflichkeit nach 1 9 4 5 vgl. Conrad 1 1 9 - 1 2 5 ; Huber 4 9 0 - 5 2 2 ) . Im Sinne dieser neu erkannten Verantwortung, teilweise auch als „Wächteramt" bezeichnet, wurden öffentliche Worte wie z. B. die Stuttgarter Erklärung verfaßt, in der der Rat der EKD (19. 10. 1945) die Schuld der evangelischen Christenheit Deutschlands bekannte. Mit Art. 2 0 der Grundordnung der —»Evangelischen Kirche in Deutschland ist ihr das Recht zugesprochen, „in Erfüllung ihrer Aufgaben, Ansprachen und Kundgebungen ergehen zu lassen". Die Folgezeit brachte zahlreiche Erklärungen dieser Art, gemeinhin als „ W o r t e " bezeichnet (Dokumentationen bei Merzyn; Heidtmann). 1 9 6 2 tauchte ein neuer Typus von Äußerungen der EKD auf, der das „Zeitalter der Denkschriften" einleitete: Ausarbeitungen von Fachgremien der E K D (vor allem den beiden Kammern für soziale Ordnung bzw. öffentliche Verantwortung), die der Rat der EKD (West) der Öffentlichkeit präsentierte. Die Einrichtung der damit bedeutsamer werdenden Kammern, ihre Kompetenzen und Arbeitsweise, hat P. Braune eingehend dargestellt. Die ersten Denkschriften behandelten ,ßigentumsbildung in sozialer Verantwortung (1962), Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn (1965), abgekürzt oft „Ost-Denkschrift" genannt, Die Neuordnung der Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland als gesellschaftliche Aufgabe (1965). Die „Ost-Denkschrift" hatte ein außerordentlich starkes Pro et Contra in Kirche und Gesellschaft zur Folge. Möglicherweise wurde deshalb dann eine Weile nicht mehr der Ausdruck,Denkschrift' verwendet, obwohl weiterhin ähnliche Studien, wenn auch mit geringerer politischer Wirkung, erschienen. Neue charakteristische Gattungsbezeichnungen lauteten: .Studie', .Gutachten', .Thesenreihe' und .Memorandum'. Trotz der Vielfalt der Bezeichnungen kann man von einem bestimmten neuen Genus sprechen, das dann auch in einer Denkschrift für sich, Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen (1970), näher dargestellt wurde.

Bis in die neueste Zeit ist die Veröffentlichung von Denkschriften fortgesetzt worden, wenn sich auch inzwischen Abnützungserscheinungen zeigen und eine feste Begriffsbestimmung sich nicht eingebürgert hat. Deutlich ist jedoch, daß diese Äußerungen der EKD nicht Denkschriften im klassischen Sinn der Eingabe an Regierungen darstellen, sondern Dokumente für die öffentliche Diskussion und Meinungsbildung sind, wobei zugleich die andere herkömmliche Grundbedeutung der gelehrten Abhandlung mitspielt, weil die Ausarbeitungen, von Fachgremien verfaßt, um wissenschaftliche Sachanalysen bemüht sind. Man kann sagen, daß mit den Denkschriften der EKD ein neues „Paradigma sozialethischer Argumentation" (Honecker) mit Öffentlichkeitscharakter in Erscheinung getreten ist. Die damit verbundene Zielsetzung ist auf die „Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrags der Kirche" (Raiser) gerichtet. Sie hat ihre Parallelen in Veröffentlichungen von Studiendokumenten ökumenischer Gremien und einzelner Kirchen, wie z.B. der,United Church' in den USA (vgl. Groscurths Bericht), zu aktuellen politischen und sozialethischen Fragen. Zum Grundsätzlichen ist die Odessa-Konsultation der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung zu vergleichen (1978 [ÖR.B 33]). Es handelt sich aber nicht um Enzykliken oder ähnliche —> Verlautbarungen, auch nicht um Deklarationen oder „Worte" im Sinne von Kundgebungen, sondern um Argumentationshilfen zur Meinungsbildung in kirchlicher Verantwortung. Freilich ist zu fragen, ob die bisherigen Denkschriften zu sehr nur die politischen und sozialethischen Fragen thematisiert haben, wodurch die pastoralen Probleme, trotz der gelegentlichen Berufung auf Aufgaben der „Gruppenseelsorge", zu kurz gekommen ist. Raisers ausdrückliche Ablehnung des Genus „pastoraler Rede" im Vergleich zu „wissenschaftlicher Rede" (11) mag gegenüber gewissen

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Formen von Hirtenbriefen berechtigt sein, legt aber auch Abgrenzungen nahe, die verhängnisvoll wirken. Schon die versuchten Ableitungen der Denkschriften aus einem umfassenden Verkündigungsbegriff (Aufgaben u. Grenzen 1 0 u . ö . ; dazu kritisch H o n e c k e r , Denkschriften 1 3 9 f ; Raiser 3 1 - 3 3 ) , aus den Aufgaben gesellschaftlicher D i a k o n i e (so H u b e r 6 0 6 ; Raiser 3 1 - 3 3 ) oder der Gruppenseelsorge (Müller 8 - 1 1 ) zeigen, wie eng in den Denkschriften evangelische —»Sozialethik und —»Praktische T h e o l o g i e zusammenrücken. Das gleiche ergibt sich aus der T h e m e n b r e i t e der ersten S a m m e l a u s g a b e der Denkschriften (Gütersloh 1 9 7 8 ff); Die Denkschriften sprechen inzwischen die ganze Breite des gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens an und dürfen nicht nur als sozialethisch und wissenschaftlich angesehen werden, wenn sie sich nicht selbst eines ganzen Teils ihrer möglichen Wirkung berauben wollen. 2. Themen

und

Inhalte

Bisher sind im Bereich der EKD folgende dem Sammelbegriff Denkschriften zuzurechnende Äußerungen veröffentlicht worden: Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung (1962); Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn (1965); Die Neuordnung der Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland als gesellschaftliche Aufgabe (1965); Teilzeitarbeit von Frauen (1965); Friedensaufgaben der Deutschen (1968); Gesellschaft und öffentliche Kommunikation (1968); Sozialethische Erwägungen zur Mitbestimmung in der Bundesrepublik Deutschland (1968); Der Friedensdienst der Christen (1969); Zur Reform des Ehescheidungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland (1968); Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen (1970); Das Gesetz des Staates und die sittliche Ordnung (1970); Denkschrift zu Fragen der Sexualethik (1971); Sport, Mensch und Gesellschaft (1972); Konflikte im Erziehungsfeld am Beispiel politischer Auseinandersetzungen in der Schule (1972); Soziale Ordnung des Baubodenrechts (1973); Der Entwicklungsdienst der Kirche. Ein Beitrag für Friede und Gerechtigkeit in der Welt (1973); Die soziale Sicherung im Industriezeitalter (1973); Gewalt und Gewaltanwendung in einer freien Gesellschaft (1974); Informations- und Meinungsfreiheit in einer freien Gesellschaft (1974); Die Menschenrechte im ökumenischen Gespräch (1975); Christen und Juden (1975); Evangelische Beiträge zur Bildungspolitik (1976); Publizistischer Gesamtplan der EKD (1979); Seelsorge in Justizvollzugsanstalten (1979); Die Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft (1979); Evangelische Spiritualität (1979). In gleicher äußerer Aufmachung erschien 1979 eine gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der (katholischen) Deutschen Bischofskonferenz Grundwerte und Gottes Gebot, offenbar ein Versuch, das Genus des „Wortes" im alten Sinn und das der Denkschrift wieder zusammen zu fuhren und dies sogar auf interkonfessioneller Basis. Die Schrift fand jedoch starke berechtigte Kritik. Schon die Denkschrift Das Gesetz des Staates und die sittliche Ordnung (s.o.) war ein Versuch in dieser Richtung gewesen, erfolgte nicht mit Hilfe einer Kammer, sondern einer ad hoc-Kommission und wurde ohne formelle Zustimmung des Rates der EKD, wohl aber mit der seines Vorsitzenden Dietzfelbinger publiziert (Raiser 15). Eine gemeinsame interkonfessionelle Veröffentlichung war auch Soziale Ordnung des Baubodenrechts. Die Sammelausgabe der Denkschriften umfaßt noch einige andere Texte, deren Zuordnung zu dem Genus Denkschriften unterschiedlich beurteilt werden kann, weil es sich eher um Erklärungen und Stellungnahmen (wie z.B. zur Bekämpfung des Rassismus (1/1; 2 3 6 - 2 4 4 ) oder Texte handelt, die nicht in der üblichen Aufmachung der Denkschriften erschienen sind. Der Rat der EKD hat ja nach 1962 nicht völlig auf „Worte" verzichtet, wie u. a. auch das wohl ziemlich mißlungene Bußtagswort von 1964 zeigt. Die Sammelausgabe unterscheidet thematisch zwischen Schriften zu „Frieden, V e r s ö h n u n g und M e n s c h e n r e c h t e n " und Schriften zur „Sozialen O r d n u n g " . Diese berechtigte Aufteilung zeigt, daß der Arbeitsbereich der beiden K a m m e r n für öffentliche V e r a n t w o r t u n g b z w . soziale Ordnung den Hauptanteil der Denkschriftenthemen ausmachte. Es gibt k a u m ein aktuelles T h e m a , das nicht zum Gegenstand einer kirchlichen Stellungnahme oder D e n k schrift geworden ist; nicht alle wurden veröffentlicht (Raiser 1 4 f ) . Allerdings fehlen w o h l einige nötige Studien zur Wirtschaftspolitik. Stellungnahmen zur Bildungspolitik und zu F r a g e n der Jugend sind erfolgt und sollen in einem weiteren B a n d zusammengefaßt w e r d e n ; die Gutachten und Stellungnahmen zur Medienpolitik hätten w o h l eher auch gesondert statt in Bd. II ediert werden sollen. In den Äußerungen seit 1 9 7 9 scheint sich ein T r e n d zur Seelsorge und Spiritualität b e m e r k b a r zu machen, der das für die Struktur der Denkschriften

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entscheidende, von Raiser und E. Müller unterschiedlich gesehene Thema des Verhältnisses von Seelsorge und Politik neu bewußt macht. Zugleich gibt es wohl Tendenzen, die hinsichtlich der Ethik wieder stärker prinzipielle Bestimmungen im Sinn einer Gebots- oder erneuerten Katechismusethik anstreben und damit auch wieder stärker auf Stellungnahmen zielen, die nicht so stark wissenschaftlich analytisch gehalten sind. Daß es keine Denkschriften zu spezifisch theologischen Themen gibt — die Ausarbeitung zur Spiritualität bildet eine erste Ausnahme —, ist besonders bemerkenswert. Eine 1970 von einem Arbeitskreis erarbeitete Denkschrift Schrift, Theologie, Verkündigung kam zu keinem Konsens. In diesem Zusammenhang ist allerdings auf die Ausarbeitungen des Theologischen Ausschusses der EKU zu verweisen, die vor allem am Leitfaden einer aktuellen Auslegung der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 theologische und sozialethische Thematik verbanden (Zum politischen Auftrag der Gemeinde [1974] und Kirche als „Gemeinde von Brüdern" [1981]). Insgesamt kann man feststellen, daß die Denkschriftenarbeit der EKD nicht längerfristig geplant wurde und wenig koordiniert erfolgt ist. Die Notwendigkeit, auf akute Situationen zu reagieren, hat weitgehend die Ausarbeitungen bestimmt. Raiser hat das anschauliche Bild von „Schneisen" im Geflecht der Sachverhalte geprägt (18). Die Theoriereichweite bleibt notwendig im Radius „mittlerer Axiome" (vgl. dazu Kosmahl). 3. Wirkungen und

Bedeutung

Die Denkschriften als neues Genus der Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrags der Kirche haben große Beachtung gefunden. Vor allem gilt das für die Ostdenkschrift, die einer neuen Politik gegenüber den östlichen Nachbarn Deutschlands den Boden bereitete. Zugleich wurden mit ihr die grundsätzlichen Fragen einer Kompetenz der Kirche zu politischen Sachaussagen neu akut. Als eigene Oppositionsgruppe bildete sich die Notgemeinschaft evangelischer Deutscher. Während einerseits versucht wurde, die spezifische Aufgabe der Kirche in der Formulierung von „Bußrufen" zu sehen (Wölber), wurde auf der anderen Seite zumindest die Notwendigkeit einer Hilfe zur Meinungsbildung vertreten, insbesondere wenn bestimmte Fragen politisch tabuisiert werden. Daß dabei die Kontroverse um —* Zwei-Reiche-Lehre oder —» Königsherrschaft Christi als Modelle evangelischer Sozialethik erneuert wurde, ist nicht verwunderlich. Die anderen Denkschriften haben keine derartig weitgehende und tiefgreifende Wirkung gehabt, weil sie einerseits in ihren Aussagen nicht als so brisant empfunden wurden und andererseits auch Fragen geringerer Relevanz behandelten, aber auch sie wurden durchaus beachtet. Neue politische Konflikte im Wohnungsbau z. B. zeigen die Wichtigkeit der schon länger zurückliegenden Denkschrift zur sozialen Ordnung des Baubodenrechts auf, und auch die Stellungnahmen zur Medienpolitik werden noch eine ganze Weile aktuell bleiben. Allerdings haben die Denkschriften in der Regel kaum die Ebene der Gemeindediskussion erreicht. Sie bleiben weithin Material bestimmter Foren, z. B. Evangelischer —» Akademien, —» Erwachsenenbildung, und der Experten und Verbände. Die Stellung der Kirche als Verband im pluralen Kräftespiel demokratischer Öffentlichkeit, die z.B. Huber nachdrücklich bejaht, wird an den Denkschriften signifikant. Dadurch ergibt sich die Frage, ob die Kirche mit solchen Stellungnahmen nicht auch — möglicherweise ja auch legitime — institutionelle Eigeninteressen vertritt oder wirklich sowohl die Chance neuer Meinungsbildung unzensierter Art als auch des Sprechens für Stumme oder Mundtot-Gemachte (Prov 31,8) wahrnimmt. Die ,Denkschriften-Denkschrift' (Aufgaben und Grenzen) hat noch einmal die methodischen Probleme bewußt gemacht. Dazu sind neben dem ausführlichen, im wesentlichen zustimmenden Kommentar von Schulze, auch Stellungnahmen mit kritischen Anfragen erfolgt (Huber; Honecker; Raiser). Doch beurteilen alle gründlichen Stellungnahmen die Denkschriften grundsätzlich als neues Genus öffentlicher sozialethischer Äußerung der Kirche positiv (Odin; Honecker; Huber; Stammler; Raiser; Müller; Fischer). Wie schon angedeutet, zeichnet sich aber neuerdings eine gewisse Modifikation ab, die Seelsorge und Politik stärker zu verbinden versucht, den Unterschied von „Worten" und Denkschriften wieder relativiert, die pastoralanthropologischen Fragen (Seelsorge in Justizvollzugsanstalten und

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Die Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft) ernster nimmt und zu katechismusfähigen Aussagen erneuerter Art vorstoßen will. Das könnte bedeuten, daß in Zukunft mit dem Instrument Denkschriften sparsamer umgegangen und dessen Struktur genauer als bisher bestimmt wird. Dazu müßte insbesondere eine noch fehlende Reflexion darüber gehören, was der Vorgang des Denkens im Verhältnis zu Geschichte, Zwängen, Gesellschaft, Praxis und Glauben für eine Bedeutung hat. So erweist sich die Relevanz der Rechtfertigungslehre für das Gebiet der Erkenntnis nicht nur auf dem Gebiet der biblischen —»Hermeneutik (—»Bultmann), sondern auch der politischen Hermeneutik und Dialektik in Theoriebildung und Handlungslehre. Welche Handlungskonsequenzen aus dem biblischen Zeugnis abgeleitet werden können, welche Relevanz das Denken als „Probehandeln" für den Glauben hat, zumal auch die Krise des wissenschaftlichen Denkens nicht zu leugnen ist, diese beiden Hauptfragen werden die zukünftige Diskussion über Rang und Nutzen der Denkschriften neben den noch strittigen Fragen der inner- und außerkirchlichen Legitimation sowie der jeweiligen kirchenrechtlichen Kompetenzen bestimmen müssen. 4. Struktur und Kriterien Immer noch strittig ist die theologische Ableitung der Denkschriftenpraxis. Die Herleitung aus einem umfassenden Verkündigungsverständnis ist besonders von Honecker, aber auch Raiser, kritisiert worden. Dahinter steht vor allem das Problem der Begründung ethischer Weisungen aus dem biblischen Zeugnis, aber auch das strittige Verhältnis von —»Ethik und —»Eschatologie. Raisers Versuch, bei der Unterscheidung von „Zeugnis und Dienst" die Denkschriften dem „Dienst" zuzuweisen, überzeugt nicht. Hubers Zuordnung zur Paraklese im biblischen Sinn hat viel für sich, aber er hat das darin enthaltene seelsorgerliche Element zu wenig zur Geltung gebracht. Bei den Denkschriften kann es nicht um irgendein Proprium, sondern nur um ein plausibles Proprium gehen. Es ist wohl dahingehend zu bestimmen, daß die Kirche sich äußern muß, wenn bei Menschenrechtsverletzungen, Gewissensbedrängnis und strukturellen Tendenzen menschlicher Selbstzerstörung und -Vermeidung der Sinn guter Schöpfung und die Kraft eschatologischer Hoffnung zu bezeugen sind. D. —»Bonhoeffers Trennung von Vorletztem und Letztem bewährt sich gerade auch in dem Zusammenhang, den sie geltend macht. Deshalb kann angesichts des Heils der Menschen ihr Wohl im Sinne fundamentaler Grundrechte nicht gleichgültig sein, denn die Sendung Christi hat die Menschwerdung des Menschen in Weltverantwortung als Willen Gottes zum Thema. Als spezifische Kriterien werden von der .Denkschriften-Denkschrift' mit Recht Schriftund Sachgemäßheit geltend gemacht. Honeckers Kritik an der Schriftgemäßheit hat Recht gegenüber einem bestimmten —»Biblizismus, kann aber nicht einfach zum Kriterium der Christlichkeit (im Anschluß an Ebeling) ermäßigt werden, da dies kaum die biblischen Intentionen trifft. Ernst Fuchs' glückliche Formel, daß der Geist die „Wahrheit des Buchstabens" sei (GAufs., Tübingen, 1 1975, 149), weist in die richtige Richtung. Auch der Begriff der Sache bedarf der theologischen Reflexion, wenn er nicht zu einer positivistischen, selbstevidenten Sachgesetzlichkeit verführen soll. Im Blick auf den Prozeß der Menschwerdung des Menschen haben alle Sachen auch Bedeutungsstruktur. Sache im ursprünglichen Sinn von causa als Prozeßgegenstand strittiger Wirklichkeit (G. Ebeling) wird auch vom „harten Kern neuzeitlicher Wissenschaft", den —»Naturwissenschaften (C. Fr. Weisäcker), zu einem sowohl instrumentalen als auch hermeneutischen Begriff (K. Müller). Das Verhältnis von sachhafter Situationsanalyse und botschaftsbezogener Schriftexegese ist nicht additiv zu lösen. Von Hubert ist „Gemeindegemäßheit" als drittes notwendiges Kriterium geltend gemacht worden (600). Die damit verlangte Basisnähe wie auch die Transparenz der Verfasser und Verfahren der Denkschriften sind zu unterstützen, aber der Terminus als solcher wie auch die einfache Anwendung des Demokratieprinzips unterliegen starken Bedenken, zumal der Begriff von —»Gemeinde derzeit äußerst vieldeutig ist. Wenn Schriftbindung und Sachverantwortung als Kriterien im Blick auf die betroffenen Menschen in Beziehung zueinander treten, wird sich Gewissen-haftigkeit und Geistes-Gegenwart einstellen, an denen die Denk-

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Denkschriften

Schriften letztlich zu messen sind. Ebelings tiefgehende Erwägungen zu Kriterien kirchlicher Stellungnahmen zu politischen Problemen verdienen, in die Denkschriftendiskussion eingearbeitet zu werden, insbesondere hinsichtlich der Erkenntnis, daß kein Bereich nur politisch ist (614), daß „Kirchlichkeit" und „Christlichkeit" nicht einfach zu identifizieren sind, daß die Gefahr politischer Äußerungen auch seitens der Kirche darin liegt, a u t o n o m , total, absolut oder perfektioniert zu werden. Dennoch ist Vorletztes und Letztes nicht voneinander zu lösen. Denkschriften als Hilfe zur Urteilsklärung und -bildung, nicht als „Verkündigungsverlängerung" (Sauter), damit auch als Hilfe zur Gewissensbildung und -klärung durch Argumentation haben ihre wahre Legitimation stets auch noch vor sich, aber sind notwendig, um eine Wendung Luthers vom öffentlichen Gottesdienst auf die Denkschriften anzuwenden, als „öffentliche Reizung zum Glauben und zum Christentum" (WA 19, 75, l f ) . Die Formen, Positionen und Verhaltensweisen der öffentlichen Wirksamkeit der Kirche sind vielfältig. Huber hat soziale Diakonie, evangelische Akademien und Kirchentagsarbeit, Öffentlichkeitsauftrag, Mitspracherechte zur Besitzstandswahrung und kritische Äußerungen wie Denkschriften als Tendenzen und Elemente nach 1 9 4 5 voneinander abgehoben ( 1 1 9 . 1 2 5 ) . Hinzukommen müßte unbedingt die Bemühung u m Umlernprozesse konziliarer Konfliktgemeinschaft als Element beratender, aber nicht kasuistischer Ethik, die bei Formen kollektiver Sünde von heute, wie z.B. Unfähigkeit zum Trauern (A. Mitscherlich), Leugnung von Angst, fehlender Mitkreatürlichkeit, Eskapismus aus Narzißmus u . ä . , anzusetzen hat. Dabei ist zwischen dem Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums und dem Öffentlichkeitsa u f t r a g der Kirche zu unterscheiden. Denkschriften sind nur ein Mittel solcher öffentlicher Umlernpraxis, aber für denkenden Glauben unverzichtbar. Dabei sollte ihre innere Identität mit der öffentlichen Fürbitte der Kirche (Fischer: „Beten-für erfordert Denken-für", 2 0 7 ) immer bewußt bleiben. Quellen Die Denkschriften der EKD. Texte u. Komm., hg. v. K.-A. Odin, Neukirchen 1966. - Die Denkschriften der EKD, Gütersloh 1978 ff. - Glaube im Ansturm der Zeit. Zeugnisse u. Manifeste der ev. Kirche 1933-1967, hg. v. G. Heidtmann, Hamburg 1968. - Hat die Kirche geschwiegen, hg. v. dems., Berlin 3 1964. - Kirche als Gemeinde von Brüdern (Barmen III), hg. v. A. Burgsmüller, Gütersloh, II 1981. - Kundgebungen. Worte u. Erklärungen der EKiD 1945-1959, hg. v. F. Merzyn, Hannover 1959. - Albert Stein, Die Denkschrift des altpreußischen Bruderrates „Von rechter Kirchenordnung": ders., Zur Gesch. des Kirchenkampfes. GAufs., Göttingen, II 1971, 164-196. Literatur Gunther Backhaus, Im Prozeß der Gesellschaft: EK 7 (1974) 2 8 8 - 2 9 0 . - Horst Bannach (Hg.), Glaube u. öffentliche Meinung, Stuttgart 1970. - Wolfgang Böhme/Erwin Wilkens (Hg.), Möglichkeit u. Grenze politischer Wirksamkeit der Kirche, Stuttgart 1970. - Alfred Burgsmüller (Hg.), Zum politischen Auftrag der christl. Gemeinde (Barmen II), Gütersloh 1974. - Wolfgang Conrad, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Göttingen 1964. - Cord Cordes, Gesellschaftspolitische Initiativen im Protestantismus: Berichte des Dt. Industrieinstituts zur Sozialpolitik 3 (1969) Nr. 13 f. - Ders., Wenn die Kirche politisch wird: LM 9 (1970) 7 7 - 8 1 . - Wilhelm Danielsmeier (Hg.), Der Friedensdienst der Christen, Gütersloh 1970. - Gerhard Ebeling, Kriterien kirchl. Stellungnahmen zu politischen Problemen: ders., Wort u. Glaube, Tübingen, III 1975,611 - 634. - Horst Echternach, Art. Denkschriften der EKD: ESL 7 1981, 2 3 3 - 2 3 5 . - M a r t i n Fischer, Zum Weg der Denkschriften: PTh 70(1981) 2 0 7 - 2 1 0 . - L e onhard Goppelt, Prinzipien ntl. u. syst. Sozialethik, Stuttgart 1973, 7 - 3 0 . - Reinhard Groscurth, Lehren u. Bekennen in den USA: Ö R 2 8 (1979) 2 7 7 - 2 9 2 . - J ü r g e n Habermas, Strukturwandel deröffentlichkeit, Neuwied 1962 5 1971.-Reinhard Henkys (Hg.), Deutschland u. die östlichen Nachbarn. Beitr. zu einer ev. Denkschrift, Stuttgart 1966. - Martin Honecker, Die Denkschriften der EKD als Paradigma ethischer Argumentation: Kirche im Spannungsfeld der Politik. FS Hermann Kunst, Göttingen 1977, 1 3 1 - 1 4 2 , - D e r s . , D i e Schwierigkeit, Denkschriften zu formulieren: Z W 4 1 (1970) 2 1 1 - 2 2 6 . - D e r s . , Konzept einer sozialethischen Theorie, Tübingen 1971. - Wolfgang Huber, Kirche u. Öffentlichkeit, Stuttgart 1973. - Hans-Jürgen Kosmahl, Ethik in Ökumene u. Mission. Das Problem der „Mittleren Axiome" bei J. H. Oldham u. in der christl. Sozialethik, Göttingen 1970. - Gerhard Krause, Gerichtspredigt oder Geschichtsdeutung. Überlegungen u. Fragen zum ev. Charakter der Denkschrift über „Die Lage der Vertriebenen u. das Verhältnis des dt. Volkes zu seinen östlichen Nachbarn": JAUK 17 (1967)

Descartes

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Descartes, René

(1596-1650)

1. Leben und Schriften (Quellen/Literatur S. 508) 1. Leben

und

2. Forschungsprobleme

3. Theologische Eigenlehren Descartes

Schriften

Die Biographie von René Descartes (geb. 3 1 . 3 . 1 5 9 6 in L a Haye/Touraine; gest. 1 1 . 2 . 1 6 5 0 in Stockholm) enthält allen auf sie verwendeten Forschungsanstrengungen zum T r o t z für seine Werdejahre nach wie vor ausgedehnte Dunkelzonen. Neben einer Reihe gesicherter Daten, wie dem Erwerb von Baccalauréat und Lizentiat der Rechte am 1 0 . 1 1 . 1 6 1 6 in Poitiers, dem Beginn der Bekanntschaft mit dem Mathematiker Isaac Beeckman am 1 0 . 1 1 . 1 6 1 8 , der Einschiffung nach Dänemark in Amsterdam am 2 9 . 4 . 1 6 1 9 , der Immatrikulation in —»Franeker am 1 6 . 4 . 1 6 2 9 und ähnlichen, steht eine mindestens ebensogroße Zahl ungeklärter Datierungen. Viele Angaben bei seinem Biographen Adrien Baillet, dessen Mitteilungen dort von unschätzbarem W e r t sind, w o sie aus verschollenen Originalmanuskripten schöpfen, haben sich inzwischen als unzutreffend herausgestellt. Zwischen 1 6 1 9 und 1 6 2 9 ist kaum Korrespondenz überliefert. Die Berechnung seines Aufenthaltes am Collège Henri IV in La Flèche schwankt immer noch zwischen 1 6 0 4 — 1 6 1 2 und 1 6 0 7 — 1 6 1 5 . An der Kriegsakademie von Moritz von Nassau in Breda ist er vermutlich Anfang 1 6 1 8 eingetroffen. Die W e g e und Stationen seines jahrelangen Studiums im Buch der Welt lassen sich nur stückweise rekonstruieren. Die Italienreise liegt weithin im Dunkeln. M a n weiß nicht, wie oft und wie lange Descartes in seinen Wanderjahren in Paris gewesen ist und wann er Kontakt zum Mersenne-Kreis aufgenommen hat, ja es steht nicht einmal fest, ob er schon 1 6 2 8 definitiv nach Holland abgereist ist, oder nach einem Besuch bei Beeckman in Dordrecht den Winter 1 6 2 8 / 1 6 2 9 noch in Paris verbracht hat. Gliedern wir seinen geistigen Werdegang nach groben zeitlichen Zäsuren, dann endet die Schul- und Studienzeit im engeren Sinne 1 6 1 6 , während die Zeit der systematischen Ausarbeitung seiner Lehrschriften 1 6 2 9 beginnt. Kontrovers sind auch die Entstehungsdaten einiger seiner nicht zu Lebzeiten publizierten Schriften. Der unvollendete Dialog La Recherche de la Vérité par la Lumière naturelle/Qui toute pure, & sans emprunter le secours de la Religion ni de la Philosophie, determine les opinions que doit avoir un honeste homme, touchant toutes les choses qui peuvent occuper sa pensée, & pénétré jusque dans les secrets des plus curieuses sciences, teilweise erhalten in

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einer Abschrift von —>Leibniz, im übrigen überliefert in der lateinischen Übersetzung der Opuscula posthuma (1701), wird von einigen Autoren als Jugendwerk angesehen, von anderen als Werk der letzten Stockholmer Lebensmonate. Strittig sind auch die Etappen der Ausarbeitung der Regulae ad directionem ingenii (in veritatis inquisitione), deren Endredaktion jetzt im allgemeinen in den Winter 1627/28 verlegt wird, und das Verhältnis der Urmetaphysik von 1629 zu dem 1641 publizierten Text. Die Erscheinungsdaten der von Descartes selbst zum Druck gegebenen Schriften verteilen sich auf den relativ engen Zeitraum von 1637—1649. Sehen wir von dem bis in unser Jahrhundert verloren geglaubten, philosophisch belanglosen Ballett La Naissance de la Paix ab, das nach dem Geburtstag der Königin Christine am 9./19. 12. 1649 im Stockholmer Schloß aufgeführt worden ist (AT V , 6 1 6 - 6 2 7 ) , handelt es sich um folgende Titel: (1) Discours de la methode / Pour bien conduire sa raison, & chercher la vérité dans les sciences. Plus ha Dioptrique. Les Meteores. Et / La Geometrie. Qui sont des essais de cete Methode, Leiden 1637. — (2) Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur, Paris 1641 (in der 2. Aufl., Amsterdam 1642, vermehrt um die siebenten Einwände des Jesuiten Bourdin und Descartes' Brief an dessen Provinzial Dinet, in einer französischen Übersetzung von De Luynes und Clerselier ohne diese Stücke als Les Méditations métaphysiques de René Des-Cartes touchant la premiere philosophie, dans lesquelles l'existence de Dieu, & la distinction réelle entre l'ame & le corps de l'homme, sont demonstrées, Paris 1647. — (3) Epistola Renati Des-Cartes ad celeberrimum virum D. Gisbertum Voetium. In qua examinantur duo libri, nuper pro Voetio Ultrajecti simul editi, unus de Confraternitate Mariana, alter de Philosophia Cartesiana, Amsterdam 1643 (ab 1649/1650 in den Appendix der Amsterdamer Ausgaben der Meditationes aufgenommen). — (4) Principia philosophiae, Amsterdam 1644. — (5) Notae in Programma quoddam, sub finem Anni 1647. in Belgio editum, cum hoc Titulo: Explicatio Mentis humanae, sive Animae rationalis, ubi explicatur quid sit, et quid esse possit, Amsterdam 1647 (ab 1650 hinter den sechsten Erwiderungen in den Amsterdamer Ausgaben der Meditationes ). — ( 6) Les Passions de l'Ame, Amsterdam/Paris 1649. Der gegen März 1636 druckfertige Discours enthält in Teil 4 und 5 einen summarischen Bericht über den Gedankengang der Urmetaphysik von 1629 und der wohl hauptsächlich 1632/33 ausgearbeiteten Summe der Naturphilosophie, die der Autor selbst als seinen „Monde" apostrophiert hatte. Von diesem letzteren Text erscheint zuerst in der lateinischen Übersetzung von Florens Schuyl der Schlußteil De Homine (Leiden 1662), dann 1664 in Paris die ersten 15 Kapitel als Le Monde de Mr Descartes, ou Le Traitté de la Lumiere, et des autres principaux objets des Sens und, nunmehr von Clerselier nach dem Original herausgegeben, L'Homme de René Descartes, et un Traité de la Formation du Foetus de mesme Autheur (mit Anmerkungen von Louis de la Forge zum L'Homme, der mitedierte Traktat in La description du corps humain von 1648). Clerselier hat später auch Le Monde nach dem Original bearbeitet und mit L'Homme 1677 herausgegeben. Als erste Nachlaßpublikation eines Jugendwerkes erschien in Utrecht das Musicae Compendium von 1618. Dessen französischer Übersetzung hat Poisson 1668 die einem Brief von Descartes an Huygens vom 5 . 1 0 . 1637 angeführte Explication des engins (AT 1,435-447) als Traité de la Mechanique vorangestellt. Die 1645 lateinisch verfaßte Lettre apologetique ... aux Magistrats de la Ville d'Utrecht, contre Messieurs Voetius, Pere et Fils erschien zuerst in einer lateinischen Rückübersetzung der französischen Fassung 1656 als Magni Cartesii Manes ab ipsomet defensi, dann nach dem französischen Original 1667 im dritten Band von Clerseliers Briefedition, die erstmals einen umfassenden Einblick in Descartes' vorher teilweise in Abschriften zirkulierende wissenschaftliche Korrespondenz bot, uns aber zahlreiche lateinische Briefe nur in französischer Übersetzung überliefert hat. Die Nachlaßedition kommt mit den Opuscula posthuma physica & mathematica (Amsterdam 1701) zu einem vorläufigen Abschluß, die neben lateinischen Versionen von Le Monde und dem Traité de la Mechanique, den Primae Cogitationes circa Generationem Animalium, & nunnulla de Saporibus (AT XI,505—542) und mathematischen Excerpta ex MSS. R. Des-Cartes (AT X , 2 8 5 - 3 2 4 ) endlich auch die

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schon in der 2. Auflage der Art de penser von 1664 benutzten und 1684 von J.H. Glazemaker ins Holländische übersetzten Regulae enthält. Eine weitere Abrundung der Textbasis bringen im 19. Jh. die Publikation von Exzerpten und Abschriften Leibniz' von Nachlaßstücken durch Foucher de Careil und die Entdeckung der im April 1648 in Amsterdam von Johannes Clauberg redigierten und von ihm vielfältig ausgewerteten Responsiones Renati Des Cartes ad quasdam difficultates ex Meditationibus ejus, etc., ab ipso haustae, bekannter als Entretien avec Burman (AT V, 1 4 6 - 1 7 9 ) in einer Göttinger Abschrift. Weiteres Material ist erstmals in den Oeuvres erschlossen worden, die angesichts zahlreicher weiterer Quellenfunde inzwischen in einer stellenweise wesentlich erweiterten Neubearbeitung präsentiert worden sind. 2.

Forschungsprobleme

Die Descartes-Literatur der letzten Jahrzehnte ist zu vielgestaltig, als daß auf begrenztem Raum auch nur eine fundierte Einschätzung der wichtigsten Interpretationsrichtungen versucht werden könnte. Schon anläßlich des Di'scowrs-Jubiläums von 1937 hat Gueroult die Verflüchtigung des zuvor nach seiner Ansicht einheitlichen Descartes-Bildes in eine Legion differenter Descartes' beklagt. P. Valéry hat dieser Sachlage mit seiner Formel vonn der Pluralität plausibler Descartes' eine positive Seite abzugewinnen versucht. Für Gueroult ist das Faktum der Deutungsmannigfaltigkeit auch weiterhin der Skandal der Descartes-Forschung geblieben. Gegen die Vielheit eo ipso widersinniger Interpretationen hat er an der Einzigkeit des wahren Sinnes der Philosophie Descartes', der sich nach ihm im Laufe der Jahrhunderte ebensowenig verändert hat wie die Winkelsumme des Dreiecks, festgehalten und die exakte Bedeutung seiner Lehre durch die Aufdeckung der für dieses Denken konstitutiven Strukturen wiederzugewinnen gesucht. Freilich hat er seiner objektiven Methode keine unstrittige Anerkennung verschaffen können und damit von der historischen Wirkung her gesehen nur die Zahl der bestehenden Auslegungsmethoden um seine eigene bereichert. Die Komplexität der hermeneutischen Situation schließt einen unbefangen referierenden Zugriff auf die Haupttexte aus. Sie sind seit den Einwänden der Zeitgenossen oft bis in die einzelne Phrase hinein mit einer jahrhundertelangen Interpretationsgeschichte belastet und erscheinen im Lichte jedes neueren systematischen Deutungsversuches anders. Auf der anderen Seite existiert keine jüngere Gesamtdarstellung, die sich von dem ganzen Spektrum der hochspezialisierten neueren Literatur Rechenschaft gäbe. Forschungsbilanzen, turnusmäßige Literaturberichte und Bibliographien haben seit langem Horizonte eröffnet, die von den nachkommenden zusammenfassenden Darstellungen nur noch sehr partiell und selektiv ausgefüllt worden sind. In der anteilmäßig nicht sonderlich ins Gewicht fallenden deutschen Sekundärliteratur wird zudem nur ein geringer Teil der internationalen Diskussion berücksichtigt. Letztere ließe sich nur in einer anmerkungsreichen und zitatgesättigten Darstellungsform ausgewogen dokumentieren. Als Ausweg bietet sich die Skizzierung einiger Forschungsprobleme im Ausgang von der gegenwärtigen Situation sowie einiger signifikanter theologischer Lehrstücke Descartes' an. 2.1. Es ist eine Besonderheit der deutschen Descartes-Literatur, in diesem Autor vorzugsweise den Vorläufer —»Kants zu sehen. Ihr ist seine Philosophie, wenn schon nicht eine „Begründung der Transzendentalphilosophie im Sinne der großen transzendentalen Systeme der Folgezeit" (Bader), so doch wenigstens die Entdeckung des Horizontes der Subjektivität, in dem „das Zeitalter der aufkommenden Naturwissenschaft sich wiedererkannte, sowohl in seinem methodischen Willen als auch in dem von ihm selbst entworfenen Bild der Welt" (Link). Projektionen dieser Art, die von jahrzehntelangen Bemühungen der französischen Forschung um die Überwindung der Descartes-Legende des 19. Jh. wie von den Resultaten der neueren wissenschaftsgeschichtlichen Forschung gleichermaßen unberührt sind, lassen sich nicht mit der gemeinsamen Forderung von Gouhier, Laporte oder Gueroult nach einem Respektieren des unverkürzten Textes unter Verzicht auf dogmatische Präokkupationen vereinen.

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2.2. Dies gilt auch für die vor allem durch H. Blumenberg (Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966) suggerierte Genealogie des ego cogito als einer Transformation der durch den „Willkürgott" der nominalistischen Theorie bewirkten spätmittelalterlichen „Gewißheitskrise" in das Gewißheitsexperiment einer souveränen Selbstbegründung der Vernunft. Blumenbergs hermeneutische Fiktion eines unberechenbaren Deus mutabilissirnus war schon durch G. Krügers Annahme, die willkürlich von Gott geschaffenen ewigen Wahrheiten seien für Descartes „auch durch ihn veränderlich" (Die Herkunft des phil. Selbstbewußtseins: Logos 22 [1933] 246), und keine vom Willen zu unterscheidende Güte und Weisheit könne Gott daran hindern, wenn er es nur wollte, auch nicht weise und gütig zu schaffen, maßgeblich vorbereitet worden. Ihr stehen jedoch Descartes' Postulate der Unveränderlichkeit der göttlichen Willensdekrete und der Ununterschiedenheit der göttlichen Attribute entgegen. Daß von einem theologischen Voluntarismus bei Descartes (wie auch bei —> Ockham) gerade wegen des Fehlens einer von den Vertretern dieser Ansicht meist fraglos vorausgesetzten Priorität des —»Willens vor den übrigen Attributen Gottes nicht gesprochen werden kann, hat die französische Forschung seit Gilson (1913) immer wieder betont. Die These von der Herkunft der cartesischen Grundprobleme aus der Krise der spätscholastischen Theologie beruht im übrigen auf mindestens drei unbewiesenen Vermutungen: sie sieht Descartes unausweichlich in eine Tradition verstrickt, von der man nicht weiß, ob er sie gekannt hat, nimmt eine jahrhundertelange Gewißheitskrise an, von der für das 14. Jh. gar nicht feststeht, ob sie als solche empfunden worden ist, und muß der vornominalistischen Theologie implizit zuschreiben, was sie an dieser vermißt, aber vermutlich auch in anderen Spielarten christlichen Denkens nicht wird nachweisen können, wie die Vorstellungen einer Festlegbarkeit Gottes auf seine Güte und Zuverlässigkeit und die Konsequenzen seiner Manifestationen, einer rationalen Verläßlichkeit der Welt oder gar einer Erdienbarkeit des Heils. 2.3. Angesichts der Begründungsmängel der bisherigen Versuche, Descartes seinen philosophiegeschichtlichen Ort zwischen —> Nominalismus und Transzendentalphilosophie zuzuweisen, empfiehlt es sich, die Vor- und Wirkungsgeschichte seines Denkens bescheidener zu dimensionieren. Sind die von Leibniz als ein wenig chimaerisch empfundenen Jugendentwürfe ein Stück „Anti-Renaissance" (Gouhier), oder ist der junge Descartes den Denkmustern der Spätrenaissance doch tiefer verpflichtet? Präsentiert er seine Träume in der semiologischen Attitüde der Traumdeutung des 16. Jh., verdankt er das Lehrstück von den Samen der Wissenschaften und damit den Inneismus dem Renaissance-Lullismus und ist am Ende sogar sein inventum mirabile nur eine mathematische Transformation der lullischen Kunst? Wie groß ist der Einfluß der augustinischen Tradition und insbesondere des Oratoriums auf die Formierung seines Systems gewesen, oder handelt es sich in Wahrheit nur um eine erst nachträgliche bemerkte Konvergenz? Was waren die Gründe dafür, daß sich die cartesische Physiologie und Physik nicht hat durchsetzen können? Irrige Einzelannahmen oder eine schon im späteren 17. Jh. als anachronistisch empfundene Wissenschaftsgesinnung? Der angesichts des Zustandes der Experimentalphysik als verfrüht und hinterlich angesehene Anspruch auf den Besitz eines allgemeinen Systems der Naturerklärung, der hypothetische Grundzug dieses schönen physikalischen Romans oder die allgemeine Ernüchterung über den Erklärungswert der konsequenten Mechanistik? Fragen dieser und ähnlicher Art verlieren sich in den weiten Horizonten der oben berührten Globalerklärungen, dienen aber weit besser als sie dazu, sich im Denken Descartes' zu installieren und mit der sehr komplexen historischen Gesamtsituation vertraut zu werden. 2.4. Der Gewohnheit, die Entwicklungsphasen des cartesischen Denkens als Einheit zu behandeln, hat Gouhier das seither in der französischen Forschung viel diskutierte historiographische Postulat entgegengesetzt, die Sukzession der Attitüden approximativ in einer Sukzession von Porträts wiederzugeben. Der Descartes von 1619 sei nicht der von 1637 oder der von 1647, und wenn man sich mit dem von 1619 befasse, müsse man vergessen, was man von dem von 1637 wisse, da sich jener nicht aus diesem erklären lasse. Einen offensichtli-

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chen Verstoß gegen diese Regel stellt —»Heideggers Versuch dar, den metaphysischen Zweifel und die Subjektwerdung des ego cogito aus der „wesentlichen Vorherrschaft und . . . Radikalisierung des Mathematischen und Axiomatischen" zu erklären (Die Frage nach dem Ding, 1962, 81). Weil jetzt das Mathematische sich selbst als Prinzip alles Wissens ansetze, müsse alles bisherige Wissen notwendig in Frage gestellt werden. Nun enthalten gerade die in analytischer Methode und aus einer kontemplativen Grundhaltung heraus geschriebenen Meditationes in den zweiten Erwiderungen (AT VII,155 ff) eine unübersehbare Distanzierung von der axiomatisch-deduktiven Methode hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf metaphysische Gegenstände. Man weiß, daß Descartes der Mathematik schon 1630 gänzlich überdrüssig war (AT 1,139; vgl. 11,95.168) und stattdessen glaubte, ein Verfahren gefunden zu haben, wie man metaphysische Wahrheiten auf eine Art beweisen könne, die evidenter sei als die Beweise der Geometrie (AT 1,144). Der Uberzeugung von der Überlegenheit der metaphysischen Evidenz über die mathematische ist er fortan bis an sein Lebensende treu geblieben. E. J. Dijksterhuis kann denn auch seiner These, ihm sei „sein ganzes Leben lang" eine „fanatische Bewunderung für den formalen, den methodischen Wert der Mathematik geblieben", nur so den Schein einer Rechtfertigung verleihen, daß er die Regulae, die ihrerseits schon eine deutliche Distanzierung von der gängigen Mathematik enthalten (X,373 f), kurzerhand zum wahren Discours de la méthode erhebt, die methodologischen Exkurse der Meditationen übergeht und es im übrigen für nicht verwunderlich erklärt, daß von einem Arbeitsprogramm für Jahrhunderte, wie der Mathematisierung der Naturwissenschaften im Werk von Descartes selbst „noch so wenig zu bemerken" sei (Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956, 453). 2.5. Was für den Mathematismus gilt, läßt sich auch an anderen zur Charakterisierung des cartesischen Denkens verwendeten Positionsbegriffen nachweisen: Sie verabsolutieren in der Regel auffällige Züge seiner Philosophie oder auch nur ein bestimmtes Lehrstück und verfehlen damit zugleich den Kern seines Systemgedankens. Als ersten konsequenten Vertreter eines anthropozentrischen Standpunktes wird ihn nur apostrophieren können, wer seine These, die Gewißheit und Wahrheit jeder Wissenschaft hänge einzig von der Erkenntnis des wahren Gottes ab, als bloße Ausflucht oder weltanschauliche Camouflage ansieht. Das Motiv seiner Absage an eine anthropozentrische Kosmologie hat er selbst deutlich benannt. Die Vorstellung eines endlichen Universums, in dem der Himmel nur um der Erde und diese nur um des Menschen willen geschaffen ist, verleitet zu der Annahme, diese Erde sei unser eigentlicher Aufenthaltsort und dieses Leben das bessere (AT IV,292; vgl. 608 f; V,53ff; VIII,l,80f; 97f). Wir können, seit Kant gewöhnt, den Lehrgehalt der dogmatischen Metaphysik um die transzendentalen Ideen Gott, Seele, Welt zentriert zu sehen, kaum noch ermessen, wie radikal ein theozentrischer metaphysischer Traktat wie die Meditationen, der schon dem Titel nach vorrangig von der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele handeln will und in dem sprachstatistisch der Komplex Deus/idea Dei unter den Substantiven an der Spitze der Häufigkeitsskala steht, in seinem Aufbau von dem die theologischen Fragen ausklammernden Themenkanon der zeitgenössischen Metaphysiklehrbücher abwich. Auch hinsichtlich einer differenzierteren Verwendung des Rationalismus-Klischees muß die französische Lektion wohl erst noch gelernt werden. Bereits 1937 hatte Gouhier umfassend begründet, weshalb es rationelle Moral und Politik für Descartes nicht geben könne, und zum Verzicht auf Qualifikationen wie „rationalistisch" oder „intellektualistisch" geraten. Laporte, der schon 1928 die aus der Naturerklärung verbannte Finalität für die cartesische Moral zurückzugewinnen versucht hatte, war später nach umsichtigen Analysen zu dem Schluß gekommen, daß die Themenstellungen, die vorrangig einer rationalistischen Grundhaltung entspringen, für Descartes nur akzessorische Bedeutung hatten und bei ihm stets in Verbindung mit andersartigen oder ihnen entgegengesetzten Elementen auftreten. Lesen wir dagegen Rod (1978), so war Descartes' Denken nicht nur „beherrscht von der rationalistischen Wissenschaftskonzeption", derzufolge Wissenschaft im strengen Wortsinn ein axiomatisch-deduktives System von Sätzen bedeute, sondern auch von dem Ideal ei-

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ner zweckrationalen Praxis, in dem man mit gutem Grund den erst im Merkantilismus voll zur Entfaltung kommenden Geist kapitalistischer Rechenhaftigkeit wirksam sehen könne, und dem Glauben an die „Kompetenz der Vernunft zur Setzung letzter Ziele". Der erste Teil dieser Charakteristik trifft mit Abstrichen allenfalls auf die in synthetischer, wenn auch nicht in schulmäßig euklidischer Methode verfaßten Principia zu, nicht mehr jedoch auf die Meditationes, die gerade auch nach Gueroult, der mit seiner Vorliebe für die Architektonik von Argumentationsstrukturen der deutschen Erwartungshaltung am nächsten kommen dürfte, nur so rekonstruiert werden können, daß man die analytische Ordnung, der sie rigoros folgen, zur Evidenz bringt. Der zweite Teil, der die Brücke zur Rationalismus-These Max —»Webers und zu Borkenaus historisch-materialistischem Deutungsversuch (F. Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Paris 1934 = Darmstadt 1971, 268—383) zu schlagen versucht, stimmt schlecht zu dem Bilde eines Mannes, der zeitlebens davor zurückgeschreckt ist, verbindliche Zielsetzungen zu formulieren (vgl. AT VI,4,15; V,86f; 178), und die höchste Sehnsucht des Menschen in die Ergebung in Gottes Willen verlegt hat (IV,609). Auf der anderen Seite bleibt Laportes Vorschlag, das Rationalismus-Etikett durch die Formel „radikaler und integraler Empirismus" zu ersetzen, unbefriedigend. Am Ende hat er mit der Frage, ob es denn wirklich unerläßlich sei, dieser Philosophie einen sie charakterisierenden Namen zu geben, das Richtige getroffen. 2.6. Die Bemühungen der französischen Descartes-Forschung der ersten Jahrhunderthälfte, den „Cartésianisme de fait" in seiner ganzen, schwer systematisierbaren Komplexität gegenüber dem ihm beharrlich substituierten „Cartésianisme de droit" zur Geltung zu bringen, scheinen inzwischen wiederum in mehrfacher Hinsicht unterlaufen worden zu sein. Die nicht bündig beantwortbare Frage der „sincérité" Descartes', die Mesnard als durch Milhaud und Gouhier definitiv entschieden ansah, ist vor allem durch Caton wieder aufgerührt worden. Gilsons alter Forderung, die cartesische Metaphysik nicht isoliert von dem theologischen Milieu zu betrachten, in dem ihr Autor groß geworden ist, hat Rod mit dem Hinweis darauf widersprochen, daß Descartes den Gottesbegriff primär im Kontext seiner eigenen Philosophie und damit „unabhängig von seiner theologischen Funktion" bestimmt habe. Gueroult hat mit seiner methodischen Dezision, die nicht im Haupttext der Meditationes behandelten Theoreme als nicht zu den prinzipiellen Punkten der cartesischen Doktrin gehörig zu betrachten, eine thematische Restriktion befürwortet, von der es nur noch ein Schritt war bis zu einer Ausklammerung derjenigen inhaltlichen Probleme, die nicht das Siegel „erste Philosophie" verdienen. Auch die Diskussionen über die logische Validität cartesischer Argumentationen haben sich zunehmend von einem „Cartésianisme de fait" entfernt. Unter den Positionen, die etwa zur Abwehr von Arnaulds Zirkel-Einwand entwickelt worden sind — die sehr rege Kontroverse hat sich seit 1950 in über 60 Beiträgen niedergeschlagen —, vereinigt diejenige, die sich auf Descartes' eigene Antwort stützt, vorwiegend ältere Autoren auf sich und wird darum als die „klassische" geführt. Überwiegend geht man dagegen von der mehr als antiquarischen Bedeutung dieser Frage für die Grundlegung jeder Epistemologie aus und diskutiert sie unter Einbeziehung neuerer gegenstands- und referenztheoretischer Annahmen und auf der Grundlage der Descartes fremden Unterscheidung zwischen einem psychologischen und einem logischen Aspekt des Gewißheitsproblems. 2.7. Das Zurücktreten des strikt historischen Interesses an Descartes und seiner Zeit wirkt sich negativ auf die Bearbeitung der frühen Wirkungen seines Denkens aus. F.Bouilliers längst veraltete Histoire de la philosophie cartésienne (1842 3 1868) ist bis heute nicht durch eine andere Gesamtdarstellung ersetzt. Nur durch minutiöse Rezeptionsanalysen, wie sie Monchamp 1886 für Louvain oder Lindborg 1965 fürUppsala vorgelegt haben, läßt sich die Veränderung der europäischen Wissenschaftslandschaft unter dem Einfluß cartesischer Ideen hinlänglich nachzeichnen. Die deutsche Hochschulgeschichte des 17. und 18. Jh. ist reich an vielfältigen Brechungen des Cartesianismus, die mit einer gewissen Verzögerung auch den katholischen Raum erreicht haben. Die zusammenhängende Darstellung dieser Entwicklungen für Mitteleuropa wird jedoch durch die bis heute anhaltende bibliotheka-

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risch-bibliographische Vernachlässigung der älteren Hochschulschriften, von denen ein erheblicher Prozentsatz inzwischen definitiv verloren sein dürfte, sehr erschwert. Auch von den noch erhaltenen, oft unkatalogisierten pro- und anticartesianischen Titeln sind die meisten bisher nicht einmal in der Spezialliteratur berücksichtigt worden. Dies ist nicht verwunderlich, denn wie anders als durch das Studium der äußerst selten gewordenen Originaltexte könnte man sich gegenwärtig verläßlich über Einzelheiten der Position selbst so gewichtiger Autoren wie Johannes de Raei und Christoph Wittich unter den Anhängern oder Jacob Revius und Samuel Maresius unter den Widersachern Descartes' informieren? Durch das Schüttelsieb der immer noch vorrangig an großen Einzelerscheinungen und nicht an historischen Entwicklungen orientierten allgemeinen Philosophiegeschichte, die allenfalls noch unter der okkasionalistischen Variante des Cartesianismus einige weniger prominente Autoren verbucht, fallen sie samt und sonders hindurch. Dies hat längst zu einem paradoxen rezeptionsgeschichtlichen Hiatus geführt: die Diskussionen über die wichtigsten Topoi der neueren Descartesinterpretation, wie das Cogito, den Ideebegriff, die clara et distincta perceptio oder die —>Gottesbeweise, entfalten sich derzeit ohne ein deutliches Bewußtsein davon, daß eben diese Themen schon im 17. Jh. von zahlreichen Autoren mit nicht geringem Scharfsinn und nicht weniger gründlich als heute diskutiert worden sind. 3. Theologische

Eigenlehren

Descartes'

Das Spektrum der divergenten Ansichten über das Verhältnis Descartes' zur Theologie hat zu seinen Extremen den Atheismusverdacht und das Bild des Verteidigers der Sache Gottes und Apologisten. Gouhier hat diese letztere Einschätzung nach der Gegenseite hin durch die sorgfältige Analyse seiner lebenslangen apologetischen Intentionen abgegrenzt, aus der er den Vorschlag ableitet, in Zukunft in der Formel „apologiste ou savant" das „ou" fortzulassen. Auf dem anderen Flügel treffen sich aus konträren Motiven Theologen, wie Karl —»Barth, für den Descartes durch den Unernst, mit dem er mit harmlosen Eigenprodukten seines Geistes, wie dem Zweifel und der Gottesidee, gespielt hat, und wegen der „ganzen katholisch-humanistischen Mittelmäßigkeit, in der er sich ,zwischen den Zeiten' eingerichtet und durchgeholfen hat", der strengeren Forderung eines „Gehorsamsdenkens" gegenüber dem sich selbst autoritativ beweisenden Gott nicht gerecht geworden ist, und all jene, die daran interessiert sind, ihn als verkappten, in theologischen Fragen doppelzüngigen Freigeist anzusehen. Ihnen kann es nur recht sein, wenn Barth den von Descartes nur aus seinem Geist hervorgeholten, „abwechselnd bewiesenen und beweisenden, von ihm bedienten und ihm dienenden" Gott für „hoffnungslos drinnen" erklärt (K.Barth, KD III, 2 1947, 4 1 1 - 4 1 4 ) . Die nicht weniger scharfen Kampfansagen katholischer Autoren haben eine andere Stoßrichtung. So stellen etwa Maritain oder Temple die subjektive theologische „sincérité" Descartes' nicht in Frage, sehen aber in dem cartesischen „Fauxpas" die „große französische Sünde in der modernen Geschichte" (J. Maritain, Le songe de Descartes, Paris 1932, 287), wenn nicht gar „den unheilvollsten Moment in der Geschichte Europas" (William Temple, Nature, Man and God, London 1934, 57): den Anbruch von drei Jahrhunderten eines selbstzerstörerischen Rationalismus, dessen Bankrott nunmehr eingetreten sei, mit all seinen „anthropotheistischen" Prämissen und Folgeerscheinungen. Maritain verschärft Blondels Formel von einem „christlichen Agnostizismus" Descartes' (M.Blondel, Le christianisme de Descartes: R M M 4 [1896] 551 ff) aufgrund seiner impliziten Leugnung der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Theologie zu dem recht plakativen Vorwurf eines violenten fideistischen „Antitheologismus". Gegenüber solchen Ereiferungen, aber auch gegenüber allen Versuchen, die theologischen Elemente im Denken Descartes' als nicht systemkonstitutiv zu behandeln, dürfte die von Gouhier 1924 vorgeschlagene Interpretationslinie dem „Cartésianisme de fait" am nächsten gekommen sein. 3.1. Im Raum der traditionellen theologischen Fragestellungen hat Descartes in der Frage der Erschaffung der ewigen Wahrheiten, der göttlichen Welterhaltung und der eucharistischen Akzidentien eigene Wege zu gehen versucht. Nach Descartes ist etwas für —»Gott nicht schon deswegen unmöglich, weil es die Fassungskraft meiner endlichen cogitatio über-

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steigt und „in meinem Begriff" einen Widerspruch einschließt (AT V,233f; 272f). Gottes Allmacht hat keine Schranken. Nur unser Geist ist von ihm so geschaffen worden, daß er das nicht als möglich ansehen kann, was Gott hätte möglich machen können, aber von Ewigkeit her nicht hat möglich machen wollen, wie etwa, daß die Winkelsumme im Dreieck nicht mit Notwendigkeit gleich zwei Rechten wäre. In Gott gibt es keinerlei Präferenz oder Priorität der Ordnung, Natur oder fundierten gedanklichen Unterscheidung nach zwischen seinem Intellekt und Willen. Alles, was in ihm ist, ist er selbst. Wollen, Erkennen und Schaffen sind in ihm nicht einmal gedanklich unterschieden, sondern ein und dieselbe Sache und eine einzige, gänzlich einfache Tätigkeit. Sein Wille ist folglich durch keine ihm voraufgehende ratio boni determiniert oder genötigt gewesen, etwas Bestimmtes zu bewirken oder eines einem anderen vorzuziehen. Wenn er gewollt hat, daß gewisse Wahrheiten ewig und notwendig seien, so nicht mit Notwendigkeit. Vielmehr war er frei und indifferent dagegen, es auch anders zu machen. Diese höchste Gleichgültigkeit in Gott ist zugleich das stärkste Argument für seine Allmacht (I,149.152f; IV,118f; V,160.166; VII,431 f.435). Da es schlechterdings nichts gibt, was nicht von Gott abhinge, darf man nicht annehmen, daß die ewigen Wahrheiten auch wahr wären, wenn es Gott nicht gäbe, und somit dem göttlichen Erkennen noch voraufgingen, denn die Existenz Gottes ist die erste und ewigste aller Wahrheiten. Sie sind auch nicht notwendiger mit seinem Wesen verknüpft als die übrigen Kreaturen. Wahr oder möglich sind sie nur, weil Gott sie von Ewigkeit her als wahr oder möglich erkannt oder, was dasselbe ist, gewollt und geschaffen hat, wie auf andere Weise ein weltlicher Herrscher in seinem Reich Gesetze instituiert oder etabliert. Nur ist der göttliche Wille völlig unveränderlich, so daß das, von dem er von Ewigkeit her gewollt hat, daß es notwendig wahr sei, nunmehr auch nicht anders sein kann ( I , 1 4 5 f . l 4 9 f . l 5 2 f ; 11,138; V,160.166; VII,432.435f). Diese Konzeption der göttlichen Freiheit galt Gilson, der mit guten Gründen —>Duns Scotus und Mersenne als ihre möglichen Vorläufer ausgeschlossen hatte, als originelle Leistung Descartes'. Ihre Verwandtschaft mit Ockhams Position, der wie Descartes alle Prärogative einzelner göttlicher Attribute in die schlechthinnige Einfachheit Gottes zurückgenommen hatte, ist erst später bemerkt worden. Als Plädoyer für die Unberechenbarkeit eines blinden Willkürwillens läßt sie sich nur interpretieren, wenn nunmehr Gott nichts als Wille wäre. Gerade dies aber haben weder Ockham noch Descartes je behauptet. 3.2. Mit der theologischen Tradition geht Descartes davon aus, daß sich keine geschaffene Substanz aus eigener Kraft im Sein erhalten kann und die Welt sofort ins Nichts versinken würde, wenn sie nicht durch die unaufhörliche Mitwirkung Gottes erhalten würde. Er verbindet mit dieser Annahme den Gedanken einer strikten Zuordnung der erhaltenden Aktivität Gottes zu den einzelnen Momenten der nicht abstrakt, sondern als Dauer eines fortdauernden Dinges verstandenen —»Zeit. Alle Momente der unendlich teilbaren Dauer sind unabhängig voneinander und könnten in dem Sinne voneinander getrennt werden, daß allein daraus, daß etwas jetzt ist, nicht schon folgt, daß es auch weiterhin sein wird, sondern daß es zu bestehen aufhören würde, wenn es nicht unaufhörlich gleichsam reproduziert und somit für diesen Moment gewissermaßen erneut geschaffen würde. In der Idee des Körpers liegt kein Vermögen zur Selbstreproduktion. Auch die res cogitans hat keine Kraft, sich selbst zu erhalten. Es bedarf also des unaufhörlichen Einflusses der Erstursache (AT 111,429; V,53; VI,36; V I I , 4 8 f . l 0 9 f . l 6 8 . 2 4 3 . 3 6 9 f ; VIII/1,13). Gott erhält dabei ein Ding nicht als das, welches es zu irgendeiner Zeit zuvor gewesen sein mag, sondern präzis als das, welches es in dem Moment ist, in dem er es erhält (XI,44.46). Hierbei ist gerade die unaufhörliche Veränderung der Kreaturen ein Argument für die Unveränderlichkeit der sie erhaltenden Ursache. Um ein Ding von Moment zu Moment zu erhalten, bedarf es völlig derselben Kraft und Tätigkeit, die zu seiner Erschaffung erforderlich war. Aber obwohl Gott immer auf dieselbe Weise wirkt, erhält er die geschaffenen Dinge doch nicht in demselben Zustand, denn er hat die Teile der Welt bei ihrer Erschaffung auf verschiedene Weise in Bewegung gesetzt und überdies Gesetze der Bewegungsübertragung etabliert. Allein daraus, daß er fortfährt, die Welt zu erhalten und damit ständig eine der Substanz nach identische Wirkung hervorzubringen, ergibt sich akzidentell eine Fülle von Verschiedenheiten in Gestalt der Verände-

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rungen der Weltteile, die der göttlichen Aktivität selbst nicht zugeschrieben werden können

(VIII/1,66; xi,37f).

Gilson hat den grundlegenden Unterschied dieser Konzeption der Welterhaltung als fortgesetzter Schöpfung von der scholastischen Auffassung darin gesehen, daß sie von der radikalen Diskontinuität der Zeit ausgehe. Diese Deutung des cartesischen Instantaneismus hat sich gegen Laportes Einspruch durchgesetzt, ist aber überaus fragwürdig. Descartes konnte die faktische Kontinuität der Seinsfortdauer um so weniger in Frage stellen, als schon der erste Moment realer Diskontinuität in seinem Erklärungsmodell das Ende der Existenz der Welt bedeuten würde. Da die geschaffenen Dinge nicht fähig sind, ihre Existenz aus eigener Kraft zu kontinuieren, bedarf es einer höheren Kontinuitätsgarantie. Uber sie gewinnt er nicht nur den Gottesbeweis aus der Kontingenz der Zeit in der dritten Meditation, sondern auch die Rahmenbedingung für die Selbstgestaltung des Chaos in der Weltentstehungsfabel seiner Monde. Freilich hat er sich gerade mit der Annahme eines gleichbleibenden Effekts der göttlichen Wirksamkeit der Möglichkeit beraubt, seine Kosmogonie mit dem biblischen Schöpfungsbericht, um dessen klares und deutliches Verständnis er zeitlebens vergeblich gerungen hatte (AT 1,70.194; 111,296; IV,698.700f; V,54.168f; VI,42ff; VIII/l,99ff; X,218; XI,31ff), in Einklang zu bringen, denn auch dort, wo mit—»Augustin das Sechstagewerk als eine nachfolgende schrittweise Vervollkommnung eines noch unvollkommenen Schöpfungsanfangs gedeutet wird, ist das Vervollkommnen allein die Sache Gottes selbst und nicht ein von seiner Mitwirkung nur begleiteter Selbstregulationsprozeß der Materie. 3.3. Descartes war sich früh bewußt geworden, daß sein Versuch, die Annahme substantieller Formen und realer Qualitäten oder Akzidentien durch eine konsequent mechanistische Erklärung der Naturvorgänge zu unterlaufen und überflüssig zu machen (AT 111,492.500; VI,23 9; VII,248; XI,7.9.25 f), eine neue Erklärung der Transsubstantiation erforderlich machen würde. Später hat er das Problem in zwei Hauptfragen zerlegt: Wie kann es geschehen, daß alle Akzidentien des Brotes an dem Ort bleiben, wo das Brot nicht mehr ist oder wo es einen anderen Körper an seiner Stelle gibt, und wie kann der Leib Jesu Christi unter denselben Abmessungen sein, unter denen das Brot war (IV,374f)? Die erste Frage beantwortet er von seinen naturphilosophischen Prinzipien her durch Reduktion der sinnlichen Wahrnehmung des Brotes auf den Kontakt mit der „Oberfläche" als der identischen Grenze von Brot und umgebender Luft, die beider Modus, aber kein Teil von ihnen sei. Da die Verwandlung des Brotes in den Leib Christi nach allgemeiner Auffassung ohne Veränderung der Oberfläche geschieht, affiziert die neue Substanz unsere Sinne mit Notwendigkeit auf dieselbe Weise wie vormals das unverwandelte Brot (III,387f; IV,199.163ff; VII,249ff.433 f). Während Descartes diese Lösung nicht nur für besser als die traditionelle, sondern für so gewiß und unbezweifelbar gehalten hat, daß die Väter der Konzilien von —»Konstanz und —»Tnent sie sich wohl würden zueigen gemacht haben, wenn sie sie nur schon gekannt hätten (111,349; vgl. VII,255), hat er sich über die zweite Frage nur mit großer Zurückhaltung geäußert und Arnauld schließlich eine schriftliche Antwort verweigert. Die Mesland mitgeteilte Lösung beruht auf der näheren Bestimmung des Leibbegriffes. Der Leib eines Menschen verdankt danach seine lebenslange numerische Identität nicht seiner Quantität oder Gestalt, sondern, unter welchen quantitativen Gegebenheiten auch immer, allein seiner Vereinigung mit der Seele. Diesen Gedanken überträgt Descartes dann auf die Information der Materie der Hostie durch die Seele Christi (IV, 166 ff.346 ff.372 f). Dieser Teil der cartesischen Eucharistielehre hatte noch geringere Chancen als die auch von Arnauld als Theologumenon akzeptierte Lösung des Qualitätenproblems, jemals Bestandteil der offiziellen Kirchenlehre zu werden, so daß ein katholischer Historiker des Problems (F. Jansen) aus seiner Perspektive ohne Mühe zu dem Schluß kommen konnte, der Boden der Geschichte sei übersät mit den Ruinen der verschiedenen eucharistischen Systeme des Cartesianismus. Auch für eine Reihe anderer Lehrstücke Descartes', wie die Indefinitheit der Welt, den Inneismus der Ideen oder die Evidenzgarantie, sind theologische Prämissen konstitutiv. Dieser Befund ist so unübersehbar, daß auch für einen sich jenseits von Theismus und Atheis-

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mus ansiedelnden Interpreten wie Karl Löwith, für den es kaum noch des Denkens und Sagens wert ist, daß überhaupt kein Gott ist, jeder, der diese Prämissen nicht so wichtig nimmt wie Descartes selbst, den Sinn und die Absicht seiner Reflexion auf sich selbst und seiner mathematischen Rekonstruktion der physischen Welt verkennt. Quellen GA: Oeuvres de Descartes, publ. par Charles Adam/Paul Tannery. Nouvelle présentation, 11 Bde., Paris 1 9 6 4 - 1 9 7 4 (zit. AT; ohne den ehem. Bd. XH./Charles Adam, Vie et oeuvres de Descartes. Étude historique, Paris 1910; der „Index général" des ehem. Supplements jetzt: V, 7 8 3 - 8 2 3 ) . - Dt. Übers.: (Eine Gesamtübersetzung existiert nicht.) Neuere Einzelübersetzungen: Uber den Menschen (1632), Beschreibung des menschlichen Körpers (1648). Nach der ersten franz. Ausg. v. 1664 übers, v. Karl E. Rothschuh, Heidelberg 1969. - Regulae ad directionem ingenii (Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft). Lateinisch deutsch. 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Wolfgang Hiibener Determinismus/Indeterminismus ^Wille/Willensfreiheit Deuterojesaja 1. Literarische Probleme 2 . Gattungen 4 . Theologische Probleme 5. Die Ebed-Lieder

1. Literarische

3 . Hauptformen und -inhalte der Verkündigung (Literatur S. 5 2 8 )

Probleme

1.1. Abgrenzung voti Jes 1 -39. Daß ab Jes 40 nicht mehr der zwischen (740?) 734—701 wirkende Prophet —>Jesaja redet, ist eine der ältesten Erkenntnisse der historischen Forschung. 1775 hat Döderlein Jes 40 ff einem anderen Propheten zugeschrieben, mit der bis heute gültigen klassischen Begründung: „Quod quidem nullo periculo multo autem commodo statuitur" (zit. nach Köhler 1). Die wichtigsten Gründe sind schnell aufgezählt: In Jes 44,28; 45,1 wird der Perserkönig Kyros (559—529) namentlich genannt. Gegner Judas zur Zeit Jesajas waren die Assyrer (—»Assyrien und Israel), deren Reich gegen Ende des 7. Jh. v. Chr. durch die Neubabylonier und Meder gestürzt wurde. Ab Kap. 4 0 aber ist der Gegner nicht mehr Assur, sondern Babel ( = Neubabylonier; vgl. z. B. das Spottlied Jes 47). Den historischen Unterschieden entsprechen theologische: Bei Jesaja wird Strafe wegen des Abfalls angekündigt, Heil ist nur durch Umkehr möglich. Ab Jes 4 0 ff dagegen (besonders deutlich schon 40,1—2) ist die Grundkonzeption: Der Strafe ist nun genug — jetzt ist die Zeit der Gnade. Der Prophet soll nicht zur Umkehr mahnen, sondern trösten (40,1). Weiterhin zeigen die Gattungen (s. u. Abschn. 2), daß beim Volk die Fragen und Nöte des —»Exils vorhanden sind. 1.2. Abgrenzung von Jes 56-66. Während der Beginn Deuterojesajas in Kap. 40 heute praktisch allgemein anerkannt ist (Ausnahmen verdienen nur museales Interesse: Spadora; Payne), ist z.T. umstritten, wie weit die Dtjes zuzuschreibenden Texte gehen. 1892 hatte —»Duhm die These vertreten, ab Jes 56 rede nicht mehr Deuterojesaja, sondern ein anderer Prophet, den er —»Tritojesaja nannte und in die nachexilische Zeit ansetzte. In der Tat finden sich ab Kap. 56 wesentliche theologische Unterschiede, die diese Annahme nahelegen. Allerdings sind die Argumente für die Abtrennung von 5 5 - 6 6 nicht ebenso stringent wie die für die Abtrennung von 4 0 - 66; so finden sich z. B. ab 56 ff auch Texte, die theologisch gut zu 40—55 passen wie z.B. 60—62. Es gibt immer wieder Versuche, die die zweifellos vorhandenen Gemeinsamkeiten von 4 0 - 5 5 und 5 6 - 6 6 stärker betonen und die die ebenso zweifellos vorhandenen Unterschiede nicht durch verschiedene Verfasser, sondern durch die Verschiedenheit der Situation erklären wollen: ab 56 redet Dtjes in Jerusalem zu den Zurückgekehrten (so, mit Differenzen im einzelnen, Smart, Morgenstern, Banwell, Haran, Maass u.a.). Da aber in der neueren Forschung sich die Stimmen mehren, die 56—66 nicht als einheitlich ansehen, sondern in ihnen mehrere Schichten finden und da außerdem an einigen Stellen der Eindruck entsteht, daß „Texte" aus 40—55 „ausgelegt" werden (Zimmerli, Sprache; Michel, Eigenart), spricht doch wohl mehr für die Annahme, ab 56 rede nicht mehr Dtjes. 1.3. Ausgrenzung von Texten aus Jes 40-55. Ein weiteres Problem ist die Frage, ob 40—55 in sich einheitlich sind. Oft ist festgestellt worden, daß Unterschiede zwischen

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4 0 — 4 8 einerseits und 4 9 - 5 5 andererseits bestehen. V o r allem kommen Kyrosworte mit der Ankündigung des Falls von Babylon nur in 4 0 — 4 8 vor, während 4 9 — 5 5 sich vor allem mit dem Wiederaufbau des Volks nach seiner Rettung befassen (Fohrer, K o m m . 4 , vgl. weiter z. B. North, K o m m . 8 f), außerdem finden sich Heilsorakel (wenn man die Gattung mit Westermann eng faßt) nur in 4 0 — 4 8 . M a n c h e Forscher nehmen deshalb an, 4 0 - 4 8 seien vor dem Kyrosedikt 5 3 8 in Babylon verfaßt, 4 9 - 5 5 danach, wobei gelegentlich (z. B. Kittel; Orlinski) als Abfassungsort Jerusalem postuliert wird. Die Mehrheit aber hält die Gemeinsamkeiten von 4 0 — 5 5 für gewichtiger als die Unterschiede und nimmt deshalb für 4 0 - 5 5 einen einheitlichen Verfasser, „Deuterojesaja", an. In jüngster Zeit allerdings hat Schmitt (ZAW 1979) Beobachtungen vorgetragen, die, wenn sie durch weitere Untersuchungen abgestützt werden können, geeignet sind, das ganze Problem in ein neues Licht zu stellen. Nachdem schon Elliger an einigen Stellen die redigierende Hand Tritojesajas gesehen und Westermann in 48 eine spätere Ergänzungsschicht nachgewiesen hatte, hat Schmitt jetzt zu zeigen versucht, daß neben der Bearbeitung in 48 auch eine Bearbeitung in 55 aufweisbar ist und daß vermutlich 4 9 - 5 5 insgesamt einer „schultheologischen Bearbeitung" unterzogen worden sind. Auf diese Weise läßt sich nach Schmitt erklären, daß in 4 0 - 4 8 die von Herrmann herausgestellte Eigenständigkeit Deuterojesajas besteht, während für 4 9 - 5 5 die von Baltzer herausgestellte Verwandtschaft mit —»Ezechiel charakteristisch ist. Damit wäre freilich die Einheitlichkeit von 40—55 endgültig ad acta zu legen und damit auch das übliche Bild von dem großen Dichterpropheten Deuterojesaja. In ähnliche Richtung weisen die Arbeiten von Becker und Vincent. Neben diesem großen Problem des Verhältnisses von 4 0 - 4 8 zu 49—55 sind die anderen Probleme der literarischen Einheitlichkeit weniger gewichtig. Vor allem ist hier die Frage, wie die zum großen Teil in Prosa geschriebenen Stücke der „Götzenpolemik" zu beurteilen seien ( 4 0 , 1 9 - 2 0 ; 4 1 , 6 - 7 ; 42,17; 4 4 , 9 - 2 0 ; 4 5 , 1 6 - 17.20b; 4 6 , 5 - 8 ; 48,22). Von den meisten Exegeten werden sie als sekundär angesehen; Preuß (Verspottung) hat hier allerdings Bedenken angemeldet. Wenn sich Schmitts These einer „schulmäßigen Bearbeitung" bei weiterer Überprüfung bewahrheiten sollte, müßten wohl diese Stücke anders als üblich beurteilt werden. 1.4. Zur Komposition von ]es40-S5. Die Probleme von Komposition und Redaktion in Jes 4 0 — 5 5 sind nur schwer zu lösen, weil hier (wie auch in 5 6 — 6 6 ) gliedernde Uberschriften und Situationsangaben völlig fehlen. Ohne explizite Hinweise im T e x t muß deshalb die E x e gese klären, aus welchen Einheiten der T e x t besteht, ob aus den Einheiten selber Gliederungsprinzipien erkennbar sind und ob schließlich eine kompositorisch-redaktionelle Arbeit nachweisbar ist. 1.4.1. Die Antwort auf die Frage, aus welchen Einheiten der Text besteht, hängt letztlich von der Wertung der Gattungsforschung ah. Dementsprechend sind die Antworten verschieden. Mowinckel zählte z. B. ohne die Ebedlieder 42 selbständige Einheiten, Eißfeldt „etwa 5 0 kleinste Einheiten" (Einl. 455). Muilenburg sieht in 4 0 - 5 5 eher „developed literary compositions" (391) und zählt 21 solcher Größen. Auch Westermann rechnet gegenüber Mowinckel mit größeren Kompositionseinheiten (zu ihm und Muilenburg vgl. kritisch Melugin [BZAW 141]). 1.4.2. Das zweite Problem ist die Frage, nach welchen Kriterien die (ursprünglich selbständigen?) Einheiten zueinander geordnet sind. Mowinckel rechnete mit einer Stichwortassoziation, also mit einer letzten Endes nicht durch inhaltliche Kriterien bestimmten Anordnung. Dem aber steht die Beobachtung entgegen, daß die Inhalte der Aussagen von 4 0 - 5 5 differieren. Die Unterschiede zwischen 4 0 - 4 8 und 4 9 - 5 5 sind schon erwähnt worden (Abschn. 1.3). Westermann will noch weiter unterteilen: 40—44 „enthält in voneinander gesonderten Einheiten die grundlegenden Redeformen Dtjes.', das Heilsorakel, die Heilsankündigung und die Gerichtsreden" (Sprache 164). Ein weiterer klar erkennbarer Abschnitt ist 45 - 48, in dem es alle Teile direkt oder indirekt mit Kyros zu tun haben. Demgegenüber ist 4 9 - 5 3 nicht so klar formal und inhaltlich zu bestimmen, wohl deshalb, weil hier „die stärksten Eingriffe in den Text zu erkennen" sind, „die vielleicht mit der Einfügung der ebed-Lieder zusammenhängen" (ebd.). 5 4 - 5 5 sind dadurch charakterisiert, daß die Heilsankündigungen durchweg auf einen Heilszustand gehen (ebd.). Als Gliederungsprinzip fungieren die eschatologischen Loblieder. 1.4.3. Die Beobachtungen Westermanns führen zwingend auf die (auch von ihm nicht ausreichend geklärte) Frage einer Redaktion (durch Dtjes selbst oder durch spätere Bearbeiter). Möglicherweise sind 4 9 - 5 5 stärker bearbeitet als 40—48 (Schmitt). Melugin rechnet mit der Wahrscheinlichkeit, daß 4 0 - 5 5 „underwent several stages of growth" (BZAW 141, 175), hält es aber für unmöglich, diese im einzelnen zu rekonstruieren. Er wie vor ihm schon Becker (vgl. Abschn. 4.3.) hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß 40—55 (66) ohne jegliche einführenden Notizen an 1—39 angehängt und jedenfalls

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von der Redaktion doch wohl als Teil des Jesajabuches verstanden worden sind (vgl. ebd. 177; s. auch Abschn. 4.3). 2. Gattungen 2.1. Einführender Überblick. Einen ersten Versuch der Gattungsanalyse bei Dtjes hat 1914 Greßmann unternommen. Er konstatiert generell ein Zurücktreten ekstatischer Momente, Ersatz der Drohungen durch Verheißungen und eine Abhängigkeit „von der geistigen Lyrik,. . . und vor allem vom Hymnus" (283). Daß bei Dtjes neue und eigenständige Gattungen vorliegen, wird noch nicht erkannt (vgl. 295). — Es ist vor allem Köhlers Verdienst, den Botenspruch und seine Abwandlungen erkannt und in seiner Bedeutung für die Prophetie allgemein herausgearbeitet zu haben; für die Problematik bei Dtjes aber trägt gerade dieser Komplex wenig aus. Wichtiger sind seine Ausführungen über die Verwurzelung der Streitgespräche im israelitischen Rechtsleben (llOff). — Erst Begrich hat die Methoden der Gattungsforschung konsequent auf Dtjes angewandt und die Gattungen bei Dtjes in ihrer Eigenständigkeit erkannt. 2.2. Disputationsworte (Bestreitungen). Häufiger als bei anderen Propheten (doch vgl. z.B. Am 3,3 — 8) findet sich bei Dtjes der Versuch, seinen Hörern (Lesern?) auf argumentative Weise den Inhalt seiner Botschaft näherzubringen. Begrich nannte solche Texte „Disputationsworte": „Ihre Absicht ist es, einen anderen zu der Meinung des Sprechers mit überzeugenden Gründen hinüberzuziehen und seine Einwände zu entkräften" (TB 20,48). Texte: 4 0 , 1 2 - 1 7 ; 4 0 , 1 8 - 2 0 + 2 5 - 2 6 ; 4 0 , 2 1 - 2 4 ; 4 0 , 2 7 - 3 1 ; 4 4 , 2 4 - 2 8 ; 4 5 , 9 - 1 3 ; 4 5 , 1 8 - 2 5 ; 4 6 , 5 - 1 1 ; 4 8 , 1 - 1 1 ; 4 8 , 1 2 - 1 5 ; 5 0 , 1 - 3 (49). Das Disputationswort stammt nach Begrich aus dem profanen Leben; durch die prophetische Nachahmung ist die profane Gattung literarisch geworden (49). Von Waldow findet in den Disputationsworten ein durchgängiges Rahmenschema „Disputationsbasis-Schlußfolgerung", die Basis bilde dabei den von beiden Partnern akzeptierten Ausgangspunkt, die Schlußfolgerung die logische Konsequenz. In diesem festen Aufbau sieht von Waldow einen Hinweis darauf, „daß die Disputationsworte bei Dtjes. wohl keine literarischen Imitationen, sondern eher wirkliche und echte Disputationen sein werden" (35; ähnlich auch Schoors). Nach Westermann allerdings handelt es sich bei diesen Texten „niemals um eine exakte Wiedergabe einer Disputation oder eines Streitgespräches", sondern um eine einseitige Bestreitung eines Einwandes, Zweifels o. ä. (TB 24,125), er schlägt deshalb als bessere Bezeichnung „Bestreitungen" vor, wobei er mit größeren Einheiten als seine Vorgänger rechnet (z.B. 4 0 , 1 2 - 3 1 eine einheitliche Komposition, die auf 2 7 - 31 zielt). - Hermisson hat demgegenüber m. E. überzeugend dargelegt, daß es eine Gattung „Disputationswort" im strengen Sinn des Wortes Gattung nicht geben kann, weil ein „gleichartiger Sitz im Leben, der eine einigermaßen konsistente Redegattung hervorgebracht haben könnte,. . . nicht vorgegeben" sei (666). Es handle sich vielmehr um eine Vielzahl von Redeformen in der Auseinandersetzung. Wenn von Waldows Aufteilung in Argumentationsbasis und Folgerung wirklich stimmen sollte, „wäre im Sinn der Formgeschichte zu fragen, welchen besonderen Sitz im Leben (als den formprägenden Raum) man für eine derart allgemeine logische Struktur eigentlich angeben wollte?" (669). Außerdem stimmt das logische Schema von Prämisse und Folgerung gar nicht; der Ubergang ist keineswegs immer eindeutig markiert, vor allem zeigt eine genaue Prüfung, daß das 1. Glied (die Basis) keinesweg immer auch von allen Hörern Zugestandenes anführt, sondern daß auch hier schon Dtjes versucht, seine Hörer „auf einen Denkweg mitzunehmen, auf dem von Anfang an Entscheidungen fallen" (678). Auch nach Melugin gilt, „that, for the most part, the structure of Deutero-Isaiah's disputation speeches is his own creation" (BZAW 141,44); auch nach ihm gibt es keinen Sitz im Leben für eine Gattung Disputationswon. Fazit: In den zitierten Texten liegen keine literarischen Nachahmungen oder Aktualisierungen einer festen Gattung „Disputationswort" vor, sondern kerygmatische Neubildungen Deuterojesajas. 2.3. Gerichtsreden Jahwe-Israel. Begrich hatte unter der Sammelbezeichnung „Gerichtsreden" verschiedene Untergattungen zusammengefaßt (Appellationsrede des Angeschuldigten oder des Beschuldigers, Rede des Klägers oder Angeklagten vor Gericht, Rede des Richters, Schilderung einer Gerichtsverhandlung), wobei die Reden bei Dtjes Nachahmungen der in der hebräischen Rechtsgemeinde gehaltenen Redegattungen seien. Von Waldow ist mit dieser Herleitung nicht einverstanden; seiner Meinung nach spricht gegen sie, daß in einigen Reden Jahwe in der Doppelfunktion von Kläger und Richter auftritt. Dies soll nach ihm auf eine kultische Situation hinweisen, wie sie im Bundesfestkult vorgekommen sei, und zwar als „prophetische Gerichtsrede" (dazu vor allem BZAW 85). Westermann hat hier zwei wichtige Erkenntnisse beigetragen: Begrich geht fälschlicherweise von einer strafrechtlichen Verhandlung aus; außerdem ist zu trennen zwischen „Gerichtsreden Jahwe-die Völker" und „Jahwe-Israel". Diese überzeugende Untergliederung hilft, die Eigenart der Texte besser zu erfassen; Schoors und Melugin haben sie übernommen. In den Gerichtsreden Jahwe- Israel geht es nach Westermann eigentlich gar nicht um eine Gerichtsrede, sondern um eine vorgerichtliche Bestreitung. In dieser begründet Jahwe, weshalb er beim Gericht über Juda so handeln mußte, wie er gehandelt hat ( 4 3 , 2 2 - 2 8 ; 5 0 , 1 - 3 ; 4 2 , 1 8 - 2 5 ) .

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2.4. Gerichtsreden Jahwe-die Völker. In ihnen ( 4 1 , 1 - 5 ; 4 1 , 2 1 - 2 9 ; 4 3 , 8 - 1 3 ; 4 4 , 6 - 8 ; 4 5 , 1 8 - 2 5 ) geht es nach Westermann um die Klärung zweier Ansprüche, nämlich um die Frage, wer den Anspruch der Göttlichkeit erheben könne (vgl. TB 24,138). Wichtig ist hier der Anspruch, daß Jahwe durch Kyros wirke, auffällig, daß diese Gerichtsreden sich alle im ersten Teil des dtjes Buches befinden. Schoors lehnt die Annahme einer Doppelfunktion Jahwes und damit von Waldows Herleitung der prophetischen Gerichtsrede ab. Er hat (m.E. berechtigte) Skepsis hinsichtlich einer Herleitung der Gattung „Gerichtsreden" aus einem bestimmten Sitz im Leben (244). Melugin hat weiter gezeigt, daß die Gerichtsreden (sowohl gegen die Völker als auch gegen Israel) weitgehend von Dtjes selber unter Verwendung herkömmlicher Motive gestaltet sind. Dtjes benutze diese neugestalteten Gerichtsreden zum Zwecke der Disputation „in Converting the trial from its normal function of dealing with violations of the established Order to the purpose of disputation, Deutero-Isaiah has divorced the trial from its traditional moorings" (BZAW 141,63). Fazit: Auch hier haben wir wie beiden Bestreitungen weniger Nachahmungen oder Neuaktualisierungen alter, fester Gattungen als vielmehr kerygmatische Neubildungen Deuterojesajas unter Verwendung herkömmlicher Motive. 2.5. Heilsorakel (Heilszusagen) und Heilsankündigungen. 1934 hatte Begrich den in manchen Psalmen konstatierbaren Stimmungsumschwung durch die Annahme eines „priesterlichen Heilsorakels" erklärt, mit dem eine Antwort auf die Klage eines einzelnen gegeben werde. Ein Echo eines solchen Heilsorakels findet sich Thr 3,57; von dorther ist als gattungstypische Einleitung die Wendung „Fürchte dich nicht" anzusehen. Dtjes hat diese Gattung als Nachahmung für seine Botschaft übernommen, was ihm durch die Einführung Israels als einer Einzelperson ermöglicht wurde. Inhaltlich finden sich zahlreiche Entsprechungen zwischen der Sprache der Klagepsalmen und der der Heilsorakel bei Dtjes. 1938 hat Begrich zu den sieben ursprünglich als Heilsorakel bestimmten Texten noch weitere hinzugenommen, insgesamt jetzt 24. Diese Ausweitung geschieht um den Preis der Aufgabe genauer Gattungsmerkmale; jetzt genügt es, daß in den Texten Jahwe in 1. Person redet, der Hilfesuchende in 2. Person angeredet wird und der Aufbau „deutlich die Herkunft aus der ursprünglichen Situation des Heilsorakels" verrät und diese Texte „in den stofflichen Einzelheiten mannigfach mit den zugehörigen Gattungen er Klagelieder des einzelnen und des Volkes verbunden" sind (TB 20,15). - Von Waldow meinte, „ein Gerippe . . ., das in sich zwar leicht verschiebbar, aber in seinem Grundzug doch stets vorhanden ist" (25), nachweisen zu können: Nach einer Einführung (Einleitungsformel, Fürchte dich nicht, Anrede) folgen drei Glieder: Eingreifen Jahwes, Folge des Eingreifens, Zweck des Eingreifens. Diese „Regelmäßigkeit" soll nach von Waldow auf Ursprünglichkeit und einen tatsächlichen Sitz im Leben hinweisen. Die Heilsorakel seien also nicht mit Begrich als schriftliche Imitationen, sondern als wirkliche Heilsorakel zu verstehen, die als prophetische Kultorakel durch Dtjes auf exilischen Klagefeiern gesprochen worden seien, wobei Dtjes als Kultprophet fungiert habe. - Westermann nennt die Begrichschen Heils- und Erhörungsorakel zusammenfassend neutraler „Heilsworte" und differenziert: als „Heilszusage" ( = Heilsorakel) sind nur diejenigen Texte anzusehen, bei denen sich die Struktur 1. Anrede (mit appositioneilen Erweiterungen), 2. Heilszuspruch (Fürchte dich nicht = keine Mahnung zur Furchtlosigkeit, sondern Beseitigung der Furcht), 3. Begründung (zweiteilig: a) Eingreifen Gottes in perfektischen Verbformen, b) Folge des Eingreifens in imperfektischen Verbformen) findet ( 4 1 , 8 - 1 3 ; 41,14-16; 43,1-4; 43,5-7; 44,1-5; 54,4-6). Neben dieser Heilszusage bildet nach Westermann die Heilsankündigung eine eigene Gattung; typisches Indiz ist, daß „Fürchte dich nicht" fehlt. Im Hauptteil geht es zwar wie bei der Heilszusage um Gottes Eingreifen, aber dieses wird nicht zugesagt, sondern für die Zukunft angekündigt. Reine Heilsankündigungen sind 4 1 , 1 7 - 2 0 ; 4 2 , 1 4 - 1 7 ; 4 3 , 1 6 - 2 1 ; 4 5 , 1 4 - 1 7 ; 4 9 , 7 - 1 2 (?); darüber hinaus begegnet die Struktur der Heilsankündigung auch noch in anderen Redeformen. Die Verschiedenheit der beiden Redeformen ist nach Westermann so zu erklären, daß die Heilszusage „eigentlich die Antwort auf die Klage des Einzelnen" ist, die Heilsankündigung dagegen „durchweg auf die Klage des Volkes bezogen" ist. „Jener entspricht eine priesterliche, dieser eine prophetische Vermittlung" (TB 24,123). Schoors und Melugin folgen Westermann in der Differenzierung; in der Tat dürfte Westermann hier nicht Zusammengehöriges getrennt haben. Nach Schoors erklärt sich aus der Vorgeschichte der Gattungen, daß sich die Heilsorakel mit ihrer Zusage gegenwärtigen Heils an Jakob/Israel und die Ankündigungen des künftigen Heils an Zion/Jerusalem richten. - Melugin betont auch hier wieder, daß Dtjes nicht einfach eine vorhandene Gattung nachgeahmt oder aktualisiert hat; jedenfalls die Appositionen, in denen Jahwe als Schöpfer bezeichnet wird, seien schwerlich Bestandteil der ursprünglichen Heilsorakel (vgl. BZAW 141,22). Eine grundsätzliche Kritik der „Gattung Heilsankündigung" findet sich bei Schüpphaus (s.u. Abschn. 3.2). 2.6. Eschatologische Loblieder. In 4 0 , 9 - 1 1 ; 4 2 , 1 0 - 1 3 ; 44,23; 45,8; 4 8 , 2 0 - 2 1 ; 49,13; 51,3; 52,9—10; 54,1 - 2 findet Westermann die Gattung „eschatologisches Loblied", die durch einen imperativischen Lobruf und eine Ankündigung zukünftiger Ereignisse charakterisiert sei. In diesen Texten sieht Westermann Neubildungen Deuterojesajas, in denen die erst zukünftige Gottestat im Reden bzw.

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Singen des Glaubens als Gegenwart angenommen und bejaht werde ( T B 2 4 , 1 6 0 ) . Sie haben die F o r m eines Responsoriums und folgen der Verkündigung ( 1 6 0 ) . „An drei Stellen also ( 4 4 , 2 3 ; 4 8 , 2 1 f.; 5 2 , 9 ) ist die abschließende Funktion des Lobliedes eindeutig zu e r k e n n e n " (162).

3. Hauptformen

und -inhalte der

Verkündigung

3.1. Polemische Texte. Durch das —>Exil wurde der heilsgeschichtlich orientierte Gottesglaube Israels in eine tiefe Krise gestürzt. Denn mit dem —>Land, mit dem —»Tempel, mit dem —»Königtum waren für die Exilierten Größen verlorengegangen, in denen man die heilvolle Zuwendung Jahwes gesehen hatte. Die Verluste mußten für viele das Ende der Heilsgeschichte markieren. Die nächstliegenden Erklärungen waren für viele: Entweder will Jahwe seinem Volk nicht mehr helfen — oder er kann ihm nicht mehr helfen, weil Marduk, der Gott der Babylonier, stärker ist. Diese Ansichten klingen deutlich in 50,1 an. In dieser bisher noch nicht dagewesenen Situation redet Dtjes in einer der Lage entsprechenden, d.h. noch nicht dagewesenen Weise: in neuen Redeformen werden neue Antworten auf die Herausforderung des Glaubens gegeben. Dtjes nimmt dabei herkömmliche Redeformen und Motive aus nichtprophetischen Bereichen auf und prägt daraus für seine besondere Situation neue Formen mit neuen Inhalten (mit Melugin, gegen Greßmann). In 4 2 , 1 8 - 2 5 ; 4 3 , 2 2 - 2 8 ; 5 0 , 1 - 3 (von Westermann ,Gerichtsreden Jahwe-Israel' genannt) greift er auf Redeformen des Rechtslebens zurück (Boecker), um Jahwe gegen den Vorwurf, er wolle oder könne nicht helfen, zu verteidigen. Gerade an diesen Texten wird der Imitationscharakter besonders deutlich: Richter ist hier letzten Endes die Einsicht der Angeredeten, deren „Anklagen" zitiert werden. Dtjes redet hier wie auch anderswo so sehr argumentativ, daß man mit Recht gefragt hat, ob man ihn „noch" einen Propheten nennen soll und von Dtjes als einem „theologischen Denker" gesprochen hat (Steck). In diesen fiktiven Verteidigungsreden hält Dtjes der verzweifelnden Skepsis seiner Hörer (oder Leser?) entgegen: die Katastrophe hat ihren Grund weder im fehlenden Wollen noch im fehlenden Können Jahwes, sondern allein im Versagen Israels (50,1), „Jahwe hat es gefallen um seiner Gerechtigkeit willen, daß er die Thora groß und herrlich mache" (42,21); nicht ein anderer Gott hat die Katastrophe herbeigeführt, sondern „Jahwe, gegen den wir gesündigt haben und auf dessen Wegen sie nicht gehen wollten und auf dessen Thora sie nicht hörten" (42,24); die Verfehlungen reichen so weit zurück, daß man sagen kann „Dein erster Vater bereits verfehlte sich und deine Wortführer empörten sich gegen mich" (43,27). Wenn in diesem Zusammenhang Jahwes Fähigkeit zum Handeln betont wird, wird bezeichnenderweise auf die Schöpfungstradition zurückgegriffen (vgl. 50,2; vgl. dazu Abschn. 4.1). Die Behauptung, nicht Marduk, sondern Jahwe selber habe das Unheil des Exils als Strafe über sein Volk gebracht, mußte angesichts des den Angeredeten sicherlich in den Ohren klingenden Anspruchs der Babylonier auf Urheberschaft ihres Gottes mit innerer Notwendigkeit dazu führen, Jahwe als den allein in der Geschichte Wirkenden herauszustellen und die Wirksamkeit und damit Göttlichkeit aller anderen Götter zu bestreiten. Diese Bestreitung wird in Texten durchgeführt, die ebenfalls ihrer Form nach aus dem Rechtsleben stammen und „Gerichtsreden" nachahmen ( 4 1 , 1 - 5 ; 4 1 , 2 1 - 2 9 ; 4 3 , 8 - 1 3 ; 4 4 , 4 - 6 ; 4 5 , 1 8 - 2 5 ? (Westermann: „Gerichtsreden Jahwe - die Völker'). In 43,8—13 geht es in einer Gerichtsversammlung um ein Feststellungsverfahren, in dem die Berechtigung eines Anspruchs geprüft werden soll (Westermann; Elliger). Bei genauem Zusehen aber zeigt sich schnell, wie frei Dtjes für seine Zwecke mit der überlieferten Form umgeht: Eigentlich müßten sich ja Jahwe und die Götter der Völker oder die Völker mit ihren Göttern und Israel mit Jahwe gegenüberstehen. Hier aber stehen sich die Völker, die Zeugen zu stellen aufgefordert werden, und Jahwe gegenüber, der Israel an seine —»Erwählung erinnert. Dieser von Elliger gesehene Stilbruch zeigt ganz deutlich die kerygmatische Umbiegung der übernommenen Form: die angeredeten Exulanten, die an Jahwes Geschichtswirksamkeit zweifeln, werden zu Zeugen für eben diese Geschichtswirksamkeit aufgerufen. Argument ist dabei, daß die Göttlichkeit eines Gottes sich darin zeigt, daß er vor dem Eintreffen von Geschehnissen diese ankündigt — und eben das hat Jahwe getan; gemeint ist hier wohl die Unheilsverkündigung der vorexili-

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sehen Propheten. Es wird nicht expressis verbis ausgesprochen, ist aber offenbar die Meinung: Im Nachhinein kann jeder leicht Ereignisse auf die Wirksamkeit seines Gottes zurückführen; aber erst das Zusammentreffen von ankündigendem Wort und Ereignis ist Kriterium für die Göttlichkeit. In entsprechender Weise wird die alleinige Göttlichkeit Jahwes in 4 1 , 2 1 - 2 9 behauptet; dort wird noch schärfer festgestellt, daß die Götter der Völker nicht fähig sind, irgendetwas anzukündigen und deshalb „nichts" sind. Duhm (307) meint, jeder beliebige Andersgläubige würde diesen Anspruch widerlegt, wenn nicht gar verspottet haben. Demgegenüber aber dürfte Dtjes doch besser erkannt haben, daß die differentia specifica des Wirkens Jahwes in einer Vorstellung vom Geschichtshandeln Jahwes lag, die sich von den Vorstellungen der Umwelt grundlegend unterschied (vgl. u. Abschn. 4.2). Hier nun verbindet Dtjes in 4 1 , 2 5 - 2 9 die These von der alleinigen Geschichtswirksamkeit Jahwes mit Kyros: Auch er ist von Jahwe erweckt, ist ein Werkzeug Jahwes. — Derselbe Zusammenhang von Ankündigen und Handeln als Beweis für die Göttlichkeit Jahwes findet sich 4 4 , 6 - 8 und 45,21. In 4 1 , 1 - 5 wird dieser Anspruch wie in 41,25 ff mit Kyros verbunden. Ebenfalls argumentierend finden wir Dtjes in den sog. Diskussionsworten (40,12—31; 4 5 , 9 - 1 3 ; 4 4 , 2 4 - 2 8 ; 4 6 , 5 - 1 1 ; 4 8 , 1 - 1 1 ; 4 8 , 1 2 - 1 5 ) , die man mit Westermann vielleicht besser „Bestreitungen" nennen sollte und die nach Hermisson jedenfalls keine echten Diskussionsworte sind, sondern eigene kerygmatische Bildungen Deuterojesajas, bei denen er seine Hörer auf einen Denkweg mitnehmen will, auf dem von Anfang an schon Entscheidungen fallen. In 40,12—17 (wohl mit Elliger als selbständiges Diskussionswort zu verstehen; gegen Westermann; Albertz u. a.) begegnet Dtjes anscheinend der Skepsis, auf die seine Heilsankündigung gestoßen ist: Wie kein Mensch die Schöpfung ausloten kann (in V. 12 rhetorische Fragen!), so kennt auch niemand den Sinn der Geschichte — er ist Sache Jahwes. Er (und nicht die Großmächte Babylon oder auch Persien) macht Geschichte. Nach Elligers ansprechender Vermutung findet sich hier im Bereich des Hebräischen mit den Ausdrücken „Pfad des Rechtsentscheids" und „Weg der Einsicht" ein Versuch, das, was wir —»Geschichte nennen, terminologisch zu erfassen: Jahwe setzt seinen Rechtsentscheid nach seiner Einsicht durch. Dies würde gut zu der Bedeutung passen, die „Geschichte" bei Dtjes hat. In 4 0 , 1 8 - 2 6 wird die Unvergleichbarkeit Jahwes durch die Schöpfungstradition begründet - ein eher schwaches Argument, da sich Vergleichbares hierzu jedenfalls auch in der Umwelt fand. Aber angeredet sind hier ausschließlich Israeliten, und für sie ist die Betonung von Weltenlenker und Schöpfer ganz entscheidend (s.u. Abschn. 4 . 1 ) . - In 4 0 , 2 7 - 3 1 geht der T e x t mit einem Zitat konkret auf die Nöte der Angeredeten ein, von daher ist Westermanns Meinung verständlich, die gesamte Komposition 4 0 , 1 2 ff ziele auf diesen Abschnitt. Doch ist mit Hermisson das Zitat als fingiert anzusehen. Typisch ist wieder der Rückgriff auf die Schöpfungstradition. In 4 5 , 9 - 1 3 , wo Dtjes eine bekannte Diskussionsfigur durch Einfügung von Botenformel und Selbstpreis der Gottheit zu einer „Neuschöpfung" gestaltet (Melugin, B Z A W 1 4 1 , 3 6 ff), wird aus der Überlegenheit Jahwes als des Schöpfers gefolgert, daß er auch mit derselben Überlegenheit in der Geschichte handelt und Kyros von ihm erweckt und auf den Weg geschickt wird zum Heile Israels. Ganz bezeichnend ist hier der Argumentationsweg von dem Schöpfergott zu dem Geschichtsgott. - 4 4 , 2 4 - 2 8 wird von Westermann als Einleitung zu dem größeren Abschnitt 4 4 , 2 4 - 4 5 , 7 angesehen (ebenso Duhm; Volz; Preuß), ist aber doch wohl (mit z.B. Begrich; von W a l d o w ; Fohrer; North; Eiliger; Melugin; Schoors) als selbständige Einheit anzusehen. Diese Abtrennung wird noch einleuchtender, wenn man 'anoki Jhwh in 4 4 , 2 4 mit „nur ich bin J a h w e " übersetzen und dabei —> Jahwe als sinngefüllten Namen ansehen muß (Begründung bei Michel, N u r ich). Eine weitere wichtige Beobachtung bei Melugin ( B Z A W 1 4 1 , 3 8 f): In V. 2 4 - 2 6 a stehen die hymnischen Partizipien ohne Artikel, in 2 6 b—28 mit Artikel. Diesem stilistischen Unterschied entspricht ein inhaltlicher: in 2 4 - 2 6 a werden traditionelle Aussagen über Jahwes Wirken angeführt, die beim Schöpfungshandeln ansetzen und zeitlose Tatbestände anführen, in 2 6 b ff wendet sich Jahwe zu Ereignissen, die nahe bevorstehen und noch unerfüllt sind. Aus der in 2 4 - 2 6 a festgestellten Alleinwirksamkeit Jahwes wird wiederum gefolgert, daß auch das mit Kyros beginnende neue Geschehen allein auf Jahwe zurückgeht. Ähnliche Aussagen in 4 6 , 5 - 1 1 (13?) und 4 8 , 1 2 - 1 5 . In 4 8 , 1 - 1 1 ist wahrscheinlich ein Disputationswort mit analoger Tendenz nachträglich erweitert worden (Westermann).

3.2. Tröstende Texte. In den polemischen Texten wurde deutlich, daß eine innere Beziehung zwischen der Herausforderung der Krise und der polemischen Antwort des Glaubens besteht, die letztlich eine theologische Neuinterpretation situationsbezogener Art ist. Derselbe Zusammenhang wird bei den „tröstenden" Texten deutlich (so genannt nach 40,1),

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nur daß hier naturgemäß der Akzent stärker auf der theologischen (seelsorgerlichen) Argumentation liegt und die Situation mehr erschlossen werden muß. Die Gruppe der „Heilsorakel" (mit Westermann; Schoors u.a. auf 4 1 , 8 - 1 3 ; 4 1 , 1 4 - 1 6 ; 4 3 , 1 - 4 ; 4 3 , 5 - 7 ; 4 4 , 1 - 5 zu begrenzen) läßt durch ihre Struktur (1. Anrede, 2. Fürchte dich nicht, 3. Begründung, 4. Folge) noch ihre Herkunft aus dem—»Kult erkennen: So antwortete der Priester (Kultprophet?, vgl. von Waldow) auf die Klage eines einzelnen (Begrich u.a.). Hier begegnet Dtjes nicht dem murrenden und argumentierenden Israel, sondern dem über sein Geschick klagenden. Nun muß ja jede rechte Antwort auf eine Klage auf die Not des Klagenden eingehen; deshalb ist von vornherein zu erwarten, daß Dtjes nicht einfach überlieferte Texte rezitiert, sondern daß er sie in der neuen Situation verändert. Nach allem, was wir sagen können, liegen die Veränderungen weniger im eigentlichen Heilsorakel als vielmehr in der Anrede, die durch Appositionen theologischer Art erweitert wird. So dürften etwa in 41,8—13 die dtjes Neuprägungen in den Versen 8 und 9 stecken: Dem angeredeten Israel wird die fortdauernde und nicht rückgängig gemachte Erwählung zugesprochen, wobei bezeichnenderweise die Erwählung unter Weglassung (Nichterwähnung) der Landnahme und Königstradition an Abraham festgemacht wird. - Land und Königtum eigneten sich in der Situation des Exils nicht als Demonstrationsobjekt für die Erwählung. Dtjes wählt also offenbar bewußt aus seiner Tradition aus. Noch deutlicher wird die bewußt nach theologischen Kriterien verfahrende eklektizistische Arbeit Deuterojesajas an den Appositionen, durch die den Klagenden das Wesen ihres Gottes nahegebracht werden soll, z.B. Schöpfer (43,1), Bildner (43,1), Heiliger Israels (43,3), Retter (43,3), Erlöser (41,14). Wieder fehlt völlig ein Rückgriff auf die alten heilsgeschichtlichen Traditionen von Landnahme und Königtum; stattdessen werden „Schöpfer" und „Retter" neben- und geradezu ineinander verwendet. Der Grund dürfte klar sein: Der Schöpfungsglaube hatte von allen Glaubensinhalten die Krise unbeschadet überstanden. An ihn knüpft Dtjes deshalb an (vgl. u. Abschn. 4.1). Schwieriger sind die Texte zu beurteilen, die Begrich auch noch zu den Heilsorakeln rechnet und Westermann (m.E. mit Recht) ausgegrenzt hat: die von letzterem so genannten Heilsankündigungen ( 4 1 , 1 7 - 2 0 ; 4 2 , 1 4 - 1 7 ; 4 3 , 1 6 - 2 1 ; 4 5 , 1 4 - 1 7 ; 49,7-12?). Daß hier keine Heilsorakel vorliegen, ist überzeugend — ob aber hier eine kultische Gattung als Antwort auf eine Volksklage vorliegt, ist umstritten; Elliger z.B. (Komm. 159) will in Anlehnung an —»Gunkel hier eher die prophetische Gattung der —»Verheißung finden, die aber nicht in direkte, funktionelle Verbindung mit dem Volksklagelied zu bringen sei (159). Ob seine Annahme, hier gebe der Prophet an das Volk weiter, was er in geheimer Erfahrung von Gott gehört habe, des Rätsels Lösung ist, ist zu bezweifeln; es fehlen in diesen Texten jegliche Hinweise auf Auditionen o. ä., wir erfahren hier wie auch sonst nirgends, woher Dtjes seine Aussagen gewonnen hat. Das eigentliche Problem der Texte 4 1 , 1 7 - 2 0 ; 4 2 , 1 4 - 1 7 ; 43,16—21 aber besteht in der Ankündigung einer wunderbaren Wandlung der Natur: Auf Kahlhöhen will Jahwe Ströme quellen lassen, in Tälern Quellen, will Wüste zu Wasserteichen und dürres Land zu Wassersprudeln machen,, und dann in der Wüste allerlei Bäume pflanzen (41,17-20). Eigenartigerweise will Jahwe umgekehrt 4 2 , 1 4 - 1 7 Berge und Hügel ausdorren, ihr Gras verdorren lassen, Ströme zu Land machen und Teiche austrocknen lassen. 43,18—21 ist dabei dieses Motiv der Umwandlung der Natur mit dem Gedanken des Exodus aus Babylon verbunden. Da aber diese Verbindung an den anderen beiden Texten fehlt, darf man wohl nicht, wie häufig geschieht (z.B. Preuß), diese beiden Vorstellungen als organische Einheit ansehen in dem Sinne, daß sich beim neuen Exodus die Natur in wunderbarer Weise wandeln solle und dadurch eine eschatologische Heilszeit anbreche. An diesen beiden Texten jedenfalls erscheint die Möglichkeit (!) Jahwes, die Natur umzuwandeln, in einer Götzenpolemik (42,17; 41,20). — Wesentlich für die Auslegung ist die Frage, ob die Elenden und Armen, die Wasser suchen und deren Zunge vor Durst vertrocknet, in einem übertragenen Sinne zu verstehen sind (vgl. die von Eiliger, Komm. 161 Genannten). Im allgemeinen aber werden die Aussagen wörtlich auf die Wüstenwanderung bezogen (vgl. Duhm 307; Volz 22; Fohrer, Komm. 43). Diese Auslegung, die in der Umwandlung gerne

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ein eschatologisches Handeln findet, scheint mir nicht so sicher zu sein, wie allgemein angenommen wird. W e n n Heßler damit R e c h t hat, d a ß bei D t j e s „ B i l d e r " als theologische M o tivwörter verwendet werden und daß in 4 4 , 3 a und 3 b Bild und Auflösung nebeneinanderstehen, (Wasser = J a h w e s Geist, das Durstige = Israels N a c h k o m m e n etc.), dann ist damit zu rechnen, d a ß ein solcher symbolhafter Bildgebrauch auch sonst bei D t j e s v o r k o m m e n kann; hier fehlen noch eingehende Untersuchungen. Jedenfalls hat die übliche „eschatologis c h e " Auslegung eine Schwierigkeit, die meistens verschwiegen wird: Die Heimkehrenden haben ja erlebt, daß bei ihrem R ü c k m a r s c h die W ü s t e nicht bewässert und in eine Art Paradies umgewandelt worden ist. Die Art des R ü c k m a r s c h e s hätte also ein solches eschatologisches Verständnis geradezu falsifiziert. W e n n die T e x t e trotzdem in dieser F o r m weiterüberliefert worden sind, muß man sie spätestens dann bildlich verstanden h a b e n . M . E. ist ernsthaft mit der Möglichkeit zu rechnen, d a ß sie nicht erst dann, sondern von Anfang an „bildl i c h " verstanden worden sind. Beachtlich ist in diesem Z u s a m m e n h a n g auch Schüpphaus, der hier keine Prophezeiungen oder Ankündigungen finden k a n n und dementsprechend die Gattungsbezeichnung „ H e i l s a n k ü n d i g u n g " als u n s a c h g e m ä ß ablehnt. „ D a b e i geht es inhaltlich um in die Z u k u n f t projizierte bildhafte Verdeutlichungen und k o n k r e t e Veranschaulichungen des Glaubens an die rettende und bewahrende M a c h t J a h w e s , der als der Schöpfer G e w a l t über die N a t u r hat, und der als der Herr der Geschichte seinem erwählten Volk inmitten der Völkerwelt die Treue hält. Die Zusagen wurzeln also in dem Glauben an J a h w e als den Schöpfer und Herrn der N a t u r und Gechichte. Es sind in die Z u k u n f t projizierte Aussagen des gegenwärtigen Glaubens Deuterojesajas" ( 1 8 0 ) . „Zugleich fällt von hieraus klärendes Licht auf die eigenartig schillernde, andeutend schwebende und bildhafte Redeweise Deuterojesajas. Weil keine bestimmten künftigen Ereignisse anvisiert, sondern Glaubensinhalte auf Zukunft hin entfaltet werden, k o m m t es zu Aussagen, die im Blick auf die Z u k u n f t zwar bildhaft konkret sind, die aber nicht die Z u k u n f t geschichtlich-historisch fixieren" ( 1 8 0 f ) .

4. Theologische

Probleme

4.1. Schöpfungstheologie. „Es gibt im ganzen Buch Deutjes. keine Stelle, an der der Schöpfungsglaube selbständig auftritt; nie ist er das Hauptthema eines Spruches, um deswillen der Prophet das Wort ergreift. Er ist da, aber er hat in der Verwendung und Argumentation des Propheten eine dienende Rolle; er unterbaut die Heilsworte in dem Sinn, daß er Glauben für sie wecken soll, er ist die großartige Folie, von der sich die Heilsworte um so mächtiger und vertrauenswürdiger abheben" (v. Rad, 139). Diese grundlegenden Erkenntnisse haben den Anstoß zu mehreren weiterführenden Untersuchungen gegeben. Rendtorff hat gezeigt, daß der Schöpfungsglaube durch Dtjes umgewandelt sei: Schöpfung ist für Dtjes nicht mehr ein Ereignis der Vergangenheit, sondern steht in engem Bezug zum gegenwärtigen Heilshandeln Jahwes, so daß Schöpfung und Erlösung eine Einheit bilden (vgl. weiter Stuhlmueller; Barner). Albertz hat in Weiterführung von Ansätzen Westermanns die Schöpfungsaussagen auch bei Dtjes in zwei Gruppen geteilt: Weltschöpfung und Menschenschöpfung. Die Aussagen über die Weltschöpfung sollen aus dem beschreibenden Lob (Hymnus) stammen, ihre Funktion sei es, die Macht Jahwes zu preisen. Die Menschenschöpfungsaussagen dagegen sollen aus Klagelied und Heilsorakel herkommen und die Gemeinschaft zwischen Schöpfer und Geschöpf betonen. Hier hat Haag differenziert: es finden sich bei Dtjes auch „Mischformen" ( 4 4 , 2 4 - 2 8 ; 4 5 , 9 - 1 3 ; 5 1 , 1 2 - 1 6 ) , in denen beide Vorstellungen nebeneinander vorkommen. Bei Dtjes haben die Schöpfungstraditionen keine selbständige Bedeutung, daher darf man sie nicht (wie Albertz) ausschließlich von ihrer formgeschichtlichen Herkunft zu erklären versuchen; nicht der ursprüngliche Sitz im Leben ist für den Sinn der Aussagen bei Dtjes wichtig, sondern die „Aussagekraft im Rahmen einer für seine (sc. Dtjes) Verkündigung speziellen Thematik" (205). Nach ihr ist also zu fragen. Im Blick auf die Funktion des Schöpfungsglaubens bei D t j e s genügt es w o h l nicht, mit v. R a d auf die Auseinandersetzung mit den Babyloniern zu verweisen (Theol. II, 2 5 1 ) . Diese Erklärung kann deshalb nicht ausreichen, weil die Schöpfungsaussagen vor allem in T e x t e n auftreten, in denen D t j e s sich an seine Landsleute und nicht an die B a b y l o n i e r wendet (Diskussionsworte, Heilsorakel). D a n n aber bleibt eigentlich nur ein Schluß: D t j e s verwendet den Schöpfungsglauben in diesen T e x t e n unter b e w u ß t e m Verzicht auf die üblichen heilsge-

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schichtlichen Traditionen, weil diese in seiner Situation fragwürdig geworden waren: Er erwähnt die Landnahme gar nicht (das Land war ja verlorengegangen!), er deutet die —»Erwählung —»Davids um (die „Gnadengaben Davids" gelten jetzt dem ganzen Volk, vgl. 55,3—5!), die Erwählung wird zurückverlegt in —»Abraham (44,8—9) und hat nichts mit dem Sinaigeschehen zu tun (vgl. Steck 289). Die Schöpfungstradition wird dabei aber nicht einfach zitiert, sondern jetzt in die dtjes Konzeption von Jahwes Geschichtshandeln so eingebaut, daß Schöpfungshandeln und Geschichtshandeln zusammenfallen. In den Vorstellungen vom Geschichtshandeln Jahwes unter Einschluß des Schöpfungshandelns liegt zweifellos das Charakteristische der Theologie Deuterojesajas. 4.2. Die Deutung der Geschichte bei Deuterojesaja: Monotheismus, Neues, Eschatologie.

Kyros, Altes und

Elliger hat gezeigt, daß Dtjes in 40,14 versucht, sein Geschichtsverständnis terminologisch auszudrücken: —»Geschichte verläuft als 'orah mispat und däräk tebunot, als ein Geschehen, in dem Jahwe seinen Willensentscheid (oder vielleicht sogar: seine Ordnung) nach seiner Einsicht durchsetzt. Dieser im Alten Testament einmalige Versuch einer terminologischen Erfassung zeigt schon die überragende Bedeutung, die die Vorstellung von Jahwes Handeln in der Geschichte für Dtjes hat. In der Tat wird durch die These, daß Jahwe der einzige ist, der in der Geschichte zugleich ankündigend und erfüllend gehandelt hat, der Anspruch begründet, daß nur Jahwe allein wirklich Gott ist. Nun kannten, wie z. B. Albrektson dargelegt hat, die Babylonier durchaus auch die Vorstellung, daß ihre Gottheiten Geschichtstaten wirken. Wenn Dtjes das alleinige Gottsein Jahwes durch sein Geschichtshandeln begründet, muß er also mehr und anderes meinen als die einfache Zurückführung von Geschichtsereignissen auf das Bewirken durch eine Gottheit — nur unter dieser Voraussetzung kann seine Argumentation unter den Exilierten das geleistet haben, was er beabsichtigte. In diesem Zusammenhang ist nun das gerade im Kontext der Behauptung des Ausschließlichkeitsanspruchs mehrfach auftauchende Begriffspaar „Früheres, Altes" - „Neues, Kommendes, Künftiges" aufschlußreich. Herrmann (Heilserwartungen 298 ff) dürfte darin Recht haben, daß Dtjes mit diesem Begriffspaar „die Überwindung des Zyklisch-Naturhaften zum Linear-Einmaligen" (303) betreibt und damit die Besonderheit der israelitischen Geschichtsvorstellung gegenüber der der Umwelt unter der Herausforderung des Exils.het ausstellt. Die inhaltliche Frage, was in Einzelfällen mit den früheren Ereignissen gemeint sei, ist mit Herrmann als weniger wichtig anzusehen (300). Dabei mögen mit den früheren Dingen sicherlich auch die Unheilsankündigungen der vorexilischen Propheten gemeint sein. Nur eben: wenn die früheren Dinge eingetroffen sind, haben sie damit ihre (Heils)bedeutung verloren, weil Dtjes Geschichte nicht zyklisch, sondern fortschreitend und damit letztlich einmalig versteht. Nur das kann der Sinn von 4 3 , 1 8 - 1 9 sein, wo mit den Worten „Gedenket nicht des Früheren und achtet nicht auf das Vergangene! Seht, ich schaffe jetzt Neues" die Ausrichtung an der früheren Heilsgeschichte verboten wird (so z.B. Bentzen: StTh 1948, 185; Rohland 99 f; v. Rad, Theol. II, 257 f). Jahwes Handeln besteht also nicht wie das der Götter der Umwelt in einer ständigen Neuaktualisierung und Wiederholung der alten Heilshandlungen. Jahwe tut wirklich Neues, das noch nicht dagewesen ist, und kündigt es vorher an. Ein gutes Beispiel dafür ist Deuterojesajas Deutung der Rolle des Kyros, den er sogar mit dem (durch die Eliminierung des Königtums verwaisten) Titel „Messias" belegen kann (45,1). Dabei ist Kyros „der Kronzeuge für die geschichtslenkende Göttlichkeit Jahwes; aber er ist nicht in erster Linie als der Befreier aus dem Exil angekündigt, als der Heilsbringer, der die endzeitliche Umwälzung bringen soll" (Jenni 252). Bei den Hinweisen, daß Kyros die Exilierten befreien und Jerusalem mitsamt dem Tempel wieder erbauen soll, „hat man den Eindruck, das sei mehr Konsequenz, nicht so sehr Grundlage der Heilsbotschaft Deuterojesajas" (ebd.). Anders als der sich in manchen Wendungen mit 45,1—7 berührende Kyroszylinder (vgl. Galling, Textbuch 70 ff) dürfte der dtjes Text aus der Zeit vor der Einnahme Babylons stammen (so z.B. Elliger, Komm. 495). Obwohl der Text sich formal an

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Kyros wendet, dürfte er doch „sachlich . . . mindestens ebenso sehr an die israelitischen Hörer gerichtet" (ebd. 496) sein; die Annahme, D t j e s habe in der Umgebung des Kyros gelebt (Haller), ist jedenfalls daraus nicht abzuleiten. Ganz deutlich wird Deuterojesajas Verständnis von Geschichte bei der Vorstellung vom „neuen -^Exodus". Die Exodustradition ist neben der Schöpfungstradition diejenige, an die Dtjes anknüpfen konnte, weil sie durch die Katastrophe von 587 nicht zweifelhaft geworden war. Ganz sicher hat die Parallelität „Gefangenschaft in Ägypten" - „Gefangenschaft in Babylon" bei der Betonung dieser Tradition mitgewirkt. Aber es ist für D t j e s entscheidend wichtig, daß der neue Exodus keine Wiederholung des alten ist; das verbindende Element liegt in der Zuwendung Jahwes, der in veränderter, aber analoger Situation seinem Volk analog helfen kann und will. Aber eben nur analog: das Neue wird aufgrund der überlegenen Schöpfermacht Jahwes unter ganz neuen Begleiterscheinungen geschehen (vgl. Anderson 191 f). Damit kommen wir zu der leidigen Frage der Eschatologie, leidig nicht zuletzt deshalb, weil in der Forschung kein einheitlich verwendeter Begriff von —»Eschatologie besteht. Wenn Dtjes, wie ich annehme, wirklich im Rahmen seiner Geschichtsdeutung meinen sollte, daß Jahwes Handeln grundsätzlich im Heraufführen von Neuem besteht, dann kann für ihn auch in einem neuen Exodus kein solcher Einschnitt liegen, wie oft angenommen wird (vgl. z.B. Preuß Dtjes 44). Die nachexilischen Redaktoren (vgl. o. Abschn. 1.4) haben ihn jedenfalls aus ihrem besseren Wissen heraus so nicht verstanden und im Rahmen des jetzigen Textes auch nicht verstanden wissen wollen; o b er ursprünglich so gemeint war, ist nach den Darlegungen von Schüpphaus (180f; s.o. Abschn. 3.2) mindestens zweifelhaft. Die „wunderbaren Umwandlungen der N a t u r " beim neuen Exodus (z.B. 43,19—20) sind dann eher Ausdruck der absoluten Gcschichtsmächtigkeit Gottes als konkrete Verheißung. Z u r Frage der Eschatologie bei Dtjes sollte man die besonnenen Ausführungen Herrmanns bedenken: „Dabei sollte man freilich das Erfassen dieser geistigen Strukturen sich allmählich vollziehend, oft zögernd und vielfach unbewußt geschehen denken. Denn die Schärfe der eigenen Begriffe steht immer in der Gefahr, keimhaft Werdendes und allmählich Gewordenes zu schnell zur vollendeten Tatsache zu erheben. Unter diesen Voraussetzungen empfiehlt sich auch für Deuterojesaja der Eschatologie-Begriff nicht. Seine Zukunftserwartung unterscheidet sich noch zu deutlich von den Vorstellungen der Endvollendung Israels, wie sie erst die —»Apokalyptik eindeutig erkennen läßt. Es ist freilich zuzugeben, daß die Abstraktionen des Früheren und Kommenden, die in ihrem Kontext die Gewißheit göttlicher Heilszusagen in umfassender Weise darstellen und bekräftigen sollen, auch eine neue Weltordnung einschließen. Sie wollen sagen, daß das Frühere, Gottes O r d n u n g von Anbeginn der Welt, sich im Kommenden in einer neuen Völkerordnung festsetzen soll, die allein Jahwe heraufführen kann und wird. Die Universalität des Gottes Israels wird triumphieren, alle bisherigen Grenzen des Raumes und der Zeit sprengend und die fremden Götter entmachtend. So sind die Sprüche vom Früheren und Kommenden herausgewachsen aus der ins Universale erweiterten Gottesidee" (Herrmann, Heilserwartungen 303). In analoger Weise lassen sich m.E. auch mit Schüpphaus die Aussagen über die Umwandlung der Natur verstehen als „in die Z u k u n f t projizierte Aussagen des gegenwärtigen Glaubens Deuterojesajas". (Zur Ablehnung einer eschatologischen Deutung deuterojesajanischer Texte vgl. weiter Schoors, L'eschatologie und VT.S 24, 304 f.) 4.3. Das „Rätsel Deuterojesaja". Ganz auffällig und in der Forschung m. E. immer überspielt ist die Tatsache, daß wir über die Person „Deuterojesaja" nichts wissen; wir kennen noch nicht einmal seinen N a m e n und müssen uns mit dem Kunstprodukt „Deuterojesaja" behelfen. Man hat das gelegentlich so erklären wollen, daß Dtjes unter der babylonischen Herrschaft anonym schreiben mußte, um sich nicht zu gefährden, ja man hat in ihm sogar das Haupt einer antibabylonischen Widerstandsbewegung sehen wollen (Smith). Überzeugend ist das nicht. Denn erstens hätte man nach dem Sieg des Kyros doch mindestens in der Uberschrift seinen Namen nennen können — oder soll manini Ernst annehmen, er sei vergessen worden? Hier gilt mutatis mutandis, was Wellhausen über

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den Ebed gesagt hat: „Die Annahme ist abenteuerlich, daß im Exil ein unvergleichlicher Prophet, womöglich von seinen eigenen Landsleuten, zum Märtyrer gemacht, dann aber verschollen wäre" (Israelit, u. jüd. Gesch., " 1 9 0 1 , 1 5 9 Anm. 1). Vor allem aber: dasselbe Phänomen findet sich ab Jes 5 6 , und wenn die übliche Annahme, daß diese Texte aus nachexilischer Zeit stammen, Recht hat, dann ist kein Grund ersichtlich, weshalb hier der Name des oder der Propheten nicht mitgeteilt wird. Die (trotz Eiliger) sich immer mehr durchsetzende Meinung ist hier, daß die „Tritojesaja" zugeschriebenen Texte nicht von einem Propheten, sondern von einer Mehrzahl stammen und daß die Zusammenstellung redaktionell ist, wobei das Verbindende zwischen Tritojesaja und Dt Jes nicht zuletzt darin liegt, daß in Tritojes Texte aus Dt Jes aufgenommen und „ausgelegt" werden (Zimmerli, Sprache; Michel, Rätsel). Dann aber muß die Frage ernsthaft geprüft werden, ob nicht im Verhältnis von Dtjes zu Protojesaja (Jes 1 - 3 9 ) ein analoges Phänomen vorliegt. 1934 schon hatte Caspari die Versuche, ein Bild der „Person" Deuterojesaja aus seiner Botschaft zu gewinnen, skeptisch beurteilt: „Keinem Porträtisten Dtjes's fehlen Pinsel, Palette, Farbe, Divination, nur - der Nagel zum Aufhängen des Gemäldes" (228). Sein eigener Lösungsversuch, in den Texten von 40—55 „Lieder und Gottessprüche der Rückwanderer" (so der Untertitel seines Buches) zu sehen, hat mit Recht keine Anerkennung gefunden und damit auch seine (m. E. berechtigte) Kritik an den Versuchen, die Person Deuterojesaja zu rekonstruieren, diskreditiert. Ähnliches gilt wohl auch von Vincent, der ebenfalls in der Kritik beachtlicher ist als in seinem Versuch, Jes 4 0 - 5 5 aus der Jerusalemer Kultprophetie herzuleiten (zu Becker s.u.). W e n n wir einmal zusammenstellen, w a s wir mit hinreichender Sicherheit von Dtjes wissen, so ist das sehr wenig: 1. Die a b Jes 4 0 sich findende Verkündigung unterscheidet sich so sehr von der Protojesajas, daß sie nicht von ihm s t a m m e n k a n n : Sie geht auf die Probleme der E x u l a n t e n ein und konzipiert als A n t w o r t auf die Krise des E x x i l s eine „ n e u e " Theologie, die als Zentralpunkt die Entfaltung des in J a h w e s Geschichtshandeln begründeten M o n o t h e i s m u s hat. Angekündigt wird ein neues Heilshandeln J a h w e s und damit das Ende des Gerichts. 2 . Als O r t der Abfassung ist wahrscheinlich B a b y l o n anzunehmen, wenn es auch immer abweichende Meinungen gegeben h a t ( z . B . D u h m : L i b a n o n ; M a r t i : Ägyypten; Kapelrud: Juda). 3. Einen Hinweis auf die Person Deuterojesaja k a n n man (und tut es sehr oft) in 4 0 , 1 — 8 finden, wenn dieser T e x t einen Berufungsbericht spiegeln sollte (mit der Konjektur n a c h l Q J e s a und L X X statt

wä'ömar

we'ämar).

Freilich bleiben bei dieser Deutung Schwierigkeiten: die pluralischen Imperative in 4 0 , 1 - 2 („tröstet . . . r e d e t . . .") wenden sich dann gerade nicht an den zu berufenden Propheten, sondern an eine himmlische Ratsversammlung (so z.B. Cross; Elliger; Melugin), die nicht genannt wird und auch im folgenden keine Rolle mehr spielt. Soll man wirklich annehmen, an so betonter Stelle am Eingang des Buches werde ein Auftrag an eine himmlische Ratsversammlung erteilt, die dann aber nie mehr auftaucht, während andererseits „Deuterojesaja" den Auftrag dieser in der Versenkung verschwundenen Ratsversammlung ausführt? Und weiter: Wieso soll sich „Deuterojesaja" in 4 0 , 6 angeredet fühlen, wenn 4 0 , 1 - 2 der Auftrag zum Trösten an himmlische Wesen ergeht? Jes 6 bietet gerade in diesem Punkt keine Parallele, weil dort die Glieder der Ratsversammlung keinen Auftrag bekommen, sondern nur mitberaten sollen, wen (von den Menschen!) Jahwe senden soll. 4. Als A r g u m e n t für die Person eines Propheten (oder Verfassers) Deuterojesaja kann m a n die gedankliche Geschlossenheit v o n Jes 4 0 - 5 5

anführen.

Nun ist diese aber keineswegs so stark, daß sie allen Exegeten eingeleuchtet hätte. Uber die kompositorischen Probleme wurde bereits berichtet (s. o. Abschn. 1.4). Außerdem wäre noch zu fragen, ob die zweifellos auch vorhandene Gemeinsamkeit von 4 0 - 5 5 , die ja schließlich die meisten Exegeten zur Annahme eines Deuterojesaja geführt hat, unbedingt in der Einheit einer Verfasserpersönlichkeit ihren Grund haben muß oder nicht darin liegen kann, daß in diesen Kapiteln auf die Herausforderung des Exils aus einer einheitlichen theologischen Konzeption heraus eine Antwort gegeben wird. Eine solche Einheit in der Sache könnte durchaus auch bei einer Prophetenschule vorliegen. Es ist also zu fragen, ob bei der Postulierung eines Propheten Deuterojesaja nicht die Ansicht Pate gestanden hat, eine so überzeugende theologische Leistung könne nur von einem großen Individuum stammen. „Die verbreitete Vorstellung von einer kurz vor 5 3 9 wirkenden - aus Verlegenheit ,Deuterojesajas' genannten - Prophetengestalt entspringt unbewußt dem Bestreben, einen angesehenen und bedeutsamen Text wie 4 0 - 5 5 vor dem Schicksal der redaktionellen Anonymität, die ihn exegetisch zur Bedeutungslosigkeit verurteilt hätte, zu bewahren. . . . Gerade die Tatsache, daß wir den Verfasser nicht mit Namen kennen, spricht dafür, daß ein Bearbeiter oder Redaktor am Werk ist. Wirkliche Propheten-

Deuterojesaja

521

gestalten sind nicht anonym geblieben, wohl hingegen die großen Bearbeiter der biblischen B ü c h e r " (Becker 3 8 ) .

M. E. hat Becker im wesentlichen Recht mit seiner Skepsis hinsichtlich einer Prophetengestalt „Deuterojesaja". Ob allerdings seine Vorstellung von Bearbeitern oder Redaktoren sich bewähren wird, bleibt abzuwarten. Mir erscheint es einleuchtender, in „Deuterojesaja" eine Prophetenschule zu sehen; wenn man sie gar mit Eaton als jesajanische Schule verstehen darf, hat man eine ebenso einleuchtende wie einfache Erklärung sowohl für die Anfügung von Jes 40ff an 1 - 3 9 als auch für die zahlreichen Erweiterung in 1—39. Diese Prophetenschule wäre dann die in 4 0 , 1 - 2 angeredete Mehrzahl, die den empfangenen Auftrag dann auch tatsächlich ausgeführt hat. Und in 4 0 , 6 - 8 läge dann eine Instruktion über den Predigtinhalt für die Angehörigen dieser Gruppe vor; we'ämar im Masoretischen Text muß dann beibehalten werden („Eine Stimme ergeht dauernd: predige! Und wenn man/jemand sagt: was soll ich predigen . . . " ) . Und die „Knecht" titulierten „Zeugen" von 4 3 , 1 0 wären dann nicht das blinde Volk von 43,8, sondern eine Gruppe, die diesem Volk wirklich etwas zu bezeugen hat. Und damit kommen wir zu dem letzten und m. E. stärksten Argument für eine Prophetenschule „Deuterojesaja": mit dieser Annahme lassen sich die Ebedlieder einschließlich des 4. Liedes „autobiographisch" deuten, sie handeln von Auftrag, Scheitern, Leiden und schließlicher Rechtfertigung (=Auferstehung) dieser Prophetengruppe.

5. Die

Ebed-Lieder

Obwohl es schon immer Theorien über die Identität des Knechtes in Jes 53 gegeben hat, ist dieses Problem in seiner ganzen Komplexität erst deutlich geworden, seit B. —>Duhm 4 2 , 1 - 4 ; 4 9 , 1 - 6 ; 5 0 , 4 - 9 (10.11); 5 2 , 1 3 - 5 3 , 1 2 als eigene Textgruppe zu verstehen unternahm: Diese Dichtungen „fallen zunächst durch ihren Stil auf, durch die ruhige Sprache, durch das Ebenm a ß der Stichen und Strophen. Sie berühren sich in W o r t und G e d a n k e n sehr nahe mit Deuterojesajas Schrift, haben aber nur zum Theil einige Beziehung zu ihrer Umgebung und würden durch ihre Entfernung keine Lücke hinterlassen, was freilich auch von manchen anderen Stücken gesagt werden könnte. Ihr Hauptgedanke, die Idee des Gottesknechtes, ist auch dem Dtjes. nicht fremd, wird aber von ihm ganz anders behandelt. Bei ihm ist Israel, so wie es ist, der Knecht Jahves, von Jahve erwählt, geschützt und für eine herrliche Zukunft bestimmt, aber gegenwärtig blind und taub, gefangen und geplündert, ein W u r m , verachtet von den Heiden, voller Sünden. Dagegen ist der Held dieser Dichtungen dem V o l k gegenübergestellt, unschuldig, Jahves Jünger und von ihm täglich erleuchtet, berufen zur Mission a m V o l k und an den Heiden und seinem Berufe in aller Stille nachgehend; er lässt, ganz im Gegensatz zu Dtjes., der selber gern laut ist und alle Welt zu lauten Kundgebungen auffordert, seine Stimme nicht auf der Strasse hören. Er leidet auch, aber wie ein Jeremia und ein H i o b gelitten h a t , durch Beschimpfung der Ungläubigen, durch den Aussatz, mit dem ihn Jahve geschlagen hat, nicht wie Israel durch fremde Unterdrücker. Er ist nicht eigentlich ein Prophet, sondern ein Prophetenjünger, ein Thoralehrer . . .; in c. 5 3 wird die Frage, wie das blinde V o l k der Sündenschuld entledigt werden kann, auf eine Weise beantwortet, dass Deuterojes. seine eigenen Ausführungen über dies T h e m a widerrufen haben müsste, wenn er diese Lieder gedichtet hätte. Der Vf. dieser stillen, tiefen, wenig blendenden Gedichte, der schon von Temperaments wegen nicht mit dem rauschenden, beweglichen Dtjes. identisch sein k a n n , scheint nach dem B . H i o b und vor dem B. M a l e a c h i geschrieben zu haben, wahrscheinlich nicht im Exil. O b diese Dichtungen einmal als besonderes Buch existiert haben oder nur zu dem Buch Dtjes.s hinzugedichtet wurden, das ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden, jedoch die erstere Annahme wahrscheinlicher" ( 2 8 4 f). D a m i t sind fast alle Probleme einer nun schon über achtzig J a h r e dauernden wissenschaftlichen Diskussion angesprochen. In einer auch für Spezialisten kaum noch überschaubaren Fülle von Beiträgen werden Duhms Fragestellungen immer wieder neu erörtert und zu lösen versucht. In der folgenden Ubersicht werden fast nur Arbeiten, die nach Duhm erschienen sind, berücksichtigt; Vollständigkeit konnte auf keinen Fall angestrebt werden, doch sollen nach Möglichkeit für die verschiedenen Deutungsvarianten typische Vertreter angeführt werden. Für die Z e i t vor D u h m sei auf die Überblicke bei N o r t h und Ruprecht hingewiesen; über die Diskussion seit D u h m informieren neben N o r t h auch R o w ley, F o h r e r und Haag. - Ein Überblick über die Forschungsgeschichte wird dadurch erschwert, „ d a ß sich die Grenzen zwischen den einzelnen Deutungsarten mehr und mehr verwischen und diese ineinander überzugehen beginnen" (Eißfeldt, Einl. 4 5 1 ) .

522

Deuterojesaja

5.1. Ablehnung einer Aussonderung der Lieder und Deutung des Ebed auf Israel. Die entscheidende Frage für die Interpretation der Ebedlieder ist natürlich, ob die Argumente für ihre Ausgliederung aus Dtjes überzeugend sind. Obwohl sich die Mehrheit der Exegeten Duhm angeschlossen hat, hat es immer eine beachtliche Zahl von Skeptikern gegeben. Freilich stehen diese dann vor dem Problem, die Besonderheiten in der Darstellung des Ebed, die Duhm doch wohl richtig herausgestellt hat, zu erklären. Budde meint, Duhm habe zwar richtig gesehen, daß im Buch Dtjes über den Ebed verschiedene Aussagen gemacht werden, aber dies sei bei einem Volk, das eine längere Geschichte gehabt hat, keineswegs verwunderlich. Man dürfe Dtjes nicht darauf festnageln, daß er immer wieder dasselbe über das Volk sagen müsse. - Giesebrecht gesteht Duhm zu, daß die Ebedlieder eine Sonderstellung im Kontext haben und möglicherweise von einem anderen als Dtjes stammen. Die Übereinstimmungen mit dem Kontext seien aber so groß, daß auch in den Liedern Israel gemeint sein müsse. Die Unterschiede lassen sich möglicherweise dadurch erklären, daß die Lieder für den inneren Kreis der Prophetenschüler geschrieben sind. Sie zeichnen zwar ein anderes Bild von Israel, als es das empirische Israel bot, bieten aber trotzdem kein „Luftgebilde", sondern orientieren sich an Jahwes Erwählung. In den Liedern hat der Ebed keine Aufgabe an Israel, sondern an den Heiden; um dies vertreten zu können, muß Giesebrecht Teile von 4 9 , 5 - 6 als spätere Glossen ansehen. - Diese Position kann durch die Unterscheidung von „idealem" und „empirischem" Israel unterstützt werden (vgl. Marti, KHC 361). Das Denkmodell „empirisches Israel - ideales Israel" hat die Schwierigkeit, daß bestimmte mehr individuell klingende Aussagen im 2. und 3. Lied, vor allem aber die Aufgabe des Ebed an Israel in 49,5 - 6 nicht befriedigend erklärt werden können. Diese Schwierigkeit haben —»Eißfeldt und Robinson durch den Hinweis auf eine typisch altorientalische bzw. alttestamentliche Denkfigur, die man im Anschluß an Robinson „corrporate personality" nennt, zu lösen versucht (vgl. Robinson 49). Auf diese Weise läßt sich leicht verstehen, daß in den Liedern sowohl von „individuai experience" als auch von „collective (bzw. national) mission" Israels geredet wird. Eißfeldt weist darauf hin, daß nach alttestamentlichem Denken jedes Volk auf einen Erzeuger (hier also Israel) zurückgeht, der aber nicht nur der Vergangenheit angehört, sondern als ideale Größe immer in der Gemeinschaft gegenwärtig ist. „Der ,ebed' ist aber nichts anderes als dieser, mit dem prophetischen Ehrenprädikat Knecht geschmückte und somit als Prophet gedachte Erzeuger und Repräsentant des Volkes. . . . Der ,ebed' der Lieder ist also, genau wie der ihrer Umgebung, mit Israel identisch und zugleich auch nicht identisch, hat teil an Schicksal und Schuld des empirischen Israel und ist doch — als eine Art ideales Israel — zugleich Vorbild und Heiland für die anderen Völker und für das empirische Israel selbst" (Eiinl. 459). - Robinsons „corporate personality" ist vielen als hilfreich zur Lösung der Probleme der Gottesknechtlieder erschienen; so schillert nach North und Rowley die Auffassung vom Ebed zwischen dem Kollektiv Israel und einem künftigen Individuum, welches aber das Volk darstellen und dessen Aufgabe zum Ziel führen soll und dabei nicht nur seine eigene Sendung, sondern auch die des Volkes zum Ziel bringt (Rowley: RGG 3 5, 1682; vgl. hierzu auch u. Abschn. 5.9). Eine weitere Variante der kollektiven Deutung auf Israel besteht darin, im Ebed das in die Verbannung geführte Israel zu sehen. Kaiser meint, nach dem Ende des Königtums sei die eigentliche Aufgabe des Königtums, irdischer Sachwalter und das heißt Rechtswahrer Jahwes zu sein, auf das Volk übergegangen. In 4 2 , 1 - 9 geht es um den Eintritt Israels in die königliche Aufgabe, in 4 9 , 1 - 6 ist die Gola gemeint, die eine Aufgabe an den in Palästina Gebliebenen hat, in 5 2 , 1 3 - 5 3 , 1 2 leidet die Gola wegen des einstweiligen Ausbleibens des Befreiungsedikts des Kyros, und dieses Leiden wird als stellvertretendes Leiden verstanden: „Was Israel jetzt noch leidet, erduldet es zum Heile der Welt" (129). - Bei Snaith wird diese Deutung etwas modifiziert: Mit dem Ebed war der erste Schub der Exulanten gemeint, der 5 9 7 mit Jojachin in die Gefangenschaft mußte. Später sind dann auch die Exulanten von 586 unter diesen Begriff verstanden worden, und so wurden schließlich alle Exulanten unter dieser Bezeichnung als das wahre Volk Gottes gesehen. Und sie waren es dann auch, die nach ihrer Rückkehr mit verstärktem Prestige die Wiederherstellung Jerusalems betrieben und sich auch weiterhin als das wahre Volk Gottes sahen. - Kapelrud bereichert diese Variante durch die These, der Ebed seien „the exiles, as this group was seen by those who were not exiles themselves" (311). Hintergrund dieser Ansicht ist die These, Deuterojesaja habe nicht in Babylon, sondern in Juda gelebt. Zusätzlich findet sich bei ihm eine kultische Variante der „corporate personality": der König spielte im Kult zugleich die (individuelle) Rolle der Gottheit und vertrat das Volk. So fallen im Ebed Exulanten und Jojachin zusammen. 5 . 2 . Das Problem der Abgrenzung der Texte. Wenn man D u h m in der Ausgrenzung der Ebedlieder folgt, ergibt sich das Problem der Abgrenzung der Texte. Umstritten sind die Abschnitte 4 2 , 5 - 9 ; 4 9 , 7 ; 4 9 , 8 - 1 2 ( 1 3 ) ; 5 0 , 1 0 - 1 1 (einen Überblick über die Diskussion geben N o r t h 1 2 7 — 1 3 8 ; H a a g 1 8 4 - 1 8 6 und vor allem Dion, dort weitere Literatur). Die M a -

Deuterojesaja

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ximallösung von Greßmann (Messias 2 8 7 - 3 0 9 ) , der sieben Lieder annimmt (42,1—4; 4 2 , 5 - 9 ; 4 9 , 1 - 6 ; 49,7; 4 9 , 8 - 1 3 ; 5 0 , 4 - 1 0 ; 5 3 , 1 - 1 2 ) , hat keine Zustimmung gefunden. Nicht ernsthaft bestritten wird die Abgrenzung des 4. Liedes 52,13—53,12 (doch vgl. z.B. Orlinsky). Bei den anderen Liedern ist auffällig, daß der Einsatz durchweg unbestritten ist, das Ende des jeweiligen Liedes dagegen kontrovers. — 42,5—9 ist jedenfalls durch den formalen Neueinsatz in 42,5 deutlich von V. 1—4 getrennt. Hier scheint ein ehemaliges Kyroslied vorzuliegen (Haller; Elliger), das aber im Kontext nachträglich (!) auf den Ebed bezogen worden ist (so z.B. Preß), nach Dion durch Einfügung von V . 6 b . — Auch in 49,7 spricht der formale Neueinsatz gegen eine ursprüngliche Zugehörigkeit zu V. 1—6. Dion hat gute Gründe für die Annahme beigebracht, daß 49,7 und 4 9 , 8 - 1 3 ursprünglich zwei an Israel adressierte deuterojesajanische Texte waren, die nachträglich (!) auf den Ebed bezogen wurden, in 4 9 , 8 - 1 3 durch Einfügung von 49,8 b. — 50,10—11 ist bekanntlich dadurch von V. 4 - 9 unterschieden, daß nicht mehr der Ebed in Form einer Konfession redet, sondern daß über den Ebed geredet wird. Wenn die Erklärung einer Nachinterpretation beim 1. und 2. Lied richtig ist, dürfte sie auch hier die nächstliegende Annahme sein, allerdings mit dem Unterschied, daß 5 0 , 1 0 - 1 1 von Anfang an nur auf den Ebed bezogen war. Nach Dion soll auch 51,4—6 sich auf den Ebed beziehen, aber nicht im Rahmen der ursprünglichen Ebedlieder, sondern im Rahmen der sekundären Interpretationsschicht. 5.3. Ist der Ebed kollektiv oder individuell zu verstehen? Die Schwierigkeiten, die die Gegner einer Ausgrenzung der Ebedlieder hinsichtlich einer einheitlichen Auffassung des Ebed in Dtjes (d.h. einer Deutung auf Israel) haben (vgl. Abschn. 1), sprechen doch stark für Duhms Argumente einer Ausgrenzung. Andererseits aber sperren sich auch einige Züge in den Liedern gegen eine individuelle Deutung. Die meisten Schwierigkeiten bereitet hier 49,3 „und er sprach zu mir: du bist mein Knecht, (das?) Israel, an dem ich mich verherrlichen will.'' Wenn „Israel" hier ursprünglich ist, ist eine streng individuelle Deutung falsch. Schon Duhn hat sich deshalb zu der Radikalkur entschlossen, in diesem Wort eine spätere Ergänzung zu sehen, wie vor ihm schon Michaelis und Gesenius und nach ihm viele andere. Das Wort steht aber bereits in lQJes a ; in —»Qumran ist also der Ebed (bereits?) kollektiv gedeutet worden. Textkritische Argumente für eine Streichung gibt es nicht; hier wird immer in einem Zirkelschlußverfahren nach einer bereits aus anderen Erwägungen gewonnenen Deutung des Ebed über das Wort Israel geurteilt (dazu instruktiv Lohfink). Eine weitere Schwierigke:t wird häufig in der Schilderung der Leiden des Knechtes von Jes 53 gesehen; schon Giesebrecht hat gefragt, wie man es sich vorstellen solle, daß jemand Aussatz habe, eines gewaltsamen Todes sterbe und dennoch nach seinem Tode langes Leben sehe, ohne daß von Auferstehung geredet werde. Weder eine kollektive Deutung auf Israel noch eine individuelle Deutung lassen sich anscheinend mit dem vorliegenden Text ohne Schwierigkeiten vereinen. Dies hat manche Exegeten dazu geführt, als dritten Weg eine kollektive Deutung anzunehmen, bei der der Ebed aber nicht Israel insgesamt, sondern eine Größe in Israel (als wahres Israel) meine. In diesem Fall nuß die Apposition in 49,3 nicht beschreibend, sondern eingrenzend verstanden werden: ,,du bist mein Knecht, (bist) das Israel, an dem ich mich verherrlichen will". SA. Versuche, einen individuellen Ebed zu identifizieren. Duhm hatte sich weise zurückgehalten bei dem Versuch, den von ihm entdeckten Ebed zu identifizieren; er hatte lediglich die Vermutung geäußert, der Ebed gehöre in eine spätere Zeit (s.o.) und sei „nicht eigentlich ein Prophet, sondern ein Prophetenjünger, ein Thoralehrer." Es hat natürlich die Forscher gereizt, hier Genaueres herauszufinden, und man kann wohl sagen, daß keine Möglchkeit der Identifikation ausgelassen worden ist. BTritojesaja. Diese Theorie wurde von Elliger (1933) aufgenommen und ausführlich begründet; nach ihm ist Tritojesaja der Herausgeber des ganzen Buches Dtjes. Diese durch Sellin/Elliger modifizierte autobiographische Deutung wird von vielen Forschern vertreten (genannt seien nur Fohrer; Zimmerli; Schoors; Scharbert; von Waldow; Kutsch). Mowinckel selbst hat zu einer Zeit, als seine autobiographische Deutung in der Sellin/Elligerschen Modifikation immer mehr Anhänger fand, diese aufgegeben (He That Cometh). Er will zwar immer noch im Ebed eine prophetische Gestalt aus dem Exil finden, aber jetzt ist ihm der Bericht über dessen Tod in Jes 53 ein zwingendes Argument gegen die autobiographische Deutung (trotz Sellin/Elliger). Es soll sich vielmehr um einen von Deuterojesaja zu unterscheidenden Propheten aus dem jesajanisch-deuterojesajanischen Prophetenzirkel gehandelt haben; in seinem Leiden und Sterben haben seine Schüler eine göttliche Absicht erkannt und idealisiert dargestellt. Die hier erkannte Deutung des stellvertretenden Leidens widerspricht der traditionellen messianischen Vorstellung und ist der Grund dafür, daß Jes 53 im Judentum nie messianisch verstanden worden ist. - Dies wird auch von Orlinsky betont. Nach ihm sind die Vorstellungen eines leidenden Knechtes und vom stellvertretenden Leiden nachbiblischen, wahrscheinlich heidnischen Ursprungs und erst nach der durch das Christentum vollzogenen Deutung von Jes 53 auf Jesus aufgekommen. In den vier Liedern gehe es um den Propheten selbst. 5.5. Versuche, einen kollektiven Ebed anzunehmen, der aber nicht (das empirische) Israel ist. Schon vor Duhm w a r die Gestalt des Ebed gelegentlich als „ f r o m m e Minderheit in Israel" gedeutet worden (North 3 5 — 3 9 ) , und zwar teils als Prophetengruppe (Gesenius; Umbreit; de Wette: Prophetenstand), teils als Ordnung der Priester. Diese partiell kollektive Deutung ist auch nach D u h m vertreten worden. 1899 wollte Bertholet im Ebed der ersten drei Lieder die Gattung des Thoralehrers finden. König sah in ihm „die treu gebliebene Minderheit Israels" (Komm. 458), den Teil Israels, „der sich dem Dienste der Gottheit mit besonderem Eifer widmete und der bei diesem Dienste mit Verkennung, Spott und anderen Leiden aller Art zu ringen hatte" (459; ähnlich auch Whitehouse; Burney; Lundborg; Kenneth [North 62f] und Muilenburg: „a strong minority of faithful men", IntB 410). Skinner sah im Ebed das ideale Israel. - Nach Junker ist in ihm das gesamte Prophetentum repräsentiert; als ideale Gestalt bildet er die reinste und vollendetste Ausprägung des Prophetentums. Er ist dabei nicht einfach eine Fortsetzung der vorexilischen Propheten, sondern der Prophet kat exochen, der das Werk seiner Vorgänger vollendet. (Mischung aus kollektiver und individueller Deutung.) Hinzuweisen ist hier auch auf die o.Abschn. 5.1 behandelten Versuche, in dem Ebed das Israel der Gola zu sehen (Kaiser; Kapelrud; Snaith). Wilshire will in dem Ebed „the cultic-center city Zion-Jerusalem" sehen. Für dieses Modell einer partiell-kollektiven Deutung spricht auf den ersten Blick, daß mit ihr die Schwierigkeiten, die bei der kollektiven Deutung auf Israel und bei der individuellen Deutung auftreten, vermieden werden können. Wenn sich dieses Modell dennoch nicht hat allgemein durchsetzen können, so wohl deshalb, weil es ebenfalls seine spezifische Aporie hat: Diese Deutung kann wenig anfangen mit den seit Mowinckel meist biographisch-autobiographisch verstandenen Stellen aus dem 2. und 3 . Lied. 5.6. Die Frage nach der Funktion. Lindblom hält die Frage nach der Identität des Knechtes für ebenso töricht wie die Frage, wer der verlorene Sohn des Gleichnisses sei. „The Servant embodies an idea and that idea is the mission of Israel to the world". Natürlich hat man schon immer auch nach der Funktion des Ebed gefragt; jetzt aber verschiebt sich in vielen Arbeiten die Fragestellung in dem Sinne, daß vor allem oder nur nach der Funktion gefragt wird (vor North und Lindblom schon Hyatt, vgl. 79). Als Alternative schält sich immer mehr heraus: königliche oder prophetische Funktion? Ersteres wird z.B. von Kaiser und Engnell (vgl. u. Abschn. 5.8) angenommen, letzteres besonders von Bentzen (vgl. 5 1 ) . - A u c h von Rad meint, angesichts der Alternative „königliche oder prophetische Funktion des Knechtes" könne die Entscheidung nur für die zweite Möglichkeit fallen. Er sieht einen Traditionsstrom über den Gottesknecht von Mose über Jeremia bis hin zum Ebed. Der Knecht der Lieder sei also eine mit einem universellen Auftrag beauftragte Person — aber identifizieren könne man ihn nicht, auch die beliebte Identifizierung mit Deuterojesaja selbst sei abzulehnen, denn „so - in einer nach allen Seiten ins Extreme ausbrechenden Diktion — spricht man nicht von einer dem hellen Licht der Gegenwart oder gar

Deuterojesaja

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der nahen Vergangenheit zugehörigen Person" (266). „Die Aussagen transzendieren doch auf Schritt und Tritt das Biographische ebenso wie alles im geschichtlichen oder gegenwärtigen Raum Mögliche" (268). - Westermann nimmt als Verfasser der ersten drei Lieder Deuterojesaja selber, als Verfasser des 4. Liedes einen Schüler desselben an - so weit wie Sellin/Elliger etc. Dann aber schlägt das Scheitern jahrzehntelanger Identifizierungsversuche in eine positive Einsicht um: „hier soll verbergend, verhüllend geredet werden. Dies gilt für alle Gottesknechtlieder.. . . Die Exegese hat sich . . . von den Fragen leiten zu lassen: Was lassen die Texte erkennen von dem, was sich vollzieht oder vollziehen soll zwischen Gott, dem Knecht und denen, welchen sein Auftrag gilt?" (ATD 78). In seiner Theologie führt Westermann aus, daß der (als Individuum zu verstehende) Gottesknecht zwar in keinem erkennbaren historischen Kontext stehe, anonym bleibe und in seinem Wirken verhüllend dargestellt sei. Im Blick auf seine Funktion aber läßt sich mehr sagen: er führe das Wirken der vorexilischen Gerichtspropheten zu Ende, wobei der Auftrag auf die Völker ausgedehnt und der neue Gedanke des stellvertretenden Leidens eingeführt werde. Westermann sieht dabei eine Entsprechung zwischen Mose als dem Mittler am Anfang und dem Gottesknecht als dem Mittler am Ende. In der Möglichkeit des stellvertretenden Leidens und der Mittlerfunktion für die Völker sei eine Ubereinstimmung mit dem Bericht der Evangelien über das stellvertretende Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu unverkennbar (70f)- - Eine ähnliche Skepsis hinsichtlich der Identifizierungsversuche findet sich schon bei Lennox (vgl. 319). — Wie Westermann hält auch Roth die Anonymität des Ebed für beabsichtigt (179); er sieht eine Parallele in der Anonymität des „Lieblingsjüngers" im —»Johannesevangelium, die polemischen Charakter habe: „If the Suffering Servant represents the prophetic order as a whole and in its function within Israel, he is anonymous by necessity. He is not person, he is type" (177). „He is the prophet of Yahweh, unknown by name but known by his function: to stand between man and God in Service and in suffering" (179). 5 . 7 . Hilfe durch Gattungsanalyse? Durchweg wird die Meinung vertreten, daß die Ebedlieder aufgrund ihres Inhalts eine Sonderstellung bilden, daß sie aber keine eigene Gattung bilden. 4 2 , 1 — 4 wird der Knecht durch J a h w e vorgestellt, wobei leider unklar bleibt, wem (himmlischer Hofstaat? Prophetenzirkel?). Mowinckel ( H e T h a t Cometh 1 9 0 ) denkt an die N a c h a h m u n g eines „royal inition o r a c l e " nach Art von Ps 2 oder 1 1 0 ; von Rad ( 2 6 5 ) an die einer Präsentation eines Vasallenkönigs durch den Großkönig. — In 4 9 , 1 — 6 redet der Knecht selber; dieser T e x t mit seiner Anrede an die ganze Welt hat doch wohl stark autobiographische Züge. - Auch in 5 0 , 4 — 9 redet der Knecht, doch dies aber in einer mehr nach innen gerichteten Weise, die oft zu einem Vergleich mit den Konfessionen Jeremias Anlaß gegeben h a t . - D e r Abschnitt 5 2 , 1 3 — 5 3 , 1 2 ist in sich nicht einheitlich. In 5 2 , 1 3 — 1 5 redet Jahwe und weist auf seinen Knecht hin; die hier angeredeten „Vielen" sind wohl mit Hertzberg als Heiden, also Nichtisraeliten anzusehen. In 5 3 , 1 - 6 redet eine Mehrzahl, die bekennt, dem Knecht nicht geglaubt und nicht begriffen zu haben, daß er für sie gelitten hat. Die als Sprecher dieses am ehesten als Bußlied zu bezeichnenden Textes genannten „Abtrünnigen" sind wohl mit Hertzberg als Israeliten anzusehen. In 5 3 , 1 0 b - 1 2 redet wieder Jahwe. Das 4 . Lied hat also die Form einer Liturgie. — Wenn es gelänge, diese verschiedenen „ G a t t u n g e n " unter einem einheitlichen Gesichtspunkt als eigene Gattung zu verstehen, wäre dies natürlich ein starkes Argument für die Besonderheit der Gottesknechtlieder. Originell ist der Versuch Morgensterns, der mit vielen Umstellungen und unter Hinzuziehung von Versen aus Jes 61 ein Drama konstruiert, in dem die tragische Lebensgeschichte eines Königs aus Davids Geschlecht dargestellt sein soll, und zwar von Menachem, der nach Morgenstern 485 bei einem Aufstand gegen die Perser hingerichtet worden sein soll. Mehr Aussichten auf Anerkennung dürfte wohl der Versuch Baltzers haben, der die Ebedlieder nach Analogie der aus Ägypten bekannten „Idealbiographie" verstehen will: „Die Biographie ist in der Regel als direkte Rede des Toten an die Nachlebenden stilisiert. In der Biographie gibt der Gestorbene Rechenschaft über sein Leben vor Göttern und Menschen. . . . Mit der Wendung an die Nachwelt wird die Biographie schließlich zur ,Lehre'" (FS v. Rad 29). S.S. Die kultmythologische Deutung. Die Frage nach der Identität des Ebed ist im Ansatz falsch, wenn die kultmythologische Deutung recht hat. Sie wird am eindeutigsten von Engnell vertreten, nach dem z.B. das Auferstehen des Knechtes in 53,10 nach Analogie der aufersteehenden Gottheit im Tammuzkultzu verstehen ist (Studies 1 1 9 A n m . 7 ; 152Anm. l ) . D a der König im Kult die Rolle der Gottheit spiele, finde sich im Leiden des Knechtes „the king's way through vicarious suffering and ,death' to life" (176 Anm. 4). Die Rolle, die der König hier spiele, sei messianisch aufzufassen. Hier gilt m.E. ganz allgemein, was Bentzen zu Engneils Deutung von 50,6 sagt: „Die eventuelle Verbindung mit einer Tammuz-Ideologie ist antiquarisch interessant, aber für das Verständnis des Textes, so wie ihn der Prophet verstanden haben will, völlig gleichgültig" (52). In abgemilderter Form findet sich diese Deutung bei

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Ringgren, der von „in den Gottesknechtliedern nachzuweisenden Anlehnungen an Tammuzlieder" spricht und meint: „Der Knecht würde demnach das mit Hilfe königlicher Kategorien umschriebene Israel, und zwar das ideale Israel, sein" (Israelit. Religion, 270; vgl. auch Messiah 66). Eine m. E. überzeugende gründliche Kritik der kultmythologischen Deutung bietet Scharbert (vgl. vor allem 198). 5 . 9 . Eschatologische/messianische/christologische Interpretation. Schon in der Urchristenheit ist Jesus Christus als Erfüllung der als Weissagung verstandenen Texte vom Ebed (vgl. Act 8 , 3 4 ) besonders natürlich von Jes 5 3 (hierzu Wolff) verstanden worden. I m Zusammenhang dieses Überblicks interessieren nur Versuche, die eine solche Deutung in Verbindung mit einer historisch-kritischen Interpretation des Ebed vorgenommen haben, also in Verbindung mit der Frage, wen oder was man sich im Exil unter dem Ebed vorgestellt habe. Rowley hat in einer m. E. überzeugenden Untersuchung dargelegt, daß der Ebed weder bei Dtjes. nocji im vorchristlichen Judentum messianisch verstanden worden ist; der sonst mit dem —»Messias nicht verbundene und auch nicht verbindbare Gedanke des —»Leidens verbietet diese Annahme (Servant; gegen Engneil u.a.). Allerdings betont Rowley, daß sowohl die Messiasvorstellung als auch die vom leidenden Gottesknecht sich als getrennte Zweige aus dem Stamm der Königsideologie entwickelt hätten und daß Jesus deshalb, als er sie wieder zusammengeführt habe, ihnen keine Gewalt angetan, sondern lediglich wieder vereint habe, was aus gemeinsamer Wurzel stamme. Zur Ablehnung der Verbindung der beiden Komplexe „Messias" und „leidender Knecht" vgl. auch Orlinsky (s.o. Abschn. 5.4). Eine Möglichkeit, eine Verbindung zwischen dem Ebed und dem Neuen Testament aufzuzeigen, besteht in einer Art Ideengeschichte. Am deutlichsten ist dies vielleicht bei Kittel ausgedrückt, der in dem Ebed neben dem unbekannten Deuterojesaja einen weiteren Unbekannten (einen „Blutzeugen") sieht (427; ähnlich Bentzen 42 und Westermann, vgl. o. Abschn. 5.6). Eine andere Möglichkeit, eine Verbindung zum Neuen Testament aufzuzeigen, besteht darin, daß viele Ausleger in der Gestalt des Ebed selbst bereits Züge entdecken, die das Historisch-Biographische irgendwie transzendieren. M . E . liegt hier ein Paradebeispiel für die typologische Interpretation vor (dazu Wolff, Hermeneutik): die Kenntnis des Typos (Jesus Christus) hilft, den Antitypos [Ebed) als solchen zu erkennen. Dieses „Transzendieren" wird besonders häufig bei Jes 53 konstatiert, während die ersten drei Lieder sich leichter „inneralttestamentlich" verstehen lassen (charakteristisch Zimmerli, der ansonsten die autobiographische Deutung vertritt, T h W N T 5,670). Dieses Erkennen des „Transzendierens" der Aussagen von Jes 53 hängt nicht an der individuell-autobiographischen Deutung, wie von Rad (vgl. o. Abschn. 6) zeigt. North und Rowley haben diese „transzendierende" Deutung von Jes 53 mit einer kollektiven Deutung der ersten drei Lieder verbunden: In den ersten drei Liedern ist Israel (als „corporate personality") gemeint, Jes 53 aber handelt von „einem künftigen Individuum, welches das Volk darstellen und dessen Aufgabe zum Ziele führen soll und dabei zugleich nicht nur seine eigene Sendung, sondern die des Volkes zum Ausdruck bringt" (Rowley: RGG 3 5 , 1 6 8 2 ) . Preß schließlich will den Ebed als eschatologische Figur verstehen, die aber freilich keine kommende Gestalt meine, sondern eine historische Persönlichkeit, die zum Zeichen des Kommenden werde. Nach ihm stammen die Ebedlieder nicht von Deuterojesaja, sondern sind als Korrektur der sich mit Kyros verbindenden Erwartung eingefügt: nicht durch politische Aktionen, sondern durch Entsündigung durch Leiden solle das letzte Hemmnis, das dem Anbruch der Endzeit entgegenstehe, weggeräumt werden. Der Ebed werde so zu einem Mittel der Herbeiführung des Eschaton. Tod, Grab und Wiedererweckung seien wie Ez 37 bildlich zu verstehen. 5.10. Resümee und Ausblick. Zur Zeit nimmt in der Forschung die Tendenz zu, die Ebedlieder im K o n t e x t Deuterojesajas zu verstehen und die durch Duhm vorgenommene Aussonderung abzulehnen (z. B. Widengren; Ringgren, Messiah; Orlinski; Kapelrud; Miller). — Dies könnte forschungsgeschichtlich ebenso wie die Verlagerung der Fragestellung von dem Identifikationsproblem hin zum Funktionsproblem eine resignative Reaktion darauf sein, daß sowohl kollektive als auch individuelle als auch partiell individuelle Identifizierungsversuche sich nicht haben durchsetzen können. T r o t z all der Aporien soll abschließend versucht werden, die Ebedlieder zu deuten und dabei auch zu fragen, von wem hier geredet wird. Dabei wird von folgender Basis ausgegangen: 1. Die Texte wandten sich an Hörer (oder Leser), die aus ihrem Kontext heraus verstehen konnten, wer mit dem Ebed gemeint war. Dies gilt unbeschadet möglicher transzendierender Aussagen im 4. Lied. Dafür, daß hier bewußt verhüllend geredet werde (Westermann), gibt es keinerlei Anhaltspunkt im Text.

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2. Im 1. Lied ( 4 2 , 1 - 4 ) wird die Funktion des Ebed beschrieben. 3. Im 2. und 3. Lied (49,1—6; 5 0 , 4 - 9 ) finden sich Aussagen, die nach Mowinckel und mit vielen anderen biographisch-autobiographisch zu verstehen sind, also Aufschluß über das Ergehen des Ebed geben. 4. Im Mittelstück des 4. Liedes ( 5 2 , 1 3 - 5 3 , 1 2 ) wird der Ebed in seinem Wirken von anderen beurteilt; in dem Bußlied wird sein Leiden als stellvertretendes Leiden zum Heil der Sprecher gedeutet.

5.10.1. Zur Funktion des Ebed. Er ist Jahwes Knecht, den dieser stützt, an dem er Gefallen hat, auf den er seinen Geist gelegt hat (42,1), den er erwählt hat, um sich an ihm zu verherrlichen (49,3). Seine Aufgabe besteht darin, mispatle'amät, d.h. Urteilsspruch so, daß er zu seiner wahren Erfüllung kommt, herauszubringen (42,3). Sein Werkzeug ist das Wort (49,2), das ein scharfes Schwert und ein spitzer Pfeil ist. Dieses Wort hört er alle Morgen (50,4), jeden Morgen wird ihm das Ohr geöffnet wie Jüngern. Er bekommt dieses Wort nicht für sich selbst, sondern mit dem Ziel, den Ermatteten aufzurichten (50,4). Geistgabe, Wort und Aufrichtefunktion zeigen, daß der Ebed ein prophetisches Amt hat. 5.10.2. Zum Geschick des Ebed ist vor allem auf die (auto)biographischen Stücke 49,1 — 6; 5 0 , 4 - 9 zu verweisen. Der Knecht ist geschlagen, am Bart gerauft und angespieen worden (50,6). Diese Behandlung war so, daß nahegelegen hätte, widerspenstig zu sein und zurückzuweichen (50,5). Er hat aber nicht so reagiert, weil er die Überzeugung hatte, Jahwe werde ihm helfen und ihn schließlich doch rechtfertigen (50,7f). Es muß aber eine Periode gegeben haben, in der er an seinem Auftrag verzweifelte, weil er keinen Erfolg sehen konnte (49,4). Der hier angesprochene Mißerfolg war ein Mißerfolg hinsichtlich seiner Aufgabe an Israel ( 4 9 , 4 - 5 ) . In dem Bußlied 5 3 , 1 - 6 wird deutlich: Der Ebed war verachtet, ein Mann der Schmerzen, mit Krankheit geschlagen, man rechnete nicht mit ihm. Seine Erscheinung war so, daß man sein Gesicht vor ihm verbarg und ihn für einen von Gott Geschlagenen hielt. Aus 53,8—9 wird klar, daß der Ebed bedrängt wurde, ins Gericht kam, getötet und bei Gottlosen begraben wurde. Er selber verhielt sich schweigend und ruhig wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wurde (so trotz Soggin). Mit seiner Ausrichtung des Wortes ist der Ebed also zunächst gescheitert. Er wurde von denen, denen er das Wort bringen wollte, abgelehnt, verhöhnt und gequält. Er muß (vorübergehend) selber an seinem Auftrag gezweifelt haben. 5.10.3. Zu den Adressaten der Botschaft. Der Ebed hatte zunächst eine Aufgabe an Israel (49,4—6). Die in 53,1 —6 Sprechenden sind die Abtrünnigen, sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach Israeliten. Der Ebed kann also nicht Israel sein, Israel hat ihn ja gerade verworfen. — Das Scheitern lag weder am Auftrag noch am Knecht, sondern an Israel (49,6; 53,1—6). Vielleicht kann man aus 42,2—4 sogar schließen, daß Scheitern und Erniedrigung rückschauend als auftragskonform angesehen wurden. Deshalb führt sein (vorübergehendes) Scheitern an Israel gerade nicht zu einer Ablehnung durch Jahwe, sondern zu einer Erweiterung seines Auftrages zu einem Auftrag an die Heiden. 5.10.4. Zur Identität des Ebed. Die Aussagen über Tod und (späteres) Leben des Ebed (53,8—10) lassen sich bei einer individuellen Deutung nicht verstehen. Da sich oben gezeigt hat (vgl. 5.10.3), daß Israel nicht der Ebed sein kann, bleibt als Deutung nur übrig, daß der Ebed eine Gruppe in Israel war, die zunächst mit ihrem Auftrag, das Wort auszurichten, die Ermatteten aufzurichten und Israel zu sammeln, abgelehnt worden ist, die aber dann doch schließlich anerkannt worden ist. 5.10.5. Zum Verhältnis Ebed — Deuterojesaja. Sowohl der prophetische Charakter des Auftrags als auch die doppelte Richtung zu Israel und den Völkern als auch der Inhalt des Auftrags zeigen weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Ebed und Deuterojesaja. In dieselbe Richtung weisen auch die sogenannten autobiographischen Texte im 2. und 3. Lied. Eine Gleichsetzung von Ebed und Deuterojesaja aber scheitert, wenn der Ebed eine Gruppe in Israel und Deuterojesaja ein einzelner Prophet war. Es erhebt sich die Frage, ob die Aporien bei den Versuchen, die Identität des Ebed zu bestimmen, nicht darin ihren Grund haben könnten, daß wir uns bisher ein falsches Bild von „dem Propheten" Deuterojesaja gemacht

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haben. Wenn er nämlich aus einer Gruppe bestanden haben sollte (vgl. 4.3), ließe sich eine „autobiographische" Deutung des Ebed durchführen, die mit den Texten ohne große Schwierigkeiten in Einklang zu bringen wäre. Literatur Literaturüberblicke: Georg Fohrer, Neuere Literatur zur atl. Prophetie: ThR NF 19 (1951) 298 - 3 0 5 ; 20 ( 1952) 2 2 8 - 2 4 2 . - Ders., Zehn Jahre Literatur zur atl. Prophetie ( 1951 - 1 9 6 0 ) : ThR NF 28 (1960) 2 3 5 - 2 4 9 . - Ders., Neue Literatur zur atl. Prophetie (1961-1970): ThR N F 48 (1980) 2 3 - 3 9 . - Andreas Richter, Hauptlinien der Deuterojesaja-Forschung v. 1964-1979: Claus Westermann, Sprache u. Struktur, (s.u., 1981). Kommentare: Karl Budde, 4 1922 (HSAT[K] 1).-Bernhard Duhm, 1892 4 1922 = 5 1968 (HK 3/1). - Karl Elliger, I. Jes 4 0 , 1 - 4 5 , 7 , 1978 (BK.AT 11/1). - Johann Fischer, 1937/39 (HSAT 7/2). - Georg Fohrer, 1964 (ZBK). - Max Haller, 1925 (SAT3). - A. S. 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Diethelm Michel

Deuteronomium/Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule I. Deuteronomium II. Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule

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I. Deuteronomium 1. Name und Stellung im Kanon teratur S. 539)

2. Gliederung und Inhalt

3. Komposition und Herkunft

(Li-

Deuteronomium

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1. Name und Stellung im Kanon .Deuteronomium' ist der lateinische Name für das 5. Buch des Alten Testaments. Es ist das letzte der traditionell dem Mose zugeschriebenen Bücher, die in der Hebräischen Bibel die kanonische Abteilung Tora bilden (—»Pentateuch). In hebräischen Bibeln vor der Einführung gedruckter Ausgaben im 16. Jh. hatten die fünf Teile der Tora keine besonderen Überschriften oder Titel. Wenn in jüdischem Schrifttum auf die einzelnen Bücher Bezug genommen wird, geschieht es gewöhnlich mit ihren Anfangsworten. So ist das fünfte Buch der Tora unter seinen Anfangsworten 'ellä hadd'barim [Dies (sind) die Worte], gewöhnlich abgekürzt als d'barim [Worte] bekannt (vgl. den Buchtitel in der Vulgata: Uber Helleaddabarim id est Deuteronomium). Der lateinische Name, unter dem das Buch am besten bekannt ist, gibt das griechische öevreßovöfiiov wieder und bedeutet „zweites Gesetz" oder „wiederholtes Gesetz". Schon —•Philo v. Alexandrien gebraucht diese Bezeichnung (All III, 174; Imm 50); sie erscheint regelmäßig im 4. Jh. n. Chr. und in späteren christlichen Septuagintahandschriften. Ein vergleichbarer hebräischer Titel findet sich gelegentlich in klassischen rabbinischen Quellen: „Wiederholung des Gesetzes" ([sepär] misne töra, z.B. bMeg 31 b, BerR 3,5; vgl. Mose ben Maimon, Moreh II, 31.34). Der Name ist in seiner hebräischen und griechischen Form offenbar von Jos 8,32 (LXX: 9,2) abgeleitet: „die Abschrift der Tora des Mose", die Josua auf Altarsteine am Berge Ebal geschrieben haben soll, wurde auf die von Mose in der Ebene Moabs mündlich und schriftlich bekanntgemachte Gesetzgebung bezogen (vgl. Dtn 4,44; 28,69; 3 1 , 9 - 1 3 , besonders 2 7 , 2 - 8 mit Jos 8 , 3 0 - 3 5 ) . Die Septuaginta und ihr folgend die Vulgata machten diese Gleichsetzung offensichtlich, indem sie zd öevrtQOvöfiiov,

vöfiov Mwvarj als erklärende Übersetzung für misne törat mosä boten; auf diese Weise verknüpften

sie die im Deuteronomium gebotene Tora mit den Gesetzessammlungen der vorhergehenden Bücher des Pentateuch, unterschieden sie aber auch von ihnen. (Die Unterscheidung mag die von Josephus, Ant IV, 193 vorgeschlagene sein zwischen den pentateuchischen „Gesetzen" [vöfiO/;], von Mose „auf Gottes Diktat hin" zusammengestellt, und der israelitischen „Verfassung" [noXireta], von Mose selbst gemäß göttlicher Offenbarung formuliert.) In ähnlicher Weise wurde die „Abschrift dieses Gesetzes" (misne hattörä hazzo't), die vorzunehmen Gott dem israelitischen König befahl (Dtn 17,18), in der Septuaginta mit tö öevTeQOv6fiiov roüro [dieses wiederholte Gesetz] gleichgesetzt. So scheint der Name und das in ihm wiedergegebene Verständnis des Buches mindestens so alt wie die Septuaginta-Ubersetzung der Hebräischen Bibel zu sein.

Dtn ist in der Tat das einzige Buch des Pentateuch, das sich ausdrücklich und wiederholt als Niederschrift der mosaischen Tora ausgibt (vgl. 4,44: „diese Tora"; 1,5;4,8; 17,18.19; 27,3.8.26; 28,58.61; 29,28; 31,9.11.12.24; 32,46; und „dieses Buch der Tora": 29,20; 30,10; 31,26). ,Tora' bedeutet hier umfassende und von Gott bestätigte „Unterweisung" (z.B. Hos 4, 6; 8,1.12; Am 2,4; vgl. Dtn 17,11; 33,4.10); im Zusammenhang des Buches ist sie die mit Autorität versehene, inspirierte „Verfassung", die Mose, der Israel nicht selbst über den Jordan führen kann, für das Volk als Richtschnur seines Lebens im einzunehmenden Land in Kraft gesetzt hat. Kurzum, die Tora ist faktisch Ersatz für Mose selbst in seiner Eigenschaft als der höchste Vermittler des göttlichen Wortes an Israel (vgl. Dtn 5 , 4 - 5 . 2 3 - 3 1 ) . Dieses Verständnis von Dtn ist theologisch ungeheuer folgenreich. In der Sicht des hebräischen Kanons ist das Dtn so nicht nur der paränetische Anhang der pentateuchischen Erzählung von Israels Vorgeschichte und religiösem Werden unter Moses Führung. Als die mosaische Tora ist Dtn vielmehr der hermeneutische Schlüssel zum Pentateuch als Ganzem und vermittelt so die dauernde Offenbarung von Gottes Willen für das weitergehende Leben des Bundesvolkes. In ähnlicher Weise bietet das Dtn auch den entscheidenden Ansatz für das Verständnis der kanonischen Einheit der folgenden Sammlung „Propheten" (Nebi'im) in der Hebräischen Bibel. Es ist bedeutsam, daß betonte, deuteronomisch formulierte Hinweise auf die mosaische Tora die Sammlung als Ganzes rahmen (Jos 1,7—8; Mal 3,22); die Hauptredaktoren und Herausgeber der Sammlung (s.u. Abschn. II) sahen ohne Zweifel als „prophetische" Nachfolger des Mose jene Richter, Könige und Propheten, die von der Zeit Josuas bis zur Restauration die der Tora des Mose gemäße Herrschaft Gottes über Israel bezeugten (vgl. Dtn 1 8 , 1 5 - 1 8 mit z.B. Jos 23,6; Jdc 2 , 1 6 - 2 2 ; I Sam

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1 2 , 1 3 - 1 5 ; I Reg 2 , 2 - 4 ; II Reg 17,13; 2 3 , 2 4 - 2 5 ; Jes 2,3; 51,7; Jer 6,19; 31,33; Sach 7,12; auch Sir 4 6 , 1 - 4 9 , 1 0 ) .

2. Gliederung

und Inhalt

In seiner jetzigen Form ist das Dtn hauptsächlich eine dreiteilige Abschiedsrede des —»Mose an die 5 Versammlung von „ganz Israel" im Lande M o a b östlich des Jordan (Dtn 1 - 3 0 ) ; die letzten vier Kapitel geben Moses letztwillige W o r t e und Taten wieder ( 3 1 , 1 - 3 2 , 4 7 ) und befassen sich mit seinem Tod ( 3 2 , 4 8 — 3 4 , 9 ) ; die letzten Verse des Buches bieten einen kurzen Nachruf, der die Unvergleichlichkeit der Führerrolle des M o s e verewigt ( 3 4 , 1 0 - 1 2 ) . Die Hauptgliederung wird klar angezeigt durch eine Folge von vier Überschriften, die auf M o s e in der 3. Person Bezug nehmen und den hauptsächlichen Inhalt der 10 folgenden Einheit herausheben ( 1 , 1 - 5 ; 4 , 4 4 - 4 9 ; 2 8 , 6 9 ; 3 3 , 1 ; eine weitere solche Überschrift erscheint im Septuaginta-Text nach 6 , 3 ) . Sonst kommen in der 3 . Person erzählende Texte in den Abschiedsreden des Buches wenig vor ( 4 , 4 1 - 4 3 ; 5 , 1 a; 2 7 , 1 . 9 . 1 1 ; 2 9 , 1 a ) . Unterteilungen innerhalb der Hauptteile sind schwieriger zu bestimmen, besonders in dem Gesetzescorpus, das den Mittelteil des Buches ausmacht; sie sind gewöhnlich durch geprägte Wendungen wie durch inhaltliche Merkmale er15 kennbar. Gemäß dieser Gliederung kann der Inhalt des Buches kurz wie folgt zusammengefaßt werden.

2.1. Erinnerung an den Anfang der Geschichte des Bundesvolkes: 1,1-4,40 ( + 4,41—43). Die Überschrift (1,1—5) ist überladen und enthält mehrere problematische und syntaktisch umständliche Wendungen. Sie kann vielleicht als ein einziger Satz verstanden werden, in den während der Redaktionsgeschichte des Buches mehrere Wendungen wie 20*' in Klammern eingefügt wurden. Unter Auslassung der durch das literarische Stilmittel der „Wiederaufnahme" erkennbaren Zusätze ergibt sich folgender Text: „Dies sind die Worte, die Mose an ganz Israel auf der anderen Seite des Jordans richtete ( l , l a / 5 a a ) . . . im Lande Moab; Mose nahm es auf sich, diese Verfassung zu erklären, indem er sagte". Der letzte Satz zeigt, daß der Herausgeber schon die Veröffentlichung der mosaischen Tora, die gesondert 25 in 4,44—49 eingeleitet wird, im Auge hat. Der eigentliche Charakter dieses ersten Teiles der Abschiedsrede als „Erinnerungen" (vgl. die Bedeutung von d'barim in Neh 1,1 und offenbar auch Jer 1,1) wird besonders deutlich durch den Gebrauch der 1. Person Sing, und des pluralisch formulierten Erzählstiles, die zumindest die ersten 3 Kapitel zusammenhalten. 1,6-3,29: Die Erinnerungen beginnen mit der Wiedererzählung von Israels Aufbruch 30 vom Horeb und seinem anfänglichen Mißerfolg bei dem Versuch, das seinen Vorfahren durch eidliches Versprechen von Gott zugewiesene Land in Besitz zu nehmen — einem Mißerfolg, auf den eine lange Zeitspanne des Aufenthaltes in der Wüste folgte ( 1 , 6 - 2 , 1 ) . Dann wird die Erneuerung des göttlichen Befehls, das Land in Besitz zu nehmen, beschrieben, darauf die erfolgreichen Unternehmungen gegen die Könige Sihon und Og im Transjordanland 35 sowie die Verteilung ihrer Gebiete an Teile Israels, schließlich Ereignisse der unmittelbaren Vergangenheit, die Moses baldigen Tod anzeigen ( 2 , 2 - 3 , 2 9 ) . Obwohl in persönlichem Stil gehalten, sind die Erinnerungen nicht selbstgefällige Memoiren eines Volksführers; die Erzählung hat einen feierlichen Ton und läßt Mose aus der Erinnerung des Volkes Lehrstücke über Bundesglaube und Gehorsam formulieren, um das Volk auf die Herausforderungen 40 vorzubereiten, denen es sich nach seinem Tod stellen muß. 4,1-40 (4,41-43): Durch die Wendung „Und nun, Israel" (4,1) wird ein Abschnitt eingeführt, der sich von dem vorhergehenden in Stimmung, Stil und Einstellung klar unterscheidet. Mose erscheint nicht mehr als (in der 1. Person Sing.) an der Volksgeschichte Mitwirkender, sondern als einer, der aus autoritätsbestimmter Ferne das Volk ermahnt und 45 lehrt. Die Erörterung vereinigt Beispiele aus der Geschichte (die Baal Peor-Episode und besonders die Offenbarung am Horeb) mit leidenschaftlicher Beredsamkeit und wird so zu einer der am direktesten formulierten theologischen Argumentationen in der Hebräischen Bibel. Das umfassende Ziel ist die Betonung der wesensmäßigen und bleibenden Identität Israels als eines Volkes, das im Besitz eines einzigartigen Wissens von Jahwe in einzigartiger 50 Weise berufen ist, unter den Völkern die Erhabenheit, freie Herrschaft und Vorsehung des einzigen Gottes zu bezeugen. Im Ganzen der Abschiedsrede ist 4,1—40 der Ubergang von den eigentlichen Erinnerungen des Mose zur Bekanntgabe des Gesetzes. ( 4 , 4 1 - 4 3 ist ein

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später erzählender Zusatz zu den Erinnerungen, der berichtet, daß M o s e östlich des Jordans drei Asylstädte bestimmt.) 2.2. Die mosaische Verfassung: 4,44-28,68. Die zweite Uberschrift ( 4 , 4 4 - 4 9 ) führt den Hauptteil des Buches ein; er wird zunächst als törä, beschrieben. 4,45 ist im jetzigen Text als epexegetisch zu verstehen (es könnte jedoch die älteste, im Hauptteil des Buches erhaltene redaktionell formulierte Überschrift sein); der Vers bestimmt den Inhalt der Verkündigung als „die Bundesbedingungen" (ha'edöt), hier offenbar in bezug auf die Bestimmungen des Dekalogs (vgl. 6,17.20 mit Ps 25,10), und als „die ein f ü r alle Mal festgelegten Gerichtsentscheide" (hahuqqim wehammispatim, wahrscheinlich ein Hendiadyoin), eine geprägte deuteronomische Bezeichnung für gesetzliche Bestimmungen (z.B. 4,14; 5,31; 6,1; 12,1; vgl. Ex 15,25). Diese zwei Wendungen sind passende Bezeichnungen für den Hauptinhalt, der in den ersten zwei Unterteilen der Verfassung geboten wird. 5,1 — 11,30: Dieser sehr rhetorisch und paränetisch gehaltene Abschnitt besteht größtenteils aus einer verwickelten Reihe predigtartiger Rückblicke, Ausblicke u n d Ermahnungen, die eindringlich das „ H a u p t g e b o t " (Lohfink) vom Horeb/Sinai H>Bund) entfaltet, d . h . die nachdrückliche Forderung von Israels ausschließlicher, unbeugsamer und immer wachsamer Treue zur göttlichen Herrschaft Jahwes. Die Wiederholung der Lehreröffnungsformel „Höre, Israel!" (5,1; 6,4; 9,1; vgl. Jes 1,2; 49,1; H o s 5,1; Prov 4,1) verweistauf die drei Unterteile. Im ersten Teil ( 5 , 1 - 6 , 3 ) wird die göttliche Verkündigung des —»Dekalogs am H o r e b dargestellt als die formelle Einführung des Bundesverhältnisses zwischen J a h w e und Israel. Die Gleichzeitigkeit des Bündnisses und die furchterregende Erfahrung der Gotteserscheinung werden ebenso betont (5,3—4.23—26) wie die Eingrenzung von Jahwes direkten Mitteilungen auf die Bestimmungen des Dekalogs (5,22). Das Hauptanliegen des Abschnitts ist die Einführung des M o s e als Bundessprecher für Jahwe, eine sowohl von Gott wie vom Volk bestätigte Rolle (5,23 - 3 1 ; vgl. 1 8 , 1 5 - 1 8 ; Ex 20,18 - 2 0 ) . Deshalb müssen die von Mose im Vollzug seines Auftrags verkündigten Gesetze als bindende Bundesverfassung, in Autorität dem Dekalog vergleichbar, angenommen werden ( 5 , 3 2 - 6 , 3 ; vgl. 5,1!). Der zweite Teil ( 6 , 4 - 8 , 2 0 ) ist eine beredte und gewichtige Z u s a m m e n f a s s u n g von Israels Bundesglaube und -theologie. Er beginnt mit dem Eröffnungsabschnitt des aus der jüdischen Liturgie b e k a n n t e n S c h e m a ' ( 6 . 4 - 9 ; vgl. mBer 1 , 1 - 3 , 6 ; —»Gottesdienst, —»Liturgie). Der H a u p t g e d a n k e ist Israels Verpflichtuugseid auf Jahwe. Darauf folgt der Befehl an Israel, Jahwe mit seiner ganzen Existenz und Fähigkeit zu lieben (6,4—5). Die folgenden Predigten beziehen sich auf die Auswirkungen dieses Bmdesgehorsams, besonders in bezug auf die militärischen, wirtschaftlichen und geic*'.k >en Herausforderungen durch die bevorstehende Einnahme des Landes (6,10- 15-5.1/-26; 8 Im dritten Teil ( 9 , 1 - 1 1 , 3 0 ) werden die gleichen Gl dthemen behandelt, nun aber besonders in bezug auf Israels frühere Widerspenstigkeit (9,( — 29) u n d auf bundesgebundenen Segen und Fluch ( 1 1 , 8 - 2 8 ) . 11,31—26,15: Der Mittelteil der Verfassung wird innerhalb der in der 2. Pers. gebotenen Moserede durch eine kurze Übergangseinheit ( 1 1 , 3 1 - 1 2 , 1 : Palistrophe) eingeführt; sie verweist auf die Bekanntgabe der „ein f ü r alle M a l festgelegten Gerichtsentscheide". G e m ä ß dem am H o r e b getroffenen Übereinkommen ( 5 , 2 7 - 3 1 ) werden diese gesetzlichen Bestimmungen grundlegend fii r den Bund; sie müssen daher treu von Israel erfüllt werden, wenn es im verheißenen Land lebt. Diese Gerichtsentscheide, literarisch zwar nur lose miteinander verknüpft, jedoch von verbindlichem Charakter (vgl. Luther; Calvin; Schulz 151 ff; Kaufman), erklären und ergänzen die Gebote des Dekalogs. (Als an das ganze Volk gerichtete normsetzende L e h n ist die Gesetzgebung vielfach durch die kasuistische „ W e n n du"-Formulierung charakterisiert, vgl. Gilmer; Greengus; Seitz 1 4 2 - 1 8 3 . ) Die Hauptunterteilungen werden durch zwei sich abwechselnde geprägte Formeln bezeichnet: „ W e n n J a h w e dein G o t t die Völker ausgetilgt h a t . . . " (ki-jakrit jhwh"lohäka 'ät-haggojim : 12,29; 19,1), und „ W e n n du [mit Erfolg] in das Land eingedrungen b i s t . . . " {[w'hajä] ki-tabö' äl-ha'aräs:

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17,14; 26,1). Im großen und ganzen befassen sich die ersten drei Abschnitte mit der Anwendung des ersten Teiles des Dekalogs (5,7—15), während der vierte Abschnitt sich mit der Befolgung der auf zwischenmenschliche Beziehungen gerichteten Gebote befaßt (5,16—21). Die erste Einheit (12,2—28) besteht aus einer Reihe von Unterweisungen, die den israelitischen Kult scharf umgrenzen, indem sie die jahwistischen Opferriten und damit zusammenhängende Begehungen auf den einzigen „Ort, den Jahwe [euer/dein Gott] erwählen wird", beschränken (12,5.11.14.18.21.26: sehr wahrscheinlich ein besonderer deuteronomischer Name für den Zion, der von der davidischen Erwählungstheologie abgeleitet ist; vgl. Ps 7 8 , 6 7 - 6 9 ; 1 3 2 , 1 3 - 1 4 mit z.B. I Reg 8 , 1 5 - 2 1 ; 11,36; II Reg 23,27). Die Forderung wird zuerst in unbedingter Form formuliert (12,2—7), indem sie die einzigartige Kultstätte Jahwes den vielen götzendienerischen Einrichtungen, die Israel bei der Landnahme zerstören muß, gegenüberstellt (vgl. 7,5; Ex 2 3 , 2 0 - 2 5 ; 3 4 , 1 1 - 1 6 ; Num 3 3 , 5 1 - 5 2 ) . Darauf folgen drei Ausführungsbestimmungen ( 1 2 , 8 - 1 2 . 1 3 - 1 9 . 2 0 - 2 8 ) , die sich mit spezifischen Folgen der Kultbeschränkung befassen. Die Gebote in der zweiten Einheit ( 1 2 , 2 9 - 1 7 , 1 3 ) werden zusammengehalten durch ihr Interesse an der Bekräftigung und Verherrlichung von Jahwes Herrschaft über das ganze israelitische Bundesvolk. Durch 1 2 , 3 0 - 3 1 angezeigt, steht hier der Schutz des gesellschaftlichen und religiösen Charakters Israels gegen vom Götzendienst verursachte Unreinheit im Mittelpunkt. Besonders werden die gerichtliche Verfolgung des Abfalls innerhalb Israels ( 1 3 , 2 - 1 9 ; 1 6 , 2 1 - 1 7 , 7 ) , erlaubte Nahrungsmittel ( 1 4 , 3 - 2 1 ; vgl. Lev 11,2-23[P]), kultische Abgaben und Feiern (14,22—29; 1 5 , 1 9 - 2 3 ; 1 6 , 1 - 1 7 ) und Beschränkungen der Schuldsklaverei ( 1 5 , 1 - 1 8 ) behandelt. Die dritte Gruppe von Geboten ( 1 7 , 1 4 - 1 8 , 2 2 ) ist für das Dtn charakteristisch und deshalb bemerkenswert, weil sie die Vorrechte derjenigen Israeliten sowohl bestimmt wie auch begrenzt, die auf Grund göttlicher und nicht nur menschlicher Erwählung Autoritätsstellungen innehaben sollen. (Das Hauptproblem scheinen die Sonderrechte zu sein, die 17,9—13 dem „Hohen Gericht" in Jerusalem gibt. Gemäß dem Dtn sind die Richter und Anwälte, denen die Ortsgerichtsbarkeit in Sachen Bundesrecht oblag, tatsächlich von ihren Mitbürgern gewählt: 16,18; vgl. 1 , 9 - 1 7 ; s. dagegen Ex 1 8 , 1 7 - 2 7 ; II Chr 1 9 , 5 - 7 . ) Obwohl hier eine sogar dynastisch bestimmte Monarchie legitimiert ist, wird der König gewissen Einschränkungen sowie der Verfassung allgemein unterworfen ( 1 7 , 1 4 - 2 0 ) . Die priesterliche Verwaltung, die in Israel wohl die mächtigste Verwaltungseinheit war, wird mit Erfolg daran gehindert, Besitz anzuhäufen. Andererseits werden die verbrieften Einkünfte und Rechte der levitischen Genossenschaften gesichert ( 1 8 , 1 - 8 ) . Wahrsager und Wahrsagerei haben in Israel überhaupt keine Existenzberechtigung ( 1 8 , 9 - 1 4 ) . Das Prophetentum mag zwar göttlich legitimiert sein, die Ansprüche einzelner Propheten müssen dagegen geschichtlich wie theologisch bestätigt werden ( 1 8 , 1 5 - 2 2 ; vgl. 1 3 , 2 - 6 ; auch Jer 1 4 , 1 3 - 1 5 ; 23,16-32; 27-28). Die vierte und zugleich größte Einheit ( 1 9 , 1 - 2 5 , 1 7 ) beschäftigt sich mit den Rechten und Pflichten des Menschen innerhalb der Bundesgemeinschaft. Ebensowenig wie die vorhergehenden Teile kann sie als systematisch geordnete Gesetzessammlung im modernen Sinn verstanden werden. Sie befaßt sich vielmehr nur mit bestimmten Aspekten des Zivil-, Militär-, Kult- und Strafrechts, die für das Bundesverhältnis bedeutsam sind, besonders mit solchen Aspekten, die Jahwes Sorge um die Unantastbarkeit und Wohlfahrt des Menschen beispielhaft beleuchten (vgl. z.B. 2 1 , 1 0 - 1 4 ; 2 3 , 1 6 - 1 7 ; 2 4 , 1 0 - 2 5 , 4 mit 1 0 , 1 8 - 1 9 ; Jes 3 , 1 3 - 1 5 ; Jer 7 , 5 - 7 ; Am 2 , 6 - 8 ) . Der kurze Abschlußteil ( 2 6 , 1 - 1 5 ) bezieht sich auf die Darbringung der Erstlinge am einzig legitimen Heiligtum (26,2—11) und den Reinigungseid, der mit der Zahlung des alle drei Jahre fälligen Zehnten verbunden ist ( 2 6 , 1 2 - 1 5 ; vgl. 1 4 , 2 8 - 2 9 ) . In beiden Riten werden die freie Herrschaft und die Vorsehung Jahwes in gezielter Weise als in Israels Volksleben offenbar aufgewiesen. 26,16—28,68: Eine allgemein gehaltene Ermahnung zum Gehorsam (26,16, wo die Formulierungen des Überleitungstextes 1 1 , 3 1 - 1 2 , 1 wiederkehren, vgl. besonders „am heu-

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tigen Tage") ist der Anfang des dritten und letzten Teiles, der sich mit Bundesbegehungen und -Sanktionen befaßt: Der Gelübdetausch zwischen Israel und Jahwe besiegelt den am Horeb eingegangenen Bund (26,17-19; vgl. 5 , 2 - 3 ) . Obwohl der Text von Zeit zu Zeit zu begehende Bundeserneuerungsriten spiegeln mag, geht es im jetzigen Zusammenhang um die formelle Anerkennung der Einbeziehung der mosaischen Verfassung in die grundlegende Bundesvereinbarung. Darauf (27,1—26) folgt die Beschreibung bestimmter ritueller Bestätigungen der Bundesverfassung, die offenbar von der Sichemtradition abgeleitet sind (vgl. 11,29—30 und Jos 8 , 3 0 - 3 5 ; 2 4 , 1 - 2 7 ) ; ihr Sitz im Kultleben, ihre Rolle im jetzigen Zusammenhang, ihre innere Ubereinstimmung und ihre Traditionsgeschichte sind noch nicht einleuchtend bestimmt. (Das ganze Kapitel scheint ein später deuteronomistischer Zusatz zu sein, möglicherweise außer den Sätzen 27,9—10, die einmal die Verbindung zwischen dem in 26,17— 19 beschriebenen Ritus und den Sanktionen, die mit 28,1 beginnen, herstellen sollten.) Die Verfassung wird durch eine umständliche und literarisch verwickelte Anrufung der mit dem Bund verbundenen Sanktionen beendet, den „Segnungen" (28,1 — 14) und den „Flüchen" (28,15—68), die den jetzt geschlossenen Horebbund schützen. 2.3. Hinterlegung des mosaischen Vermächtnisses: 28,69-32,52. Die dritte (redaktionelle) Überschrift (28,69 [29,1 LXX]) führt im jetzigen Text nicht nur den letzten Teil der Abschiedsrede des Mose an „ganz Israel" ein (29,1—30,20), sondern auch verschiedene zusätzliche letztwillige Verfügungen, die in einen erzählerischen Rahmen gesetzt sind (31,1-32,52). Diese Einheiten sind überschrieben „Die Angelegenheiten des Bundes [dibre habb'rit], die Jahwe dem Mose auftrug, bei den Israeliten im Lande Moab in Kraft zu setzen". Dieser Bund wird ausdrücklich von jenem unterschieden, den Jahwe und Israel am Horeb eingingen. Der Text dieses längeren „Moabbundes" ist eine redaktionelle Schöpfung, die aus literarischen Einzeltraditionen verschiedener Herkunft zusammengesetzt ist. Er wird zusammengehalten von dem Interesse an der feierlichen Übertragung des reichen mosaischen Erbes von Tora, —>Charisma und prophetischem Zeugnis an die Israeliten, die ohne Mose in das verheißene Land einziehen. 29,1-30,20: Diese Moserede ist eine rhetorische Entfaltung des Bundesformulars (Baltzer 4 3 - 4 5 ; McCarthy: AnBib 2 1 , 1 3 6 - 1 4 0 ) ; in Sprache und Theologie steht sie 4 , 1 - 4 0 nahe und scheint mit diesem Text eine (von einem exilischen deuteronomistischen Redaktor verfaßte) Klammer um die im Buch gebotene Verfassung zu bilden. Aber schon 29—30 sind uneinheitlich, wie die zwei verschiedenen Einstellungen zum Bundesverhältnis, die sich dort finden, zeigen. Besonders im ersten Teil der Rede (29,1-19) erscheint das Vertragsformular (vgl. „dieser Bund und dieser eidliche Vertrag", 29,13 mit 29,8.11.18) von Mose für Jahwe (vgl. 29,4—5.13) der ganzen Versammlung Israels übergeben. Hier tritt eine Generation von Israeliten, die Gottes Gnade in der Wüste erfahren hat, offenbar zum ersten Mal in ein formelles Verhältnis zu Jahwe ein. Während von Israels eidlicher Gehorsamsverpflichtung, allein Jahwe zu dienen, die Rede ist (29,16-17), findet man hier keine Reihe von Bundesgeboten. Die Theologie ist eine andere im zweiten Teil der Rede (29,20ff). Die Rede ist nicht nur viel kunstvoller gehalten, sie setzt auch voraus, daß der Moabbund die mosaische Verfassung Dtn 4 , 4 4 - 2 8 , 6 8 (vgl. 29,20.26; 30,8-11.16) enthält. Darüberhinaus handelt es sich nicht mehr um die ursprüngliche Inkraftsetzung des Bundes, sondern um eine Anrede an Menschen, die im Exil leben und so schon die Verwirklichung der bereits schriftlich vorliegenden Bundesflüche erfahren haben ( 2 9 , 2 1 - 2 7 ; 3 0 , 1 - 1 0 ) . 31,1-32,52: Diese redaktionelle Einheit ist verwickelter als die vorhergehenden; sie verflicht neue Fäden mit denen, die aus den vorhergehenden Texten kommen. Die literarische Schicht, zu der 29,1 — 19 gehört, wird offenbar in 31,1 wiederaufgenommen. Sie setzt sich fort mit einer Erzählung der Einsetzung Josuas als Moses Nachfolger (31,2-8), von einer noch älteren Tradition in 31,14—15.23 (wahrscheinlich E) ergänzt.

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Darauf folgt das —»Moselied ( 3 2 , 1 — 4 3 ) innerhalb seines komplizierten literarischen Rahmens ( 3 1 , 1 6 - 2 2 . 3 0 ; 3 2 , 4 4 - 4 6 a . 4 7 ) . Die ,,Tora"-Schicht(en) des vorhergehenden Moabbund-Abschnitts wird hier durch zusätzliche Einheiten ( 3 1 , 9 - 1 3 . 2 4 - 2 9 ; 3 2 , 4 6 b) vertreten; sie umreißen die Rolle der mosaischen Verfassung in Israels Zukunft. Der Abschnitt schließt mit einer späten Ergänzung, die Moses bevorstehenden T o d anzeigt ( 3 2 , 4 8 - 5 2 ; vgl. N u m 2 7 , 1 2 - 1 4 [P]). 2.4. Moses Weggang: 33,1-34,12. Die letzte Uberschrift im Buch führt „den Segen [habb'rakä], mit dem Mose, der M a n n Gottes, die Israeliten (unmittelbar) vor seinem Tode segnete", ein (—»Mosesegen). 33,2-29: Der Segen selbst ist ein archaisches poetisches Werk, das sowohl geschichtliche wie liturgische Bedeutung hat. In seiner jetzigen F o r m ist es wahrscheinlich im frühen 10. Jh. formuliert worden; es mag ältere Bestandteile enthalten (vgl. C r o s s / F r e e d m a n ; Labuschagne: OTS 19). Das Gedicht ist besonders bemerkenswert hinsichtlich des im Dtn selbst enthaltenen Stoffes, weil es Hinweise auf tora im eigentlichen Sinne enthält, d . h . als bindende „Verfassung", die M o s e Israel gab ( 3 3 , 4 ) und die Moses levitische Nachfolger späteren Generationen lehrend weitergeben ( 3 3 , 1 0 ) . 34,1-12: Das letzte Kapitel ist eine redaktionelle Komposition, die wahrscheinlich die gleichen Erzählfäden wie 3 1 — 3 2 enthält; sie können hier aber kaum mit Sicherheit ausgegrenzt werden. Hier werden Moses Aufstieg auf den —>Nebo und seine Sicht des verheißenen Landes erzählt ( 3 4 , 1 — 4 ; vgl. 3 2 , 4 8 — 5 2 ) , sein T o d selbst und sein geheimnisvolles Begräbnis ( 3 4 , 5 — 7 ) , Israels Trauerperiode ( 3 4 , 8 ) und die Anerkennung Josuas als Moses Nachfolger durch das Volk ( 3 4 , 9 ) . Das abschließende Epitaph ( 3 4 , 1 0 - 1 2 ) betont wie von weiter Ferne die dauernde Vorrangstellung des Werkes des Mose, und gleicht so einem Kolophon für den vollendeten Pentateuch (vgl. 1 8 , 1 5 - 1 8 mit Mal 3 , 2 2 - 2 4 ) . 3. Komposition

und

Herkunft

3.1. Forschungsgeschichte. Die wissenschaftliche Erforschung der Herkunft und der Traditionsgeschichte des Dtn wurde im großen und ganzen von den von —>De Wette am Anfang des 19. Jh. gemachten Beobachtungen bestimmt. Er stellte zunächst fest, daß das Dtn ein selbständiges literarisches Werk ist, das sich seinem Inhalt nach nicht den Quellenschriften des übrigen Pentateuch zuordnen läßt. Er beobachtete weiterhin, daß das Dtn, obwohl es erzählende und gesetzliche Traditionen in Gen-Num voraussetzt, stilistisch und thematisch enger mit den redaktionellen Schichten der ihm folgenden Bücher der „Frühen Propheten" zusammengehört. Schließlich führte er aus, daß die für das Dtn charakteristischsten Teile der Gesetzgebung, besonders die, die sich auf die geforderte Kulteinheit beziehen, klar den Reformen entsprechen, die dem am Ende des 7. Jh. lebenden König Josia zugeschrieben wurden (II Reg 2 2 , 3 - 2 3 , 2 5 ) . Diese Ähnlichkeit brachte De Wette, wie andere Forscher vor ihm, zu der Annahme, daß zumindest Teile des jetzigen Dtn mit dem Buch der Tora/des Bundes gleichgesetzt werden können, das im 18. Regierungsjahr Josias (622 v. Chr.) im Jerusalemer Tempel entdeckt worden sein soll. - In der 2. Hälfte des 19. Jh. haben vor allem Kleinert und Klostermann wichtige Beiträge zur literarischen Erforschung des Dtn geleistet. Sie wurden aber damals von der meisterhaften Rekonstruktion Julius —>Wellhausens überschattet. Sich etwas dogmatisch auf die drei Beobachtungen De Wettes stützend, kam Wellhausen zu dem Ergebnis, daß das Dtn den entscheidenden Mittelpunkt in der Entwicklung der altisraelitischen Religion darstellt. Er nahm an, daß das Buch eine Kodifizierung prophetisch bestimmter Theologie und Soziallehre und als solche die Übergangsstufe von den verschiedenen religiösen Ansichten und Bräuchen des frühen Jahwismus zu dem starr festgelegten Sakralethos des nachexilischen Judentums (wie es sich besonders in der —»Priesterschrift niedergeschlagen hat) ist. Nach Wellhausen enthält das Dtn zumindest den wesentlichen Inhalt des josianischen Gesetzbuches (Dtn 1 2 - 2 6 ) , das jetzt von einem literarisch späteren, mahnenden und erzählenden Rahmen umgeben ist. Er nahm an, daß das Gesetzbuch erst kurz vor seiner „Entdeckung" entstanden und als Programm für die Reform bestimmt war. Seit Wellhausen lassen sich verschiedene, ineinander übergreifende Phasen in der kritischen Erforschung des Dtn erkennen. Besonders Steuernagel, Staerk, Puukko, Hempel und Hölscher repräsentieren die erste Phase; sie versuchten, meist in eingehender stilistischer Analyse, die verschiedenen Stufen im Wachstum des Dtn herauszuarbeiten. Obwohl es ihnen zu zeigen gelang, daß das Buch in einer langen Zeitspanne entstanden ist und ein komplizierteres literarisches Werk darstellt, als Wellhausen es angenommen hatte, wurden ihre Ergebnisse nicht allgemein akzeptiert. Im Gegenteil, das wichtigste Ergeb-

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nis ihrer Arbeit war, daß sie die Zuversicht untergrub, durch literarkritische Analysen die Urform des Dtn je wiederfinden zu können. Eine zweite Forschungsphase, jetzt mehr an form- und traditionsgeschichtlichen Fragestellungen orientiert, begann in den Jahrzehnten nach dem 1. Weltkrieg. Das Interesse galt mehr den vor-josianischen Stufen der Kerntraditionen des Dtn. Hier ist besonders die Forschung von A. C. Welch zu erwähnen, der auf die inhaltlichen Beziehungen zwischen Dtn und den Nordreichtraditionen von E, Hosea und Jeremia hinwies. Diese Beobachtung führte ihn zu der Annahme, daß das Gesetz im wesentlichen zuerst in Ephraim Gestalt annahm, möglicherweise schon im 10. Jh. Seine These war dann, daß der zugrundeliegende Text den Leviten als Handbuch für die Laienunterweisung während des heftigen Kampfes des Jahwismus gegen den Baalismus diente. Nach dem Fall des Nordreiches kam das Werk nach Jerusalem, wo es in nach-josianischer Zeit erweitert und in seinen jetzigen Rahmen gesetzt wurde. In ähnlicher Weise war die Herkunft des ursprünglichen Gesetzbuches aus dem Norden - aber als Programm für kultische Reform konzipiert - die These Dumermuths und Alts. Andererseits nahm Friedrich Horst an, daß die Urform wenigstens von Dtn 1 2 - 1 8 ein frühes Jerusalemer Tempeldokument gewesen sei, ein dekalogartiges „Privilegrecht Jahwes", das später durch vier redaktionelle Schichten erweitert wurde. Am einflußreichsten aber wurden in dieser Phase die einander ergänzenden Beiträge Gerhard von —»Rads und Martin —»Noths. Die ein halbes Jahrhundert vorher von Klostermann literarkritisch gewonnenen Einsichten voraussetzend, schlug v. Rad (Problem) vor, daß Dtn 6 - 3 0 in seiner faßlichen Form und seinem überwiegend mahnenden Charakter (vgl. Breit) auf den kultischen Ursprung der verarbeiteten Traditionen hinweist. Obwohl v. Rad diese Kapitel als „barocke" Sammlung von redaktionell erweiterten Predigten, Gesetzesbestimmungen und Liturgien ansah, betonte er, daß sie nicht aufs Geratewohl zusammengestellt wurden, sondern Dtn 3 1 , 9 - 1 3 entsprechende, periodisch begangene Bundeserneuerungsriten widerspiegeln. So sind Dtn 6 - 1 1 allgemeine Mahnungen zur Treue, 1 2 , 1 - 2 6 , 1 5 paränetische Verkündigung des Gesetzes, 2 6 , 1 6 - 1 9 die liturgische Bestätigung des Bundesschlusses und Dtn 2 8 - 3 0 verschiedene Rezitationen von Segen und Flüchen, die den erneuerten Bund einschärfen. Noths Hauptbeitrag war die Analyse von Form und Funktion des äußeren Rahmens des Buches (Studien). Die ursprüngliche deuteronomische Sammlung umfaßte nach ihm nur Dtn 5—30. Die Anfangskapitel ( 1 - 3 ; 4) und der erzählende Schluß (31—34, jetzt mit tetrateuchischem Stoff erweitert) sind das selbständige Werk eines exilischen „deuteronomistischen" Autors und wurden als erster Teil eines bis II Reg 25 reichenden Geschichtswerkes entworfen (s. u. Abschn. II.). Nach Noth wurde das so gerahmte Dtn später von dem deuteronomistischen Werk gelöst und dem Tetrateuch in oberflächlicher Weise angehängt, um den jetzigen Pentateuch zu schaffen. Die weithin angenommenen und kombinierten Ergebnisse v. Rads und Noths haben die Wissenschaft zu De Wettes weitreichender Sicht der Kompositionsgeschichte des Dtn zurückgelenkt und in den letzten Jahrzehnten eine dritte Phase eingeleitet. Obwohl die neuere Forschung eklektisch verfährt und zu sehr verschiedenen Sichten der Struktur(en) und der Herkunft des Buches neigt, lassen sich zwei Tendenzen umreißen: Grundlegend für die erste Tendenz ist die Erforschung der literarischen Formen, der Rhetorik, der Gesetze und der Theologie des Buches im Licht der aus dem alten Orient stammenden Quellen, besonders der internationalen Verträge, der Treueide («¿¿-Vereinbarungen), und der „Gesetzeskodices". Mendenhalls wegweisende Studie (vgl. schon E. Bickerman, Couperune alliance: AHDO 5 [ 1 9 5 0 - 5 1 ] 133 — 156) zeigte, daß ein Formular der hethitischen Verträge des 2. Jt. v. Chr. sich in den frühen israelitischen Bundestexten spiegelt (z.B. dem Dekalog und Jos 24,1 - 27), aber im Dtn nur in Resten zu finden ist. Es gestaltete das schon von v. Rad bemerkte Schema und erwies den liturgischen Site im Leben der Kerntraditionen des Buches. Eine extreme Position (Kline; ähnlich Kitchen und Craigie) läßt das hethitische Formular die Einheit und das mosaische Alter des ganzen Dtn beweisen. Hier werden aber der formale und literarische Charakter des jetzigen Textes übersehen und Vergleichsmöglichkeiten verzerrt. Andererseits hat Weinfeld ausgiebig keilschriftliche Quellen zur Stützung seiner These herangezogen, daß die Struktur, die Phraseologie und die lehrmäßige Ausrichtung des Dtn auf seine Herkunft aus Schreiberschulen hinweisen. Diese gehörten dem Jerusalemer Königshof an und waren mehr von den assyrischen Formularen des 8. und 7. Jh. als von älteren hethitischen beeinflußt (Traces; Deuteronomy). Andere Forscher (besonders Baltzer; McCarthy, Treaty; Moran, Background; Hillers und Frankena) haben eine religionsgeschichtlich-vergleichende Methode benutzt, um soziologische und theologische Sachverhalte zu erforschen und viele Einzeltexte zu erhellen. Dadurch wurden die erstaunliche Tiefe der Traditionen des Buches wie auch der umfassende und lebendige Charakter des das Buch bindenden Bundesbegriffes klarer. Das Dtn kann so weder als Text einer alten Vereinbarung noch als eindimensionales, auf schmaler Basis stehendes Kultzentralisationsprogramm angesehen werden. Die zweite Forschungsrichtung war die erneute Betonung des Buches als eines sowohl verwickelten wie auch künstlerisch gestalteten Werkes. (Z.T. war das ein Korrektiv zu den manchmal bedenklichen Versuchen der älteren Formkritiker, schnell hinter dem Text Idealformen in meist hypothetischen Stufen mündlicher Uberlieferung anzunehmen.) G. Minette de Tillesse hat die Unterscheidung zwischen

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der 2. Person Sg. und PI. der mosaischen Rede als Maßstab für die Differenzierung literarischer Schichten im Buch wieder eingeführt. Obwohl er Noths These der exilischen Einfügung der deuteronomischen Tradition in das deuteronomistische Werk verfeinern wollte, brachte seine Arbeit das ungewollte Ergebnis, die zwingend scheinende Einfachheit von Noths Einsichten in die Struktur des Buches in Frage zu stellen, weil jetzt große deuteronomistische Blöcke innerhalb des deuteronomischen Werkes Dtn 5 - 3 0 angenommen werden mußten. Die Infragestellung der These Noths wurde deutlicher im Werk von Henri Cazelles (Passages), der zu dem Ergebnis kam, daß ein in der 2. Person Sg. gehaltener Erzählfaden, der das erweiterte Gesetzbuch Dtn 5 - 3 0 einleitet, der exilischen deuteronomistischen Redaktion von Kap. 1—4 zugrundeliegt. So wurde die formkritische Unterscheidung zwischen deuteronomischen und deuteronomistischen Kompositionen, für Noths und v. Rads Interpretationen grundlegend, verwischt und fast unbrauchbar; „deuteronomisch" und „deuteronomistisch" erschienen nur noch als zwei Stadien eines redaktionellen Kontinuums, durch gewisse theologische Akzentsetzungen wie auch stilistische Eigenheiten voneinander unterschieden. Einen anderen literaranalytischen Zugang zum Dtn benutzten Moran und Lohfink. Beide waren von den stilkritischen Studien Schökels beeinflußt. Die Beachtung der Feinheiten und der Andeutungen der deuteronomischen formularischen Sprache (die auch die Unterscheidung zwischen 2. Person Sg. und PI. relativiert) führte zum Aufweis von grundlegenden rhetorischen Strukturen innerhalb der deuteronomisch/deuteronomistischen Paränese und Erzählung. Dies hat wiederum zur schärferen Erfassung der exegetischen und traditionsbedingten Eigenart dieser Literatur geführt (z. B. die Abhängigkeit von Dtn 2 , 4 - 2 5 von Ex 15,13 - 1 6 , die Moran aufgewiesen hat [Bib. 44]). Obwohl Lohfink mehrere Phasen literarischer Kristallisation innerhalb der größeren Teile des Dtn annimmt, erscheint das Buch doch in seiner Sicht mehr als eine geordnete Sammlung von Einzeltexten, jeder in sich selbst vollständig, denn als eine durch verschiedene Stufen redaktioneller Erweiterung und Uminterpretation gewachsene Grundtradition. Zum großen Teil auf Lohfinks Werk fußend und ihn weiterführend, sind eingehende literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchungen erschienen (Plöger; Merendino; Seitz; Mittmann; Peckham; Levenson; Garcia Lopez; Braulik: Bib. 59; vgl. auch Radjawane und Rose). Die Ergebnisse dieser Analysen sind nicht miteinander in Einklang zu bringen; die Zukunft wird erweisen, ob die vorgeschlagenen Theorien literarischer Schichtung mehr zu überzeugen vermögen als die entsprechenden Analysen von Steuernagel und anderen am Anfang des Jahrhunderts. 3.2 Kritische Würdigung. T r o t z wichtiger Unterschiede sind sich die zeitgenössischen Ausleger des Dtn über die Hauptzüge seines literarischen Werdens einig. W a s dessen Anfänge betrifft, ist seit langem anerkannt, daß die deuteronomische Tradition nicht nur bestimmte, im —»Bundesbuch erhaltene Gesetze interpretiert (vgl. z . B . E x 2 1 , 1 - 1 1 mit Dtn 1 5 , 1 2 — 1 8 , und E x 2 3 , 4 — 5 mit Dtn 2 2 , 1 — 4 ) , sondern auch den jetzigen redaktionellen Rahmen jener früheren Gesetzessammlung in E voraussetzt (vgl. E x 2 0 , 2 2 — 2 6 ; 2 3 , 2 0 — 3 3 mit Dtn 7 , 1 — 5 . 1 2 — 2 6 ) . Zudem treten viele sprachliche und thematische Verbindungslinien zwischen Hos und Dtn hervor (vgl. z . B . H o s 6 , 7 mit Dtn 1 7 , 2 und Hos 13,4—8 mit Dtn 8 , 1 1 — 2 0 ; vgl. die Liste Weinfelds [Deuteronomy 3 6 6 — 3 7 0 ] ) . Es scheint, daß besonders in kultischer Hinsicht die von —»Hosea aufgeworfenen Fragen im Dtn gesetzlich geregelt wurden (vgl. H o s 4 , 1 1 - 1 3 . 1 7 - 1 9 ; 8 , 1 1 - 1 3 ; 1 0 , l - 2 m i t D t n 1 2 , 2 - 3 1 ) . Dies zeigt, daß wenigstens eine kontinuierliche Tradition, vielleicht sogar direkte Abhängigkeit vorliegt (vgl. Wilson 2 2 7 ) . Neuere Untersuchungen haben weiterhin zunehmend klar gemacht, daß die Vorstufen der charakteristischen deuteronomischen Redeweise und des deuteronomischen Sozialethos schon in der vor-priesterlichen Schicht der tetrateuchischen Redaktion erkennbar sind — jener Schicht, die offenbar die vereinigten J- und E-Schichten ergänzt und sich besonders die Einfügung der frühen Sinai/Horeb-Traditionen des Bundesschlusses angelegen sein läßt (z.B. E x 1 3 , 3 - 1 6 ; 1 9 , 3 - 9 ; 3 2 , 7 - 1 4 ; 3 4 , 1 0 - 2 7 ; vgl. bes. Brekelmans [VT.S 15]; Caloz; Phillips; Halbe: F R L A N T 1 1 4 ) . Diese Argumente machen für die spezifisch deuteronomisch ausgerichteten und formulierten Traditionen die Herkunft aus dem Jerusalem des 8. Jh. wahrscheinlich. (Frühere Traditionen und Quellen des Dtn mögen viel älter und, z . T . wenigstens, nicht-jerusalemischer Herkunft sein. Die Erhellung ihrer früheren Traditionsgeschichte ist kaum mehr möglich.) Wie N o t h u . a . erkannt haben, ist der terminus ad quem der jetzigen Gestalt des Dtn der Abschluß des —»Pentateuch als einer selbständigen Einheit in der biblischen Tradition. Dies geschah wahrscheinlich nicht später als in der 1. Hälfte des 4 . Jh. Das abschließende Mose-Epitaph ( 3 4 , 1 0 — 1 2 ) ist wohl dieses Datums, weil es die pentateuchische Erzählung von Moses „prophetischen" W o r t e n und Taten von der fertigen Sammlung der kanonischen

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Prophetenschriften zu unterscheiden scheint (vgl. Blenkinsopp 8 0 - 9 5 ) . Die Einfügung des Dtn in das chronologische und geographische Schema der P-Erzählung scheint auf eine Redaktion in persischer Zeit zurückzugehen (vgl. Dtn 1 , 3 ; 3 2 , 4 8 — 5 0 ; 3 4 , 1 — 8 mit N u m 2 2 , 1 ; 2 7 , 1 2 - 1 4 ; 3 6 , 1 3 ) . T r o t z der Möglichkeit späterer Hinzufügungen (vgl. z.B. 4 , 4 1 - 4 3 ; 1 0 , 6 - 7 ; 1 1 , 2 9 - 3 0 ) steht fest, daß innerhalb der Haupteinheiten des Buches selbst die jüngste Redaktionsschicht auf Israel im Exil bezogene deuteronomisch/deuteronomistische Züge trägt. Diese Schicht ist jedenfalls in Kap. 4 und 2 8 - 3 0 greifbar (besonders 4 , 2 8 - 3 1 ; 2 8 , 3 6 - 3 7 . 6 4 - 6 7 ; 2 9 , 2 7 ; 3 0 , 1 - 1 0 ) und vielleicht mit einer aus der Mitte des 6. Jh. stammenden Redaktion des D t r G . zu verbinden (vgl. Wolff, Kerygma 1 8 2 f ; Cross). Ein weiteres Argument für diese zeitliche Ansetzung sind die vielen Elemente in der Prosa und der Dichtung des —>Jeremiabuches, die den voll entwickelten Stil des Dtn und dessen Bundestheologie, wenn nicht gar das fertige Dtn selbst, voraussetzen (z.B. 3 , 1 — 1 3 ; 1 1 , 1 - 1 7 ; 3 1 , 2 9 - 3 4 ; vgl. die von Weinfeld, Deuteronomy 2 7 - 3 2 . 3 2 0 - 3 6 1 , zusammengestellten Beziehungen). Kurzum, man kann mit einiger Sicherheit die Hauptstadien der Kompositionsgeschichte des Buches in die zwei Jahrhunderte zwischen dem Fall Samarias ( 7 2 1 v. Chr.) und dem Beginn der judäischen Restauration (ca. 5 3 5 v. Chr.) datieren. - Eine mehr ins Einzelne gehende Analyse ist z. Z t . schwerlich möglich. Jedenfalls waren die Zeit —>Josias und ihre direkte Nachwirkungsperiode die entscheidende Zeit für die Gestaltung des Buches. 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Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule

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2 3 - 3 8 . - D e r s . , Text History ofthe Greek Deuteronomy, 1978 (AAWG.PH 3/106; MSU 1 3 ) . - J o a n n e N . M . Wijngaards, The Formulas ofthe Deuteronomic Creed (Dt. 6 / 2 0 - 2 3 : 2 6 / 5 - 9 ) , Tilburg 1 9 6 3 . Hans Wildberger, Jahwes Eigentumsvolk. Eine Studie zur Traditionsgesch. u. Theol. des Erwählungsgedankens, 1960 (AThANT 37). - Robert R. Wilson, Prophecy and Society in Ancient Israel, Philadelphia 1980. - Hans Walter Wolff, Kerygma (s. u. Abschn. II). - G. Ernest Wright, The Lawsuit of God. A Form-critical Study of Dm 32: Israel's Prophetic Heritage. FS James Muilenburg, New York 1962, 2 6 - 6 7 . - Ders., The Levites in Deuteronomy: V T 4 (1954) 3 2 5 - 3 3 0 . - E r n s t Wiirthwein, Die Josianische Reform u. das Dtn: ZThK 73 (1976) 3 9 5 - 4 2 3 . - S. Yeivin, Social, Religious and Cultural Trends in Jerusalem under the Davidic Dynasty: V T 3 (1953) 1 4 9 - 1 6 6 . - Joseph Ziegler, Zur SeptuagintaVorlage im Dtn: ZAW 72 (1960) 2 3 7 - 2 6 2 . - Walther Zimmerli, Der „Prophet" im Pentateuch: Stud, zum Pentateuch. FS Walter Kornfeld, Wien 1977, 1 9 7 - 2 1 1 . S. Dean McBride, Jr.

II. Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule 1. Die These des deuteronomistischen Geschichtswerkes und der deuteronomistischen Schule 2. Das deuteronomistische Geschichtswerk 3. Die deuteronomistische Schule (Literatur S.552) 1. Die These des deuteronomistischen Schule

Geschichtswerkes

und der

deuteronomistischen

Die biblische Forschung hat in den Frühen Propheten (Jos, Jdc, I/II Sam, I/II Reg), im Tetrateuch (—»Pentateuch) und in mehreren Büchern unter den Späteren Propheten redaktionelle Schichten nachgewiesen, die bestimmte Merkmale haben: spezialisierter Wortschatz, stereotype Phraseologie, kompositorische Prinzipien und theologische Perspektiven. D a diese den „deuteronomischen" (dtn) von Dtn 4 , 4 4 — 3 0 , 2 0 in vielem gleich oder ähnlich sind, ohne sich mit ihnen zu decken, hat sich das Adjektiv „deuteronomistisch" (dtr) als ihre Bezeichnung eingebürgert, wobei zu bedenken ist, daß diese auf die N ä h e zu Dtn weist, nicht aber dessen Herkunft daraus impliziert (s. o. Abschn. I). M . —»Noths redaktionsgeschichtliche Studie über das deuteronomistische W e r k wurde grundlegend. Seine These, daß es sich in Dtn — II Reg nicht nur um Sammlerarbeit, sondern um eine bewußte und weitgreifende literarische und theologische Gestaltung aus Israels Exilszeit handelt, ist im deutschen und nordamerikanischen R a u m weitgehend angenommen worden und hat Noth zum „Vater des dtr Geschichtswerkes" gestempelt (O. Eißfeldt, Einl. in das AT, Tübingen 2 1 9 5 6 , 2 9 1 ) . Die so neu angeregte redaktionsgeschichtliche Forschung hat in anderen Büchern des Alten Testaments, namentlich im Tetrateuch und bei Jer (—»Jeremia/Jeremiabuch), weitreichende deuteronomistische Redaktionsarbeit nachgewiesen. Das gleiche gilt von nach-alttestamentlichen jüdischen und christlichen Schriften. So ist die Erforschung der deuteronomistischen Literatur und Tradition zu einem wachsenden Forschungszweig geworden, erlaubt aber noch nicht eine abschließende Darstellung. 2. Das deuteronomistische 2.1. Aufbau

- Die Gegenwart

Geschichtswerk Jahwes

in

Israel

Die durch Mose vermittelte Gegenwart Jahwes (Dtn 1,1 - Jdc 2,10) Moses Vorbereitung der Israeliten für ihre Übernahme des Landes Kanaan (Dtn 1,1—32,52) Moses Segnung der israelitischen Stämme und ihre Erfüllung durch die Seßhaftwerdung (Dtn 3 3 , 1 - J o s 21,45) Josuas letzte Worte, der Bund von Sichern und die Koexistenz mit den Kanaanäern (Jos 2 2 , 1 - J d c

2,10)

Die Gegenwart Jahwes als Herrscher über Israel (Jdc 2,11-1 Sam 12,25) Israel unter von Jahwe berufenen Rettern (Jdc 2 , 1 1 - 8 , 3 5 ) Israel unter einem selbstberufenen König (Jdc 9 , 1 - 5 7 ) Israel unter von Jahwe berufenen Richtern (Jdc 10,1-1 Sam 12,25) Die Gegenwart Jahwes und Israels Könige (I Sam 13,1-H Reg 25,30) Israel und Juda unter Saul (I Sam 13,1-11 Sam 1,27) Juda und Israel unter David und Salomo (II Sam 2,1-1 Reg 11,43) Die Königreiche von Israel und Juda (I Reg 12,1-H Reg 25,30)

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Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule

2.2. Die deuteronomistischen

Redaktionen

2.2.1. Noth ( 3 - 6 . 1 0 0 - 1 1 0 ) zeigt, daß die literarische Einheitlichkeit des Werkes zunächst im spezialisierten Wortschatz und in der stereotypen Phraseologie der redaktionellen Texte hervortritt, z. B. in Wendungen, die den Namen Jahwes mit Stadt und Tempel Jerusalems verbinden (Dtn 12,11; II Sam 7,13; I Reg 3,2; 8,16; 9,7; II Reg 21,4) oder die Hinwendung des Menschen zu Jahwe „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft" fordern (Dtn 4,29; 6,5; Jos 22,5; II Reg 23,25; s. die Liste von 187 Wörtern und Wendungen bei Weinfeld, Appendix A). Die literarisch-theologische Einheitlichkeit erweist sich sodann in der Art, in der der Redaktor an geschichtlichen Wendepunkten seiner Erzählung Reden, Gebete und Kommentare bietet, die vorwärts wie rückwärts weisen und so das Ganze binden, wie die Rede —»Moses vor der Verkündigung des Gesetzes (Dtn 1 - 3 ; 4; s. o. Abschn. 1.2.1), Jahwes Anweisung an —>Josua für die Einnahme des Landes (Jos 1,1—9), die letzten Worte Josuas (Jos 2 3 , 1 - 1 6 ) , das Vorwort zur Richterzeit (Jdc 2,6-3,6), das Testament —»Samuels (I Sam 12,1—35), das Tempelweihgebet —»Salomos (I Reg 8,14—53) oder das Nachwort zum Fall —»Samarias (II Reg 17,7-23). Schließlich zeigt Noth, daß eine bestimmte Geschichtsauffassung das Werk durchzieht; sie ist getragen von der Absicht, die Zerstörung des Tempels und der Stadt als durch Israels Ungehorsam verursacht zu erweisen (I Reg 9,8 f). 2.2.2. Ausgehend von der Untersuchung Noths, die in vielem von der von ihm unabhängigen Monographie Jepsens bestätigt, vertieft und weitergeführt wurde, hat die Forschung sich besonders den literarischen und theologischen Spannungen innerhalb des Werkes zugewandt (s. die Berichte von Jenni [bis 1960] und Radjawane [bis 1973]). Einige Forscher nehmen mehr als eine Redaktion an. So schlägt Cross eine josianische und eine exilische Redaktion vor (Dtr 1 , Dtr 2 ), während Smend, Dietrich, Veijola und Roth drei literarisch aufeinanderfolgende Redaktionen annehmen. Ihre Analysen befassen sich mit Texten, die das Gesetz Moses und die im Lande zurückgebliebenen Völker behandeln (Smend, Gesetz), die Einund Absetzung von königlichen Dynastien beschreiben (Dietrich), „die ewige Dynastie" Davids und das Königtum in Israel schlechthin darstellen (Veijola) und die Vorstellung von der von Jahwe geschenkten Ruhe Israels bieten (Roth). Die Erforschung dieser Texte zeigt, daß das historiographisch orientierte und literarisch erste Werk (DtrG) durch den prophetisch ausgerichteten Redaktor wesentlich erweitert und umgestaltet wurde (Dtr?) und daß schließlich ein am Gesetz Moses orientierter nomistischer Redaktor (DirN) dem Werk seine jetzige Gestalt gab, von nach-deuteronomistischen Zusätzen abgesehen. 2.2.3. DtrG hat als der literarisch erste Deuteronomist dem ganzen Werk die umfassende und ordnende historiographische Struktur gegeben, in die seine beiden Nachfolger ihre Redaktionen einfügten. Für die Periode von Salomo bis Josia (—»Königtum) verweist er seine Leser regelmäßig auf die königlichen Chroniken als Quellen weiterer Information (z. B. I Reg 11,41; 14,19.29; vgl. Jos 10,13). Nach Noth und Jepsen lagen ihm darüber hinaus auch noch andere Quellen wie Tempelurkunden und Heiligtumslegenden vor. Was ihn über die königlichen Chroniken hinausgehen läßt, ist seine Absicht, die von dort übernommenen Nachrichten zu einer Legitimation des —»Tempels in Jerusalem zu gestalten, der durch die Ereignisse im Jahre 587 v. Chr. schwer betroffen worden war (—»Exil, —»Geschichte Israels). War er noch der Ort der Gegenwart Jahwes, trotz der Zerstörung des Tempelgebäudes, die die Ohnmacht der Institution zu beweisen schien? DtrG stellt den Tempel und seine Rolle ins Licht des Tempelweihgebetes Salomos und der göttlichen Antwort, die dem Tempelerbauer zuteil wurde (I Reg 8,27-30.51—53; 9,1-9). Der König betete damals, daß Jahwes „Augen offenstehen über diesem Haus Tag und N a c h t . . . für das Flehen" seiner Knechte „in allem, worum sie dich anrufen". „Ja, du wollest es hören an der Stätte, da du thronst, im Himmel." Falls die Israeliten aber ungehorsam werden, werde Jahwe ihnen das Land Kanaan nehmen und den Tempel verwerfen. Das bedeutet aber nicht, daß Jahwes Gegenwart für sein Volk an den Bestand des Tempels und den Besitz des Landes gebunden ist. Im fremden Land steht ihnen der Zugang zur göttlichen Gegenwart offen, wenn sie zu Jahwe beten, „nach ihrem Lande gewandt" (I Reg 8,48). Sowenig die Zerstörung des Tempels

Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomisrische Schule

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Jahwes Gegenwart beendet, so wenig beendet das Exil der beiden Dynastien —»Davids und —»Zadoks deren königliche und priesterliche Rollen in Israel. Im Gegenteil, beide Häuser erfreuen sich der göttlichen Zusage ewigen Bestandes (I Sam 2,36; II Sam 7,16); die ehrenvolle Rehabilitierung des exilierten Königs von Juda beweist dies erneut (II Reg 2 5 , 2 7 - 3 0 ) . D t r G wählt deshalb aus den königlichen Chroniken Nachrichten aus, die zeigen, wie in Judas Geschichte der Tempel durch die Auslieferung der Tempelschätze Stadt und Heiligtum vor Zerstörung bewahrte (I Reg 1 4 , 2 5 - 2 8 ; 1 5 , 1 6 - 2 2 ; II Reg 1 2 , 1 8 - 1 9 ; 1 4 , 8 - 1 4 ; 1 6 , 7 - 9 ; 1 8 , 1 3 - 1 6 ; 24,13) oder wie die priesterliche Familie einmal die königliche Familie vor sicherer Ausrottung rettete (II Reg 11,1—16) oder wie die Symbiose der beiden Dynastien Tempel wie Palast erhielt und das Heiligtum als O r t göttlicher Gegenwart bewahrte (I Sam 2 , 2 7 - 3 6 ; II Sam 7 , 4 - 2 9 ; 2 3 , 1 - 7 ; I Reg 2 , 2 6 - 2 7 . 3 5 ; II Reg 19,14). D t r G schreibt also für diejenigen, f ü r die die göttliche Gegenwart in ihrer Beziehung zum Tempel grundlegend war, durch die Ereignisse des Jahres 5 8 7 v. Chr. aber zur Frage wurde. Der Fortbestand der priesterlichen und königlichen Dynastien Z a d o k s und Davids sowie die Erhaltung der Jerusalemer Tempelgeräte in Babylon legten es nahe, die Gegenwart des im Himmel thronenden J a h w e mit dem zerstörten Tempel in der Weise zu verbinden, daß jetzt der O r t des Tempelgebäudes die Gebetsrichtung dessen bestimmt, der sich J a h w e im Gebet zuwendet. Die Ereignisse des Jahres 5 8 7 v. Chr. ordneten sich damit ein in die aus den Annalen belegbare Reihe von Katastrophen, die Stadt, Palast und Tempel Jerusalems in der Vergangenheit heimgesucht haben. Schwerer und ernster zwar als sie alle, bedeuten sie so wenig wie in der Vergangenheit das Ende der Gegenwart Jahwes. Damit vertritt D t r G eine am Jerusalemer Heiligtum und Königshaus orientierte Theologie, deren Vertreter besonders unter den (z. T. exilierten) Jerusalemern zu suchen sind. Sie k a n n t e n die Hof- und Tempelüberlieferungen und waren fähig, aus ihnen eine Apologie der ewigen Gegenwart Jahwes trotz Tcmpelzerstörung und Oberschichtexilierung zu entwerfen. 2.2.4. DtrP betont das unwiderstehliche, Geschichte schaffende Wirken des —»Wortes Gottes. Es wird Menschen zuteil durch die Vermittlung von Sehern, Propheten und Gottesm ä n n e r n oder auch ohne deren Vermittlung unmittelbar. Nichts geschieht ohne das W o r t Jahwes, jedenfalls im Prinzip (vgl. Am 3,7 [DtrP]). Die von Dietrich analysierten Texte in I/II Reg sind nach dem Schema „ A n k ü n d i g u n g — Erfüllung" gestaltet. Die chronikartige Struktur von D t r G wird von DtrP als R a h m e n verwandt, um A n k n ü p f u n g s p u n k t e f ü r seine Darlegungen zu gewinnen. Es sind besonders die Nachrichten vom Anfang, Bestand und Ende königlicher Häuser, die DtrP seiner Auslegung zugrundelegt, manchmal auf Kosten literarischer Konsequenz (vgl. II Reg 3 , 1 [DtrG] mit 1,17 [DtrP]). So erhalten die drei Dynastien des Nordreiches vor Jehu Unheilsankündigungen, deren Erfüllung jeweils betont wird (I Reg 1 4 , 7 - 1 1 / 1 5 , 2 9 ; 1 6 , 1 - 4 / 1 1 - 1 2 ; 2 1 , 2 0 b - 2 4 / I I Reg 1 0 , 2 5 b - 2 6 ) , w ä h r e n d dem H a u s - ^ J e hus vier Generationen versprochen werden, ohne daß ihr Ende vermerkt wird — sicher ein stilles Lob des Jahwe-Eiferers (II Reg 1 0 , 3 0 - 1 5 , 1 2 ) . - Der D t r G wesentlich erweiternde und in der Zielsetzung umgestaltende DtrP ist Schüler der -H> Propheten und Systematiker ihres Erbes. Seine Theologie ist eine Theologie des Wortes Jahwes, wie sie in den Kreisen u m u n d nach Jeremia vertreten wird (Jer 2 3 , 2 5 - 2 9 ; vgl. Jes 55,6—11) und in der Gestaltung der —»Elia/—»Elisa Zyklen am Werk ist (I Reg 17 - II Reg 13 z. T.). DtrP zeigt die Gültigkeit seiner Wort-Jahwes-Theologie durch seine an D t r G a n k n ü p f e n d e n Auslegungen. Seine Arbeit „ e r s c h e i n t . . . als D u r c h f ü h r u n g eines dem Jeremia von Baruch in den M u n d gelegten programmatischen Satzes: ,Die Propheten, die vor mir und vor dir von alters her . . . gewesen sind, haben vielen Ländern und großen Königtümern von Krieg, U n h e i l . . . und Seuche geweissagt; der Prophet aber, der Heil weissagt — am Eintreffen des Prophetenwortes wird der Prophet erkannt, den Jahwe in Wahrheit gesandt hat' (Jer 28,8 f). So schreibt er [DtrP] ins dtr Geschichtswerk die Geschichte der Propheten ein, die „von alters her . . . Unheil geweissagt" haben (Dietrich 104f). — Überzeugt, d a ß niemand Jahwes W o r t und seinen Boten widerstehen darf, steht DtrP der Institution des Königtums kritisch gegenüber. Er betont, d a ß allein Jahwe über Israel herrscht; er v e r d a m m t e s , wenn Menschen sich diese Herrscherrolle

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Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule

anmaßen; er zeigt, daß Könige und Dynastien der Vergangenheit durch Jahwes Wort geschaffen und vernichtet wurden (Jdc 8 , 2 2 - 2 3 ; I Sam 8,7; I Reg 11,29-39; 14,1-18). David mag zwar von Propheten zur Buße gerufen worden sein (II Sam 1 2 , l - 1 5 a und 2 4 , 1 - 2 5 z. T.), der Ehrentitel „Knecht Jahwes" aber kommt ihm gegen DtrG nicht zu, noch weniger anderen Königen. Die Propheten sind die Knechte Jahwes und so Israels wahre Stärke (I Reg 14,18; 18,36; II Reg 14,25; 24,2; vgl. Am 3,7 und dagegen II Sam 3,18 [DtrG]). Zwei ihrer Vertreter, Elia und Elisa, vermag das dazu besonders befähigte menschliche Auge sogar von feuriger, himmlischer Reiterei beschützt oder der Erde entrissen zu sehen (II Reg 6,17; 2,12). So ist für DtrP das Wort Jahwes der Vermittler göttlicher Gegenwart, frei handelnd, über menschlichen Institutionen stehend und nicht an sie gebunden. 2.2.5. DtrN, der literarisch jüngste Deuteronomist, ist am „Buch des Gesetzes Moses" (—•Gesetz) interessiert (Dtn 1,5; Jos 1,8; 23,6; I Reg 2,3; II Reg 10,31; 22,8). Smend hat diesen Redaktor z. B. in Jos 1,7—9 am Werk gezeigt (FS v. Rad). Dort schließt er sich an seine Vorlage DtrG in der Weise an, daß er den an Josua ergangenen Befehl, „fest und unentwegt" den Jordan zu überschreiten (1,5), aufnimmt und ihn sowohl einengt wie auch verstärkt: „N«r sei recht fest und unentwegt..." (1,7), allerdings mit einem ganz anderen Ziel, nämlich genau dem Gesetz Moses zu folgen: „Von diesem Gesetzbuch sollst du allzeit reden und darüber nachsinnen Tag und N a c h t . . . " (1,8; vgl. Ps 1,2). Unter seiner Hand wird so aus der Vielzahl der überlieferten Verordnungen, Satzungen und Rechte das eine Gesetz (vgl. Dtn 4,44 mit 4,45). Nach der Verpflichtung der Israeliten auf das Gesetz als „Worte des Bundes" (Dtn 28,69; 29,1—30,20) im Lande Moab unmittelbar vor der Landnahme kodifiziert es Mose und übergibt es den Leviten-Priestern und den Ältesten Israels mit der Bestimmung, es alle sieben Jahre, am Laubhüttenfest des Erlaßjahres, öffentlich zu verlesen und als „Zeuge" neben die Bundeslade zu legen, damit alle es getreulich erfüllen, „denn es ist kein kraftloses Wort für euch, sondern es ist euer Leben" (Dtn 31,9-13.24—29; 32,45-47). Josua soll nicht nur darüber nachsinnen, sondern es auch auf die Stelen in —»Sichern schreiben und es allen vorlesen (Jos 1,8; 8,30—35). Die Übernahme des Landes durch die Israeliten und dessen Verlosung an die neuneinhalb Stämme vollziehen sich gemäß diesem Gesetz (Jos 2,1—22,34). Nach Josuas Abschiedsrede wird es selten erwähnt; es stand offenbar den Königen als Abschrift der offiziellen, von den Leviten-Priestern verwahrten Version zur Verfügung und wurde nicht von König Jehu von Israel, wohl aber von König Amazja von Juda befolgt (Dtn 17,18—20; II Reg 10,31; 14,6); seine Befolgung wird Salomo von seinem sterbenden Vater befohlen (I Reg 2 , 3 - 4 ) . Sonst scheint es unbefolgt geblieben zu sein (Jdc 3,6; II Reg 22,13b), bis seine überraschende Auffindung bei —> Josias Tempelinstandsetzung zu einer durchgreifenden Reformation gemäß seiner Gebote führt (II Reg 2 2 , 1 - 2 3 , 3 0 z. T.). - Das Gesetzesbuch Moses also, das beim Anbruch des babylonischen Exils auf dem Plan ist, ist das echte Gesetz Moses, von ihm den Leviten-Priestern anvertraut, jetzt allen Israeliten öffentlich verlesen und durch Bundesschluß in Kraft gesetzt. Diese Veröffentlichung des kodifizierten Gesetzes (ob nur das Deuteronomium oder auch der Tetrateuch als sein Vorspann) bedeutete „nicht den Beginn der Tora-Literatur, sondern den Anfang des Tora-Buches" (Kaufmann 111), jenes Buches, das die Exilierten begleiten und bei ihnen bleiben konnte. DtrN bietet so eine Ätiologie des Gesetzes Moses im Rahmen des historiographischenn Aufrisses von DtrG, mit Aufnahme und Unterordnung der Wort-Jahwes-Theologie des DtrP. DtrN vereinigt und vereinheitlicht nicht nur die vielen Gebote, er verwandelt auch die bunte Vielfalt der Seher, Propheten und Gottesmänner des DtrP in eine monotone Abfolge prophetischer Gesetzesmahner, die „wie Moses" Propheten sind, von Zeit zu Zeit von Jahwe erweckt werden und so zu einer Kette warnender Stimmen werden (II Reg 17,13; Dtn 18,15-22). Demgemäß läßt DtrN solche z. T. prophetischen Mahner die Geschichte Israels begleiten (z. B. Jos 23,1—16; Jdc 2,17.20f.23; 6 , 7 - 1 0 ; 10,6-16; I Sam 7 , 3 - 4 ; 12,1-25; I Reg 2 , 3 - 4 ; 6 , 1 1 - 1 3 ; 9 , 1 - 9 ) und widerspricht einer prophetischen Stimme wie der des —»Arnos, der Israel das Ende ansagte (II Reg 14,27; s. dagegen Am 8,2; Crüsemann). Das Gesetzesbuch, allen zugänglich und alle angehend, macht die heilvolle Gegenwart Jahwes zur Wirklichkeit für alle, die — wo

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und wann auch immer — ihm gehorchen. Die Betonung der Weisheit und der Gerechtigkeit des Gesetzes Moses im Vergleich zu anderen Gesetzen, besonders von Seiten der Völker, und der mit dem Gesetz verbundenen Nähe Jahwes (Dtn 4,1—8) zeigt, daß hier ein Judentum spricht, das sich seiner durch das Gesetz bestimmten Existenz inmitten der Völkerwelt bewußt geworden ist. Die Kodifizierung selbst steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Forderung der persischen Könige (—>Perserreich und Israel), daß die Völkerschaften im Perserreich ihren angestammten Bräuchen und Kulten treu bleiben und genau folgen sollen. Das Gesetz Moses wird so sowohl von Persern wie Juden als die jüdische Völkerschaft verpflichtend anerkannt (vgl. Esr 7, 21—26). 2.2.5. Die Summe seiner Redaktionen und der von ihnen eingebrachten Quellen hat das deuteronomistische Werk über die Zielsetzung seiner nomistischen Redaktion hinaus zu einem enzyklopädischen Werk werden lassen, das sich auf mehreren Ebenen zugleich bewegt. Die zeitlich-historiographische ist nur eine von ihnen, wenn auch die am stärksten hervortretende. Die räumlich-topographische Dimension ist so wichtig wie die völkisch-ethnographische, die institutionell-soziologische so betont wie die gedanklich-theologische. Hinzu kommt, daß in mehr als 40 Fällen Namen, Bräuche oder einmal eingetretene Zustände als „bis auf diesen Tag" bestehende beschrieben werden (z. B. Dtn 10,8; 29,3; Jos 5,9; 8,28; 15,63; Jdc 6,24). Dieses ätiologische Element erscheint im deuteronomistischen Werk zum letzten Mal mit Bezug auf das nun von Juda getrennte Leben der Menschen im Gebiet des früheren Nordreiches (II Reg 17,23.34.41) und unterstreicht so seinen von den Menschen Judas und Jerusalems bestimmten Blickwinkel. 2.2.6. Wer sind die Vertreter dieser umfassenden, das Nordreich zwar einschließenden, aber auf das Südreich hinordnenden Sicht? Es waren die in ganz Israel ansässigen und daher an seiner Einheit interessierten, aber am Jersusalemer Tempel orientierten Leviten (—»Levi/Leviten). Mehrere Beobachtungen stützen diese These: Die Betonung der Bundeslade, die die Leviten als ihre Träger, den Tempel als ihren Ruheplatz und das den Leviten von Mose anvertraute und neben ihr deponierte Gesetzbuch legitimiert. Die Mittlerrolle der von den Leviten versorgten Lade ist nach deren Verlust auf das von den Leviten verwahrte Gesetz des Mose übergegangen, dem die Propheten als Gesetzesmahner zugeordnet werden. Andererseits entspricht die ganz Israel umfassende Sicht des deuteronomistischen Werkes der der Leviten, die in ganz Israel verstreut ohne Stammesbesitz leben und ganz Israel als Priesterschaft dienen (Jos 21,1—42; Dtn 10,8; 18,5). Die durch sie vermittelte Verehrung des einen Jahwe bindet Israels Stämme zu dem einen Israel zusammen, und ihre Stellung als Personen ohne Erbbesitz macht sie materiell abhängig von und geistig offen für die Menschen, denen sie dienen (Dtn 16,9-15; 1 8 , 1 - 5 ; vgl. Jdc 17,7-18,15). Zugleich haben sie einen weiteren Horizont als die nicht-levitischen Priester und Laien; sie stehen als Schrift- und Traditionskundige den Weisen nahe oder sind mit ihnen z. T. identisch; sie sind Sammler und Tradenten von Liedern, Stammessprüchen und Gebeten, die ganz Israel betreffen; sie sind so die ersten „Theologen" Israels, d. h. die in dem 722 und 597 v. Chr. beginnenden —»Exil Israels die Traditionen als „Wort Jahwes" fassen, das überall und jederzeit die Gegenwart des Gottes Israels vermittelt (Dtn 8,3). Predigt und Lehre werden mehr und mehr ihre Medien (vgl. z. B. Dtn 6,4—11,28; I Reg 8,1—66), die der Bewahrung und Entfaltung der Tradition dienen. 2.3. Das deuteronomistische

Geschichtswerk

Umfassende theologische Deutungen wie die von Kraus, Wolff und v. R a d beziehen sich auf die Endgestalt des Werkes, betonen aber jeweils verschiedene, von den deuteronomistischen Redaktionen vertretene Perspektiven. - Die folgende zusammenfassende Darstellung des Charakters des Werkes bezieht sich auf seine Endgestalt, betont aber die von DtrG, DtrP und D t r N eingebrachten Aspekte und sucht sie in den Zusammenhang des Gesamtwerkes zu stellen. Seinem enzyklopädischen Charakter entsprechend ist das Werk mehrdimensional.

2.3.1. Das Werk als Historiographie umspannt die mehr als 600 Jahre von der Landnahme ungefähr im 13. Jh. v. Chr. bis zur Rehabilitierung des judäischen Königs Jojachin im babylonischen Exil 562 v. Chr. (Dtn 1,8; II Reg 2 5 , 2 7 - 3 0 ) . Es periodisiert diese —>Ge-

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Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule

schichte Israels im Lande Kanaan auf verschiedene Weise: Für die am Tempel und den zwei Dynastien in Jerusalem Orientierten (vor allem DtrG, z. T. auch DtrN) markieren Tempelbau und -weihe sowie die Einsetzung der beiden Dynastien das Ende einer vorbereitenden Periode und den Beginn einer neuen, von ewigen Ordnungen bestimmten Zeit (I Reg 6,1; 8,27-30.50-53; I Sam2,36; IlSam 7,16). - Für die am unwiderstehlichen Wirken des Wortes Jahwes Interessierten (DtrP) schaffen menschlicher Gehorsam und Ungehorsam Heilsund Unheilsperioden (z.B. Jdc 2,13-15.18-19; I Sam 10,4; 13,7-15; II Sam 12,1-14). Diese Periodisierung erscheint in Jdc 2 , 1 1 - 1 Sam 12,25 systematisiert in drei Perioden: Menschlicher Gehorsam und Ungehorsam im ersten, auf Mose und Josua folgenden Zeitabschnitt, in dem von Jahwe erweckte Retter auftreten (Jdc 2,11-8,35); im zweiten Zeitabschnitt Ungehorsam in der Auflehnung gegen Jahwes Herrschertum durch die Einsetzung eines selbstberufenen menschlichen Königs, und dessen schmähliches Ende (Jdc 9,1-57); und danach wieder sowohl Gehorsam wie Ungehorsam in einem dritten Abschnitt, in dem von Jahwe bevollmächtigte Richter Israel leiten (Jdc 10,1-1 Sam 12,25). Das von Jdc 2,6-19 bekannte Schema „Heilstat-Abfall-Umkehr-Rettung" zeigt dabei, wie sich die Abfolge von Gehorsam und Ungehorsam gestaltet, kann aber schwerlich zu einem „zyklischen Geschichtsbild" verallgemeinert werden (gegen Fohrer 211.231). Die gesamte Geschichte Israels erscheint in diesen drei Perioden vorgebildet; Gideons Ablehnung der ihm angetragenen Königswürde bildet das Motto: „Ich will nicht über euch herrschen, und auch mein Sohn soll nicht über euch herrschen; der Herr soll über euch herrschen" (Jdc 8,23; vgl. darüber hinaus Beyerlins Analyse des Rahmenwerkes im ersten Teil des —»Richterbuches). — Für die am Gesetz Orientierten schließlich (DtrN) ist Israels Geschichte bis zur Zeit Josias die Vorgeschichte der endgültigen, ganz Israel verpflichtenden Verkündigung des mosaischen Gesetzbuches geworden (Dtn 32,26; II Reg 22,8—10; 23,1—3). Die zeitlichen Horizonte des Werkes sind jedoch umfassender. Einerseits ist die Gabe des Landes die Erfüllung des den Patriarchen gegebenen Versprechens Jahwes und die göttliche Offenbarung am Gottesberg einzigartig für den, der alle Zeit übersieht „von dem Tage an, da Gott Menschen auf der Erde schuf" (Dtn 1,8; 4,32). Andererseits ermahnt das Werk die Israeliten, ihren Nachkommen die Bedeutung ihrer Bräuche zu erklären, und hat die Zukunft überhaupt im Auge, wenn es von noch ungeborenen Generationen spricht (Dtn 6,20—25; 29,13). - Vom Anfang unter Mose an erscheint Israel um seine Helden geschart und von ihnen geführt. Ihre Namen sind weithin bekannt, von allen werden Geschichten erzählt und über einige von ihnen Lieder gesungen. Sie werden als die Handelnden dargestellt oder als die, durch die Jahwe handelt. Jahwes Willen entsprechend bringen sie Heil und Unheil über Familien und Völker und über sich selbst. — Das Werk befaßt sich aber nicht nur mit solchen theologischen Aspekten des menschlichen Handelns, sondern wendet sich auch den Spannungen zu, die durch menschliches Zusammenleben schlechthin geschaffen werden (vgl. Jos 9,1-27; II Reg 5,1-19. 20-27; II Sam 12,1-14; I Sam 1,1-20; II Reg 4,18-37; I Reg 8,27-30; Dtn 4,25-30; II Sam 13,1—22; überhaupt I Sam 2,4—8). Fast kein Aspekt des Volkslebens bleibt unberührt; das Werk bietet viele, verschiedene Beispiele menschlichen Verhaltens.

2.3.2. Räumlich-topographisch steht für das deuteronomistische Werk, vor allem für DtrG, —> Kanaan, „das gute Land", „darin Milch und Honig fließt", im Mittelpunkt (Dtn 3,25; 31,20). Es ist rituell rein, im Unterschied zum Ostjordanland oder Gilead, das auch zum israelitischen Erbbesitz gehört, aber rituell nicht rein ist (Jos 22,19; Dtn 2,26-3,22). Kanaan und Gilead sind wiederum in die zwölf Erbbesitze der israelitischen Stämme gegliedert; in jedem haben Leviten Wohnrecht in ihnen zugewiesenen Städten; dazu gibt es auf beiden Seiten des Jordans je drei Asylstädte (Dtn 2,26—3,22; Jos 13,1-22,34). Auch die Gaueinteilung Israels durch König Salomo ist beschrieben (I Reg 4,7—19). Das Land selbst ist „nicht wie das Land Ä g y p t e n , . . . das du . . . bewässern mußtest wie einen Gemüsegarten". Im Gegenteil, es ist „ein Land mit Bergen und Tälern, das vom Regen des Himmels Wasser trinkt", in dem Korn, Wein und ö l zu ernten sind und Vieh Weide findet (Dtn 11,10—15). Es ist aber auch ein Land, das vor dem Kommen der Israeliten schon bewohnt

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war und in dem „große Städte, die himmelhoch befestigt sind" liegen (Dtn 1,28). Für die am Jerusalemer Heiligtum Orientierten ordnen sich alle Räume in und außerhalb des Landes zu sieben konzentrischen Kreisen: Altar im Heiligtum - Tempel - Stadt — Kanaan - Gilead nahe und ferne fremde Länder (I Reg 8,14—61). Für die am Kommen des Wortes Jahwes (DtrP) oder am Gesetz Moses und der Lade Interessierten (DtrN) dagegen rriarkierten Orte lediglich die Stätten oder Wegstationen vorübergehender göttlicher Gegenwart. Darüber hinaus spricht das Werk manchmal in umfassender Weise von den fernsten Gegenden am (Mittel-)Meer (Dtn 3 0 , 1 1 - 1 4 ; 4,32ff). 2.3.3. In institutionell-soziologischer Hinsicht stehen drei Mittler göttlicher Gegenwart im Vordergrund: der Tempelplatz, das Wort Jahwes, das Gesetzbuch des Mose. Die redaktionsgeschichtliche Untersuchung hat die Beziehung des ersten zum (Geschichtsschreiber) DtrG, des zweiten zum (prophetischen) DtrP und des dritten zum (nomistischen) DtrN erwiesen. - Das Werk bietet für jedes dieser Medien eine Ätiologie. Der Tempel erhält seine Legitimation durch die in ihm aufgestellte Lade Jahwes und durch die göttliche Gewährung des Tempelweihgebets des Königs Salomo (I Reg 8,1—21; 9,2-3). Das Wort Jahwes ist jeweils durch seine Erfüllung legitimiert (I Reg 17,1; 18,1.41—46), während das Gesetz des Mose durch seine Kodifikation durch den Gesetzgeber selbst, seine Bewahrung durch Jahrhunderte und seine allen einsichtige Weisheit und Gerechtigkeit legitimiert ist (Dtn 1,6; 3 1 , 9 - 1 3 . 2 4 - 2 9 ; 3 2 , 4 5 ^ 7 ; II Reg 10,31; 1 4 , 5 - 6 ; 2 2 , 8 - 1 1 ; 2 3 , 1 - 2 7 ; Dtn 4 , 1 - 8 ) . - W e i l die Bundeslade den Tempel legitimiert, verfolgt das Werk den Weg der Bundeslade von ihrem Durchzug durch den Jordan bis zu ihrem Aufbewahrungsort im Tempel (Dtn 31,24—29; Jos 3,1—5,1; I Reg 8,1—13). Nachdem sie so das Heiligtum legitimiert hat, wird sie nicht mehr erwähnt. Die Leviten aber, die ihre Träger sind, sind für immer aus Israel ausgesondert, „vor dem Herrn zu stehen als seine Diener und in seinem Namen zu segnen bis auf diesen Tag" (Dtn 10,8). Die Mittlerrolle der Lade ist damit auf die Leviten übergegangen. - Das jeweils durch seine Erfüllung legitimierte Wort Jahwes kann zwar auf verschiedene Weise übermittelt werden (Traum, Urim/Tummim, Propheten, Totengeist und durch den —»Geist schlechthin; I Sam 28,6; I Reg 22,1-38), es ist aber in allen Medien ein und dasselbe Wort des Gottes Israels (Jdc 7 , 9 - 1 5 ; I Sam 1 4 , 3 6 - 4 3 ; 2 8 , 1 6 - 1 8 ; I Reg 22,38). Wie die verschiedenen Medien der Gottesbefragung zu dem einen Wort Jahwes zusammengefaßt werden, so werden deren Träger dem Vermittler des Wortes Jahwes untergeordnet: dem Jahwe-Propheten. Die klassische Formulierung findet sich in der (prophetischen) deuteronomistischen Amos-Redaktion: „Gott der Herr tut kein Ding, er habe denn seinen Ratschluß seinen Knechten, den Propheten, enthüllt" (Am 3,7). Der Prophet wird so zum alleinigen Wortvermittler, nicht nur als Israel zugewandter Sprecher Jahwes, sondern auch als Jahwe zugewandter Fürbitter Israels. Samuel und Mose sind die Urpropheten, die ein für alle Mal dem Wort Jahwes und seinen Mittlern Namen, Bahn und Maß setzen (I Sam 3,19—20; 7 , 5 - 1 1 ; Dtn 18,14—19). — Das Gesetz schließlich wird als von Mose selbst kodifiziert und von ihm den Leviten zur Bewahrung übergeben legitimiert (Dtn 31,9—13.24—29; 32,45-47). Die Gesetzstelen von Sichern wie das Gesetzbuch in Händen des Königs sind (nur) offizielle Kopien (Dtn 27,8; Jos 8 , 3 0 - 3 5 ; Dtn 17,18-20), und später formulierte Gesetzestraditionen sind ihm nachgeordnet (Jos 24,26; II Reg 17,24—29). So ist das von den Leviten allein bewahrte Gesetzbuch nicht nur das einzig offizielle, es ist auch in seiner geschriebenen Form die maßgebliche Norm, dem nichts hinzugefügt und von dem nichts weggenommen werden darf (Dtn 4,2). Aus den vielgestaltigen Tora-Überlieferungen ist so das eine Torabuch geworden. 2.3.4. Die deuteronomistische Theologie ist gedanklich einfach und klar, weil die drei sie tragenden Redaktionen sich je in ihrer Weise bemühen, das ihnen Überlieferte auf wenige zentrale Motive hinzuordnen. Jahwe, der Gott Israels, ist der eine und einzige Herr, dem Israel ungeteilt und in Liebe sich zuzuwenden gerufen ist (Dtn 6,4—9). In dieser Zuwendung wird es das eine Gottesvolk Israel, trotz seiner Zerstreuung unter die Völker (—»Diaspora) und trotz der vielen und verschiedenen im deuteronomistischen Werk beschriebenen Überlieferungen, Bräuche, Riten und Mittler göttlicher Gegenwart. Israeliten mögen an vielen

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Orten und unter verschiedenen Bedingungen leben, als das dem einen Jahwe gehörende Volk sind sie ein Volk. Diese Betonung der Einheit und Einzigkeit Jahwes (—»Monotheismus) erlaubt dem deuteronomistischen Werk, die Vielzahl der Traditionen zu sammeln, zu ordnen, zusammenzufassen und zu vereinheitlichen. Israels Vergangenheit wird zu einer Abfolge geschichtlicher Ereignisse gestaltet, deren Richtung erkennbar ist. Das Gebiet des Alten Orients, in dem Israel lebt, wird zu Kreisen geordnet, deren Mittelpunkt feststeht. Die Völkerwelt, in der sich Israel befindet, wird Israel zugeordnet. Die Institutionen Israels werden wenigen Mittlern göttlicher Gegenwart nachgeordnet: Die im Lande verstreuten Heiligtümer müssen dem einen Tempel Platz machen, die vielen Medien göttlichen Willens dem einen Wort Jahwes weichen, und die Verordnungen, Satzungen und Rechte werden zu dem einen Gesetz zusammengefaßt. Die anderen Götter werden als vor dem einen Gott Israels vergehende dargestellt. Das Verhältnis zwischen Israel und seinem Gott ist getragen und bestimmt von Liebe in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Dtn 6,4—9; 7,7-11; I Reg 8,23). Das deuteronomistische Werk führt so aus, was David im Gebet von Gott bekennt: „Dem Redlichen zeigst du dich redlich, dem Reinen erweist du dich als rein, aber dem Verkehrten zeigst du dich verkehrt" (II Sam 22,26b—27), und was im Lied Moses gesungen wird: „Recht sind alle seine Wege. Ein Gott der Treue, ohne Falsch" (Dtn 32,4). Das Angebot des Lebens, des Guten und des Segens bleibt in Kraft und die Verheißung göttlicher Gegenwart bestehen (Dtn 30,15-20). 2.4. Nachgeschichte In der persischen und hellenistischen Zeit wuchs die Bedeutung des Gesetzgebers als Garant des Gesetzes. Das deuteronomistische Werk wurde davon insofern betroffen, als sein erster, überwiegend gesetzlicher Teil (Dtn, s. o. Abschn. I), notwendigerweise der letzte Teil des entstehenden Pentateuch wurde. Die Traditionen über den Tod des Mose (Dtn 31,1—34,8) kamen folgerichtig am Ende der Tora zu stehen, vermehrt um das Lob des unvergleichlichen Gesetzgebers (Dtn 34,9-12). Damit war der erste, grundlegende Teil des Kanons der hebräischen —»Bibel entstanden. — Jos — Reg, der Rest des Werkes, erhielt kleinere, der —>Priesterschrift ähnliche Hinzufügungen (s. Smend, Entstehung 114) und wurde mit den z. T. ebenfalls aus deuteronomistischen Redaktionen hervorgegangenen Büchern Jes, Jer, Ez und dem —»Dodekapropheton als „Propheten" zweiter Teil der hebräischen Bibel. Jos - Reg, damit als „Frühere Propheten" Vorspann zu den „Späteren Propheten", stellt diese in den Bann ihres Prophetenbildes; Jes, Jer, Ez und das Dodekapropheton sollen also im Lichte des deuteronomistischen Werkes gelesen werden. — Die Septuaginta erweiterte z. T. den Text des Werkes und veränderte außerhalb des Pentateuch die Reihenfolge vieler Bücher, um sie nach dem Prinzip Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft zu ordnen. Jos Reg wurden als Historiographie, zusammen mit ähnlichen Schriften wie Ruth und Chr, hinter den Pentateuch gesetzt, während das Dodekapropheton, Jes, Jer und Ez, um das apokalyptische Buch Dan erweitert, als der Zukunft zugewandt, an das Ende der Septuaginta zu stehen kamen. Diese Reihenfolge wurde die in den christlichen —»Bibelübersetzungen übliche und hat so das deuteronomistische Werk, mit Einschaltung von Ruth nach Jdc, unversehrt erhalten. 3. Die deuteronomistische

Schule

3.1. Gliederung. Die Erforschung von redaktionellen Texten außerhalb des deuteronomistischen Werkes steht noch am Anfang (Smend, Entstehung 123); sie kann hier nur andeutungsweise charakterisiert werden. Zum einen ist das —»Chronistische Werk (I/II Chr, Esr, Neh) schon literarisch direkt vom deuteronomistischen Werk abhängig; es entfaltet dabei midraschartig DtrN und vernachlässigt DtrP. Darüber hinaus finden sich im Tetrateuch, in den Späteren Propheten und in den Hagiographen redaktionelle Texte und Kompositionsprinzipien, die den im deuteronomistischen Werk begegnenden so nahestehen, daß sie als deuteronomistisch gelten müssen. In nach-alttestamentlichen frühjüdischen und frühchristlichen Schriften finden sie sich ebenfalls. Das berechtigt, von einer deuteronomisti-

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sehen Tradition oder Schule zu sprechen (Steck 185). Ihre Geschichte läßt sich z. T. erhellen durch die von Steck vorgelegte Untersuchung des Motivs des „gewaltsamen Geschicks der Propheten" (Neh 9,26/IV Esr 7 , 1 2 9 - 1 3 0 / L k 1 1 , 4 9 - 5 0 ; Steck 184-195). 3.2. Tetrateuch. Die Feststellung und Erforschung redaktioneller Texte im Tetrateuch erfolgten im Rahmen der Quellenkritik des Pentateuch vom 19. Jh. an; viele Forscher sahen dann in Jos — Reg (oder einem Teil davon) die Fortsetzung der pentateuchischen Quellen. Die vom deuteronomistischen Werk selbst ausgehende Forschung hat die Blickrichtung umgekehrt; der Tetrateuch muß jetzt ebenso als die Dtn — Reg vorhergehende und auf sie hinführende literarische Einheit gesehen werden, wie das deuteronomistische Werk als das Gen — Num folgende Werk gesehen wurde. Im Tetrateuch selbst reicht die redaktionelle Arbeitsweise von der Einfügung erklärender Wörter, Phrasen und Sätze (Ex 12,25—27a) über die kompositionelle Zuordnung kleinerer Traditionseinheiten als Szenengestaltung (Ex 32,1-34,35) bis zur Neugestaltung überlieferter Motive zu Lehrerzählungen (Ex 17,1—7; zusammenfassend Smend, Entstehung 62—69). 3.3. Propheten. Dort sind schon die Überschriften mehrerer Bücher (Jes 1,1; Jer 1,1—3; Hos 1,1; Am 1,1; Mi 1,1; Zeph 1,1) z. T. redaktionell; sie ordnen die—»Propheten der Geschichte Israels und Judas zu und so in eine prophetische Sukzession ein (II Reg 17,13; vgl. Am 3,7; I Reg 17,1). Deuteronomistische Redaktionsarbeit im Jeremiabuch wurde eingehend von Thiel untersucht; demnach erscheint sie dort gelegentlich in den ersten sechs Kapiteln, während sie in den folgenden Kapiteln das wichtigste gestaltende Element ist, z. B. in der Tempelrede (7,1-8,3), in der Verurteilung des Bundesbruchs (11,1-17), der Vision der Feigenkörbe (24,1-10) oder der Ankündigung des neuen Bundes (31,31-34). Auch bei —* Arnos sind solche Texte über das Buch verteilt; sie sind kürzer als die in Jer und erscheinen als ein- oder zweizeilige Erweiterungen (3,lb.7) oder als kleine Einheiten, die entweder einer vorgegebenen Einheit parallel formuliert ( 1 , 9 - 1 0 . 1 1 - 1 2 ; 2,4-5) oder als voller Exkurs eingeschoben sind (2,9—12). In Hos, Jon, Mi und Sach läßt sich für Teilsammlungen innerhalb der Bücher das deuteronomistische Kompositionsprinzip „Unheil — Heil" nachweisen (z. B. Hos 1,2—2,25; Mi 1,2-2,13; Sach 1,2—6); dieses Gestaltungsprinzip scheint auch bei der Gesamtgestaltung prophetischer Bücher am Werk (z. B. Jes 1 - 3 9 / 4 0 - 5 5 ) . 3.4. Hagiographen. Im dritten Kanonteil lassen sich besonders im —>Psalmenbuch Berührungspunkte aufzeigen. So ist Ps 18 mit II Sam 22 identisch, Ps 89 und 132 stehen dem Geschichtsschreiber (DtrG) nahe, Ps 79 dem prophetischen (DtrP) und die Torapsalmen 1; 19; 119 dem nomistischen (DtrN) Deuteronomisten. Andererseits enthalten das deuteronomistische Werk und die Propheten mehrere Psalmen, die sich nicht im Psalmenbuch finden (I Sam 2 , 1 - 1 0 ; II Sam 1 , 1 7 - 2 7 ; 2 3 , 1 - 7 ; Jon 2 , 3 - 1 0 ; Hab 3 , 1 - 1 9 ; vgl. auch Thr). 3.5. Nach-alttestamentliche, frühjüdische und (später) frühchristliche Schriften. Dort wirkt die deuteronomistische Tradition oft stark nach. Das ist schon in den (noch kanonisch gewordenen) Chronikbüchern deutlich, für die das Werk als Text verpflichtend, wenn auch midraschartiger Erweiterungen fähig ist (vgl. II Chr 15,1-7; 2 9 , 5 - 1 1 ; 30,6—9; Neh 9,26). Steck hat das auf das deuteronomistische Werk zurückgehende Motiv des gewaltsamen Geschicks der Propheten und das es tragende Geschichtsbild in nach-alttestamentlicher Literatur herausgearbeitet (s. z. B. Tob 13,3-6; Test XII; äthHen; Jub 1,7-26; grBar 3,9—4,4; 4 , 5 - 5 , 9 ; CD I 3 - 1 3 a ; PsSal 9; AssMos; LibAnt; IV Esr 1 4 , 2 7 - 3 5 ; syrBar 1,1-5; 4 , 1 - 6 ; Lk 1 1 , 4 9 - 5 0 ; 13,34-35; Act 7,52; Mk 1 2 , l b - 9 ; I Thess 2 , 1 5 - 1 6 ; Mt 2 3 , 2 9 - 2 4 , 2 ; 21,28—22,7). Wie sehr die deuteronom(ist)ische Tradition für die Synagoge, später die Kirche und den —>Islam wichtig wurde, zeigt sich an der Wirkung des im Wortlaut oder in der Aussage zum Bekenntnis gewordenen Grundgebots: „Höre, Israel: der Herr, unser Gott, ist ein Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft" (Dtn 6 , 4 - 5 ; Mk 1 2 , 2 9 - 3 0 par.) Die Bedeutung der deuteronomistischen Theologie für die Kirche wie auch für die Synagoge besteht darüber hinaus vor allem darin, daß sie durch ihre sowohl prophetisch-aktualistischen wie auch gesetzlich-institutionellen Perspektiven einen umfassenden Horizont für

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Lebens- und Gemeinschaftsformen eröffnete. In beiden Gemeinschaften haben so katholisches Erbe und protestantische Freiheit miteinander gerungen, Charisma und Institution in Spannung gestanden. Sie hat von Zeit zu Z e i t zu neuen System- und Gemeinschaftsbildungen geführt, die sich trotz Differenzierung und auch Scheidung dem gemeinsamen biblischen, und das heißt besonders deuteronomi(sti)schen, E r b e verpflichtet wußten. Das deuteronomistische W e r k selbst ist letztlich aus jener Spannung entstanden. Literatur Walter Beyerlin, Gattung u. Herkunft des Rahmens im Richterbuch: Tradition u. Situation. FS A. Weiser, Göttingen 1963, 1 - 2 9 . - Chr. Brekelmans, Die sog. dtr. Elemente (s. o. Abschn. I). - Frank Moore Cross, Canaanite Myth and Hebrew Epic, Cambridge, Mass 1973. - Frank Crüsemann, Kritik an Arnos im DtrG. Erwägungen zu II Reg 14—27: Probleme bibl. Theol. FS G. v. Rad, München 1971, 5 7 - 6 3 . - Walter Dietrich, Prophetie u. Gesch., 1972 (FRLANT 108). - Georg Fohrer, Einl. in das AT, Heidelberg 1 2 1979. - Werner Fuss, Die dtr. Pentateuchredaktion in Ex 3 - 1 7 , 1972 (BZAW 126). Ernst Jenni, Zwei Jahrzehnte Forschung an den Büchern Josua bis Könige: ThR NF 27 (1961) 1 - 3 2 . 9 7 - 1 4 6 (Lit.). - Alfred Jepsen, Die Quellen der Königsbücher, Halle 2 1956. - Yehezkel Kaufman, Gesch. der israelit. Religion (hebr.), Bd. 1/1, Jerusalem/Tel Aviv 1937. - Hans-Joachim Kraus, Gesetz u. Gesch. Zum Gesch.bild des Deuteronomisten: ders., Bibl.-theol. Aufs., Neukirchen 1972, 5 0 - 6 5 . Martin Noth, Uberlieferungsgesch. Stud., Tübingen 1943 3 1 9 6 7 . - Gerhard v. Rad, Theol. des AT, München, I 1957 6 1 9 6 9 . — Ders., Die dtr. Gesch.theol. in den Königsbüchern: ders., GSt zum AT, I 1958 (TB 8) 1 8 9 - 2 0 4 . - Arnold Nicolaas Radjawane, Das DtrG.: ThR NF 38 (1974) 1 7 7 - 2 1 6 (Lit.). Wolfgang Roth, The Deuteronomistic Rest-Theology: BR 21 (1976) 1 - 1 0 . - Werner H. Schmidt, Die dtr. Redaktion des Amosbuches: ZAW 77 (1965) 1 6 8 - 1 9 3 . - R u d o l f Smend, Das Gesetz u. die Völker. Ein Beitr. zur dtr. Redaktionsgesch.: Probleme bibl. Theol. FS G. v. Rad, München 1971, 4 9 4 - 5 0 9 . Ders., Die Entstehung des AT, 1978 (ThW 1). - Odil Hannes Steck, Israel u. das gewaltsame Geschick der Propheten. Unters, zur Überlieferung des dtr. Gesch.bildes im AT, Spätjudentum u. Urchristentum, 1967 (WMANT 23). - Winfried Thiel, Die dtr. Redaktion v. Jer 1 - 2 5 , 1973 (WMANT 41). - Timo Veijola, Die ewige Dynastie. David u. die Entstehung seiner Dynastie nach der dtr. Darst., 1975 (STAT.B 193). - D e r s . , Das Königtum in der Beurteilung der dtr. Historiographie, 1977 (STAT.B 198). - Moshe Weinfeld, Deuteronomy and the Deuteronomic School, Oxford 1972. - Ina Willi-Plein, Vorformen der Schriftexegese innerhalb des AT. Unters, zum literarischen Werden der auf Arnos, Hosea u. Micha zurückgehenden Bücher im hebr. Zwölfprophetenbuch, 1971 (BZAW 123). — Hans Walter Wolff, Das Kerygma des DtrG.: ders., GSt zum AT, 2 1 9 7 3 (TB 22) 3 0 8 - 3 2 4 . Wolfgang Roth Deutsche Christen Die Deutschen Christen ( D C ) , eine organisatorisch und theologisch vielschichtige kirchenpolitische Bewegung im deutschen landeskirchlichen Protestantismus, die ihre Entstehung dem Aufstieg des —»Nationalsozialismus verdankte, sind ein Gewächs des deutschen Nachkriegsnationalismus, wie er unter den Bedingungen des Versailler Vertrages vor allem in der Spätphase der W e i m a r e r Republik geschichtsrelevant wurde. Theologiegeschichtlich erleichterten der dynamisch-aktualistische T r e n d innerhalb der protestantischen Theologie und der Verlust substantieller W e r t n o r m e n bei der Vermittlungsfunktion des Glaubens mit der Weltwirklichkeit eine vielfach unkontrollierte Rezeption von Vorstellungsgehalten aus dem W e l t a n s c h a u u n g s k o n g l o m e r a t der bis ins 1 9 . J h . zurückreichenden „völkischen Beweg u n g " (Lagarde, H . St. C h a m b e r l a i n , L a n g b e h n , Bonus u . a . ) . Eine oft nur gefühlsmäßig erfaßte, nicht rational durchreflektierte Synthese von evangelischem Christentum und Deutschtum war ideologisches Anliegen der Deutschen Christen. Sie erhofften vom Dritten Reich die M ö g l i c h k e i t großangelegter Volksmission und die Überwindung der als Zersetzungserscheinungen gebrandmarkten Säkularisierungstendenzen. Dabei wurde Art. 2 4 des Programms der N S D A P („Positives C h r i s t e n t u m " ! ) nicht lediglich taktisch und funktional gesehen, sondern als unabänderliche religiöse Grundvoraussetzung des NS-Systems und damit als Garantie für bleibende Öffentlichkeitsgeltung des Christentums im Hitlerregime fehlinterpretiert. Kirchenpolitisches Ziel der Deutschen Christen w a r , dem Dritten R e i c h eine evangelische Reichskirche mit einem R e i c h s b i s c h o f (Wehrkreispfarrer Ludwig Müller) an die Seite

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zu stellen. Durch Gleichschaltung der Kirche mit dem NS-Staat und Besetzung der Kirchenleitungen mit Angehörigen der Deutschen Christen erhoffte man sich verstärkten kirchenpolitischen Einfluß. „Judenstämmige" Pfarrer sollten entsprechend dem staatlichen Berufsbeamtengesetz aus ihren Ämtern entlassen, die Verkündigung dem NS-System stark adaptiert werden (Betonung des „Heldischen" an Christus, Abwehr des Pazifismus, Qualifizierung der Pflege von Volkstum, Rasse usw. als „gottgegebene Aufgaben"). Eine apologetische Funktion, das Christentum dem NS-Staat gegenüber als unverzichtbar und staatspolitisch nützlich zu erweisen, begegnet auf Schritt und Tritt. Schon unmittelbar vor 1933 für die NS-Propaganda unter der evangelischen Bevölkerung benutzt, dienten die Deutschen Christen im Jahre 1933 der Reichskirchenpolitik Hitlers, wobei ihnen reichs- wie landeskirchlich zunächst Machtpositionen zufielen. Gegen die Gleichschaltung des evangelischen Kirchentums durch die Deutschen Christen formierte sich die Bekennende Kirche, die mit der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen Ende Mai 1934 ihren bekenntnismäßigen Protest unüberhörbar bekundete und durch einen notrechtlichen Boykott des deutschchristlichen Kirchentums bekenntnismäßige Verkündigung und Ordnung zu bewahren versuchte (—>Kirchenkampf). Für die Entstehungsgeschichte und die komplizierte organisatorische Entwicklung der Deutschen Christen ist bemerkenswert, daß die von den aus der bayerischen Landeskirche stammenden Pfarrern Siegfried Leffler und Julius Leutheuser gegründeten Thüringer Deutschen Christen, als „Kirchenbewegung Deutsche Christen" aus lokal begrenzten Anfängen im Wieratal bei Altenburg (Thür.) entstanden, sich zunächst der 1932 auf Initiative der preußischen NS-Landtagsfraktion (Wilhelm Kube) konstituierten und bald auf Reichsebene organisierten „Glaubensbewegung Deutsche Christen" als Gau Thüringen zuordneten. Die „Glaubensbewegung Deutsche Christen" wies eine Spannbreite auf, die vom „Bund für Deutschkirche" bis zur „Christlich-deutschen Bewegung" reichte; sie erstarkte 1933 durch vorwiegend politisch bedingten Massenzulauf, erreichte aber die Millionengrenze in ihrer Mitgliederzahl nicht. Nach dem Sportpalastskandal am 13. November 1933 mit der provokativen Rede des Berliner Gauobmanns Dr. Reinhold Krause und den dadurch bedingten starken Desintegrationstendenzen verselbständigte sich die „Kirchenbewegung Deutsche Christen" wieder und steuerte einen eigenständigen nationalkirchlichen Kurs. Der Anteil der katholischen Mitglieder dieser seit 1934 zielstrebig über Thüringen hinaus sich ausbreitenden Deutsche Christen-Bewegung blieb allerdings unbedeutend. Die „Glaubensbewegung Deutsche Christen", nach Rücktritt ihres Gründers, Pfarrer Joachim Hossenfelder (Berlin), seit Ende 1933 unter Dr. jur. Christian Kinder (Kiel) wieder etwas konsolidiert und bald in „Reichsbewegung Deutsche Christen" umbenannt, blieb stärker kirchenpolitisch und volksmissionarisch orientiert und verlor unter Studienrat Wilhelm Rehm während der Zeit der durch Reichskirchenminister Hanns Kerrl eingesetzten Kirchenausschüsse (1935—1937) ihre organisatorische Integrität. 1938 kam es zur Umbenennung in „LutherDeutsche" (Leiter: Pfarrer Dr. Werner Petersmann, Breslau). Jetzt herrschten arbeitsgemeinschaftliche Formen und Bemühungen um „theologische Reform" vor. Die Thüringer Deutschen Christen (= „Kirchenbewegung Deutsche Christen") hatten sich 1936 mit der ehrgeizig auf eigenes Profil und Ausstrahlung bedachten deutschchristlichen Bewegung des bremischen Bischofs Lic. Dr. Heinz Weidemann („Kommende Kirche") und der ebenfalls 1935 gegründeten Gruppe um Hossenfelder („Kampf- und Glaubensbewegung Deutsche Christen") zu einer „Dreierkameradschaft" zusammengeschlossen, die durch Aufnahme von beträchtlichen Splittergruppen der „Reichsbewegung Deutsche Christen" 1936 vom „Führerring" zum „Führerkreis" erweitert wurde. Ein kirchenpolitisches Bündnissystem stellte der 1936 gegründete „Bund für Deutsches Christentum" dar, dem auch einige nationalkirchlich orientierte Landeskirchen (Thüringen, Mecklenburg, Lübeck, Anhalt) zugehörten. Die meisten der nationalkirchlichen Gruppen (ohne Weidemann) schlössen sich 1937 zur „Nationalkirchlichen Bewegung Deutsche Christen" unter Leffler zusammen (seit 1938: „Nationalkirchliche Einung Deutsche Christen"). Die in der Arbeitsgemeinschaft der deutschchristlichen Kirchenleiter zusammengeschlossenen Kirchenführer (Dr. Werner, alt-

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Deutschgläubige Bewegungen

preußische Union; Klotsche, Sachsen; Kipper, Nassau-Hessen; Dr. Kinder, Schleswig-Holstein; Martin Sasse, Thüringen; Diehl, Pfalz; Lindau, Anhalt; Volkers, Oldenburg; Balzer, Lübeck; Dr. Kauer, Österreich) begründeten im Zusammenhang mit der Godesberger Erklärung 1939 ein „Institut zur Erforschung (und Beseitigung) des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben" (Sitz Eisenach), dem sich auch eine Reihe Universitätstheologen zur Verfügung stellte; Leiter: Leffler. Die Deutschen Christen blieben bei allen situationsbedingten Wandlungen während des Dritten Reiches von einem völkisch-nationalistisch ausgerichteten geschichtstheologischen Ansatz geprägt; teilweise wurde der NS-Bewegung und der Gestalt Hitlers Offenbarungswertigkeit zugeschrieben. Bei den Nationalkirchlern gewannen Hitler und der Nationalsozialismus geradezu eine hermeneutische Funktion für ein „tieferes Verständnis" des Christentums, wobei die Unterscheidung von „allgemeiner Offenbarung" und „Christusoffenbarung" nivelliert wurde (—»Natürliche Theologie). In Kreisen der zumeist konservativer gerichteten „Reichsbewegung Deutsche Christen" beschränkte man sich in der Regel darauf, von einer Wiederentdeckung der Schöpfungsordnungen (Volk, Staat, Rasse, Ehe, Familie) zu sprechen. Eine entsprechende theologische Erklärung der „Reichsbewegung Deutsche Christen" hatte 1936 die öffentliche Anerkennung des Reichskirchenausschusses gefunden. Gegen die Tendenzen der Deutschen Christen, den Nationalsozialismus religiös zu „vertiefen" und zu „ergänzen", wehrten sich deutschgläubige Strömungen (—»Deutschgläubige Bewegungen) wie auch die weltanschaulichen Distanzierungskräfte vom Christentum in der NSDAP selbst (Rosenberg, Himmler, Bormann). Sukzessive Enttäuschungssituationen in religionspolitischer Hinsicht waren für die Deutschen Christen kennzeichnend. Die zunehmende Ausschaltung kirchlichen Einflusses traf auch die Deutschen Christen, die noch in einigen Landeskirchen Machtpositionen behaupten konnten, bis sie 1945 das Schicksal des NS-Regimes teilten. Literatur Otto Diehn, Bibliogr. zur Gesch. des Kirchenkampfes, 1 9 5 8 (AGK 1). - Helmut Baier, Die Dt. Christen Bayerns im Rahmen des bayerischen Kirchenkampfes, 1 9 6 8 (EKGB 4 6 ) . - Karl-Heinz Götte, Die Propaganda der Glaubensbewegung „Dt. Christen" u. ihre Beurteilung in der dt. Tagespresse, Münster 1 9 5 7 . - Reijo E. Heinonen, Anpassung u. Identität. Theol. u. Kirchenpolitik der Bremer Dt. Christen 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , 1 9 7 8 (AKIZ 5). - Hans Buchheim, Glaubenskrise im Dritten Reich. Drei Kap. nationalsozialistischer Religionspolitik, Stuttgart 1 9 5 3 . - Kurt Meier, Die Dt. Christen. Das Bild einer Bewegung im Dritten Reich, 1 9 6 4 3 1 9 6 7 (AGK.E 3). - Ders., Der ev. Kirchenkampf. Gesamtdarst. in 3 Bden, Halle (Saale)/Göttingen, l / l l 1 9 7 6 . - Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Frankfurt/M., I 1977.

Kurt Meier

Deutsche Evangelische Kirche —»Evangelische Kirche in Deutschland, —»Kirchenkampf Deutsche Theologie —»Theologia deutsch Deutscher Evangelischer Gemeindetag —»Gemeinde Deutscher Evangelischer Kirchentag —»Kirchentage Deutscher Orden —»Preußen, —»Ritterorden, Geistliche

Deutschgläubige Bewegungen 1. Ideengeschichtlicher und historisch-politischer Hintergrund 2. Organisationsgeschichtliche Entwicklungen 1 8 9 4 — 1 9 4 5 3. Deutschgläubige Religiosität 4. Nationalsozialistische Religionspolitik und Deutschgläubige Bewegung 5 . Deutschgläubige Gruppen nach 1 9 4 5 (Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 5 5 8 )

Deutschgläubige Bewegungen 3. Ideengeschichtlicher

und historisch-politischer

555

Hintergrund

Ideengeschichtlich läßt sich die Genealogie der Deutschgläubigen Bewegung bis in das ausgehende 18. Jh. zurückverfolgen. Die Abwehrreaktionen gegen Gedankengut und politische Praxis der —»Französischen Revolution bereiteten den Wurzelboden für einen „mystischen N a t i o n a l i s m u s " i n dem deutscher Erwählungsglaube und ethnozentriertes religiöses Erleben eine Heimstatt fanden. Von großer Tragweite war der Einfluß des Volkstumsgedankens im Zeitalter der —»Romantik auf Literatur und Staatsphilosophie sowie seine Hochschätzung in der Turnbewegung F. L. Jahns, in den Freikorps und den Burschenschaften. Ihre eigentliche Geburtsstunde erlebte die Deutschgläubige Bewegung gegen Ende des 19. Jh. im Zusammenhang mit völkischen, antisemitischen und rassistischen Strömungen. Um die „im Grunde substanzlose nationalistische Macht- und Einheitsideologie" des wilhelminischen Kaiserreiches (K. D. Bracher, Die dt. Diktatur, Köln 5 1976, 30) religiös zu unterbauen, forderte P. de —»Lagarde die Umwandlung der Nation in eine religiöse Gemeinschaft, die ihr durch Geburt und Anlage gegebenes Gottesbild herausarbeiten und so zur Erkenntnis ihres Wesens kommen sollte. J. Langbehn wurde zum Künder einer neoromantischen Seelentiefe, in der „Rasse" und „Bluterbe" bereits eine wichtige Rolle spielten. Dem „Großdeutschland" Lagardes stellte er die „niederdeutsche Rasse" exklusiv entgegen. Auch „Wotanskult" (F. Dahn, E. Wildenbruch), die Opern und theoretischen Schriften R. Wagners, vor allem aber die rassistischen Weltanschauungslehren Gobineaus und seiner Gefolgsleute — in Deutschland L. Schemann, H. S. Chamberlain, L. Woltmann u . a . - sowie der seit den 70er Jahren rasant erstarkende —»Antisemitismus haben am Ende des 19. Jh. den völkisch-rassistischen Lebensstrom gespeist, aus dem die Deutschgläubige Bewegung sich dann zu formieren vermochte. Der Versuch, Ideen des völkischen Dunstkreises in die Form eines „deutschen Glaubens" zu gießen, begegnet bereits 1893/94 bei dem Schriftsteller Friedrich Lange (9.5.1894 Gründung des „Deutschbundes"). Auch in protestantischer Theologie und Kirche machten sich völkisch-religiöse Tendenzen geltend (A. Bonus, G. Frenssen, F. Andersen u. a.). Diesen völkischen Reformversuchen des Christentums kam Vorläuferbedeutung für die dann in den 20er Jahren auftretenden deutschkirchlichen bzw. auch deutsch-christlichen Gruppen zu (-»Deutsche Christen). Politisch leistete dem Deutschglauben vor 1914 ein aggressiver —»Nationalismus Vorschub, auf der geistig-religiösen Ebene waren es pantheisierende und naturmystische Strömungen im Umkreis der Schriften R. Euckens, E. v. Hartmanns, A. Drews' und G. Th. Fechners. Der Aufschwung der völkischen Bewegung nach dem 1. Weltkrieg, der innerhalb eines außerordentlich breitgefächerten nationalistischen Ideologiefeldes verlief, trug auch den Deutschglauben verstärkt empor, der mithin nur als ein Bestandteil der völkischen Bewegung überhaupt anzusehen ist. 2. Organisationsgeschichtliche

Entwicklungen

1894—1945

Unter den Gründungen vor dem 1. Weltkrieg ragten neben Langes „Deutschbund" die „Deutschreligiöse Gemeinschaft" mit „Deutschem Orden" unter O. S. Reuter und die „Germanisch-deutsch-religiöse Gemeinde" unter L. Fahrenkrog hervor (Aufruf Fahrenkrogs vom 23.3.1908; Prioritätenstreit zwischen Reuter und Fahrenkrog um die Anciennität ihrer Gründungen [Norbert Seibertz, Lebensfrgm. Hs. für Freunde u. Verwandte (1958/59), lOf (Exemplar Nr. 3)]). Eine publizistische Plattform war der Volkserzieher des berüchtigten W. Schwaner. Generell war das organisationsgeschichtliche Bild vor, während und besonders nach dem 1. Weltkrieg von verwirrender Vielfalt gekennzeichnet. Mehrere Dutzend Gruppen, Grüppchen und Bünde warben — z. T. in eigenen Publikationsorganen und in Kampfstellung gegen die Kirchen — für deutschgläubiges Ideengut. Sie standen teilweise der völkischen —»Jugendbewegung, ländlichen Siedlungs- und eugenischen Reformbewegungen (—»Darwin/Darwinismus), ario- und theosophischen Bünden und nationalistischen Kampfringen nahe. Aus den württembergischen Schülerbibelkreisen spaltete sich der

556

Deutschgläubige Bewegungen

„Bund der Köngener" (1921) unter J. W. Hauer ab (1927 „Deutsche Freischar", 1928 Erweiterung zum „Freundeskreis der Kommenden Gemeinde"). Die „Nordische Glaubensgemeinschaft" (1927), eine Absplitterung von der „Deutschgläubigen Bewegung" Reuters (ursprünglich „Deutschreligiöse Gemeinschaft"), und die „Nordisch-religiöse Arbeitsgemeinschaft" (1931) unter N. Seibertzund W. Kusserow stellten Sammlungsbewegungen auf der Grundlage des allnordischen Gedankens dar. Als Sonderfall ist das „Deutschvolk" M. Ludendorffs anzusehen, das im März 1930 als weltanschaulich-religiöse Nebenorganisation des „Tannenbergbundes" gegründet wurde (22.9.1933 Verbot beider Organisationen; am 19.6.1937 Neugründung als „Bund für Deutsche Gotterkenntnis [L]"). Eine gewisse belletristisch-publizistische Breitenwirkung erreichte der völkisch-„christliche" Außenseiter A. Dinter, während sich seine „geistchristliche Religionsgemeinschaft" als Fehlschlag erwies. Einem „Aufruf an die Männer einer germanisch-deutschen Glaubensbewegung" J. W. Hauers, E. Bergmanns, H. Wirths, A. Drews' u. a. folgend, schlössen sich die wichtigsten deutschgläubigen Gruppen („Germanische Glaubensgemeinschaft", „Volkschaft der Nordungen", „Nordische Glaubensgemeinschaft", „Rig-Kreis", „Adler und Falken", „Deutschgläubige Gemeinschaft", „Nordisch-religiöse Arbeitsgemeinschaft"), Mitglieder des „Freundeskreises der Kommenden Gemeinde" sowie der „Bund freireligiöser Gemeinden" vom — bereits verbotenen — „Volksbund für Geistesfreiheit", der Schutz unter deutschgläubigen Fittichen suchte 2 , am 29./30. Juli 1933 in Eisenach zur „Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Glaubensbewegung" zusammen. An der Spitze standen Hauer und ein Führerrat. Zunächst war die Arbeitsgemeinschaft mehr als Zweckverband zur Interessenwahrung der in ihr vertretenen Gruppen gedacht. Allerdings machten sich frühzeitig Spannungen bemerkbar, insbesondere zwischen Frei- und Nordisch-Religiösen wie auch zwischen der Glaubenswelt Hauers und dem politisch-weltanschaulichen Radikalismus jüngerer Mitglieder, die bei Heydrich Unterstützung fanden. Auf der Pfingsttagung in Scharzfeld (18.-21.5.1934) wurde die Arbeitsgemeinschaft zur „Deutschen Glaubensbewegung" umgebildet („Richtlinien", Einführung des Sonnenrades auf blauem Grund, Beitrittsordnung, Ernennung Hauers zum alleinigen Führer). In der Folgezeit traten einige Gruppen aus der „Deutschen Glaubensbewegung" aus. Seibertz und Kusserow schufen mit der am 7.10.1934 in Leipzig konstituierten „Nordischen Religionsgemeinschaft" ein streng allnordisch ausgerichtetes Konkurrenzunternehmen (Organ: Nordische Zeitung, Symbol: silberne Hagalrune, Glaubensgrundlage: Kusserows Nordisches Artbekenntnis, im November 1934 ca. 400 Mitglieder). Die Tübinger Hauptgeschäftsstelle der „Deutschen Glaubensbewegung", die in mehrere Ämter und ein Jugendwerk untergliedert war, suchte durch reiche Publizistik, Lehrpläne zur religiösen Unterweisung und Materialien zur Feiergestaltung dem Deutschglauben weiter Bahn zu brechen. 1934 bestanden ca. 300 Ortsgruppen und Stützpunkte. Schicksalshaft für die „Deutsche Glaubensbewegung" wurde nach Scharzfeld die unter Heydrichs Regie verdeckt vorangetriebene Umformung des Deutschglaubens in seinem religiösen Sonderanspruch zu einem systemkonformen „Politischen Glauben" (Buchheim), die Anfang 1936 mit dem erzwungenen Rücktritt Hauers und der Resignation E. zu Reventlows einen ersten Abschluß erreichte (Separierung Hauers und Bildung der „Kameradschaft arttreuen Glaubens" um die Zeitschrift Deutscher Glaube-, Sonderentwicklung Reventlows als Herausgeber des Reichwart mit zunehmender Toleranz zum Christentum 3 ). Die weitere Entwicklung der „Deutschen Glaubensbewegung" war von Zerfallserscheinungen und Rivalitäten in der Leitungsspitze (zunächst W. v. Lingelsheim, Heßberg, Orlowsky) geprägt. Die alte deutschgläubige Linie wurde weiter nivelliert. 4 Eine gewisse organisatorische Stabilisierung gelang ab Anfang 1937 Dr. B. Wiedenhöft, einem geschmeidigen Intriganten, der freilich die der deutschgläubigen Bewegung seit ihren Anfängen immanente Tendenz zu Sonderbündelei und Gruppenbildung nicht auszuräumen vermochte. 1938 wandelte er die Bewegung in den „Kampfring Deutscher Glaube" um. Jetzt sollte das Volk als Ganzes Glaubensgemeinschaft sein. Permanent konkurrierten mit „Bewegung" bzw. „Kampfring" auf dem deutsch- und

Deutschgläubige Bewegungen

557

nordreligiösen Missionsfeld die älteren und neue, teilweise noch Ende der 30er Jahre entsteh e n d e Gruppen. Bis Kriegsbeginn waren andererseits viele G r u p p e n eingegangen. Dinters „Geistkirche" wurde 1937 verboten. Der Einbruch des Deutschglaubens in die Bevölkerung gelang nicht. In H a m b u r g gaben per 1 . 1 0 . 1 9 3 7 lediglich 0 , 4 9 % der Bevölkerung Zugehörigkeit zur Ludendorff- bzw. auch zu Deutschen Glaubensbewegungen an. Am Heiligen Quell erschien im 2. Quartal 1939 immerhin noch mit 6 4 1 1 5 Exemplaren ( 2 5 . 9 . 1 9 3 9 Sperr u n g der Papierzuteilung; JK 7 [1939] 615). Im 2. Weltkrieg sollte das „religiöse Ringen" hinter die gemeinsamen völkischen Verpflichtungen zurücktreten. 3. Deutschgläubige

Religiosität

Diffus wie das organisationsgeschichtliche Erscheinungsbild waren auch die Inhalte deutschgläubiger Religiosität selbst. Ihre Ausbildung geschah im Rekurs auf alt- und indogermanisches Religionsgut, z. T. sog. nationalgermanisches (arianisches) Christentum, deutsche —»Mystik, aufklärerische, spätidealistische und lebensphilosophische Ideologeme und auf die Rassenlehre. Die antichristliche Tendenz manifestierte sich in massiver Polemik, die ihre Argumente auch von der Freidenkerbewegung (—»Freidenker) ausborgte. Als religiöse Grundtypen, zwischen denen mannigfache Mischungsverhältnisse, andererseits auch prinzipielle Unverträglichkeit vorliegen konnten, lassen sich ausmachen: 3.1. Der Hauersche Glaubenstyp. Hauers „Deutscher G l a u b e " 5 entsprang dem Drang des ehemaligen württembergischen Pfarrers und Missionars nach religiöser Erweiterung des Christentums. Eindrücke indischer Religiosität und seelische Manifestationen führten H a u e r zum Postulat des „Ewig-Wirklichen" in allen Religionen und eines „religiösen Urwillens". Entscheidend war nicht das Dogma, sondern das religiöse Erleben. Im Gegensatz zum vorderasiatisch-semitischen Religionstyp faßte H a u e r seine Religiosität als indogermanisch auf. Neuplatonismus, H u m a n i s m u s , Renaissance und klassische deutsche Dichtung wurden als religiöse Wertgrößen integriert. Deutsche Geschichte und Schicksal galten als Offenbarungsträger. Er w a r durch den religiös erlebten Totalanspruch 3.2. Der allnordische Glaubenstyp. des Nordrassendogmas bestimmt. Die Menschenrassen wurden als Offenbarungen widerstreitender göttlicher Kräfte gewertet, „verschieden an Stufung, Wert und A u f g a b e n " . 6 Eine polemische Einstellung gegen religiöse „Fremdeinflüsse" von Christentum und J u d e n t u m war konstitutiv. Vorstellungen von Rassenadel, Blut, Ehre und Rassenseele wurden zu religiösen Bekenntnissen hochstilisiert und eine „positive nordische Religion" gefordert. Deutlich unterschieden von den Nordreligiösen waren die Germanischreligiösen (Hauptrepräsentant L. Fahrenkrog) in ihrem germanophilen Kultur- und sittlichen Gestaltungswillen. 3.3. Der politische Glaubenstyp. Er verweigerte sich zunehmend jeglicher Religiosität im traditionellen Verständnis, um im —»Nationalsozialismus eine „göttliche W e r t g r ö ß e " zu finden und Blut, Geist, Staat, Führer und Volksgemeinschaft als „dynamischen Gottess t r o m " zu feiern. Dem politischen Glaubenstyp ist auch A. Rosenberg zuzurechnen, der 1935 m a n c h e Wendungen im Mythus als „zu mild" (Baumgärtner 73) bezeichnete. Bezeichnend für die Einordnung der Religion in die nationalsozialistische Weltanschauung w a r Rosenbergs parteiinterne Denkschrift Religion und Weltanschauung von 1939. 3.4. Der Ludendorffsche Glaubenstyp. Ganz auf Person und prophetischen Sendungsanspruch Mathilde Ludendorffs geb. Kemnitz abgestellt, hatte dieser Typ sein Proprium in einer anthropo- und ethnozentrischen Soteriologie: A u f f o r d e r u n g an den deutschen Menschen, durch den im innersten Selbst erlebten G o t t seine Selbstschöpfung und -erlösung zu vollenden und den „Gotterhaltungswillen" zu stärken, der zur „Gotteinheit" führte. Gewonnen war diese Selbstvergottungs- und Heilslehre vor allem in der Polemik gegen die „ J a h w e h e r r s c h a f t " und den „falschen Propheten" Jesus.

558

Deutschgläubige Bewegungen

4. Nationalsozialistische

Religionspolitik

und Deutschgläubige

Bewegung

Den Nationalsozialismus durch eine völkische Religion zu überwölben, hatte Hitler schon in Mein Kampf abgelehnt. Auch Hitlers religionspolitische Konzeption im Jahre 1933 war deutschgläubigen Hoffnungen auf religiösen Führungsanspruch im Dritten Reich abträglich, mochte auch der Heß-Erlaß vom 1 3 . 1 0 . 1 9 3 3 den Deutschgläubigen zunächst Aufwind geben. Ihre Blütezeit erlebten sie nach der Saarwahl im Frühjahr 1935. Die umfangreichen Werbeaktivitäten der „Deutschen Glaubensbewegung", die dem nationalsozialistischen Entkonfessionalisierungskonzept zeitweise dienlich waren, wurden jedoch schon Mitte Mai und endgültig durch Gestapo-Erlaß Mitte August 1935 drastisch eingegrenzt. Religionspolitische Erwägungen im Blick auf die christlichen Kirchen, die gegen das „Neuheidentum" entschlossen ihre Stimme erhoben, werden dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie der weltanschauliche Exklusivitätsanspruch der NSDAP. Eine restlos einheitliche Behandlung der Deutschgläubigen ist nicht auszumachen. Auch hier schlug offenbar die „Polykratie der Ressorts" zu Buche, welche sich für die Deutschgläubigen - gerade wegen jeweils wechselnder Kräftekonstellationen unter ihren Förderern und Gegnern in Partei und Staat — im Endeffekt hemmend auswirken mußte. Die SD- und Gestapo-Berichte zeigen bereits 1936 eine deutliche Argwohntendenz. Die ministerielle Einführung des Begriffs „gottgläubig" 1936 für alle nicht glaubenslosen Volksgenossen war der Versuch, eine religiöse Identifikationsformel für Funktionäre und Mitglieder der NSDAP jenseits der Kirchen und sonstigen Glaubensgemeinschaften — damit auch der Deutschgläubigen Bewegung — zu schaffen. Mit der Rückwendung weiter Bevölkerungsschichten in traditionell-christliche Bahnen im Verlauf des 2. Weltkriegs mußten die deutschgläubigen Richtungen in ihrer ohnehin stark geschrumpften Organisationsgestalt weiter Boden verlieren. 5. Deutschgläubige

Gruppen nach

194S

Mit dem Ende des Dritten Reiches war zunächst auch das Schicksal der Deutschgläubigen Bewegung besiegelt. Die „Deutsche Glaubensbewegung" wurde unter die belasteten Gruppen eingestuft. Alsbald gelang es jedoch ehemaligen Deutschgläubigen, entweder in bereits bestehenden religiösen Gemeinschaften oder in Fortsetzungsorganisationen eine neue Heimat zu finden. Ein Sammelbecken für versprengte Nationalsozialisten und Deutschgläubige wurden z. B. seit 1951 die „Deutschen Unitarier, Religionsgemeinschaft der Gottgläubigen in Dithmarschen". Auch die „Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaft" ist völkisch-religiös. Die Nordreligiösen wurden nach 1945 insbesondere von N. Seibertz (gest. 1965) und in W. Kusserows 1951 in Göttingen gegründeter „Artgemeinschaft" aufgefangen (publizistische Wirksamkeit in der Nordischen Zeitung. Stimme des Artglaubens und in Die Artgemeinschaft e. V. Monatslosungen — hektographiert, vereinsintern). Anmerkungen 1

2

3 4

5 6

Hans Kohn, Wege u. Irrwege, Düsseldorf 1962,59; dazu auch Edward D. Junkin, Religion versus Revolution, Austin, Tex. 1974, 6 1 9 - 8 1 4 ; Jacques Droz, L'Allemagne et la Révolution française, Paris 1949. Zu den Beziehungen Freireligiöse — Deutschgläubige aufschlußreiches Material im Hauer-Nachlaß Bundesarchiv Koblenz Nr. 68.78. - Bezeichnend das Schreiben Conrads (RMdl) an Hauer vom 3 . 1 . 1934 mit Bitte um Stellungnahme zu einer Eingabe an Pfundtner, in der es heißt: „ . . . Wenn heute versucht wird, aus diesen ganz religionsfeindlichen Kreisen Gemeinden ,deutschen Glaubens' zu machen, so ist das nur eine Tarnung des Freidenkertums, das verboten ist und sich sammeln will!! " (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Statement E. zu Reventlows vom 8 . 4 . 1 9 3 6 in ZStA Potsdam, RKM, Nr. 23 140, Bl. 39ff. Durchbruch 1937, Nr. 1. - Ähnlich bereits nach Hauers Rücktritt (Durchbruch 1936, Nr. 15; vgl. auch Durchbruch 1938; Nr. 9). Zum biographischen Hintergrund Dt. Glaube 1 (1935) 5 - 1 1 . Eisenacher Verhandlungsgrundlage der Nordisch-religiösen Arbeitsgemeinschaft, zit. nach Seibertz 28.

Deutschkatholiken

559

Quellen Berichte des SD u. der Gestapo über Kirchen u. Kirchenvolk in Deutschland 1934—1944, bearb. v. Heinz Boberach, 1971 (VKZG.Q 12). - Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1 9 3 4 - 1 9 4 0 , hg. v. K. Behnken, Salzhausen/Frankfurt 1980, II, 234ff; IV, 434ff. - Otto 5 Diehn, Bibliogr. zur Gesch. des Kirchenkampfes, 1958 (AGK 1) Nr. 4 3 0 - 4 3 9 ; 5 9 2 a - 6 3 6 ; 7 6 4 - 1 0 9 8 ; 4003—4160; 4213—4602. — Die „dritte Konfession?" Materialsammlung über die nordisch-rel. Bewegungen, Berlin-Steglitz 1934 (Lit.). - Walter Künneth, Die völkische Religiosität der Gegenwart, Berlin-Spandau 2 1 9 3 2 (Lit.). — Helmut Lother, Neugermanische Religion u. Christentum, Gütersloh 1934 (Lit.). — Zeitungen u. Zeitschriften (in Ausw.): Dt. Glaube 2 (1934) - 11 (1944). -Durchbruch 1 (1934) 10 - 5 ( 1 9 3 8 ) . - Kampfring Dt. Glaube 1 (193 8) - 2 (193 9). - Der Reichs wart 1 (1920) - 25 (1944). - Am Heiligen Quell. Monatsschr. des Deutschvolkes 3 (1932) - 10 (1939). Literatur Raimund Baumgärtner, Weltanschauungskampf im Dritten Reich. Die Auseinandersetzung der Kirchen mit Alfred Rosenberg, 1977 (VKZG.F 22). - Hans Buchheim, Glaubenskrise im Dritten Reich, 15 Stuttgart 1953. - Ders., Die organisatorische Entwicklung der Ludendorff-Bewegung u. ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus: Gutachten des Instituts für Zeitgesch., München 1958, 356—370. —Hb. Rel. Gemeinschaften, hg. v. Horst Reller, Gütersloh 1978, 4 2 8 - 4 3 5 . - Kurt Hutten, Art. Deutschgläubige Bewegungen: RGG 3 2 (1958) 1 0 8 - 1 1 2 . - Hans Jürgen Lutzhöft, Der nordische Gedanke in Deutschland 1 9 2 0 - 1 9 4 0 , 1971 (KiHiSt 14). - Winfried Schüler, Der Bayreuther Kreis v. seiner Entstehung bis 20 zum Ausgang der Wilhelminischen Ära, 1971 (NMBGF 12). — Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern/Stuttgart/Wien 1963. - Heinrich Weinel, Art. Völkische Bewegung: RGG 2 5 (1931) 1 6 1 6 - 1 6 2 6 . - Friedrich Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , 1965 (VHBK 11). Kurt N o w a k Deutschkatholiken 25

1. Definition 2. Anlaß und Entstehungsbedingungen 3. Die deutschkatholische Lehre 4. Ausbreitung, Organisation und soziale Struktur der deutschkatholischen Gemeinden 5. Der Deutschkatholizismus in der Revolution 1848/49 6. Beurteilung der Forschungsdefizite (Quellen/Literatur S. 562) 1.

Definiton

30

Unter Deutschkatholizismus ist die 1 8 4 4 entstandene —>Los-von-Rom-Bewegung zu verstehen, die unter Führung des suspendierten schlesischen Kaplans Johannes Ronge ( 1 8 1 3 - 1 8 8 7 ) innerhalb weniger Jahre zur Massenbewegung anstieg. Erst mit dem Scheitern der Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 und dem Einsetzen der Reaktion im Jahre 1 8 5 0 verlor der Deutschkatholizismus seine historische Bedeutung. 1 8 5 9 schlössen sich die meisten 35 Deutschkatholiken mit den —»Lichtfreunden zum „Bund freireligiöser Gemeinden" zusammen. 1 9 2 1 vereinigten sie sich mit dem Freidenkerbund (—»Freidenker) zum heute noch existierenden „Volksbund für Geistesfreiheit". Der Deutschkatholizismus verstand sich als eine von Gott vorgeschriebene F o r m der Gemeinschaft, muß aber zugleich als protest-group in ihrer gesamtgesellschaftlichen Funk40 tion gesehen werden (B. R . Wilson, Sects and Society. A Sociological Study of Three Groups in Britain, London 1 9 6 1 ) . Daher wurde im Deutschkatholizismus die religiöse Basis vielfach von sozialen und politischen Handlungsmotivationen fast völlig überdeckt, im Einzelfall auch verleugnet, so daß in der deutschkatholischen Lehre eine klare Grenzlinie zwischen einer spätrationalistischen, weitgehend säkularisierten „ h u m a n e n " Religion und einem Of45 fenbarungsglauben nicht eindeutig zu ziehen ist. Der Deutschkatholizismus ist religiöse und sozialpolitische Bewegung in eins. Im deutschen V o r m ä r z w a r aber der religiöse Protest die angemessene Artikulationsweise des sozialen und politischen Freiheitswillens sowohl der kleinbürgerlichen Schichten als auch des liberalen, aufgeklärten Bürgertums. 2. Artlaß und 50

Entstehungsbedingungen

Unmittelbarer Anlaß des Deutschkatholizismus w a r die Ausstellung des Heiligen Rokkes in Trier ( 1 8 4 4 ) und das offene Schreiben von Ronge an Bischof Arnoldi, in dem er alle Katholiken zur Gründung einer Nationalkirche aufforderte. Damit folgte Ronge der vor al-

560

Deutschkatholiken

lern in Schlesien nicht abgebrochenen Tradition des Reformkatholizismus und den vor allem in Süddeutschland lebendigen kirchlichen Bestrebungen I. H . v. —>Wessenbergs. Die massenhafte Verbreitung dieses Aufrufs, die spontanen Sympathiekundgebungen für Ronge als dem „Reformator des 19. Jh." und die Gründung zahlreicher Gemeinden von beträchtlicher Größe in ganz Deutschland lassen sich jedoch nicht allein aus der religiösen und kirchenpolitischen Situation (u. a. der Erstarkung der katholischen Hierarchie nach den Kölner Wirren, der noch unbefriedigenden Klärung der Mischehenfrage und dem zeitgenössischen Phänomen einer religiösen Erneuerung im Katholizismus) verstehen. Auch die allgemeine „Verkirchlichung" des öffentlichen Lebens seit dem Thronwechsel in Preußen (1840) reicht als Erklärung für die beide Konfessionen erfassende Massen- und Protestbewegung nicht aus. Die Trierer Rockausstellung steht auch im engsten Zusammenhang mit den gesellschaftlichen und politischen Ereignissen des deutschen Vormärz. Mit ihr versuchte die katholische Kirche mit unzeitgemäßen religiösen Mitteln und mit Unterstützung der preußisch-protestantischen Administration, revolutionäres Potential in die Bahnen religiöser und sozialpolitischer Ruhe und Ordnung zu lenken und sich ihres konservativen Einflusses auf die Massen zu versichern (Schieder). Deswegen konnte die religiöse Oppositionsbewegung des Deutschkatholizismus, die sich im Namen eines zeitgemäßen praktischen Christentums zu politischer Freiheit und Brüderlichkeit, zu „Demokratie", zu „Sozialismus", zur deutschen Nation und zur Aufhebung der konfessionellen Spaltung als „im Wesen unserer Religion begründet" bekannte, mit breiter Zustimmung rechnen. Die Entstehung des Deutschkatholizismus ist nur im Zusammenhang mit den sozioökonomischen Krisen und den politischen Unterdrückungen im deutschen Vormärz erklärlich. 3. Die deutschkatholische

Lehre

Der Deutschkatholizismus hat keine einheitliche Theologie hervorgebracht. Er verstand sich als Erbe der theologischen —»Aufklärung und wurde von theologischen Vertretern des älteren Rationalismus (u.a. H . E. G. Paulus, K. G. —»Bretschneider, J. F. Röhr), des Reformkatholizismus (u. a. Wessenberg, A. Theiner, J. B. Hirscher) und der freien Theologie (u. a. F. C. —»Baur, K. Planck, D. F. —»Strauß, E. Zeller, F. Th. Vischer) als weiterführende theologische Richtung und als eine die Massen erfassende „ w a h r h a f t christ-katholische" Erscheinung ernsthaft diskutiert. Die Radikalisierung der theologischen Diskussion durch die Junghegelianer (A. Rüge, B. —»Bauer, K. —»Marx) ebenso wie die Auseinandersetzung mit dem rationalistischen Flügel der protestantischen Lichtfreunde führte auch zur Radikalisierung der deutschkatholischen Lehre. Im Verständnis der Junghegelianer unterscheidet sich der Deutschkatholizismus als „wahres Christentum" vom „illusorischen Christentum"; das Wesen des Deutschkatholizismus sei „die universelle Humanisierung und demokratische Realisierung des Christentums" (A. Rüge). Dieser theologischen Entwicklung hin zu einer radikalen, der Selbsterlösung nahestehenden Religion des Diesseits und der „Massen" und zu einer Theologie der—»Revolution (Revolution als Offenbarung Gottes) stand von Anfang an eine „orthodoxere" Richtung unter der Führung von Johann Czerski (1813-1893) gegenüber, die sich am Reformkatholizismus orientierte. Diese „christ-katholische" Richtung erstrebte ein am Vorbild des „Lebens und Erdenwandeins Jesu" orientiertes, kultisch ausgerichtetes Christentum. Nicht nur in der zeitgenössischen Polemik, sondern auch im späteren theologischen Urteil wurden die „Seichtheit" (Mirbt) des Deutschkatholizismus und das Fehlen genuin religiöser Persönlichkeiten im Deutschkatholizismus hervorgehoben. Die intensive Diskussion der Zeitgenossen um den theologisch-christlichen Gehalt des Deutschkatholizismus, die theologischen, u. a. auch liturgischen Bemühungen um eine christliche „Verwandlung des theologischen Menschen in den freien Menschen" und die lebendige Praxis eines „religiösen Sozialismus" in den Gemeinden weisen jedoch d a r a u f h i n , daß diese negative Einschätzung zu kurz greift. Die zahlreichen theologischen Schriften wollen nicht theologische Systematik, sondern situative Antworten auf die sozial-politische Wirklichkeit sein. Bestimmend bleibt für die Theologie des Deutschkatholizismus die Uberzeugung, daß ein Bruch zwischen

Deutschkatholiken

561

christlichem Glauben und der freiheitlichen Gestaltung der Gesellschaft vermeidbar ist. In diesem Sinne finden sich im Deutschkatholizismus Bruchstücke einer Theologie der Humanität, der Revolution und des religiösen Sozialismus. 4. Ausbreitung,

Organisation

und soziale Struktur der deutschkatholischen

Gemeinden

Die Verbreitung des offenen Briefes führte rasch zur Gründung deutsch-katholischer Gemeinden, zunächst in Schlesien und Sachsen, bald aber in ganz Deutschland mit Ausnahme von Bayern und Österreich. Im August 1 8 4 5 bestanden bereits 1 7 0 Gemeinden, die von 41 Predigern betreut wurden. Ende 1 8 4 6 stieg die Zahl auf ungefähr 2 1 0 Gemeinden, Anfang 1 8 4 7 auf ca. 2 3 0 Gemeinden an, zu denen 1 8 4 7 noch 1 0 - 1 5 weitere Gemeinden hinzukamen. Die Mitgliederzahl läßt sich nur schätzen: Mitte 1 8 4 7 war sie auf ca. 7 0 0 0 0 bis 8 0 0 0 0 angewachsen. Das Zentrum der Bewegung lag in Schlesien, wo Gemeinden mit über 2 0 0 0 Mitgliedern, bisweilen aber bis 7 0 0 0 Mitgliedern bestanden. Erst durch die Revolution gelang es, in Bayern und in Österreich Gemeinden zu gründen. Durch fünf von Ronge 1 8 4 5 unternommene Reisen gelang es, dem Deutschkatholizismus öffentliche Anerkennung, finanzielle Unterstützung durch das Bürgertum und amtliche Förderung zu sichern. Dabei wurde der Deutschkatholizismus von Preußen zwar nicht öffentlich gefördert, aber auch nicht unterdrückt. Die deutschkatholischen Gemeinden konstituierten sich als freie Assoziationen. Sie gehörten somit zu den ersten Vereinen in Deutschland, die die Gleichberechtigung der —»Frau (aktives und passives Wahlrecht in allen Gemeindeangelegenheiten) verwirklichten. Ein organisatorischer Zusammenschluß der Gemeinden zur deutschkatholischen Kirche wurde auf dem Konzil in Leipzig 1 8 4 5 angestrebt, wobei anstelle des Dogmas das „Formalprincip der Freiheit" den Zusammenhalt sichern sollte. Dabei läßt sich eine klare Unterscheidung zwischen politischer und religiöser Autonomie nicht treffen. Auch der Kult war von politischen und nationalen Implikationen bestimmt. Das Prinzip der „Selbständigkeit" bzw. die Praxis des „Liebeschristentums" führten zu einer Fülle sozialer Tätigkeiten und vereinsmäßigen Gründungen (z. B. Frauenvereine zur Unterstützung christkatholischer Schulkinder, Lesevereine, Armenvereine, Vereine zur „Hebung der allgemeinen Volksbildung" u . a . m . ; —»Vereinswesen). Eine enge Verbindung zwischen diesen Gemeindeaktivitäten und den T ä tigkeiten anderer Vereine (vor 1 8 4 8 den Gesangvereinen, Turnvereinen usw., nach den Märzereignissen den Demokratenvereinen, den Vaterlandsvereinen usw.) ist hier ebenso wie bei den protestantischen Lichtfreunden feststellbar (J. Brederlow, „Lichtfreunde" u. „Freie Gemeinden", München 1 9 7 6 ) . Der Deutschkatholizismus fand in den bürgerlichen Schichten eine Anhängerschaft, die, wie insbesondere im badischen Liberalismus, bewußt unter ihrer geistigen, politischen und wirtschaftlichen Unfreiheit litt. Allerdings rekrutierte sich die Mehrzahl der Anhänger aus kleinbürgerlichen und proletarischen Schichten, die sich vielfach ohne klares sozial-politisches Bewußtsein aus sozialer Angst der neuen Bewegung anschlössen. Die stärksten Gemeinden befanden sich in Gegenden, in denen die —»Industrialisierung am weitesten fortgeschritten war (Schlesien, Sachsen, Rheinland) und in denen Massenelend herrschte. Auch die soziale Gespaltenheit des deutschen —»Bürgertums spiegelt sich in den Gemeindekonflikten wider. Sie führte in einzelnen Gemeinden (Breslau) zu einer Trennung in eine vom liberalen, gehobenen Bürgertum getragene Gemeinde einerseits und eine kleinbürgerliche, proletarische Gemeinde mit stärker demokratisch-sozialistischen Tendenzen andererseits. 5. Der Deutschkatholizismus

in der Revolution

1848/49

Die Rolle des Deutschkatholizismus in der Revolution wird weitgehend unterschätzt. Sein Einfluß im Vorparlament war erheblich. Zahlreiche Deutschkatholiken gehörten der gemäßigten und der extremen Linken (u. a. E. A. R o ß m ä ß l e r , R . Blum, F. Wigard, L. Hentges, M . M o h r , F. Schuselka, Tafel, Franz Schmidt) der Frankfurter Paulskirche und der Berliner Nationalversammlung an. Entscheidender noch war ihre außerparlamentarische T ä -

Deutschkatholiken

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tigkeit (Teilnahme an den Demokraten- und Arbeiterkongressen 1 8 4 8 , an politischer Vereinsbildung auf lokaler Ebene, an revolutionären Erhebungen in Berlin und Wien, im Rheinland und in der Pfalz). Für den Deutschkatholizismus hatte die religiöse Bewegung die Revolution von 1 8 4 8 eingeleitet. Ihm k o m m e die Aufgabe zu, die wahre Idee der Revolution sichtbar zu machen. Ronge forderte dabei ein „drittes H ö h e r e s " „zwischen der Herrschaft des Kapitals einerseits und dem atheistischen Kommunismus und dem phantasistischen Sozialismus andererseits" (Verhältnis der jungen Kirche zur sozialen Frage 9 5 ) . Allerdings wurden die Jahre 1 8 4 8 und 1 8 4 9 nicht als Zeiten der Vernunft und der Humanität, sondern als eine „Standrechtsperiod e " erfahren. Deutschkatholische Führer wurden hingerichtet (R. Blum) oder flohen ins Ausland. Der Deutschkatholizismus als religiöse und sozialpolitische Bewegung fiel der Reaktion zum Opfer. 6. Beurteilung

der

Forschungsdefizite

Die weitgehend negative Einschätzung des Deutschkatholizismus allein aus einem theologischen oder kirchengeschichtlichen Blickwinkel ist in der jüngeren, sozialgeschichtlich orientierten Forschung (Holden; Kolbe; Kuhn; Graf) einer Neubewertung unterzogen worden. Ausgehend von dem tiefgreifenden sozialen Wandel und der akuten sozialen Krise der späten 1840er Jahre und zugleich der Unfähigkeit der Kirche, die Entfremdung der Massen von der Kirche aufzuhalten, wird dem Deutschkatholizismus als der größten Protestbewegung des deutschen Vormärz eine bedeutsame Funktion im Prozeß der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Emanzipationsbewegung und dem Wandel des religiösen Bewußtseins beigemessen. Denn erst die religiöse Opposition hat es nach neueren Arbeiten (Kuhn; Graf) vermocht, die Kritik an der Restauration zu einer „Sache des Volks" zu machen und eine politisch-gesellschaftliche Bewußtwerdung breiter Massen einzuleiten. Diese generelle Einschätzung läßt wichtige Fragen offen, die bei der jetzigen Forschungslage nicht zu beantworten sind. Erst auf der Basis umfassender, lokalgeschichtlicher Forschungen wäre es möglich, die weitgehend ungeklärte Frage zum theologischen Stellenwert und zur gesamtgesellschaftlichen Einschätzung des Deutschkatholizismus zu klären. Quellen Bibliographische Hilfsmittel: AKZ 2 3 - 2 9 ( 1 8 4 4 - 1 8 5 0 ) (dazu: TLAKZ 2 1 - 2 7 [ 1 8 4 4 - 1 8 5 0 ] ) . F. W. Graf (s. u.), 367—441 (Dokumente zum deutschkatholischen Gemeindeleben). - J. Günther, Bibliothek der Bekenntnisschr. der deutschkatholischen Kirche, Jena 1845. - Hl. Rock-Album. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Aktenstücke, Briefe, Adressen, Berichte u. Zeitungsartikel über die Ausstellung des hl. Rockes in Trier, Leipzig 1845. - Die Lit. in Bezug auf die Rockfahrt, Ronge u. Schneidemühl, Jena 1 8 4 5 . - N e u e Jenaische Allg. Literatur-Zeitung. Im Auftrag der Univ. v. Jena hg. v. F. Hand u. a., 3 - 7 (Leipzig 1 8 4 4 - 1 8 4 8 ) (regelmäßige Sammelbesprechungen deutschkatholischer Literatur). -Augustinus de Roskoväny, Coelibatus et Breviarium, Pestini, IV 1861, 543 ff. 557 ff. 613 ff. 632ff. 638 ff. 669ff. 690. 706. - Romanus Pontifex, Nitriae et Comaromii, IV 1867, 708 ff. 802ff. 830ff. - Für die über 150 Flugschriften zur Ausstellung des Trierer Rockes s. Wolfgang Schieder, Der Trierer Wallfahrtsstreit v. 1844. Eine Bibliogr.: Kurtrierisches Jb. 14 (1974) 1 4 1 - 1 7 0 . Deutschkatholische Zeitschriften (Auswahl): Für christkath. Leben. Materialien zur Geschichte der christkath. Kirche. Unter Mitwirkung sämtl. Gemeinden hg. v. Ottomar Behnsch, 6 Bde., Breslau 1 8 4 5 - 1 8 4 8 . - Christkath. Ressourcenbl. Hg. v. Emil Wagner, fortgeführt v. Eugen Vogdierr/Theodor Hofferichter, 2 Bde., Breslau 1848/49. - Für freies rei. Leben. Materialien zur Gesch. u. Fortbildung der freien Gemeinden, insbesondere der freien kath. Hg. v. Theodor Hofferichter/Ferdinand Kampe, 2 Bde., Breslau 1848/49. - Die kath. Kirchenreform. Monatsschrift. Hg. v. Anton Mauritius Müller unter Mitwirkung der Herren Czerski u. Ronge, sowie anderer kath. Geistlicher, 4 Bde., Berlin 1845—1847.— Katholikon. Ein Archiv für die Bestrebungen der ev.-kath. d. i. allg. christl. Kirche. Hg. v. Johannes de Marie, Schkeuditz, I 1847. - Lucifer. Fliegende Blätter für Kirchen- u. Schulreform. Redaktion: C. Schäffer, Darmstadt, I 1848. - Reformationsstimmen der christl.-kath. Kirche. Hg. v. Mollwitz, 2 H., Arnstadt 1845. Deutschkatholische Bekenntnisschriften (Auswahl): Allgemeine Grundsätze und Bestimmungen der deutsch-kath. Kirche, wie sie bei dem ersten Concil in Leipzig an dem Oster-feste 1845 berathen u. angenommen wurden, Offenbach o. J. - Beschlüsse der deutschkath. Synode der süd- u. westdt. Kirchenprovinz, abgehalten zu Heidelberg den 12. u. 13. Mai 1847, Heidelberg 1847. - Entwurf eines christlichkath. Katechismus nach den Grundsätzen der Leipziger Kirchenversammlung, Berlin 1845. Die erste allg. Kirchenversammlung der deutschkath. Kirche, abgehalten zu Leipzig, Ostern 1845. Authentischer Bericht. Im Auftrage der Kirchenversammlung hg. v. Robert Blum/Franz Wigard, Leipzig

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1845. - Das erste Concil der deutsch-kath. Kirche gehalten zu Leipzig unter der Mitwirkung v. Czerski u. Ronge, Leipzig 1845 2 1845. - Grundzüge der Glaubenslehre, des Gottesdienstes u. der Verfassung der allg. (kath.) christl. Gemeinde zu Breslau. Zum Besten der Gemeinde, Breslau 1845. - Offenes Glaubensbekenntnis der christl.-apostolischen-kath. Gemeinde zu Schneidemühl in ihren Unterscheidungslehren v. der röm.-kath. Kirche, d. h. der Hierarchie, Bromberg 1844. - Die zweite allg. christkath. Kirchenversammlung. Abgehalten zu Berlin, Pfingsten 1847. Authentischer Bericht. Im Auftrage der Kirchenversammlung hg. v. Robert Blum/Franz Wigard, Leipzig 1847. Publikationen einzelner Deutschkatholiken (Auswahl): Friedrich Albrecht, Predigten, Aufsätze u. Mittheilungen, 1 2 H . , U l m 1 8 4 6 - 1 8 4 8 . - V i n c e n z v. Balitzky, Kirchl. Vortr., Dresden 1 8 5 1 , - E d u i n Bauer, Gesch. der Gründung u. Fortbildung der deutschkath. Kirche, Meißen 1845. - Ottomar Behnsch, An meine Wähler. Zugleich ein politisches Glaubensbekenntnis (Dez. 1848), Salzbrunn 1849. - Robert Blum, Der Kampf zw. Licht u. Finsternis. Aus den sächsischen Vaterlandsblättern abgedruckt, Offenbach 1845. - Ders., Der Hirtenbrief des Bischofs Arnoldi zu Trier. Von dem Katholiken . . . (Aus den ,Sächsischen Vaterlandsblättern'), Frankfurt 1845. - Ders., Die Wunder des hl. Rocks, Frankfurt, M . 1844 2 1 8 4 4 . - D e r s . , Johannes Ronge: Vorwärts! Volks-Taschenbuch für das Jahr 1845. Hg. v. R. Blum, Leipzig 1 8 4 5 , 2 3 6 - 2 4 6 . - D e r s . , Johannes Ronge's (kath. Priester) offenes Sendschreiben an den Bischof Arnoldi zu Trier, Offenbach 1845. - Ders., Rede bei der Versammlung der kath. Gemeinde zu Leipzig. Gehalten am 9. Februar 1845. Aus den ,Sächsischen Vaterlandsblättern' bes. abgedruckt, Leipzig 1845. —Ders., Rede am Grabe des Herrn Joseph Deila Porta, der ersten Leiche der deutschkath. Gemeinde zu Leipzig, Leipzig 1845. - Ders. (Hg.), Die Fortschrittsmänner der Gegenwart. Eine Weihnachtsgabe für Deutschlands freisinnige Männer u. Frauen, Leipzig 1847. - Ders. (Hg.), Volkstümliches Hb. der Staatswiss. u. der Politik. Ein Staatslexikon für das Volk, 2 Bde., Leipzig 1847/48. Selbstbiographie v. Robert Blum u. dessen Ermordung in Wien am 9. November 1848. Hg. v. einem seiner Freunde, Meißen 1849. - Robert Blum. Deutschlands politischer Erlöser. Ein Denkmal seiner Ehren zur Begeisterung Aller für die Sache der Freiheit, Leipzig 1849. - Robert Blum. Ein Zeugnis seines Lebens. Nach zeitgenössischen Dokumenten, bearb. v. H. Füssler, Zwickau 1848. - Blum u. die deutsch-kath. Bewegung: Ausgew. Reden u. Sehr. v. Robert Blum. Hg. v. Hermann Nebel (d. i. W. Liebknecht), Leipzig 1 8 7 9 - 1 8 8 1 . - Josef Dominik Karl Brugger, Das Christenthum im Geiste des 19. Jh. Vortr. u. Gebete, gehalten in den deutschkath. Gemeinden Heidelberg, Mannheim, Frankfurt, Worms, Konstanz, Stockach u. Hüfingen. Eine Gabe für Deutschkatholiken u. ihre Freunde, Heidelberg 1847. Johannes Czerski, Rechtfertigung meines Abfalls v. der röm. Hofkirche. Ein freies Sendschreiben an Alle, die da hören, sehen u. prüfen wollen oder können, Bromberg ' 1 8 4 4 2 1845. - Ders., Mein Leben, mein Kämpfen u. Wirken, Schneidemühl 1887. - Johannes Czerski, der Stifter der christl.-apostolischen kath. Kirche zu Schneidemühl darg. in Wort u. Bild. Nebst Glaubensbekenntnis u. Bevorwortung v. Czerski, Leipzig 1845. —Johannes Czerski gegenüber seinen Widersachern. Nebst kurzer Schilderung eines Gottesdienstes der apostolisch-kath. Gemeinde in Schneidemühl. Als Anhang: Aufruf an Theiner, Bromberg 1845. - Dem dt. Volke! Robert Blum. Eine treue Darst. seines Lebens, Wirkens u. Todes. Nebst den v. Rauch, Flathe, Zille u. Joseph bei der Todtenfeier in Leipzig gehaltenen Trauerreden, Leipzig 1 8 4 9 . - R u d o l f Dowiat, Meine Conversion, Danzig 1845. —Ders., Des vom Criminalgerichtshofe zu Berlin am 15. Dezember 1848 zu 6 Jahren Festungshaft verurteilten sog. deutsch-kath. Predigers Dowiat Rede. Nach dem Manuscripte des Verurteilten, Berlin 1848. — Eduard Duller (Hg.), Die Männer des Volks darg. v. Freunden des Volks, 8 Bde., Frankfurt, M. 1847/48. - Anton Fuester, Memoiren vom März 1848 bis Juli 1849. Beitr. zur Gesch. der Wiener Revolution, 2 Bde., Frankfurt, M. 1850. - Der hl. Rock u. der Brief des Herrn Johannes Ronge, Leipzig 1845. — Theodor Hofferichter, Die kirchl. Bewegung. Briefe an seine Freunde, Breslau/Steinau 1847/48. - Ferdinand Kampe, Gesch. der rel. Bewegung der neueren Zeit, 4 Bde., Leipzig 1 8 5 2 - 1 8 6 0 . - Ders., Das Wesen des Deutschkatholizismus, mit bes. Rücksicht aufsein Verhältniß zur Politik, Tübingen 1850. - Ders., Glauben oder Denken? Eine Reihe v. Vortr. über das freirel. Formalprinzip, gehalten vor der deutsch-kath. Gemeinde zu Mainz, Mainz 1853. - Hermann Aloys Körner, Lebenskämpfe in der alten u. neuen Welt. Eine Selbstbiographie, 2 Bde., Leipzig u. Zürich 1865/66. — Malwida v. Meysenburg, Memoiren einer Idealistin, Berlin/Leipzig 9 1 9 0 5 . - Christian Gottfried Daniel Nees v. Esenbeck, Die Wahrheit des positiven Christenthums im Christkatholizismus. Betrachtung u. Spekulation, Wohlau 1848. - Ders./TTie. Hofferichter, Zwei politische Glaubensbekenntnisse, Breslau 1848. —Der neue Luther!! Sendschreiben des J. Ronge an den Bischof Arnoldi v. Trier; Das Glaubensbekenntniß der deutschkath. Gemeinde zu Schneidemühl; Absagebrief des Univ.professors D. Regenbrecht zu Breslau an das dortige Domkapitel; Aufruf des J. Ronge an die niedere kath. Geistlichkeit. Mit dem Vor- u. Nachworte eines Katholikenfreundes. Nebst dem wohlgetroffenen Portrait des J. Ronge, des Bischofs Arnoldi u. der Abbildung des s.g. hl. Rockes, Hamburg 1845. - Luise Otto (-Peters), Röm. oder Dt. Roman, 4 Bde., Leipzig 1847. - Dies., Materialien zum Religionsunterricht wie zur Selbstbelehrung für christ-kath. Gemeinden, Liegnitz 1847. - Der röm. Katholicismus in Deutschland in seiner Selbstauflösung begriffen oder die kath. Kirchenreform in Deutschland. Nebst einem Anhange: Lästerungen Preußens in officiellen Erlassen des Papstes,,des Statthalters Christi auf Erden', Wesel 1845. - Franz Ronge, Ronge's erste Rundreise zu den christ-kath.

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Gemeinden Schlesiens, Sachsens u. der Mark, Ostern 1845. Denkschrift für alle Christ-Katholiken, bearb. v. einem seiner Begleiter, Breslau 1845. - Ders., Rom u. das Breslauer Domkapitel. Erstmals publiziert: Sächsische Vaterlandsbl. 1842, Nr. 135. - Ders-, Offenes Sendschreiben an den Bischof Arnoldi zu Trier. Erstmals publiziert: ebd. 16. 10. 1844. - Ders., An die kath. Lehrer, Altenburg 1845.-Ders., An die niedere kath. Geistlichkeit, Leipzig 1845. - Ders., An meine Glaubensgenossen u. Mitbürger, Altenburg 1845.-Ders., Dieröm. u. die dt. Schule, 1. [u. einziges] H., Dessau 1845.-Ders., Ein Zuruf an die Nichtbevorrechteten, Breslau 1845. - Ders., Kath. Dichtungen, Dessau 1 8 4 5 . - Ders., Kirchtagliche Perikopen oder eine neue Ausw. v. Lehrabschnitten aus den Evangelien u. Episteln des neuen Testaments für die christkath. Kirche auf alle Kirchtage des Jahres, Dessau 1845 2 1845.-Ders., Kostbare Reliquien meist aus dem Zeitalter der röm. Hierarchie. Gesammelt u. der dt. Nation zur Schau gestellt, Landsberg a. d. W. 1845. - Ders., Neue u. doch alte Feinde, Dessau 1845. - Ders., Rechtfertigung, Leipzig 1845 "1845. - Ders., Das Wesen der freien christl. Kirche, Hamburg 1847. - Ders., Das Verhältnis der jungen Kirche zur socialen Frage, Frankfurt 1848. — Ders., Deutschlands Neugestaltung. Ein Wort der Ermunterung, Leipzig 1848. - Ders., Wider die standrechtlichen Hinrichtungen in Baden. Sendschreiben an das dt. Volk (Extra-Abdruck aus der Schweizerischen National-Zeitung), o. O. o. J. Ders., Europa darf nicht kosakisch, Europa muß frei werden. Ein Sendschreiben, Hamburg 1849 3 1849. - Ders., Maria, oder die Stellung der Frauen der alten u. neuen Zeit. Eine Erwiderung auf das Rundschreiben des Papstes wegen dringender Verehrung der Maria, Hamburg 1849. - Ders., Aufruf an die dt. Männer u. Frauen, nebst Grundbestimmungen der freien Kirche, Hamburg 1850. — Ders., Religion u. Politik, Frankfurt, M. 1850. - Ders., Religion u. Politik, Frankfurt, M. 1850. - Ders., The Reformation of the 19 lh Century, 2 Bde., London/Manchester 1852. - Ders., An das dt. Volk, Kampf gegen Rußland, wenn nicht mit, dann ohne die Fürsten, 1854. - Ders., Die Ursache meiner Verbannung, London 1860. - Ders., Zur Religion der Humanität. Acht Reden, London o. J. (1860). - Ders., Das göttliche Gesetz der Erziehung. Rede gehalten vor der freirel. Gemeinde in London 1860, London 1860. — Ders., Die nationale Bewegung u. die rel. Reform, Frankfurt, M. 2 1862. - Ders., Mein Sendschreiben an Friedrich Wilhelm IV., König v. Preußen, im Jahre 1849 oder die Ursache meiner Verbannung, Frankfurt, M. 3 1862. - Ders. (Hg.), Vierzehn Briefe v. Robert Blum an Joh. Ronge, Frankfurt, M. 1866. — Ronge-Album. Den deutschkath. Gemeinden u. ihren Freunden gewidmet, Jena 1845. - Ronge-Lieder. Die rel. Ideen der Gegenwart, Stuttgart 1845. — Johannes Ronges Leben nebst den seine Degradation u. Excommunication veranlaßten Aufsätzen: ,Rom u. das Breslauer Domkapitel' u. .Urtheil eines kath. Priesters über den hl. Rock zu Trier': Ein Beitr. zur Gesch. der Gegenwart, Jena 1845. - Ronge's Sendung. Gewidmet v. seinen gleichgesinnten Pfälzern bei dessen Anwesenheit in Worms, Worms 1845. - Johannes Ronge u. Robert Blum. Oder: der Triumph der Wahrheit gegen die Lüge, Leipzig 1844.-Ronge u. Uhlich. Oder die Union derprot. u. kath. Lichtfreunde, Magdeburg 1845.-Johannes Ronge wider den Papst u. die päpstliche Hierarchie. Nebst dessen zweiten Brief oder Aufruf zur Stiftung einer deutschkath. Kirche, Brief betr. Bischofswahl u. ,An die niedere Geistlichkeit', Lübeck 1845. Franz Jakob Schell, Zeitstimmen. Gesch. des Jahres 1848, zur geistigen Belehrung u. politischen Hebung des Dt. Volkes, Glogau 1848. - Johannes Scherr, Das Proletariat u. die Auswanderung: A. Schwegler (Hg.), Jahrbücher der Gegenwart 5 (1847) 2 1 4 - 2 5 3 . - Ders., Die Deutschen u. die Schweizer: ebd. 6 3 2 - 6 4 0 . - Karl Scholl, Das Wesen des Deutschkatholicismus oder die Versöhnung des Glaubens u. der Wiss. Sonntägliche Vortr., München 1849. - Heinrich Schreiber, Das Princip der deutschkath. Kirche, Jena 1845. - Ders., Deutschkatholisches. Die Dr. Hirscher'sche Beleuchtung der Motion des Abgeordneten Zittel, gegenseitig beleuchtet", Freiburg 1846. -Schuselka, Dt. Volkspolitik. Beitr. in zwangslosen Heften, Hamburg, 11846. - Gustav v. Struve, Censurstriche. Artenstücke der Censur des Großherzoglich-Badischen Regierungs-Raths v. Uria-Sarachaga. Eine Rekursschr. an das Publikum, hg. v. . . ., Redakteur des Mannheimer Journals, Mannheim, im Verlag des Herausgebers, Heidelberg 1845.-Ders., Briefe über Kirche u. Staat. Nebst der Forts, der gegen den Verfasser wegen seines .Briefwechsels zw. einem ehemaligen u. jetzigen Diplomaten' u. seiner politischen Briefe' gepflogenen Prozeßverhandlungen, Mannheim 1846. — Ders., Die Rechtsverhältnisse der Deutschkatholiken, ihre Verhältnisse zu den kath. Gemeinden u. zur kath. Kirche überhaupt: Politisches Taschenbuch für das dt. Volk v. Gustav v. Struve 1 (Frankfurt, M. 1846) 1 4 8 - 1 5 3 . - Ders., Grundzüge der Staatswiss. für das dt. Volk darg., 2 Bde., Mannheim 1847.-Ders., Gesch. der drei Volkserhebungen in Baden, Bern 1849. — Ders., Robert Blum: Gustav v. Struve/Gustav Rasch, Zwölf Streiter der Revolution, Berlin 1867. — Anton Theiner, Die reformatorischen Bestrebungen in der kath. Kirche. Ein Sendschreiben zunächst an die Gemeinden in Polsnitz, Grüssau u. Hundsfeld, dann zugleich an alle kath. Christen, denen die Offenbarung Jesu Christi als ewige u. hl. Wahrheit gilt, 2 H., Altenburg 1845/46.-Franz Wigard, Organisches Statut für deutschkath. Gemeinden, Dresden/Leipzig 1845 3 1845. Literatur Zeitgenössische Darstellungen des Deutschkatholizismus (Auswahl): Art. aus: Die Gegenwart. Eine encyklopädische Darst. der neuesten Zeitgesch. für alle Stände, 12 Bde., Leipzig 1 8 4 8 - 1 8 5 6 . Bruno Bauer, Die bürgerliche Revolution in Deutschland seit dem Anfang der deutsch-kath. Bewegung

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bis zur Gegenwart, Berlin 2 1 8 4 9 . - K a r l Biedermann (Hg.), Unsere Gegenwart u. Zukunft, 2 Bde., Leipzig 1 8 4 6 . — Johann Caspar Bluntschli, Charakter u. Geist der politischen Parteien, Nördlingen 1 8 6 9 = Aalen 1 9 7 5 . - Briefwechsel zw. J a c o b G r i m m u. Wilhelm G r i m m , Dahlmann u. Gervinus. Hg. v. Eduard Ippel, 2 Bde., Berlin 1 8 8 6 . - Friedrich Engels, Revolution u. Konterrevolution in Deutschland: K. M a r x / F . Engels, Werke, Berlin, V I I I 1 9 6 0 , 3 - 1 0 9 . - Ferdinand Falkson, Die liberale Bewegung in Königsberg ( 1 8 4 0 - 1 8 4 8 ) . Memoirenbl., Breslau 1 8 8 8 . - Ar. Frey, R o b e r t Blum. Ein Charakterbild für Freunde u. Gegner, M a n n h e i m 2 1 8 4 8 . - Julius Fröbel, Ein Lebenslauf, 2 Bde., Stuttgart 1 8 9 0 . - Heinrich v. Gagern, Zweite Ansprache an die dt. Nation über die kirchl. Wirren, Leipzig 1 8 4 6 . - G e o r g Gottfried Gervinus, Die Mission der Deutschkatholiken, Heidelberg 1 8 4 5 . - D e r s . , D i e p r o t . Geistlichkeit u. die Deutschkatholiken. M i t Bezug auf zwei Streitschriften Schenkel's, Heidelberg 2 1 8 4 6 . - Ders., Einl. in die Gesch. des 19. J h . Hg. v. Walter Boehlich, Frankfurt, M . 1 9 6 7 . - Gervinus Leben. Von ihm selbst 1 8 6 0 , Leipzig 1 8 9 3 . - Karl Glossy (Hg.), Literarische Geheimberichte aus dem V o r m ä r z : J b . der Grillparzer-Gesellschaft 2 1 - 2 3 ( 1 9 1 2 ) . - R u d o l f H a y m , Die prot. Freunde in Halle: A. Schwegler (Hg.), J a h r b ü c h e r der Gegenwart 4 ( 1 8 4 6 ) 7 9 9 - 8 4 0 . - Ders., Die Krisis unserer rel. Bewegung, Halle 1 8 4 7 . Friedrich Hecker, Die staatsrechtlichen Verhältnisse der Deutschkatholiken mit bes. Hinblicke auf Baden, Heidelberg 1 8 4 5 . - Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs, Trier-Ronge—Schneidemühl in staatsu. bundesrechtlicher Hinsicht. Ein fliegendes Blatt zu N e u j a h r 1 8 4 5 , Halle 1 8 4 5 5 1 8 4 5 . - Johannes Ronge u. d. hl. R o c k . Ein Beitr. zur Gesch. des 19. J h . , Arnstadt 1 8 4 4 2 1 8 4 5 . - Die kirchl.-rel. Bewegung der Gegenwart: Die Gegenwart (s.o.) 1 8 5 3 , 4 2 3 - 4 6 8 . 6 6 1 - 7 0 2 . - Samuel Laing, Notes on the Rise, Progress and Prospects o f the Schism from the Church o f R o m e called the German Catholic Church, Instituted by J . R o n g e and J . Czerski in 1 8 4 4 on O c c a s i o n o f t h e Pilgrimage to the Holy C o a t a t Treves, London 1 8 4 5 . - Karl Marx/Friedrich Engels, Die großen M ä n n e r des Exils: dies., W e r k e , Berlin, VIII 1 9 6 0 , 2 3 3 - 3 3 6 . - Arnold Rüge, Drei Briefe über die deutsch-religiös-politische Bewegung v. 1 8 4 5 : ders., GS, M a n n h e i m , I X 2 1 8 4 8 , 3 2 2 - 3 6 5 . - Ders., Briefwechsel u. Tagebuchbl. aus den Jahren 1 8 2 5 - 1 8 8 0 . Hg. v. P. Nerrlich, Berlin, I 1 8 8 6 , bes. 4 0 4 f f . Karl Ackermann, Gustav v. Struve mit bes. Berücksichtigung seiner Bedeutung für die Vorgesch. der badischen Revolution, Mannheim 1 9 1 4 . - Konrad Algermissen, Der Deutschkatholizismus: Kontessionskunde. Ein H b . der christl. Kirchen- u. Sektenkunde der Gegenwart, Hannover 4 1 9 3 0 , 1 8 2 - 2 2 1 . - Gottfried Buschbell, J o h a n n Anton Caspar Imandt. Begründer des ersten Crefelder Turnvereins, Deutschkatholik u. Revolutionär v. 1 8 4 8 : Die Heimat. Zs. für niederrheinische Heimatpflege 19 ( 1 9 4 0 / 1 - 2 ) 3 9 - 5 2 . - Hanns J . Christiani, J o h a n n Ronges Werdegang bis zu seiner E x k o m m u n i k a tion, Diss. Erlangen 1 9 2 5 . - Jacques D r o z , Die rel. Sekten u. die Revolution v. 1 8 4 8 : A S o c G 3 ( 1 9 6 3 ) 1 0 9 - 1 1 9 . - Karl Esselborn, Der Deutschkatholizismus in Darmstadt, Darmstadt 1 9 2 3 . - Heinz Friedel, Der Deutschkatholizismus in seinem Verhältnis zum pfälzischen Protestantismus: B P f K G 3 0 ( 1 9 6 3 ) 1 4 4 ff. - Ruth Fuchs, Franz J a k o b Wigard: M ä n n e r der Revolution v. 1 8 4 8 . Hg. v. Arbeitskreis Vorgesch. u. Gesch. der Revolution v. 1 8 4 8 / 4 9 , Berlin ( D D R ) 1 9 7 0 , 3 6 9 - 3 8 9 . - J ü r g e n Gebhardt, Die pädagogischen Anschauungen der Lichtfreunde u. freien Gemeinden. Ein Beitr. zur Einschätzung der kleinbürgerlich-demokratischen Bewegung in Deutschland im 19. J h . : J b . für Erziehungs- u. Schulg e s c h . 4 ( 1 9 6 4 ) 7 0 - 1 1 3 . - F r i e d r i c h Wilhelm Graf, Die Politisierung des rel. Bewußtseins. Die bürgerlichen Religionsparteien im dt. Vormärz. 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Annette Kuhn Deutschland I. Bis 1 5 0 0 II. 1 5 0 0 bis 1 9 4 5 III. Zur Situation der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland IV. Statistik zur Konfessionszugehörigkeit und zum kirchlichen Leben

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I. Bis 1 5 0 0 1. Missionierung und Kirchengriindungen 2 . Kirchen und Herrscher im frühen und im hohen Mittelalter 3. Kirche und Gesellschaft im späteren Mittelalter (Literatur S. 5 7 5 )

1. Missionierung und

Kirchengründungen

1.1. Die Anfänge in römischer Zeit. Die christliche Religion hat im späteren Deutschland zunächst in den zum Imperium Romanum gehörigen Gebieten Fuß gefaßt. Die Spuren eines frühesten, in die Zeit vor —»Konstantin I. zurückreichenden Christentums sind jedoch nur dünn und angesichts des Überwiegens archäologischer und (späterer) hagiographischer Quellen in vieler Hinsicht unsicher. O b tatsächlich schon im Jahre 3 0 4 in Augsburg die später als Heilige verehrte Afra den Märtyrertod gestorben ist, weiß man nicht sicher. Gewiß ist jedoch, daß schon am Ende des 3. J h . Bischöfe in Trier und in —»Köln amtierten. Im 4. J h . gab es dann auch Bischöfe in Äugst, Straßburg, Speyer, Worms, —»Mainz, Augsburg und Lorch (bei Enns in Oberösterreich). 1.2. Die Kontinuitätsfrage. Die Frage nach dem Schicksal dieser Kirchen und des Christentums in den römischen Gebieten an Rhein und Donau während der Völkerwanderungszeit ist weitgehend identisch mit dem Problem der Kontinuität. Soweit sich eine Fortdauer der spätantiken Kultur hier nachweisen oder annehmen läßt, kann man auch mit einer kontinuierlichen Existenz christlicher Gemeinden rechnen. Infolgedessen ist zu unterscheiden zwischen der ununterbrochenen Sukzession der Trierer Bischöfe einerseits und dem Erlöschen des Bistums Lorch auf der anderen Seite. Das Bistum Augsburg ist, vermutlich, in das Eisacktal zurückgenommen worden und hat in Gestalt des Bistums Saeben(-Brixen) eine Fortsetzung erfahren, das Bistum Äugst, zunächst nach Basel verlegt, ist erloschen, während an den anderen genannten Orten die Liste der Bischöfe nur für kürzere Zeit unterbrochen wird. Doch ist auch das Erlöschen von Bistümern nicht notwendigerweise mit einem totalen Aufhören christlichen Lebens in der betroffenen Region identisch. Christliche Gemeinden haben, z. B. in Augsburg, weiterbestanden, lokale Kulte wie der Florians (Lorch) und Verenas (Zurzach, Schweiz) haben überdauert. Sehr viel stärker war die Kontinuität dagegen im Rheinland. Hier blieben christliche Gemeinden vielfach auch außerhalb der Bischofssitze, z. B. in Andernach und Bingen, bestehen. Verschiedentlich gewährleisteten römische Fried-

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höfe vor den alten Siedlungen eine Kontinuität in Gestalt eines an sie anknüpfenden Märtyrerkultes, der dann — wie in Xanten oder in Bonn — zum Anlaß einer Kirchengründung wurde, an welche sich eine frühstädtische Siedlung anschloß. 1.3. Das freie Germanien. Ob und in welchem Maße das Christentum in das freie Germanien vorgedrungen ist, läßt sich mit Sicherheit nicht sagen, da weder Bestattungsbräuche (Ost-West-Orientierung der Gräber) noch Grabbeigaben wie z. B. kreuzverzierte Helme sichere Schlüsse und vor allem keine Unterscheidung zwischen Christentum und einer Übernahme vereinzelter Elemente christlicher Religion zulassen. Die Restauration der Kirchen wie auch die abermalige Christianisierung dort, wo die christliche Tradition abgerissen war, und vor allem die Einführung des Christentums in bisher heidnischen Regionen sind im Gebiet des späteren Deutschland entweder im Rahmen des Frankenreichs (—»Franken) erfolgt oder von diesem ausgegangen. Die Bekehrung des fränkischen Königs —»Chlodwig ist deshalb ein für die Kirchengeschichte Deutschlands fundamentales Ereignis. 1.4. Die Bekehrung der Franken. Gregor von Tours führt die nicht sicher zu datierende Taufe Chlodwigs (498 ?, 508 ?) einerseits auf das Drängen der Gemahlin und andererseits auf die in einer Schlacht gewonnene Uberzeugung des Königs von der größeren Kraft des Christengottes zurück. Beides dürfte den tatsächlichen Hergang treffen und Motive hervorheben, welche für die Zukunft bedeutungsvoll waren. Es dürfte nicht zuletzt an den Einwirkungen von Chlodwigs katholischer Gemahlin gelegen haben, wenn der Frankenkönig sich anders als die meisten Germanenfürsten der Völkerwanderungszeit nicht dem Arianismus (—»Germanenmission, arianische) zuwandte, sondern jener Form des Christentums, der auch die romanische Bevölkerung seines Herrschaftsgebietes anhing. Damit war eine wesentliche Voraussetzung für die spätere Assimilierung von fränkischen Eroberern und romanischer Bevölkerung sowie auch der engen Verbindung der fränkischen Herrscher mit dem —»Papsttum geschaffen. Auf der anderen Seite ist auch in der späteren Germanenmission die Werbung mit der größeren Kraft des Christengottes von zentraler Bedeutung gewesen und spielte auch bei ihr der Kult einzelner Heiliger eine wichtige Rolle (—»Heilige/Heiligenverehrung). Für Chlodwigs Bekehrung war anscheinend der Martinskult wichtig mit der Folge, daß die Verehrung dieses Heiligen und nunmehrigen Patrons der fränkischen Könige sich von Tours und Aquitanien aus im ganzen Frankenreich ausdehnte und den Eroberungen der Frankenkönige folgte. Charakteristisch für die voraufgegangene wie auch für die spätere Germanenmission ist auch, daß Chlodwigs Taufe kein Individualakt war, sondern daß der König sich erst dann taufen ließ, als er erreicht hatte, daß zahlreiche fränkische Große das ebenfalls taten, also für sicher gelten konnte, daß auf den Religionswechsel des Königs die Christianisierung seines Volkes folgen würde. Doch hat die Christianisierung der fränkischen und von den Franken unterworfenen Bevölkerung zunächst nur langsame Fortschritte gemacht, wie sie das Auftreten von Einsiedlermissionaren wie Wendelin (gest. 617) und von germanischen Namen in den Bischofslisten (in Köln zuerst ca. 626) zeigt. In die Breite ging die Christianisierung erst seit der in hohem Maße von Kräften der irofränkischen Bewegung getragenen und durch zahlreiche Klostergründungen gestützten Mission des 7. Jh. zunächst im nordwestlichen Frankenreich, bald aber auch rechts des Rheins. Stützpunkte der weit nach Norden (—»Friesland) und Osten (^»Thüringen) ausgreifenden Mission waren die von ostfränkischen Adligen gegründeten Klöster Echternach (gegründet 6 9 7 / 9 8 durch den Angelsachsen —»Willibrord) und Weissenburgim Elsaß (gegründet ca. 660). Wichtige geistliche Zentren und Stützpunkte der Missionare waren Regensburg, Salzburg, wo der heilige Rupert Ende des 7. Jh., Freising, wo der heilige Corbinian zu Anfang, und Eichstätt, wo der heilige Willibald in der Mitte des 8. Jh. wirkten. Im Jahre 6 1 2 gründete Gallus südlich des Bodensees, wo kurz vorher, wohl durch den alamannischen Herzog, das Bistum Konstanz gegründet worden war, jene Einsiedlerzelle, aus der dann das nach ihm benannte Kloster hervorging. Im Jahre 7 2 4 gründete —»Pirmin das Kloster Reichenau. Ca. 688 wurde der am Main missionierende Kilian, der Patron des späteren Bistums Würzburg, erschlagen.

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1.5. Die Karolingerzeit. Die Konsolidierung der Missionsarbeit in diesen Gebieten und die Begründung der ersten Bistümer außerhalb römischer civitates (Salzburg, Regensburg, Passau, Freising, Würzburg sowie Büraburg und Erfurt, die sich nicht halten konnten) war zu einem wesentlichen Teil die Leistung des aus England stammenden Wynfrith —»Bonifatius. Unter seinen Klostergründungen ist Fulda am wichtigsten geworden. Wichtig für die Zukunft war auch, daß die Mission und Kirchenreform nun in engster Verbindung mit den das Frankenreich zunächst als Hausmeier und dann als Könige beherrschenden Karolingern sowie mit den Päpsten erfolgten. Im späten 8. und frühen 9. Jh. sind dann zusammen mit der Unterwerfung und Bekehrung der —»Sachsen die Bistümer Verden, Paderborn, Hildesheim, Halberstadt, Osnabrück, Minden, —»Bremen, Münster, und —»Hamburg begründet worden. Zur Christianisierung der Sachsen wurden alle staatlichen Machtmittel bis hin zur Androhung der Todesstrafe bei der Verweigerung der Taufannahme eingesetzt, doch hat der bald folgende Zerfall des karolingischen Reiches keine Folgen für den Bestand der neugegründeten Kirchen gehabt. 1.6. Die ottonische Zeit. Demgegenüber ließen sich die im 10. Jh. im Zuge der Expansion des ottonischen Reiches nach Norden und Osten gegründeten Bistümer dort, wo die politische Herrschaft wieder zusammenbrach (Bistümer Oldenburg-später L ü b e c k - , Havelberg und —»Brandenburg) nicht halten, während Schleswig, Ripen und Ärhus entsprechend der politischen Entwicklung der Region aus dem hamburgisch-bremischen Metropolitanverband gelöst und im Jahre 1104 dem Erzbistum Lund unterstellt wurden. Auch die im Zusammenhang der Bremer Patriarchatspläne im 11. Jh. geschaffenen Bistümer Mecklenburg (später Schwerin) und Ratzeburg hatten jetzt noch keine Dauer. Bestand hatten von den Gründungen dieser Zeit dagegen Merseburg, Meißen, Zeitz-Naumburg und vor allem das Erzbistum —»Magdeburg, auch wenn dieses nicht (ebensowenig wie Hamburg-Bremen) Träger der Mission in dem beabsichtigten Maße geworden ist. 1.7. Mission und Ostsiedlung. Denn als mit der Ostsiedlung des 12. und 13. Jh. auch die Mission der West-Slaven (—» Slaven) abgeschlossen wurde, konnten zwar die genannten Bistümer erneuert werden, doch wurden die Neugründungen Kolberg, Wtoclawek und Lebus von dem polnischen Erzbistum Gnesen, dem schon die um 968 und um 1000 gegründeten Bistümer Posen und Breslau unterstanden, vorgenommen, während das pommersche Bistum Wollin-Kammin, im Schnittpunkt magdeburgischer und Gnesener Ansprüche gelegen, exemt blieb. Kirchenpolitisch unabhängig von älteren Kirchenprovinzen wurden auch die im 13. Jh. in den durch den Deutschen und den Schwertbrüderorden (—»Ritterorden, Geistliche) unterworfenen prussisch-baltischen Gebieten gegründeten Bistümer Dorpat, Kurland, Ösel-Wiek (—»Baltikum), Pomesanien, Kulm, Samland und Ermland (—»Preußen). Sie bildeten die Kirchenprovinz Riga, während das estländische Bistum Reval, entsprechend dem Anteil —»Dänemarks an der Unterwerfung und Christianisierung dieser Region, dem Erzbistum Lund unterstellt wurde. Das Verhältnis der kirchlichen zu den ethnischen und politischen Grenzen ist unterschiedlich gewesen. Die Zugehörigkeit —»Schlesiens zur Gnesener Kirchenprovinz hat nicht verhindert, daß das Land im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit zu einer überwiegenddeutschen (politisch freilich zur Krone —»Böhmens gehörigen) Region wurde. Auf der anderen Seite ist die Tatsache, daß der Deutsche Orden das 1309 okkupierte Pommerellen mit Danzig nur bis zum Jahre 1454 behaupten konnte, auch im Zusammenhang damit zu sehen, daß es ihm nicht gelang, dieses Land kirchlich aus der Diözese Wtoctawek zu lösen. Vor allem aber war die Trennung des 973 gegründeten Bistums —»Prag von der Mainzer Kirchenprovinz im Jahre 1344 ein wichtiger Teil der Stabilisierung böhmischer Eigenstaatlichkeit. 1.8. Weitere Bistumsgründungen. Das 1007 gegründete Bistum Bamberg hat zwar auch etwas mit Mission zu tun gehabt — es förderte die Mission unter den am oberen Main siedelnden Slaven —, doch ist seine Gründung primär als ein Akt der Devotion seines Gründers, —»Heinrichs II., zu verstehen. Die im 11. und 13. Jh. begründeten salzburgischen Eigenbis-

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tümer Chiemsee, Gurk, Seckau und Lavant stellen ebenfalls einen Sonderfall dar, während die um 1470 auf Kosten von Passau und Salzburg gegründeten Bistümer Wien und Wiener Neustadt Resultat einer auf das landesherrliche Kirchenregiment zielenden Politik Kaiser Friedrichs III. waren. 2. Kirchen und Herrscher im frühen und im hohen

Mittelalter

2.1. Die Kirchen im Merowingerreich. Die Kirchen im merowingischen Frankenreich waren zunächst weitgehend identisch mit denen des spätantiken Gallien. Das Bischofsamt (—»Bischof) blieb in der Hand des senatorischen Adels. Es stand in mancher Hinsicht mit weltlichen Ämtern auf einer Ebene und konnte geradezu als Ziel eines mit weltlichen Ämtern beginnenden zeittypischen Karrieremusters gelten, zumal den Bischöfen nach dem Ende des spätantiken Staates noch weitere öffentliche Funktionen, insbesondere die Herrschaft über die Bischofsstädte und deren Umland, zugewachsen waren. Die mächtigen senatorischen Familien hatten bestimmte Bischofsämter über Generationen hin in gleichsam erblichem Besitz, wie es etwa —»Gregor von Tours (Hist. V, 49) für sich selbst in Anspruch nimmt: von fünf Ausnahmen abgesehen sei das Bistum Tours stets in der Hand seiner Verwandten gewesen. Auch im Nordwesten des Frankenreiches amtierten zunächst Bischöfe aus galloromanischen Familien, bis dann um 600 die ersten Bischöfe germanischer Herkunft bezeugt sind. Von nun an gehörten die Bistümer und die zu dieser Zeit gegründeten ersten Klöster erst recht zu jenem Macht- und Besitzpotential, das von entscheidender Bedeutung in den Auseinandersetzungen zwischen dem Königtum und den großen Adelssippen war. Es ist deshalb charakteristisch, wenn die Karolinger Bischof Arnulf von Metz (gest. ca. 640), den Ururgroßvater des ersten Königs aus ihrem Hause, als Spitzenahn verehrten. Die Könige beanspruchten, an der Vergabe der kirchlichen Ämter beteiligt zu werden, und besetzten, wenn sie politisch dazu in der Lage waren, die Bischofsstühle. Sie beriefen —»Synoden ein, sie verfügten über den Besitz der Kirchen. Die karolingischen Hausmeier setzten diese Tradition fort: bis hin zu den oft—»Säkularisationen genannten, in die Rechtsform der erzwungenen precaria gefaßten Verfügungen Karl Martells, die diesem dazu dienten, seine Anhänger durch Kirchenbesitz stark zu machen, bis hin zur Kumulierung mehrerer Bistümer und Abteien in der Hand seiner mächtigsten Anhänger. Eine solche Verfügung mächtiger weltlicher Personen über Kirchen und deren Besitz konnte im Frankenreich des 6., 7. und 8. Jh. als um so selbstverständlicher erscheinen, da die Ausbreitung der Kirche außerhalb der Städte und in Regionen, wo es keine Städte gab, ohne Verfügung von Laien über Kirchen und kirchliche Vermögen nicht möglich gewesen wäre. Die Ausbreitung des Christentums über die romanischen Untertanen des fränkischen Reiches hinaus, also unter den Franken, war nur möglich durch die Gründung von ländlichen Pfarrkirchen, bedeutete also, im Vergleich mit der Spätantike, eine Enturbanisierung der Kirche. Neben die städtischen Gemeinden und deren Kirchen traten nun die von ländlichen Grundbesitzern gestifteten, kontrollierten und bewirtschafteten „Eigenkirchen" Eigenkirchen wesen). 2.2. Die bonifazianischen Reformen. Auch hier markiert die Wirksamkeit des —»Bonifatius einen Einschnitt. Den Zustand, den er im Frankenreich vorfand, hat er eindrucksvoll beschrieben. Seit 80 Jahren sei keine Synode abgehalten worden, es gebe keine Erzbischöfe mehr, das Kirchenrecht sei in Vergessenheit geraten und die Bischofskirchen seien in Laienhand. Er spricht von Bischöfen, die nicht nur nicht zölibatär, sondern polygam lebten und sich dem Trunk, der Jagd und dem Kriege hingäben. Obwohl Bonifaz zahlreiche Widerstände vorfand, hat er am Ende doch einen wesentlichen Teil seiner Reformforderungen durchsetzen können. Es ist ihm gelungen, die zerrissenen Fäden zwischen den fränkischen Kirchen und dem römischen Papsttum wieder zusammenzuknüpfen. Unter seiner Führung wurden nicht nur Bistümer in den Missionsgebieten gegründet, sondern wurde auch in den schon längst christianisierten Regionen die Metropolitanverfassung — jedenfalls teilweise - restauriert, wurden Reformsynoden abgehalten, wurden also interne kirchliche Administrations- und Jurisdiktionsstrukturen geschaffen,

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die um so mehr dazu dienen konnten, den Zugriff der mächtigen Laien auf die Kirchen zu lockern, als alle diese Reformschritte im Einvernehmen mit dem Papsttum in Rom vor sich gingen, dem nun im Frankenreich neue Kompetenzen, neue Möglichkeiten, seinen universalen Machtanspruch innerhalb der Kirche zu realisieren, zuwuchsen. Die im Schutz päpstlicher Autorität ins Werk gesetzte Beseitigung der merovingischen und Etablierung der karolingischen Königsdynastie, mit der Salbung —»Pippins zunächst durch einen Beauftragten des Papstes (Bonifatius?) im Jahre 751, dann 754 durch Papst Stephan II. selbst als zentralem Akt, ordnet sich ein in ein breites Umfeld der Kooperation von Päpsten und fränkischen Herrschern. 2.3. Die karolingische Staatskirchenpolitik. Die Kaiserkrönung —»Karls d. Gr. im Jahre 800 und die Erneuerung des Kaisertums durch —»Otto I. im Jahre 962 lassen die Salbung Pippins als für das mittelalterliche römisch-deutsche Sakralkönigtum konstitutiven Akt in um so höherem Grade erscheinen, als Pippin durch die Übernahme des Titels patricius Romanorum und durch seine den Papst in Italien machtpolitisch absichernde Politik auch jenes italische Aufgabenfeld fränkischer Politik absteckte, aus dem unter seinem Sohn und unter den römisch-deutschen Königen des Mittelalters die geradezu zentrale Funktion des Königtums wurde und das diesem den Rang eines universalen Amtes gab. Auch das —>Constitutum Constantini ist wohl damals entstanden. Karl der Große und sein Sohn Ludwig der Fromme haben die Kirchenreformpolitik der bonifazianischen Ära weitergeführt. Die Einführung der Metropolitanverfassung wurde jetzt abgeschlossen, die Reorganisation des kirchlichen Lebens mit Hilfe einer erneuerten staatskirchlichen Gesetzgebung wurde fortgesetzt. Die großen, meist mit weltlichen Reichsversammlungen kombinierten Reichssynoden sind für die Regierungszeit Karls d. Gr. charakteristisch. Die bischöflichen Aufsichtsrechte über Kleriker und Mönche wurden erneuert, doch blieb die Zwangsverleihung von Kirchengütern weiterhin üblich. Einhard, der berühmte Verfasser der Karlsbiographie, eine zentrale Figur am Hof zur Spätzeit Karls des Großen und während der Regierungszeit Ludwigs des Frommen, besaß als Laienabt mehrere Klöster. Doch wurde gerade während der Regierungszeit Ludwigs des Frommen das mönchische und kanonikale Leben unter der Leitung des —»Benedikt von Aniane grundlegend erneuert. Die Aachener Synode von 816 schrieb Mönchen und Nonnen die —»Benediktusregel und eine einheitliche Observanz bindend vor. Strenge Klausurvorschriften sollten das Mönchtum auf seine ursprünglichen Aufgaben zurückführen und die Laien an die Peripherie des Klosterlebens zurückdrängen. Ebenso wurden Kanoniker und Kanonissen (—»Stift) auf eine normierte Lebensweise (Aachener Regel) mit der vita communis als Kern verpflichtet. Wiederum in Aachen wurden dann 818 und 819 Grundlagen für das Verhältnis zwischen König und Reichskirchen geschaffen, auf denen dann das sog. ottonisch-salische Reichskirchensystem aufruhen sollte. Bistümer und Reichsklöster erhielten das Wahlrecht zugesichert, doch behielt sich der König das Konsens- und Einsetzungsrecht vor. Vorsteher von Kanonikerstiften konnte er weiterhin ernennen. Festgelegt wurden auch die Leistungen der Bistümer und Klöster an das Reich. Die Notitia de servitio monasteriorum unterscheidet 14 dona et militia leistende Reichsklöster von 16, welche nur dona an den König zu liefern hatten, während die Masse der Klöster nur zu orationes pro salute imperatoris vel filiorum eius et stabilitate imperii [Gebete für das Heil des Kaisers und seiner Söhne und für die Beständigkeit des Reiches] verpflichtet war. Vereinheitlicht wurde die Reichskirche auch insofern, als seit Ludwig dem Frommen Königsschutz und Immunität zusammen verliehen wurden. Schon zur Zeit Karls d. Gr. waren zur Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben in den kirchlichen —»Immunitäten und zum Schutz und zur Vertretung der Kirchen nach außen Vögte als reguläre Verfassungsorgane eingesetzt worden (—»Vogtei). Schließlich wurde in den frühen Regierungsjahren Ludwigs des Frommen auch das Niederkirchenwesen reformiert. Die grundherrlichen Eigenkirchen wurden institutionell gesichert durch das Verbot, Unfreie zu Priestern zu weihen, durch die Verselbständigung des

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Kirchenvermögens und durch das Gebot, die so ausgestatteten Kirchen auch zu besetzen. Indem nun im Zuge der allgemeinen Durchsetzung der Zehntpflicht (—»Abgaben, kirchliche) auch den Eigenkirchen Zehntbezirke zugewiesen wurden, kam es zu einer Angleichung der bischöflichen ländlichen Kirchen und der adligen Eigenkirchen und damit zur Ausbildung des Pfarrsystems (—»Pfarrei), wie es, abgesehen von den durch Landesausbau und Städtegründungen seit dem 11. Jh. verursachten Änderungen, im Grundriß noch heute besteht. 2.4. Das ottonisch-salische,,Reichskirchensystem". Trotz der Tiefe des Einbruchs in die politische und kulturelle Entwicklung, welcher den Zerfall des Karolingerreiches sowie die Normannen- und Hunneneinfälle des späteren 9. Jh. zur Folge hatte, ist die Kirchenverfassung im 10. und 11. Jh. auf den in frühkarolingischer Zeit gelegten Grundlagen kontinuierlich fortentwickelt worden und konnten die ottonischen und salischen Könige unmittelbar an die Kirchenherrschaft ihrer karolingischen Vorgänger anknüpfen und diese ausbauen bis zu jenem im frühen 11. Jh. vollendeten sog. ottonisch-salischen Reichskirchensystem, das in seinem wechselseitigen Leistungsverhältnis, in seiner Zuordnung auf den über Laien wie Klerikern stehenden sakralen König nicht nur die Reichskirche, sondern auch die weltliche Ordnung, wie sie in Deutschland bis zum —»Investiturstreit bestand, zu einem beträchtlichen Teil charakterisiert. Die Reichskirchen gewährleisteten dem König das Regieren im elementarsten Sinne. Wie schon zur Karolingerzeit wurden die königlichen Urkunden nun nicht mehr von weltlichen referendarii geschrieben, sondern von Angehörigen der königlichen Hofkapelle. Anders als insbesondere zur Zeit Karls d. Gr., der sein Reich zu einem beträchtlichen Teil von Aachen aus regiert hatte, gehörte es nun zu den Aufgaben der Bischöfe, teilweise auch der Reichsklöster, dem reisend regierenden, keine feste Residenz besitzenden König und seinem bis zu 2 0 0 0 Personen und eine entsprechend größere Zahl von Reit- und Tragpferden zählenden Gefolge dort, wo kein Königsgut und keine Königspfalzen existierten, Unterkunft zu gewähren. Während die Reichsklöster und -Stifter überwiegend Naturalabgaben zu erbringen hatten, war der wichtigste Teil des bischöflichen servitium regis die Königsgastung. Von den für —»Heinrich II. nachweisbaren Aufenthaltsorten entfällt mehr als die Hälfte auf Bistümer und Reichsabteien. Und ebenso wie schon in der Karolingerzeit hatten die Bischöfe und Reichsäbte auch jetzt militärische Kontingente zu stellen. Der größere Teil des Reichsheeres kam von ihnen, die zu diesen Leistungen für das Reich durch jene Fülle von Schenkungen des Königs befähigt wurden, welche den Reichskirchen nicht nur Land und Leute, sondern auch Hoheitsrechte bis hin zu ganzen Grafschaften brachten. Aus diesen Verleihungen sollten sich im hohen Mittelalter die geistlichen —»Fürstentümer entwickeln — jetzt dagegen blieb dieses den Reichskirchen übertragene Reichsgut, was es war, nämlich „Reichsgut, wenn auch in anderer Organisationsform" (Schlesinger). Der typische Reichsbischof dieser Zeit war dementsprechend nur im Ausnahmefall ein Gelehrter, sondern in der Regel eher ein nachgeborener Adelssohn, der in der königlichen Kapelle seine administrativen Fähigkeiten ausgebildet und erwiesen hatte, der nicht nur nach dem Willen des Königs, sondern trotz eines dem —»Domkapitel zustehenden Wahlrechts durch königliche Einsetzung zu seinem Amt kam und der im Kriegsfall sein Kontingent nicht selten persönlich ins Feld führte. 2.5. Die Reformen des 11. Jh. und der Investiturstreit. Was den Reformern des späteren 11. Jh. als —»Simonie erscheinen sollte, galt jetzt auch in den Augen der strenger Denkenden als erträglich, wo nicht sogar vorbildlich. Angesichts jener Adelsherrschaft über die französischen Kirchen, gegen welche in —»Cluny eine reformierte Kirche aufgebaut wurde, galt die Reichskirche nicht als reformbedürftig. Die deutschen Könige standen in engem Kontakt mit den großen Äbten in Cluny — Abt Hugo hob im Jahre 1051 den späteren König Heinrich IV. aus der Taufe - , doch hat sich Cluny Reichsklöster nicht angegliedert. Für die Reichskirchen war das lothringische Reformzentrum —»Gorze zunächst wichtiger. Dem Reformkloster Cluny haben sich deutsche Klöster erst zur Zeit des Investiturstreits

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angeschlossen: nachdem die Kirchenreformer sich insbesondere während des Pontifikats —»Leos IX. an der römischen Kurie formiert hatten, nachdem die ersten Proteste gegen die königliche Einsetzung von Päpsten und Bischöfen laut geworden waren, nachdem sich aber auch, vor allem in Südwestdeutschland, adlige Dynastien gebildet hatten, die mächtig genug waren, Klöster nicht nur zu stiften, sondern auch über mehrere Generationen zu schützen. Von den in früheren Jahrhunderten gegründeten Adelsklöstern hatte kaum eines Bestand gehabt, falls es nicht dem König übergeben worden war. Seit der Mitte des 11. Jh. kam es zu einer Welle von adligen Klostergründungen, die auf der einen Seite nach dem über —»Hirsau vermittelten Vorbild Clunys organisiert wurden, die also libertas, nämlich den päpstlichen Schutz erhielten, aus denen sich der Gründer als Eigenkirchherr ausdrücklich zurückzog, denen dieser jedoch andererseits als erblicher Vogt so eng verbunden blieb, daß über die Vogtei gerade die großen Klöster bei der Ausbildung von territorialer Herrschaft vielfach eine zentrale Bedeutung erhielten, ganz abgesehen von der stabilisierenden Wirkung, die von Erbbegräbnis und auf die Gründerfamilie zielender klösterlicher Geschichtsschreibung auf die sich nun als solche konstituierenden hochadligen Dynastien ausging. Der Aufstieg etwa der Weifen ist ohne den Besitz von Vogteien und ohne das Hauskloster Weingarten nicht zu denken. Die deutschen Kirchen sind im Zeitalter des Investiturstreits nicht so sehr im Hinblick auf die Frage, wer die Bischöfe einsetzen dürfe, verändert worden. Einem starken König, wie z. B. —»Friedrich Barbarossa, bot auch das Wormser Konkordat noch weitreichende Möglichkeiten, ganz abgesehen davon, daß die dort fixierten Normen übertreten werden konnten. Einschneidender war, daß seit dem Investiturstreit die Päpste in rasch wachsendem Maße in die Angelegenheiten der deutschen Kirchen eingriffen, während sie bis dahin, wenn überhaupt, dann nur im Einvernehmen mit den Königen tätig geworden waren. Einschneidend war auch, daß nun getrennt wurde, was vorher nicht geschieden worden war, daß nach der Scheidung von spiritualia und temporalia die Beziehungen zwischen König und Bischöfen bzw. Reichsäbten formalisiert und nach den Normen des Lehnsrechts (—»Lehnswesen) behandelt wurden. Bemerkenswert dürften auch sozialgeschichtliche Wandlungen gewesen sein. Auch wenn der —»Zölibat nicht überall durchgesetzt wurde, so war er nach dem Investiturstreit als Norm doch außer Frage, und das hatte Folgen für den Charakter des Klerus, der nun in höherem Grade als vorher eine von der Laienwelt abgetrennte und klar geschiedene Gruppe wurde. Am Ende dürften auch die heftigen, in aller Öffentlichkeit und unter Beteiligung vieler Menschen ausgetragenen kirchenpolitischen Kontroversen Veränderungen verursacht haben. Die Kleriker wie auch ein beträchtlicher Teil der Laien waren fortan um so mehr kirchenpolitisch mobilisierbar, als auch die gleichzeitige profangeschichtliche Entwicklung mobilisierend wirken konnte: Von der raschen Vermehrung der Bevölkerung über die Neugründung so vieler ländlicher und nun auch städtischer Siedlungen bis hin zu jener Mobilisierung im buchstäblichen Sinne, welche die —»Kreuzzüge für viele Menschen bedeuteten. 2.6. Zisterzienser, Prämonstratenser, Ostsiedlung. So ist auch das 12. Jh. ein Zeitalter der kirchlichen Mobilität und Erneuerung gewesen. Gegen die alt gewordenen Reformkirchen nach dem Muster Clunys wendeten sich nun —»Kartäuser, —»Zisterzienser und —»Prämonstratenser, auch sie noch einmal eine Vielzahl von Adligen in die Erneuerung der Kirche einbindend, sie nun insbesondere aktiv in den bisher nur dünn besiedelten und kirchlich kaum erschlossenen Gebieten, welche von Landesausbau und Ostsiedlung erfaßt wurden. Obwohl zu den Begründern der neuen Orden zwei Deutsche gehörten—Bruno von Köln und —»Norbert von Xanten —, so ist die religiöse Reformbewegung des 12. Jh. zunächst doch in —»Frankreich entstanden. Freilich haben sich die neuen Orden rasch nach Deutschland und hier wieder in die neu besiedelten Gebiete ausgedehnt. Der Nachdruck der hier, vor allem bei den Zisterziensern, auf ein Leben in der Abgeschiedenheit und, jedenfalls zunächst, auf die Handarbeit gelegt wurde, sowie die durch die neuen Ordensverfassungen mit den engen Beziehungen von Mutter- und Tochterkloster gegebenen Möglichkeiten, personale und reli-

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giöse Verbindungen über große Entfernungen - z. B. vom Niederrhein nach Polen - herzustellen und aufrechtzuerhalten, ließen die Zisterzienser und in geringerem Maße auch die Prämonstratenser zu wesentlichen Kräften bei der Ostsiedlung werden. 2.7. Die staufische „Restauration". Die neuen Klöster und Stifter waren fast stets landesfürstliche Gründungen. Obwohl es Friedrich Barbarossa gelungen war, nach den heftigen Auseinandersetzungen während der ersten Hälfte des 12. Jh. noch einmal den größeren Teil der geistlichen Reichsfürsten an den König zu binden und Eingriffe der Päpste abzuwehren, war dieser „Restauration" doch keine Dauer beschieden. Während der sich an den plötzlichen Tod seines Sohnes, Heinrichs VI., im Jahre 1197 anschließenden Thronkämpfe, in welchen Papst —»Innozenz III. eine Schiedsrichterstellung beanspruchte und teilweise auch durchsetzen konnte, sowie auch während der Regierungszeit —»Friedrichs II. haben die weltlichen und die geistlichen Reichsfürsten ihre Position weiter ausgebaut. Zu den Instrumenten des Herrschaftsausbaus gehörten auch Kirchengründungen, vor allem in den neu erschlossenen und besiedelten Gebieten. 3. Kirche und Gesellschaft im späteren

Mittelalter

3.1. Die religiöse Bewegung um 1200 und die Anfänge der Bettelorden. Das 13. Jh. war in Deutschland kirchengeschichtlich zu einem beträchtlichen Teil das Zeitalter der Bettelorden. Auch hier liegen die Anfänge der neuen Orden außerhalb Deutschlands, in Oberitalien und in Südfrankreich: in jenen wirtschaftlich und sozial hoch entwickelten, dicht mit Städten besetzten Regionen, in welchen auch jene umfassende religiöse Bewegung des späten 12. und frühen 13. Jh. zu Hause war, deren Anhänger sich dann in den großen häretischen bzw. in die Häresie abgedrängten Gruppen (—»Katharer, —»Waldenser, —»Humiliaten) formierten und in deren Zusammenhang die Bettelorden entstanden. Während die Häretikergruppen im Deutschland dieser Zeit ungleich weniger Anhänger fanden als in Italien und in Frankreich, sind die ersten deutschen Bettelordensklöster schon früh gegründet worden. Bis zum Ende des 13. Jh. hatten ^ D o m i n i k a n e r und —»Franziskaner Niederlassungen in allen größeren und mittleren deutschen Städten. Das Leben in diesen Städten ist ohne die Bettelorden nicht zu denken. Die Pfarrkirchen konnten nur einen Teil der Gemeindemitglieder fassen. Eine Versorgung der Bevölkerung in den mittleren und größeren Städten mit Sakrament und Predigt wäre allein seitens des Pfarrklerus nur schwer möglich gewesen. Nicht zuletzt dank den Bettelmönchen wurde die städtische Bevölkerung des späteren Mittelalters (—»Bürgertum) in einem Maße durch die Religion geformt, wie das bei der ländlichen Bevölkerung längst nicht der Fall war und erst recht nicht bei der Masse der Laien früherer Jahrhunderte. Auch die deutsche —»Mystik hat hier, vor allem bei den Dominikanern und Franziskanern und insbesondere bei den von ihnen betreuten frommen Frauen, nicht zuletzt in den Beginenkonventen (—»Beginen/Begarden), ihre Anfänge. 3.2. Die Stadtbürger und ihre Kirche. Insbesondere die Angehörigen der oberen und der mittleren städtischen Sozialschichten waren mit den städtischen Kirchen und Geistlichen auf das engste verbunden: als Stifter, als Patrone (—»Patronat), als Verwalter des Kirchenvermögens, als Verwandte der Inhaber städtischer Pfründen (—»Beneficium) und der Mitglieder städtischer Konvente. In den Hauptpfarrkirchen einiger großer Städte taten vor der Reformation bis zu 70 Geistliche Dienst an 30 oder 40 Altären, welche von einzelnen Familien, aber auch von Zünften und —»Bruderschaften gestiftet worden waren. Doch auch die städtischen Ordenskirchen boten solchen Stiftungsaltären und Privatgottesdiensten Platz, weitere Altäre und Altaristen fanden sich in Spitalskirchen (—»Hospital) und Kapellen wie z. B. den Ratskapellen. Im Durchschnitt dürften gegen 2% der städtischen Bevölkerung dem Klerus angehört haben. Dieser städtische Klerus und das von ihm genossene Stiftungsvermögen dienten nicht nur im engeren Sinne religiösen Zwecken. Die Kapläne an der Ratskapelle fungierten nicht selten als Stadtschreiber, die Spitäler mit ihren reichen Besitzungen und andere kirchliche

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Vermögenskomplexe speisten den städtischen Kreditmarkt. Sie und die städtischen Pfründen insgesamt boten Versorgungsmöglichkeiten. Doch wurden diese so engen Beziehungen zwischen städtischen Kirchen und laikaler Stadt dadurch gestört, daß sich die klerikalen Standesvorrechte (—»Privilegien, kirchliche) mit zunehmender Zeit als disfunktional erwiesen und von den städtischen Regierungen angegriffen und oft eingeschränkt wurden. Obwohl die geistlichen Gerichte (—»Gerichtsbarkeit, kirchliche) in den Städten zunächst über die von ihnen in Anspruch genommene Kompetenz hinaus wegen ihres weiter entwikkelten Verfahrens und wegen ihrer wirkungsvolleren Exekutionsmöglichkeiten oft freiwillig in Anspruch genommen wurden, haben die Stadträte später doch je nach dem Maße der Verfeinerung des städtischen Rechts und der städtischen Gerichtsbarkeit versucht, die geistliche Gerichtsbarkeit in den Städten zurückzudrängen. Und sie haben erst recht versucht, den kirchlichen Besitz ihrer Abgabenhoheit zu unterwerfen. Die Fülle der den Kirchen gemachten Stiftungen ließ die Befürchtung aufkommen, daß am Ende nur noch ein kleiner Teil der städtischen Grundstücke steuerpflichtig sein würde, während auf der anderen Seite die städtischen Finanzbedürfnisse infolge der aktiven Außenpolitik der Städte wuchsen. Die im späteren Mittelalter meistens in großem Maße erweiterten Befestigungsanlagen nahmen den größten Teil der städtischen Einnahmen in Anspruch, und von ihnen profitierten auch die Kirchen. So wurde die kirchliche Immunität durch Amortisationsgesetze (—»Staatskirchenrecht) eingeschränkt. Zuweilen wurden die städtischen Geistlichen zeitweise sogar ins Bürgerrecht gezwungen. 3.3. Schisma, Reformkonzilien und spätmittelalterliche Ordensreform. In welchem Maße die großen kirchenpolitischen Auseinandersetzungen die Masse der spätmittelalterlichen Kirchen in Deutschland tangiert haben, inwieweit sie von dem Armutsstreit zwischen Franziskanern und Päpsten betroffen waren, bis zu welchem Grade das große —»Schisma auf die lokalen Verhältnisse zurückwirkte, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Nicht wenige Städte waren von den Auseinandersetzungen zwischen Bettelorden und Pfarrklerus betroffen. Im Fall eines von übergeordneten kirchlichen Behörden über Städte verhängten —»Interdikts widerstanden nicht selten die städtischen Bettelmönche den kirchlichen Gerichten und Urteilen oder wurden von den Stadträten dazu genötigt. Die beiden großen Reformkonzilien des 15. Jh. dagegen haben auf die deutschen Kirchen vielfältige Wirkungen ausgeübt. Die Benediktinerreform dieses Jahrhunderts ist trotz ihrer Anfänge in Subiaco dann vor allem ein deutsches Phänomen gewesen. In den meisten Benediktinerklöstern (—»Benediktiner) wurde das monastische Leben nach dem Vorbild von Melk, Kastl oder Bursfelde erneuert, und auch in den anderen Orden kam es zu Reformbewegungen. Nicht selten wurden — wie seitens des päpstlichen Legaten —» Nikolaus von Kues oder des von der —»Devotio moderna bestimmten norddeutschen Reformers Johannes Busch — die Ordensgrenzen dabei ignoriert, besonders dann, wenn die Klosterreformer die Autorität und die Macht von Landesfürsten hinter sich hatten. In diesen Jahrzehnten ist der Klerus in Deutschland auch dadurch verändert worden, daß nun, nach der Gründung von —»Prag (1348) und —»Wien (1365), weitere —»Universitäten (—»Heidelberg 1386, —»Erfurt 1392, —»Leipzig 1409) im Zusammenhang mit dem Schisma und der Kirchenreformdiskussion entstanden und alsbald weitere Hochschulen in Verfolgung einer landesherrlichen Kirchenpolitik begründet wurden. Diese Neugründungen haben einer profilierten spätmittelalterlichen deutschen Theologie Raum gegeben und auch zu einer gewissen Akademisierung des deutschen Klerus geführt, wobei freilich die meisten jener verhältnismäßig wenigen Universitätsabsolventen, die über das Studium der —»Artes liberales hinauskamen, nicht Theologie studierten, sondern kanonisches Recht. 3.4. Das landesherrliche Kirchenregiment. Ebenso wie in den Städten die Kirchenreform oft zur Vermehrung der kirchlichen Abhängigkeit von den Räten führte, trug dann auch die Reform der Klöster im 15. Jh. zur Stärkung des landesherrlichen —»Kirchenregiments (—»Landeskirche) bei. Die Territorialfürsten waren in vieler Hinsicht die Nutznießer der Konzilien. Hatte es

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zunächst geschienen, als würde es Siegmund über die Erzwingung des Konzils von —»Konstanz hinaus noch einmal gelingen, die besondere Stellung des römischen Königs in der abendländischen Kirche zu erneuern, so gelang es den Territorialfürsten noch in Konstanz sowie erst recht in Basel (—>Basel—Ferrara—Florenz) und bei dem Sieg der Päpste über das Basler Konzil, ihre Rechte über die Kirchen ihrer Territorien weiter auszubauen. Den verschiedenen Fürsten dieser Zeit zugeschriebenen Satz Ego sum papa in territoriis meis dürfte zwar keiner von ihnen gesagt haben, aber er beleuchtet die Situation und deutet an, daß hier eine entscheidende Bedingung für die Durchsetzung der —»Reformation liegt. 3.5. Häresien im späteren Mittelalter. Schwierig ist die Frage nach der Zahl und der Kontinuität häretischer Gruppierungen zwischen dem frühen 13. Jh., also zur Zeit der Verfolgung durch Konrad von Marburg, und der Hussitenzeit (—»Hus/Hussiten) zu beantworten. Oft ist es auch nicht mit Sicherheit möglich, die bezeugten Fälle von Häresie bestimmten häretischen Gruppierungen zuzuordnen. So ist neuerdings fraglich geworden, ob die Waldenser tatsächlich schon im vorhussitischen Böhmen so stark gewesen sind, wie lange Zeit für gewiß gehalten wurde. Vielfach hat auch das Urteil der Kirche geschwankt bzw. wurde die Entscheidung, ob eine Gruppe von Frommen für häretisch galt oder nicht, von kirchenpolitischen Auseinandersetzungen mitgeformt. So konnten etwa im Schutz von Mendikanten lebende Beginen auch deshalb in den Verdacht der Häresie geraten, weil ihre Beschützer sich in einem Konflikt mit dem örtlichen Weltklerus befanden. Bei Mystikern wie z. B. Meister —»Eckehart konnte sich der Häresieverdacht leicht wegen der an Laien gerichteten deutschsprachigen Predigt über dogmatische Fragen ergeben, deren Diskussion dem Klerus vorbehalten war. In der Mitte des 14. J h . wurde das häretische Potential durch die Bewegung der Geißler beträchtlich verstärkt. Schon kurze Zeit, nachdem sich nach der Hinrichtung des Jan Hus in Böhmen seine Anhänger formiert hatten, sind trotz der nationalistischen Komponente, welche der sich ausbildende Hussitismus in seinem Heimatland hatte, nachhaltige Wirkungen von diesem in Deutschland festzustellen. Nicht selten dürften waldensische Gruppen hussitisch überformt worden sein, doch steht auch hier die bekannte Neigung der Inquisitoren, die von ihnen Verdächtigten bestimmten „Sekten" - im 15. Jh. also der hussitischen — zuzuordnen, einer genauen Bestimmung im Wege. Abgesehen davon, daß in der zweiten Hälfte des 15. Jh. noch einmal die —»Böhmischen Brüder nach ihrer Trennung von Utraquisten und Taboriten in Deutschland Anhänger gewonnen haben, sind die Jahrzehnte vor der Reformation im Vergleich mit der ersten Hälfte des 15. Jh. wie auch mit dem 14. Jh. eine Zeit mit wenig Nachrichten von Häretikern. 3.6. Der Weg zur Reformation. Es gibt kaum Orte, wo sich eine Kontinuität häretischer Gruppierungen bis in die Reformationszeit und deren Aufgehen in den Anhängern der Reformation feststellen läßt. Es ist durchaus charakteristisch, daß sich —»Luther erst spät für den Hussitismus interessierte und daß er auch nicht in der Kontinuität einer Kirchenkritik konziliaristischen Gepräges stand. Die zweite Hälfte des 15. Jh. trennt das Zeitalter der spätmittelalterlichen Kirchenreform in deutlicher Weise von dem der Reformation. Literatur Allgemeine

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Hartmut Boockmann II. 1 5 0 0 - 1 9 4 5 1. Die Auflösung der alten und die Herausbildung neuer Verhältnisse ( 1 5 0 0 - 1 5 5 5 ) 2. Das Zeitalter des konfessionellen Dualismus ( 1 5 5 5 - 1 8 0 6 ) 3. Das Christentum in der modernen Welt (1806-1945) (Literatur S. 5 9 2 )

1. Die Auflösung

der alten und die Herausbildung

neuer Verhältnisse

(1500-1555)

Eine genaue Scheidelinie zwischen —»„Mittelalter" und —»„Neuzeit" zu ziehen, ist genauso schwierig wie die Grenze zu bestimmen, an der das Mittelalter seinen Anfang nimmt. Die Zeit von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 16. Jh. erscheint jedoch für die Geschichte Europas in vieler Hinsicht als eine Zone des Übergangs. Für die deutsche Geschichte bringen vor allem die ersten Jahrzehnte des 16. Jh. einen tiefen Einschnitt. Das gilt trotz aller Einwände —»Troeltschs gegen eine übersteigerte Bewertung —»Luthers als einer Epochengestalt.

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Die Zeit selbst ist erfüllt von einem auffallend starken Krisenbewußtsein, das sich in Prophetien und apokalyptischen Visionen (vgl. T R E 3 , 2 7 9 f) ausdrückt. Pessimistische Weltuntergangsstimmung und (nach dem Auftreten Luthers) das Bewußtsein des Anbruchs eines Neuen liegen dicht beieinander: „Es gehet eine newe Welt daher, die alte stirbet a b e " (Caspar von Schwenckfeld, 1 5 2 8 : CSch III [ 1 9 1 3 ] 3 1 1 ) . Die zwei wichtigsten Ergebnisse dieser Epoche für die deutsche Geschichte der folgenden Jahrhunderte betreffen Kirche und —»Reich. Die Einheit der alten Kirche wird zerrissen, die Reformation erringt sich Duldung, Deutschland wird ein paritätischer Staat. Zugleich wird der Kampf zwischen dem Kaiser und den Ständen um die monarchische oder aristokratische Gestalt der deutschen Verfassung entschieden zugunsten der Territorien. Das Territorialfürstentum behauptet sich in seiner ausschlaggebenden Stellung nach oben und nach unten. Das ist deutlich genug daran abzulesen, daß sämtliche großen Probleme der Zeit, die Reformation, die Ritterfehde (—» Rittertum), der Bauernkrieg, der Aufstand von Münster, der Schmalkaldische Krieg, allein durch das Territorialfürstentum entschieden wurden. Die Zeit, in der die großen westeuropäischen Nationalstaaten (—»Spanien, —»Frankreich, —»England) sich konsolidieren, bringt dem deutschen Reich also schwere strukturelle Schwächen ein. Das wird kaum dadurch ausgeglichen, daß in dem gleichen Zeitraum der Begriff „Deutschland" sich klarer herausbildet, eine „deutsche" Kultur in Umrissen erkennbar wird, die deutschen Humanisten (—»Humanismus) durch ihre Besinnung auf die deutsche Vergangenheit ( z . B . J a k o b Wimpfelings Germania, 1 5 0 1 ; Druck der Germania des Tacitus, Venedig 1470) geradezu eine patriotische Bewegung auslösen, schließlich durch Luther die deutsche Sprache trotz konfessioneller Spaltung zum mächtigsten Einheitsband aller Deutschen wird. 1.1. Deutschland um das Jahr 1500. Das „Römische Reich deutscher N a t i o n " , wie es die Landfriedensordnung von 1 4 8 6 nannte (später kam noch der Begriff „heilig" dazu), war um die Wende des Jahrhunderts „ein unklares und daher schwaches Gebilde" (Moeller, Deutschland 14). Das gilt zunächst einmal im Blick auf die äußeren Grenzen dieses politischen Gebildes, die in allen vier Himmelsrichtungen fließend und gefährdet sind: im Osten der von Polen abhängige preußische Deutschordensstaat (—»Preußen), dazu die gegen Schlesien, Ober- und Niederösterreich andrängenden Böhmen, Ungarn und Türken; im Süden die Schweizer Eidgenossenschaft (—»Schweiz), die mit dem Frieden von Basel 1 4 9 9 gerade einen wichtigen Schritt zu politischer Selbständigkeit getan hat; im Westen die erstarkende französische Nation, die sogar den oberen Rhein als Grenze anstrebt (vgl. J o h . Haller, Tausend Jahre dt.-franz. Beziehungen, 1 9 3 9 , 1 5 ) ; sodann die problematischen habsburgischen Besitzungen am Niederrhein; im Norden schließlich die bleibenden Verflechtungen und Spannungen zwischen -»Schleswig-Holstein und —»Dänemark. Unklarheit und Schwäche mehr noch nach innen. Das gilt in hohem M a ß e von der Spitze des Reiches, dem Kaiser, und seinem Verhältnis zu diesem Reich. Der Habsburger -^»Maximilian I., „letzter R i t t e r " und erster Landsknecht, ist zwar eine faszinierende und auch begabte Persönlichkeit, doch führt er eine Existenz zwischen kaiserlichem Glanz und materiellem Elend und betreibt eine Politik zwischen imperialer Vision und engem Familieninteresse. In diesem Ringen zwischen ständischen Ansprüchen und zentraler Reichsgewalt spielt er eine kraftlose Rolle. Die „Reichsref o r m " , die unter dem Drängen Berthold von Hennebergs, Erzbischof von Mainz, seit 1 4 9 5 energisch betrieben wird, zwingt den Kaiser zu erheblichen Zugeständnissen, etwa der Errichtung des kurzlebigen „Reichsregiments" im Sommer 1 5 0 0 , das er freilich auf seine Weise zu boykottieren versteht. In dem sich immer stärker ausprägenden Dualismus von Kaiser und Ständen erwiesen sich jedenfalls die aufstrebenden Territorien als die stärkste Potenz und die politische Kraft der Zukunft. Das gilt auch für das Verhältnis von —»Kirche und Staat. Einzelnen Fürsten gelingen Vereinbarungen, wie sie dem „ R e i c h " versagt bleiben (Wiener Konkordat 1 4 4 8 ; —»Kirchenregiment, landesherrliches). Der konsequente Ausbau der Landesherrschaften in baulicher, finanzieller, verwaltungs- und bildungsmäßiger Hinsicht (Gründung von —»Universitäten) führt jedoch zu zahlreichen Konflikten, vor allem

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auch mit den Städten (—»Reichsstädte), damals „die eigentlichen Lebenszentren Deutschlands" (Moeller, a. a. O. 25) und für die nähere Zukunft die wichtigsten kulturellen, geistigen und religiösen Ausstrahlungspunkte (—»Bürgertum). Die Verstädterung und Verbürgerlichung Deutschlands findet jedoch in der zunehmenden „Territorialisierung" des Reiches ihr Gegengewicht. Ende des Jahrhunderts hat die Stadtkultur ihren Höhepunkt überschritten. Die politischen Spannungen sind von bedrohlichen sozialen Konflikten begleitet. In den Städten mehren sich die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen politisch-sozialen Gruppen (etwa Zünften und Patriziern); nach den Wandlungen des Kriegswesens gerät die Ritterschaft in eine tiefe Krise; die Gegensätze zwischen den Herren und den Bauern (—»Bauerntum) verschärfen sich; auch in der Landbevölkerung selbst, die die große Mehrzahl der Bevölkerung umfaßt und in sich sehr differenziert gedacht werden muß, nehmen die sozialen Gegensätze zu. Dieser soziale Druck - verursacht weithin durch großräumige wirtschaftliche Verschiebungen („Frühkapitalismus", Entstehung von Gutsherrschaften) - verschafft sich ein Ventil in gewaltsamen Zwistigkeiten, den nicht abreißenden Fehden der Ritter, den Parteikämpfen in den Städten, den wiederholten Massenbewegungen der „Bauern" („Bundschuh" usw.). Die soziale Unruhe ist so umfassend, daß ein allgemeiner Aufstand des „gemeinen Mannes" von den Zeitgenossen befürchtet wird. Von einer tiefgehenden Unruhe ist auch die religiöse Situation gekennzeichnet. Die auffallende und blühende Kirchlichkeit Deutschlands, ablesbar etwa an der regen Bautätigkeit (—»Kirchenbau), den kultisch-künstlerischen und sozialen Stiftungen, der ungeheuren Vermehrung des Klerus, war nicht gesund, sondern trägt „Züge von unduldsamer Nervosität, besonders von religiöser Überreizung" (Heimpel, Wesen 133). Der wohl vorwiegend deutschen Intensität dieser Kirchenfrömmigkeit korrespondiert eine gewisse Hektik und ein Zug zum Massenhaften (ungeheure Reliquiensammlungen, z. B. in Wittenberg). Dieses quantitative Moment zeigt zugleich das Ausmaß der Angst dieser Menschen vor dem Verlust ihrer Seligkeit, was sie für religiöse und kirchliche Sicherheit aller Art empfänglich macht. Die Kirche ist auf diese Bedürfnisse allzu gern eingegangen (—»Ablaß). Es entstand ein Problem kirchlichen Finanzgebarens, das schließlich eine entscheidende Rolle im kirchlichen Umbruch bekommen sollte. Das berechtigte Gefühl der Ausbeutung durch Rom war weit verbreitet. Aufs Ganze gesehen ist der Einfluß Roms in Deutschland auch außergewöhnlich groß, verglichen mit den kirchlichen Freiheiten, die sich Frankreich, England und Spanien errungen hatten. Charakteristikum der deutschen Situation ist wachsende Rom-Kritik bei fast fehlender Kirchenkritik (in Ansätzen findet sich diese nur im deutschen Humanismus). Zum Ausdruck kommt diese merkwürdige Spannung seit der Mitte des 15. Jh. in den —»Gravamina nationis Germanicae, in denen die Deutschen ihre Vorstellungen von einer Reform der Kirche formuliert haben. Die Beharrlichkeit dieser Anträge läßt die Enttäuschung ahnen, die in Deutschland aufkam, nachdem die Reformanliegen des 14. Jh., wie sie noch im Konzil von —»Konstanz 1 4 1 4 - 1 4 1 8 Audruck fanden (—»Konziliarismus), vom Papsttum vereitelt werden konnten. „Die konziliare Reformbewegung des 15. Jh. war eine gesamteuropäische Bewegung gewesen. Ihr geistiges Zentrum lag in der Universität —»Paris. Die Reformation des 16. Jh. ist im Ansatz keine gesamteuropäische Bewegung mehr, sie geht allein vom deutschen Reich, von einer recht unbedeutenden deutschen Provinzuniversität aus. Das hat seinen Hauptgrund in der letztlich unableitbaren Tatsache des Auftretens von Martin Luther" (Wallmann 11). 1.2. —»Reformation in Deutschland (1517-1555). In den letzten Wochen des Jahres 1517 wurde Deutschland aufgerüttelt durch einige Sätze zum Thema Ablaß, die ein Professor der Universität —»Wittenberg zur akademischen Diskussion gestellt hatte. Eine solche kam niemals zustande, es wurde daraus vielmehr der erregte Disput, der bald ein ganzes Volk für Jahre in seinen Bann schlug. Das lag zunächst einmal an den Themen, die angesprochen waren und von Luther in immer größere Tiefen gelenkt wurden, wobei er mit der großen Zahl seiner weit verbreiteten Schriften sehr schnell zum Prediger, Seelsorger und Lehrer

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des ganzen Volkes wurde. Es lag auch an der Person —»Luthers, die offenbar für die Deutschen seiner Zeit die Möglichkeit weitgehender Identifikation bot. Die Ereignisse seines Lebens geschehen in den nächsten Jahren gleichsam vor den Augen und unter Anteilnahme des ganzen Volkes: die große öffentliche Disputation in Leipzig, seine Gefährdung als Ketzer und die Verbrennung der päpstlichen Bannandrohungsbulle als seine Antwort, sein Auftreten vor Kaiser und Reich in Worms und sein plötzliches Verschwinden danach. Bis 1525 etwa ist das Leben Luthers der gewaltige Motor, der den geschichtlichen Prozeß der deutschen Reformation in Gang setzt. Diese Jahre sind gekennzeichnet durch einen ineinander verschlungenen Prozeß von Zerstörung und Aufbau. Ausgangspunkt ist die aus den theologischen Neuerkenntnissen Luthers erwachsene neue Wittenberger paulinisch-augustinische Theologie, die die scholastische Theologie radikal infrage stellt. Auf diesem Untergrund führen die Fragen um Ablaß und -^Bann 1517/18 zur Erörterung eines theoretisch-praktischen Zusammenhangs, in dem die Vollmacht der Kirche angesprochen ist. Die Jahre 1519/20 stoßen vor zur Frage nach dem göttlichen Recht des päpstlichen Primats (vgl. TRE 3 , 2 8 ff), nach der Stellung der Konzilien, und sie enden damit, daß Luther seiner Kirche die Rechtsvollmacht insgesamt abspricht (am 10. Dezember 1520 wird auch das Corpus Iuris Canonici in Wittenberg mitverbrannt!). 1521 wird der Bereich des kirchlichen und gottesdienstlichen Lebens berührt, Luthers neues Verständnis des allgemeinen Priestertums verändert die kirchliche Disziplin: Priester treten in den Ehestand (—»Zölibat), —»Laien betätigen sich als Prediger, Luthers Äußerungen über das —»Mönchtum führen dazu, daß Klöster sich leeren, die deutsche Augustinerkongregation (-»Augustiner-Eremiten) löst sich auf. Beginnend in Wittenberg unter der Führung von —»Karlstadt kommen Reformen im gottesdienstlichen Bereich in Gang (—»Agende), sie betreffen vor allem das zentrale Sakrament des —»Abendmahls (Messe), aber auch die —»Beichte, sehr bald auch die —»Ehe (1522 Luthers Schrift Vom ehelichen Leben). Der enge Zusammenhang dieses Bereichs mit den kirchlichen Finanzen zwingt zu einer Neuordnung des gesamten Stiftungs- und Pfründenwesens (—»Stiftungen, kirchliche, —»Beneficium), ja der gesamten Sozialfürsorge (Wittenberger Beutelordnung 1520/21, Leisniger Kastenordnung 1523; —»Abgaben, kirchliche, —»Armenfürsorge). Eine neue Struktur der christlichen —»Gemeinde kommt in Sicht; zugleich werden öffentliche Fragen tangiert: Luther äußert frühzeitig Kritik am System des Frühkapitalismus (Schriften über den Wucher 1519, 1520, 1524), fragt nach Funktion und Grenzen des Staates {Von weltlicher Obrigkeit, 1523), versucht energisch, den völligen Zusammenbruch des Bildungssystems zu verhindern und auch hier Grundlinien eines Neuen zu ziehen (1524: An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie Schulen aufrichten und halten sollen; —»Schulwesen). Dieser sich beschleunigende dramatische Prozeß ist getragen und begleitet von der schwer zu erfassenden persönlichen Haltung und Geschichte Luthers in diesen Jahren: Er ist nicht nur der Bewegende, Anregende, Anstoßende, sondern auch der Zurückhaltende, Abwehrende, sich Versagende. Es ist, als ob nach der Atempause der Wartburgzeit 1521/22 ein neuer Akt beginnt. Doch Luther versagt sich schon in Worms den geheimen Plänen zur Errichtung einer deutschen Nationalkirche und der großen Kirchenpolitik nationalistischer Kreise; er versagt sich 1522 dem beginnenden Aufstand der Gemeinden, deren z. T. übereilte Reformen in Bildersturm (—»Bilder) und neuer Gesetzlichkeit zu enden drohen; er versagt sich 1523 dem Aufstand der Ritterschaft (Sickingen), die mit der religiösen Frage zugleich die Probleme ihres Standes zu lösen versucht; er versagt sich 1524/25 ebenso dem religiös motivierten Aufstand der Bauern (—»Bauernkrieg); er versagt sich in den folgenden Jahren aber auch hartnäckig den weitgespannten politischen Bündnisplänen evangelischer Fürsten (—»Philipp von Hessen). Das Jahr 1525 bezeichnet zudem eine konsequente Konzentration auf die theologische Sache durch Luthers Scheidung vom humanistischen philosophischmoralischen Verständnis des Christentums (—»Erasmus von Rotterdam) auf der einen, radikal-schwärmerischer" und spiritualistischer Auffassung des Evangeliums auf der anderen Seite (Karlstadt, —»Schwenckfeld, —»Spiritualismus). Luther geht also durchaus nicht auf alle Hilfsanerbieten ein. Wichtige Förderer seiner Sache sind von Anbeginn aus den ver-

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schiedensten Gründen sein Landesherr, Kurfürst -^Friedrich der Weise, wobei —»Spalatin eine wichtige Vermittlerrolle spielt, sehr bald auch das Bürgertum der Städte und Kommunen, das sich weithin der neuen Lehre öffnet (zuerst —»Straßburg und —»Nürnberg). Ganz undenkbar wäre der rasche Erfolg der Reformation ohne die zahlreichen Freunde, Kollegen und Mitarbeiter, die sich Luther anschließen, allen voran Ph. —»Melanchthon. Während sich die Bischöfe und der hohe Klerus dem religiösen Aufbruch verschließen — grundlegende Ausgangstatsache für die baldige Konsolidierung neuer kirchlicher Verhältnisse mit Hilfe der kommunalen und territorialen Obrigkeiten - und während sich die alten Universitäten gegen die neue Theologie sperren (vgl. Schöffler), strömen Luther aus den Orden, dem gebildeten und dem niederen Klerus anfangs so viele Sympathisanten zu, daß auch hier seit der Mitte der zwanziger Jahre mancherlei Scheidungen einsetzen (vgl. etwa Karlstadt, —»Müntzer, Jakob —»Strauß, —»Witzel, auch —»Zwingli). Das, was sich als „Reformation" in Deutschland ereignet hat und zu immer größerer geschichtlicher Wirksamkeit gelangte, kann man in seinen Stufen etwa so beschreiben: Der Ausgangspunkt waren die aus tiefster existenzieller N o t erwachsenen theologischen Neuerkenntnisse Luthers, die zu einer Universitäts- und theologischen Studienreform in Wittenberg führen (1516/17); mit dem Ablaßstreit erwächst aus dieser neuen Theologie eine Predigt- und Lesebewegung, die in den —»Flugschriften der Reformationszeit nicht nur das Bürgertum, sondern weite Kreise erfaßt und auch „Karsthans", den einfachen M a n n , zum Reden bringt. Ende 1521 werden erste Konsequenzen gezogen, eine Gottesdienstbewegung entsteht, die sich nach 1525 zu einer Verfassungsbewegung verdichtet, welche das errungene Neue rechtlich abzusichern trachtet, in Anknüpfung an die Ansätze landesherrlichen Kirchenregiments (1526—30 Kursächsische Kirchen- und Schul-Visitation, 1526 Luthers Deutsche Messe, 1529 sein Großer und Kleiner —»Katechismus). Die Konturen einer neuen —»Konfession zeichnen sich ab. H a n d in H a n d mit der konfessionellen Verfestigung läuft ein Prozeß politischer Polarisierung. Widerstand der alten Kirche gegen den reformatorischen Aufbruch erfolgt zunächst von der kirchlichen Praxis und vom —»Kirchenrecht her (der bestrittene Ablaßvertrieb wie auch die Aufgabe der Ketzerbekämpfung lag in den Händen der —»Dominikaner), zögernder von Seiten der Hierarchie (—»Albrecht von Mainz). Energisch schaltete sich sehr bald die Theologie ein, —»Eck, —»Cochläus u. a. (vgl. dazu Iserloh 1 9 7 - 2 1 6 ) . Politischer Widerstand der Altgläubigen zeigt sich zuerst in Worms 1521, wo dem Kaiser —»Karl V. allerdings durch seine Wahlkapitulation gegenüber den Ständen die Hände gebunden sind in der Durchführung und Vollstreckung des Prozesses gegen Luther (—»Wormser Edikt). Wirksamer wird der Zusammenschluß süddeutscher katholischer Stände im Regensburger Bündnis 1524 (Österreich, Bayern, süddeutsche Bischöfe), das erste „gegenreformatorische" M a ß n a h m e n ergreift. Im Bauernkrieg kämpfen alt- und neugläubige Obrigkeiten noch auf einer Seite, aber bereits 1525 bahnt sich die konfessionelle Spaltung auch auf politischem Boden deutlicher an. Z u r gewaltsamen Ausrottung evangelischer Lehren schließen sich auch norddeutsche katholische Fürsten zusammen im Bündnis von Dessau (Herzogtum Sachsen, Brandenburg, Braunschweig, Albrecht von Mainz). Das Gegenbündnis von Kursachsen (—»Sachsen) und —»Hessen läßt nicht lange auf sich warten (Bündnis von Gotha Februar 1526 bzw. „Torgauer Bund"). Entscheidend für den Fortgang der Reformation bis 1555 ist immer wieder die Situation des Kaisers. Hat der seiner katholischen Verantwortung bewußte Herrscher die Hände frei zur Regelung der deutschen Verhältnisse, so geraten die Anhänger Luthers in Bedrängnis: so 1529 in Speyer, wo ihnen ihr mutiges Eintreten für ihre Sache den Namen „Protestanten" einbringt (—»Protestation von Speyer); so 1530, wo sie sich im —»Augsburger Bekenntnis rechtfertigen müssen; so vor allem nach dem —»Schmalkaldischen Krieg 1546/47, wo kurz nach dem Tode Martin Luthers das Ende der Reformation gekommen zu sein scheint. Sind dem Habsburger - er ist zugleich Herrscher Spaniens - jedoch durch weltpolitische Verflechtungen die H ä n d e gebunden, so ist seine Schwäche die Stärke der Protestanten: Durch den Speyerer Reichstag von 1526 (—»Reichstage der Reformationszeit) sehen sie sich er-

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JhiLziErweckung, einer Bewegung, die, vom Pietismus herkommend und von der Romantik befruchtet, neues Leben in zahlreichen Gemeinden der verschiedensten Gegenden Deutschlands z. T. bis heute hervorgerufen hat; sodann durch den neuen Konfessionalismus, der in Bayern, Hessen, Hannover, Preußen und Mecklenburg ein neues kirchliches Selbstbewußtsein und eine neue Kirchlichkeit zu befestigen verstand. Auch auf evangelischer Seite wird ein wesentlicher Teil christlicher Aktivitäten durch das kirchliche Vereinswesen getragen. Kaum ein Sektor ist nicht berührt: kirchliche Einheit des deutschen Protestantismus (—»Protestantenverein), soziale Frage (—»Innere Mission), —»Diakonie, —»Gefangenenfürsorge, —»Mission, Presse- und Bildungsarbeit, —»Diasporawerke, das Verhältnis der Konfessionen (—»Evangelischer Bund). Die Pionierarbeit, die hier geleistet wird, ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund der bürokratisch-landesherrlichen Amtskirche, für die diese z. T. brennenden Themen außerhalb des Horizonts ihrer Tätigkeit liegen. Daneben war hier soziologisch in Vereinsform für mittelständische Kreise noch die Möglichkeit einer halbwegs „kirchlichen" Heimat und Bindung gegeben. Das 19. (und 20.) Jh. bestätigt, in wie starkem Maße die Theologie zu den Lebensäußerungen evangelischen Christentums gehört. Hier wird auf den Grundlagen und mit den Mitteln weitergebaut, die die Jahrhunderte seit Luther bereitgestellt hatten, wobei radikale Selbstkritik und völliger Neubau nicht gescheut werden. Stärkste Impulse kommen von einem romantisch-„modernen" Ausgangspunkt, von dem aus —»Schleiermacher die Religion jenseits von Philosophie und Moral, jenseits von Denken und Tun als eigenständige Größe im Gefühl zu begründen sucht. Ohne Schleiermacher, eine der größten universalen Denkergestalten der neueren Zeit, ist auch die sog. —»Vermittlungstheologie nicht vorstellbar, die

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die „Verbindung des freien wissenschaftlichen Geistes mit dem eigentümlich christlichen" erstrebt, später zwischen der —»Liberalen Theologie und den „Positiven" zu vermitteln sucht. Ihr bedeutendster Vertreter ist R. —»Rothe. Anders als Schleiermacher versucht —»Hegel Theologie vom Denken her zu treiben, theologisch zu philosophieren, ja Theologie in Philosophie umzugießen. Der faszinierende Weg dieses spekulativen Idealismus gerät nach glänzendem Beginn in schwere Krise und Zerfall; mit 1835, dem „Revolutionsjahr" in der Theologie (vgl. D. Fr. —»Strauß), beginnt unter den Schülern Hegels der Auszug aus der Theologie. Unter bewußter Anknüpfung an die Theologie der orthodoxen Väter erstrebt die neue konfessionelle Theologie, insbesondere das —»Neuluthertum, bewußte Kirchlichkeit auch im Denken, wobei die Probleme der „modernen" Zeitgenossen mehr oder weniger aufgenommen (etwa in der „Erlanger Theologie" J . Chr. K. —»Hofmanns) oder in der Rückbesinnung auf die Theologie der Väter beiseite gelassen werden konnten (so stärker bei -H»Vilmar, —»Löhe, —»Kliefoth u. a.). Weniger fruchtbar in der Theologie war die pietistisch-erweckliche Bewegung. —»Tholuck, der hier am ersten zu nennen ist, hat bezeichnenderweise am stärksten als Prediger und Seelsorger an Studenten gewirkt (sein Schüler war M. —»Kähler). Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg sind auch in der Theologie durch einen bemerkenswerten Aufstieg geschichtlichen Denkens und Forschens charakterisiert (—»Geschichte). Die Namen von F. C. —»Baur, A. —»Ritsehl und A. —»Harnack bezeichnen dabei drei Generationen und drei Programme (—»Kirchengeschichtsschreibung). Auch in der Bibelwissenschaft sind die großen Leistungen „historisch-kritisch". Aufsehenerregend waren besonders die Forschungen der „Religionsgeschichtlichen Schule" (—»Religionsgeschichte des Urchristentums, „Babel-Bibel Streit", —»Babylonien und Israel) und ihre Systematisierung durch E. —»Troeltsch. Zum drängendsten Problem des Jahrhunderts wird mehr und mehr die soziale Frage. Später als in England und Frankreich setzt die verstärkte —»Industrialisierung in Deutschland erst im zweiten Drittel des 19. Jh. ein, um im dritten Drittel ihren Kulminationspunkt zu finden („Gründerzeit"). Dem entspricht, daß die ersten sozialen Entwürfe und Aktivitäten nur wenig Aufmerksamkeit erregen. Eine Wende bringt das Jahr 1848. Das Kommunistische Manifest von —»Marx und Engels (—»Kommunismus) findet damals so gut wie kein Echo, um so stärker ist dieses bei den sozialen Predigten —»Kettelers und dem Aufruf —»Wicherns auf dem Wittenberger Kirchentag. Auf katholischer Seite ist Ketteier, seit 1 8 5 0 Bischof von Mainz, mit seinen Schriften und Predigten die führende Gestalt, der auch auf die Soziallehre der Päpste eingewirkt hat. Er vollzieht zugleich den Übergang von der —»Sozialreform zur öffentlichen Sozialpolitik auf —»Katholikentagen und durch Parlamentsarbeit. Neben ihm steht als der Praktiker Adolf Kolping (gest. 1865), der Gründer der katholischen Gesellenvereine („Kolpingfamilie" 1849). Die neunziger Jahre sahen bedeutende Neugründungen sozialer Großorganisationen, vor allem nachdem Papst —»Leo XIII. 1891 mit der Enzyklika Rerum Novarum die Basis einer modernen katholischen Soziallehre gelegt hatte: 1890 entsteht der „Volks-Verein für das kath. Deutschland", 1894 die ersten christlichen —»Gewerkschaften, 1897 der deutsche Caritasverband. Auf evangelischer Seite ist neben den zahlreich in allen evangelischen Gegenden entstehenden Einrichtungen christlicher Liebestätigkeit — die größten von ihnen sind das Kaiserswerth -»Fliedners und das Bethel —»Bodelschwinghs - Wicherns Anstoß zu einer „Inneren Mission" seines Volkes von größter Bedeutung geworden, weil er auf unterer Ebene soziale Kleinarbeit ermöglichte. Den Weg in die Politik sucht Adolf —»Stoecker mit der Gründung einer christlich-sozialen Arbeiterpartei 1878 (—»Sozialismus), die freilich ihr Ziel nicht erreicht und zur Mittelstandsbewegung wird. Auf den Evangelisch-sozialen Kongressen wandte sich seit 1890 die theologische Wissenschaft der sozialen Frage zu unter Beteiligung bedeutender Gelehrter. Wirkliche Erfolge blieben auch Friedrich —»Naumann mit seinem politischen „christlichen Sozialismus" versagt. Unrühmlich ist die schwankende Rolle evangelischer Kirchenbehörden, insbesondere des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin, der sich am widersprüchlichen Verhalten des Kaisers orientierte. So gilt von den evangelischen Kirchen stärker als von der katholischen, daß sie trotz bewundernswerter Leistungen im ein-

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zelnen das soziale Gesamtproblem des Jahrhunderts nicht zu lösen vermochten (dies vielleicht auch gar nicht konnten): der sich neu bildenden Klasse des —»Arbeiters eine H e i m a t in Kirche und Gemeinde zu schaffen; das wäre u m so notwendiger gewesen, als denselben Menschen weithin auch der Platz in Staat und Volk zweifelhaft w a r bzw. abgesprochen wurde („Vaterlandslose Gesellen"). Wichtiges Merkmal des 19. Jh. wird schließlich die wachsende —»Kirchenentfremdung bzw. Kirchenfeindschaft. Der Strom geistigen und weltanschaulichen Lebens jenseits von Konfession und Kirche wird zunehmend breiter. M a n hat versucht, drei Akte des Vorgangs zu unterscheiden: Entchristlichung der Philosophie, Naturalisierung der Weltanschauung und Ästhetisierung des Lebens (K. D. Schmidt). Deutlich ist auch, d a ß diese Bewegung tiefgehender geistiger Säkularisierung bei den Gebildeten, ja bei Theologen beginnt, nach 1870 immer mehr anschwillt, bis sie um die J a h r h u n d e r t w e n d e den C h a r a k t e r einer Massenbewegung annimmt. Die Erben Hegels machen den Anfang. Die gleiche Intensität, mit der ihr Lehrer die Synthese von Christentum und Philosophie betrieben hatte, richtet sich bei den Schülern auf die Diastase, ja Destruktion des Christlichen. Mindestens bei zwei von ihnen wird deutlich, daß das Ergebnis —»pseudoreligiöse Bewegungen sind: D. Fr. Strauß zimmert schließlich einen „neuen G l a u b e n " f ü r die Bildungsbürger seiner Zeit, Karl M a r x schafft mit seinem historisch-dialektischen —»Materialismus das Fundament einer sozialistischen Ersatzreligion. Vielfältig ist daneben das Angebot neuer Weltanschauungen. Es reicht vom —»Pessimismus —»Schopenhauers über den —»Positivismus und den Naturalismus —»Darwins bis hin zum —»Monismus Eduard von H a r t m a n n s , von Friedrich —»Nietzsche, der im Christentum „den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit" erblickte (Antichrist, 1888), über Henrik —»Ibsen bis zur religiös so geladenen Welt der O p e r n Richard Wagners, an denen zugleich sichtbar wird, wie f r u c h t b a r dieses J a h r h u n d e r t in der Schaffung neuer Mythen gewesen ist (vom Faust bis Zarathustra und Tristan und Isolde). Z u r gleichen Zeit verdichten sich die Ansätze zu einem deutsch-völkischen Glauben (—»Deutschgläubige Bewegungen) , auch ein kräftiger —»Antisemitismus beginnt sich zu regen. In dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg kam es zu einer beunruhigenden Kirchenaustrittsbewegung vor allem im evangelischen Deutschland; sie ist wohl zurückzuführen auf das Zusammenfließen der außerordentlich lautstarken, antireligiös ausgemünzten Popularisierung neuer Erkenntnisse der —»Naturwissenschaften (E. Haeckels Welträtsel, 1899) mit der Agitation der ^ S o z i a l demokratie gegen die mit dem Staat eng verbundene Kirche. Die Jahre zeigen zugleich die tiefe gesellschaftliche, politische, kulturelle, religiöse u n d konfessionelle Zerrissenheit Deutschlands am Beginn unseres Jahrhunderts, die in der gemeinsamen Begeisterung des Aufbruchs 1914 zu heilen scheint. N u r von daher wird die H o f f n u n g vieler Christen und Kirchenmänner voll verständlich, der Krieg werde als Retter eine religiöse und völkische Wiedergeburt Deutschlands bringen. im konfessionell neutralen und im kirchenfeindlichen Staat 3.2. Die Christenheit (1918-1945). Der Schock des verlorenen Krieges, der Verlust an Land, Ehre und Selbstbewußtsein h a t das deutsche Volk tief getroffen. Z w a r k o m m t es nach dem Z u s a m m e n b r u c h auf vielen Gebieten zu einem großartigen geistigen N e u a u f b r u c h , zugleich aber m a c h t die physische Erschöpfung Deutschland anfällig für geistige Infektionen aller Art. M e h r noch als der Kommunismus, der jetzt in M o s k a u ein machtpolitisches und ideologisches Z e n t r u m besitzt, aber durch seine Kirchenverfolgung (—»Christenverfolgungen) im eigenen Land und im -»Baltikum abstößt, entwickelt der —»Faschismus Süd- und Westeuropas erhebliche Anziehungskraft. Der neue deutsche Staat, die Weimarer Republik, pendelt sich nach anfänglichem Radikalismus auf einer mittleren Linie ein, die allerdings sehr bald von rechts u n d links bedroht ist. Die im Kaiserreich Verdächtigten und von der M a c h t Ausgeschlossenen werden jetzt die staatstragenden G r u p p e n : die Sozialdemokraten und die Katholiken. Mehrere Male stellen diese den Reichskanzler, das „ Z e n t r u m " wird führende und stabilisierende Partei. Im Gegensatz zu der Mehrzahl der Protestanten gewinnen die Katholiken ein positives Verhältnis zum neuen Staat. Dieser n i m m t in religiös-weltanschaulicher Hinsicht eine H a l t u n g

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wohlwollender Neutralität ein, die zunächst konsequent gedachte Trennung von Staat und Kirche wird nur „hinkend" durchgeführt. Der katholischen Kirche gelingt es, ihre Einbußen im Westen (Bistümer Straßburg und Metz) und Osten (Gnesen-Posen und Kulm) durch innere Festigung und Ausbau der Strukturen wettzumachen: Die bisherige preußische Gesandtschaft am Vatikan wird 1920 in eine reichsdeutsche Botschaft umgewandelt, verbunden mit der Errichtung einer Nuntiatur in Berlin — Nuntius in München und später Berlin ist Eugenio Pacelli (—»Pius XII.) - , 1 9 2 1 wird für Sachsen in Meißen (Bautzen), 1929 in Berlin ein neues Bistum geschaffen, Länderkonkordate mit Bayern (1924), Preußen (1929) und Baden (1932) bringen erhöhte Sicherheit; die allgemeine größere Bewegungsfreiheit seit 1919 gestattet eine erhebliche Vermehrung der Ordensniederlassungen. Ähnlich positiv entwickelt sich das geistige Leben. „Daß die vom Idealismus geschaffenen geistigen Grundlagen des 19. Jh. in den Stürmen des Weltkrieges für viele endgültig zerbrachen, konnte dem in eine kulturelle Randstellung geratenen deutschen Katholizismus eher zum Vorteil als zum Nachteil gereichen. Tatsächlich zeigen die zwanziger Jahre im deutschen Katholizismus ein aufblühendes geistiges und religiöses Leben, das kaum Anzeichen einer Krise, eher Züge eines nach langer Winterkälte aufblühenden Frühlings zeigt" (Wallmann 265). Es ist die Zeit der „Bewegungen": Neben der monastischen und —»Liturgischen Bewegung steht die katholische —»Jugendbewegung, die Akademiker-, die Literatur- und die Exerzitienbewegung. Die „Rückkehr des deutschen Katholizismus aus dem Exil" (Peter Wust 1924; vgl. Spael 260) ist in vollem Gang, hervorragende Konvertiten (—»Konversion) bestätigen die Faszination dieses geistigen Aufbruchs. Für die evangelische Seite bedeutet der Zusammenbruch des „Heiligen evangelischen Reiches deutscher Nation" (Stoecker 1871: W. Frank, Hofprediger Adolf Stoecker u. die christl.-soziale Bewegung, Hamburg 1935, 27f) ungleich mehr. Nur wenige sind bereit, im neuen Staat positiv mitzuarbeiten (A. v. Harnack, E. Troeltsch). Das Ende von Staatskirchentum und landesherrlichem Kirchenregiment wird erst nach und nach als Befreiung erfahren, als Chance, zu kirchlicher Selbständigkeit zu kommen. Angesichts der neuen Aufgaben und Möglichkeiten der Kirche kann das kirchliche Selbstbewußtsein geradezu zur Euphorie anwachsen (vgl. O. —»Dibelius, Das Jahrhundert der Kirche, 1926, 6 1928). Nach den vergeblichen Anläufen des 19. Jh. kommt nun der kirchliche Einigungsgedanke zu einem ersten Ziel, dem „Deutschen Evangelischen Kirchenbund" von 1922 (—»Evangelische Kirche in Deutschland). Das mit der Monarchie dahingefallene Bündnis von „Thron und Altar" verursacht nicht nur eine erhebliche innere Unsicherheit der Pfarrerschaft, die sich auch politisch auswirkt, sondern es führt auch zur Suche nach neuen Synthesen. Kristallisationspunkt wird für viele Kirchenmänner und Theologen (P. —»Althaus) der Begriff des Volkes, die neue Losung lautet jetzt „Kirche und Volk" (Königsberger Kirchentag 1927, —»Volkskirche). Die religiösen Sozialisten, zumeist kleine Gruppen, erstreben im Gefolge von Chr. —»Blumhardt, Kutter und —»Ragaz eine Annäherung von Christentum und Sozialismus (—»'Tillich, —»Dehn, Emil Fuchs u. a.); Deutsche suchen Anschluß an die ökumenische Bewegung (—»Ökumene), sie beteiligen sich auch an der —»Friedensarbeit der Kirchen. Ihr eigentliches Gepräge bekommen die zwanziger Jahre jedoch durch den Aufbruch in der evangelischen Theologie. Zwar bringt schon die sogenannte „Lutherrenaissance" (—»Luther), ausgelöst durch den Berliner Kirchenhistoriker K. —»Holl (GAufs. zur KG.I. Luther, 1921), eine deutliche Abkehr von einem idealistisch-liberalen Lutherbild und eine Zuwendung zur neu entdeckten geistigen Welt der Reformation (auch Calvin!), doch bleiben Holl und seine Schüler (vor allem E. —»Hirsch) in ihrem nationalen Denken dem 19. Jh. verhaftet. Einen völligen theologischen Neuansatz, zugleich eine scharfe Absage an die Liberale Theologie und den —»Kulturprotestantismus des 19. Jh. bringt erst die —»„Dialektische Theologie" Karl —»Barths und seiner Freunde (—»Thurneysen, —»Brunner, —»Gogarten und —»Bultmann). Ausgehend von der Heiligen Schrift und der Aufgabe der Predigt (Barths Römerbrief, 1919 2 1922) und in Anknüpfung an die Theologie der Reformation und die theologische Arbeit der altprotestantischen Orthodoxie wird das Jahrhundert Schleiermachers als theologischer Irrweg verworfen, aller anthropologisch bedingten Syn-

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these die große Diastase des „unendlichen qualitativen Unterschieds" von Gott und Mensch, Zeit und Ewigkeit im Sinne -^Kierkegaards entgegengestellt. Ein neues Gottesverständnis, eine neue Betonung der Christologie, ein neues Verständnis des Menschen fügt sich, vor allem bei Barth, zusammen zu einer neuen Offenbarungstheologie, an der sich nach gemeinsamen Jahren (Zeitschrift Zwischen den Zeiten, 1923 — 1933) durch neue Synthesen (z. B. Gogartens Einheit von Evangelium und Volkstum?, 1933) neue Trennungen ergeben; nach 1933 erweist diese theologische Neuorientierung sogleich ihre kirchliche, sehr bald auch ihre politische Bedeutung. Die Weimarer Republik endete in Wirtschaftskrise und politischem Chaos. Als Retter in der Not kam dann der —» Nationalsozialismus. Sein Programm und die Vorstellungen, die den „Führer" dieser Bewegung leiteten, waren in etwa bekannt, z. B. der militante —> Rassismus und Antisemitismus. Weniger genau war die kirchenpolitische Linie dieser Partei zu erkennen. Ihre Rede vom „positiven Christentum" versteckte mehr, als sie verriet. Trotz des raschen Anwachsens der Hitler-Bewegung seit 1930 blieb die katholische Kirche zunächst bei ihrer strikt ablehnenden Haltung; auch auf evangelischer Seite überwog die kritische Zurückhaltung, wenngleich die kleine Minderheit der Anhänger Hitlers in der Kirche ständigen Zuzug aus der Jugend zu verzeichnen hatte (—»Deutsche Christen). Schon vor der Machtergreifung im Januar 1933 hatte die nationalsozialistische Partei versucht, von der Neutralität zur Annäherung zu kommen. Das war wegen der geschlossenen Ablehnung auf katholischer Seite schwierig, bei den Protestanten waren eher Ansatzpunkte gegeben. Die verschiedene Struktur erforderte eine unterschiedliche Taktik. Nach der Schaffung einer Vertrauensbasis in seiner Regierungserklärung vom 23. März 1933 gibt Hitler die beiden Stichworte aus: „Reichskonkordat" und „Reichskirche". Auf katholischer Seite erreicht Hitler durch das Angebot eines umfassenden Kirchenvertrages ein schnelles Einlenken der widerstrebenden Hierarchie; nach Preisgabe des „politischen Katholizismus" (Verbände, Zentrumspartei) kann das Reichskonkordat schon am 20. Juli 1933 abgeschlossen werden - ein ungeheurer außen- und innenpolitischer Erfolg der neuen Regierung. Wie ausschließlich taktisch-politisch es gemeint war, zeigen die Beschränkungen der kirchlichen Arbeit, die bereits 1933 einsetzen, im folgenden Jahr schwere Ubergriffe, seit 1935 eine weitere Verschärfung der Gegensätze. Beginnender katholischer Widerstand wird durch —»Pius XI. (Mit brennender Sorge, 1937) gestärkt, während sein Nachfolger Pius XII. vorwiegend an der Erhaltung kirchlicher Rechte interessiert ist und sich insofern an den Vertrag bindet. Die evangelische Christenheit wird gelockt mit der Vorstellung einer „Reichskirche", die freilich von den Deutschen Christen „erobert" und dann „gleichgeschaltet" werden soll. Die Aktion gelingt zunächst, führt aber sehr bald zu tiefer Zerrissenheit des deutschen Protestantismus und zum —>Kirchenkampf. „Das Überraschende an den Ereignissen der Jahre 1933/34 ist nicht das Gelingen von Hitlers Plänen, sondern ihr schließliches Scheitern" (Scholder: EStL 2 1181). Widerstand von Seiten der Kirchen verbindet sich mit dem von Seiten der Theologie. Bereits im September 1933 bildet sich ein „Pfarrernotbund" gegen die Verletzung des Bekenntnisstandes durch Entlassung von Pfarrern „artfremden Blutes"; der Januar 1934 sieht die erste „freie Synode". Um diese Zeit hat die Bewegung der Deutschen Christen ihren Zenit schon überschritten, während die sich bildende „Bekennende Kirche" in der Synode von Barmen Mai 1934 und deren Theologischer Erklärung einen Höhepunkt der neuesten Kirchengeschichte darstellt. Auf dem Fundament der Theologie Karl Barths wird hier der grundsätzliche Widerstreit der Prinzipien markiert, für die Kreuz und Hakenkreuz die unvereinbaren Symbole sind. Von heroischem Widerstand von dieser Basis aus kann man trotz zahlreicher Blutopfer von Christen kaum reden, auch die Bekennende Kirche wurde bald in sich uneins. Trotzdem sind es nur die Kirchen gewesen, die „Widerstand" auf breiterer Basis gegen den nationalsozialistischen Totalitätsanspruch in Bewegung gebracht haben, und es ist zu fragen, „ob die Kirchen nicht dadurch, daß sie innerhalb ihres eigensten Kreises sich zur Wehr setzten, die Kräfte des aktiven Widerstands mit einem härteren Kern und einer schärferen Schneide versahen, als irgendeine äußere Revolte es hätte tun können" (H. Rothfels, Die dt. Opposition gegen Hitler, 1958, 48).

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Der totale nationalsozialistische Weltanschauungsstaat hat jedenfalls gerade das Versagen ideologischer Gefolgschaft als unerträglich angesehen und mehr und mehr die Christen als seine gefährlichsten inneren Gegner betrachtet. „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens" war nur eine erste harmlose Stufe auf dem gedachten W e g e hin zu einer „Endlösung" auch der Kirchenfrage. T r o t z des „Burgfriedens" während des Krieges verschärfte sich die Lage seit 1 9 3 8 (Prozeß gegen Martin Niemöller) ständig: Die neue Kirchenpolitik im angeschlossenen Österreich, vor allem die Regelungen der Kirchenfrage im W a r t h e g a u (seit 1 9 4 0 ) ließen das Ziel ahnen, das seit 1 9 4 1 auch klar ausgesprochen wurde: die völlige Eliminierung und schließliche Vernichtung des Christentums. Wenn auch die beiden Kirchen in Deutschland während der Jahre des Nationalsozialismus „nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt h a b e n " (so das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1 9 4 5 ; s.u. Abschn. III.3), wenn sie vor allem, in eigener Bedrängnis befangen, die N o t anderer verfolgter Gruppen weithin aus den Augen verloren haben, so waren sie dennoch beim Zusammenbruch des Dritten Reiches 1 9 4 5 als Repräsentanten eines besseren Deutschland Anknüpfungspunkte für einen neuen Anfang in der deutschen Geschichte, zunächst auch über Jahre hin die einzige wirksame Klammer, durch die die beiden verbliebenen Teile Deutschlands miteinander verbunden waren. Bedenkt man den geschichtlichen „ E r t r a g " der Jahre des Kirchenkampfes, so wird man das Folgende als besonders wichtig hervorheben: ein neues inneres Verhältnis der evangelischen Kirche zum Volk, das Bewußtwerden ökumenischer Zusammenhänge kirchlicher Existenz, schließlich die in der gemeinsamen Bedrückung gründende Annäherung der beiden großen Konfessionen (—>Una-Sancta-Bewegung), deren Früchte freilich erst in den folgenden Jahren langsam heranzureifen begannen. Literatur

(allg. Literatur

s. o. Abschn.

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III. Z u r Situation der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland 1. Das staatsrechtliche Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten 2. Die Neuordnung des evangelischen Kirchenwesens von 1948 und das Zerbrechen der rechtlichen Gemeinschaft zwischen den evangelischen Kirchen in den beiden deutschen Staaten 3. Neubesinnung auf die politische Ethik und auf den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche 4. Das Verhältnis von Kirche und Staat 5. Die evangelische Kirche im ökumenischen Rat der Kirchen und ihr Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche 6. Stabilität der Volkskirche (Literatur S. 599)

1. Das staatsrechtliche

Verhältnis zwischen den beiden deutschen

Staaten

Nach dem Zusammenbruch jeglicher staatlichen Ordnung des Deutschen Reiches im J a h r e 1 9 4 5 und nach einem Übergangssystem der vier Besatzungszonen k a m es überra-

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sehend schnell zu einer staatlichen Ordnung. Diese stand freilich von Anfang an im Zeichen der bald nach Kriegsende auftretenden politischen und ideologischen Gegensätze zwischen der Sowjetunion und den Westmächten, die schließlich zur Spaltung Deutschlands führten. Die Gründung der beiden deutschen Staaten „Bundesrepublik Deutschland" und „Deutsche Demokratische Republik" im Jahre 1949 und ihre weitere Entwicklung haben Begriffe wie Deutschland und Deutsche Nation unsicher werden lassen. Nach dem in der Bundesrepublik geltenden Verfassungsrecht besteht das Deutsche Reich über den 8. Mai 1945 hinaus bis heute fort. Die Bundesrepublik hat ihre Identität mit dem Deutschen Reich nach dem Vertrag vom 21. Dezember 1972 über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zwar territorial auf das Bundesgebiet beschränkt, aber sie hält doch wiederum an einer auch die Bürger der DDR umfassenden einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit und damit an der Einheit der Deutschen Nation fest. Die DDR lehnt dagegen eine staats- und völkerrechtlich wirksame Identität der Nachfolgestaaten mit dem zerbrochenen Deutschen Reich ab. Sie nimmt seit dem Staatsbürgergesetz vom 20. Februar 1967 eine eigene Staatsangehörigkeit in Anspruch, ließ aber zunächst in ihrer neuen Verfassung vom 6. April 1968 die Anerkennung der Deutschen Nation in zwei Staaten noch unangetastet. Die seitdem postulierte Unterscheidung zwischen einer bürgerlichen und einer sozialistischen Nation führte schließlich dazu, den Hinweis auf die Verantwortung für den zukünftigen Weg der „ganzen deutschen Nation" durch Gesetz vom 7. Oktober 1974 aus der Verfassung zu streichen und statt dessen vom „sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern" zu sprechen. Danach existieren für die DDR zwei Nationen in Staaten verschiedener Gesellschaftsordnung, von denen die eine als Verkörperung der besten Traditionen und die andere als Ergebnis der reaktionären Strömungen der deutschen Geschichte verstanden wird. Für die Bundesrepublik dagegen ist die Wiedervereinigung ein verfassungsrechtliches Gebot, das ihr jede diesem Ziel entgegenwirkende Maßnahme verwehrt und die Formel von der einen Deutschen Nation sanktioniert. Der Grundvertrag konnte nur einige Rahmenbedingungen für ein vernünftiges Neben- und Miteinander in praktischen und humanitären Fragen schaffen, die in den politischen und ideologischen Gegensätzen verankerten Grundprobleme aber nicht lösen. 2. Die Neuordnung des evangelischen Kirchenwesens von 1948 und das Zerbrechen der rechtlichen Gemeinschaft zwischen den evangelischen Kirchen in den beiden deutschen Staaten Die fällige Neuordnung des evangelischen Kirchenwesens stand vor einer mehrfachen Aufgabe. Einmal waren die im Dritten Reich vertieften Einsichten in das Wesen der Kirche auf ihre Gestalt anzuwenden. Zweitens mußte eine geordnete kirchliche Gemeinschaft in dem Spannungsfeld der Zweistaatlichkeit Deutschlands neu definiert werden. Und schließlich mußte die in der Rückbesinnung auf das Dritte Reich gewonnene Neuentdeckung von Staat, Politik und Gesellschaft als einem Feld kirchlicher und theologischer Verantwortung begründet und wahrgenommen werden.

Der—»Kirchenkampf 1933 — 1945 hatte das Bekenntnis als kirchliche Urkunde und das Bekennen als zentrale christliche Aufgabe im Sinne der Identität mit der biblischen Urgestalt des christlichen Zeugnisses wieder zum Hauptthema der Kirche gemacht. Die Art und Weise, in der das Bekenntnis als Gestaltungsprinzip aller Organisations- und Verfassungsfragen, als Orientierungspunkt des gesamten kirchlichen Handelns gilt, ist für das reformatorische Kirchenverständnis eigentümlich. Freilich ist es auch der Bekennenden Kirche nicht gelungen, die Einheit im Bekenntnis zwischen den überlieferten Konfessionskirchen (—»Konfession) hinreichend zu erfassen. Letztlich standen das Bild einer Bekennenden Gemeindekirche und das einer an das traditionelle Landeskirchentum (—»Landeskirche) anknüpfenden Volkskirche gegeneinander. Den Vätern der —»„Evangelischen Kirche in Deutschland" von 1948 (EKD), die den aus dem Dritten Reich eher zerstritten hervorgehenden deutschen Protestantismus verfassungsrechtlich neu zu ordnen hatten, ist daher nicht mehr als eine Interimslösung gelungen. Die EKD wird in der Grundordnung vom 13. Juli 1948 als ein Bund lutherischer, reformierter und unierter Kirchen beschrieben, in dem die bestehende Gemein-

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schaft der deutschen evangelischen Christenheit sichtbar wird. Auch der neue Versuch der 70er Jahre, über diesen Gegensatz hinwegzukommen und zugleich das Verhältnis der Gesamtkirche zu ihren Gliedkirchen neu zu beschreiben und wirkungskräftiger zu gestalten, ist letztlich gescheitert. Trotz des laufenden Funktionszuwachses für die Gesamtkirche ist das traditionelle Landeskirchentum eher gestärkt aus diesen Bemühungen hervorgegangen. Daran hat auch die —>Leuenberger Konkordie vom 16. März 1973 nichts geändert. Zwar haben alle Gliedkirchen der EKD der Konkordie zugestimmt und damit die Kirchengemeinschaft im Sinne der Konkordie untereinander festgestellt, aber Rechts- und Verfassungswirkungen sind davon bisher nicht ausgegangen. Für die verfassungsrechtliche Stellung der Kirchen in der DDR zur Gesamtkirche der EKD ließen sich Kriterien an der Frage nach dem Verhältnis von Staatsgrenzen und Kirchengrenzen zueinander nicht gewinnen. Hier ist eine abstrakte oder zeitlose Antwort nicht möglich. Selbstverständnis und Auftrag der Kirche sind dem Widereinander zweier sich ausschließenden staatlichen und weltanschaulichen Weltsysteme entgegengesetzt. Daher konnte es nicht zweifelhaft sein, daß die neu geordnete EKD sich als Gesamtkirche für beide deutsche Staaten verstand und gerade darin die Trennung zu relativieren versuchte. Gewiß spielten dabei die gemeinsame Geschichte, die gemeinsam erfahrenen Notzeiten des Dritten Reiches und die gemeinsam zu bestehende Bewährung in Gegenwart und Zukunft eine wichtige Rolle. Schwerer als das alles wog aber die Überzeugung, daß die Politik allein die Aufgabe hat, dem Menschen zu dienen, und daß darum alles darangesetzt werden mußte, an einer besonders gefährdeten Stelle der Weltpolitik der Verständigung zwischen den Völkern zu dienen. Solange es irgend vertretbar, sinnvoll und durchsetzbar erschien, hat darum die EKD an ihrer organisatorischen Gemeinschaft zwischen den beiden Teilen Deutschlands festgehalten. Es konnte allerdings nicht ausbleiben, daß die Fortführung kirchlicher Gemeinschaft zwischen den beiden Teilen Deutschlands auf beiden Seiten dem Mißverständnis und dem Mißbrauch ausgesetzt war. Was vom kirchlichen Auftrag her wohl begründet erschien, konnte aus gegensätzlichen politischen Interessen heraus einerseits bestritten und andererseits in Anspruch genommen werden. Auch in der EKD selbst ist man zeitweilig der Versuchung erlegen, den Gedanken kirchlicher Gemeinschaft in eine zu große Nähe zu politischer Einheit und hier gar zur Wiedervereinigung Deutschlands zu bringen. Der kirchliche Zusammenhalt zwischen den beiden Teilen Deutschlands konnte sowohl theologisch wie politisch überfrachtet werden und die Kirchen in der DDR an der unabweisbaren Aufgabe hindern, zwischen Assimilation und Konfrontation ihren eigenen Weg in einer sozialistischen Gesellschaft zu suchen. Jedenfalls waren und sind die Kirchen und Gemeinden in der DDR vor Aufgaben gestellt, zu deren Lösung sie eines Tages die Freigabe durch die Kirchen in der Bundesrepublik benötigten. Die am 10. Juni 1969 erfolgte Gründung eines —»„Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR" mit dem Ausscheiden aus dem Verband der EKD war aus Gründen kirchlicher Verantwortung unausweichlich. Die Folgezeit hat gezeigt, daß in der gegenseitigen rechtlichen Unabhängigkeit ein Zusammenwirken in wichtigen Fragen gemeinsamen Dienstes weiterhin möglich ist. 3. Neubesinnung

auf die politische Ethik und auf den Öffentlichkeitsauftrag

der Kirche

Es ist nicht verwunderlich, daß es nach 1945 zu einer breiten Neubesinnung in Fragen der politischen Ethik (—»Politik und Christentum) und des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrages (—»Öffentlichkeit) kam. Zwischen allen Gruppen der Bekennenden Kirche hatte Übereinstimmung darin geherrscht, daß die Kirche sich nicht mit dem politischen Gegenprogramm einer Widerstandsgruppe auf den Weg einer aktiven Opposition gegen den nationalsozialistischen Staat führen lassen durfte; zu einem politischen Faktor in einem solchen Staat wird die Kirche durch die Entschlossenheit, für Gottesdienst, Verkündigung und christliches Leben einen Raum der Freiheit in Anspruch zu nehmen. Von diesen Einsichten darf das Verständnis der Erklärung des Rates der EKD vom 19. Oktober 1945 in Stuttgart nicht getrennt werden.

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Darin hatte der damalige vorläufige Rat gegenüber einer Reihe von führenden Repräsentanten ausländischer Kirchen und des damals in Gründung befindlichen ökumenischen Rates der Kirchen zunächst von der großen Gemeinschaft der Leiden und von der Solidarität der Schuld gesprochen, in der sich die Vertreter der evangelischen Kirche mit dem deutschen Volk befinden: „ M i t großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht w o r d e n . " Dieser geschichtlich und politisch unanfechtbare Satz ist oft fälschlicherweise als Bekenntnis deutscher Kollektivschuld verstanden worden, durch die ein Strafhandeln der Siegermächte des zweiten Weltkrieges am deutschen Volk legitimiert werden sollte. Tatsächlich ging es kirchlicherseits in der Schuldfrage darum, Kräfte der Selbstbesinnung und der Erneuerung zu wecken und Brücken zur Versöhnung mit Kirchen und Menschen anderer Völker zu schlagen. Für sich selbst und im Namen der ganzen Kirche sprechen die Ratsmitglieder in der Stuttgarter Erklärung aus: „ W i r klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Mit dieser Anklage eines Versagens im Bekennen, im Gebet, im Glauben und in der Liebe steht die Stuttgarter Erklärung in einem engen Zusammenhang mit den Grundlagen des Kirchenkampfes. Mutigeres Bekennen, treueres Gebet, fröhlicherer Glaube, brennendere Liebe: das alles hätte für die Entlarvung der Unmenschlichkeit des Dritten Reiches weitreichende Folgen haben können. Dazu bedurfte es keines neuartigen politischen Gottesdienstes, sondern einer größeren Treue und Entschlossenheit zur Predigt des Wortes Gottes in Gesetz und Evangelium. Die Stuttgarter Erklärung geriet dennoch in der Folgezeit für viele zum Programm für ein Verständnis politischer Predigt, in der sich politische Meinungsaussagen mit christlichen Glaubensinhalten verschmelzen. Auf diese Weise verbinden sich auf der einen Seite Fragen der politischen Verantwortung der Kirche und der politischen Entscheidung der Christen immer mehr mit der Einheit und Treue im Glauben, während auf der anderen Seite ebenso entschieden der Möglichkeit widersprochen wird, im politischen Dienst der Kirche um des Herrschaftsanspruches Jesu Christi willen bestimmte politische Ordnungsvorstellungen und Handlungsweisen verbindlich zu vertreten.

Mit diesem Grundlagenstreit in der politischen Ethik haben evangelische Kirche und Theologie seither leben müssen. Er hat den Auseinandersetzungen um die politischen Fragen der Zeit (Wiederbewaffnung, Atomwaffen, Ost-West-Spannung, Spaltung Deutschlands, Oder-Neiße-Grenze, Befreiung unterdrückter Völker und Rassen, Anwendung revolutionärer Gewalt, politischer Radikalismus, Kernenergie und Ökologie, Friedenssicherung, Menschenrechte, Sozialpolitik, Ehe und Familie), an denen sich Kirche und kirchliche Gruppen mit Leidenschaft beteiligt haben, ihre Signatur gegeben. Der Beitrag der evangelischen Kirche zu den großen Sachfragen der Politik ist zu einem festen Bestandteil der öffentlichen Diskussion geworden. 4. Das Verhältnis von Kirche und Staat Im Verhältnis von Kirche, Staat, Gesellschaft und Öffentlichkeit hat sich nach 1 9 4 5 ein weitschichtiges und differenziertes Beziehungsgeflecht herausgebildet. In ihm kommt von den Einsichten im Dritten Reich her ein eigenständiges Unabhängigkeitsbedürfnis der Kirche gegenüber dem Staat zur Geltung. Zugleich drückt sich darin ein Staatsverständnis aus, das einer offenen Gesellschaft einen Freiraum für eigene Entfaltung beläßt. Der moderne Staat von heute kann einem fortschreitenden Funktions- und Kompetenzzuwachs bis hin zur Daseinsvorsorge für den einzelnen nicht ausweichen, umso mehr aber bedarf es des ausgleichenden Gegenübers von staatsunabhängigen Initiativen und Lebensformen, wenn es nicht zu einer neuen Gestalt einer Staatsomnipotenz kommen soll. Insofern sind die Lebensmöglichkeiten von Kirche und christlichem Glauben über den privaten Raum hinaus zugleich Gradmesser für Liberalität und Pluralität im Staats- und Gesellschaftsverständnis. Die Geschichte des Verhältnisses von —»Kirche und Staat zeigt, daß die reine Negativformel „Trennung von Kirche und S t a a t " unergiebig ist, wenn sie nicht gerade als Instrument der Unterdrückung kirchlichen Lebens verstanden wird. Deshalb waren die Väter der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1 9 1 9 gut beraten, den alten Kampfruf zu vermeiden und sich auf die grundlegende Aussage zu beschränken, daß keine Staatskirche besteht. Die Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat nach 1 9 1 8 hat sich in evangelischer Sicht wesentlich darauf beschränkt, die über den Souverän laufende Verbindung zwischen staatlichen und kirchlichen Ämtern zu beseitigen, der Kirche ihre Freiheit zu garantieren, die gegenseitige Unabhängigkeit von Kirche und Staat neu zu gestalten, im übrigen aber

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geschichtlich gewordene Einrichtungen zu erhalten und den Kirchen ihre Rechte und Pflichten von Körperschaften des öffentlichen Rechts zu belassen (Art. 136 ff der Weimarer Verfassung). Unter Aufnahme der Bestimmungen von 1919 als Bestandteil des Grundgesetzes der Bundesrepublik vom 23. Mai 1949 (Art. 140) wurde auf dieser Grundlage das die evangelische Kirche betreffende Staatskirchenrecht nach dem zweiten Weltkrieg weiter ausgeformt, um den neu entstehenden Lebensäußerungen der Kirche, soweit sie in den öffentlichen Bereich hineinreichen, Rechnung zu tragen. Dabei hat sich gezeigt, daß bei gleichbleibenden Verfassungsaussagen wandlungsfähige und situationsbezogene Fortentwicklungen des Verhältnisses von Kirche, Staat und Gesellschaft (—»Gesellschaft und Christentum) möglich sind. Die Fortentwicklung ist unter Wahrung der Grundsätze der Religionsfreiheit für jedermann und der Neutralität des Staates in weltanschaulichen Fragen im Geiste einer immer wieder genannten sachbezogenen Partnerschaft zwischen Kirche und Staat erfolgt. Es kann nicht verschwiegen werden, daß die starke staatskirchenrechtliche Stellung der Kirchen in der Bundesrepublik auch innerkirchlich mannigfacher Kritik begegnet. Im Hintergrund steht die vor allem von den Erfahrungen im Dritten Reich genährte Frage, ob das Bild einer in Staat und Gesellschaft eingeordneten und mit ihnen konform gehenden Kirche eigentlich ihrem Wesen entspricht. Kann eine Kirche noch ihren Auftrag erfüllen, die in ihrer Institution sich auf weltliche Privilegien stützt? Oder es heißt, daß die Kirche ihrerseits nicht Stütze einer von veralteten Herrschaftsstrukturen durchsetzten Gesellschaft sein darf, sondern helfen muß, eine solche Gesellschaft zu reformieren. Es kommt die selbstkritische Überlegung hinzu, ob nicht die innere geistliche Kraft der Kirchen hinter ihrer starken Stellung in Staat und Gesellschaft zurückbleibt. Keine dieser Überlegungen hat bisher zu einem schlüssigen Handlungsprogramm geführt. Der Staat, der sich der Kirche im öffentlichen Raum entledigen will, weil sie Freiheit und Fortschritt hemmt, findet sich unversehens auf dem Wege zum Zwangsstaat wieder, weil er der Kirche und ihren Gliedern die öffentlichen Bekundungen ihres Glaubens verwehrt. Die Kirche, die das Leben in Staat und Gesellschaft radikal verändern will, verliert gerade die Basis zur Veränderung, weil sie ihre Gefolgschaft vertreibt und sich aus einer Volkskirche in eine Sekte verwandelt. Analog dazu verliert die Kirche, die sich von sich aus auf die Pflege ihres eigenen inneren Lebens zurückzieht, wichtige äußere Voraussetzungen für einen missionarischen Dienst an allen Gliedern des Volkes. Aber es ist unverkennbar, daß der deutsche Protestantismus mit der Tradition einer unkritischen Staatsnähe gebrochen hat und nur aus einer Haltung innerer Unabhängigkeit heraus in kritischer Solidarität zu einem Dienst an der Gemeinschaft in Staat, Politik und Gesellschaft bereit ist. 5. Die evangelische römisch-katholischen

Kirche im ökumenischen Kirche

Rat der Kirchen und ihr Verhältnis

zur

Zu den kirchengeschichtlich bedeutsamen Daten des Zeitabschnittes nach 1945 gehört die nach jahrzehntelanger Vorbereitung vollzogene Gründung des ökumenischen Rates der Kirchen auf der Weltkirchenversammlung in Amsterdam 1948 (—»Ökumene/ökumenisch). Die Bedeutung der Mitarbeit in diesem heute über 2 4 0 Mitgliedskirchen umfassenden Weltverband für die deutschen Kirchen wurde beispielhaft deutlich bei dem Besuch ökumenischer Repräsentanten in der Sitzung des Rates der EKD mit der Erklärung vom 19. Oktober 1945 in Stuttgart. Die zentrale Aufgabe des Ö R K ist es, seinen Mitgliedskirchen als ein Instrument dafür zu dienen, die Einheit der einen Kirche Jesu Christi sichtbar zu machen und auf diese Einheit zuzugehen. Da es sich bei dieser Einheit um ein Wesensmerkmal der Kirche handelt, ist die Teilnahme an dieser Aufgabe auch ganz unabhängig von einer aktiven Zugehörigkeit zum Ö R K für die eigene Existenz jeder christlichen Gemeinde unentbehrlich. Neben der damit begründeten umfangreichen theologischen und missionarischen Arbeit vergegenwärtigt der Ö R K seinen Mitgliedskirchen die großen Weltprobleme und nimmt sie für eine Mitwirkung an aktiver Weltverantwortung in Anspruch. Und schließlich versucht der Ö R K , durch seine Organe neben der Römisch-katholischen Kirche die Stimme der Christenheit politisch zur Geltung zu bringen.

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Die spannungsvolle Weltlage hat sich in den letzten Jahren wie auf alle bedeutenden Weltorganisationen auch auf den ÖRK krisenhaft ausgewirkt. Das immer enger werdende Zusammenleben unterschiedlicher Rassen und Kulturen, die schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Gegenwartsprobleme und die Sicherung des Weiterlebens der Menschheit in der Zukunft — alles dies hat auch die Kirchen in einen tiefgehenden Erregungszustand versetzt. Zudem sind die Kirchen in der Dritten Welt, allen voran in Afrika, in den politischen Aufbruch ihrer Völker hineingerissen, und es ist nicht zufällig, daß die Rassenproblematik dabei ihre besondere Explosivkraft entfaltet, da sie tief in die menschliche Gefühlswelt hineingreift. Kennzeichnend für diese Lage ist es, daß die Grenzen zwischen politischer Leidenschaft und theologischer Besinnung fließend werden. Damit stellen sich dem ÖRK ähnliche Probleme, mit denen die EKD im Grundlagenstreit der politischen Ethik zu tun hat. Wollten sich die deutschen Mitgliedskirchen dem ÖRK in dieser Situation entziehen, so käme dies einer Flucht vor einer geschichtlichen Aufgabe gleich; es würde an der Lage der Weltchristenheit nichts ändern und die eigene Erfahrung einer Begegnung mit den Herausforderungen der Zeit ersticken. In den ökumenischen Zusammenhang gehört auch ein bedeutsamer Wandel im Verhält^ nis zwischen den evangelischen Kirchen und der —»Römisch-katholischen Kirche. Zum Grundsatz des Aggiornamento des II. —»Vatikanums gehört auch die Verpflichtung, die reformatorischen Kirchen als Teil der Christenheit theologisch und geistlich in neuer Weise ernstzunehmen, und diese wiederum können der Aufgabe nicht länger ausweichen, die Schlußfolgerungen aus der Wesenseinheit der Kirche Jesu Christi auf die katholische Kirche anzuwenden. In der deutschen Situation haben zudem zu neuer kirchlicher und theologischer Zusammenarbeit die gemeinsamen Erfahrungen im Dritten Reich beigetragen. Das gegenseitige Zugeständnis, die eigene fundamentale Identität zu bewahren, hat zu einer engen Arbeitsgemeinschaft der beiderseitigen Kirchenleitungen in aktuellen kirchlichen Fragen, zur Mitgliedschaft der Deutschen Bischofskonferenz in der „Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen" und zu gemeinsamen Erklärungen in Fragen öffentlicher Verantwortung geführt. In regelmäßigen theologischen Konferenzen und in intensiven Lehrgesprächen hat die Bearbeitung der trennenden Unterschiede ihre Empfindlichkeit verloren, da sie von der Überzeugung letzter geistlicher Zusammengehörigkeit ausgeht, wenn auch für sie die übereinstimmende theologische Begründung noch nicht gefunden ist. Von großer Bedeutung ist die weitgehende Entschärfung der Mischehenfrage (—»Ehe) durch das Motu Proprio Papst Pauls VI. Matrimonia Mixta vom 31. März 1970, die zugehörigen Ausführungsbestimmungen der Deutschen Bischofskonferenz und die Gemeinsamen kirchlichen Empfehlungen für die Ehevorbereitung konfessionsverschiedener Partner vom März 1974. 6. Stabilität der

—>Volkskirche

Zum Erscheinungsbild der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland gehört eine bemerkenswerte Festigkeit ihrer Stellung in Staat, Politik und Gesellschaft. Darin bleibt das Erbe der frühen Nachkriegszeit, in der sich in innerer und äußerer Hinsicht die geistigen Kräfte in Staat und Gesellschaft neu formiert haben, weiterhin wirksam. Das durch die immer bedrohlicher werdenden Weltkonflikte ausgelöste Krisenbewußtsein und das Dahinschwinden irdischer Zukunftshoffnungen haben eine wachsende Bereitschaft ausgelöst, die Grundfragen nach dem Sinn des menschlichen Lebens mit neuer Intensität zu stellen. Mit dieser Stimmungslage verbindet sich keineswegs eine vorbehaltlose Einschätzung der Institution Kirche; erst recht besteht keine Veranlassung für die Annahme, man erhoffe sich von den Repräsentanten der Kirche besonders wirksame Vorschläge zur Uberwindung der großen Verlegenheiten der Welt. Aber man kann von einer Erwartung sprechen, aus dem Wesen und Auftrag der Kirche ließen sich Erkenntnisse und Motivationen gewinnen, die sich für die Bewältigung wichtiger Aufgaben in Politik, Staat und Gesellschaft, aber auch im persönlichen Leben des einzelnen möglicherweise als unentbehrlich erweisen könnten. So betrachtet beruht die relative Stabilität der Kirchen mehr auf diesen an sie herangetragenen Verlegenheiten und Erwartungen als auf eigenen überzeugenden Initiativen. Umso wichtiger ist die

599

Deutschland IV/1

F r a g e , o b die K r a f t d e r K i r c h e a u s r e i c h t , die S u c h e d e r u n s i c h e r g e w o r d e n e n M e n s c h e n n a c h t r a g f ä h i g e n O r i e n t i e r u n g s h i l f e n a u f z u n e h m e n u n d ü b e r z e u g e n d e A n t w o r t e n d a r a u f z u finden. E s ist k e n n z e i c h n e n d für die g e g e n w ä r t i g e i n n e r e V e r f a s s u n g d e r K i r c h e n , d a ß m a n die F r a g e n a c h dieser i h r e r K r a f t n i c h t o h n e w e i t e r e s m i t e i n e m d e u t l i c h e n J a b e a n t w o r t e n k a n n . Die K i r c h e n des A b e n d l a n d s h a b e n z u l a n g e in e i n e r v o n i h n e n m i t g e p r ä g t e n c h r i s t l i c h e i n g e f ä r b t e n K u l t u r und G e s e l l s c h a f t gelebt, als d a ß die i m m e r m e h r sich a u s b r e i t e n d e G o t t l o s i g keit i h r e r U m w e l t o h n e A u s w i r k u n g e n a u f sie h ä t t e bleiben k ö n n e n . Sie h a b e n sich s o s e h r a u f die s e l b s t g e n ü g s a m e D i e s s e i t i g k e i t e i n e r w i s s e n s c h a f t l i c h - t e c h n i s c h e n W e l t e i n g e l a s s e n , d a ß sie n u n a u c h i h r e U n s i c h e r h e i t teilen. A b e r g e r a d e d a r i n liegt a u c h eine C h a n c e . D i e U n s i c h e r h e i t i m g e g e n w ä r t i g e n L e b e n s g e f ü h l des M e n s c h e n k a n n n u r s o v i e l ü b e r w u n d e n w e r d e n , w i e sie sich v o n einer G e w i ß h e i t a u f n e h m e n l ä ß t , die n i c h t in d e r W e l t diesseitiger R a t i o n a l i t ä t v e r a n k e r t ist. Literatur Die Autorität der Freiheit. Gegenwart des Konzils u. Zukunft der Kirche im ö k u m . Disput, hg. v. J . Chr. H a m p e , 3 Bde., München 1 9 6 7 . - Axel v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, München 1 9 7 3 . 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Nachkriegszeit ( 1 9 4 5 - 1 9 4 9 ) : Kirchen in der Nachkriegszeit, Göttingen 1 9 7 9 , 1 0 0 - 1 2 4 . - Wolfgang Huber, Kirche u. Öffentlichkeit, Stuttgart 1 9 7 3 . - Katholiken u. ihre Kirche in der B R D , M ü n c h e n 1 9 7 6 . - Kirche in der Gesellschaft. Der ev. Beitr. 7 8 / 7 9 , hg. v. H . - W . Heßler, M ü n chen 1 9 7 8 . - Wie stabil ist die Kirche? Bestand u. Erneuerung. Ergebnisse einer Meinungsumfrage, hg. v. H . Hild, Gelnhausen 1 9 7 4 . - K J . - Kundgebungen. W o r t e u. Erklärungen der E K D 1 9 4 5 - 1 9 5 9 , hg. v. F. Merzyn, Hanover o. J . - Karl Kupisch (Hg.), Quellen zur Gesch. des dt. Protestantismus v. 1 9 4 5 bis zur Gegenwart, 2 Bde., H a m b u r g 1 9 7 1 . - H a n s M a i e r , Die Kirchen in der B R D : Die zweite Republik. 2 5 J a h r e B R D . Eine Bilanz, hg. v. R . L ö w e n t h a l / H . - P . Schwarz, S t u t t g a r t 2 1 9 7 4 , 4 9 4 - 5 1 5 . - Protestanten u. ihre Kirche in der B R D , hg. v. H . - W . 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L o h f f / L . M o h a u p t , H a m b u r g 1 9 7 7 . - Erwin Wilkens, Die Einheit der E K D u. die politische Teilung Deutschlands. V o l k , N a t i o n , Vaterland in kirchenpolitischer Sicht: V o l k - N a t i o n - V a t e r l a n d . Der dt. Protestantismus u. der Nationalismus, hg. v. H . Zilleßen, Gütersloh 1 9 7 0 , 2 8 5 - 2 9 9 . - Ders., Politischer Dienst der Kirche, Gütersloh 1 9 7 8 . Erwin Wilkens IV. Statistik zur Konfessionszugehörigkeit und z u m kirchlichen Leben I V / 1 . E v a n g e l i s c h e K i r c h e in d e r B u n d e s r e p u b l i k u n d d e r D D R 1. Vorbemerkung.

F ü r d e n G e s a m t b e r e i c h d e r E K D u n d für i h r e G l i e d k i r c h e n w e r d e n in

erster Linie Statistiken über das kirchliche Leben, über Kirchengemeinden,

Pfarrstellen,

P f a r r e r und sonstige Mitarbeiter, über Finanzen, G e b ä u d e und Grundbesitz e r h o b e n , aufber e i t e t u n d a u s g e w e r t e t . D a n e b e n w e r d e n die E r g e b n i s s e d e r s t a a t l i c h e r s e i t s e r s t e l l t e n R e l i g i o n s s t a t i s t i k e n a u f die B e r e i c h e d e r G l i e d k i r c h e n d e r E K D u m g e r e c h n e t u n d a u s g e w e r t e t . 2 . Evangelische

und katholische

Christen

im Bundesgebiet

und in der DDR.

Im R a h m e n

d e r i m B u n d e s g e b i e t e t w a alle z e h n J a h r e d u r c h g e f ü h r t e n V o l k s z ä h l u n g e n w i r d a u c h die

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Deutschland I V / 1

rechtliche Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft erfragt. Ein zeitlicher Vergleich der Ergebnisse mehrerer Volkszählungen ermöglicht einen Überblick, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß sich die Zusammensetzung der Bevölkerung nach der Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit über einen längeren Zeitraum hinweg verändert hat. Eine methodisch zuverlässige Fortschreibung der Ergebnisse der letzten Volkszählung (27. Mai 1970) auf den 3 1 . Dezember 1 9 7 9 ist nur für die evangelischen und katholischen Christen möglich. Beschränkt man sich deshalb auf die beiden großen christlichen Konfessionen, so ergeben sich für den Zeitraum 1 9 5 0 bis 1 9 7 9 folgende Entwicklungen: Die evangelischen Konfessionszugehörigkeit Gliedkirchen der EKD Evangelische Freikirchen Katholische Kirche zusammen: Einwohner insgesamt

und katholischen 13.9.1950 2

Einwohner

im Bundesgebiet

1950 bis I 9 7 9 1

27.5.1970

6.6.1961

1000

31.12.1979

%

1000

%

47,0

26309

42,8

%

1000

%

25654

50,5

28376

50,5

518

1,0

350

0,6

22519 48691

44,3 95,9

24786 53512

44,1 95,3

27061 55 841

44,6 92,1

26733 53342

43,5 86,8

50799

100

56175

100

60651

100

61439

100

1000

28480 300 3

0,5

3 00 3

0,5

Bei Prozentangaben geringfügige Abweichungen durch Rundungen bedingt. - 2Einschl. Saarland (Stand: 14.11.1951). - 3 Nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (Frankfurt/M.).

1

Quellen: 1950, 1961 und 1970: Statistisches Bundesamt, Volkszählungen. 1979: Kirchenkanzlei der EKD und Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz - Referat Statistik.

2.1. Die Entwicklung von 1950 bis 1961. Im Bundesgebiet hat im Zeitraum von 1 9 5 0 bis 1961 die Zahl der evangelisch-landeskirchlichen Kirchenmitglieder um ca. 2,7 Mio. und die der Katholiken um ca. 2,3 Mio. Personen zugenommen. Diese Steigerungen ergeben sich a) aus dem durch die positive Geburtenentwicklung bedingten zahlenmäßigen Überschuß der Getauften gegenüber den Verstorbenen undftj aus den bis Mitte 1 9 6 1 anhaltenden starken Wanderungsgewinnen (Überschuß der Zuzüge über die Grenzen des Bundesgebietes gegenüber den entsprechenden Fortzügen), die ihrerseits vornehmlich im Zusammenhang damit gesehen werden müssen, daß zahlreiche Personen die D D R verlassen haben. 2.2. Die Entwicklung von 1961 bis 1979. Während sich die Anteile der Evangelischen und der Katholiken an der Gesamtzahl der Einwohner in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum 1 9 5 0 bis 1 9 6 1 nur unwesentlich verschoben haben, führte die Entwicklung in den Jahren von 1961 bis 1 9 7 9 zu erheblichen Veränderungen. — Im Gegensatz zu der zunehmenden Entwicklung in den 50er Jahren war die Zahl der evangelisch-landeskirchlichen Kirchenmitglieder Ende 1 9 7 9 im Vergleich zur Jahresmitte 1 9 6 1 um nicht ganz 2,1 Mio. niedriger. Diese Abnahme setzte 1 9 6 9 ein und ist auf die beiden folgenden Ursachen zurückzuführen: a) Die Entwicklung der natürlichen Bevölkerungsbewegung ist aufgrund des ab 1 9 6 7 zu beobachtenden Geburtenrückganges seit 1 9 7 0 zahlenmäßig durch einen zunächst geringen, dann aber schnell steigenden und seit 1 9 7 6 unterschiedlich ausgeprägten Überschuß der Sterbefälle gegenüber den Geburten und damit auch gegenüber den Taufen gekennzeichnet. b) Die Zahl der Kirchenaustritte übertraf die Zahl der Aufnahmen von 1 9 6 6 bis 1 9 7 4 in steigendem Ausmaß. Seit 1 9 7 5 ergibt sich für die Kirchenaustritte eine rückläufige und für die Aufnahmen eine zunehmende Tendenz; dennoch ist die Zahl der Kirchenaustritte auch jetzt noch weit höher als die der Aufnahmen, Übertritte und Wiederaufnahmen.

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Deutschland I V / 1

rechtliche Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft erfragt. Ein zeitlicher Vergleich der Ergebnisse mehrerer Volkszählungen ermöglicht einen Überblick, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß sich die Zusammensetzung der Bevölkerung nach der Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit über einen längeren Zeitraum hinweg verändert hat. Eine methodisch zuverlässige Fortschreibung der Ergebnisse der letzten Volkszählung (27. Mai 1970) auf den 3 1 . Dezember 1 9 7 9 ist nur für die evangelischen und katholischen Christen möglich. Beschränkt man sich deshalb auf die beiden großen christlichen Konfessionen, so ergeben sich für den Zeitraum 1 9 5 0 bis 1 9 7 9 folgende Entwicklungen: Die evangelischen Konfessionszugehörigkeit Gliedkirchen der EKD Evangelische Freikirchen Katholische Kirche zusammen: Einwohner insgesamt

und katholischen 13.9.1950 2

Einwohner

im Bundesgebiet

1950 bis I 9 7 9 1

27.5.1970

6.6.1961

1000

31.12.1979

%

1000

%

47,0

26309

42,8

%

1000

%

25654

50,5

28376

50,5

518

1,0

350

0,6

22519 48691

44,3 95,9

24786 53512

44,1 95,3

27061 55 841

44,6 92,1

26733 53342

43,5 86,8

50799

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56175

100

60651

100

61439

100

1000

28480 300 3

0,5

3 00 3

0,5

Bei Prozentangaben geringfügige Abweichungen durch Rundungen bedingt. - 2Einschl. Saarland (Stand: 14.11.1951). - 3 Nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (Frankfurt/M.).

1

Quellen: 1950, 1961 und 1970: Statistisches Bundesamt, Volkszählungen. 1979: Kirchenkanzlei der EKD und Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz - Referat Statistik.

2.1. Die Entwicklung von 1950 bis 1961. Im Bundesgebiet hat im Zeitraum von 1 9 5 0 bis 1961 die Zahl der evangelisch-landeskirchlichen Kirchenmitglieder um ca. 2,7 Mio. und die der Katholiken um ca. 2,3 Mio. Personen zugenommen. Diese Steigerungen ergeben sich a) aus dem durch die positive Geburtenentwicklung bedingten zahlenmäßigen Überschuß der Getauften gegenüber den Verstorbenen undftj aus den bis Mitte 1 9 6 1 anhaltenden starken Wanderungsgewinnen (Überschuß der Zuzüge über die Grenzen des Bundesgebietes gegenüber den entsprechenden Fortzügen), die ihrerseits vornehmlich im Zusammenhang damit gesehen werden müssen, daß zahlreiche Personen die D D R verlassen haben. 2.2. Die Entwicklung von 1961 bis 1979. Während sich die Anteile der Evangelischen und der Katholiken an der Gesamtzahl der Einwohner in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum 1 9 5 0 bis 1 9 6 1 nur unwesentlich verschoben haben, führte die Entwicklung in den Jahren von 1961 bis 1 9 7 9 zu erheblichen Veränderungen. — Im Gegensatz zu der zunehmenden Entwicklung in den 50er Jahren war die Zahl der evangelisch-landeskirchlichen Kirchenmitglieder Ende 1 9 7 9 im Vergleich zur Jahresmitte 1 9 6 1 um nicht ganz 2,1 Mio. niedriger. Diese Abnahme setzte 1 9 6 9 ein und ist auf die beiden folgenden Ursachen zurückzuführen: a) Die Entwicklung der natürlichen Bevölkerungsbewegung ist aufgrund des ab 1 9 6 7 zu beobachtenden Geburtenrückganges seit 1 9 7 0 zahlenmäßig durch einen zunächst geringen, dann aber schnell steigenden und seit 1 9 7 6 unterschiedlich ausgeprägten Überschuß der Sterbefälle gegenüber den Geburten und damit auch gegenüber den Taufen gekennzeichnet. b) Die Zahl der Kirchenaustritte übertraf die Zahl der Aufnahmen von 1 9 6 6 bis 1 9 7 4 in steigendem Ausmaß. Seit 1 9 7 5 ergibt sich für die Kirchenaustritte eine rückläufige und für die Aufnahmen eine zunehmende Tendenz; dennoch ist die Zahl der Kirchenaustritte auch jetzt noch weit höher als die der Aufnahmen, Übertritte und Wiederaufnahmen.

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2.3. Die Entwicklung in der DDR. Für die Deutsche Demokratische Republik liegen Zahlen über die Gliederung der Bevölkerung nach der Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit aufgrund der Volkszählung vom 31. 8. 1950 und letztmalig aufgrund der Volkszählung vom 31. 12. 1964 vor. Sie ergeben hinsichtlich der evangelischen und katholischen Christen folgendes: Die evangelischen

und katholischen

Konfessionszugehörigkeit

Evangelische Kirchen 3 Katholische Kirche zusammen: Einwohner insgesamt

Einwohner

in der DDR am 31. 8. 19S0 und 31. 12.

31.8.19502 1000

31.12.1964

%

13 9 8 0 1900 15880 17199

81,3 11,0 92,3 100

1000 10092 1375 11467 17004

% 59,4 8,1 67,4 100

'Bei Prozentangaben geringfügige Abweichungen durch Rundungen bedingt. (Ost). - 3 Einschl. evangelischer Freikirchen. Quelle:

1964'

2

Ohne Berlin

Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Volkszählungen.

Nach Schätzungen der acht Gliedkirchen des —>Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR belief sich die Zahl der evangelisch-landeskirchlichen Kirchenmitglieder Anfang 1980 auf rd. 6 8 8 2 0 0 0 , das sind ca. 4 1 % der Bevölkerung in der DDR. 3. Evangelische

Kirchengemeinden,

Pfarrer und nichttheologische

Mitarbeiter

3.1. Kirchengemeinden. Im Gesamtbereich der 17 Gliedkirchen der EKD entfielen Ende 1979 von den insgesamt 1 0 6 3 5 rechtlich selbständigen Kirchengemeinden 8681 auf solche mit mindestens einer Pfarrstelle und 1954 auf solche ohne eine Pfarrstelle. Langfristig zeigt sich, daß die Zahl der Kirchengemeinden mit mindestens einer Pfarrstelle bis Mitte der 60er Jahre infolge des seinerzeit anhaltenden Anstiegs der Zahl der Kirchenmitglieder und aufgrund der ständigen Erschließung neuer Wohngebiete erheblich, ab 1967 allerdings nur noch etwas zugenommen hat. Demgegenüber hat die Zahl der Kirchengemeinden ohne eine Pfarrstelle seit 1969 Jahr für Jahr langsam aber ständig abgenommen. 3.2. Pfarrstellen und ihre Besetzung. Ende 1979 bestanden im Gesamtbereich der EKD 1 6 2 0 5 Pfarrstellen, von denen 2 0 7 2 oder 1 2 , 8 % vakant waren. In der Unterteilung nach Arbeitsfeldern zeigt der Vergleich zwischen besetzten und vakanten Pfarrstellen folgendes Bild:

Arbeitsfeld

Zahl der Pfarrstellen

davon waren vakant besetzt

Gemeindliche Pfarrstelle Schuldienst/Religionsunterricht Krankenhausseelsorge Anstalt/Einrichtung der Diakonie Aus-, Fort- und Weiterbildung der Theologen und der übrigen kirchlichen Mitarbeiter Jugendarbeit Studentenarbeit sonstige Arbeitsfelder

13420 861 414 262

87,1% 85,6% 85,0% 95,0%

12,9% 14,4% 15,0% 5,0%

233 104 85 826

91,0% 76,9% 89,4% 90,0%

9,0% 23,1% 10,6% 10,0%

Insgesamt

16205

87,2%

12,8%

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D i e G e s a m t z a h l d e r P f a r r e r u n d P f a r r e r i n n e n , die a m 3 1 . D e z e m b e r 1 9 7 9 I n h a b e r e i n e r P f a r r s t e l l e o d e r e i n e r s o n s t i g e n P l a n s t e l l e f ü r T h e o l o g e n w a r e n b z w . eine P f a r r s t e l l e v e r s o r g t e n , belief sich a u f 1 4 1 3 3 . V o n i h n e n w a r e n t ä t i g in gemeindlichen Pfarrstellen im Schuldienst/Religionsunterricht in der Krankenhausseelsorge in einer Anstalt/Einrichtung der Diakonie in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Theologen und der übrigen kirchlichen Mitarbeiter in der Jugendarbeit in der Studentenarbeit in sonstigen Arbeitsfeldern

11 6 8 4 737 352 249

Insgesamt

1 4 1 3 3 oder 1 0 0 %

212 80 76 743

oder 8 2 , 7 % oder 5 , 2 % oder 2 , 5 % oder 1,8% oder oder oder oder

1,5% 0,6% 0,5% 5,2%

S t a t i s t i s c h g e s e h e n entfielen i m G e s a m t d u r c h s c h n i t t d e r E K D a u f einen G e m e i n d e p f a r r e r E n d e 1 9 6 4 c a . 2 4 5 0 G e m e i n d e g l i e d e r u n d E n d e 1 9 7 9 c a . 2 2 5 0 G e m e i n d e g l i e d e r . Diese Z u n a h m e d e r „ P f a r r e r d i c h t e " ist a u f den seit A n f a n g d e r 7 0 e r J a h r e a n h a l t e n d e n R ü c k g a n g der Z a h l der Kirchenmitglieder im Bereich der E K D 3.3.

Gesamtzahl

der Pfarrer.

zurückzuführen.

Die Gesamtzahl der Pfarrer und Pfarrerinnen im Bereich

d e r E K D belief sich a m 3 1 . D e z e m b e r 1 9 7 9 a u f 2 1 1 9 6 ; E n d e 1 9 6 4 w a r e n es 1 6 4 8 6 . I m einz e l n e n setzen sich diese G e s a m t z a h l e n w i e f o l g t z u s a m m e n : 31.12.1964 Inhaber einer Planstelle (einschl. der Pfarrer, die eine Pfarrstelle versorgen) Pfarrer, die weder Inhaber einer Planstelle sind, noch eine Planstelle versorgen 1 Für mindestens ein J a h r beurlaubte, abgeordnete oder freigestellte Pfarrer (zum Studium — Weiterbildung, Zweitstudium - , Dienst in der Militärseelsorge, Bundesgrenzschutz-Seelsorge, hauptamtlichen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, Dienst in diakonischen Einrichtungen, Dienst in Landes- und Kommunalanstalten, Dienst in deutschsprachigen evangelischen Gemeinden im Ausland, Dienst in der Weltmission, der ö k u m e n i s c h e n Diakonie) einschl. der Pfarrer im Wartestand

31.12.1979

1 4 1 3 3 oder 6 6 , 7 % 3 1 6 oder

1,5%

1 2 0 3 oder

5,7%

Pfarrer im aktiven Dienst Pfarrer im Ruhestand

13 7 8 0 oder 8 3 , 6 % 2 7 0 6 oder 1 6 , 4 %

15 6 5 2 oder 7 3 , 8 % 5 5 4 4 oder 2 6 , 2 %

Pfarrer insgesamt

1 6 4 8 6 oder 1 0 0 %

2 1 1 9 6 oder 1 0 0 %

1 Bei den Pfarrern, die weder Inhaber einer Planstelle sind, noch eine Planstelle versorgen, handelt es sich vor allem um Hilfspfarrer (Pastoren im Hilfsdienst) und Pfarrer im unständigen Dienst nach zweitem theologischen E x a m e n sowie um ordinierte Vikare mit erstem theologischen E x a m e n . Sie werden teilweise - entsprechend den von Gliedkirche zu Gliedkirche unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten - vorübergehend zusätzlich in Gemeinden eingewiesen, ohne daß eine Planstelle besteht.

Die Z a h l der Pfarrerinnen im aktiven Dienst betrug E n d e 1 9 7 9 insgesamt 9 6 6 , das w a r e n 6 , 2 % d e r Z a h l aller i m a k t i v e n D i e n s t s t e h e n d e n P f a r r e r u n d P f a r r e r i n n e n z u s a m m e n ; E n d e 1 9 6 4 belief sich d e r e n t s p r e c h e n d e A n t e i l a u f 2 8 2 o d e r 2 , 0 % .

Deutschland I V / 1

603

3.4. Mitarbeiter im kirchlichen und diakonischen Dienst. N a c h einer Erhebung zum Stichtag 1 5 . 2 . 1 9 7 3 waren im Bereich der E K D ca. 2 4 5 0 0 0 haupt- und nebenberufliche Mitarbeiter (einschl. Pfarrer und Pfarrerinnen) im kirchlichen und diakonischen Dienst tätig. V o n ihnen waren a m Erhebungsstichtag über drei Viertel in den seinerzeit 1 0 6 7 7 Kirchengemeinden, 6 7 1 3 Kindertagesstätten, 3 0 6 K r a n k e n h ä u s e r n , 1 3 Kurkliniken sowie in den 3 4 6 Heimen für Behinderte, 1 2 6 7 Heimen der Altenhilfe und in den 4 4 5 Heimen für J u gendliche, Kinder und Säuglinge tätig (Statistik der diakonischen Einrichtungen —»Diakonie rv.3.8.). 3.5. Kirchengemeinden und Pfarrer in der DDR. In den Gliedkirchen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der D D R beläuft sich z. Z t . die Z a h l der Kirchengemeinden auf 7 2 1 1 und die der Pfarrer und Pfarrerinnen auf 3 9 7 4 .

4. Kirchliches

Leben

in den Gliedkirchen

der

EKD

4.1. Taufen. In den Gliedkirchen der E K D wurden 1 9 7 9 insgesamt 2 1 3 6 7 3 ( 1 9 6 3 : 4 7 5 5 8 3 ) Kinder im Alter bis unter 1 4 J a h r e n getauft. Die A b n a h m e der Taufen ist, wie die folgende Ubersicht zeigt, zum weitaus größten Teil auf den Geburtenrückgang und daneben - allerdings in weit geringerem A u s m a ß — auf die Kirchenaustritte zurückzuführen. N a c h wie vor werden nahezu alle Kinder evangelischer Eltern im J a h r der Geburt oder später getauft. Evangelische Taufen in den Jahren 1963 und 1979 Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit der Eltern

Zahl der getauften Kinder im Alter unter 14 Jahren

Auf 1 0 0 Geburten entfielen . . . Taufen

Veränderung der Geburten und Taufen 1 9 7 9 gegenüber 1963

1963

1979

1963

1979

Geburten

Taufen

ev.-ev. ev.-kath. ev.-anders christl. ev.-nichtchristl. ev. Mütter nichtehelicher Kinder

373 872 71246 2582 9199

140509 49321 3029 11509

96 41 47 70

99 49 56 58

-65,1% -62,4% -42,6% ,-30,8% - 1,6% + 17,3% + 50,4% + 25,1%

17090

6959

60

38

-35,3%

-59,3%

Insgesamt 1 Insgesamt 1 (ohne „Spättaufen") 2

475583

213 673

78

76

-54,3%

-55,1%

440321

187071

72

67

-54,3%

-57,5%

' Einschl. der Taufen von Kindern sonstiger Eltern. — 2 D. h. ohne Taufen von Kindern nach vollendetem ersten bis zum 14. Lebensjahr.

4.2. Konfirmationen. Im J a h r e 1 9 7 9 wurden in den 1 0 6 3 5 Kirchengemeinden der 1 7 Gliedkirchen der E K D 4 5 7 2 8 8 J u n g e n und M ä d c h e n konfirmiert, das waren ca. 9 6 % der v o r 14 J a h r e n getauften Kinder. 4.3. Trauungen. Insgesamt 9 0 1 3 4 Paare wurden 1 9 7 9 in einer evangelischen Kirche getraut ( 1 9 6 3 : 2 0 3 8 9 1 ) . Aus der folgenden Übersicht ergibt sich, d a ß die Z a h l der Trauungen 1 9 7 9 gegenüber dem Ausgangsjahr 1 9 6 3 um über die H ä l f t e niedriger war. Diese A b n a h m e ist verursacht worden durch den R ü c k g a n g der Eheschließungen, die zunehmende zahlenmäßige Bedeutung der Wiederverheiratungen Geschiedener, die bis 1 9 7 6 nachlassende T r a u b e r e i t s c h a f t evangelischer Kirchenmitglieder und daneben durch die Kirchenaustritte.

604 Evangelische

Deutschland IV/1 Trauungen

Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit der Ehepartner

1

in den Jahren

1963 und

Zahl der ev. getrauten Ehepaare

1979

Von 100 Ehepaaren, die standesamtlich die Ehe geschlossen haben, wurden ev. getraut

Veränderung der Eheschließungen und ev. Trauungen 1979 gegenüber 1963 Trauungen Eheschließungen

1963

1979

1963

1979

ev.-ev. ev.-kath. ev.-anders christl. ev.-nichtchristl.

166062 35159 1824 709

61523 25421 1241 1890

86 32 24 5

69 31 24 9

-54,1% -26,2% -31,6% + 62,4%

- 63,0% - 27,7% - 32,0% + 166,6%

Insgesamt 1

2 0 3 891

90134

63

45

-39,2%

-

55,8%

Einschl. der Trauungen sonstiger Paare.

4.4. Bestattungen. Die Zahl der durch einen evangelischen Pfarrer bestatteten Verstorbenen belief sich 1979 auf 345 792. Hiervon entfielen 337617 auf verstorbene evangelische Gemeindeglieder. Aufgrund eines Vergleiches mit den entsprechenden Ergebnissen der Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung kann davon ausgegangen werden, daß 1979 — seit langer Zeit unverändert — ca. 94% der verstorbenen evangelischen Männer und Frauen im Rahmen einer evangelischen Trauerfeier bestattet wurden. 4.5. Gottesdienstbesuch. Ca. 1,5 Mio. Personen haben 1979 durchschnittlich jeden Sonntag die Haupt- und Kindergottesdienste besucht, das sind nicht ganz 6% der 26,3 Mio. evangelischen Kirchenmitglieder. Der Personenkreis, aus dem sich diese sonntägliche Durchschnittszahl zusammensetzt, ist nicht immer der gleiche. Die Jahres-Gesamtzahl der Personen, die 1979 Gottesdienste besucht haben, ist deshalb wesentlich höher. Der langfristige Zeitvergleich zeigt, daß der Besuch der Hauptgottesdienste bis 1968 zahlenmäßig nahezu unverändert geblieben ist, im Zeitraum 1969 bis 1973 erheblich nachgelassen hat und seit 1974 nur noch geringe Schwankungen aufweist. Die Zahl der Kindergottesdienstbesucher ist bis 1973 stark zurückgegangen. Die seit 1974 zu beobachtende und sich ständig fortsetzende leichte Abnahme des Besuches der Kindergottesdienste muß jedoch im Zusammenhang mit dem Geburtenrückgang gesehen werden. An den Konfirmationssonntagen sowie an kirchlichen Feiertagen ist der Gottesdienstbesuch teilweise wesentlich höher als im sonntäglichen Durchschnitt. Ca. 6,6 Mio. Personen (mehr als ein Viertel der evangelischen Wohnbevölkerung) haben die Christvespern und Metten am Heiligen Abend 1979 besucht. Hier ergibt sich seit einigen Jahren ein ständiger Anstieg der Teilnehmerzahlen (1975: 5,6 Mio. Personen oder ca. 21% der Kirchenmitglieder). An den Karfreitagsgottesdiensten haben — gegenüber den Vorjahren nahezu unverändert — ca. 1,7 Mio. Personen teilgenommen (6% der ev. Bevölkerung). 4.6. Teilnahme am Heiligen Abendmahl. Im Jahre 1979 wurden in den Kirchengemeinden fast 8,7 Mio. Beteiligungen evangelischer Gemeindeglieder an den Abendmahlsfeiern gezählt. Dieses Ergebnis wurde aufgrund einer Totalerhebung aller Abendmahlsgäste ermittelt und ist deshalb in seiner absoluten Höhe mit den Ergebnissen der auf den sonntäglichen Durchschnitt bezogenen Statistik des Gottesdienstbesuches nicht vergleichbar. In der langfristigen Betrachtung zeigt sich, daß die Abendmahlsbeteiligung nach einem deutlich erkennbaren Rückgang in den Jahren 1968 bis 1971 in den folgenden Jahren zunächst langsam und ab 1975 erheblich zugenommen hat; sie ist 1979 auf einen bisher nicht erreichten Höchststand angestiegen. 4.7. Ständige Kreise der Kirchengemeinden. Aufgrund der vorliegenden statistischen Ergebnisse kann davon ausgegangen werden, daß an den Zusammenkünften der ca. 118 000 ständigen Kreise der Kirchengemeinden im Gesamtdurchschnitt ca. 2,2 Mio. Personen teil-

Devotio moderna I

605

genommen haben. Hierbei m u ß jedoch berücksichtigt werden, d a ß der Personenkreis, aus dem sich diese durchschnittliche Teilnehmerzahl zusammensetzt, nicht bei jeder Z u s a m menkunft der gleiche ist. Es kann deshalb unterstellt werden, d a ß die Gesamtzahl der Teilnehmer an allen Z u s a m m e n k ü n f t e n sämtlicher Kreise höher ist. 4.8. Aufnahmen und Kirchenaustritte. Insgesamt 2 8 0 2 3 Personen wurden 1 9 7 9 in die evangelischen Landeskirchen auf- bzw. wiederaufgenommen. Im Vergleich zum J a h r e 1 9 7 3 , in dem die seit 1 9 6 5 durch einen ständigen R ü c k g a n g gekennzeichnete Entwicklung ihren Tiefststand erreicht hatte, w a r die Z a h l der A u f n a h m e n , Übertritte und Wiederaufnahmen um 1 1 8 7 2 oder 7 3 , 5 % höher. Gestiegen sind vor allem die Zahlen der Aufnahmen und Wiederaufnahmen von Gemeinschaftslosen. Die Z a h l der Kirchenaustritte belief sich 1 9 7 9 auf 9 9 6 5 3 ( 0 , 4 % der evangelischen Wohnbevölkerung). Gegenüber dem J a h r 1 9 7 4 , in dem die Z a h l der Kirchenaustritte ihren Höchststand erreicht hatte, errechnet sich eine A b n a h m e um 1 1 6 5 6 4 oder 5 3 , 9 % , d. h. um mehr als die Hälfte. D a b e i darf allerdings nicht übersehen werden, daß die Z a h l der aus den evangelischen Landeskirchen ausgetretenen Personen auch 1 9 7 9 noch immer weit über der im Ausgangsjahr 1 9 6 3 (Gesamtbereich der E K D : 3 7 8 4 3 Kirchenaustritte) lag. Lit.: Amtsbl. der EKD, Statistische Beilage 61 (1980); 63 (1981). - KJ 103. 1 9 7 6 / 7 7 (1981). Dieter R o h d e Leider haben wir die zugesagte Statistik der Römisch-katholischen Kirche nicht erhalten, so daß an dieser Stelle nur auf den Art. —> Römisch-Katholische Kirche verwiesen werden kann. (Redaktion)

Devotio moderna I. Die Bewegung der D e v o t i o moderna II. Verhältnis zu H u m a n i s m u s und R e f o r m a t i o n

609

I. D i e Bewegung der D e v o t i o moderna 1. Wesen und Ursprünge kung (Literatur S. 608) 1. Wesen

und

2. Hauptgestaltungskräfte

3. Institutionen

4. Entfaltung und Wir-

Ursprünge

Der durch Henri Pomerius ( 1 4 2 0 ) eingebürgerte B e g r i f f , D e v o t i o m o d e r n a ' bezeichnet eine eigenständige Frömmigkeitsbewegung des Spätmittelalters, die sich am E n d e des 14. und zu Beginn des 1 5 . J h . vornehmlich in den Niederlanden — Utrecht, Geldern und Overijssel - entfaltet, aber auch eine weite Ausstrahlung vor allem in das Rheinland und ins Elsaß gewinnt. Sie strebt der geistlichen V o l l k o m m e n h e i t innerer Erhebung zu G o t t in der Weise eines methodischen Bemühens um —»Heiligung nach, das über die Bezähmung der Leidenschaft zur —»Tugend führen soll. Dazu bedient sie sich der regelmäßigen M e d i t a t i o n und Einübung persönlicher geistlicher Besinnung und beansprucht, einer breiten M e h r h e i t zugänglich zu sein und sich nicht auf die Elite derer zu beschränken, die sich im Schutze der Klöster reiner Beschaulichkeit widmen oder ihren Geist a u f den Universitäten üben. In der Absicht dieser M e t h o d e beständiger innerer Verarbeitung liegt weniger begriffliches Denken als vielmehr religiöses Empfinden; geistliche Erfahrung hat für die Devotio m o d e r n a einen höheren Stellenwert als spekulatives D e n k e n . M i t niederländischem Gespür für das Beständige bleibt sie auf festem B o d e n , wenn sie erklärt, der M e n s c h diene G o t t , sofern er sein Leben und seine —»Arbeit als göttliche Berufung versteht und entsprechend gestaltet. J e d e ehrbare Tätigkeit hat vor G o t t gleichen W e r t , und für das Gemeinschaftsleben gibt es weder gestufte G r a d e noch grundsätzliche Unterschiede. Als wesenhaft persönlich geprägte F r ö m m i g k e i t steht die Devotio jedem offen. Ihr W e r t ist in ihrem Bemühen selbst beschlossen; daher kann sich jeder im R a h m e n seiner Fähigkeiten in sie einbringen und findet dabei Hilfen zur inneren Einübung in Gestalt der Gewissensprüfung, der Sammlung von Lese-

606

Devotio moderna I

früchten bei der Lektüre erbaulichen Schrifttums, des Einsatzes gestischer Mittel und des mnemotechnischen Rückgriffs auf Zahlen. Will man die Bewegung verstehen, darf man ihre geschichtliche Verwurzelung nicht außer acht lassen und muß dabei vor allem Meister—»Eckehart und die deutsche —»Mystik in Betracht ziehen. In der Abgeschiedenheit von sich selbst und der Welt findet für ihn die Seele zur Freiheit ihres eigentlichen Wesens. Gott wird in ihr geboren. Dem Menschen bleibt nun nichts mehr zu ersehnen; in der Erfahrung höchster Glückseligkeit wird er kraft der Liebe eins mit dem göttlichen Wesen. Eckehart hat Schüler und Nachfolger gefunden, vornehmlich in H. —»Seuse und vor allem J. —»Tauler. Letzterer gehört mit Seuse, Heinrich von Nördlingen (gest. nach 1379) und anderen wie Egenolf von Ehenheim, Dietrich von Colmar, Christina und Margarete —»Ebner zu dem von R. —»Merswin ins Leben gerufenen Kreis der—»Gottesfreunde und wird zu dessen eigentlichem Leiter. Bereits 60jährig, begegnete er im brabantischen Groenendaal südlich Brüssel einer der herausragendsten Gestalten im geistlichen Leben der Zeit, dem um sieben Jahre älteren—»Jan van Ruysbroeck, der dort seit 1343 in der Abgeschiedenheit des Waldes mit Gleichgesinnten in einer kleinen Augustinergemeinschaft lebte und den die Nachwelt als doctor ecstaticus bezeichnet hat. Die Hochschätzung, die Tauler ihm entgegenbrachte, war nicht blind dafür, daß dieser in der Entfaltung der drei Momente mystischen Daseins, des tätigen, inneren und beschaulichen Lebens, sein eigenes, dem eckehartschen widerstreitendes Gedankengebäude errichtet hatte.

2.

Hauptgestaltungskräfte

Es ist eine Fehleinschätzung, in der zweiten Hälfte des 14. Jh. eine Zeit religiösen Erschlaffens zu sehen. An Gerhard —»Groote, dem Begründer der Devotio moderna, wird das deutlich genug. Wie Johannes Buridan in Frankreich (gest. nach 1358) verstand er sich als Laie von Berufung, und nur aus evangelisatorischen Gründen, um der leichteren Predigtmöglichkeit willen, ist er als Diakon in den geistlichen Stand getreten. Das gesprochene Wort ist das wesentliche Medium seines Wirkens, die unmittelbare Einwirkung auf die Menschen sein vornehmliches Ziel. Aus wohlhabendem Bürgerhause stammend, führte er ein recht weltliches Leben, bis er Jan van Ruysbroeck begegnete und Freundschaft mit dem Prior der Kartause Monnikhuizen bei Arnheim, Heinrich Eger von Kalkar ( 1 3 2 8 - 1 4 0 8 ) , schloß, dessen Speculum peccatorum grundlegende Bedeutung für die Devotio moderna haben sollte. Er stellte nun sein Elternhaus als Stiftung für fromme Frauen, die Keimzelle der Schwestern vom gemeinsamen Leben, zur Verfügung und zog sich 1374 für fünf Jahre als Gast in die Kartause Monnikhuizen zurück. In seinen Conclusa et proposita non vota verficht er das Leitbild eines gottgeweihten Lebens ohne —»Gelübde außerhalb aller monastischen Institutionen. Als Missionar im eigenen Land und Wanderprediger entfaltet er eine Wirksamkeit, die schon gemeinhin vom Episkopat mit Mißtrauen betrachtet wird, und 1383 erhält er wegen theologischer Abweichungen Predigtverbot durch den Utrechter Bischof Florens von Wewelinghoven (gest. 1393). Eigentlicher Organisator der ausgebildeten Praxis der Devotio ist Florens Radewijn, magister artium der Prager Universität, der einzige in diesem Kreis, der einen akademischen Grad besaß. Er ist 1350 in Leerdam (Overijssel) geboren. Auf Anraten Grootes trat er in den geistlichen Stand und erhielt die Priesterweihe, wurde Kanonikus des Utrechter Domstiftes und ließ sich in Deventer nieder, wo alsbald beide gemeinsam das erste Haus der —»Brüder vom gemeinsamen Leben begründeten (1380). Nach Grootes Tod sichert Radewijns ihren Bestand durch eine gemäße kanonische Ordnung und die Begründung einer neuen monastischen Gemeinschaft, des Regularkanonikerstiftes in Windesheim bei Zwolle (s. u. Abschn. 3), dessen Mitglied er dann auch für den Rest seines Lebens wird. Sein Tractatus devotus gehört zu den Grundlagen der Devotio moderna. Gestorben ist er am 24. März 1400. Im Verlauf von 16 Jahren hat er eine regelrechte Revolution im Bereich der Spiritualität herbeigeführt und dem Ideal geistlichen Lebens neue Wege eröffnet. Ein weiterer Angehöriger des ersten Brüderhauses ist Gerhard —»Zerbolt aus Zutphen in Geldern. Stark beeinflußt vom Tractatus devotus, weist er sich durch sein De reformatione virium animae als mystischer Schriftsteller aus. Er tritt für die Lektüre der Bibel in der Volkssprache ein, ist ein unermüdlicher Kopist und wohl das beste Beispiel dessen, was Groote sich als Seelenführer seiner Brüder wünschte.

Devotio moderna I

607

Namhaftester Anhänger der Devotio moderna ist der nach seiner Heimatstadt Kempen (Niederrhein) -h> Thomas von Kempen (Thomas a Kempis) benannte Thomas Hemerken. Er steht unter dem Einfluß des Windesheimer Chorherrn Gerlach Petersz (1378-1411), in dessen Breviloquium und Soliloquium eine ausgeprägt mystische Christologie Ausdruck findet. Man hat in diesen beiden Schriften das Vorbild der Imitatio Christi sehen wollen. Jan Mombaer (Johannes Mauburnus) wurde nach 1460 in Brüssel geboren und starb am 29. Dezember 1501 in Paris. Er war Schüler der Utrechter Domschule und trat gegen 1480 dem Konvent Agnetenberg (bei Zwolle) der Windesheimer Kongregation bei. Seit 1496 bemühte er sich um eine Reform der französischen Konvente, vor allem schließlich desjenigen von Livry, dessen Abt er 1501 wurde. Sein nachhaltiges Bemühen um innere Reform ist begleitet von zum großen Teil noch unedierten geistlichen Schriften, darunter hymnische Dichtungen und der 1494 erstmals erschienene, 1504 in Basel und 1510 in Paris nachgedruckte Traktat Rosetum exercitiorum spiritualium, eine eigentümliche, mit gestischen Anweisungen einhergehende Handreichung zum beschaulichen Leben. Der letzte der hier zu nennenden Reformer ist der Benediktiner Garcia —»Ximenes de Cisneros aus Palencia. Von ihm stammen ein Directorio de las horas canonicas (Montserrat 1500) und eine Exercitaterio de la vida Spiritual (ebd. 1500). Durchdrungen vom Geist der Devotio, wirkte er auf das geistliche Leben seiner Zeit vornehmlich in Spanien und insbesondere auf Ignatius von —>Loyola. 3.

Institutionen

1379 gründet Groote die Niederlassung der Schwestern vom gemeinsamen Leben. Seit 1380 sammeln sich um ihn begeisterte Studenten, Geistliche wie Laien, ohne strikte Gemeinschaftsregeln und ohne die unentbehrliche bischöfliche Billigung, mit der Absicht volksmissionarischer Wirksamkeit. Sie teilen seine Leitvorstellung geistlichen Lebens, die sich von den ihrer Ansicht nach überständigen Consuetudines (—»Mönchtum) abgewandt hatte, und meditieren über der Bibel. Obwohl sie nur wenig von der Wissenschaft hielten, die nicht zu Gott führte, machten sie das gewissenhafte Abschreiben von biblischen und patristischen Schriften zu ihrer täglichen Arbeit, weil diese Art der Tätigkeit zu Gott hinführen konnte, wenn man über das, was man tat, meditierte. Ursprünglich führte diese Gemeinschaft — und auch darin spiegelt sich ihre mangelnde kanonische Absicherung - unterschiedliche Bezeichnungen; in die Geschichte ist sie als —»Brüder vom gemeinsamen Leben eingegangen. Als in den Augen des Bischofs von Utrecht irreguläre Gründung, die den Begarden und —»Beginen nicht unähnlich war, zog sich die Bewegung Angriffe des traditionalistischen Dominikaners Matthäus Grabow zu. 1398 kam es zu einer ersten Bestätigung. 1418 tauchte die Frage erneut auf der Tagesordnung des Konzils von —»Konstanz auf, doch wurden die Anklagen Grabows abgewiesen, was de facto auf eine Anerkennung der Bruderschaft hinauslief. Dennoch ließen die Nachstellungen zumal seitens der Bettelorden und der Stiftskapitel nicht nach (das Brüsseler Kapitel hat dafür ein besonders eindringliches Beispiel gegeben). Eine der großen Stätten der Devotio moderna ist Windesheim bei Zwolle. Sehr bezeichnend ist der Ubergang von Mitgliedern der Bruderschaft in dieses nach der —»Augustinusregel lebende Regularkanonikerstift (—»Augustinerchorherren), Grootes dritte, erst 1387, nach seinem Tod verwirklichte Gründung. Ein solches Uberwechseln geschah ständig, es war der Weg einer ihrer Berufung in besonderer Weise gewissen Elite. Denn beide Niederlassungen waren bei aller Parallelität doch auch deutlich unterschieden. Windesheim verkörpert den Anschluß der Brüder an die Reform der Regularkanoniker. Es steht unter der Ausstrahlungskraft der Devotio und bedeutet zugleich deren Integration in die monastische Praxis. Seit 1395 entstand aus dem Zusammenschluß mit den Stiften Arnheim, Nieuwlicht (bei Hoorn) und Eemstein (bei Dordrecht) die Windesheimer Kongregation, die eine erstaunlich rasche Ausbreitung in den Niederlanden, Deutschland, Belgien, Frankreich und der Schweiz fand (1412 fünf Klöster, 1413 dreizehn; die Zahl stieg bis a u f 8 7 im Jahre 1500, davon 38 im Gebiet des heutigen Deutschland).

608 4. Entfaltung

5

io

15

20

25

30

Devotio moderna I und

Wirkung

Zur Zeit Grootes und auch noch lange nach ihm fühlte sich die „Intelligenzija" dank seiner unmittelbaren Schüler von Studien in Bann gezogen, die sich entschieden von denen der überalterten Universitäten abkehrten. Noch vor den Humanisten wandten sie sich dem Quellenstudium zu und haben so möglicherweise in den Niederlanden Voraussetzungen für die Aufnahme humanistischer Denkweise geschaffen, noch bevor es zum Austausch mit den geistigen Strömungen Italiens k a m . Eine genauere Bestimmung ihres Verhältnisses zum Humanismus ist indessen Gegenstand einer Diskussion, die im Verlauf eines Menschenalters sehr unterschiedliche Positionen zur Sprache gebracht hat (s. u. Abschn. II). Es wäre übereilt, in den zahlreichen Reformen des 15. J h . (—»Kirchenreform) ohne weiteres die Spuren eines Einflusses der Devotio moderna sehen zu wollen. Sichere Behauptungen bedürften hier, sofern sie quellenmäßig überhaupt möglich sind, sorgfältiger Einzeluntersuchungen. Bei den —»Dominikanern schlug der Schüler der —»Katharina von Siena Johannes Dominici (gest. 1 4 1 9 ) als eine der Devotio verpflichtete Übung die tägliche Meditation über geistliche Themen vor. Bei den spanischen Rekollekten der —»Franziskaner führte Petrus de Villa Creces (gest. 1 4 2 2 ) die Gebetsmeditation in das —»Stundengebet ein, doch seine Aufnahme der Devotio bleibt begrenzt: Nur bestimmte Religiöse sollten die Bibel und einige theologische Handbücher lesen dürfen. Für die —»Benediktiner wurde bereits auf de Cisneros und für den französischen Bereich auf Jan M o m b a e r hingewiesen. In Subiaco machte sich ein Anflug devoten Einflusses insbesondere in der Kritik an den ausgedehnten Offizien geltend, die die Zeit zur Meditation verkürzten. In San Giorgio in Alga in Venedig dagegen findet sich kein Buch aus dem Kreis der niederländischen Devotio, und das ist für Italien, wo die Gebetsmeditation im Stundengebet von Ludovico Barbo (gest. 1 4 4 3 ) eingeführt wurde, außergewöhnlich. Die Kongregation von Valladolid nahm ebenfalls die geistliche Lesung und die Gebetsmeditation auf. In Deutschland führte der Abt von St. Matthias in Trier, Johannes Rode (gest. 1 4 3 9 ) , mit Hilfe von Mönchen aus St. Jakobus in Lüttich gegen gelegentlichen Widerstand eines Teils des Konvents die Devotio ein. Für die —»Zisterzienser ist die Reform des Johannes Eustachius (seit 1 4 0 6 ) kaum unter dieser Fragestellung untersucht worden; andererseits aber ist bekannt, daß die Abtei Ter Duinen in Westflandern eine der kostbarsten Imitatio-Handschriften besessen hat. Im 16. J h . verlor das Schrifttum der Devotio moderna, soweit es nicht in Vergessenheit geriet, seine Ausstrahlung, und die Imitatio wurde zum bloßen Klassiker der—»Erbauungsliteratur. Eine späte, aber umso deutlichere Wirkung konnte sie indessen bei den —»Jesuiten und in den —»Exerzitien des Ignatius von —»Loyola entfalten. Literatur

35

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1. Devotio moderna und nordeuropäischer

2. Devotio moderna und Reformation

Humanismus

1.1. Forschungsproblematik und Forschungsstand. Zwischen der Devotio moderna und den Anfängen des nordeuropäischen—»Humanismus um 1480 lassen sich personelle und strukturelle Berührungspunkte feststellen, die in der Forschung zu gegensätzlichsten Interpretationen Anlaß gegeben haben. P. Mestwerdt stellte die These von einer direkten Abhängigkeit der Humanisten von der Devotio moderna auf: Die Brüder und die Windesheimer hätten (wie später die Humanisten) die Klassik von Plato bis Cicero verehrt, eine voluntaristisch-stoische Ethik vertreten, die weltliche Geisteskultur gefördert, ein Volksbildungsprogramm aufgestellt, das Mönchtum kritisiert, ein neues Sakraments-, Priester- und Kirchenverständnis propagiert und dieses ganze Reformgut durch eine ausgedehnte Lehrtätigkeit an neu gegründeten Schulen verbreitet. Aus diesen Schulen seien dann die ersten Humanisten und mit ihnen der ganze nordeuropäische Humanismus hervorgegangen. Erasmus' Philosophia Christi exemplifiziere am eindrücklichsten diesen Einfluß der Devotio moderna. - A. Hyma bestätigte 1924 und 1950 Mestwerdts Ergebnisse und erweiterte sie: Die Devotio moderna als „christliche Renaissance" hätte dem nordeuropäischen Humanismus das Spezifikum einer biblisch-christlichen Ausrichtung

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Devotio moderna II

verliehen. Gelehrte Frömmigkeit, Meditation und Bibelexegese hätten die ersten Humanisten in den Schulen der Brüder schätzen gelernt. Der nordeuropäische Humanismus sei ein legitimes Kind der Devotio moderna gewesen. - Gemäßigter, aber noch im Fahrwasser Mestwerdts argumentieren L . W . Spitz und W . Lourdaux (Moderne devotie): Der Humanismus verdanke sich nicht in toto der Devotio moderna, sondern nur in einzelnen Teilen. So seien einzelne Humanisten von der praxisorientierten Frömmigkeit der Devoten und deren Betonung der Unmittelbarkeit jedes Christen gegenüber Gott fasziniert gewesen. Andere hätten deren Verehrung der Stoa und Senecas geteilt. Aber das humanistische Bildungsideal, Menschenbild und Lebensverständnis hätten sie alle aus dem italienischen Humanismus oder anderen Quellen entlehnt. - Eine Wende in der Forschung trat mit R. R. Post ein, der überzeugend nachwies, daß die Brüder gar keine Trivialschulen unterhalten, niemanden auf die Universität geschickt und keinem Gelehrtenideal angehangen hatten, daß die Bildung auch in Städten aufgeblüht war, in denen sich keine Fraterhäuser befanden, und daß die Brüder des 16. nicht mit denen des 15. Jh. verglichen werden könnten. Daraus zog Post den radikalen Schluß, daß Devotio moderna und Humanismus überhaupt nichts miteinander zu tun hätten. — Zu einem abgewogeneren Urteil zwischen den Fronten fand erst H . A. Oberman (61 f) mit seiner These von der Koalitionsfähigkeit der Devotio moderna: Die Brüder und Windesheimer hätten durchaus ein pädagogisches Interesse gehabt, was sich mit den Stichworten „Klosterreform", „Schülerpastorat", „Lateinschulhumanismus" und „Sodalitates" umschreiben lasse. Aber dieses Interesse hätte einer „anti-intellektualistischen" Förderung der Frömmigkeit und keinem akademischen Eloquenz-Ideal gegolten. Mit der Idee eines „Klosterhumanismus" hätten sie sich als „koalitionsfähig . . . mit den neuen Bildungskräften", nicht aber als deren Promotor erwiesen. - Um zu einem Standpunkt zwischen den Fronten zu gelangen, müssen die Berührungspunkte zwischen der Devotio moderna- und der Humanismusbewegung aufgezeigt und nach dem Verhältnis der Devotio moderna zur humanistischen Bildung gefragt werden.

1.2. Personelle und strukturelle Berührungspunkte. Personelle Berührung mit der Devotio moderna hatten vor allem die niederländischen Humanisten. —>Erasmus besuchte von 1478 bis etwa 1484 in Deventer, dem Zentrum der —»Brüder vom gemeinsamen Leben, die Schule und verbrachte danach vier Jahre im Fraterhaus von s'Hertogenbusch. Seine Lehrer waren die bekannten Humanisten Rudolf Agrícola (gest. 1485) und Alexander Hegius (gest. 1498), die ihrerseits an den mit den Brüdern vom gemeinsamen Leben verbundenen Schulen in Groningen und Zwolle aufgewachsen waren und später selbst die Leitung der Groninger, Weseler, Emmericher und Deventer Schule übernommen hatten. Auch der als Autor von Schulbüchern und Grammatikkommentaren bekannte Humanist Johannes Xinthen (gest. vor 1493), der Erasmus an der domus pauperum unterrichtet hatte, war Rektor des Deventer Fraterhauses. Zu Erasmus' Mitschülern zählten Conrad P. Celtis (gest. 1508), der später von Friedrich III. und Maximilian I. als humanistischer Dichter ausgezeichnet wurde, Konrad Mutian (gest. 1526), der zum Haupt des Erfurter Humanistenkreises avancierte, Hermán van der Busche (gest. 1534), der später als Rektor in Wesel der dortigen Schule einen humanistischen Geist verlieh, und Johannes Murmellius (gest. 1517), der zum berühmtesten humanistischen Pädagogen seiner Zeit aufstieg. Im Steyner Kloster studierte Erasmus zusammen mit den Windesheimern William Hermans und Cornelius Aurelius (gest. 1523), die sich später ebenfalls humanistischen Kreisen anschlössen. — Besonders augenfällig waren die Berührungen zwischen Devoten und Humanisten im Kloster Aduard, in dem sich von 1480 bis 1485 Wessel —»Gansfort und andere Vertreter der Devotio moderna mit Rudolf Agrícolas und Goswin von Halens (gest. 1530) Humanistenkreisen regelmäßig trafen. — Aber nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Deutschland, besonders in Westfalen, lassen sich Verbindungen zwischen Devotio moderna und Humanismus in Personalunion feststellen: Im Münsterer Fraterhaus wirkten die Häupter des Westfälischen Humanismus Johannes Veghe (gest. 1504), bekannt durch seine Predigt-Eloquentia, Friedrich Moormann (gest. 1482), Gründer des Marburger Fraterhauses, Johannes Rotgers, humanistisch geprägter Rektor in Münster, und Johannes Montanus (gest. nach 1534), Verfasser von Latein- und Grammatikbüchern und Rektor am Herforder Fraterhaus. Noch bis in die Mitte des 16. Jh. bestanden solche personalen Verbindungen: Der Bruder Albert Rizaeus -»Hardenberg wurde nach seinem Studium bei Melanchthon zu einem der führenden Reformhumanisten seiner Zeit; Frater Reinerus Praedinius (gest. 1559), Rektor in Groningen, genoß in Humanistenkreisen großes Ansehen; und Petrus —>Canisius, Frater aus Nijmegen, galt als gelehr-

D e v o n o m o d e r n a II

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ter Humanist. Auch bei J a k o b Sturm (gest. 1553),—»Faber Stapulensis und Papst—»Hadrian VI. lassen sich sowohl devote als auch humanistische Elemente nachweisen. Auch strukturelle Berührungspunkte sind zwischen Devotio moderna und Humanismus feststellbar: Die Förderung des Laienstandes, das Eintreten für Reformen, Erziehung der Jugend und die Betonung einer verinnerlichten Frömmigkeit sind Merkmale, die, wenn auch nur formal, die Ziele der Brüder und der Windesheimer auf der einen und der nordeuropäischen Humanisten auf der anderen Seite gleichermaßen charakterisierten. — Wie lassen sich diese Berührungen erklären? Ist der Humanismus von der Devotio moderna beeinflußt oder gar ins Leben gerufen worden? Diese Frage entscheidet sich am Verhältnis der Brüder und Windesheimer zur humanistischen Bildungs- und Schulreform des ausgehenden 15. und frühen 16. Jh. 1.3. Das Verhältnis der spätmittelalterlichen Devotio moderna zur humanistischen —*Bildung. Haben die Brüder Trivialschulen unterhalten oder gefördert, an denen sie Rhetorik, Dialektik, Eloquentia, griechische Klassik o . ä . lehrten oder lehren ließen? Oder haben die Windesheimer in ihren Klöstern das Latein-, Griechisch-, Geschichts-, Philosophie- oder Theologiestudium gepflegt? Z u r Zeit Grootes, Radewijns und —»Thomas' von Kempen kopierten und verbreiteten die Devoten die Heilige Schrift und die Kirchenväter nicht, um Gelehrsamkeit, Wissenschaft und Studium zu fördern, sondern um zur Meditation und Frömmigkeit anzuleiten. Hatten ihre Nachfahren im Spätmittelalter auch noch dieses Ziel vor Augen? Das Verhältnis der Brüder zu den städtischen Trivialschulen läßt sich in drei Grundtypen aufgliedern: Im Besitzverhältnis zu den jeweiligen Stadtschulen standen — von den ca. 45 Fraterhäusern - nur die Brüder in Lüttich, Utrecht, Groningen und Wolf/Trier, deren Häuser zwischen 1515 und 1530 zu Stadtschulen humanistischen Gepräges umgewandelt wurden. Aber nur die Brüder in Lüttich und Wolf/Trier übernahmen selbst den Unterricht und das Rektorat (diejenigen in Trier hatten darüber hinaus ein enges Verhältnis zur Universität), während diejenigen in Utrecht und Groningen Nicht-Brüder, insbesondere Humanisten, als Lehrer und Rektoren einsetzten. Sie selbst konzentrierten sich auf das geistliche Wohl ihrer Eleven. 1560/70 wurden alle vier „Brüderschulen" genauso wie alle übrigen Brüderhäuser aufgelöst, verkauft oder von Jesuiten übernommen. Von einer direkten Förderung humanistischer Schulbildung durch die Brüder kann also keine Rede sein. — Ein enges Beziehungsverhältnis zur Stadtschule pflegten - um den zweiten Grundtyp zu charakterisieren - die Brüderkongregationen in Deventer, Brüssel, Hardewijk, Nijmegen und s'Hertogenbusch: In Deventer schrieb 1478/84 J. Xinthen mit A. Hegius eine erste Schulbuchgrammatik, das sog. Doctrinale, die fortan den Schulunterricht bestimmte. In Brüssel übernahmen die Fratres ab 1491 zeitweise die Verwaltung und Leitung der beiden Brüsseler Schulen. In Hardewijk sorgten die Fratres 1511 für die Einstellung von Lektoren in der Stadtschule. In Nijmegen errichteten sie 1567 eine Lateinschule. Und im Fraterhaus von s' Hertogenbusch wurde 1573 eine zweite Leiterstelle zur Aufsicht der Schulaufgaben eingerichtet. Niemals beteiligten sich die Brüder jedoch an der Lehre selbst. Insofern kann höchstens von einer indirekten, nicht aber von einer direkten Förderung humanistischer Schulbildung durch einzelne Bruderhäuser die Rede sein. Die anderen Fraterhäuser, die eine domus pauperum für die Stadtschüler unterhielten, hatten ein distanziertes Verhältnis zur Trivialschule. Sie hielten ihre Zöglinge in Konventikeln zu regelmäßigen geistlichen collationes an, nicht zuletzt um ein Gegengewicht gegen die intellektualistische Schulbildung zu schaffen. Ihre Erziehung zur „Nachfolge durch Weltverachtung" (Thomas a Kempis) hinderte sie an der Unterstützung einer Erziehung zur Weltverehrung. In Zwolle, Duisburg, Emmerich, Herford, Magdeburg und sogar in Münster und Hildesheim herrschte solch ein distanziertes Verhältnis zwischen Fraterhaus und Stadtschule. Insgesamt läßt sich resümieren, daß die Brüder aufgrund ihrer Unterhaltung von Schülerpensionaten ein ambivalentes Verhältnis zur humanistischen Bildungs- und Schulreform hatten: Einerseits unterstützten sie damit zumindest die Organisation des humanistischen Schulwesens, andererseits schufen sie mit ihrer pastoralen Betreuung der Schüler ein antiintellektualistisches und antiakademisches Gegengewicht gegen den Schulbetrieb. Wie stand es mit den Windesheimern? Weder unterhielten sie Schulen Kontakte zu ihnen! Auch ist von Lehrerstellen zur Förderung der Klassik schen Bildung in den 8 0 männlichen und 13 weiblichen Klöstern, die um wurden, nichts bekannt. Die Regularkanoniker schickten niemanden zur

noch hatten sie und humanisti1 4 8 5 registriert Universität und

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Devotio moderna II

drängten nicht zum Erwerb des Magistertitels. Die berühmten Treffen zwischen Humanisten und Devoten fanden bezeichnenderweise auch nicht in einem Augustinerregularkanoniker-, sondern im Zisterzienserkloster Aduard statt. Die Windesheimer hatten also den antispekulativen Frömmigkeits- und Weltverachtungsgeist Grootes noch stärker in das Spätmittelalter hinübergerettet als die Brüder und hielten sich demzufolge vom Humanismus fern. Eine scheinbare Ausnahmerolle spielten die Devoten in Württemberg: Hier hatten 1 4 7 7 die Regularkanoniker unter Zustimmung ihres Generalkapitels in Windesheim das Sindelfinger Stift übernommen und gleichzeitig der Ubereignung des gesamten Stiftsvermögens an die neu zu gründende Universität —»Tübingen beigepflichtet. Sie standen in einem äußerst positiven Verhältnis zur Wissenschaft. Das gleiche gilt von den Brüderhäusern in Urach, Dettingen, Herrenberg, Einsiedel und Sindelfingen: Gabriel —»Biel, seit 1 4 6 8 / 6 9 Windesheimer, bekleidete das Amt des Priors im Uracher (und später im Einsiedeler) Fraterhaus und zugleich das eines Professors für Theologie an der Tübinger Universität. Aber diese Zuneigung der württembergischen Devoten zum Akademikertum bedeutet keine Zuneigung zum Humanismus. Es handelt sich nach Oberman vielmehr um eine „kleine Koalition zwischen devotio moderna und via moderna" (9). Den Geist des Humanismus haben die Devoten damit nicht gefördert.

1.4. Erasmus' Verhältnis zur Devotio moderna. Besondere Beachtung verdient noch die umstrittene Frage, ob Erasmus' christlicher Humanismus aus den Wurzeln der Devotio moderna erwachsen sei. Die Lateinschule in Deventer gehörte nicht den Brüdern. Ob er in deren Internat wohnte oder zumindest einen Bruder als Seelsorger hatte, ist unbekannt. Wir wissen nur, daß er Agricola und Hegius und deren Zusammenarbeit mit J. Xinthen hoch schätzte, wenngleich sein Urteil von 1523 über sie negativ ausfiel. - In s' Hertogenbusch 1484 bis 1487 besuchte er nach dem Pesttod seiner Eltern nicht die Schule, sondern lebte zurückgezogen im Fraterhaus bei zwei Brüdern, die er deren geringer Lateinkenntnisse wegen aber geringschätzte. 1516 und 1528/29 hielt er diese Jahre für verlorene Zeit. — Im Augustinerchorherrenkloster Steyn b. Gouda 1487 bis 1493 pflegte er Freundschaft mit den Windesheimern und Humanisten C. Aurelius und W. Hermans. Ob er in dieser Zeit auch G. Groote, Gerhard —>Zerbolt und Thomas von Kempen las, ist ungewiß, aber anzunehmen, da seine Frühwerke den Nachfolgegedanken, die Frömmigkeit und die Weltverachtung der Devotio widerspiegeln. Allerdings studierte er aiich Damian, —»Anselm von Canterbury u. a. mittelalterliche Autoren, die Frömmigkeit und Intellekt zu einen versuchten. Obermans These vom „Klosterhumanismus" trifft auf diese Zeit präzis zu. - Zum Konzept eineiphilosophia Christi, die Frömmigkeit, Theologie und philosophischen Humanismus verbinden wollte, gelangte er erst auf seiner Englandreise 1499/1500 unter dem Einfluß J. Colets. Sein Enchiridion militis christiani (1501/03) spiegelt dieses Programm erstmals wider. Inwieweit in ihm Einflüsse der Devotio oder des englischen Humanismus vorherrschen, läßt sich nicht auseinanderdividieren. — Auf Erasmus haben also weniger die Brüder des Spätmittelalters selbst als vielmehr die Klassiker der Devotio moderna gewirkt. Ob diese aber seinem christlichen Humanismus zum Durchbruch verholfen haben, ist zu bezweifeln. Bahnbrechend hat Colet und nicht die Devotio gewirkt. 1.5. Ergebnis. Die spätmittelalterliche Devotio moderna hatte ein distanziert-ambivalentes Verhältnis zur humanistischen Bildungsreform und damit zum Humanismus: Einerseits unterstützten die Brüder (nicht die Windesheimer!) durch ihre Schülerpensionate den humanistischen Schulbetrieb, andererseits warnten sie mit ihrer gezielten Erziehung zu Frömmigkeit und Meditation vor akademischem Intellektualismus und humanistischer Weltverehrung. Pioniere des Humanismus sind sie also keineswegs gewesen, zumal sie sich erst 20 Jahre nach der humanistischen Schulreform verstärkt der Internatsarbeit zugewandt hatten. Haben sie sich aber als „koalitionsfähig" (Oberman) mit den Bildungskräften erwiesen? Hinsichtlich der Internatsorganisation ja, aber hinsichtlich der Bildungsarbeit nur in Ausnahmefällen (Lüttich, Utrecht, Trier, z.T. Deventer). Die spätmittelalterliche Devotio moderna war weder Pionier noch Koalitionspartner des Humanismus, sondern dessen frömmigkeitspädagogisches Korrektiv.

D e v o n o moderna II 2. Devotio

moderna

und

613

—»Reformation

2.1. Forschungsproblematik und Forschungsstand. Im Zuge der Tendenz zu Beginn dieses Jahrhunderts, allen reformerischen Bewegungen des Spätmittelalters den Stempel „vorreformatorisch" aufzudrücken (Kolde, Oergel u. a.), wurde auch die Devotio moderna (bes. G. Grootes Kritik am Mönchtum, am Reliquien-, Stiftungs-, Heiligen- und Wallfahrtswesen und sein Ruf zu unmystischer, vereinfachter Laienfrömmigkeit sowie Thomas' von Kempen Weg der verinnerlichten Nachfolge, seine Schriftbezogenheit und Christozentrik) als „vorreformatorische Bewegung" charakterisiert. Konsequenterweise richtete sich demzufolge das Forschungsinteresse auf den Kontakt des 14-jährigen Luther zu den Brüdern in Magdeburg: A. Börner (Dt. Gesch.bl. 1905, 51 ff) und E. Barnikol kamen zu dem Ergebnis, daß die Hildesheimer und Magdeburger Brüder innerhalb und ; _.f rrhalb der Schule einen solchen Eindruck auf den jungen Martin gemacht hätten, daß sie faktisch seinen reformatorischen Durchbruch vorbereitet hätten. Und als O. Scheel nachwies, daß die Magdeburger Brüder gar keine Schule unterhalten hätten und daß der Kontakt des jungen Martin zu ihnen wahrscheinlich nicht sehr intensiv gewesen sei, variierten J. Hashagen und R. Kekow die These Börners und Barnikols: Das Magdeburger Jahr sei zwar zu kurz gewesen, um vorreformatorische Gedanken auf den jungen Luther einwirken zu lassen, aber es hätte den Boden bereitet für dessen spätere Zuneigung zu Mauburnus, —»Ludolf v. Sachsen, Gerhard v. Zütphen, Wessel Gansfort, —>Pupper v. Goch und auch zu Tauler und zu dem unbekannten Frankfurter. Durch deren Lektüre sei der Reformator in seinem humilitas- Verständnis, in seiner Radikalisierung der resignatio ad infernum, in seiner Christozentrik und Betonung des Kreuzes, in seiner Kultkritik und in seiner Frömmigkeit bestärkt worden. Insofern sei die Devotio moderna, wenn auch nicht zu einer „zentralen", so doch zu einer „peripheren Quelle" der Reformation geworden. Eine radikale Wende vollzog R. R. Post mit seinem Nachweis, daß nur wenige Brüderhäuser und noch weniger Windesheimer Klöster den Reformatoren nahegestanden haben oder gar zur Reformation übergegangen sind - auch nicht, wenn die Stadt bereits reformiert war. Deshalb sei die Behauptung absurd, daß die Devotio moderna die Reformation direkt oder indirekt gefördert habe. Luthers Magdeburgern und späteren Kontakten mißt er keine Bedeutung zu. - Abgewogener urteilten M. Elze und R. Stupperich: Luther sei von der unmystischen, streng schriftbezogenen Frömmigkeit der Devotio, vor allem vom Rosetum des Mauburnus, beeindruckt gewesen. Insofern hätten nur die Frömmigkeitsexerzitien, nicht aber die theologischen Gedanken der Brüder auf die Reformation Einfluß ausgeübt. — Um zu einem Urteil zu kommen, müssen die Berührungspunkte zwischen Devotio moderna und Reformation markiert werden. 2 . 2 . Personelle und strukturelle Berührungen. Anders als bei den Humanisten gibt es nur v/emgtpersonell-biographische Berührungen zwischen Reformatoren und Devoten: Luther hatte, wie erwähnt, 1 4 9 8 als Schüler zu den Fratres in Magdeburg Kontakt, H. Bullinger wurde 1 5 1 6 f f während seiner Stiftsschulzeit in Emmerich von den Brüdern betreut, und Hardenberg lernt«. 1 5 2 0 f f während seiner Schuljahre in Groningen das dortige Bruderhaus kennen. Aus dem Kreis der Vertreter der Devotio moderna ist also kein einziger R e f o r m a t o r hervorgegangen. Johannes —»Sleidanus und Johannes —»Sturm, die den Brüdern sehr eng verbunden waren, sind aber auch von anderen Strömungen beeinflußt gewesen. — Ditstrukturellen Berührungen zwischen Devotio und Reformation sind jedoch augenscheinlich größer als beim Humanismus: Die Schriftbezogenheit, Christozentrik, ImitatioChristi und humilitas-Reform der Devoten und ihre daraus folgende Kritik an der Bußpraxis, a m Zeremonial- und Meßwesen, an der Spiritualität der Ordensleute und an der ganzen Veräußerlichung der spätmittelalterlichen Frömmigkeit als auch ihr literarischer Erbauungsstil in ihren Schriften scheinen in rein formaler Hinsicht Analogien zur Reformation aufzuweisen. Allerdings meldet sich die fundamentale Differenz zwischen beiden in der Beobachtung an, daß die Devotio-Vertreter niemals prinzipielle Kritik am mittelalterlichen Kirchen- oder Papstverständnis, an der thomistischen Gnaden-, Rechtfertigungs- und Bußlehre oder am vierfachen Schriftsinn geübt haben. Es ist also historisch zu überprüfen, welche der strukturellen Analogien auch inhaltliche gewesen sind. 2.3. Das Verhältnis der spätmittelalterlichen Devotio moderna zur Reformation. Das Verhältnis der einzelnen Brüderhäuser zur Reformation ist nur lückenhaft bekannt, da uns Hauschroniken aus dieser Zeit nur aus Duisburg, W o l f und Herford vorliegen. Insgesamt wissen wir aber, daß das Schrumpfen der Kongregationen zwischen 1 5 2 0 und 1 5 4 0 und die Schließung vieler deutscher Fraterhäuser (Marburg 1 5 2 7 ; Magdeburg 1 5 3 6 ; Marienthal, Königstein, Butzbach 1 5 3 8 / 4 0 ; Hildesheim 1 5 4 6 ; Herford allerdings erst 1 8 4 1 ; die hollän-

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Devotio moderna II

dischen Häuser überlebten die Reformation, vergrößerten nach 1540 ihren Bestand sogar und wurden erst 1565 ff im Zuge des Trienter Beschlusses, die Brüderhäuser den Jesuiten zu übergeben oder in Kapitelkirchen umzuwandeln, aufgelöst) zum großen Teil auf die Reformation zurückzuführen ist, die den Brüdern deren originellen Charakter nahm. Die logische Folge waren Antipathie und Sympathie der Fratres gegenüber der Reformation. Manche Häuser grenzten sich gegen die neue Lehre ängstlich ab. Andere nahmen sie emphatisch auf: Die Magdeburger Brüder z.B. traten 1521 und die Herforder 1526 geschlossen zur Reformation über, nachdem vorher schon ihr Vorsteher Montanus evangelisch geworden war und die beiden Herforder Fratres Wiskamp Xanthis und H. Telgte bei einem Besuch in Paderborn ihrer lutherischen Predigt wegen von den Offizialen des dortigen Bischofs gefangen genommen und erst nach Zahlung von 1000 f (!) Kaution wieder freigelassen worden waren. In Duisburg begeisterten sich 1521/26 die Fratres für Luthers Schriftverständnis und Freiheitslehre und seine daraus folgende Papst- und Kirchenkritik, kritisierten aber den „fleischlichen" Mißbrauch der christlichen Freiheit seitens der Lutheraner, was sie freilich nicht hinderte, selbst für die Abschaffung ihrer Tonsur und Kleidung, für Verehelichung und vereinzelt sogar für den Austritt aus dem Bruderhaus zu plädieren. Auch in Zwolle gingen mehrere Fratres zur Reformation über, obwohl deren Ausbreitung in den Niederlanden gewaltsam unterdrückt wurde. In Amersfoort wurden „lutherische Häretiker" aus den Häusern vertrieben; in Köln waren die Brüder als „Lutherei" verschrien. In Deventer, s'Hertogenbusch, Groningen, Nijmegen, Brüssel, Hildesheim und Münster dagegen, um noch Beispiele aus den anderen Kongregationen zu nennen, fand die Reformation gar keinen Eingang. — Insgesamt läßt sich sagen, daß viele einzelne Brüder vom reformatorischen Gedankengut fasziniert waren, daß sich aber die Kongregations- und Hausleitungen und vor allem die zuständigen Domkapitel dagegen zur Wehr setzten. — Ähnlich sah es bei den Windesheimern aus: Die Klöster in Zwolle, Groenendaal, Bodiken und Köln hatten Gefängnisse für flüchtige Überläufer eingerichtet. Auf dem Generalkapitel zu Neuss 1522 wurde Luthers Predigt offiziell zurückgewiesen, weil man sich von der schleichenden Abwanderung bedroht fühlte. Auf dem Generalkonvent 1523 in Amersfoort und Zwolle wurde den Kanonikern die Lektüre Luthers bei Androhung von Gefängnis verboten. 1528/29 wurden neue Strafen gegen „lutherische abusus" erlassen. Und 1535 recherchierte das Generalkapitel gegen angebliche Freß- und Saufgelage in einigen Klöstern. 16 von den 83 Klöstern gingen in den Reformationswirren unter. — Einzelne Kanoniker sympathisierten also mit der Reformation, während das Generalkapitel und die meisten Priore radikalen Widerstand leisteten. Ihr Glaubens-, Bibel-, Spiritualitäts-, Gelübde- und Kirchenverständnis war völlig anders als dasjenige Luthers. Vor allem hielten sie am Klosterleben fest: Grootes praxis pietatis, Zerbolts Gradus humilitatis und Thomas' Imitatio Christi als Wege der Seele zur Vollkommenheit ließen sich nach ihrem Verständnis am ehesten in einem regulierten Kloster verwirklichen. — An dieser Einstellung zeigt sich exemplarisch, daß die spätmittelalterliche Devotio moderna inhaltlich nur in ihrer Kritik an der veräußerlichten Frömmigkeit mit der Reformation übereinstimmte, ansonsten aber trotz struktureller Analogien weit von ihr entfernt war, wenngleich einzelne Brüder und Kanoniker dem Gedanken christlicher Freiheit durch Rechtfertigung allein aus Glauben anhingen. 2.4. Luthers Verhältnis zur Devotio moderna. Unter den Reformatoren hat —»Luther den intensivsten Kontakt zur Devotio-Bewegung gehabt. 1497 ging der 14-jährige in Magdeburg „zu den Nullbrüdern in die Schule" (Nullbrüder bzw. Lullbrüder als Volksausdruck für die Brüder stammt wahrscheinlich von lullen = leise singen; WA.B. 2,563,7). Damit ist, wie gesagt, sein Kontakt zum Bruderhaus und nicht sein Besuch der Domschule, die den Brüdern nicht gehörte, gemeint. Wo er in Magdeburg gewohnt hat, ist umstritten. Da aber Belege für O. Scheels Vermutung, daß er in Moßhauers Privathaus oder anderswo gelebt habe, fehlen, spricht vieles für das Kosthaus der Brüder. Umstritten ist ebenfalls der Einfluß dieses Magdeburger Jahres auf seine spätere Entwicklung. Sein Erlebnisbericht vom ausgemergelten Fürsten Wilhelm v. Anhalt, den er fast verhungert in Franziskanerkutte über den

Devotio moderna II

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Neumarkt hat schlurfen sehen (WA 38,105), und seine Erwähnung der Brüder bezeugen jedoch, daß er sich in dieser Zeit stark mit monastischer Frömmigkeit konfrontiert sah. Ob allerdings schon hier sein Klostereintritt vorbereitet wurde, läßt sich schwer sagen. - Daß Luther im Erfurter Kloster über —»Staupitz die Devotio kennengelernt habe (Kekow; H. Böhmer, Der junge Luther, 6 1971, 91 ff), trifft nicht zu, da sich nicht nachweisen läßt, daß Staupitz von der Devotio beeinflußt worden oder gar einer ihrer Vertreter gewesen sei. — Luther hat die Devotio vielmehr erst später ab 1513 durch die Lektüre ihrer Klassiker kennen- und schätzengelernt: Zerbolts Traktat De spiritualibus ascensionibus zitiert er in der 1. Psalmenvorlesung (WA 3,648) und in der Römerbriefvorlesung (WA 56,313) im Kontext der Frage nach der Erbsünde: Bei niemandem habe er die Einsicht, daß die Erbsünde eine grausame Hydra und eine tödliche Krankheit sei, so klar erklärt gefunden wie bei G. Zerbolt. Das Rosetum des J. Mauburnus hat er „vermutlich nachschlagebereit zur Hand gehabt" (Elze 384), da er es in der 1. Psalmenvorlesung (WA 3, 380) und in einer Predigt von 1518 (WA 1,341) zitiert und dem Aufbau seines Morgensegens zugrundegelegt hat (WA 30/1, 367f). Wessel Gansfort fühlte er sich so verbunden, daß er 1522 dessen Traktat Farrago rerum theologicarum herausgab und in der Vorrede meinte, die Nachwelt könne glauben, „Lutherus omnia ex Vesselo hausisse, adeo spiritus utriusque conspirat in unum" (WA 10/2,317). Pupper v. Goch, dessen Schriften ihm 1523 von Hinne Rode übersandt wurden, lobte er (ebd. 329f). Bei G. Biel lernte er die Christozentrik und Frömmigkeit der Devotio kennen (Oberman 66ff). Die Imitatio des Thomas blieb ihm erstaunlicherweise zeitlebens unbekannt. - Eine kritische Einstellung zur Devotio erhielt er durch die Aktivitäten Hinne Rodes, des Fraterhausvorstehers von Utrecht. Dieser hatte 1523 einen an Wessel orientierten Abendmahlstraktat des niederländischen Gerichtshofanwaltes Cornelius Hoen an Luther und —»Zwingli übersenden lassen mit der Bitte um Begutachtung. Luther lehnte die signifikativ-symbolische Abendmahlsauffassung ab, Zwingli nahm sie auf und führte sie weiter (—»Abendmahl). Die Spiritualität der Devotio lag dem Zürcher näher als dem Wittenberger. - Luthers Sympathien für die Devotio kamen aber noch einmal zum Durchbruch in seinem Gutachten zum Erhalt des Herforder Fraterhauses: Nachdem Herford 1530/32 evangelisch geworden war, sollte das Fraterhaus wie alle anderen Klöster am Ort in eine öffentliche Schule umgewandelt werden. Die Brüder widersetzten sich aber mit einer Verteidigungsschrift Grund des Fraterlebens, die sie durch Xanthis am 13.1.1532 Luther zur Begutachtung zusandten (WA.B 6,248 f), der umgehend am 31.1. antwortete und dem Erhalt des Hauses mit der Begründung zustimmte, daß die ratio vivendi der Brüder dem Evangelium entspräche und den Klöstern und Kapiteln als Vorbild diene (ebd. 255 f). „Wenn es um alle Klöster so stünde (wie um die Brüderhäuser), dann wäre die Kirche allzu selig schon in diesem Leben." Die praxis pietatis des ,Lebensgrundes' hatte ihn überzeugt. Am 22.4.1534 übte er zwar auch Kritik an falscher Absonderung der Fratres (WA.B 7,295 ff), aber am 24.10.1534 plädierte er nochmals eindeutig für die Nichtauflösung des Hauses (ebd. 112 ff). Den Frömmigkeitsstil, den die Fratres vorlebten, hielt er für einen wichtigen Bestandteil des reformatorischen Glaubens. — Damit ist der Kern des Verhältnisses Luthers zur Devotio berührt: Der Reformator achtete und förderte den neuen monastischen Frömmigkeitsstil und das damit verbundene Sündenbewußtsein der Devoten, weil er ein geregeltes Frömmigkeitsleben für den evangelischen Glauben für unabdingbar hielt und darin ein Bollwerk gegen die Gefahr libertinistischer u. a. Mißverständnisse der Reformation erblickte. 2.5. Das Verhältnis anderer Reformatoren zur Devotio moderna. Einen ähnlich engen Kontakt zur Devotio wie Luther hatte nur noch —»Bullinger. Sein Diarium während seines niederrheinischen Aufenthaltes, im Stil devoter Rapiaria verfaßt, bezeugt das am sichtbarsten. Ob auch sein Schriftverständnis, seine leicht dualistische, symbolische Abendmahlsauffassung und seine Ethik auf devote Einflüsse zurückzuführen sind, bleibt fraglich. — Die anderen Reformatoren hatten kein oder ein reserviertes Verhältnis zur Devotio. —»Bugenhagen und —»Amsdorf plädierten z. B. für die Auflösung des Herforder Fraterhauses, —»Melanchthon verhielt sich zurückhaltend. Die Devotio-Bewegung galt den meisten als ein Relikt des alten Glaubens, das überwunden werden müsse.

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De Wette

2.6. Ergebnis. Zwischen Devotio moderna und Reformation bestanden wenig personelle, aber augenscheinlich viele strukturelle Berührungen. Letztere reduzieren sich aber bei genauerem Hinsehen auf die Kritik an der Veräußerlichung spätmittelalterlicher Frömmigkeit und auf daraus folgende neue Formen vereinfachter Laienfrömmigkeit. Zwar klafft zwischen devoter und reformatorischer Frömmigkeit ein breiter Graben, aber beide haben sich gegenseitig beeinflußt: Der reformatorische Glaube stahl den Brüdern und Kanonikern deren originellen Charakter und spaltete die Geister der Devoten: Die einen schlössen sich der Reformation und der neuen christlichen Freiheit an, die anderen grenzten sich gegen sie ab. Ebenso wirkte die Devotio auf die Reformation als Konkurrenzfaktor, an dem sich die reformatorischen Geister spalteten: Luther übernahm Elemente devoter Frömmigkeit, während andere sie ignorierten oder ablehnten. Diepraxis pietatis war der Kernpunkt des Wechselverhältnisses zwischen Devotio und Reformation. Insofern haben einzelne Devote an der Reformation mit teilgehabt, keinesfalls aber hat die Devotio moderna als ganze die Ausbreitung der Reformation gefördert oder gar initiiert. Literatur Ernst Barnikol, Luther in Magdeburg u. die dortige Brüderschule: TARWPV NS 17 (1917) 1 - 62. Hans Georg v. Berg, Die Brüder vom gemeinsamen Leben u. die Stiftschule v. St. Martin zu Emmerich. Zur Frage des Einflusses der devotio moderna auf den jungen Bullinger: Heinrich Bullinger 1 5 0 4 - 1 5 7 5 , Zürich, 1 1 9 7 5 , 1 - 1 2 . - Ders., Spätma. Einflüsse auf die Abendmahlslehre des jungen Bullinger: KuD 22 (1976) 2 2 1 - 2 3 3 . - Martin Elze, Züge spätma. Frömmigkeit in Luthers Theol.: ZThK 62 (1965) 3 8 1 - 4 0 2 . - Justus Hashagen, Die Devotio moderna in ihrer Einwirkung auf Humanismus, Reformation, Gegenreformation u. spätere Richtungen: ZKG 5 5 ( 1 9 3 6) 523 - 5 3 1 . - Albert Hyma, s. o. Abschn. I. - Erwin Iserloh, s,-o. Abschn. I. - Rudolf Kekow, Luther u. die Devotio moderna, Diss. Phil. Hamburg 1937. — Ernst Wilhelm Kohls, Zur Frage der Schulträgerschaft der Brüder vom gemeinsamen Leben u. zum Rektoratsbeginn des Alexander Hegius inDeventer: JVWKG 61 (1968) 3 3 - 4 3 . - W i l l e m Lourdaux, s.o. Abschn. I. - Paul Mestwerdt, Die Anfänge des Erasmus. Humanismus u. Devotio moderna, Leipzig 1917. - Heiko A. Oberman, s.o. Abschn. I. —Steven E. Ozment (Hg.), The Reformation in Medieval Perspective, Chicago 1971. - Regnerus Richardus Post, s. o. Abschn. I. - Otto Scheel, Martin Luther, Tübingen, I 3 1 9 2 1 , 7 0 - 9 7 . - Lewis W. Spitz, The Religious Renaissance of the German Humanists, Cambridge, Mass. 1963. - Robert Stupperich, Luther u. das Fraterhaus in Herford: Geist u. Gesch. der Reformation. FG H. Rückert, 1966 (AKG 3 8 ) 2 1 9 - 2 3 8 . - Ders., Devotio moderna (s.o. Abschn. I) - Ders., Erasmus v. Rotterdam u. seine Welt, Berlin 1977.

Reinhold Mokrosch De Wette, Wilhelm Martin Leberecht

(1780-1849)

W. M. L. De Wette (geb. 12. 1. 1780 in Ulla bei Weimar, gest. 16. 6. 1849 in Basel) entstammte einer Pfarrersfamilie niederländischer Herkunft. Nach dem Studium in —»Jena wurde er daselbst 1805 Privatdozent, 1807 in —»Heidelberg Außerordentlicher Professor und 1809 Ordentlicher Professor. Auf Empfehlung —»Schleiermachers folgte 1810 ein Ruf an die neugegründete Universität —»Berlin, wo er bis zu seiner Entlassung durch königliche Kabinettsordre vom 30. 9 . 1 8 1 9 lehrte. Anlaß der Entlassung war ein Friedrich Wilhelm III. zugespielter privater Trostbrief De Wettes an die Mutter des Theologiestudenten Karl Ludwig Sand, der am 3 1 . 3 . 1819 den russischen Kulturattache Staatsrat A. von Kotzebue aus politisch-religiösen Motiven ermordet hatte. De Wette zog sich nach Weimar zurück und arbeitete als theologischer Schriftsteller. Eine Berufung zum Pastor Primarius an die Braunschweiger Katharinenkirche scheiterte 1821. 1822 wurde er Ordinarius in —»Basel. De Wette gehört zur deutschen —»Romantik. In seinem Bibelverständnis ist er geprägt durch J. G. —»Herder, philosophisch durch J. F. Fries, dem er in Jena und Heidelberg begegnete und dessen zwischen kritischer Vernunft und Glaube vermittelnde Richtung ihm zusagte. Theologisch nahm De Wette dementsprechend eine Position zwischen den Fronten von —»Orthodoxie, —»Rationalismus und —»Pietismus ein. Seine scharfe Kritik an der biblischen Überlieferung, aber auch an der herkömmlichen Glaubenslehre in den Vorlesungen und Veröffentlichungen vor allem seiner Berliner Jahre hatte ihm den Vorwurf des theologischen

Diadochus von Photice

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-^Liberalismus eingetragen, zu dem sich im Zusammenhang mit der Sand-Affäre noch die Beschuldigung des politischen Liberalismus gesellte. De Wette blieb aber niemals bei der skeptischen Negation: In der dem kritischen Verstände unterliegenden zeitlichen Erscheinung erkennt der Glaube Symbole des Ewigen, deren ideal-ästhetischen Charakter De Wette betont. Dieser Dualismus ermöglichte ihm, besonders in den späteren Jahren, eine weithin konservative Glaubenslehre durch religiös-ästhetische Interpretation der Dogmen mit seiner kritischen Position zu vereinen. De Wette ist in allen theologischen Disziplinen einschließlich der Erbauungsliteratur mit umfangreichen Veröffentlichungen hervorgetreten. Seine Lehrbücher waren vorbildlich und erlebten mehrere Auflagen (u.a. Lehrbuch der christlichen Dogmatik, 2 Bde., Berlin 1813/1816 3 1 8 3 1 / 1 8 4 0 ; Lehrbuch der hebräisch-jüdischen Archäologie, Leipzig 1814 4 1 8 6 4 ; Einleitung ins Neue Testament, Berlin 1826 6 1860). Bis in die Gegenwart von Bedeutung ist seine kritisch-historische Ausgabe Luthers Briefe, Sendschreiben und Bedenken (5 Bde., Berlin 1 8 2 5 - 1 8 2 8 ) . Hauptsächlich liegt sein Lebenswerk auf dem Gebiet des Alten Testaments. Hier hat er die neuzeitliche historisch-kritische Forschung nachhaltig beeinflußt (—»BibelWissenschaft). Bereits 1805 hatte De Wette in seiner Dissertatio critico-exegetica im —»Deuteronomium eine kurz vor der Josianischen Reform von 622/621 v. Chr. (—»Josia) entstandene selbständige Quellenschicht erkannt und auch ihre Spuren in den Büchern Josua bis Könige festgestellt. Sein alttestamentliches Hauptwerk ist das Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen und apokryphischen Bücher des Alten Testaments (Berlin 1818 8 1869). Einen besonderen Rang nimmt in diesem Werk — vor allem in den ersten Auflagen — die Erörterung von hermeneutischen Fragen ein (—»Hermeneutik), wobei er u.a. eine sorgfältige Beachtung der jeweiligen Sprachgestalt fordert. Auch hier zeigt sich De Wettes philosophischer Ansatz: Zum rechten Verständnis des Alten Testaments gehört die einfühlende Kongenialität, die das eigentliche, der literarischen und historischen Forschung nicht zugängliche religiöse Anliegen der Texte erfaßt. Prinzipien der späteren gattungsgeschichtlichen Forschung finden sich bereits in der zweiten Auflage seines Commentar über die Psalmen von 1823 (Heidelberg 1811 5 1856). Literatur G. Frank (Ferdinand Kattenbusch), Art. De Wette: R E 3 2 1 ( 1 9 0 8 ) 1 8 9 - 1 9 8 . - Hans-Joachim Kraus, Gesch. der hist.-krit. Erforschung des AT, Neukirchen 1 9 5 6 , 1 6 0 — 1 7 5 . - Rudolf Smend, W . M . L . De Wettes Arbeit am Alten u. Neuen Testament, Basel 1 9 5 8 . - D e r s . , D e Wette u. das Verhältnis zw. hist. Bibelkritik u. phil. System im 19. Jh.: T h Z 14 ( 1 9 5 8 ) 1 0 7 - 1 1 9 .

Karl-Heinz Bernhardt Dezisionismus —»Entscheidung, —»Ethik Diadochus von Photice 1. Leben

2. Werk

3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 6 2 0 )

1. Leben Diadochus wurde wahrscheinlich zu Beginn des 5. Jh. geboren. Er war Bischof von Photice in Epirus (Nordgriechenland) und erscheint 457 als Mitunterzeichner des Briefes der Bischöfe von Alt-Epirus an Kaiser Leo I. (ACO 11/5,95,11). In -^Chalkedon (451) wird als Bischof von Photice Johannes aufgeführt (ACO 11/2,162,24—26; E. Honigmann: Byz. 16 [1942/43] 56.73), so daß Diadochus das Amt später angetreten haben muß. Er war ein Gegner der —»Monophysiten (ascens. 4—6; vgl. Photios, Cod. 231). Da sich sein Hauptwerk an coenobitische wie alleinlebende Mönche richtet (cap. 53), liegt es nahe anzunehmen, daß er selbst Mönch, vielleicht der Vorsteher einer Gemeinschaft, war. 4 8 6 muß er tot gewesen sein (vgl. Victor Vitensis, Hist. pers., Prol., ed. M. Petschenig, 1881 [CSEL 7] 2; Marrou).

618

Diadochus von Photice

2. Werk 2.1. Schriften. Die Hundert gnostischen Kapitel (cap.; gewöhnlich bekannt unter dem alternativen Titel Capita centum de perfectione spiritali) bieten eine allgemeine Anleitung zum asketischen, geistlichen Leben (—»Askese). Der Kreis ihrer Themen umfaßt das innere Gebet wie Fragen der äußeren Lebensordnung (z.B. Abstinenz von Essen und Trinken [43—51], Nehmen eines Bades [52], Aufsuchen eines Arztes [53]). Wichtige Abschnitte behandeln die Unterscheidung von Geistern (26-35.75-89), mit besonderer Berücksichtigung von Visionen und Träumen (36—40). Die kurze Homilie über die Himmelfahrt unseres Herrn Jesus Christus (ascens.) stammt wahrscheinlich aus der Bischofszeit des Diadochus. Er behauptet darin gegen diejenigen, die im fleischgewordenen Christus nur eine qpvaig annehmen, zwei untrennbare tpvaeig innerhalb ein und derselben vjioazaaig (4—6). Die Vision des heiligen Diadochus (vis.) enthält eine Reihe von Fragen und Antworten vor allem über die Taufe Christi durch Johannes (3—12), die Schau Gottes durch die Gerechten im künftigen Zeitalter (13-17) und das Wesen der Engel (18-29). Die gelegentlich vertretene Zuweisung an —»Symeon den neuen Theologen (s. E. Amand de Mendieta: BZ 62 [1969] 93 f) hat in den Handschriften keine Stütze. Die ebenfalls in Frage-und-Antwort-Form gehaltene Katechese wird von einigen Handschriften Diadochus, von anderen Symeon dem neuen Theologen zugeschrieben. Gegen des Places (SC 5,28 f) hat die Autorschaft Symeons oder eines seiner Schüler die größere Wahrscheinlichkeit für sich (Basil Krivocheine: OrChrP 20 [1954] 301 f; J. Darrouzes: REByz 15 [1957] 172-175).

2.2. Lehre. Wie —»Irenäus und —»Origenes unterscheidet Diadochus zwischen dem „Bild" {xar' äxova) und der „Ähnlichkeit" (xad' o^ioicooiv) Gottes im Menschen. Alle Menschen sind nach dem—»Bilde Gottes geschaffen; seine Ähnlichkeit aber haben nur diejenigen, die „durch große Liebe ihre eigene Freiheit Gott unterworfen haben" (cap. 4). „Ähnlichkeit" bezeichnet das Endziel des geistlichen Lebens und ist gleichbedeutend mit Vergöttlichung durch die Fülle der Gnade Gottes (ascens. 6). Vor dem Sündenfall war das Wahrnehmungsvermögen der menschlichen Seele (atodtjoig ipvxijs) einheitlich und einfach. Durch Adams Ungehorsam wurde es zwar nicht völlig korrumpiert, aber in zwei gegensätzliche Wirkungsweisen (kvigyeiai) gespalten, so daß sich der Mensch einerseits zur Fleischeslust, andererseits weiterhin zu den Segnungen des himmlischen Reiches hingezogen fühlt (cap. 24 f). Diese Zweiheit besteht auf der Ebene des Willens (deArifia) wie des Gedächtnisses (fxvrjfir)) (88). Im geistlichen Leben ist der Mensch bestrebt, jene ursprüngliche Einheit wiederzugewinnen und, was Adam nicht gelang, vom „Bild" zur „Ähnlichkeit" fortzuschreiten. Die —»Taufe reinigt uns ganz und vollkommen von der Schuld und dem Makel der Sünde, heilt aber nicht die Zweiheit des Willens (rö dutAovv rrjg Oekijoemg: 78). An diesem Punkt stimmt Diadochus mit —»Augustin überein und unterscheidet sich von —»Marcus Eremita. Mit dem letzteren teilt er dagegen die Anschauung, daß durch die Taufe der Teufel aus der Tiefe unserer Seele vertrieben und die Gnade heimlich darin verborgen werde; der Mensch freilich wird sich dieser einwohnenden Gnade nur dann ganz bewußt, wenn er durch den rechten Gebrauch seines freien Willens mit ihr kooperiert (77.85). Während das „Bild" unmittelbar bei der Taufe wiederhergestellt wird, kann die „Ähnlichkeit" nur durch unsere Antwort auf Gott in Liebe wiedererlangt werden (89). (Es fällt auf, daß Diadochus, im Gegensatz zu seiner Hervorhebung der Taufe, die Eucharistie mit keinem Wort erwähnt; dasselbe gilt für Marcus Eremita.) Die auch nach der Taufe fortdauernde innere Zweiheit wird auf der Ebene des Willens durch „Beobachtung der Gebote" und asketisches Bemühen, auf der Ebene des Gedächtnisses vor allem durch die „Erinnerung" {nvqpiri) oder „Anrufung" (enixXrjoig) des Namens Jesu überwunden (85). Diese Anrufung befriedigt den immanenten Betätigungsdrang (evxQExeia) des Verstandes und befähigt ihn zur Abkehr von allem Geschaffenen und zur alleinigen Konzentration auf Gott (59). Sie sollte frei von Bildern und nach Möglichkeit unun-

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Diadochus von Photice t e r b r o c h e n sein ( 5 9 . 6 1 . 9 7 ) . Sie ist ein M i t t e l z u r Ü b e r w a c h u n g d e s V e r s t a n d e s (Trjgrjoig vov:

rov

9 7 ) u n d z u r B e k ä m p f u n g d e r D ä m o n e n ( 3 1 ) . W e n n „ i n d e r T i e f e d e s H e r z e n s " (ev z

ßädei

xfjg xagdiag)

v o l l z o g e n , f ü h r t sie z u g e i s t i g e r W ä r m e (deg^itj)

und zur Schau des Lich-

tes u n s e r e s eigenen V e r s t a n d s ( 5 9 ) . Nach Hausherr (202—210) geht es Diadochus um die „ E r i n n e r u n g " an Jesus in einem allgemeinen Sinn und nicht um die Anrufung durch beständige Wiederholung einer den göttlichen N a m e n enthaltenden Formel. Aber die Ausdrucksweise in cap. 5 9 . 6 1 . 8 5 spricht sehr viel mehr für ein tatsächliches —»Gebet mit dem einleitenden R u f Kvgtt 'Iijaov, vielleicht gefolgt durch weitere W o r t e . D a m i t wird Diadochus zu einem wichtigen Wegbereiter in der Geschichte des Jesusgebets (vgl. auch —»Nilus von Ancyra). 2.3.

Stellung

in der Geschichte

monastischer

Geistigkeit.

W ä h r e n d frühere Forscher wie

D ö r r u n d d e s P l a c e s ( S C 5 , 1 2 — 2 2 ) d e n E i n f l u ß v o n —»Evagrius P o n t i c u s a u f die Kapitel

be-

t o n t e n u n d in D i a d o c h u s einen G e g n e r d e r - * M e s s a l i a n e r s a h e n , stellt D ö r r i e s ihn als V e r treter eines g e m ä ß i g t e n o d e r „ r e f o r m i e r t e n " M e s s a l i a n i s m u s d a r u n d h ä l t g e g e n D ö r r ( 1 9 ) den E i n f l u ß des — » M a k a r i u s f ü r s e h r viel b e d e u t s a m e r als d e n d e s E v a g r i u s ( 3 6 9 A n m . 3 3 ) . D i a d o c h u s selbst zitiert k e i n e s e i n e r Q u e l l e n m i t N a m e n u n d g i b t in p o l e m i s c h e n P a s s a gen nie a n , w e r d i e r i v e g sind, g e g e n die e r sich w e n d e t ( c a p . 5 3 . 7 6 ) . S o k ö n n e n sich z . B . die „ A n s c h a u u n g e n d e r g e l e h r t e n M ä n n e r " in c a p . 6 8 s o w o h l a u f E v a g r i u s w i e a u f M a k a r i u s o d e r selbst die K a p p a d o z i e r ( o d e r a u c h a u f alle drei) b e z i e h e n , w o b e i D i a d o c h u s die letzteren e n t w e d e r d i r e k t o d e r d u r c h V e r m i t t l u n g des E v a g r i u s g e k a n n t h a b e n m a g . A l l e s in a l l e m w i r d m a n a n n e h m e n k ö n n e n , d a ß D i a d o c h u s s o w o h l E v a g r i u s als a u c h M a k a r i u s k a n n t e u n d s i c h b e w u ß t u m eine S y n t h e s e v o n E l e m e n t e n b e i d e r b e m ü h t e . Von Evagrius übernimmt Diadochus viele, wenn auch keineswegs alle seiner technischen Begriffe. Folgende Parallelen sind zu nennen: (1) die Rolle des Geistes oder Verstandes (vovg) im Gebet; (2) die Rede von der cmädeia und deren enge Verknüpfung mit der ayänrj (cap. 1 7 . 8 9 ; vgl. Evagrius, cap. pract. 8 1 ) ; (3) die Ausschaltung innerer Bilder (qxxvxaoiai) während des Gebets (cap. 1 1 . 5 9 f . 6 8 . 7 0 ; vgl. Evagrius, or. 6 6 . 7 0 . 1 1 7 ) ; (4) die evagrianische Verwendung des Terminus deoXoyia (freilich nicht des Dreierschemas vonngaxTtxyj, ipvoixij und deoXoyia); (5) die der Seele gewährte Schau ihrer selbst in verklärter Gestalt (cap. 4 0 . 5 9 ; vgl. Evagrius, cap. pract. 6 4 , aber auch Makarius, h o m . 7 , 5 f ) , die freilich für Diadochus nur eine zu überwindende Vorstufe darstellt (cap. 6 9 ) . Unter den Zügen, die Diadochus von Evagrius unterscheiden und auf M a k a r i u s verweisen, sind die wichtigsten: (1) die gegenüber Evagrius viel häufigere Rede vom Herzen; (2) die durchgängig starke Erfahrungsbezogenheit: Diadochus legt großes Gewicht auf das innere Wahrnehmungsvermögen (aiadrjati; voög/xagöiaq/tpvxfj1;) und die geistigen Sinne, vor allem den G e s c h m a c k . Bei der Unterscheidung der Geister ist stets diese aXoOrjoig das ausschlaggebende Kriterium. Der Begriff wird häufig mit Worten wie Ttelga und 7iXr]QocpoQia verbunden, so vor allem in der Wendung EV ndorj aiaOijaei xai Jilr)Qoc/7e das Ubergewicht über die soziale Anstalt und nähert den Charakter der ganzen Einrichtung den inzwischen entstandenen Klöstern an (s.u.). Gregor I. hatte bereits bestimmt, daß nur Mönche und Nonnen die Leitung der anstaltlichen Diakonie übernehmen dürften. Als ein klassischer Vorläufer übergemeindlicher Anstaltsdiakonie gilt die „neue Stadt, die Vorratskammer der Frömmigkeit", in der Bischof—»Basilius von Caesarea nach 370 eine ganze Kolonie für Fremde, Arme, Leprakranke aufbaute (Gregor von Nazianz, or.43,63 [PG 36,577c]). Er unterstellte die Einrichtung einem eigenen Bischof. Daß diesem —»Hospital die Tradition von Fremdenherbergen und dieser wieder die der pflichtgemäßen bischöflichen Gastfreundschaft voranging, ist ebenso gewiß wie die rasche Ausbreitung des Herbergs- und Hospitalwesens über weite Teile der Ökumene. Dies als Fehlentwicklung anzu-

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sehen (nach E. Chastel „entstand das Spital,als die Liebe starb", vgl. Amt 87), ist ebenso verfehlt wie das Gegenteil. Das Massenelend der ausgehenden Kaiserzeit und die Sprengung der vorkonstantinischen Minderheitenkirche durch den Zustrom von Massen, die dem Glauben kaum gewonnen waren, ließen den Verantwortlichen der christlichen Gemeinde keine bessere Wahl. Freilich verbinden sich jetzt die Anstaltsgründungen häufig mit den Namen von Einzelpersönlichkeiten: —»Hieronymus (386 Herberge in Bethlehem - mit starker Fernwirkung auf römische Damen), Fabiola (Krankenhaus 390 in Rom) u.a.m. Sie alle gehörten den besitzenden Schichten an und behielten deren Lebensstil bei. (Basilius hatte Zeit seines Lebens Haussklaven!) Nicht der Verzicht auf Reichtum, sondern dessen gemeinnützige Verwaltung schien ihnen geboten. Unter den Anstalten unterschied man neben dem Xenodochium das Ptochotrophium, Orphanotrophium, Nosochomium usw. Das benötigte Personal wird auch hier aus der mönchisch-asketischen Bewegung rekrutiert: Ernste Christen suchen Alternativen zur ,Verweltlichung' der Reichskirche. 4.3. Klösterliches Beispiel und sozialethische Forderung. In diesen Kontext sind auch die Klostergründungen einzuordnen (—»Mönchtum). „Das Christentum (hatte) der alten Welt kaum mehr als die Haut geritzt", und „je mehr das öffentliche Leben sich dem christlichen Geiste gegenüber als undurchdringlich erweist, desto mehr Neigung zur Separation" (Uhlhorn I, 333 f). Während aber das mönchische Leben im Morgenland stärker - doch nicht ausschließlich! - vom Anachoretentum geprägt wird, setzt sich im Abendland —»Augustins Ansicht „von der —»Arbeit der Mönche" stärker durch, und in der Klosterregel —»Benedikts von Nursia (—»Benediktusregel) und der Nonnenregel des —»Caesarius von Arles gewinnen gerade die Hilfsdienste, die im Umkreis der ,sieben Werke der —»Barmherzigkeit' geschehen (vgl. Mt 25,35 f, dazu noch ,Tote begraben'), eine feste Ordnung: Das —»Kloster wird u. a., stellvertretend und beispielhaft für die Gemeinden, zum Träger der ,Diakonie', der organisierten Hilfe für Bedürftige. Doch ist damit keine Resignation gegenüber der weltlichen Christenheit verbunden. Die großen Prediger Basilius, —»Gregor von Nazianz und Augustin mahnen ihre Hörer mit eschatologischem Ernst zur aufopferungsvollen Hilfe bei Hungersnöten, Flüchtlingselend, Armut, Krankheit. —»Johannes Chrysostomus geißelt den krassen Gegensatz von arm und reich und nimmt, nicht zuletzt dafür, seine Verbannung in Kauf. Im Noricum erweist sich der Asket Severin (gest. 482) als ein wirksamer Organisator von weiträumiger Nothilfe inmitten der Völkerwanderung. Die zweite Synode von Mäcon (585) machte aus der mancherorts überlieferten Sitte der Zehnt-Abgabe (z.B. die in Quellen I, 73 f zusammengestellten Belege aus Const. Apost.), die auch Severin durchgesetzt hatte, ein kirchliches Gesetz (—»Abgaben). So wird die diakonische Überlieferung aus einer gemeindlichen Praxis zur sozialethischen Forderung abgewandelt und findet schließlich in der staatlichen Gesetzgebung ihren Niederschlag (s. u.). Verloren geht dabei die Rolle der Gemeinde und ihrer Verantwortungsträger: Die Bischöfe haben nicht mehr nur eine einzige Gemeinde zu ,überblicken', ihre Diakone haben nicht mehr die Aufgabe, von der Mahlversammlung aus für die Hilfsgemeinschaft in dieser einen Gemeinde zu sorgen. Der Bischof ist jetzt für die kultische Versorgung ganzer Landstriche zuständig. Dementsprechend überwiegt die liturgische Assistenz des Diakons, falls er nicht, zur Ergänzung des bischöflichen Kultvertreters in den Parochien des Priesters, schon zum presbyter-sacerdos aufrückt. Der auf diese Weise organisierte, gesellschaftlich angepaßte Kult-Überbau ,Kirche' aber versucht, seine Kultteilnehmer durch den Hinweis auf himmlischen Lohn wenigstens zu individueller Mildtätigkeit, zu , Almosen', zu motivieren. Für den Fall verstärkter Motivation steht das Kloster bereit. 5. Mittelalter Seit dem 8. Jh. ändern sich die Fundamente kirchlicher Sozialverantwortung im abendländischen Christentum nicht mehr. Die Zehntpflicht wird konsequenter eingesetzt (schon seit 779), aber ihr Ertrag gilt nur noch zu einem Drittel oder zu einem Viertel als Armengut. Die anderen Teile fließen dem Klerus (bzw. je ein Viertel dem Bischof und dem Pfarrklerus)

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und dem kirchlichen Baufonds zu (,Kirchenfabrik'). Beim Diözesanbischof ist vom Diakonat nur der Archidiakon übriggeblieben, der seine Verwaltungsbefugnisse hauptsächlich unter juristischem Aspekt ausübt. Um so nachdrücklicher ruft —>Karl der Große zu allgemeiner diakonischer Praxis auf (Capitulare: Quellen 1,109 ff). Seine Hilfsinitiativen haben sich dem Gedächtnis der Nachwelt als Beispiel kaiserlichen Verhaltens eingeprägt. Doch die Not des Mittelalters ist anonym, massenhaft und atomisiert. Wo die (seit 567: 2. Synode von Tours) für ihre Angehörigen unterstützungspflichtige Großfamilie ausfällt, entwickelt sich der Bettel: eine Plage, mit der auch die Reformationszeit noch zu tun haben wird. Daran ändern auch die Klöster nur wenig, die nach der kluniazensischen Reform das Amt eines infirmiarius eingerichtet haben (1070) und sich in Notzeiten zu außerordentlichen Leistungen steigern können (Maurer 139f). Den Kleriker- und Kanonnissen-Stiften wurde auferlegt, ihren Kirchen auch Hospitäler anzugliedern. Nach 1000 entstehen, besonders in aufblühenden Städten, aus Gebetsverbrüderungen von Geistlichen und Laien und aus vorchristlich-genossenschaftlichen Elementen neue geistliche—»Bruderschaften, die zwar einerseits wie kultische Versicherungen auf Gegenseitigkeit wirken (sie garantieren ihren Mitgliedern die Seelenmessen), andererseits aber zu gegenseitiger Sozialhilfe verbinden (Bestattung, Krankenpflege, Altersrenten) und darüber hinaus Dritten dienen: ,Elenden'-Bruderschaften widmen sich Wohnsitzlosen, Hospitalbruderschaften, oft nach dem Heiligen Geist benannt, unterhalten in den Städten Hospitäler. Reiche Stifter statten ,Seelhäuser' aus, die neben andern Sozialfällen auch die ihres eigenen Hausstandes versorgen. Die genossenschaftliche Bewegung der —»Beginen verbindet ein nichtklösterlich-geistliches Leben unverheirateter Frauen meist mit häuslicher Krankenpflege. Auch die Selbsthilfeorganisation der Leprosen-Bruderschaften, die außerhalb der sonstigen Siedlungen auf ,Gutleuthöfen' hausen, gehört zu diesen neuen Genossenschaftsformen, in denen stets, mit unterschiedlichem Gewicht, geistliche und soziale Anliegen verbunden waren. ökumenische Großunternehmungen waren die (ritterlichen) Spitalorden, die während der —»Kreuzzüge entstanden (Johanniter 1099, Templer 1119, Deutschordensherren 1191 u.a.m., —»Ritterorden, geistliche). Typisch mittelalterlich war ihr ideales Ziel, Kampf gegen die Ungläubigen und Pflege der Hilflosen zu verbinden. Der Waffendienst hat die meisten von ihnen jedoch der diakonischen Aufgabe entfremdet. Mit dem Wirken des Deutschen Ordens, der auch später einem begrenzten Spitaldienst verpflichtet blieb, steht im Zusammenhang auch die Gestalt der —>Elisabeth von Thüringen, die für ihre Zeitgenossen ebenso wie —»Franciscus von Assisi christliche Opferfreude und Selbsthingabe an die Leidenden, aber auch Protest gegen die Lebensanschauung ihrer Umwelt (vgl. Schering 119 ff) verkörperte. Hand in Hand mit der steigenden Bedeutung der Städte erfolgt der Ubergang von der Natural- zur Geldwirtschaft. Wächst schon dadurch die Zahl der wirtschaftlich Abhängigen und Entwurzelten, so führt die gesteigerte Hochschätzung der —»Armut erst recht zu einer wachsenden Bettlerplage. Nicht nur die privilegierten Bettelorden, auch die in Gilden organisierten Bettlerscharen (Betteln ist zum steuerpflichtigen Beruf geworden!) ziehen durch die Städte, um vom Glauben an die Verdienstlichkeit guter Werke zu leben. Dazu gesellt sich das durch Frauenüberschuß gesteigerte Dirnenwesen. Mehr und mehr versucht man, diesen sozialen Notständen durch Polizeimaßnahmen beizukommen: Die Reichsstädte erlassen Bettelordnungen, ernennen Bettelvögte, schränken die Erlaubnis zu betteln auf bestimmte Personengruppen (Ausweis) und Orte (z. B. an den Kirchentüren) ein. Ortsfremde Bettler werden nur kurzfristig geduldet, vor Wintereinbruch aber ganz aus der Stadt vertrieben; jede Stadt sorgt dabei nur für ihren Bereich. Andererseits steigt im 14. Jh. die Gebefreudigkeit der frühkapitalistischen Bürger. „Die größten Armenschenkungen stammen aus der Zeit unmittelbar vor der Reformation" (Stark: Amt 151). So stiftet Jakob —»Fugger in einem Vertrag mit der Stadt Augsburg Häuser mit Hof und Garten für ehrbare arme Leute, die aber nicht vom Almosen leben wollen (1516) — eine Art,sozialer Wohnungsbau'. Die Stadtmagistrate übernehmen bruderschaftliche Spitäler, vermehren und spezialisieren diese (Findel-, Wai-

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sen-, Siechenhäuser etc.). Nach wie vor wird die Arbeit meist von Ordensangehörigen verrichtet, die, wie früher unter Ordensregeln, jetzt nach der Spitalordnung des Magistrats handeln. Der Christlichkeit dieser Einrichtungen wurde dadurch kein Eintrag getan, sofern sich auch die Bürgerschaft als christlicher Verband verstand. Allerdings lag der utilitaristisch-politische Umgang mit dem Sozialproblem schon recht nahe, und es ist eine Frage des Standpunkts, ob man die darin liegende Gefährdung von Diakonie bereits in der Abkoppelung des Sozialen vom unmittelbaren gottesdienstlichen Vollzug sieht (mit der entfallenen Pflicht, die Mahlversammlung auch in sozialer Hinsicht zu ,überblicken', waren deren frühere Verantwortungsträger, der Gemeindebischof und seine Diakone, entbehrlich geworden) oder ob man die spätere Säkularisation des bürgerlichen Gemeinwesens bereits hineinliest in die Übernahme sozial-diakonischer Verantwortlichkeiten durch Laien-Christen. Vielleicht liegt der Keim der ,Säkularisierung' des Sozialbereichs in der priesterlich-kultischen Vereinseitigung des Bildes, das die offizielle Kirche von sich selbst gestaltet hatte. 6.

Reformation

6.1. Lutherische Ansätze. Mit der lutherischen —»Reformation waren nur indirekte Versuche verbunden, auch die Diakonie neu zu beleben: In seinen frühen Abendmahlsschriften (besonders 1519) hob -»Luther stark auf die zwischenmenschliche Verbindlichkeit der Abendmahlsgemeinschaft ab (WA 2, 742ff). Auch zählt es zum „rechten Bild eines geistlichen Regiments" und zur „Gestalt" der Kirche (WA 12, 693, 27ff), daß mit den Seelen „auch der Leib versorgt werde". Da die Diakonie jedoch nicht in kultischen Funktionen besteht, sondern in der Verteilung der „Schätze der Kirche an die Armen" (u. a. WA 6, 566), entspricht es Luthers Vorstellungen, daß das ehemals „eingepfarrte Kirchspiel" Leisnig im Jahr 1523 als „brüderliche Vereinigung" ein System sozialer Hilfen entwickelt, dessen Leitung von sogenannten Kastenherren ausgeübt wird. Solche Kastenvorsteher sind mit der bürgerlichen Obrigkeit zwar durch Überschneidungen verbunden, aber nicht identisch. Sie wurden von der Gemeindeversammlung gewählt (WA 1 2 , 1 1 ff). Daß das „williglich" gegebene und unter die Armen ausgeteilte Almosen (WA 19, 75 beruft sich ausdrücklich auf die ,diakonia' von II Kor 8—9) zur rechten Art der evangelischen Ordnung eines Gottesdienstes gehört, steht für Luther fest. Noch fehlen ihm aber für diese Ordnung die „Leute und Personen", so daß er mit ihr zu warten empfiehlt, bis junge Christen, von der Predigt gerufen und gereizt, „sich selbst finden und anhalten". In den norddeutschen Kirchenordnungen —»Bugenhagens werden vorreformatorische Substrukturen und Laienämter der Stadtkirchengemeinden (Bruderschaften, Kirchspielgeschworene) weiterentwickelt zum Institut der auf Zeit gewählten ehrenamtlichen ,Diakene' (in Hamburg 4 x 1 2 , aus denen wieder das Kollegium der 4 x 3 ,Oberalten' hervorgeht), die dem städtischen Rat in klarem Zuordnungsverhältnis gegenüberstehen und, z. T. mit Ratsvertretern zusammen, die Armen- und den Schatzkasten verwalten sollen, mit welchen sowohl die Sozialhilfe als auch die Kirchenverwaltung verbunden ist. Die geschichtlichen Wurzeln der heutigen Hamburgischen Bürgerschaft gehen auf dies kirchlich verfaßte ,Diakenen'-Institut der ,48-er' zurück, welche übrigens durch 144 ,Subdiakene' unterstützt wurden. Dies weist darauf hin, daß dem intendierten Einbau der Diakonie auf lutherischer Seite ein bürgerlich-demokratisches Gefälle innewohnte, welches sich freilich im Laufe der Zeit eher dem bürgerlichen Sozialwesen zuneigte als dem kirchlichen Selbstverständnis (vgl. z. B. EKO V, 531 ff; VI/1, 445 ff). Diese Feststellung gilt auch für die zahlreichen anderen Ansätze zu einer aus christlicher Verantwortung geordneten Sozialhilfe, so schon für die Wittenberger Beutelordnung (1521), dann aber erst recht für—»Nürnberg (1522) und für die Straßburger Armenordnung (1523), deren beispielhafter,Almosenschaffner' Lukas Hackfurth zwar in den Diensten des Magistrats stand, seiner Amtsauffassung nach aber als Diakon der Christengemeinde seiner Stadt gelten kann. Ihm standen vier Oberhelfer, neun Armenpfleger und vier Knechte zur Seite. Trotzdem meinte —»Bucer seit 153 0, auch das Amt des Diakons sei unentbehrlich, weil es zum Wesen der Kirche gehöre, „daß die Christen zur Erhaltung der Dürftigen in ihren Versammlungen . . . zusammentragen und opfern", und daß die Diakone dann „täglich zu-

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fallende Notdurft der Christen, beide fremder und einheimischer", feststellen und nach Möglichkeit lindern sollten. Offenbar haben Bucers Diakone den Straßburger Almosenpfleger ebenso unterstützt wie die zusätzlichen Kräfte für häusliche Krankenpflege und für Spitäler, die Hackfurth vom Magistrat anforderte, nicht ohne auch an die genossenschaftliche Selbsthilfe der Zünfte zu appellieren. In den meisten Kasten- oder Armenordnungen wird dem Prediger aufgetragen, die Bereitschaft der Gemeinde zur Nächstenhilfe durch eine rechte Glaubenspredigt zu motivieren. Es kommt sogar vor, daß der Pfarrer dem Magistrat mit Predigtverweigerung droht, um die Ordnung der Sozialhilfe zu beschleunigen, ohne welche er über den Herrn Christus hinwegschreiten müsse, der vor der Kirchentür liege (so J. —»Heß in Breslau 1523, nach Stupperich 176). Neben den Einzelgaben und Stiftungen der Gemeindeglieder werden für die sozialen Aufgaben auch die Kirchengüter verwendet. Hausarmenpflege soll den Straßenbettel unnötig machen. Ausgaben für Schule und Kirche, für Gebäude wie für Personal, werden häufig aus dem gleichen,Kasten' bestritten. Neben Hilfe für Alte, Kranke, Waisen wird häufig auch die Vorsorge gegen Massennöte eingeplant, dazu Darlehen zur (Wieder-)Begründung eines Hausstandes oder einer wirtschaftlichen Existenz — echte ,Rehabilitationsmaßnahmen' - , Ausbildungshilfe u. a. m. Überall treten zwei Züge zutage: Zuerst: Aus Dankbarkeit für die Gnade des neuerkannten Evangeliums will man, „daß alles innerliche und äußerliche Vermögen der Christgläubigen zur Ehre Gottes und Liebe des Nächsten (der ebenso Christenmensch ist wie wir) nach der Ordnung . . . göttlicher Wahrheit dienen und gereichen sollen" (WA 12, 16). Sodann: Zur Verwirklichung dieses Willens wird die,weltliche' —> Obrigkeit bei ihrer Christenpflicht behaftet, eine entsprechende Ordnung in Kraft zu setzen, die wieder ihrerseits ein neues und für das reformatorische Grundkonzept von Kirchengemeinde kennzeichnendes M a ß an gemeindlicher Kooperation vorsieht: In der Inanspruchnahme der Obrigkeit als christliche Instanz und im Anspruch, die nicht ratsfähigen Schichten der Kirchengemeinde verantwortlich zu beteiligen, drückt sich eine Vision von mündiger Gemeinde aus, die nachher nicht durchgehalten werden kann. Es muß nüchtern festgestellt werden, daß die politische Obrigkeit ihrerseits, unbeschadet der glaubhaften christlichen Motivation, oft erkennen läßt, daß ihr sehr daran liegt, mit Hilfe der neuen Ordnung auch alle Kompetenzen zusammenzuhalten und jeden Versuch abzuwehren, der einen Freiraum für die kirchenamtliche Selbstentfaltung aufkommen lassen könnte, sei es im gottesdienstlichen, sei es im sozialen Bereich. Luther hatte den christlichen —»Adel und die christlichen Ratsherren aller Städte deutschen Landes an ihre kirchliche Verantwortung erinnert und konnte nachher nicht mehr erwirken, daß diese politischen Stände anerkannten, im kirchlichen Bereich nur aus christlicher Liebe (alspraecipua membra ecclesiae) mitgewirkt zu haben, „nach weltlicher Obrigkeit" aber in dieser Hinsicht keine Kompetenz zu besitzen (WA 26,197). Das landesherrliche bzw. stadträtliche —»Kirchenregiment hatte seinen Anfang genommen und sollte später mit seiner eigenen absolutistischen Entwicklung auch die christliche Sozialhilfe auf den Weg in die Säkularisation mitnehmen. 6.2. Calvinische Ansätze. Dieser Entwicklung stemmte sich das Diakoniekonzept der calvinischen Tradition stärker entgegen. Zwar unterschieden sich die oberdeutsch-schweizerischen Verhältnisse von den mittel- und niederdeutschen nur in Nuancen, so wie auch diese in Verbindung standen zu den Gedanken humanistischer Annenreform (J. L. —»Vives, De subventione pauperum, Ypem 1525). Gerade —»Zwingli erstrebt in Zürich ein Gemeinwesen, das Armen-, Schul- und Kirchenwesen gleicherweise in christlicher Verantwortung zusammenfaßt, und die Berner Ratsherren wünschen noch 1558 keinesfalls, daß die Verwaltung des Kirchengutes „der weltlichen Obrigkeit entzogen werde". Der Stadtstaat „läßt keinen Raum für ein kirchliches Amt der Diakonie" (nach Bernoulli: Amt 202). Aber schon bei —»Lambert von Avignon und dann vollends bei —»Bucers späteren Entwürfen (1536: Evangelienkommentar, 1543: Kölner Reformationsbedenken, 1550: Deregno Christi) steht das Diakonenamt neben dem des ,Bischofs' bzw. Ältesten (—•Amt), wobei

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Bucer gerade den Diakonen, denen die „Fürsorge für die Bedürftigen" anvertraut ist, eine gute Kenntnis der Gemeinde zumutet (a.a.O. 211). Von ihm übernehmen-z. T. in eigenständiger Weiterentwicklung—Johannes —>Laski in London (1549—1553) und, besonders einflußreich,—»Calvin in Genf (1541 ff) das Diakonenamt als Teil der Gemeindeleitung (Ord. eccl. art. 40ff). Calvin unterteilt dies,vierte' Amt der Diakone/diacres (nach den drei Ämtern von Hirten, Lehrern und Ältesten) in Procureurs, die das Armengut verwalten (entgegennehmen, verteilen), und mHospitaliers, die den Krankenanstalten vorstehen - in welchen außerdem zusätzlich noch Arzt, Lehrer und weitere städtische Angestellte arbeiten (vgl. auch Inst. IV,3,9). Für Frankreich zieht Calvin die Pastoren und Lehrer in ein Amt zusammen. Damit setzt sich in der reformierten Tradition am stärksten das dreifache Amt der Diener, Aufseher und Diakone durch. Besonders stark hat das Amt des Diakons in der niederländisch reformierten Kirche und ihren benachbarten deutschen Synoden nachgewirkt. Wohl ist auch Calvins Diakon in der Gefahr, der bürgerlichen Säkularisation zu erliegen, aber von seinem Konzept her soll er bei der Kelch-Austeilung des Abendmahls beteiligt sein (Inst. IV,5), wodurch er folgerichtig zur Gemeindeleitung gerechnet wird. Besonders konsequent geschieht dies in —»Frankreich. 6.3. Nachreformatorische Entwicklung. Sozialgeschichtlich betrachtet, führen die unterschiedlich ausgeführten diakonischen Impulse der reformatorischen Kirchenordnungen zu ähnlichen Ergebnissen: Die weltliche Obrigkeit nimmt sich der Sozialhilfe konsequenter an als in vergleichbaren katholischen Gebieten. Sie handelt dabei aus christlich begründeter Fürsorgepflicht, aber unabhängig von kirchlichen Autoritäten, genauer: unabhängig von gottesdienstlichen und Lehr-Autoritäten; denn im lutherischen wie im reformierten Bereich liegt die juristische Leitung der Kirche ganz oder großenteils bei der politischen Obrigkeit. Im lutherischen Umfeld verliert die theologische Lehre den sozialpolitischen Horizont bald aus dem Blick. Die Glaubenspredigt wendet sich an die,Zuhörer' als Individuen und fordert sie im günstigen Fall zu persönlich tätiger Liebe heraus. Die diakonisch-korporative Verantwortung der Gemeinde wird nicht angesprochen, denn diese ist an die (damals noch christliche) Obrigkeit delegiert, so daß die gottesdienstliche Gemeinde nicht mehr einen Ort eigenständiger sozialer Verantwortung darstellt. In dieser Konstellation kann die Vorstellung von ,Kirche' auf die Funktionen des status ecclesiasticus zusammenschrumpfen. Von diesen Funktionen her kann der Predigerstand die an sich akzeptierte Grenze zum obrigkeitlich bestellten Sozialfeld am ehesten überschreiten, indem er den status politicus auf Mißstände hinweist oder ihn, von evangelischen Grundlagen her, zu bestimmtem Tun ermuntert. Der status ecclesiasticus ist also in diesem Schema hinsichtlich diakonisch-korporativer Verantwortung auf eine Art prophetischer Rede angewiesen. Und so entspricht es dieser traditionellen Konstellation, wenn auch für die Gegenwart noch die Vorstellung herrscht, ,die Kirche' treibe ,Gesellschaftsdiakonie', wenn sie sich mit,Worten' an die Öffentlichkeit wendet. In Wirklichkeit handelt es sich da um die Anrede eines auf synodaler Basis erweiterten Lehramtes an den auf parlamentarischer Basis erweiterten status politicus. Die Verwendung des Begriffs ,Gesellschaftsdiakonie' aber kann in diesem Fall dazu führen, daß sich die Kirche über ihre immer noch nicht überwundene Unfähigkeit hinwegtäuscht, den Übertritt aus dem Genus der Rede in das Genus diakonischkorporativen Seins und Tuns zu vollziehen. Obwohl die praktisch-politischen Verhältnisse im Einflußbereich der Theologie Calvins denen in den lutherischen Territorien ganz ähnlich sind, bleibt in ihm wenigstens das prinzipielle Bewußtsein für die korporative gemeindliche Verantwortung im sozialen Feld erhalten. Zahlreiche calvinische Gemeinden zwischen Frankreich und Nordwestdeutschland lebten ,unter dem Kreuz' - d. h. unter andersgläubiger Obrigkeit oder gar im Untergrund. Zu Synoden verbunden, stärkten sie die Erfahrung mit kircheneigenen Leitungsgremien. Z u diesen rechneten auf Gemeindeebene z. B. im reformierten Holland regelmäßig auch die ,Diakene', die namens ihrer Gemeinde soziale Einrichtungen verwalteten. Die Einnahmen dieser,Diakonie' sind erstaunlich hoch. Neben Armenpflege und Stiftungen für Kranke oder Waisen etc. entstehen die

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beachtlichen ,Hofjes' (Altenwohnheime, die in der Nachfolge der Beginenhöfe stehen und mancherorts noch heute zu sehen sind). Der Bettel wird durch Arbeitsbeschaffung bekämpft (van Dongen: Amt 2 . 1 0 0 ) . Den Diakonen stehen Diakonissen zur Seite, bei den einzelnen Anstalten finden sich neben den „Regenten" auch „Regentessen". Sie beaufsichtigen namentlich den inneren Haushalt, die Küche und die Wäsche. Für den Besuch der Kranken sind in allen Gemeinden sog. Siechentröster angestellt, hauptsächlich für seelsorgerlichen Dienst; „ w o sie" aber „ a u f Mangel und N o t stoßen", sagen sie „dieses den Diakonen oder Diakonissen a n " . „Die Diakonie in Amsterdam hatte ihre eigene Brauerei und Bäckerei, aus der auf Anweisung der Diakone den Armen das Nötige verabfolgt wurde. Wiederverkaufen des mit dem Zeichen der Diakonie versehenen Brotes wurde streng bestraft" (Uhlhorn 111,160 f). Wichtig ist auch Benthems Anmerkung, daß die lutherischen Gemeinden Hollands die gleiche ausgebildete Diakonie besitzen. „ N u r Diakonissen kennen sie nicht". Daraus folgt der richtige Schluß, daß diese Diakonie-Verfassung sich prinzipiell auch in lutherischen Kirchen anwenden ließe (Uhlhorn, a . a . O . ) . ,Diakonie'-Kollegien haben sich z. T. bis heute erhalten (so in Emden und Bremen), und haben es häufig in respektgebietender Weise verstanden, Honoratioren (denn solche sind es, die man in jenen Gruppengemälden des Amsterdamer Reichsmuseums erkennt, welche uns Diakonie-Vorstände des 17. Jh. zeigen) in den Dienst christlicher Gemeindeverantwortung einzubeziehen. Hier wurde der Grund gelegt für ein neues nichtprofessionelles Amtsverständnis.

6.4. Freikirchliche Gruppierungen. Ganz gewiß ist in großkirchlichen Darstellungen der Diakoniegeschichte die gemeindliche Sozialhilfe der separatistischen christlichen Randgruppen zu kurz gekommen (—»Separatisten/Separatismus). Bei deren Tendenz zur Absonderung von der ,Welt', mit welcher sich die Großkirchen offensichtlich eingelassen hatten, war der soziale Zusammenhalt schon aus soziologischen Ursachen gegeben. Dazu kamen theologische Motive, wie freiwillige Mitgliedschaft, Sichtbarkeit der Gemeinde, Erfahrung der Wiedergeburt, Nachfolgebereitschaft. Sofern Lukas Hackfurth (s. o.) den —»Täufern nahestand und Martin Bucer sich durch die Kritik der Täufer am Territorialkirchentum gedrängt gesehen hatte, auch die diakonische Wirklichkeit der reformatorischen Ordnungen nachdrücklicher zu entwickeln, kann davon ausgegangen werden, daß es bei den meisten dieser Gruppen auch Diakonie im primären Sinne innergemeindlich organisierter, mit der Gemeindeleitung verbundener Sozialhilfe gegeben hat. Viele dieser Randgruppen sind vom 16. Jh. an zu immer neuen Wanderungen gezwungen worden. Manche sind dabei mit Versuchen der Gütergemeinschaft hervorgetreten wie die —»Hutterischen Brüder oder die Wetterauer Dunkers in Pennsylvania. Auch solche Flüchtlingsgemeinden, die sich dogmatisch zu den Großkirchen rechnen lassen, weisen eine überdurchschnittlich entwickelte Diakonie auf (besonders wichtig die Ordnungen der Flüchtlingsgemeinden Laskis, s.o.); und da von manchen —>Freikirchen, wie z.B. den Mennoniten (—»Menno Simons/Mennoniten), später diakonische Impulse auf die Territorialkirchen eingewirkt haben, ist deren Einbeziehung in die Diakoniegeschichte als Desiderat anzumelden. Nach der Konsolidierung der konfessionellen Verhältnisse im 16. Jh. haben sich die Sozialordnungen der reformatorischen Gebiete immer stärker als ein Instrument obrigkeitlicher Handhabung profiliert, das immer größeren Belastungen standhalten mußte. Ubernachteten z. B. 1530 in Straßburgs ,Elenden'-Herberge 23 545 nichtseßhafte Arbeitslose, so waren es 56 Jahre später 5 8 5 6 1 . Schließlich brachte der —»Dreißigjährige Krieg fast alle geordnete Sozialhilfe zum Erliegen, um nach 1648 erst recht an die stark ausgewaschenen Ordnungen des 16. Jh. — mit viel weniger Glaubensmotivation und desto mehr behördlicher Routine - wieder anzuknüpfen. 7. Nachtridentinischer

Katholizismus

Auf katholischer Seite aber hatte man inzwischen einen Erneuerungsprozeß hinter sich: Auch katholische Städte, wie Ypern 1525 (Vives), hatten versucht, ihr Armenwesen in ähnlichem Sinn wie Nürnberg (1522) zu reformieren. Durch Einsprüche des Klerus mußte die Freizügigkeit des Bettels allerdings stärker berücksichtigt werden. Reformatorische Grundsätze der Gemeindearmenpflege konnten sich auch in humanistischem Gewand nicht durchsetzen. Das —»Tridentinum hatte seinerseits keinen Versuch gemacht, die Gemeindearmenpflege zu gestalten. Auch sein Versuch, die Spitäler wieder unter bischöflicher Leitung zu

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verkirchlichen, hatte keinen eigentlichen Erfolg. Doch wurde in Spanien und Italien das Spitalwesen durch charismatische Persönlichkeiten und bruderschaftliche Bewegungen neu belebt: Johann von Gott (gest. 1 5 5 0 ) gründete nach einem Bekehrungserlebnis und einer damit verbundenen enthusiastischen Periode den Orden der Barmherzigen Brüder (—»Ordenswesen), die eine neue Epoche der Spitalpflege einleiteten. Ein genialer Organisator der - im Sinne des Tridentinums - bischöflich geleiteten Hospital- und Armenpflege erwuchs der Mailänder Kirchenprovinz in ihrem Erzbischof Carlo —»Borromeo. Mit dem Gründer der Oratorianer, Filippo —»Neri, befreundet, empfing er mit erwecklich-missionarischen Impulsen auch Anstöße für caritative Tätigkeit. Seine nachhaltigste Wirkung übte er in der Hilfe für verwahrloste oder gefährdete (weibliche) Jugend aus, der er, besonders in Anstalten des von ihm zur Blüte gebrachten Ordens der —»Ursulinen, Ausbildung zuteil werden ließ. Sowohl seine Formen anstaltlicher Jugendhilfe - gemeinsames Leben und Gemeinschaftskleidung - als auch die Einbeziehung eines weiblichen Ordens in den sozial-erzieherischen Dienst waren zukunftsweisend. Aber auch im Armen- und Bettelwesen seiner Kirchenprovinz und während der Pestepidemie 1576/77 gelang es ihm, durchgreifend zu helfen. Nach seinem Tode ging diese .offene' Sozialhilfe freilich wieder ein. Auch —»Vinzenz von Paul geht es um die Erneuerung der Kirche aus dem Geiste des Konzils von Trient (Deuringer 4 3 8 ff). E r prägt ebenso für die spätere evangelische Diakonie-Erneuerung deren Verbindung mit der Volksmission vor. Dazu k o m m t , daß er vollends zum Wieder-,Entdecker' des weiblichen Diakonats wird, wenn auch noch nicht in dessen voller kirchenamtlicher F o r m . Vinzenz beginnt an der Basis seiner Pfarrgemeinde: So sammelt er 1617 die „servantes des pauvres" seiner Dorfpfarrei unter einer ehrenamtlichen Priorin und einer Schatzmeisterin zur regelmäßigen Zusammenarbeit in einer Bruderschaft. Später kommen auch „Confréries de la Charité" für Männer, die für gesunde Arme sorgen und sich um Ausbildungshilfe oder Gefangenenfürsorge kümmern. 1634 vereinigt Vinzenz eine gesellschaftliche Elite von Damen in einer „Compagnie des Dames de l'Hôtel-Dieu" zu persönlicher Hilfeleistung im großen Pariser Hospital. Da die Betreuung der Kranken durch die Damen nur als eine Art Sozialberatung und Seelsorge gelten kann, stellen die Confréries Dienstmädchen zur eigentlichen Krankenpflege ein. Vinzenz schließt sie zum Institut der „Filles de la Charité" zusammen. Er verzichtet darauf, aus dieser congregatio barmherziger Schwestern einen Orden zu machen, stellt auch das lebenslängliche Gelübde zurück zugunsten einer zunächst jeweils einjährigen Verpflichtung und beläßt den Filles ihre (einheitliche) ländliche Tracht (also keine ,Ordenskleidung'). Um so fester verbindet er die Schwesternschaft in bestimmten Lebensregein und Dienstordnungen, wobei ihm in der verwitweten Louise von Marillac ( 1 5 9 1 - 1 6 6 0 ) eine begnadete Mitarbeiterin, .Mutter' und Hausoberin zugewachsen war. Bekannt als .Vinzentinerinnen' verbreiten sich die Barmherzigen Schwestern zusammen mit den Borromäerinnen und den Clemens-Schwestern über ganz Europa und geben im 18. und 19. Jh. Anlaß zu zahlreichen ähnlichen Bildungen. Auch in den evangelischen Kirchen sollte ihr Beispiel weitreichende Folgen haben. Die Wirksamkeit von Vinzenz als aumônier général der Galeeren (besonders seine Mitarbeiter auf diesem Gebiet drängten die Gefangenen hart zur Konversion), als Sprecher gegen die Teilnahme Frankreichs im Dreißigjährigen Krieg, bei der Bewältigung der Bettlerplage in Paris (man schätzte 4 0 0 0 0 Bettler auf 2 0 0 0 0 0 Einwohner: Gründung des exemplarisch kleinen ,Hôpital du N o m de Jésus' 1 6 5 3 und, mit Hilfe Ludwigs X I V . , der Massenherberge .Hôpital général' 1 6 5 6 ) und bei der Linderung der Hungersnot sowie seine Sorge für Findelkinder: Das alles gehört in eine Geschichte der Diakonie nur zur weiteren Kennzeichnung dieser charismatischen Persönlichkeit, die als solche und als Typus für die eigentlich diakonischen Entwicklungen der Neuzeit wichtig geworden ist.

8. Aufklärung

und

Pietismus

Seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges lassen sich bürgerschaftlich-philanthropisch motivierte und christlich begründete Sozialhilfe deutlicher unterscheiden, wiewohl die erste nicht unchristlich und die zweite keineswegs unpatriotisch-separatistisch sein will. Auch die Humanitätsidee der —»Aufklärung meint in ihrem sentimentalen oder konstruktivistischen Optimismus, fortschrittlichen Vorstellungen des christlichen Glaubens zu entsprechen. Um s o schwerer ist es, die Diakoniegeschichte dieser Epoche so zu schreiben, daß sie weder zur

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allgemeinen Sozial- und Ideengeschichte wird noch vom sozialen Kontext der Zeit abgelöst erscheint. Schon Ph. J . —>Spener kann sich eine Gemeindearmenpflege nur als eine Kombination von obrigkeitlicher Anordnung und Mitwirkung des,Hausstandes' denken, wobei die Liebe „Antreiberin" sein (der christliche Glaube also die Motivation abgeben) muß. Allerdings kennt Spener die geordnete Gemeinde des Calvinismus, in welcher „die eigentlichen Diacon i " es mit der Armenpflege allein zu tun haben. Der Gedanke an genossenschaftliche Selbsthilfe bei freiwilliger Selbstbesteuerung taucht ebenfalls auf. W i e andere Prediger seiner Zeit, so arbeitet selbstverständlich auch Spener an Vorschlägen mit, die die „Versorgung der Armen und Abschaffung des Betteins" — etwa durch die Errichtung eines Arbeitshauses — zum Ziele haben (vgl. Quellen II, 9 4 ff). Epochemachend aber war für die Diakoniegeschichte erst die zweite große Gestalt des deutschen Pietismus: A . H . —»Francke geht es nicht um soziale Nothilfe, sondern um Erweckung und Bekehrung, die durch den Nachweis von „segensvollen Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen . . . Gottes" im eigenen Erleben auch für andere eindrücklich werden kann „zur Beschämung des Unglaubens und Stärkung des Glaubens". Sodann sollen „alle Christen . . . in derselben Erniedrigung, darein sich Christus gegeben hat, da er sich allen zum Knecht gemacht, sich auch allen Menschen zu Knechten machen und nicht das ihre, sondern das, was ihren Nächsten nützlich und ersprießlich ist, suchen" (Renkewitz 2 9 1 ff). Im Horizont solcher Reformgedanken, „die eine Umgestaltung der gesamten Lebensverhältnisse herbeiführen" wollen (ebd. 3 3 8 ) , gründet Francke 1 6 9 5 in Glaucha bei Halle seine Armenschule, aus welcher schrittweise ein großer, vielfach verflochtener Organismus von Erziehungsanstalten hervorgeht (Waisenhaus, Pädagogium etc.) mit Wirtschaftsbetrieben (Buchhandlung, Apotheke, Verlag und Druckerei, Handwerkstätten, Landwirtschaft). Schon 1 7 0 6 unterweisen drei Inspektoren und 1 8 0 Lehrer 1 0 9 2 Schüler aus ganz Europa (von England bis zur Türkei und Moskau), und als Francke 1 7 2 7 starb, waren es mehr als 2 2 0 0 Kinder, darunter 1 3 4 Waisen; das Erziehungspersonal aber 1 6 7 Lehrer, 8 Lehrerinnen, 8 Inspektoren und etwa 2 5 0 Studenten, die für ihre praktische Mithilfe (täglich zwei Stunden Unterricht) einen Freitisch in den Anstalten genossen.

Francke hatte in der Armenschule gelernt, die Hieronymus Paßmann in Hamburg 1 6 8 3 eröffnet hatte und die ihrerseits von holländischen Armenschulen inspiriert worden war. Im Unterschied zu seinen Vorbildern aber war Franckes Anstalt ein strategisches Unternehmen geworden, welches, ohne eigentliche Bindung an die Gemeinde, nicht nur „für das ganze L a n d " als „Baumschule" wirken wollte (und als solches wurde sie am preußischen Hofe ebenso geschätzt wie in Petersburg), sondern „eine sehr große und weit und breit sich erstreckende Verbesserung des gemeinen Wesens . . . in Europa und allen übrigen Teilen der W e l t " zu erreichen wünschte (Renkewitz 2 9 5 . 3 0 7 ) . In dieser Zielsetzung war es einerseits der Aufklärung sehr verwandt, zumal es der Obrigkeit „getreue und erwünschte Untertan e n " zu erziehen versprach, durch welche „noch viele andere von einem strafbaren Leben werden abgeführt werden". Andererseits verband Franckes Wirken die Gleichgesinnten über Landes- und Kirchengrenzen hinweg zu neuem Aufbruch christlicher Weltgestaltung aus Glaubenszuversicht in arbeitsamer Dienstbereitschaft. Sein Beispiel fand viel Nachahmung und wirkte besonders auf die Lebensgestaltung höherer Stände. Ganz anders fügt sich die Herrnhuter Brüdergemeine (—>Brüderunität/Brüdergemeine) des Grafen —>Zinzendorf in die Geschichte der Diakonie-Erneuerung ein, obwohl sie, stärker noch als Franckes Anstaltswesen, aus dem tausendjährigen Schema der Territorialkirchlichkeit ausbricht. Zunächst von Francke herkommend, erhält die Vorstellung einer christlichen Freiwilligkeitsgemeinde immer mehr Gewicht. Nachdem sich pietistische Gruppen Mährischer Brüder auf den Gütern des Grafen niederlassen, wächst daraus eine „Anstalt zur Gemeinschaft" zusammen, die als „herzliche Vereinigung der Kinder Gottes in der W e l t " , als „Liebesvereinigung" ein reiches, geordnetes Gemeindeleben mit brüderlicher Zuchtübung („apostolisches Gemein-Gericht"!), Krankenpflege, Alters- und Invalidenversorgung, Wirtschaftsbetrieben usw. unterhält. Die „Republik Gottes in Herrnhut" kennt auch entsprechende unbesoldete Gemeindeämter (Älteste, Helfer, Diakone, Lehrer, Ermahner,

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Krankenwärter u.a.) — jeweils mit deren weiblicher Entsprechung für die,Schwestern', also für die weiblichen Gemeindeglieder. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. war ,Armenpflege' durchaus ein modisches Thema für aufgeklärte ,moralische Wochenschriften' geworden. Dem damit verbundenen optimistischen Erziehungsglauben stand aber wieder einmal die überhandnehmende Bettlerplage gegenüber, die besonders in katholischen Gebieten unlösbar schien. So zählte man 1780 in München bei 37150 Einwohnern 4275 Almosenempfänger und privilegierte Bettler'. In Köln waren unter 4 0 0 0 0 Einwohnern 10000 bis 11000 Bettler (Uhlhorn III, 279). Da die Obrigkeit mit der sozialen Not nicht fertig wird, die Kirche aber keine soziale Dimension mehr besitzt, beginnen nun sog. patriotische Gesellschaften die kommunale Armenhilfe zu organisieren: Das System der Hamburger Armenpflege von 1788 wurde auch von Napoleon I. als Vorbild anerkannt. Ganz besonderes Interesse wendet die aufgeklärte Gesellschaft dem armen Kinde zu. —»Pestalozzi ist ein Symbol für den besten Geist der Zeit. Er steht der Kirche nicht fern, aber in seinen sozialpädagogischen Versuchen ist er unabhängig von ihr. Herrnhut und Aufklärung berühren sich beim „ersten lutherischen Sozialreformer und Erzieher hohen Ranges" (H. Hermelink) J.F. —»Oberlin, dessen fast 60-jähriges Wirken als Dorfpfarrer im Steintal (Vogesen) nicht nur die Kleinkinderschule (mit Louise Scheppler) entwickelte, sondern auch Armenhilfe, Diakonatserneuerung und Wirtschaftsplanung auf der Basis seiner armen Wohn- und Kirchengemeinde bewirkte: ein überzeugendes Beispiel diakonischer Möglichkeiten an der gemeindlichen Basis (vgl. Psczolla). 9. Erweckung

und

Vereins-„Diakonie"

Hatte die - -»Französische Revolution den Gedanken direkten staatlichen Eingreifens in die soziale Wohlfahrt mit bürgerschaftlicher Initiative verbunden, so fanden in den Freiheitskriegen auf deutscher Seite romantische Erneuerungshoffnungen und christliche —»Erweckung zusammen. Der Verein als neue Form erlaubter Vergemeinschaftung tritt immer häufiger auch unter ein christliches Vorzeichen, um jene zu sammeln, denen das herkömmliche kirchliche Angebot, Predigthörer zu sein, nicht genügt, weil sie angesichts der ins Auge springenden Not gemeinsam helfen wollen (—>Vereinswesen). Die christlichen Vereine werden auf dem Hintergrund der weiter bestehenden territorialen Predigtkirche so etwas wie Ersatz- oder doch Zusatzgemeinden. Die Kombination von individuellen Anstalts-Initiativen und erwecklichen Vereinsbildungen entspricht dann weithin der Zusammengehörigkeit von Charisma und Gemeinde. Bis in die 30er Jahre des 19. Jh. herrschen die Einzelinitiativen vor. Die Verwahrlosung von Kindern, die in den Kriegen elternlos geworden waren, veranlaßte den Literaten Johannes Falk (1768—1826) zur Gründung einer „Gesellschaft der Freunde in der N o t " , die den Kindern im Weimarer „Lutherhof" Schule, handwerkliche Berufsausbildung, fröhlichen Glauben und Beheimatung bietet. Falks überzeugendes Beispiel eines weltoffenen Bibelglaubens will seinen Zöglingen das Christentum „einleben und einlieben". Ihm ähnlich, aber von der Erweckungsbewegung der Basier Christentumsgesellschaft (—»Basel, Christentumsgesellschaft) getragen, begründet Heinrich Zeller 1820 in Beuggen seine Ausbildungsanstalt für Armenschullehrer als erstes süddeutsches ,Rettungshaus'. Sein pädagogisches Konzept, das in christlicher Anthropologie wurzelt (der Mensch ist von Natur aus Sünder), stellt er Pestalozzi offen entgegen. Auch die Hamburgische Senatorentochter Amalie Sieveking (1794-1859) beginnt Erziehungsarbeit, plant dann eine evangelische barmherzige Schwesternschaft und gründet 1832 schließlich den weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege, aus dem sie sich später nicht mehr zu Gunsten von Fliedners Diakonissenamt (s.u.) lösen kann. Nicht nur A. Sieveking hoffte auf die Errichtung evangelischer Schwesternschaften. Noch während der napoleonischen Zeit waren Vinzentinerinnen und die ihnen verwandten Borromäerinnen aus Frankreich auch nach Deutschland gekommen und hatten neue Pflegegenossenschaften gegründet (Clemens-Schwestern nach Vinzenz' Vorbild in Münster, begründet 1808 von dem Kapitelsvikar Clemens August Freiherr von Droste zu

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Vischering, später Erzbischof in Köln, gest. 1845). Die Nachahmung ihres Beispiels unter Protestanten und Orthodoxen wurde zwischen London und Petersburg erörtert und u. a. auch vom Freiherrn von Stein für evangelische Frauen erwogen - zugleich aber mit der Förderung synodaler Einrichtungen nach dem Beispiel Calvins kombiniert. Die Elemente von Demokratisierung (seif government), die Stein im Bereich der Städteordnung nicht mehr hatte durchsetzen können, trachtete er bis zu seinem Tode (1831) im Rahmen der Kirche zu stärken. 1820 versuchte F. Klönne, ein aus den Freiheitskriegen zurückgekehrter Offizier, jetzt Pfarrer am Niederrhein in der Tradition der reformierten Synoden unter dem Kreuz, die Erfahrung der patriotischen Frauenvereine für „das Wiederaufleben der Diaconissinnen der altchristlichen Kirche" fruchtbar zu machen. Läuft sich seine ganz als Gemeindediakonie konzipierte Initiative auch in den Hecken der inzwischen etablierten —»Restauration fest, so findet sich doch ein genialer Vollstrecker, der freilich das gemeindlich-synodale Leitungselement zu Gunsten von leichter durchsetzbaren Elementen zurücktreten läßt: Der Kaiserswerther Pfarrer Th. —»Fliedner, der schon mit seiner „Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft" 1826 in den Umkreis evangelistisch-sozialer Aufgaben und in Kontakt mit dem Freiherrn von Stein getreten war, hatte 1833 mit dem Versuch begonnen, weibliche Strafentlassene zu resozialisieren (,Asyl'). Die Gefängnisarbeit der englischen Quäkerin Elisabeth Fry (1780-1845) war für ihn wegweisend gewesen. In Holland waren ihm bei den Mennoniten (s.o.) Diakonissen aufgefallen. Nun verband er, im Widerstreit verschiedener Pläne für weibliche Pflegegenossenschaften, das Vorbild der Barmherzigen Schwestern mit Klönnes Diakonissennamen, fügte beides in einen straff organisierten anstaltlichen Rahmen, insbesondere in das,Mutterhaus'; gewann für seine Neuschöpfung die Protektion des Hofes und versicherte sich der „ O b h u t " der beiden zuständigen Synoden von Rheinland und Westfalen. Prägend wurde für die rasche Ausbreitung der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie, daß die Diakonissen schon 1836 ein Krankenhaus übernommen hatten. Als .Diakonisse' erhielt die unverheiratete Frau nicht zuletzt die qualifizierte Ausbildung zu einem Beruf, in welchem sie — die Tracht mit der Haube deutet es an — der verheirateten Bürgersfrau sozial gleichgestellt war. Zur Krankenpflege traten auch Erziehungsberufe. Die Umstellung von der ursprünglichen Gehaltsregelung auf ein ,Taschengeld' verstärkte das Gewicht, das der ,Hausvorstand' des Mutterhauses (,Direktor' und ,Vorsteherin'; heute ,Rektor' und ,Oberin') durch das ,Sendungsprinzip' bereits besaß. Daß die ,Mutterhausdiakonie' sich so rasch durchsetzte- 1837 Berlin, 1841 Paris und Berlin, 1842 Straßburg und St. Loup, 1844 Bern, Utrecht, Dresden, N o n n e n w e i e r , . . . 1849 Pittsburgh (USA) - verlieh ihren Trägern Sicherheit; sie sahen in ihrer Lösung die gottgewollte Form für die Frauendiakonie der Moderne. Abgewandelte Ansätze (Härter/Straßburg, —>Löhe/Neuendettelsau u. a.) mußten im ganzen auf Fliedners Linie einschwenken. 1869 schloß man sich zur übernationalen,Kaiserswerther Generalkonferenz' zusammen. In ihr waren 1886 beim 50. Jubiläum 57 Mutterhäuser mit 6366 Schwestern in 600 Krankenhäusern und 700 Gemeindepflegestationen verbunden; 1926 waren es 106 Mutterhäuser mit 28 900 Schwestern. Reformversuche führten kaum zu Erfolgen: Friedrich Zimmer mußte 1894 sein Konzept eines freieren genossenschaftlichen Pflegeverbandes für gebildete Frauen außerhalb der Kaiserswerther Gemeinschaft verwirklichen und durfte auch den Diakonissennamen nicht beanspruchen: Die Mitglieder seines „Evangelischen Diakonievereins", die mit verwandten Einrichtungen später den Zehlendorfer Verband bildeten, heißen ,Diakonieschwestern'. Ähnlich ging es der Schlesischen Synodaldiakonie von Pastor Paul Richter, die eine stärkere Bindung zur gemeindlichen Eigenverantwortung suchte. — Seit den 50er Jahren des 20. Jh. aber spricht man von einer,Krise der Mutterhausdiakonie' (1955: 91 Mutterhäuser mit 33 000 Schwestern). Schon vorher mußte man in Deutschland die unter dem Namen ,Verbandsschwesternschaft' angegliederten ehemaligen ,Hilfsschwestern' als „zweite Säule" der Mutterhausdiakonie akzeptieren. In Skandinavien, den Niederlanden und Frankreich zeigten sich die Diakonissen selbst freier, zwischen wesentlichen und geschichtlich zufälligen Merkmalen ihrer Lebensform zu unterscheiden. So legten sie (mit Unterschieden) Wert auf die Bindung an das Amt in der Gemeinde und auf die eigenständige, gemeinsame Ausbildung (Skandinavien) oder auf die

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kommunitären Bindungen (Frankreich), hielten aber Abwandlungen in der Frage des Gehalts, der Ehe, der Tracht usw. für möglich (Skandinavien). Heute sind alle diese Schwesternschaften oder,Diakonissen-Gemeinschaften' im ökumenischen Bund „Diaconia" verbunden (gegründet 1946 ohne deutsche Beteiligung) und empfangen Impulse von —»jungen Kirchen und kommunitären Erneuerungsbewegungen, müssen aber auch akzeptieren, daß bestimmte Merkmale der Kaiserswerther Gründung wohl „für den Industrialismus" des 19. Jh. der „Stein der Weisen" waren (so K. Gutzkow 1853 über das evangelische Anstaltswesen), heute aber auch neue Antworten auf die diakonische und koinonische Herausforderung erwartet werden. Zu den zahlreichen Persönlichkeiten, die nach den Freiheitskriegen ,Rettungshäuser' gründen (s. o.), zählt in Hamburg auch der Kandidat J. H. —>Wichern. Nach den Einsichten, die er als Oberhelfer eines Sonntagsschulvereins über den Zusammenhang von Armut und sittlicher Verwahrlosung gewonnen hat, eröffnet er 1833 das,Rauhe Haus' für verwahrloste Jungen. Wicherns Bedeutung gründet zuerst auf der von ihm entwickelten Sozialpädagogik aus Vergebung, Vertrauen, Freiheit und Zucht und auf dem damit zusammenhängenden Familienprinzip, für dessen Entwicklung er in einer ,Gehilfenanstalt' ,Brüder' heranbildet. Diese Gehilfenanstalt bringt Wichern in Zusammenhang mit der Erneuerung des Diakonats. Denn seit er nach 1848 wiederholt das Verhältnis zwischen seinen sozialen und seinen ekklesiologisch-theologischen Vorstellungen erläutern muß, kann er —genau wie Fliedner, der 1844 eine Pastoralgehilfenanstalt gegründet hatte - vorschlagen, künftige Mitarbeiter eines erst neu von der Kirche einzurichtenden Diakonenamtes nach dem Muster seiner Gehilfenanstalt auszubilden. Wicherns und Fliedners Gutachten die Diakonie und den Diakonat betreffend (für die Monbijou-Konferenz von 1856 geschrieben) stellen ein bis heute beachtenswertes, nicht eingelöstes Programm dar.1 Statt dessen entstanden in der Nachfolge beider Gründungen weitere Brüderhäuser, deren Angehörige sich, in Verkürzung von Wicherns Gedanken, selbst den Diakonentitel als Berufsbezeichnung beilegten und zu „Bruderschaften' verbanden. Auch diese Entwicklung strahlte über Deutschlands Grenzen aus, etwa nach Holland, wo der Repräsentant des ,Reveil', O. Heldring, mit seiner Rettungsanstalt auch Anstalts-,Diakone' (im Unterschied zu den ,Diakenen' der Gemeinden) ausbildete. Die brüderschaftlich organisierten deutschen ,Diakone' haben sich seit 1913 zur „Deutschen Diakonenschaft" (,DD') verbunden, in welcher während der letzten Jahre namens der rund 6000 Mitglieder ein intensives und lebhaftes Gespräch über den eigenen Standort in der Kirche im Gange ist. Dies Gespräch hat an Niveau und ökumenischer Bedeutung gewonnen, seit es einer katholischen Diakonatsbewegung, die nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland zu wirken begann, gelungen ist, sich mit starker theologischer Hilfe in der Römischen Kirche begrenzt durchzusetzen (—>Vatikanum II). Den katholischen Partnern geht es um die volle Erneuerung des seit 1000 Jahren in ihrer Kirche zur priesterlichen Durchgangsweihe verkümmerten Diakonenamtes zu einem lebenslangen kirchlichen Auftrag eigener Art. Erfahrungen, die die römische Weltkirche mit dieser Erneuerung macht, werden im Internationalen Diakonatszentrum (Freiburg i.Br.) zusammengefaßt und verarbeitet. Zwischen dem IDZ und der DD bestehen befruchtende Verbindungen. Wicherns durchschlagendste Wirkung geht vom Wittenberger Kirchentag aus, wo er 1848 die Gründung des „Centrai-Ausschusses für die Innere Mission" (CA) durchzusetzen vermag. 1 8 4 9 erscheint seine berühmte „Denkschrift an die deutsche Nation": Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche (vgl. die Einführung von Karl Janssen: Wichern, Ausgew. Schriften Gütersloh, III 1962, 1 3 5 - 1 4 5 ) . Wichern vertritt die innere Mission als Erneuerungsarbeit, die angesichts der massenhaften Säkularisierung nicht auf Wohltätigkeit beschränkt sein kann, die die Grenzen der Äußeren Mission, der Konfession und des Amtes respektiert und mit der Zielsetzung —> Volkskirche als freies Laienwerk eine Sozialreform anstrebt, bei der dem Staat die Beseitigung des materiellen Pauperismus zugewiesen wird.

Man kann im Konzept für die—»Innere Mission drei Aspekte unterscheiden: Erstens geht es um die „Wandlung der Kirche aus einer obrigkeitlichen Anstalt in eine brüderliche Ge-

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meinschaft". Innere Mission ist als solche kein Diakonie-Ersatz, sondern Kirchenerneuerung; es geht um erweckende Evangelisation aus „toter" Kirchlichkeit, um Mission nach innen. Zweitens gehört zu solchem Erwachen das Entdecken des geistlichen und sozialen Notstandes im ganzen Volk. „Die rettende Liebe" wird gebraucht. Sie muß der Kirche „das große Werkzeug werden, womit sie die Tatsache des Glaubens erweist". Schließlich geht es drittens um den endlichen Zusammenschluß der kaum noch überblickbaren Einzelinitiativen, Anstalten und Vereine, die im Sinne dieser,inneren Mission' damals schon tätig waren. Seinen eigentlichen Erfolg hat Wichern (nur) unter diesem dritten Aspekt errungen. Mit großer Organisationsgabe baut er Landesvereine und Fachverbände auf und entwickelt eine überaus wirksame Öffentlichkeitsarbeit (Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause schon seit 1844). Der ,CA' war zugleich die erste faktische Vorwegnahme des „Föderalistischen Verbunds deutscher evangelischer Kirchen". Von ihm aus begann auch die Einwirkung der Kirchen auf die staatliche Sozialgesetzgebung, wobei die Kompetenz dazu natürlich nur auf der Erfahrung eigener vereinskirchlicher Praxis beruhen konnte. Hinsichtlich einer Gefängnisreform engagierte sich Wichern mit seinen ,Gehilfen' seit 1857 ganz direkt, freilich ohne den gewünschten Erfolg. Sein Versuch, in Verbindung mit dem Sozialpolitiker V.A. Huber ( 1 8 0 0 - 1 8 6 9 ) genossenschaftliche Selbsthilfe der Hilfsbedürftigen in Gang zu setzen, konnte sich nicht als Alternative gegen sozialistisch-kommunistische Konzepte durchsetzen und blieb späterer Wiedererwägung vorbehalten (vgl. Gerstenmaier 467ff). Dagegen floß in die Bismarck'sche Sozialgesetzgebung 1 8 8 3 - 1 8 8 9 manches ein, was im Mitarbeiterkreis Wicherns und in Zusammenarbeit mit den ,Kathedersozialisten' entwickelt worden war. Die Mitarbeit freier Wohlfahrtsverbände — darunter die entsprechenden Zusammenschlüsse der christlichen bzw. kirchlichen Einrichtungen für soziale Hilfe, etwa der ,CA' und seine Nachfolgeorganisationen — gehört in Deutschland seither zum System des Wohlfahrtsstaates'. 1921 wurde dies System durch den Zusammenschluß aller kirchlich angelehnten und nichtkirchlichen freien Wohlfahrtsverbände unterbaut (,Liga') und fand nach dem 2. Weltkrieg im Bundessozialhilfegesetz bzw. Jugendwohlfahrtsgesetz (1961 ff) seine Bekräftigung. Die katholische Kirche, in Deutschland seit 1897 durch den Deutschen Caritasverband vertreten, hat als theologische Legitimation für die sozialpolitische Zusammenarbeit mit dem Staat das ,Subsidiaritätsprinzip' entwickelt, dessen Übernahme für evangelische Theologie weniger wegen seiner Aussage als wegen seiner Ableitung und Begründung schwierig erscheint. Der konservative holländische Calvinist Abraham Kuyper (1837—1920) hat dafür das Prinzip der ,Souvereiniteit in eigen Kring' postuliert. In beiden Fällen wird der kleineren oder näheren Gemeinschaft mit ihrer unmittelbaren Pflicht zu helfen auch das nähere Recht dazu eingeräumt, woraus für die umfassendere Gemeinschaft des Staates die Konsequenz erwächst, die kleinere Gemeinschaft zu stützen (subsidium afferre). In beiden Fällen aber besteht die dem Staat zugemutete Pflicht und Chance der Kooperation mit bestimmten Gruppen seiner Bürger auch darin, daß diese sich wirklich als Träger einer näheren Hilfsgemeinschaft erweisen und unter gemeinsamen Wertanschauungen auch die entsprechende Gemeinschaftsdichte und Initiativkraft einbringen, die sich der staatlich verfaßten Gesamtgesellschaft einzuordnen vermag. Neben Wichern und auch nachher entwickelten sich solche Initiativen hauptsächlich aus der Gemeinschaftsdichte erweckter Kreise. Um W. —»Löhe entstand im fränkischen Neuendettelsau ein Kranz von Anstalten diakonischer Hilfe, die im Grunde alle auf seine 1848 gefaßte Meinung zurückgingen, die Kirche müsse sich nun, vom Staat abgekoppelt, aus den besseren unter ihren Gliedern sammeln, um unter presbyterial-diakonaler Verfassung ein „apostolisches Leben" neu zu beginnen. F. von —»Bodelschwingh hatte als Pfarrer in Paris schon soziale und kreatürliche Not erfahren, bevor er in Bethel bei Bielefeld eine Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische übernahm, aus der, mit Hilfe eines Mutterhauses und eines Brüderhauses, eine Stadt der Barmherzigkeit entstand, die sich auch beispielhaft dem sozialpolitischen Problem der Wanderarbeiter zuwandte: Unter der Losung „Arbeit statt Almosen" entstand die erste Arbeiterkolonie für Wanderarme in Deutschland. Im gleichen Sinne

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entstanden „Herbergen zur H e i m a t " für wandernde Handwerksburschen. Um sich für Fragen des staatlichen Wohnungsbaus wirksamer einsetzen zu können, nahm von Bodelschwingh ein höchst unkonventionelles Abgeordnetenmandat an. D a ß seine ekklesiologische Überzeugung dahinter stand, die u. a: der liberalen Theologie eine theologische Schule gegenüberstellen zu müssen glaubte, in der auch das Helfen mit der ,blauen Schürze' gelernt wurde, ist nicht unwichtig. Mehr als bei anderen Anstalten stellt Bodelschwinghs Bethel, derart typisch gesehen, die christliche Gemeinde als eine Hilfsgemeinschaft dar, die von Gottes Hilfe lebt. 10. Diakonie

und

Sozialstaat

Auf katholischer Seite war schon vor Bodelschwingh der Mainzer Bischof—» Ketteier mit großen sozialpolitischen Initiativen und Konzeptionen hervorgetreten, während ,der Gesellenvater' Adolf Kolping ( 1 8 1 3 —1865) dafür eintrat, den vom Industrialismus unterlaufenen Handwerkerstand durch intakte berufliche und menschliche Verhältnisse neu zu festigen. Auf evangelischer Seite wird aber A. —»Stoecker zu einem in mancher Hinsicht typischen Vertreter von,Innerer Mission': Gegründet auf die intensive evangelistische Arbeit der b e r liner Stadtmission' im Bereich der Stadtarmut, vertritt er eine konservativ-monarchistische Politik, mit der er gleichwohl eine „Christlich-Soziale Arbeiterpartei" meint gründen zu können ( 1 8 7 8 ) . Seine politisch-sozialen Initiativen finden weder beim Monarchen noch beim Arbeiter Anklang, und auch aus dem bedeutsamen, von ihm mitbegründeten —»Evangelisch-Sozialen Kongreß ( 1 8 9 0 ) scheidet er 1 8 9 6 aus, nachdem dieser sich als ein für ihn zu liberales Forum erwiesen hat. Dafür begründet er die „Freie Christlich-Soziale Konferenz", die der praktischen Inneren Mission und der sozialen Frage zugleich nahe bleiben will. Mit F. —»Naumann, dem Pfarrer der Inneren Mission in Frankfurt am Main, verbindet sich u. a. der Ausbau der evangelischen Arbeitervereine, über den Naumann schließlich in die national-liberale (Sozial-)Politik weitergetrieben wird. Schließlich müssen unter dem Vorzeichen des politischen Einsatzes für die Benachteiligten des industriellen Wirtschaftssystems noch die—»Religiösen Sozialisten genannt werden, die, von den eschatologischen Glaubenserfahrungen J . Chr. —»Blumhardts ausgehend, in der Schweiz und in Deutschland durch ausgedehntes praktisches wie publizistisch-theoretisches Engagement für eine soziale Neuordnung eintreten. Vorformen davon gab es während des 19. Jh. in England und Frankreich und bekannte Erscheinungen reichen hinüber zum —»Social Gospel Amerikas. Die wichtigsten Gestalten aber sind Chr. —»Blumhardt, die Schweizer H . —»Kutter und L. —»Ragaz. Direkte Auswirkungen auf die Diakonie hatten die religiösen Sozialisten kaum. Sie haben jedoch die Entstehung der —»Dialektischen Theologie beeinflußt und manchen diakonischen Mitarbeiter der Zwischenkriegszeit motiviert. Die in der Inneren Mission vereinigte Vielfalt von Einzelinitiativen spiegelt sich heute in den 1 0 0 Fachverbänden des Diakonischen Werks. Für die große Linie wichtig ist insbesondere die nach 1 9 1 9 in Gang kommende Gründung von ,Evangelischen Gemeindediensten' (Otto Ohl), durch welche die sog.,offene' soziale Hilfe auch den einzelnen großstädtischen Kirchengemeinden nahegebracht werden sollte. D a ß diese eher dazu neigten, diakonische Fragen an die Fachleute des Gemeindedienstes zu delegieren, entspricht nicht dem diakonischen Konzept, wohl aber einer gewissen Tendenz zur Professionalisierung, der auch die Initiativen der Inneren Mission nicht entgangen waren. Als einen neuen Aufbruch zur Gemeindediakonie verstand sich in Deutschland das .Hilfswerk', das, im Kriege vorgeplant (Eugen Gerstenmaier), 1 9 4 5 von der Kirchenkonferenz in Treysa gegründet wurde. Damit hatte die Evangelische Kirche Deutschlands erstmalig auch juristisch anerkannt, daß die „diakonisch-missionarischen Werke Wesens- und Lebensäußerungen der Kirche" sind (Grundordnung der E K D , Art. 15), denn auch die Untergliederungen des Hilfswerks waren nicht mehr Vereine, sondern Bestandteile der als Anstalt öffentlichen Rechts verfaßten Kirche. Zu den wichtigsten Anfangserfahrungen dieses neuen kirchlichen Organs zählte die ökumenische Mithilfe bei der Bewältigung der riesigen Flüchtlingsflut nach 1 9 4 5 , aber auch die Bildung von „Assoziationen der Hilfsbedürftigen" selbst

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Diakoni e I

(s.o. Gerstenmaier, Wichern II: Amt) in sog.,Hilfskomitees'. Als politische Diakonie' verstand man die Initiativen im wirtschaftlichen und gesetzgeberischen Bereich, die u. a. auch im,Lastenausgleich', letztendlich aber auch im Bundessozialhilfegesetz und im Jugendwohlfahrtsgesetz (s. o.) ihren Niederschlag gefunden haben. Der Durchbruch zur Gemeinde-Basis gelang freilich nur selten. 1 9 5 7 wurde der Zusammenschluß der auf Vereinsbasis arbeitenden Inneren Mission und des Kirchlichen Hilfswerks beschlossen. Nach einer Ubergangsphase wurde die Vereinigung unter dem neuen Namen ,Diakonisches Werk' 1 9 7 6 vollendet - und insgesamt wieder unter Vereinsrecht gestellt. Unter dem theologischen Gesichtspunkt der Diakonie besteht darin zweifellos die Gefahr eines Rückschrittes, der freilich vermieden werden kann, sobald für Kirche und Öffentlichkeit kein Zweifel besteht, daß es sich sowohl bei der Kirche als Anstalt öffentlichen Rechts als auch beim ,Verein' des Diakonischen Werks um die zusammengehörige, auch theologisch unteilbare eine Kirche handelt, welche sich unter zwei verschiedenen juristischen Formen darstellen kann. Entscheidend wichtig wäre daher die entsprechende funktionsgegliederte Arbeit in den Gemeinden und Gremien (Kirchenvorstände, Diakonieausschüsse, Dienstgruppen), wie sie von den ,Leitlinien zum Diakonat' angeregt werden, die von der Diakonischen Konferenz im Jahre 1 9 7 5 für die Integration der Diakonie auf allen Ebenen als Zielvorstellung praktisch-ekklesiologischer Entwicklung formuliert worden sind.

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Anmerkung Die Monbijou-Konferenz (2.11-5.12.1856 in Berlin) nahm zwar das Thema Diakonie auf, vermochte es aber nicht, die Spannungen von Gemeinde- und Amtsauffassung zu überwinden. Quellen Quellen zur Gesch. der Diakonie, hg. v. Herbert Krimm, 3 Bde., Stuttgart 1 9 6 0 - 1 9 6 6 . Literatur

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Paul Philippi II. Theologische Grundprobleme der Diakonie 1. Nächstenliebe 2 . Hilfe für Menschen in kreatürlicher N o t 3 . Kreatürliche N o t in dreifacher Gestalt 4 . Dreifache Zielbestimmung 5 . Formen der Liebe 6. Das Subjekt der Diakonie 7 . Z u s a m m e n h a n g mit dem Gottesdienst 8 . Dogmatischer Rahmen 9. Kirchliche Diakonie und Wohlfahrtsstaat (Literatur S. 6 5 6 ) Unter Diakonie versteht man nach evangelisch-kirchlichem Sprachgebrauch die durch den Christusglauben bestimmte, aus der Gemeinde erwachsende Hilfe für Hilfsbedürftige. Diese Umschreibung verlangt Näherbestimmung und Erläuterung in neun Punkten.

1.

Nächstenliebe

Es ist voranzustellen, daß es sich in der Diakonie um die Übung von Nächstenliebe handelt. Es geht dabei um ein Bemühen, das nicht mehr will, als einem Menschen in seiner Not zugute zu kommen. Alles in der Diakonie will darauf abgestellt sein, dem Doppelgebot der —»Liebe zu gehorchen und damit Sorge zu tragen, daß der —»Nächste mit Liebe umgeben wird und darin die Hilfe erfährt, deren er bedarf. Der ethische Aspekt gewinnt so erstrangige Bedeutung. Kapselt sich diakonischer Dienst im —»Gottesdienst ein, so hat man es mit einer Fehlentwicklung zu tun oder es steht überhaupt etwas anderes zur Sprache. Ist die Rede von einer Selbstverwirklichung der Kirche oder des Christen in der Diakonie, so k o m m t damit eine sekundäre Folge, nicht ihre primäre Zweckbestimmung zur Geltung. Unternimmt man eine dogmatische Sinngebung, so kann es sich dabei nur um eine dogmatische Ortsbestimmung des Ethischen handeln. Für das ethisch bestimmte T u n darf es nicht um Verdienst, um eigene Werkgerechtigkeit oder Selbstverwirklichung gehen. Im Mittelpunkt steht der Samariterdienst an dem unter die R ä u b e r gefallenen Mitmenschen.

2. Hilfe für Menschen in kreatürlicher

Not

Aus dem Doppelgebot der Liebe ergibt sich als Gottes Wille, daß der Nächste mit Liebe umgeben werden soll. Solche Liebe bedarf nicht der ständigen Äußerung. Befindet sich aber jemand in Not, wird die Liebe zur Hilfeleistung, die dieser Not entgegentritt. Das ist die Situation der diakonischen Arbeit. Dabei ist nicht jede Art von Not ins Auge gefaßt. Es gibt auch eine Not, die darin besteht, daß man den Herrn nicht kennt; ihr wendet sich die —»Mission zu. Es gibt auch die Not einer Bedrängnis des Gläubigen durch den Unglauben; ihr geht die —»Predigt nach. Weiter gibt es die Not der Versuchung und geistlicher wie sittlicher Fehlentwicklung; sie gehört zum Aufgabenbereich der—»Seelsorge. In gleicher Weise schließlich ist es die „kreatürliche" Not, der sich die Diakonie entgegenstellt. — Als „kreatürlich" gilt das Leiden, das einen Menschen als Schicksal überkommt, und zwar zunächst abgesehen von seinem möglichen Unglauben, seiner Schuld oder Sünde. Seine äußere und innere Lage hat ihn in eine gewisse Bedrängnis ge-

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raten lassen. Zu solcher Not gehört z. B. —>Krankheit oder Behindertsein, sei es körperlicher oder seelischer Art. Zu ihr gehört auch daswirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten entspringende Leiden: —»Armut, Leiden an der Berufsarbeit, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung usw. Und schließlich findet sich hier auch die Not in den zwischenmenschlichen Beziehungen : Einsamkeit, Nichtanerkennung, Verfolgung, eheliche Not usw. Falsches Reagieren auf dergleichen Notlagen wiederum kann als Folge neues Elend mit sich bringen. Sicherlich gibt es häufig Übergänge zwischen solcher kreatürlichen und andersartiger Not. Seelische Krankheit etwa kann gut mit inneren Fehlentscheidungen und daraus entspringender Fehleinstellung und falscher Verhaltensweise zu tun haben. Daher schließt der diakonische Dienst in der Praxis häufig ein seelsorgerliches Element in sich, wie umgekehrt auch die Seelsorge oft ein diakonisches Moment einschließt. Problematischer ist die Beziehung zwischen diakonischem und apostolischem Dienst. Mit dem Kampf gegen kreatürliche Not kann man in der Regel nicht zugleich auch evangelisieren, und sei es nur, um den Anschein zu vermeiden, es werde das Abhängigkeitsverhältnis des Hilfsbedürftigen mißbraucht. Andererseits aber muß sich ganz ohne Frage die Mission auch kreatürlicher Not annehmen und so auch den diakonischen Dienst mit einbeziehen, wie es in der ärztlichen Mission, der Schulmission u. dgl. geschieht. Darin kommt ein „total approach" zur Geltung. 3. Kreatürliche

Not in dreifacher

Gestalt

3.1. Der Mensch ist ein leibliches, seelisches und soziales Wesen, und so findet sich leibliche, seelische und soziale Not. Daneben ist, auf jeden Fall in der Gegenwart, eine andere Dreiheit bedeutsam. Es gibt nicht allein die individuelle Not des Einzelnen, deren sich die unmittelbare Hilfe von Mensch zu Mensch annimmt. Man stößt auch auf Gesellschaftsstrukiuren, die für bestimmte Bevöikerungsgruppen soziale Not nach sich ziehen und aufrecht erhalten und damit Ungerechtigkeit festschreiben. Eine Diakonie, die lediglich die Folgen inhumaner Strukturen für bestimmte Menschen aufzufangen sich bemüht, vollbringt zwar ein nützliches Liebeswerk, doch erfahren auf diese Weise nur bestimmte Menschen Hilfe mit zumeist nur vorübergehender Wirkung. Wer gegen verfehlte Strukturen ankämpft, hilft einer ganzen Bevölkerungsgruppe mit dauernder Wirkung. Dabei geht es nicht nur um lokale, sondern auch um nationale, ja sogar globale Strukturen. Ihre Opfer sind nicht allein Arbeitnehmer, die ausgebeutet werden, sondern auch Entwicklungsländer, die durch die Industrienationen ausgebeutet wurden oder werden. Schließlich steht auch der Kampf für gesunde Umweltbedingungen (—>Umwelt) an. Es gibt mancherlei Ausformungen des allgemeinen Lebensklimas, die für nahezu jedermann unmenschliche Auswirkungen in sich schließen. Das gilt für die allgemeinen kulturellen Bedingungen einschließlich der Lebensweise, die hart und grausam sein können, oder für die wirtschaftliche und politisch-soziale Ordnung, die einen Menschen in Zwänge einzuengen . vermag, oder für eine Umweltverschmutzung, die das Leben der gegenwärtigen und vor allem der kommenden Generationen schädigen oder gar bedrohen kann. Im Kampf gegen unmenschliche Umweltbedingungen geht es mitunter auch um einen Kampf gegen Ungerechtigkeit, sofern eine Gruppe von solchen Bedingungen stärker betroffen ist als andere, häufig aber um etwas, das alle betrifft. Es stellt sich nun die Frage, ob der diakonische Dienst auf die kreatürliche Not in allen diesen drei Gestalten ausgerichtet sein muß, und wenn ja, ob die Diakonie dem gewachsen ist. Sie wurde schon im vergangenen Jahrhundert aktuell, als neben einem älteren ländlichen Proletariat ein Industrieproletariat entstand (—»Industrialisierung), während damals globale Strukturen noch nicht in das Blickfeld traten und die gegenwärtige Umweltproblematik noch nicht bestand. Muß die Diakonie sich in dieser ganzen Breite entfalten? Diese Frage hat u. a. in Deutschland eine breite Diskussion entfacht, z. B. zwischen H . Krimm und H . D. Wendland. Krimm will das diakonische Arbeitsfeld gegenüber dem des 19. Jh. ausweiten, es aber nicht uferlos werden lassen. Er möchte die Eigenständigkeit der Diakonie wahren, wie sie bereits in der urchristlichen Praxis zutage getreten ist. Die Diakonie hat etwas qualitativ Eigenes und ist quantitativ nicht per se für alle da. Sie richtet ihren Blick zu allererst auf die Bedürftigen und sucht persönliche Be-

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Ziehungen. Die Gegenwartsgesellschaft ist so säkularisiert, daß die kirchliche Diakonie mit dem, was ihr eigen ist, in der harten Politik, in der das Gesetz regiert, doch nicht durchdringt. Wendland dagegen warnt vor einer falschen Alternative „diakonische Einzelhilfe oder gesellschaftliche Diakonie". Er sieht den Menschen von vornherein institutionell bestimmt. Dem entspricht der Glaube an die Universalität der Herrschaft des dienenden Kyrios Jesus Christus. Theologisch stehen sich beide Autoren sehr nahe. Sie treten ein für die Leitourgia, dieMartyria und die Diakonia der Kirche und denken christozentrisch. Aber bei Krimm bedeutet die Wiederentdeckung der diakonischen Fundamentalstruktur eine Konzentration auf die diakonisch wirksame Gemeinde, für Wendland bedeutet dies, daß wieder die ganze Wirklichkeit der Gemeinde und der Gesellschaft als unter der Herrschaft Gottes stehend erkannt und daß diese Erkenntnis in der vermittelten und vermittelnden Liebe praktiziert wird.

Auf jeden Fall ist festzuhalten, daß die Kirche sich mitverantwortlich fühlen muß für alles, was dem Menschen schadet oder ihn bedroht, also auch für Gesellschaftsstrukturen, auch für das Handeln des Staates, auch für die Politik. Die Sorge der Kirche für diese Bereiche entspringt ihrem diakonischen Auftrag. Das bedeutet indessen nicht, daß sie neben ihrem diakonischen Amt organisatorisch nicht auch ein besonderes Organ haben kann, das in besonderer Weise der gesellschaftlichen Diakonie gewidmet ist. Man spricht dann nicht mehr von Diakonie, dennoch aber handelt es sich um sie. Ebensowenig besagt es, daß die zweite und dritte Form des diakonischen Dienstes mit ihrem Kampf für mehr Gerechtigkeit und Umweltpflege stets in gleicher Weise aktuell und wirksam ist. Häufig kann die Kirche vieles dem Staat überlassen. Da kirchliche Organe nicht nur stellvertretend für die Gemeinde diakonische Arbeit organisieren, sondern auch umgekehrt diese zur Wahrnehmung ihrer diakonischen Aufgabe ermuntern und unterstützen sollen, kann man sagen, daß Gemeindeglieder u. a. durch Mitwirken in politischen Organen ohne Frage ihrer Pflicht nachkommen, für eine gute Politik Sorge zu tragen. 4. Dreifache

Zielbestimmung

4.1. Die Diakonie richtet sich in jedem Fall an die Gemeindeglieder. Die Bruderliebe wird im Neuen Testament nachdrücklich betont. Die nach innen gerichtete Liebe verlangt indessen nach einer nach außen gerichteten. Der —^Nächste, der im Doppelgebot der Liebe genannt wird, nimmt wahrscheinlich eine Mittelstellung zwischen dem Bruder und dem fernen Unbekannten ein und steht für beide. Die Gemeinde ist zur Bruder-, Nächsten- und „Fernsten"-Liebe aufgerufen. 4.2. Seit jeher stellt sich dabei die Prioritätsfrage: Wem ist zuerst zu helfen, insbesondere wenn die Mittel beschränkt sind? Viele geben der Bruderliebe den Vorrang, andere nennen das Selbstbezogenheit und Beschränktheit und möchten sich gerade für die Fernstenliebe, etwa Entwicklungshilfe, einsetzen. Beide berufen sich auf das Pauluswort: „Darum, solange wir noch Zeit haben, lasset uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen" (Gal 6,10). Die ersten sagen, Paulus trete insbesondere für die Glaubensgenossen und somit für die Bruderliebe ein, die anderen behaupten, er verwende sich als erstes für die Fürsorge für alle und somit für die Liebe allen Menschen gegenüber. Tatsächlich ist die Übung der Bruderliebe von erstrangiger Bedeutung. Das will jedoch nicht besagen, daß die Liebe für Außenstehende von zweitrangiger und insofern von geringerer Bedeutung wäre. Es geht nicht um eine Rang-, sondern um eine logische Abfolgeordnung. Natürlich muß eine Gemeinde in sich selbst Liebesgemeinschaft sein, allein schon, weil sonst ihre nach außen gerichtete Liebe unglaubwürdig wäre und nicht wirksam organisiert werden könnte. Ist Bruderliebe das zuerst Erforderliche, so soll das besagen, daß sie nur das erste ist, weil das Wichtigste noch folgen muß. 5. Formen der Liebe Gleichviel an wen Diakonie sich richtet, immer geht es dabei darum, eine Liebe zu üben, die darauf aus ist, Sorge zu tragen, daß der Hilfsbedürftige erhält, wessen er bedarf. Die Art der Liebe "aber kann in bestimmter Hinsicht unterschiedlich sein. So kann man von einem Unterschied zwischen christlicher und allgemein menschlicher Liebe sprechen (vgl. Noske).

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5.3. Allgemein menschliche Liebe meint dabei, einfach ein Herz füreinander zu haben, wie man es bei jedem Menschen einem Mitmenschen gegenüber finden kann. Von der Not des Mitmenschen geht ein Appell aus, und jeder, der diesen Appell wahrnimmt und positiv beantwortet und damit den anderen selbst bejaht, übt Liebe. Ja, man kann sagen, daß alles Ethische aus solchem Geschehen entspringt. In der Meta-Ethik (—»Ethik) ist bei genauerem Zusehen der Naturalismus wie der Emotionalismus wissenschaftlich zu widerlegen und selbst der Intuitionismus unbefriedigend. Man sollte eher von einem „Responsismus" sprechen: Das Ethische beginnt dort, wo man den Appell beantwortet, der von dem Nächsten ausgeht. Der Mensch ist ein „ver-antwort-liches" Wesen. Wer das Ethische aus Nicht-Ethischem ableitet, verleugnet es. Das Ethische ist ein ursprüngliches, unableitbares Phänomen und kein Epiphänomen. Es besteht kraft eigener Evidenz. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Kulturanthropologie heute in der Ethik bedeutend weniger relativistisch denkt als früher, weil sie entdeckt hat, daß in faktisch jeder Kultur bestimmte ethische Grundregeln anzutreffen sind. Daher ist es auch nicht befremdlich, daß in einer —»Demokratie Christen und Nichtchristen in unterschiedlichen Parteien sich in wesentlichen politischen Zielvorstellungen zumeist einig werden, wenn auch Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Mittel und Wege dazu bestehen. Damit soll nicht verkannt sein, daß es auch ein allgemeinmenschlich —»Böses gibt, und zwar nicht allein aufgrund ableitbarer Gegebenheiten wie falscher Erziehung, Verblendung, inneren Getriebenseins u. dgl., sondern auch aufgrund einer unableitbaren Entscheidung für ein Ja im Hinblick auf sich selbst auf Kosten eines Ja im Hinblick auf den von anderen ausgehenden Appell. Weil es aber auch das allgemeinmenschlich Gute gibt, das Herz für den Nächsten, kann die Diakonie in der Regel an allgemein humanitären Einrichtungen (Rotes Kreuz, Amnesty International) und staatlichen Aktivitäten partizipieren. 5.2. Dennoch erhält die Diakonie ihren Antrieb aus evangelischer Liebe. Das heißt: nach wie vor geht es darum, den vom Nächsten ausgehenden Appell zu hören und positiv zu beantworten. Aber das allgemein Menschliche, ethisch Evidente ist bei den Christen in einen evangelischen Kontext eingebettet. Zunächst ist dabei eine evangelisch bestimmte Tiefenmotivation gegeben: Gott gebietet es. Das besagt nicht, daß —»Gehorsam gegenüber Gott an Stelle der Liebe für den Mitmenschen tritt. Im Gegenteil, Gott gebietet dem Menschen, seinen Nächsten wirklich zu lieben. Er sagt: Ihr sollt euch diesem Appell gegenüber nicht verschließen, euch ihm vielmehr gerade öffnen. Dieses Gottesgebot ist selbst wieder in das Evangelium eingebettet. Gott hat uns zuerst seine Gnade erwiesen, und ein Aspekt dieser Gnade ist, daß Gott uns in seinen Dienst nehmen will, um dafür zu sorgen, daß der Nächste mit Liebe umgeben wird. Christus ist Grund wie Vorbild unseres Dienens. Christus als Diakonos nimmt eine zentrale Stellung ein (Wendland 181 ff; Phil 2 , 5 - 7 ) . Man kann auch von einer „christozentrischen Diakonie" (Philippi) sprechen. Des weiteren kommt auch eine evangelische Zielperspektive mit zur Geltung. Im Licht des Evangeliums erscheint der Hilfe fordernde Mensch als nach dem -»Bild Gottes erschaffen, ihm entfremdet, aber doch durch Gottes Liebe zur Gemeinschaft mit ihm bestimmt. Auch sich selbst sieht der Helfer im Licht des Evangeliums. Er ist dankbar für das Heil, das er empfangen durfte, und möchte etwas von Gottes Liebe weiterverbreiten. Das Geschehen der Hilfeleistung wird im Licht des Evangeliums zum diakonischen Dienst, um den es hier geht. Alles erhält Tiefe und Perspektive auf das Evangelium hin. All dies betrifft aber noch nicht ohne weiteres den Inhalt des praktischen Handelns. Motivation und Zielperspektive müssen nicht darauf hinauslaufen, daß der Christ tatsächlich anders dient als der Humanist. Doch ist in diesem Zusammenhang bereits auf zwei Dinge hinzuweisen. Erstens stellt sich heraus, daß es häufig nicht leicht ist, das auch tatsächlich zu tun, von dem der Christ wie der Humanist weiß, daß es getan werden muß. Für den Christen ist sein Leben aus dem Evangelium bedeutsam für die Kraft, die er braucht, um bestimmte Opfer zu bringen, für die Vergebung, deren er bedarf, sofern er sich in seinem Tun beständig schuldig macht, für den Trost, den er nicht missen kann, sofern ihm manches unter den Händen zerbricht, für die Geduld und Beharrlichkeit, die er nötig hat, um bei Fehlschlägen nicht aufzugeben, usw. Zum zweiten ist es möglich, daß der, der wirklich in der Nachfolge Christi lebt, zu radikalerer Liebesbezeugung findet als der, der ohne Christus liebt. Dies soll indessen mit Vorsicht gesagt sein, weil einmal das vorfindliche christliche Handeln häufig hinter dem eigentlich Gebotenen zurückbleibt und zum andern das oft genug eindrucksvolle Liebeshandeln von Nichtchristen nicht herabgesetzt werden soll.

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Aber auch damit ist noch nicht gesagt, daß die praktische Handlungsweise des Christen sich von der des Nichtchristen unterscheidet, er also tatsächlich anders handelt. In diesem Zusammenhang ist auf folgendes hinzuweisen. Zunächst kann die Absicht der Nächstenliebe unterschiedlich sein. Gewiß zielt die Liebe des Christen wi£ des Nichtchristen auf das Wohlergehen des Nächsten. Soweit es um äußerliche Gegebenheiten geht, sind sich beide Seiten zumeist einig: Der andere braucht Gesundheit, Arbeit, ein Einkommen, Anerkennung, Menschen, die ein Herz für ihn haben, usw. Was aber braucht er zutiefst? Der Christ weiß, daß er zutiefst Frieden mit Gott nötig hat, und möchte ihn daher aufgrund seiner Liebe zu ihm gerne zu diesem Frieden hinfuhren, während der Nichtchrist ein solches Bestreben in dieser Weise nicht kennt. Zudem wünscht der Christ für seinen Nächsten, daß er angemessen und fruchtbar aus Gottes Evangelium leben möge, und möchte sich daher auch in dieser Hinsicht seiner annehmen, ebenfalls eine dem Nichtchristen unbekannte Zielsetzung. Deshalb führt die Liebe nicht nur zum diakonischen, sondern auch zum Zeugen- und Seelsorgedienst. Da diese Bereiche, wie gezeigt, nicht völlig voneinander zu trennen sind, wird darum auch das Handeln im Rahmen des diakonischen Dienstes anders sein als im Rahmen allgemein menschlicher Hilfsorganisationen. Weiterhin kann eine evangelisch bestimmte Wertordnung Platz greifen. Unter Abschn. 4 war bereits die Rede von der Rangordnung zwischen Bruder-, Nächsten- und Fernstenliebe. Eine andere Frage ist, was jemand in einer gegebenen Situation am meisten braucht. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß die Nächstenliebe an Evidenz verliert, wenn es um Grenzbereiche menschlichen Lebens geht. Wer Antworten auf Fragen des —»Schwangerschaftsabbruchs und der —»Euthanasie sucht, stößt alsbald auf weltanschaulich geprägte Einstellungen. Es ist nicht verwunderlich, daß gerade hier der Christ seine eigene Position einbringen kann, wie geteilt die Meinungen zu diesen Fragen innerhalb der Christenheit tatsächlich auch immer sein mögen. Schließlich weiß der Christ auch von einer Ordnung, innerhalb deren er seine Liebe zu verwirklichen hat. Da ist die Ordnung der christlichen —»Kirche, der Gemeinde der er angehört und die in mehr als einer Hinsicht sein Handeln bestimmt. Es macht tatsächlich schon einen großen Unterschied aus, ob man Glied einer Gemeinde und an ihrem Leben beteiligt ist oder nicht. 5.3. Nicht alle Christen gehen indessen mit dem oben Angeführten in eins. So gibt es Strömungen innerhalb des Christentums, die einen christlich begründeten Humanismus befürworten und insofern zwar eine evangelisch bestimmte Tiefenmotivation und Grundanschauung bejahen, aber als Handlungskriterium lediglich ein auch von Nichtchristen anwendbares Leitbild der Menschlichkeit verwenden. Auffallend ist, daß namentlich römisch-katholische Moraltheologen unserer Tage wie J. Fuchs, A. Auer, W . Korff, B. Schüller behaupten, daß die christliche M o r a l ihrem Inhalt nach vom christlichen Glauben unabhängig sei. Protestantischerseits gehen in dieser Hinsicht G. Ebeling, K. E. Logstrup, W . Trillhaas und M . Honecker ebenfalls recht weit. Es zeigt sich allerdings vielfach, daß eine solche Haltung nicht konsequent durchgehalten wird. Andererseits gibt es innerhalb des Christentums auch Strömungen, die biblizistisch oder fundamentalistisch von der Eigenständigkeit christlich-biblischer Ethik ausgehen und die Ethik von Nichtchristen von vornherein verketzern. In vielen christlichen Ländern findet man in dieser Hinsicht mancherorts ein Schwarz-weiß-Denken, das unter Ausschluß einer dritten Möglichkeit eine Antithese zwischen christlicher theonomer und unchristlicher autonomer M o r a l lehrt. In diesem Fall muß alles, namentlich auch der diakonische Dienst, möglichst von Christen selbst organisiert werden und außerhalb allgemeiner Beziehungen stehen. Bei der Hilfe für den Nächsten in seiner kreatürlichen N o t ist also häufig eine Zusammenarbeit mit Nichtchristen möglich; in bestimmten Bereichen aber kann evangelische M o tivation und Einstellung zu einer auch sachlich eigenen Weise der Hilfeleistung führen, die eine selbständige christliche Organisation verlangt. 6. Das Subjekt

der

Diakonie

6.1. Seit längerem schon werden die Stimmen zahlreicher und eindringlicher, die behaupten, die Kirche bzw. die Gemeinde sei das Subjekt der Diakonie. Bereits 1 9 5 3 betitelte H . Krimm sein Buch Das diakonische Amt der Kirche, während P. Philippi § 11 seiner Christozentrischen Diakonie „Diakonie als Struktur der Gemeinde" überschrieb.

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Die Gemeinde als ganze ist u. a. zur Diakonie berufen. Alle ihre Glieder haben in dem Maße, in dem sie zum Handeln in der Lage sind, teil an dieser Berufung. Das soll nicht besagen, daß alle in gleicher Weise gefordert sind, sich dieser besonderen Berufung zu widmen.

Es ist berechtigt, daß das eine Gemeindeglied sich stärker dieser, das andere sich mehr jener Berufung widmet. Darum ist es auch normal, daß sich nur ein Teil der Gemeindeglieder der tätigen diakonischen Hilfe widmet. Es ist wahrscheinlich der Teil, der ein mehr oder minder ausgeprägtes —»Charisma für diesen Dienst des Helfens besitzt oder sich dazu durch seine Lage ringsum gefordert oder geradezu gezwungen sieht. So heißt es in einem maßgeblichen Entwurf (Collmer 160): „Die Diakonie in der Gemeinde umfaßt die karitative und soziale Aufgabe der Kirche und entfaltet sich insbesondere a) in der persönlichen Hilfeleistung der Glieder der Gemeinde untereinander und in der Hilfeleistung der Gemeinde für ihre Glieder und für Notleidende und Gefährdete außerhalb der Gemeinde, b) in der Schaffung und Förderung der notwendigen Maßnahmen und Einrichtungen im Dienst der Liebe, c) in der tatkräftigen Mitarbeit in den sozialethischen und sozialpolitischen Aufgaben der Zeit, d) und in der Vorbereitung und Durchführung von Sammlungen aller Art. Die Gemeinde weiß, daß sie über die Diakonie in ihrer Mitte hinaus, ihr Gebet, ihre Liebe und ihr Opfer dem Gesamtliebesdienst der Kirche in brüderlichem Mittragen und Mithelfen schuldig ist". - Entsprechend lautet der Art. 15 der Grundordnung der EKD: „Diakonie ist Lebens- und Wesensäußerung der Gemeinde".

6.2. Bemerkenswert ist ferner, daß dort, wo etwas nachdrücklich als wesenhafte Aufgabe der Kirche und Gemeinde erkannt wird, dafür auch ein besonderes Amt entsteht. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem amtlichen Diakort bzw. einem Diakonieausschuß auf der einen und der Gemeinde auf der anderen Seite. Oft sieht es so aus, daß der Diakon den diakonischen Dienst auszuführen hat, während die Gemeinde als „Heimatfront" fungiert. Sie unterstützt die Arbeit mit ihrem Gebet und mit Gaben und auch mit Menschen, die sich als Mitarbeiter zur Verfügung stellen. Mit dieser Hilfe versehen der Diakon, der Diakonieausschuß oder die Gesamtheit der in diakonischen Einrichtungen und anderwärts tätigen Mitarbeiter den eigentlichen Dienst. Tatsächlich delegiert die Gemeinde den ihr aufgetragenen Dienst an die Diakone, und häufig delegieren diese ihn wiederum zu einem großen Teil an Institutionen. Das mag zum Teil gerechtfertigt sein, wird aber fragwürdig, sofern es auch eine Kehrseite hat. Der Diakon oder der Diakonieausschuß haben nicht allein und nicht einmal an erster Stelle die Aufgabe, im Namen der Gemeinde die eigentliche Arbeit zu verrichten oder verrichten zu lassen, sie sollen vielmehr in allererster Linie der Gemeinde dazu verhelfen, selbst ihrer Berufung zur Diakonie nachzukommen. Einer Entwicklung in diesem Sinn scheinen heutzutage zwei Momente ungünstig zu sein. Einmal ist in den westlichen Staaten eine Sozialgesetzgebung herangewachsen, die den Eindruck erweckt, es sei damit die gesellschaftliche N o t beseitigt. Ein solcher Eindruck beruht indessen weitgehend auf einer perspektivischen Täuschung. Zum andern ist die Sozialarbeit, die die verbleibenden Lücken auszufüllen sucht, weitgehend professionalisiert: Die Arbeit wird von bezahlten und ausgebildeten Kräften getan. Doch gerade diese hauptberuflichen Sozialarbeiter kommen immer mehr zu der Einsicht, daß sie quantitativ wie qualitativ nicht auf Freiwillige verzichten können. Dadurch erhält freiwilliger Einsatz neue Chancen und Notwendigkeit.

So wird die Gemeinde erst wirklich zum Subjekt diakonischen Dienstes. Außerdem ist natürlich zu bedenken, daß ein sehr wichtiger Teil gemeindlicher Diakonie nicht organisiert wird und unbekannt bleibt, weil er sich spontan dort abspielt, wo einer dem anderen hilft. Möglicherweise ist das sogar der allerbedeutsamste Teilbereich gemeindlicher Diakonie (vgl. Mt 6,3 f); dennoch kann es nicht allein dabei bleiben, da eine Organisation nötig ist, um die zu erreichen, die ohne eine solche ohne Hilfe wären. 7. Der Zusammenhang

mit dem

Gottesdienst

7.1. Wenn die Gemeindeglieder sich zur Begegnung mit ihrem Herrn und untereinander versammeln (—»Gottesdienst), kann das diakonische Element nicht fehlen. Gottesdienstordnungen weisen im allgemeinen eine große Vielfalt auf, aber es gibt sehr wohl auch Grundstrukturen, die wesenhaft sind und daher bei jeder gottesdienstlichen Versammlung erkenn-

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bar sein sollen. Vier Aspekte des Gottesdienstes k ö n n e n als wesenhaft gelten: der Dienst des Wortes, der Dienst der—»Sakramente, der Gebetsdienst—die Gemeinde erbittet die G a b e des Wortes u n d des Sakraments u n d leistet Fürbitte für Kirche und Welt (—»Gebet) - und schließlich der Dienst der —»Barmherzigkeit — die G e m e i n d e bringt Gaben mit, die für den Kampf gegen die kreatürliche N o t eingesammelt werden. 7.2. Bemerkenswert ist, daß dieser Dienst der Barmherzigkeit im liturgischen Z u s a m m e n h a n g auch Dienst der Opfergaben genannt wird: D i e Gemeinde opfert Geld oder N a t u ralien. Diese Bezeichnung ist allerdings auch nicht o h n e Gefahr, sofern sie den Anschein erw e c k e n kann, es ginge u m ein O p f e r für Gott und nicht u m eine Gabe für den M i t m e n s c h e n , w o b e i dann das O p f e r für Gott irgendwie mit der Sühne v o n Sünden in Verbindung gebracht wird. Das will indessen nicht besagen, daß die angesprochene Gefahr unumgänglich ist und der Begriff „ O p f e r " nicht verwendet werden darf. Das Neue Testament verwendet in unserem Zusammenhang diesen Begriff sehr wohl. Wenn im Römerbrief nach der Lehre von Sünde und Erlösung in Rom 12 die Ethik zur Sprache kommt, ermahnt Paulus die Gemeindeglieder aufgrund der in den voraufgehenden Kapiteln dargestellten Barmherzigkeit Gottes, ihre Leiber als ein lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer zu geben: Das ist ihr vernünftiger Gottesdienst. Selbstredend ist dabei nicht an ein Sühn-, sondern an ein Dankopfer gedacht. Gemeindeglieder geben zunächst Gott, was für den Mitmenschen bestimmt ist. Sie tun das, um zu bekennen, daß auch das, was von ihnen selbst zu kommen scheint, zutiefst vom Herrn stammt, und um zu bitten, er möge die Gaben dem Nächsten zum Segen werden lassen. Es dürfte wohl deutlich geworden sein, daß die Einsammlung der Gaben ein wesenhafter und selbständiger Teil der gottesdienstlichen Zusammenkunft der Gemeinde ist. Die Kollekte (-»Kollektenwesen) darf nicht als notwendiges Übel angesehen werden, als störendes Element, das man beiseite schiebt, indem man ihr einen Platz am Ende des Gottesdienstes zuweist und sie am Ausgang stattfinden läßt. Ihr kommt ein eigener unverwechselbarer Platz in der Ordnung des Gottesdienstes selbst zu. 7.3. Es ist der M ü h e wert, auch den Beziehungen Beachtung zu schenken.

der angeführten

Dienste

untereinander

Zwischen den Diensten der Barmherzigkeit und des Gebetes besteht folgende Beziehung: Beide sind als Antwort der Gemeinde anzusehen, der eine als Wort-, der andere als Tat-Antwort. Beide sind sie sowohl auf Gott als auch auf den Mitmenschen gerichtet. Dem läßt sich noch hinzufügen, daß sie sich in diesem Ausgerichtetsein auf den Mitmenschen wechselseitig zur Voraussetzung haben. Würde nämlich die Gemeinde nur mehr für die Linderung der Not beten, ohne selbst eine Hand zu rühren, diese Not nach Vermögen zu bekämpfen, wäre das Gebet zu einer Farce geworden. Vielmehr ist festzuhalten, daß die Gemeinde, wenn sie selbst das in ihrer Macht Stehende zur Bekämpfung der Not tut, dabei ist, die Erhörung ihres Gebetes zu fördern und das Recht hat, um die Bekämpfung der Not zu bitten, der sie sich machtlos gegenüber sieht. - Wäre sie umgekehrt lediglich diakonisch aktiv und unterließe die Fürbitte, würde ihre diakonische Tätigkeit zu einem eigenmächtigen Unterfangen, das den Anspruch erhebt, mit der Not fertig werden zu können. Aufschlußreich ist es auch, der Beziehung zwischen den Diensten der Barmherzigkeit und der Sakramente Augenmerk zu schenken. Auf der einen Seite steht das Herrenmahl, auf der anderen das Mahl, das die Hungernden und Dürstenden erhalten können. Das Sakrament wird dabei als Gabe von Gott an die Gemeinde verstanden, was nicht besagen soll, daß darin nicht auch schon die antwortende Beteiligung der Gemeinde inbegriffen ist: sie feiert das Herrenmahl. Diese Antwort erhält dort einen spezifischen Charakter, w o die Gemeinde den Dienst der Opfergaben, der Barmherzigkeit verrichtet. - Auch ein etwas anderer Sichtwinkel ist möglich. Im Herrenmahl wird nicht nur die Gemeinschaft mit dem Herrn, sondern auch die untereinander empfangen und gefeiert (—»Abendmahl). Die vielen sind eins in Christus so, wie sie von dem einen Brot essen und dem einen Wein trinken. Die forensische Einheit in Christus wird zu einer geistlichen communio sanctorum, und diese drängt darauf, zu einer bewußt empfundenen sozialen Gemeinschaft zu werden, die dort, wo es gefordert ist, aktualisiert wird. Als der diakonische Dienst in erster Linie aus einer Mahlzeit bestand, die von den Bessergestellten gestellt wurde und von der auch die Armen aßen, war die —»Agape eng mit der Feier des Herrenmahls verbunden. In bestimmten, vor allem den reformierten Kirchen wird noch immer von den Teilnehmern am Herrenmahl ein Diakonieopfer dargebracht. - Und in noch etwas anderer Weise läßt sich die Beziehung darstellen. Im Herrenmahl ist der zugegen, der gesagt hat, er sei „nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele" (Mk 10,45). Die Gemeinde Üeß und läßt sich von ihrem Herrn dienen. Das hat zur Folge, daß sie nun auch in Christi Namen anderen dienen will. In der johanneischen Fußwaschungsperikope (Joh 13,1—20) tritt diese Beziehung deutlich

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zutage. Auch bei anderen Evangelisten wird die Beziehung zwischen Herrenmahl und Dienst am anderen klar herausgestellt. Bei Lukas etwa dreht sich das Gespräch beim Abendmahl um Jesus, der unter den Jüngern ist wie ein Diener, und über deren Berufung, nicht zu herrschen, sondern zu dienen (Lk 22,24-27). - Auch für diese Sichtweise gilt, daß beide Dienste einander bedürfen. Wenn die Tischgenossen nicht einander dienen wollen, wird der Zweck des Herrenmahls pervertiert, so daß die Warnung etwa Jesajas (vgl. Jes 1,14) oder Jesu (vgl. Mt 18,21—35) aktuell wird. Ein diakonischer Dienst ohne Feier des Herrenmahls steht in der Gefahr einer Säkularisierung, und es geht ihm eine wesenhafte Verankerung ab. Eine einseitige Betonung des Sakraments und des Diakonenamtes als einer Hilfsfunktion für den Priester, wie es in den orthodoxen Kirchen und in der klassischen römisch-katholischen Kirche zu beobachten ist, hat in diesen Kirchen den Diakonat verkümmern lassen. Im Gegenschlag dazu hat etwa die —»Heilsarmee es unternommen, ein — in sich selbst großartiges — soziales Hilfswerk ohne sakramentalen Hintergrund zu errichten. Die Beziehung zwischen dem Dienst des Wortes und dem der Barmherzigkeit ist so wichtig, daß ihr gesondertes Augenmerk gewidmet werden soll. Das ist mit der Frage nach der dogmatischen Betrachtungsweise zu verbinden. 8. Der Zusammenhang

von Diakonie

und

Dogmatik

8.1. Auf den ersten Blick scheint die Beziehung zwischen dem Dienst des Wortes und dem der Barmherzigkeit einfach zu sein. In der Verkündigung des Wortes Gottes wird die Gemeinde aufgerufen, ihre diakonische Berufung zu erfüllen. Ihr wird die Pflicht zum Gehorsam gegenüber Gottes Gebot vorgehalten, dessen Summe das zweifache Liebesgebot ist, das für das praktische Handeln in erster Linie auf die diakonische Hilfe für den hinausläuft, der Hilfe braucht. 8.2. Das Wort ist aber stets mehr als nur Gebot. Ein isoliertes Gebot wäre gesetzlich und hart. Das Wort hingegen ist in erster Linie immer Evangelium und eben als solches auch Gesetz. Die Beziehung zwischen Evangelium und Gesetz (—»Gesetz und Evangelium) ist vielseitig und wird theologisch unterschiedlich aufgefaßt. Im vorliegenden Zusammenhang kann auf zwei Aspekte hingewiesen werden. Zunächst muß deutlich sein, daß das Evangelium Gabe ist und das Gesetz Aufgabe und daß die Gabe die Aufgabe in sich schließt. Die Beziehung zwischen Gabe und Aufgabe wird gerade dann ganz deutlich, wenn scharf herausgestellt wird, daß der Inhalt der Gabe zutiefst die -*Gnade ist und diese zwei Aspekte hat. Gnade ist zuallererst Vergebung von Schuld, weiterhin aber auch Wiederannahme zum Dienst. Es ist ein Vorrecht eines jeden Gemeindegliedes, am diakonischen Dienst der Gemeinde teilnehmen zu dürfen. Des weiteren ist bemerkenswert, daß der Vorrang des Evangeliums auch aus der Art der Begegnung des Gemeindegliedes mit seinem Nächsten erhellt. K. —»Barth (KD 1/2, § 18) hat darauf abgehoben, daß der Nächste als Träger der Barmherzigkeit Gottes angesehen werden muß. Der Anruf, der von ihm ausgeht und zu uns durchdringt, ist seinerseits in das Evangelium eingebettet. Das gilt nicht zuletzt für den leidenden Mitmenschen, weil er uns an Christus gemahnt, der für uns gelitten hat. Tatsächlich sieht das Neue Testament Christus nicht nur als Sendenden hinter dem Helfer, sondern in Gestalt der Hilfsbedürftigen, gemäß Mt 25, auch vor ihm. In ihrem Dienst dient die Gemeinde den Armen und Bedrängten und damit Christus, der sich mit ihnen identifiziert. 8.3. Dies muß noch in einen breiteren Rahmen gestellt werden. Mit dem zuvor Ausgeführten ist an das Heute gedacht, an die Wirksamkeit des Evangeliums einschließlich des Gesetzes, die jetzt zur Gemeinde durchstößt. Das Heute aber wird bestimmt und getragen von der Vergangenheit und der Zukunft. Zuvörderst nämlich ist das Evangelium eine Botschaft von dem, was zu seiner Zeit und an seinem Orte um unseretwillen geschehen ist. Es ist ein Kerygma von —»Kreuz und —»Auferstehung Christi, von dem damit gegebenen Abschnitt in der Geschichte des Verhältnisses von Gott und Mensch, von der Verwirklichung der vergebenden Liebe Gottes dem ihm entfremdeten Menschen gegenüber, von —»Versöhnung, Leben und Gottesreich. — Zugleich aber ist diese Heilsvergangenheit voller Heilszukunft. Sie ist voller —»Verheißung und —»Eschatologie. Das Reich, das in Christus begründet und angefangen ist, wird einst zur Gänze durchbrechen. Er, der auferstanden ist, wird wiederkommen. Die Heilszukunft entspricht der Heilsvergangenheit. Zugleich entspricht die darin ge-

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gebene Eschatologie der Protologie: In der Neuschöpfung kommt die Schöpfung wieder zu ihrem Recht. Dies alles istgeschehen, „als wir nochSünder waren" (Rom 5,8) ohne unser Zutun, ungeachtet unseres Widerstrebens. Das will jedoch nicht besagen, daß es ohne unser Mitwirken weitergehen soll. Auf Ostern folgt Pfingsten. Zum ersten wird uns das Heilsgeschehen verkündet, damit wir es glauben und aus diesem Glauben leben sollen. So wird der Bann des Unglaubens gebrochen, und wir leben aus Christus, in dem wir bereits versöhnt, geheiligt und verherrlicht sind. — Zum andern geht es darum, daß dieser Glaube und das Leben aus ihm sich so in unserem Leben auswirkt, daß wir als befreite Menschen in dankbarer Liebe unserem Herrn und unseren Nächsten gegenüber leben und uns daran hindernde Sünde aufsagen. — Zum dritten geht es darum, daß wir auch wieder mit Freude leben und mit gutem Gewissen dankbar das Gute auf Erden genießen. Zugleich werden wir selbst mit hineingenommen, wenn es gilt, dies alles auch bei anderen zur Wirkung kommen zu lassen. Dennoch bleibt unser Tun Stückwerk. Wir und die anderen bleiben kleingläubig, die Sünde ist hartnäckig, das Leid groß. Daher lebt die Christenheit in einer Spannung zwischen dem „schon" und dem „noch nicht". Es ist kaum verwunderlich, daß die Christenheit in diesem Spannungsfeld nicht allenthalben und stets das rechte Gleichgewicht zu wahren versteht. Einige sind so einseitig unmittelbar auf das Heute gerichtet, daß die Vergangenheit und Zukunft des Heils vage und mythische Größen zu werden scheinen. Andere betonen so sehr das von Christus vollbrachte Werk und Gottes Verheißung, die einst Erfüllung finden wird, daß von vornherein alles, was wir heute auf Erden zu erreichen vermögen, wertlos wird. — Einige heben auf die Kontinuität ab, die die Gegenwart mit der Vergangenheit und Zukunft verbindet: Gott hat in Christus begonnen, sein Reich auf Erden zu errichten, und die Kirche muß daran weiterbauen, damit es so einmal in Kirche und Gesellschaft hier auf Erden gut wird. Andere dagegen stellen nachdrücklich gerade die Diskontinuität heraus: W a s Gott in Christus geschenkt hat und einst in der Erfüllung heraufführen wird, gehört in eine gänzlich andere Ordnung als das, was sich bereits jetzt verwirklicht und was nach der Schau der—»Apokalypse des Johannes in eine furchtbare Krisis vor dem Durchbruch des Reiches, gewissermaßen eine Kreuzigung von Gemeinde und Welt vor der endgültigen Auferstehung, ausmünden wird. - Die eine Seite legt alles Gewicht auf die Totalität des Heils, das uns jetzt schon zuteil sei und seine Krönung im Irdischen, Leiblichen, Gesellschaftlichen finde. Die andere Seite legt alles Gewicht auf das geistliche Wesen des uns geschenkten Heils und betrachtet das Irdische, Leibliche, Gesellschaftliche als Gegebenheiten, die mit ihm wenig zu tun haben. - Alles in allem wird einmal die Heilsgegenwart und -kontinuität und die Leiblichkeit über-, ein andermal wieder unterbewertet.

Dies alles sind Variationen innerhalb des Rahmens von Heilsvergangenheit, -gegenwart und -Zukunft. Zugleich gibt es aber auch ein Spannungsverhältnis zwischen dem Protologischen und dem Eschatologischen. Einer sieht in dem, was der Geist in der Gemeinde — und oft auch außerhalb ihrer — bewirkt, Zeichen des Reiches oder gar Anfänge seiner Verwirklichung. Andere erblicken darin nicht so sehr das Eschaton als vielmehr das Proton und beharren dabei, nüchtern von hier und dort verbesserten „Bedingungen" zu sprechen, unter denen der Mensch leben kann und tatsächlich auch - gut oder schlecht, gläubig oder ungläubig — lebt. Der diakonische Dienst kann dann nicht mehr tun als Lebensbedingungen verbessern, welchen Gebrauch oder Mißbrauch der Mensch auch immer von der ihm dadurch zuwachsenden größeren Freiheit macht. Unter diesen Leitaspekten lassen sich leicht mancherlei theologische Strömungen in der Praktischen Theologie und Ethik dogmatisch orten. In orthodoxer wie in liberaler Umgebung kann man auf eine Verbürgerlichung als Folge privilegierter gesellschaftlicher Stellung stoßen, die dazu führt, tatsächlich diesseitig zu leben, sei es mit oder ohne Berufung auf die Heilsvergangenheit oder -Zukunft. In anderer, gleichermaßen orthodoxer oder liberaler Umgebung kann man den Aufschrei Unterdrückter hören, die entweder - zumeist sektiererisch — an die zeitliche Nähe des Eschaton glauben oder aus einer Theologie der Befreiung die Verwirklichung des Heils auch in gesellschaftlicher Hinsicht hier und jetzt erwarten und zuwege bringen wollen. 8.4. Wird dies alles nun auf den diakonischen Dienst in der Gegenwart zugespitzt, dann läßt sich dieser als Veranschaulichung und relative Verwirklichung des Heiles in Christus

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und damit des Reiches Gottes ansprechen. - Dabei ist der diakonische Dienst in erster Linie als zeichenhaftes Handeln anzusehen. Die dargebotene Hilfe und ihr Ergebnis ist nicht selbst das Heil, aber auch nicht etwas, das mit dem Heil nichts zu tun hat, sie ist vielmehr ein Zeichen, das auf das Heil hinweist, ein Stück Verbildlichung des gepredigten Heils in Christus. — Zugleich läßt sich der diakonische Dienst als eine Form von Verwirklichung betrachten. Es geht letztlich um mehr als lediglich ein Stück Verbildlichung. Es geht nicht um einen Bissen Brot und einen Schluck Wein, die im wesentlichen allein symbolischen, abbildhaften Wert haben, vielmehr um wirkliches Brot und einen Becher Wasser für den Hungernden und Dürstenden. Sie dringen in die Tiefe des leibhaftigen Daseins eines Menschen. Auch Jesus hat seine Liebe zu den Menschen ganz leibhaftig werden lassen, indem er sie von Krankheit heilte. Darin kann man eine Verwirklichung des Heils sehen. - Dem allerdings muß unmittelbar hinzugesetzt werden, daß eine solche Verwirklichung nur in aller Relativität stattfindet. Einmal wird dabei ein Mensch nur im Äußeren seines Lebens betroffen, während sein Herz noch von Gott abgewandt bleiben kann (vgl. die Heilung der zehn Aussätzigen, von denen nur einer zu Jesus zurückkam [Lk 17,11 — 10—19]). Zudem findet auch im Bereich des Äußerlichen die Verwirklichung nur teilweise statt, weil die Gebrochenheit des Lebens auf vielfältige Weise andauert und sich beständig schmerzlich fühlbar macht und schließlich doch der Tod folgt. Diese drei Aspekte gehören zusammen und machen gemeinsam die Wahrheit aus. Indessen kann in einem bestimmten Kontext jeder von ihnen einen eigenen Akzent erhalten. Man kann nun sagen, daß in dem namens der Nächstenliebe geübten diakonischen Dienst dessen zeichenhafter Charakter am stärksten zum Zuge kommen wird. Es geht um eine Hilfe von Mensch zu Mensch, auch wenn der Hilfsbedürftige kein Christ ist. Die Hilfe, die wir ihm anbieten, kann zum Zeichen unserer Liebe zu ihm werden, während unsere Liebe zu ihm wiederum zu einem Zeichen der Liebe Gottes zu ihm werden sollte. Das Brot, das wir ihm reichen, sollte auf das Brot des Lebens hinweisen, das Jesus ist. So gesehen möchte die stumme Tat zum Wort werden. In der Nachbarschaft des Dienstes am Wort kann die helfende Tat widerzuhallen beginnen und selbst in gewissem Grade zum Wort werden. Es kann von ihr ein Zeugnis ausgehen. — Eine gewisse Erfüllung findet die Nächstenliebe in der Bruderliebe. In diesem Fall kann der Verwirklichungscharakter der Diakonie stärker zutage treten. Helfer und Hilfeempfänger erkennen einander wieder als Gemeindeglieder, als Menschen, die im Herrenmahl die Gemeinschaft mit dem Herrn und untereinander feiern. In der Nachbarschaft der Sakramente kommt die Diakonie als Verwirklichung von Heil zu ihrem Recht. - Im Rahmen der Fernstenliebe liegt der Akzent auf der Relativität der Diakonie als Verwirklichung. Was für Unbekannte in Entwicklungsländern, für Fremde im eigenen Umfeld, für die Verbesserung gesellschaftlicher Strukturen geschieht, hat ein beständiges Moment des Unpersönlichen an sich und betrifft in besonders hohem Maße den Bereich äußerer Lebensbedingungen. Der Zusammenhang mit dem Heil ist gänzlich mittelbar, relativ. Der diakonische Dienst für die Fernen korreliert dem Dienst des Gebets, hat selbst etwas von einem Gebet an sich: Herr, wir tun allein etwas im Blick auf das Äußere ihres Lebens, mögest du mehr tun als das. 9. Kirchliche

Diakonie

und

Wohlfahrtsstaat

Die kirchliche, namentlich die diakonische Arbeit vollzieht sich stets im Kontext von Volk und Staat. In welchem Verhältnis steht sie dazu? Das hängt von unterschiedlichen Perspektiven und Lagebedingungen ab. 9.1. Das Neue Testament kennt eine positive und eine negative Sicht des —»Staates, die einander nicht ausschließen. Jesus kontrastiert das Dienen der Jünger dem Herrschen der Mächtigen in der Welt (Mk 1 0 , 4 2 - 4 5 par.). Es handelt sich um einen strukturellen Unterschied - hier freiwilliges Dienen, dort gewalttätiges Herrschen, hier die Bereitschaft, der Geringste, dort das Verlangen, groß zu sein. Dabei ist wahrscheinlich sowohl an einen nüchtern festgestellten Struktur- als auch an einen ethisch bewerteten Haltungsunterschied gedacht. - Paulus kann sich sehr positiv über die —> Obrigkeit äußern, die die Guten belohnt und die Bösen bestraft (Rom 1 3 , 1 - 7 ) . Gutes oder böses Handeln (V.3) meint dabei nicht ein

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Diakonie II

Handeln in Übereinstimmung oder Abweichung von der Tora, sondern soziales oder asoziales Verhalten. Die Obrigkeit wird sogar als „Gottes Dienerin dir zugut" bezeichnet. Das Herrschen kann also auch eine Form des Dienens sein. — Die Obrigkeit kann aber auch zum „Tier aus dem Abgrund" dämonisiert werden (Apk 1 3 , 1 - 1 0 ) , namentlich wenn sie nicht dem Volk dienen, sondern sich von ihm dienen lassen will und sich als eine zu verehrende Gottheit darstellt. Innerhalb dieses Rahmens kann das Staatsgefüge vielfältige Formen aufweisen. — Das frühe Christentum hatte es mit der römischen Staatsmacht zu tun, die zwar rechtsstaatliche Züge aufwies, aber doch zeitweilig eindeutig eine heidnische Kaiserverehrung forderte und allenfalls ein Polizeiregiment führte. - Seit —»Konstantin d. Gr. bis in die Neuzeit haben wir es im Westen mit einer „christlichen" Obrigkeit zu tun, die in der Regel autoritär und polizeistaatlich auftrat. — In der Gegenwart haben wir es im Westen zumeist mit einem mehr oder minder demokratischen Staatswesen und einer weltanschaulich und politischpluriformen Bevölkerung zu tun, während der humanitär ausgerichtete, aber im übrigen neutrale —»Staat bestrebt ist, Rechtsstaat und zudem Versorgungsstaat zu sein und demgemäß die allgemeine Wohlfahrt und auf dem Wege einer Sozialgesetzgebung (einschließlich des Rechtsanspruchs auf Sozialhilfe) die Gerechtigkeit zu fördern. — Eine wachsende Zahl von Christen steht diesem Staatswesen bejahend gegenüber: Nicht nur Einkommen und Freiheiten, auch die Verantwortung muß redlich unter den Bürgern geteilt werden. Das bringt eine Säkularisierung der Staatsmacht als Tertium zwischen einer vermeintlich christlichen oder einer dämonisierten Obrigkeit mit sich. Die Staatsmacht soll sich nämlich nicht zum totalen Staat entwickeln können und aus Achtung der Pluriformität des Volkes Zurückhaltung in kulturellen und weltanschaulichen Fragen üben. Neben kultureller Liberalität wird sozial-ökonomisch eine mehr oder minder sozialistische Ordnung bestehen müssen, um für alle Wohlfahrt und deren redliche Verteilung zu ermöglichen. In den meisten Fällen sind ethisch einsichtige Grundsätze dafür zureichend. Besteht Klarheit über die Zielsetzung, dann mag es Meinungsverschiedenheiten über die Mittel dazu - etwa das Ausmaß einer Wirtschaftslenkung - geben. Trägt die Staatsmacht dergestalt Sorge für eine redliche Verteilung dessen, was erforderlich ist zur Sicherung angemessener Lebensbedingungen, aufgrund deren jedermann seine persönliche Freiheit und Verantwortlichkeit in nicht asozialer Weise wahrnehmen kann, dann ist die Kirche zufrieden. Ein solches Staatswesen kann theologisch positiv gewertet werden. Eine solche Staatsmacht ist in ihrem Bereich eine Dienerin dem Volk zugute. 9 . 2 . W i e aber findet nun die Diakonie ihren Platz in einem solchen demokratischen Versorgungsstaat? Ist sie überflüssig geworden? 9.2.1. Die Diakonie hat nicht nur einen nationalen, sondern auch einen globalen Kontext. Selbst wenn für sie im eigenen Volk nichts mehr zu tun sein sollte, ist da immer noch die häufig als Massenelend begegnende N o t in zahlreichen anderen Ländern mit rückständigen, feudalen oder korrupten Regierungsformen oder mit guter Staatsverfassung in einem Armutsnotstand. Die Kirche kann hier viel an individuell oder auf Gruppen abgezielter diakonischer Arbeit und wohl auch an „gesellschaftlicher Diakonie" tun. Die Kirche kann nämlich auf dem Wege der ökumenischen Diakonie oder auch einmal durch die Mission und zum anderen über allgemeine Organisationen bei der Bekämpfung von Katastrophenfolgen und in der Entwicklungshilfe mitwirken — durch Spenden von Geld und Hilfsgütern, die Bereitstellung des Unterhaltes für und die Entsendung von Mitarbeitern im Bereich des Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens, die Vermittlung von „know-how". - Die Kirche kann auch zu einem nachdrücklichen Bemühen dafür helfen, solchen Ländern angemessene Abnahmemengen und Preise für die Wirtschaftsgüter zuzusichern, die sie an den Westen zu liefern vermögen (Unctad-Konferenzen). - Gemeinsam mit anderen Instanzen kann sie sich zudem um eine neue sozial-ökonomische Ordnung bemühen, die arbeitsintensive Produktionsstätten in Ländern mit großer Arbeitslosigkeit und der Möglichkeit der Verarbeitung von Rohstoffen in der Nähe ihres natürlichen Vorkommens errichtet oder nach dort verlegt. Schließlich kann sie auf eine Weltregierung hinarbeiten, die der Wohlfahrt und Gerechtigkeit zwischen den Völkern dient (ablehnend: H. Thielicke, Theol. Ethik, II/2, 1958, 541 f). Gewöhnlich ist zudem auch die eigene Regierung in der Entwicklungshilfe tätig, doch ist hier die Not so groß, daß beide, Kirche und Staat, nebeneinander ein weites Arbeitsfeld finden. Es kommt sogar vor, daß der Staat nur einen Teil der dafür vorgesehenen Mittel den — unter Umständen auch noch feudalen oder korrupten - Regierungen von Entwicklungsländern zuwendet und einen anderen durch eigene kirchliche oder private Organisationen verwenden läßt, die in einem Entwicklungsland unmittelbar an der Basis wirken können. 9 . 2 . 2 . Auf nationaler Ebene strebt die Kirche und ihre Diakonie ein engagiertes Verhältnis zum eigenen Volk und Staat an, das folgende Ausformungen gesellschaftlicher Diakonie zeitigen kann:

Diakonie II

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Die Kirche hat erforderlichenfalls mit ihrem Zeugnis vor Entwicklungstendenzen auf eine Diktatur und einen totalen Staat hin zu warnen. In ihrem Bemühen um —»Demokratie, verantwortliche Wohlfahrt und redliche Verteilung von Einkommen, Freiheit und Verantwortung soll sie dem Staat nicht nur mit negativer Kritik, sondern auch positiv würdigend gegenüberstehen. - Die Gemeinde soll dazu durch ihre Glieder, mit oder ohne einer eigenen christlichen Organisation auf politischem Gebiet aktiv werden. Daß Gemeindeglieder sich in der Politik insoweit nicht als Christen darstellen, als sie sich in der Diskussion demokratischer Meinungsbildung mit Nichtchristen nicht auf das Evangelium berufen können, ist ebensowenig abträglich. Von Bedeutung ist lediglich, daß es zu Beschlüssen kommt, die dazu führen, daß den sozialen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Bürgers entsprochen wird und er die für ihn wesentlichen Möglichkeiten kultureller und geistiger Entfaltung erhält. Derweil können Kirche und Gemeinde daran mitarbeiten, daß die Theorie einer verantwortlichen, behauptungsfähigen mitbestimmten Gesellschaft besser durchdacht wird und die Bevölkerung stärker zu sozialem und einsichtigem Verhalten findet. Bildungsarbeit ist hier erforderlich (vgl. in Deutschland die evangelischen —»Akademien). Die Frage, inwieweit sich die Kirche als Institution auf parteipolitischen Boden begeben soll, wird unterschiedlich beantwortet, weil sie für alle da ist und daher über den Parteien stehen soll, andererseits aber sich auf die Seite der Schwachen stellen muß. Die unmittelbar helfende Diakonie wird unter solchen Gegebenheiten folgendes tun können: Sie kann Arbeitsfelderaw/gebe«, die der Staat übernehmen kann und will. Das ist im 20. Jh. weitgehend in der —»Armenfürsorge geschehen. Die Kirche nimmt es mit Freuden wahr, wenn der Staat lehrt, was sie exemplarisch vorgelebt hat. So war es richtig, wenn Th. —»Fliedner sich bemüht hat, das Krankenpflegewesen mit öffentlichen Mitteln auf ein höheres Niveau zu bringen. Im übrigen ist die Kirche bekanntermaßen durchaus nicht immer Wegbereiterin gewesen, sie hat vielmehr auch gute Entwicklungen gebremst. Eine völlige Aufgabe ist indessen oft nicht ratsam. Einmal kann es sich die Diakonie angelegen sein lassen, im Falle wirklicher Notwendigkeit Bedürftigen auch über das hinaus, was ihnen staatlicherseits zusteht, Unterstützung zukommen zu lassen. Zum anderen kann sie Wert darauflegen, einzelne Aufgaben weiterhin selbst wahrzunehmen, gegebenenfalls mit Hilfe staatlicher Mittel. Es verbleiben sodann christliche Heime und Anstalten und christliche Sozialarbeit. Eignet dem hier geleisteten Dienst eigenständig Christliches? Gewiß hinsichtlich der Tiefenmotivation, dem Verständnis und der Begründung des Dienstes seitens des Mitarbeiters, was jedoch noch nicht besagt, daß dies auch für den Klienten spürbar wird. Am deutlichsten tritt das eigenständig Christliche dort hervor, wo eine totale, kontinuierliche Lebensgemeinschaft geboten werden muß wie in Kinderheimen, Zufluchtstätten, Krankenhäusern usw. Diakonisches ist hier nicht mehr zu trennen von Seelsorgerlichem und von dem, was etwa in einer christlichen —»Familie normal ist. Daher kann auch eine christliche Familienarbeit ihre Eigenprägung haben. In der individuellen Sozialarbeit kann es wichtig sein, jemanden auf den Weg in eine tragende Gemeinschaft zu helfen, die - so steht zu hoffen - die Ortsgemeinde oder ein Teil von ihr bieten kann. Nicht nur gelegentlich zeigt sich, daß der Staat bei seiner Sozialhilfe für Teile der Bevölkerung auf freiwillige Mitarbeiter angewiesen ist. Dergleichen Erfordernis stellt sich bei der Strafgefangenenhilfe, in der Krankenhausarbeit usw., und hier ist es am Platze, daß Gemeindeglieder sich zur Verfügung stellen. Häufig finden sich trotz staatlicher Sozialgesetzgebung und -fürsorge unabgedeckte Bereiche. Auf Privatinitiative kann nicht verzichtet werden. Und auch neben allem, was durch bestehende Institutionen bereits getan wird, gibt es vieles, das noch getan werden müßte. Es gibt noch unerkannte Not und unentdeckte Wege zur Bekämpfung erkannter Not. Schließlich besteht auch noch die unorganisierte Hilfe von Mensch zu Mensch, die stets nötig und innerhalb jeglicher sozial-ökonomischen Ordnung und jedweder Staatsform möglich bleibt. Dieses diakonische Handeln kann sich auf Christen wie auf Nichtchristen richten. Es betrifft ein Wirken ad intra und ad extra. Es ist jedoch wichtig, auch dem, was intern möglich ist, noch ein besonderes Augenmerk zu schenken. D a Gemeindeglieder ebensogut wie andere Bürger in den Genuß der staatlichen Sozialgesetzgebung und sozialpolitischen Vorkehrungen kommen, tut sich auch intern nicht etwa unversehens ein wesentlich größerer R a u m für die Diakonie auf. D o c h findet sie auch hier ein Wirkungsfeld, und es ist sehr wichtig, es auszufüllen, nicht nur, weil man dazu dem eigenen Wesen verpflichtet ist, sondern auch, weil man so für die Außenstehenden vorbildhaft lebt und glaubwürdig wird in dem, w a s man ad extra tut. Es kann dazu auf folgendes hingewiesen werden:

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Diakonie III

Wesentlich ist, daß das Gemeindeleben von einer sichtlichen Herzlichkeit gekennzeichnet ist. Liebe wird nicht nur aktiv, wo Not besteht, sondern auch, wo man sich an der Gegenwart des anderen erfreut. Das darf allerdings nicht zu einer sich gegegenüber anderen abkapselnden, introvertierten Gruppenbildung führen. Kriterium wirklich evangelischer Bruderschaft ist, daß sie sich gastfrei und einladend für Außenstehende offenhält. Angestrebt werden muß die Übung eines neuen Lebensstils. Das läuft zum Teil darauf hinaus, größere Einfachheit zu wahren. Sie ist unter mehr als nur einem Blickwinkel von Bedeutung. Wer mehr als der Durchschnittsbürger verdient, muß sich die Frage stellen, ob er dieses Mehr für sich selbst verwenden darf. Alle gemeinsam haben sich der Frage zu stellen, ob sie nicht mehr für die Entwicklungshilfe aufwenden müssen, damit globalem Unrecht begegnet wird. Desgleichen ist die Frage akut, ob man nicht mehr für die eigene kirchliche Arbeit oder die Mission geben muß. Größere Einfachheit ist außerdem auch geboten, um im Interesse der kommenden Generationen sparsam mit den Rohstoffreserven umzugehen und die Umwelt nicht mehr zu verschmutzen. Es erhebt sich die Frage, ob sich Christen nicht untereinander freiwillig Regeln auferlegen sollen, die eigentlich der Staat der Gesamtbevölkerung auferlegen müßte. Ungerechtfertigte Einkommensunterschiede müssen staatlicherseits bekämpft werden und sollten durch Gemeindeglieder bereits freiwillig beseitigt werden können. Schrittmacher sollten vorangehen können und nicht mehr verdienen wollen als der normale Einkommensbezieher, abgesehen natürlich von der Vergütung beruflicher Unkosten. Es ist normal, daß der Eifer für die diakonische Aufgabe ins eigene Fleisch schneidet. Wenn die Kräfte des Gottesreiches in der Gemeinde wirksamer werden, könnten auch solche ganz konkreten und oft schmerzlichen Fragen zur Geltung kommen. Die Gefahr von Regeln ist der gesetzliche Eindruck, den sie erwecken. Es geht nicht um etwas, das unverbindlich bleibt, aber es muß doch freiwillig übernommen und befolgt werden. Daher sollten vorerst nur bestimmte Gemeindeglieder sich solche Regeln zu eigen machen. In der Regel werden sie sich dabei dann gegenseitig stützen. Dadurch bilden sich auch —»Bruderschaften und Kommunitäten. Sie wollen, recht verstanden, auf exemplarische und „vorauseilende" Weise Gemeinde sein, und damit können sie auch für die diakonische Aufgabe große Bedeutung gewinnen. Literatur Das diakonische Amt der Kirche im ökum. Bereich, hg. v. Herbert Krimm, Stuttgart 1960. - Das diakonische Amt der Kirche, hg. v. dems.,ebd. 1953 2 1 9 6 5 . - Johannes Auer, Gedanken zu einer Theol. der Barmherzigkeit: J C W 1958, 7 - 2 4 . - Karl Barth, KD IV/3/2, 1967, 1 0 2 0 - 1 0 2 6 . - G. Bosinski u. a., Wagnis der Liebe, Berlin 1969. - Wilhelm Brandt, Dienst u. Dienen im NT, Gütersloh 1931. PaulCollmer, s. u. Abschn. I V . - A r n o Csipai, Diakonie als Ausdruck christl. 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2. Bemühungen um eine Theorie der (Literatur S. 659)

Diakonie III

657

Diakoniewissenschaft bezeichnet Erforschung und systematische Darstellung des sozialen Seins und Handelns der Kirche, Diakonik die entsprechende hochschuldidaktische Form. Eine übergreifende Theologiegeschichte der Diakonie liegt nicht vor, ist aber — auch in Auseinandersetzung mit gegenwärtigen wissenssoziologischen, handlungstheoretischen und begriffsgeschichtlichen Fragestellungen (Luhmann; Lenk; Koselleck) - zu erwarten; dann erst wäre der Standort der Diakonik für Theorie und Praxis der Kirche genauer zu bezeichnen. Gegenstand dieses Artikels ist der Weg der akademischen „Disziplinierung" der Diakonie.

1. Der theologiegeschichtliche

Weg der

Diakonik

Die Gründe für die theologiegeschichtlich späte Herausbildung der Diakonik können unter drei Gesichtspunkten gesehen werden (Philippi, Christozentrische Diakonie 5 — 17). 1) Das kirchliche Erbe der Reformation: Die Konsequenzen der reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft betonten die individualethischen Fragen der „Liebestätigkeit" (Uhlhorn) gegenüber der korporativen sozialen Verantwortung, zumal diese im lutherischen Raum von der weltlichen Obrigkeit wahrgenommen zu werden pflegte. 2) Die Entwicklung innerhalb der Diakonie: Die diakonische Praxis — überwiegend ausgeübt von Nichttheologen — hat eine Immunität gegenüber akademisch-theologischen Einflüssen entwickelt. In der neuzeitlichen Diakonie wirken säkularisatorische Impulse, die zu einer Ablösung sowohl von der verfaßten Kirche wie von der etablierten Theologie geführt haben. Wenn man vermuten darf, daß seit dem 19. Jh. das soziale Handeln eine ersatzreligiöse Qualität erhielt, so wird verständlich, daß außertheologische Einflüsse unmittelbar die Diakonie bestimmt haben und bestimmen. 3) Das Selbstverständnis der —»Praktischen Theologie: Sie ging von der Aufgabe aus, die „richtige Verfahrensweise" zu lehren, die „bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben" angewandt werden mußte (Schleiermacher § 260). Der Begriff der Kirchenleitung war auf jene Bereiche begrenzt, die in die herkömmliche Tätigkeit des landeskirchlichen Pfarrers fielen — Kultus, Predigt, Lehre, Seelsorge. Unter solcher Zielbeschreibung konnte die Diakonie zunächst keinen Platz innerhalb akademischer Theologie finden. Bis zur Mitte des 19. Jh. erfolgten theoretische Untersuchungen an historischer Materie (Ziegler). —» Wicherns Forderung markiert auch hier einen Einschnitt: „Namentlich muß die protestantische Geistlichkeit vom Geist, Wissen und Leben der inneren Mission durchdrungen werden. Die innere Mission muß zu diesem Zwecke ein Moment der pastoralen Vorbildung werden. Hier haben die Universitäten einen neuen Beruf zu erfüllen" (1,243 f). Wicherns Erwartungen waren bereits von zwei Männern aufgenommen worden, deren verschiedenes Verständnis von der Theorie der inneren Mission — mutatis mutandis — die Entwicklung bis heute andeutet: C. I. —»Nitzsch hatte die innere Mission als Teil der „eigenthümlichen Seelenpflege", der cura specialis, betrachtet (111,1). R. —»Rothe übernimmt Nitzsch's positive Wertung der „freien christlichen Vereine" (1,483; —»Vereinswesen), verbindet sie aber mit seiner Geschichtstheorie des neuzeitlichen Christentums: dessen Übergang vom kirchlichen ins sittliche Stadium. Der Erfolg der —»Inneren Mission liegt nach Rothe begründet in der Eigenschaft der Vereine als außerkirchlich, „und es liegt über dieß auf der Hand, daß sie nur dann gedeihen können, wenn sie diesen nichtkirchlichen Charakter festhalten" (111,1038 f). In den religiösen Vereinen „hat die Kirche der Gegenwart ihren wahren Lebensheerd" (1039). Folgerichtig behandelt Rothe die Innere Mission in seiner Ethik. — K. B. —»Hundeshagen berichtet auf dem 7. Deutschen Evangelischen Kirchentag 1854 schon über eine Spezialkonferenz, welche sich mit der Inneren Mission auf den Universitäten beschäftigen sollte (Hennig 345 f). - Daß „die christliche Kirche überhaupt" Subjekt der Inneren Mission ist, formuliert J. H. A. Ebrard in seinerHalieutik oder Missionswissenschaft als Anhang an seine Vorlesungen (108—212). Seitdem schwankt die Stellung der Praktischen Theologie zur Diakonik zwischen dem Versuch, das Sachanliegen der Diakonie für die pastorale Handlungsfigur zurechtzuschneidern und der wachsenden Erkenntnis, das Subjekt der Diakonie in der christlichen Gemeinde sehen zu müssen.

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Diakonie III

Mit erstaunlicher Ausdauer hält sich die Eingliederung der Diakonie in die Poimenik (—»Seelsorgelehre): Nach Bassermann 1891 zählt die Innere Mission nicht zu den „wesentlichen Lebensfunktionen oder Tätigkeitsarten der Kirche" (308); folglich gehört die Innere Mission in die Lehre von der Seelsorge oder Pastoraltheologie (311). Diese Linie läuft weiter über —»Cremer 1904, Johannes Meyer 1923, von der Goltz 1929, Bülck 1934, Fichtner 1939 — unter den Voraussetzungen nationalsozialistischer Volkswohlfahrt erhielt die Einordnung der Sozialarbeit der Kirche unter die Seelsorge verständlicherweise einen neuen Auftrieb —, A. D. Müller 1954 (s. aber dessen Nachwort 364: Diakonik als „selbständiges Arbeitsgebiet"). Th. Schäfer kann 1885 die Diakonik zwischen Poimenik und —»Kybernetik in die Praktische Theologie eingliedern, entsprechend der „Mittelstellung der Diakonie zwischen Einzelgemeinde und Gesamtkirche" (457). Die Tendenz, Diakonie als eigenständigen Handlungsbereich der Kirche innerhalb der Praktischen Theologie zu thematisieren — Achelis 1911, Niebergall 1919, Steinbeck 1932, Schian 1928 —, führte zu guten Sachdarstellungen, ohne allerdings neue theologische Impulse anzubieten. Offenbar wurde die ungeklärte Lage der Diakonik zwischen einer von idealistischen Voraussetzungen her entworfenen Praktischen Theologie und der kirchlichen Wirklichkeit mit dem Ende des 1. Weltkrieges und den neuen politischen und theologischen Bedingungen. Mit der auch quantitativ eindrucksvollen Entwicklung der Diakonie nach dem 2. Weltkrieg und der Ausdifferenzierung ihrer Methoden ist die Schwierigkeit gewachsen, die Sachfragen im Begriffssystem der tradierten Theologie zur Darstellung zu bringen. Die Geschichte der Diakonik zeigt die Suche nach dem Handlungssubjekt der Diakonie; auch die begriffliche Einführung der —»Gemeinde als Träger des kirchlichen —»Amtes kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine ihrer theologischen Verantwortung und Kreativität entzogene Gemeinde eine handlungstheoretische Unmöglichkeit darstellt. Die Auffassung der Gemeinde als Subjekt des diakonischen Amtes hat die theoretische Eigendynamik der diakonischen Praxis nicht aufheben können. Die Lösung von der Poimenik und die Verselbständigung der Diakonik (Leudesdorff; von Oppen; Philippi; Wagner) ist von neuen systematisch-theologischen Einsichten motiviert und von der qualitativen und quantitativen Bedeutung der Diakonie in der BRD wie in der DDR gefördert, hat aber verständlicherweise noch zu keinen neuen wissenschaftstheoretischen Modellen führen können, die letztlich nur von der Gesamttheologie her zu leisten wären. 2. Bemühungen um eine Theorie der

Diakonie

Gegenwärtig spiegeln sich in der Theorie zentrale Themen der Theologie. G. Harbsmeier attackiert die institutionalisierte Verbändediakonie: Wie kann die iustificatio sola fide zusammengedacht und zusammengelebt werden mit der „Operationalisierung" des methodisierten Liebeshandelns? — Ein von verschiedenen theologischen Voraussetzungen angegangenes Problem liegt im Selbstverständnis der Diakonie im Bezug auf Kirche und Gemeinde. Die Diakonie steht, „was ihre ekklesiologische Qualität betrifft, in der großen Gefahr, subjektlos zu werden" (Weth 266). K. —»Barth bereits hatte dasmunus propheticum der Ämterlehre wieder zur Geltung gebracht (KD IV/3/1, 8 - 1 8 ) und die Diakonie im Zeugnisdienst der Gemeinde verankert (KD IV/3/2, 1020—1023). In positiver Wertung des neuzeitlichen Säkularisationsprozesses (KD IV/3/1,18—40) kann Barth der Gemeinde die Welt als Handlungsfeld zuweisen. Indem er Diakonie vom prophetischen Amt her entfaltet, spricht er ihr die „Ganzheit" ihres Handelns zu, durch die Diakonie gegenüber der Partialität weltlichen Sozialhandelns charakterisiert wird (KD IV/3/2, 1023-1026). P. Philippi (Christozentrische Diakonie) führt die These der Korrelation von Diakonie und Gemeinde konsequent durch: „Wer von der Diakonie recht reden will, muß von der rechten Gemeinde reden" (294). „Diakonie ist die christologische Probe auf die Wirklichkeit der Gemeinde, wie sie die ekklesiologische Probe auf die Richtigkeit der Christologie ist" (318). — Eine Theoriegeschichte der Begriffe „politische" und „gesellschaftliche" Diakonie in der neueren Diskussion bietet O. Meyer. J. Degen hat die Verflechtung der Diakonie in den Kontext des bun-

Diakonie III

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desrepublikanischen Sozialstaates gezeigt. - Die Frage nach der sachgemäßen Methode der Praktischen Theologie (Schröer, Forschungsmethoden) erhält in der Diakonietheorie ein Schwergewicht. - A. Hollweg möchte „vom Ansatz eines komplementären Denkens h e r " „Diakonie als korporatives H i l f e h a n d e l n . . . im Bezugsfeld von Gruppe und Gesellschaft" sehen (12). Die Bezugskonstruktion von differenzierten sozialphilosophischen Aussagen auf der einen zu positivistisch anmutenden Theologumena auf der anderen Seite scheint nicht geglückt. Z u einer Einheit der Handlungswissenschaften, wie die Diakonik sie benötigt, wird noch ein weiter und anstrengender Weg zu gehen sein. Auffallend ist in gegenwärtigen Diakonietheorien (Barth; Philippi; Hollweg o. a.) ein semantisch nicht weiter geklärter Gebrauch des Ganzheitsbegriffes. Besteht ein Zusammenhang zwischen holistischen Theorien und einer Eliminierung der theologia crucis ? Ist die theologia crucis in Form von Ganzheitstheorien aus dem Diakonieverständnis ausgeschlossen worden? Kann eine theologia crucis als Grund und N o r m der Diakonietheorie entwikkelt werden und ergeben sich von daher mögliche Kooperationen mit den Sozial- und H u manwissenschaften? Auch zur Erstellung eines wissenschaftstheoretischen Propriums der Theologie wird der Ganzheitsbegriff herangezogen (Daecke 320f). 3. Die akademische

Vertretung

der

Diakonie

Dieser Hochschulbereich steckt noch immer in den Anfängen. Das Diakoniewissenschaftliche Institut an der Theologischen Fakultät der Universität —»Heidelberg — 1954 gegründet von Herbert Krimm, derzeitiger Leiter Paul Philippi — bietet ein viersemestriges Z u satzstudium in der Verbindung von theologischen, historischen und sozialwissenschaftlichen Vorlesungen und Seminaren sowie Exkursionen (Philippi: H d j b ) . Das Institut hatte einen Vorläufer im 1927 von R. —»Seeberg gegründeten „Institut für Sozialethik und Wissenschaft der Inneren Mission" in Berlin, das aber unter dem Nationalsozialismus seine Arbeit einstellen mußte. Analogien bilden auf katholischer Seite das Caritaswissenschaftliche Institut in Freiburg/Br. (Völkl), auf evangelischer das „Institut f ü r Sozialethik und Diakonie" an der Universität Helsinki (Kansanaho: Diakonie 127—129). Bestandteil der Praktischen Theologie ist Diakonik seit 1959 in Leipzig und Halle (Wagner: ebd. 102). Sowohl für die Arbeit der Theologischen Fakultäten wie der evangelischen Fachhochschulen (Rektorenkonferenz) ist ein neuer Ansatz und ein weiterer Ausbau der Diakonik anzustreben. Literatur Karl Acham (Hg.), Methodologische Probleme der Sozialwissenschaften, Darmstadt 1978. — Ernst Christian Achelis, Lb. der Prakt. Theol., Leipzig, III 3 1911, 1 5 8 - 2 6 4 . -Ulrich Bach, Boden unter den Füßen hat keiner. Plädoyer für eine solidarische Diakonie, Göttingen 1980. - Karl Barth, KD IV/3, 2 Bde., 1959. - Heinrich Bassermann, Äußere u. innere Mission in ihrem Verhältnis zur prakt. Theol. (1891): ders., Beitr. zurprakt. Theol, Leipzig 1 9 0 9 , 3 0 2 - 3 0 6 . - WalterBirnbaum,Theol. Wandlungen v. Schleiermacher bis Karl Barth, Tübingen 1963. - Walter Bülck, Prakt. Theol., Leipzig 1934, 1 3 3 - 1 3 5 . - Hermann Cremer, Pastoraltheol., Stuttgart 1904, 1 3 7 - 1 4 8 . - Sigurd Martin Daecke, Wissenschaftstheoretische Einf.: Prakt. Theol. heute, hg. v. Ferdinand Klostermann/ Rudolf Zerfaß, München 1974, 308 - 3 2 1 . - Karl-Fritz Daiber, Grundriß der Prakt. Theol. als Handlungswiss., München/Mainz 1977. - Johannes Degen, s. u. Abschn. IV. - Diakonie. Beih. 3,1979. - Johannes Heinrich Ebrard, Vorl. über prakt. Theol., Königsberg 1854, 1 9 8 - 2 1 2 . - Horst Fichtner, Hauptfragen der Prakt. Theol., Schwerin 1 9 3 9 , 1 1 6 - 1 2 8 . - Martin Gerhardt, Ein Jahrhundert Innere Mission, 2 T., Gütersloh 1948. - Eduard v. der Goltz, Die ev. Theol. V. Die Prakt. Theol., Halle/S. 1 9 2 9 , 5 3 - 6 0 . - Otto Haendler, Grundriß der Prakt. Theol., Berlin 1957, 6 3 - 6 8 . - G ö t z Harbsmeier, „Glaube u. Werke" in der totalen kirchl. Arbeitswelt, Neukirchen-Vluyn 1977.- Martin Hennig, Quellenbuch zur Gesch. der Inneren Mission, Hamburg 1912. - Arnd Hollweg, Theol. u. Empirie, Stuttgart 1971. - Ders., Gruppe-Gesellschaft-Diakonie, Stuttgart 1976. - Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik gesch. Zeiten, Frankfurt/M. 1979. - Gerhard Krause (Hg.), Prakt. Theol., 1972 (WdF 264). - Hans Lenk (Hg.), Handlungstheorien - interdisziplinär, 4 Bde., München 1977ff. - René Leudesdorff, Diakonie: Prakt.-theol. Hb., Hamburg 2 1975, 1 2 1 - 1 5 1 . - Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur u. Semantik, Frankfurt/M., 11980. - Norbert Mette, Theorie der Praxis, Düsseldorf 1978. - Johannes Meyer, Grundriß der Prakt. Theol., Leipzig/Erlangen 1923, § 3. — Olaf Meyer, s. o. Abschn. II. - Alfred Dedo Müller, Grundriß der Prakt. Theol., Berlin 1954,343 f., 3 6 3 - 3 6 5 . - Friedrich Niebergall, Prakt.

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Diakonie IV

Theol., Tübingen, II 1 9 1 9 , 4 8 5 - 4 8 9 . - Carl Immanuel Nitzsch, Prakt. Theol., 3 Bde., Bonn 1 8 4 7 - 1 8 5 7 . - Dietrich v. Oppen, Grundproblem K r i s e n l ö s u n g - D i a k o n i e an der Hochschule: Diakonie 3 ( 1 9 7 7 ) 1 8 1 - 4 8 9 . - Paul Philippi, Christozentrische Diakonie, Stuttgart 2 1 9 7 5 . - Ders., D a s Diakoniewissenschaftliche Institut: H d j b 2 2 ( 1 9 7 8 ) 1 2 5 - 1 3 5 . - Rektorenkonferenz Ev. Fachhochschulen (REF), Z u r Situation der Ev. Fachhochschulen in der B R D : Sozialpädagogik 1 9 ( 1 9 7 7 ) 3 5 - 4 2 . - Peter J o h a n n R o s c a m Abbing, Grundlinien zu einer theol. Lehre vom D i a k o n a t : M P T h 5 0 ( 1 9 6 1 ) 3 4 8 - 3 5 9 . - Richard R o t h e , Theol. Ethik, Wittenberg, III 1 8 4 8 , § 1 1 7 8 . - Eugen Sachsse, Einf. in die Prakt. T h e ol., Bonn 1 9 1 4 , 8 4 - 1 1 1 . - Reinhold Seeberg (Hg.), Sehr, des Instituts für Sozialethik u. Wiss. der Inneren Mission an der Univ. Berlin, 4 Hefte, Leipzig 1 9 3 0 - 1 9 3 4 . - T h e o d o r Schäfer, Diakonik: H b . der theol. Wiss., hg. v. O t t o Z ö c k l e r , Nördlingen, I V 2 1 8 8 5 , 4 5 0 - 4 5 2 . - Martin Schian, Grundriß der Prakt. T h e o l . , Gießen 1 9 2 8 , 3 1 7 - 3 3 8 . - Adolf Schlatter, Der Dienst des Christen in der älteren D o g m a tik, Gütersloh 1 8 9 7 . - Friedrich D. E . Schleiermacher, Kurze Darstellung des Theol. Studiums, D a r m stadt 4 o . J . - Moritz Schlick, Uber den Begriff der Ganzheit: Ernst Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwiss., Köln 1 0 1 9 8 0 , 2 2 9 - 2 3 9 . - Reinhard K. W . Schmidt, Z u r Konstruktion v. Sozialität durch Diakonie, Frankfurt/M. 1 9 7 6 . - Henning Schröer, Forschungsmethoden in der Prakt. T h e o l . : Prakt. T h e o l . heute, hg. v. Ferdinand Klostermann/Rolf Zerfaß, M ü n c h e n 1 9 7 4 , 2 0 6 - 2 2 4 . - Johannes Steinbeck, System der Prakt. T h e o l . , Leipzig, II 1 9 3 2 , 2 0 6 - 2 4 4 ' , 2 5 6 - 2 6 6 . - Richard Völkl, 5 0 J a h r e Institut für Caritaswiss.: Caritas 1 9 7 5 / 7 6 , 1 9 9 - 2 0 9 . - Heinz Wagner, Die Diakonie: H b . der Prakt. T h e o l , Berlin, III 1 9 7 8 , 2 6 3 - 3 1 8 . - Rudolf W e t h , Diakonie am Wendepunkt: EvTh 3 6 ( 1 9 7 6 ) 2 6 3 - 2 7 9 . - J o h a n n Heinrich Wiehern, S W , hg. v. Peter Meinhold, Berlin, I 1 9 6 2 , 1 7 5 - 3 6 6 . J ü r g e n A l b e r t / P a u l Philippi

IV. Arbeitsfelder heutiger Diakonie 1. Die Herausforderungen der Gegenwart 2. ö k u m e n i s c h e r Überblick 3. Diakonie in den evangelischen Kirchen der Bundesrepublik Deutschland 4 . Diakonie in den evangelischen Kirchen der DDR (Literatur S. 6 8 2 ) 1. Die

Herausforderungen

der

Gegenwart

D i e P r a x i s d e r D i a k o n i e d e r K i r c h e m u ß sich einerseits a m A u f t r a g J e s u C h r i s t i , a n d e r e r seits a n d e n N o t s t ä n d e n u n s e r e r h e u t i g e n W e l t o r i e n t i e r e n , die d u r c h u n m i t t e l b a r e N ä c h stenhilfe v o n M e n s c h z u M e n s c h n i c h t b e w ä l t i g t w e r d e n k ö n n e n . E i n e z e i t g e m ä ß e F o r m u l i e r u n g dieses A u f t r a g s ist d e r P r ä a m b e l d e r S a t z u n g des „ D i a k o n i s c h e n W e r k s d e r E v a n g e l i s c h e n K i r c h e in D e u t s c h l a n d " ( 1 9 7 5 ) zu e n t n e h m e n : „Die Kirche hat den Auftrag, Gottes Liebe zur Welt in Jesus Christus allen Menschen zu bezeugen. Diakonie ist eine Gestalt dieses Zeugnisses und nimmt sich besonders der Menschen in leiblicher N o t , in seelischer Bedrängnis und in sozial ungerechten Verhältnissen an. Sie sucht auch die Ursachen dieser Nöte zu beheben. Sie richtet sich in ökumenischer Weite an einzelne und Gruppen, an N a h e und Ferne, an Christen und Nichtchristen. D a die Entfremdung von G o t t die tiefste N o t des Menschen ist und sein Heil und W o h l untrennbar zusammengehören, vollzieht sich D i a k o n i e in W o r t und T a t als ganzheitlicher Dienst am M e n s c h e n " (Amtsbl. der E K D , 1 9 7 5 , 7 1 4 ff). I n s t r u m e n t e d e r D i a k o n i e C h r i s t i s i n d : d e r Nächstendienst

des einzelnen

Christen

in

Familie, N a c h b a r s c h a f t , G e m e i n d e und K o m m u n e , im E n g a g e m e n t gegen U n r e c h t , H u n g e r , V e r f o l g u n g , in u n m i t t e l b a r e r H i l f e f ü r die V e r f o l g t e n , w e l c h e bis z u r L e b e n s h i n g a b e i m M a r t y r i u m f ü h r e n k a n n . — D i e z w e i t e G e s t a l t d e r D i a k o n i e ist d a s E n g a g e m e n t des C h r i s t e n in e i n e m Sozial-,

Erziehungs-

G e s t a l t ist die Diakonie

der

N ä c h s t e n h i l f e , i h r e r Einübung,

oder

sie b e g i n n t m i t d e r Erziehung

Gruppierung

s e t z t sich f o r t in d e r Bewußtseinsbildung der Förderung

s o w i e in d e r Entwicklungshilfe.

Pflegeberuf

Gemeinde-,

und

Begleitung

Die dritte

ihrer Glieder zur

i m D i e n s t a m N ä c h s t e n , sie

f ü r die s o z i a l e V e r a n t w o r t u n g d e r K i r c h e u n d in

d e r d i a k o n i s c h e n I n s t i t u t i o n e n u n d A k t i o n e n in aller W e l t . E i n v i e r t e s b e s o n -

d e r e s I n s t r u m e n t a r i u m s i n d die Dienstgemeinschaften

d e r D i a k o n i e , teils als L e b e n s g e m e i n -

s c h a f t e n ( O r d e n , D i a k o n i s s e n , D i a k o n e u . a . ) , teils als M i t a r b e i t e r s c h a f t e n k l e i n e r u n d g r o ß e r W e r k e u n d A k t i o n e n , i n s b e s o n d e r e a u c h s o l c h e r , die in d e r 3 . W e l t t ä t i g sind. Als G e h ä u s e d i e s e r D i e n s t e t r e t e n h i n z u d i e Rechtsträger-.

Kirchengemeinden oder Vereine, größere

S t i f t u n g e n , s o w e i t sie die v e r s c h i e d e n e n S ä k u l a r i s i e r u n g e n ü b e r l e b t h a b e n , u n d die d u r c h Gemeindeopfer und den Einsatz der M i t a r b e i t e r geschaffenen Einrichtungen ( K r a n k e n h ä u -

Diakonie IV

661

ser, Heime, Schulen usw., s.u.). Diakonie aber lebt von dem Dienst, den sie heute leistet, nur wenig vom ererbten Vermögen der Vergangenheit. Die Kirchen, nach Geschichte und Schicksal sehr verschieden mit diakonischen Kräften ausgestattet, sehen sich sehr verschiedenen weltweiten neuen Nöten und Katastrophen gegenüber, die alle mit der Entwicklung der technisch-industriellen Massengesellschaften sowie mit der Bevölkerungsexplosion und sozialen Revolution in den Ländern der 3. Welt zusammenhängen. Die Diakonie muß sehr differenziert arbeiten, je nachdem, ob sie Nöte der hochindustrialisierten Wohlfahrtsstaaten, der sog. Schwellenländer oder der ärmsten Noch-Agrarländer zu lindern hat. 1.1. Die—>Säkularisterung in den einst christlichen Staaten Europas und Nordamerikas, welche zugleich die Masse der hochentwickelten Industriestaaten darstellen, hat u. a. auch die Gesamtverantwortung für die Hilfe an den Armen (—»Armenfürsorge), Kranken und Gefährdeten aus der Hand der Kirchen in die Sorge des Staates bzw. der Kommunen als der „öffentlichen Rechtsträger" aller sozialen Hilfe geführt. Diese Dienste werden ganz überwiegend durch staatliche Gesetzgebung gesichert und geregelt; sie werden durch öffentliche Steuern bzw. Versicherungsleistungen finanziert. Die Mitwirkung freier gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen - wie die Kirchen und ihre Werke es sind - wird jedoch in den westlichen Staaten gestattet, ja meist gewünscht und z. T. stark gefördert. Auch dort, wo man noch vor kurzem die Säkularisierung bzw. Verstaatlichung auch der letzten diakonischen Institutionen nur für eine Frage der Zeit ansah (Skandinavien, Großbritannien), zeichnet sich eine Neubesinnung ab, da eine bürokratische Sozialverwaltung allein sich als zu unelastisch erweist, neu auftretende Nöte schnell und kreativ aufzugreifen, und als wenig fähig, die Bevölkerung und ihre Gruppen unmittelbar zur Mitarbeit an sozialen Diensten zu engagieren. Je mehr aber freie gesellschaftliche Gruppen mit ihrem Engagement an den sozialen Diensten mitwirken, desto stärker können sie auch als eine „Lobby für die Armen" am demokratischen Willensbildungsprozeß sachverständig teilnehmen, selbst wenn in einer Industriegesellschaft die Gesamtverantwortung notwendig beim Staat liegt (zu den sozialistischen Staaten s. u. Abschn. 2.2 u. 5; 4). 1.2. Der freiheitliche soziale Rechtsstaat spricht seinen Bürgern ein Recht auf Hilfe zu, entsprechend dem Recht auf —»Erziehung, auf—»Arbeit, auf Gesundheitshilfe, auf Altersvorsorge (Versicherung u. Versorgung). Besteht kein Versicherungs- oder Versorgungsanspruch, so tritt das Recht auf Hilfe gemäß der Jugend- und Sozialhilfegesetzgebung ein. Aber jede Hilfebedürftigkeit, soweit sie nicht auf wohlerworbene Ansprüche zurückgreifen oder in der Familie wahrgenommen werden kann, macht abhängig. Immer wieder begegnet der einzelne dem wohltätig helfenden Staat in vielerlei Form, aber damit wird auch über ihn verfügt, von wem und wie er Hilfe empfangen soll. Um hier einen Spielraum zu lassen, begrüßt der freiheitliche Sozialstaat die soziale Eigeninitiative derjenigen Bürger, die in freien Gruppen und Verbänden in Partnerschaft mit der öffentlichen Hand eine zuverlässige, qualifizierte Hilfe denen bieten, die sich bei ihnen geborgen fühlen. In der Bundesrepublik besitzt der Hilfesuchende laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1968 ein Wahlrecht, nach dem er eine Einrichtung seiner Wahl in Anspruch nehmen kann, wenn er Hilfe braucht. Um Partnerschaft und Pluralität in der Hilfe zu sichern, wäre es angebracht, auch ein „Recht zu helfen" für einzelne wie für Gruppen als Rechtsgrundsatz festzulegen. Was der Christ als Gewissenspflicht empfinden muß, das sollte ihm als Recht ausdrücklich zugestanden werden. Ein Versuch der katholischen Soziallehre, aufgrund des Subsidiaritätsprinzips einen Vorrang für die freien Träger sozialer Hilfen zu fordern, hat sich als wenig realistisch erwiesen. Der Ansatz, daß Hilfe zunächst von der engeren Gemeinschaft wie Familie, Gruppe, Nachbarschaft und nur subsidiär von der größeren bzw. der staatlichen Gemeinschaft zu leisten ist, damit vermieden wird, daß der einzelne Hilfebedürftige als solidarischen Partner nur noch die staatliche Bürokratie hat, ist theoretisch zu bejahen. In der Praxis läßt er sich jedoch nicht durchhalten. Familie, Berufskollegen oder Kirchengemeinde sind nicht immer per se die Nächsten für „persönliche Hilfe", und ebensowenig ist eine öffentliche Einrich-

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tung per se unpersönlich. Die staatlich gesicherte Solidarität eines Anspruchs auf Hilfe kann durchaus auch so frei und persönlich gestaltet werden, daß freie und öffentliche Hilfen partnerschaftlich zusammenarbeiten und daß dem Hilfesuchenden das „Wahlrecht" gewährt wird, Hilfe bei den ihm Nahestehenden zu suchen. 1.3. Die Krise der —>Familie stellt die größte Herausforderung für die Diakonie der Kirche dar, und zwar ebenso im Schrumpfungsprozeß in den Industrieländern wie auch in der Hilflosigkeit der Großfamilien in den Entwicklungsländern, die neu in den Industrialisierungsprozeß hineingezogen werden. Die lange Reihe neuer Hilfsangebote (s. u. Abschn. 3.6—8) versucht sich mit wenig Erfolg an den Schäden, die aus einer an Produktion, Konsum und —»Freizeit orientierten Gesellschaft herrühren. Daß Kinder, Behinderte und Alte einen überschaubaren, geschützten Lebensraum brauchen, in dem sie verläßliche und stetige Zuwendung erfahren und in dem sie ihre Kräfte - ohne Blick auf den Nutzeffekt - frei entfalten können, ist eine soziale Binsenweisheit geworden. Der große Wohlstand aufgrund der modernen Arbeitsteilung und Mobilität der Arbeitenden kommt nicht derStärkung des engeren und geschützten Familienbereichs zugute, sondern wirkt als Zentrifugalkraft. So verstärken sich die seelischen Krisen vom Säugling über den drogengefährdeten Jugendlichen, den isolierten Behinderten bis zu den unangepaßten ausländischen Arbeitnehmern und den vereinsamenden Alten. Das schwere Dilemma besteht für den modernen Sozialstaat — wie auch für die mit ihm zusammenarbeitende Diakonie—darin, daß der ständig wachsende Aufwand an Menschen und Kosten der therapeutischen, versorgenden, erziehenden und rehabilitierenden Einrichtungen zwangsläufig eine Ausgliederung hilfebedürftiger Gruppen aus dem normalen Lebenszusammenhang in Familie, Lebens-, Arbeits- und Freizeitwelt zur Folge hat, so daß sie als Sonderkategorie in der Gesellschaft charakterisiert werden und — ohne eigene Absicht — in der Bevölkerung das Bewußtsein entsteht, daß diese alle im Blick auf das hochqualifizierte, spezialisierte Hilfeangebot in den Institutionen — von der Kinderkrippe über den Kindergarten, das Erziehungsheim, das Krankenhaus, die Einrichtungen für Behinderte, für psychisch Kranke und für Pflegebedürftige — doch „am besten aufgehoben" seien. Dabei verschiebt sich das Gewicht unmerklich von dem, was für den Hilfebedürftigen wirklich notwendig ist, zu dem, was für Familie und Mitwelt bequem, unanstößig, der Berufsarbeit und dem Urlaub nicht hinderlich ist. Diese durch die industrielle Gesellschaftsstruktur ständig neu Ausgegliederten versucht man dann mit einem weiteren großen Aufgebot an Menschen und Maßnahmen zu korrigieren, um die Hilfebedürftigen „wiedereinzugliedern", zu resozialisieren und zu rehabilitieren. Die fast zwangsläufige Frustration dieser Bemühungen ist jedoch dadurch bedingt, daß der erste Schritt, die institutionelle Ausgliederung der Hilfebedürftigen, die „normale" Gesellschaft von der unmittelbaren Hilfspflicht gegenüber dem Nächsten entwöhnt und damit verwöhnt hat, so daß sie nun auch ethisch keineswegs bereit ist, ihn „anzunehmen" bzw. „einzugliedern". Daß die Verfassungen und Gesetzgebungen den Schutz von Ehe und Familie und ihre Förderung mit Nachdruck unterstreichen, daß öffentliche Kampagnen wie z. B. das „Jahr des Kindes" in großem Stil veranstaltet werden, ändert nichts daran, daß ohne eine Änderung des ökonomischen, gesellschaftlichen und ökologischen Gesamtkonzepts die großen, in vielen Details bewundernswerten Anstrengungen des Sozialstaats, jede Not gesondert aufzufangen, vergeblich bleiben müssen, solange die Kommunikation zwischen Hilfe gebenden und Hilfe empfangenden Menschen, Gesunden und Kranken unterbrochen wird und der „gesunde" Teil der Gesellschaft das dem Menschen wesensnotwendige Helfen verlernt, um es dann z. T. mühsam in Form eines sozialen Berufs wieder zu lernen. Die Herausforderung ist deutlich: Es gilt, neu zu lernen, daß jeder Mensch zugleich Helfer und Hilfeempfänger ist, daß das —»Leiden inmitten der Gemeinschaft und nicht an ihrem Rand bewältigt werden muß, daß Reife und Ganzheit des Menschen sich erst dann einstellen, wenn er eigenes und fremdes Leid zu tragen vermag. Hier ist ein großer Prozeß sozialen Lernens und Umlernens nötig, der nicht durch eine Revolution, aber auch nicht durch ein einliniges Aktionsprogramm realisierbar ist.

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Die Diakonie der Industrieländer wird demgemäß ihre Kräfte an verschiedenen Fronten einsetzen müssen. — Wo sie an der institutionellen Anstaltsdiakonie (wie in der Bundesrepublik) noch einen erheblichen Anteil hat, wird sie—z. B. in Krankenhaus und Altersheim - um Raum für mehr Menschlichkeit und Seelsorge, vor allem aber auch um eine Öffnung für das Engagement von Freiwilligen aus den Gemeinden bemüht sein. Die Jugend-, Strafentlassenen-, Behinderten- und Ausländerfürsorge der Diakonie wird sich entscheidend durch die Heranbildung einer an- und aufnehmenden Gemeinde auszeichnen. Die Kirchen und ihre Diakonien werden sich aber endlich fragen müssen, ob sie—wie der Sozialstaat - weiter und unter wachsenden Lasten an Symptomen kurieren und Fehlentwicklungen notdürftig auffangen wollen oder ob sie nicht helfen müssen, aus dem Evangelium und aus der „Gemeinschaft der Heiligen" heraus alternative Gesellschafts- und Arbeitsstrukturen zu entwickeln, welche die Funktionalisierung der Lebens- und Hilfebezüge auf das unbedingt erforderliche Maß reduzieren und dem persönlichen Angewiesensein aufeinander neue Formen geben. 1.4. Der Aufbruch der afro-asiatischen Dritten Welt in die post-koloniale Industriegesellschaft stellt die Diakonie vor die schwerste und folgenreichste Herausforderung. Der medizinische Fortschritt programmiert die Bevölkerungsexplosion und als deren Folge den Nahrungsmangel. 1978 verhungerten 12 Millionen Kinder. Industrialisierung, Welthandel, Landflucht und Auflösung der Großfamilie rufen die gleichen sozialen und persönlich-psychischen Nöte hervor, deren die Industriestaaten nicht Herr zu werden vermögen (s. o. Abschn. 1.3). Die Slums der Millionenstädte zeigen bereits die chaotischen Nöte frühindustrieller Entwicklung in krasser Form. Die jungen Kirchen und mit ihnen die ganze Christenheit sind hier herausgefordert, die Ursachen der N o t zu bekämpfen, die besonders auf dem Lande und in seinen Strukturen zu suchen sind, anstatt an Symptomen zu kurieren. Dabei fällt den Kirchen, die durch ihre Mission von einst enge Bindungen an die Menschen der 3. Welt haben, auch die Mitverantwortung für die Grundsätze und Zielsetzungen der Entwicklungshilfe zu. In der Christenheit ist die Verpflichtung zur Hilfe an den Brüdern in entfernten Regionen der Welt, ja an Andersgläubigen, seit dem Ende der Zeit der Alten Kirche fast völlig vergessen worden. Was in der Zeit der Apostel (vgl. II Kor 8—9) und der Jahrhunderte der Verfolgung selbstverständlich war, lebte nur hier und da in den selbst verfolgten Kirchen der Reformation wieder auf. Erst im Schatten zweier Weltkriege und ihrer Nachkriegsnöte ist die Pflicht zu weltweiter Hilfe durch die ökumenische Bewegung (—»Ökumene) seit 1919 zunehmend ins allgemeine Bewußtsein gedrungen. Daß sich nach 1945 Kirchen verschiedener Konfession zusammenschlössen, um die katastrophalen Nöte beim Gegner von gestern zu lindern, daß heute protestantische und katholische Hilfswerke gemeinsam Nothilfe oder Entwicklungsprojekte durchführen, ist eine neue Antwort auf die weltweite Herausforderung der Kirchen, in der sie zugleich ein neues Verständnis der „Diakonie der Versöhnung" (II Kor 5,18) und ihre Einheit bekennen. Die Entdeckung des „fernen Nächsten" ist zugleich die Frucht von 200 Jahren Weltmission wie eines neuen Diakonieverständnisses. 2. ökumenischer

Überblick

2.1. Der Ökumenische Rat der Kirchen in Genf ist in den letzten beiden Jahrzehnten überwiegend durch gesellschaftspolitische Studien, Entschließungen und eigene Aktionen hervorgetreten und hat insofern an der diakonischen Gesamtproblematik teilgenommen. Seine eigentliche diakonische „Division for Interchurch Aid, Refugee- and World-Service" vermittelt jährlich Hilfe für Einzelprojekte armer Kirchen, für die mittels eines Katalogs Paten gefunden werden. Daneben laufen Programme für Flüchtlinge, Vertriebene und Asylanten sowie, hart umstritten, auch humanitäre Hilfsaktionen für in Freiheitskämpfe verwikkelte Nationen oder Gruppen. Doch sind die hierfür von den Mitgliedskirchen gemeinsam aufgebrachten Mittel, gemessen an den Aufgaben, sehr gering. Der weit überwiegende Anteil ökumenischer Hilfen läuft direkt von einer oder einigen gebenden Kirchen, mitunter über die konfessionellen Weltbünde, an die empfangende Kirche und durch diese an ihre In-

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Diakoni e IV

stitutionen. Wert wird darauf gelegt, daß die „nationalen Christenräte für sozialen Dienst" (o. ä. Bezeichnungen) bei der Planung, Durchführung und Förderung einzelner Hilfsprojekte eingeschaltet werden. Das gilt außer für die finanziellen Hilfen besonders auch für die Entsendung qualifizierter Entwicklungshelfer (aus dem Bereich der EKD durch „Dienste in Übersee", DÜ), die Ausbildung einheimischer Mitarbeiter in den Empfängerkirchen und den Aufbau der nötigen Infrastruktur (Transport, Organisation usw.). Zur Hilfe bei Hunger-, Flüchtlings-, Kriegs- und Naturkatastrophen schließen sich oft viele kirchliche Hilfswerke über die Konfessionen hinweg, u. U. auch mit säkularen Aktionen, organisatorisch zusammen, gemäß dem Grundsatz der UNO und des ökumenischen Rates, zu helfen „ohne Rücksicht auf nationale, politische, rassische oder religiöse Zugehörigkeit allein nach dem Gesichtspunkt der größten Not". Diese Dienste der Kirchen in einem weltweiten Horizont sind noch so neu, daß ihre Entwicklung, ihre Strategien, ihre organisatorischen Formen und ihre Verankerung in Kirchenverfassungen und Gesetzen ein sehr vielfältiges Bild ergeben. Die Faktoren: überkommenes theologisches und missionarisches Erbe, ökumenisch-diakonischer Aufbruch, Opferbereitschaft, organisatorische Kraft und politische Umwelt bestimmen die Chancen ökumenischer Diakonie. 2.2. —>Orthodoxe Kirchen. Die Griechisch-Orthodoxen Kirchen des Mittelmeerraums haben sich in den Jahrhunderten der moslemisch-türkischen Herrschaft in harter Bedrängnis als Minderheiten behaupten müssen. Von ihrer im Altertum reich entfalteten Diakonie blieb außer armen Klöstern und dem gottesdienstlichen Armenopfer nur die gegenseitige brüderliche Hilfe der Bedrängten. Es blieb ferner das Amt des geweihten Diakons, das indessen stark durch seine liturgisch-katechetischen Aufgaben bestimmt war. Erst in der Gegenwart entwickelt sich — angeregt durch ökumenische Kontakte — in —>Griechenland eine neue Diakonie (Apostoliki Diakonia), die nach den Gesichtspunkten moderner Sozialarbeit und zugleich im Rückgriff auf das alte Diakonen- und Diakonissenamt neues diakonisches Leben in den Gemeinden weckt. Sozialarbeit in der Großstadt und Erwachsenenbildung in ländlichen Notstandsgebieten sind besondere Schwerpunkte. Die große Diaspora griechischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik mit ihren sozialen Problemen führte zu einer Betreuung durch das Diakonische Werk der EKD und mobilisierte so auch die griechische Diakonie. In der Koptischen Kirche—^Ägyptens erwacht diakonisches Interesse. In der Abessinischen Kirche (—> Äthiopien) sind erste Neuansätze z. Zt. im Sturm der Revolution untergegangen. Der Russischen Orthodoxen Kirche in der Sowjetunion (—»Rußland) ist es, wie allen anderen Kirchen auch, nach § 17 des Gesetzes für religiöse Kulte von 1937 verboten, ihren Mitgliedern materielle Hilfe zu leisten (—»Christenverfolgungen). Das unterbindet nicht nur jede eigene diakonische Einrichtung, sondern auch Hilfen der Gemeinden etwa für aus Glaubensgründen Verhaftete und ihre Familien. In den Kreisen der Theologen und der Hierarchie besteht Interesse an dem ökumenischen Gespräch über Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Größeren Spielraum haben die orthodoxen Kirchen in den Balkanstaaten, sowohl in der gemeindlichen Diakonie wie im ernsthaften Gespräch mit ihren Regierungen über soziale Fragen. 2.3. Die Caritas der -^Römisch-Katholischen Kirche. Die Katholische Kirche hat aus dem überreichen Erbe des Mittelalters an Ordenskräften und Stiftungsvermögen trotz aller Säkularisierungen die stärkste Basis für eine zeitgerechte Diakonie unter allen Kirchen der Gegenwart hinübernehmen können. Zugleich aber hat die Bewegung der Caritas in unserem Jahrhundert über die überkommenen Einrichtungen und die 1 Million Ordensmitglieder in aller Welt hinaus neue diakonische Dienste für die Nöte der Industriegesellschaft und der Entwicklungsländer in großem Stil aufgebaut, neue Berufe entwickelt und endlich 1897 im Deutschen Reich alle diese Kräfte im „Deutschen Caritasverband" (DCV) mit Sitz in Freiburg zusammenfassen können. Erster Präsident war Lorenz Werthmann. Derzeitiger Präsident des DCV ist Georg Hüssler. Weitere nationale Caritasverbände folgten in vielen Ländern, die sich 1951 zur „Caritas Internationalis" mit Sitz in Paris zusammenschlössen. Sie

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zählt heute 90 Mitgliedsverbände. Die neue Entwicklung schreitet in den verschiedenen Kontinenten unterschiedlich, aber stürmisch voran. Besonders in Südeuropa und Südamerika ist der Ubergang von einer nur ihren caritativen Besitz behauptenden zu einer sozialpolitisch und -reformerisch sich engagierenden, diakonisch aktiven Kirche, die auch Konflikten mit der Staatsmacht nicht ausweicht, in vollem Gange. Die Unterstützung aus den Diözesen der Alten Welt an Mitarbeitern und Opfern ist groß (z. B. in 20 Jahren in der BRD 1,2 Mrd. DM, d. h. fast doppelt so viel wie „Brot für die Welt" auf evangelischer Seite). Die einzelnen Arbeitsfelder der Caritas, auf die hier nicht eingegangen werden kann, entsprechen in etwa denen auf protestantischer Seite (s. u. Abschn. 3). Einige Besonderheiten seien genannt: 2.3.1. Von Anbeginn hat sich eine Reihe bedeutender Bischöfe für Diakonie und Sozialpolitik engagiert, die von W. E. Frh. v. —>Ketteier über C. A. v. Galen ( 1 8 7 8 - 1 9 4 6 , Predigten gegen die Geisteskrankenmorde Hitlers) bis zu Dom Helder Camara (Brasilien) reicht. In der Satzung des DCV von 1975 heißt es demgemäß: „Der DCV ist die von den deutschen Bischöfen anerkannte institutionelle Zusammenfassung und Vertretung der katholischen Caritas in Deutschland . . . Der DCV steht unter der Aufsicht der deutschen Bischöfe." Diese enge Bindung an den Episkopat, für die Pioniere in der Caritas vielleicht nicht immer einfach, trägt auf der anderen Seite wesentlich dazu bei, die Gemeinden zum Caritasdienst zu verpflichten. 2.3.2. Das II. —>Vatikanum stellte mit der Dogmatischen Konstitution Lumen Gentium (29) das altkirchliche Amt der Diakone als eigenes und ordentliches Amt der Kirche wieder her: Die Diakone „empfangen die Handauflegung ,nicht zum Priestertum, sondern zur Dienstleistung'. Mit sakramentaler Gnade gestärkt, dienen sie dem Volke Gottes in der Diakonie, der Liturgie, des Wortes und der Liebestätigkeit", wozu Taufspendung, Austeilung der Eucharistie, Ehesegnung, Sterbesakrament, Beerdigung, Liebestätigkeit und Verwaltung treten. Der Diakon, nicht mehr fest an den —»Zölibat gebunden, kann demgemäß, im weltlichen Beruf stehend, als geweihter Amtsträger eine Gemeindediakonie, ja eine ganze Gemeinde leiten, eine besonders für die Entwicklungsländer große Chance für den kirchlichen und diakonischen Aufbau. Doch, obwohl auch für die Caritas im Abendland wesentlich, geht die Durchführung des Konzilsbeschlusses im Augenblick gegen konservative Widerstände nur schrittweise voran. 2.3.3. (1979):

Statistische Angaben über Einrichtungen der Caritas in der Bundesrepublik Deutschland

Fachbereich

Gesundheitshilfe: (Krankenhäuser, Heime, Tageseinrichtungen, Pflegestationen) Jugendhilfe: (Heime, Tageseinrichtungen, Kindergärten, Schulen) W e i t e r e soziale Hilfen: (Alteneinrichtungen, Sozialstationen, Beratungsstellen, Pfarrcaritas) A u s - und Fortbildungseinrichtungen: Summe:

Einrichtungen

Betten/ Plätze

haupt- u. nebenberufliche Mitarbeiter

davon Ordensmitglieder

5083

243391

155225

18 255

11707

726926

68016

9990

9065

120515

39455

8 803

733

46802

3584

1305

25855

1090832

263696

30048

2.4. Westeuropäischer und angelsächsischer Protestantismus. In der Reformationszeit erwachte die Diakonie dort besonders stark und gestaltungskräftig im Geist des Neuen Testaments und der Urkirche, wo die Protestanten als bedrohte oder verfolgte Minderheitsgemeinden nur durch brüderliche Hilfe aneinander überleben konnten. So wurde in der Genfer

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Reformation —» Calvins und der Straßburger —»Bucers das Diakonenamt neu in die Reihe der Gemeindeämter aufgenommen, mit großen Aufgaben versehen und in den —>Kirchenordnungen festgelegt. Entsprechend hatte die Diakonie in den —»reformierten Kirchen am Rhein, in Westeuropa bis hin nach Schottland und in den amerikanischen Kolonien eine starke Stellung. Th. —»Fliedner begegnete reformierten Diakonissen in Holland, und J. H. Wichern empfing Anregungen von dem Hugenottenpfarrer in Hamburg und besonders von dem schottischen Theologen und Sozialreformer Th. —»Chalmers. Auf der Basis bürgerlicher Verfassungen konnten sich in der Schweiz, im —»Elsaß und den Niederlanden früher als in Deutschland diakonische Vereine und Anstalten in reicher Zahl bilden, deren Arbeitsfelder bis heute denen der —»Inneren Mission in Deutschland entsprechen. Die Arbeitsmethoden entwickeln sich im Geist moderner Sozialarbeit. In der —»Schweiz hat nach 1945 das „Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz" die Gemeinden zu großen Aktionen in den kriegszerstörten Ländern aufgerufen und wirkt heute noch im gleichen Geist an neuen Aufgaben. „Brot für Brüder" ist die sehr starke Organisation für Entwicklungshilfe. In den —»Niederlanden ist neben den überkommenen Werken der Inneren Mission nach dem Kriege die alte Gemeindeordnung der reformierten Kirchen zu neuem Leben erweckt worden, in der das Amt der Diakenen eine wichtige Rolle spielt. In den 1500 Gemeinden der „Hervormde" und den 800 Gemeinden der „Gereformeerde Kerk" gibt es insgesamt 15 000 gewählte Diakenen, die — von angestellten Fachleuten unterstützt - die gemeindliche Diakonie leiten, neue Dienste einrichten, die Laien zur Mitarbeit heranziehen und ihr Gewicht in die sozialpolitische Entwicklung einbringen. Ihre stetige Weiterbildung wird als besondere Aufgabe wahrgenommen. Anstoß zur neuen Entwicklung gaben auch hier die Nachkriegsnöte, dann die Rückwanderer aus Indonesien und deren Integration im Lande. Die heutigen Arbeitsstellen der Beratungsdienste (Drogen, Arbeitslosigkeit, Resozialisierung) können nach der holländischen Ordnung besonders gut mit den diakonischen Organen der Gemeinden und so mit den Laienkräften kooperieren. Als sozialpolitische Besonderheit der Niederlande ist die sog. „Versäulung" bemerkenswert. Von 1945—1965 wurde von Staats wegen die gesamte Sozialarbeit auf fünf große, zusammenfassende kirchliche oder weltanschauliche Verbände delegiert, welche mit öffentlichen Mitteln die Dienste versahen. Die Regelung erwies sich jedoch als zu starr und wurde seither zugunsten einer freieren Kooperation aufgegeben. — Daß die holländischen Kirchen in der ökumenischen Diakonie sehr aktiv sind, zumal dort, wo ihre alten Missionsverbindungen bestehen und wo Katastrophen nach Hilfe rufen, darf nicht übersehen werden. Die Kirche von—»Schottland ist in ihrer inneren Ordnung gemäß ihrem reformierten Bekenntnis den genannten Kirchen engstens verwandt. Als Staatskirche Schottlands hat sie die Verantwortung für das Elend, besonders aber auch für die strukturellen sozialen Nöte des Industriezeitalters, schon früh wahrzunehmen versucht. Das „Social Responsibility Committee of the Church of Scotland" ist der größte freie Wohlfahrtsverband im Lande. Diese freien Verbände führen zusammen etwa 50% aller Tagesstätten und Heime für Kleinkinder, Jugendliche, Behinderte und Alte. Pionierdienste besonders auf den Gebieten der Beratung, auch der Heranbildung helfender Gemeindekreise, mit dem Ziel „Kirche als therapeutische Gemeinschaft" sind ein besonderes Ziel des Verbandes. Für —»England hat die aus humanistischem Geist geschaffene vorbildliche Armengesetzgebung —»Elisabeths I. die kommunale Armenfürsorge durch die Kommunen geregelt. Erst 1972 wurde sie endgültig durch ein neues Sozialhilfegesetz abgelöst. Die —»Kirche von England stützte als Staatskirche dieses System, so daß erst mit den Nöten der Industrialisierung auch sie neue diakonische und soziale Hilfekonzepte entwickelte. Auf der Grundlage der Verfassung konnten auch die —»Freikirchen (—»Methodisten, —»Baptisten) früher als auf dem Kontinent diakonische wie missionarische Aktivitäten entfalten. —»Toleranz und bürgerliche Freiheiten haben in Großbritannien, in den Niederlanden und vor allem in den USA auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege ein starkes Gemeinbewußtsein geschaffen, das sich sowohl aus den diakonischen Impulsen der verschiedenen —»Erweckungen wie aus humanitären, aufklärerischen Motiven speiste. Darum sind viele Wohl-

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fahrtseinrichtungen zwar unter starker Mitwirkung von Christen und Kirchengemeinden, aber nicht unter kirchlicher Trägerschaft, sondern als freie Stiftungen, Vereine und auf kommunaler Basis geführte Einrichtungen entstanden. Die koordinierenden „Community welfare councils" spielen als Träger und Planer eine große Rolle, während die unmittelbare behördliche Trägerschaft der öffentlichen Hand erst in jüngster Zeit an Gewicht zunimmt. In Großbritannien waren 1945 alle Krankenhäuser und die meisten Heime freier und kirchlicher Träger vom britischen Wohlfahrtsstaat („Public health Service") übernommen worden, übrigens in Übereinstimmung mit den Kirchen. Doch es bildeten sich zugleich mehr neue, weithin auf Freiwillige gestützte soziale Dienste der Kirchen als zuvor. Finanziell und in der Durchdringung der Gesellschaft an seine Grenzen gestoßen, sucht der Staat heute die partnerschaftliche Kooperation mit den kirchlichen und freien Verbänden. Er fördert sie auch durch Zuschüsse. In den —*Vereinigten Staaten von Amerika machten in den letzten Jahrzehnten die großen sozialen Probleme ein immer stärkeres Engagement des Staates notwendig: Arbeitslosigkeit, rassische Minderheiten, psychosoziale Massennöte und Suchtgefahren übersteigen die Kapazitäten der Kirchen und freien Vereine und fordern Milliardenhaushalte. In partnerschaftlicher Kooperation fördert der Staat durch Investitions- und Betriebsmittelzuschüsse jedoch die freien und kirchlichen Einrichtungen, so kirchliche Alten-, Behinderten- und Kinderheime. Eine Gruppierung in großen kirchlichen Wohlfahrtsverbänden wie in Deutschland kann es bei der Vielfalt verschiedener Kirchen an jedem Ort kaum geben. Doch werden amerikanische Kirchenmitglieder seit je zum sozialen und diakonischen Engagement erzogen. Sie setzen sich in der Gemeinde, vor allem aber auch in der Öffentlichkeit, unermüdlich ein. Die Statistiken kircheneigener diakonischer Einrichtungen erfassen darum nur einen Bruchteil der von amerikanischen Christen wirklich geleisteten Diakonie. Die ökumenische Diakonie in den USA ist dadurch gekennzeichnet, daß alle amerikanischen Kirchen Missionskirchen sind (—> Mission). Seit der Konsolidierung der Denominationen durch die Mission auf dem eigenen Kontinent hat sich etwa seit der Jahrhundertwende die Heidenmission mit einer sehr starken sozialen und diakonischen Komponente kräftiger entwickelt als in Europa. Viele Gemeinden führten einen eigenen „Missionar in China" o. ä. auf ihrer Mitarbeiterliste. Neben der ausgedehnten Gesundheits- und Erziehungsdiakonie auf der Basis der Missionsstationen war jene Epoche gekennzeichnet durch die Stiftung großer christlicher Krankenhäuser, ja ganzer Missionsuniversitäten. Besonders engagierte sich die amerikanische Missionsdiakonie gegen die Massennöte Hunger, Seuchen und Bevölkerungsexplosion in China, Indien und im Nahen Osten. Vier große christliche Universitäten gingen mit dem Sieg Maos in —> China verloren. 2000 Missionare mußten das Land verlassen. In —>Indien spielt die Missionsuniversität Vellore bis heute besonders in der medizinischen Forschung eine große Rolle. Die Amerikanische Universität in Beirut wagte sich auf ein besonders problematisches Gebiet. Ihre Absicht, die in sich abgekapselten orthodoxen christlichen Minderheiten an die Welt von heute heranzuführen, wurde von diesen als Proselytismus verdächtigt und von den Moslems beargwöhnt. — So sachgemäß auch das diakonische Ziel der Heranbildung eingeborener Fachleute für Landwirtschaft, Medizin, Technik und Erziehung erschien, so zeigten sich doch bald die Grenzen einer solchen zivilisatorischen Überfremdung im Namen christlicher Mission. Schon 1933 bezeichnete der sehr gründliche Bericht einer Reihe bedeutender amerikanischer Fachgelehrter Rethinking Missions (vgl. E. W. Hocking, Rethinking Missions, New York 1933; ders., Rethinking Missions. Suppl. Reports, 7 Bde., New York 1934 ff; R. E. Speer, Rethinking Missions Examined, New York 1933) die Krise dieses Weges christlicher Diakonie, die in den folgenden Jahrzehnten der Dekolonisation voll bestätigt wurde. Das seitherige Engagement der amerikanischen Hilfen setzt darum mehr in der Form des „fraternal worker" an der Basis an. Einen besonderen Anteil haben die Kirchen der USA an der großen Bewegung der ökumenischen Hilfswerke, die, nach dem Ersten Weltkrieg mit der Quäkerspeisung und dem Hooverplan beginnend und während des Zweiten Weltkriegs bereits im ökumenischen Rat vorbereitet, unmittelbar danach als Hilfsaktion für die vom Krieg und den Vertreibungen

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besonders heimgesuchten Länder eine große Bedeutung erhielten. Im wahrsten Sinn des Wortes entstand hier eine „Diakonie der Versöhnung" mit dem bisherigen Kriegsgegner. Treibend und gestaltend war hier die zahlenmäßig sehr kleine Gruppe der sog. Friedenskirchen, d.h. insbes. die —»Mennoniten, —»Quäker, —»Brüder (Church of the Brethren) und —»Hutterischen Brüder, die, seit je in politischen Aktionen zur Kriegsverhütung tätig, nach dem Ersten Weltkrieg besonders den hungernden deutschen Kindern über Jahre hinaus halfen. Selbst wegen Kriegsdienstverweigerung in den USA hart bedrängt und diffamiert, bereiteten sie bereits während des Krieges die Nothilfe für die zu erwartende Katastrophe vor. Studenten der Brüderkirche erprobten in einem halbjährigen Hungerexperiment, welches Minimum an Kalorien zum Überleben nötig sei. Die Vorarbeiten der US-Kirchen „für einen gerechten und dauerhaften Frieden" (1943) fanden hier eine unmittelbare Verwirklichung im Engagement vieler tausender Gemeinden. Aber auch die sog. Truman-Doktrin und der Marshallplan verdanken ihren Ursprung diesen Initiativen. In Europa wurden die Kirchen von gleichem Geist erfaßt und traten in dem Maß, in dem sie die Kriegsfolgen überwanden, selbst in die ökumenischen Hilfsaktionen bzw. die kirchliche Entwicklungshilfe ein. 2.5. Lutherische Kirchen in Europa und den USA. Die Lutherischen bzw. Unierten Kirchen Mitteleuropas und Skandinaviens waren bis 1918 und sind im Norden noch Staatskirchen, deren personeller und finanzieller Gestaltungsspielraum ganz von der staatskirchlichen Verwaltungsbürokratie abhing. 'Einediakonische Reformation, wie das Industriezeitalter sie erforderlich machte, konnte sich deshalb nicht innerhalb der kirchlichen Strukturen entfalten, sondern — besonders unter dem Einfluß der Erweckungsbewegung — nur an ihrem Rande in der Form freier Vereine und Stiftungen, die als Diakonissen- und Diakonenanstalten und als Innere Mission dann allerdings die Gemeindeglieder stark in ihren Bann zogen. Von den Monarchen und den führenden Kreisen als wichtiges Mittel sozialen Ausgleichs und der Verhinderung der Revolution angesehen, konnten sie sich unter obrigkeitlicher Förderung stark entwickeln, auch wenn sie zur gesellschaftlichen Entwicklung mit dem Gedanken der Sozialversicherung (Lohmann; Bismarck) nur einen geringen Beitrag leisten konnten. Vom Schwerpunkt des Luthertums in Deutschland (s. u. Abschn. 3) ausgehend ergriff die Erweckung mit ihrem missionarischen und diakonischen Aufbruch auch die skandinavischen Nachbarkirchen. Diakonissenhäuser, Diakonenanstalten mit ihren Krankenhäusern, Heimen und Pflegestationen, Stadtmissionen für die besonderen Großstadtprobleme wurden gegründet und als Innere Mission zusammengefaßt. Da die Verwaltung der Kirche durch ein Staatsministerium eine diakonische Umgestaltung der Kirche bis heute nicht erlaubte, wurde der sehr perfektionierte Sozialstaat in seinen Einrichtungen sozialer Hilfe ganz auf staatlich-kommunaler Basis aufgebaut. Die diakonischen Anstalten usw. blieben auf ihr überkommenes Erbe beschränkt. An den Problemen der sozialen Ordnung überhaupt haben die Kirchen und die theologischen Fakultäten jedoch durchaus teilgenommen. Erst in neuester Zeit kann die Kirche von —»Schweden es durchsetzen, daß die Diakonie ein „Wesenselement" in ihrer Ordnung genannt wird. Seit 1965 besteht ein Diakoninämnden der Kirche, das insbesondere die Ausbildung der ca. 1500 Diakoninnen und Diakone für den kirchlichen Dienst zusammenfaßt, die u. a. auch Aufgaben moderner Sozialarbeit wahrnehmen sollen. — Eine Ausnahme macht die Evangelisch-Lutherische Kirche —>Finnlands, die, seit 1919 unabhängig, ihre Diakonie in den Gemeinden stark entwickelt hat, unterstützt von vier Diakonissenmutterhäusern. 1944 wurde von der Synode ein Kirchengesetz über die Diakonie verabschiedet, das die Gemeinden und jedes Gemeindeglied für die Diakonie in Pflicht nimmt und das Amt eines Diakons/Diakonisse für j ede Gemeinde vorschreibt. Sie sind die Verantwortlichen für Krankenpflege und Sozialarbeit, vor allem aber für die Heranbildung freiwilliger Helfer in der Gemeinde.—ökumenische Diakonie, sei es in Form von Hilfswerken für Katastrophen in der Welt, sei es für Missionsdiakonie, wird in den skandinavischen Kirchen sehr intensiv betrieben und genießt hinsichtlich der fachlichen Qualität wie der Höhe der Opfer einen großen Ruf.

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Die evangelischen Restkirchen in —>Polen, der —»Tschechoslowakei und —»Rumänien halten mit M ü h e einige ihrer alten Einrichtungen aufrecht. Eine Ausnahme bilden die Reformierte und die Lutherische Kirche in —»Ungarn, die nicht nur ihre Einrichtungen instandsetzen konnten, sondern auch einen neuen Ansatz diakonischer Arbeit in den Gemeinden gemacht haben. Ihr Engagement für die N ö t e des Nächsten erfährt auch die Duldung bzw. Würdigung der öffentlichen H a n d . In Ungarn w u r d e jüngst auch ein beachtliches H a n d b u c h für Diakonie erarbeitet (A Magyarorszägi Reformätus Egyhäz Diaköniäja, hg. v. T. Bartha, Budapest 1979). Die Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in —»Österreich hat — im Verhältnis zu ihren nur 5 0 0 0 0 0 Mitgliedern - eine größere Z a h l diakonischer Zentren, insbesondere das M u t t e r h a u s in Gallneukirchen mit vielen Zweiganstalten, sowie Einrichtungen in Wien, Kärnten und Steiermark. Die Diasporasituation und die Kleinheit der Gemeinden macht gemeindediakonische Aktivitäten nicht leicht. 3. Diakonie

in den evangelischen

Kirchen der Bundesrepublik

Deutschland

3.1. Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland. Etwa 1 0 0 0 0 0 0 Menschen, Christen oder Nichtchristen, empfangen in der Bundesrepublik täglich einen Dienst aus den H ä n d e n evangelischer Diakonie - etwa ebensoviele aus denen der Caritas (s. o. Abschn. 2.3). 2 2 3 0 0 0 angestellte Berufskräfte und einige H u n d e r t t a u s e n d e freiwilliger bzw. ehrenamtlicher, z. T. fachlich sehr qualifizierter Helfer tun den Dienst. Das sind mehr Menschen, als im übrigen Dienst der Kirche stehen. Der Jahresumsatz aller Einrichtungen wird im J a h r 1979 auf 6,5 M r d . D M geschätzt, wovon ca. 1 0 % auf Investitionen entfallen. Im Blick auf das, w a s hier täglich aus christlichem Geist beraten, gepflegt, erzogen und mit seelsorgerlichem Dienst begleitet wird, und im Blick auf das geistliche Band, das die diakonischen Dienstgemeinschaften zusammenhält, ist es keine A n m a ß u n g , von der Diakonie als einer „Dimension der Kirche" zu sprechen. Im „Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland" sind die r u n d 2 1 0 0 0 Einrichtungen evangelischer Diakonie (eigene Rechtsträger) zusammengefaßt. Es ist der D a c h v e r b a n d f ü r die Diakonischen Werke der Landes- u n d der Freikirchen sowie der über 100 Fachverbände der einzelnen diakonischen Dienste. Seine 1975 verabschiedete Satzung vollzog die endgültige Vereinigung des 1849 durch J o h a n n Heinrich —»Wichern initiierten „Centraiausschuß f ü r die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche" mit dem 1945 durch Eugen Gerstenmaier entworfenen, durch die Bischöfe Theophil W u r m und O t t o —»Dibelius geförderten und durch die erste Synode in Treysa geschaffenen „Hilfswerk der Evangelischen Kirche in D e u t s c h l a n d " . Die Vereinigung der Inneren Mission mit dem Hilfswerk, das immer mehr v o n einer ökumenisch empfangenden zu einer in der Ö k u m e n e helfenden Organisation geworden war, brachte es mit sich, d a ß das Diakonische W e r k nicht n u r die Diakonie im eigenen Lande vertritt, sondern auch die Planung, Organisation und z. T. auch D u r c h f ü h r u n g der ökumenischen Diakonie zu verantworten hat, eine sachlich sinnvolle, in den außerdeutschen Kirchen jedoch seltene Lösung. D a s Diakonische Werk „ s o r g t " als Werk der EKD nach seiner Satzung von 1975 „ f ü r die Ausrichtung kirchlicher Arbeit in diakonischer und volksmissionarischer V e r a n t w o r t u n g " (Art. 1). Seinen Mitgliedern gegenüber h a t es die Aufgaben: „die angeschlossenen Werke und Einrichtungen zu fördern sowie ihrer Z u s a m m e n a r b e i t und Planung zu dienen, sowie einige zentrale Aufgaben direkt w a h r z u n e h m e n wie Grundlagenforschung, M i t w i r k u n g bei der Gesetzgebung, Fortbildung der Mitarbeiter, Ökumenische Diakonie, N o t - und Katastrophenhilfe" (Art. 2). N a c h Art. 3 ist das Diakonische Werk als „Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege" zusammen mit den übrigen („Arbeiterwohlfahrt", „Deutscher Caritasverband", „Deutsches Rotes Kreuz", „Deutscher Paritätischer W o h l f a h r t s v e r b a n d " , „Zentralwohlfahrtsstelle der J u d e n in Deutschland") ein wesentlicher Faktor im Gesamtsystem aller sozialen Hilfen in unserem Sozialstaat. Die Gesamtzahl der Mitarbeiter der sechs Verbände liegt ü b e r 5 0 0 000. Die Partnerschaft dieser „ f r e i e n " (bzw. „frei-gemeinnützigen", nicht „privaten") mit der „ ö f f e n t l i c h e n " (d. h. staatlich-kommunalen) Wohlfahrtspflege h a t zu einem erfreulichen

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Wettstreit und Miteinander der freien und öffentlichen Initiativen, Planungen, Gestaltungen und Finanzierungen der sozialen Dienste geführt. Dabei zeigen die freien Verbände größere Beweglichkeit im Aufspüren der Not, in Initiativen und Experimenten, während bei sog. „flächendeckenden" Planungen, etwa bei der Bereitstellung von Krankenhäusern oder Altenheimen, die öffentliche Hand eine Gesamtverantwortung für die Bedarfsermittlung und die Finanzierung der nötigen Einrichtungen hat, die dann sowohl in freier wie in öffentlicher Trägerschaft geführt werden. Das Diakonische Werk hat die Rechtsform eines „eingetragenen Vereins" (e.V.), die sich als notwendig erwiesen hat, um die Partnerschaft mit den übrigen Spitzenverbänden zu wahren. Zwar gehören ihm Kirchengemeinden und andere kirchliche Körperschaften öffentlichen Rechts an, aber auch so viele privatrechtlich organisierte Einrichtungen und Verbände sowie die Werke der Freikirchen, daß nur die Vereinsform möglich erschien. Es bleibt hier ein z. Zt. unlösbares kirchenrechtliches Problem offen. Organe des Diakonischen Werks sind die „Diakonische Konferenz" und der „Diakonische Rat", in denen die Kirchen, die Gemeinden, die Verbände und Einrichtungen der Diakonie vertreten sind. Die Geschäftsführung des Werks liegt in den Händen des Präsidenten des Diakonischen Werks (z. Zt. Theodor Schober) und der leitenden Mitarbeiter der Hauptgeschäftsstelle in Stuttgart. Auf die einzelnen, hinter den 100 Fachverbänden stehenden Arbeitsgebiete kann in diesem Rahmen ebenso wie auf alle Arbeitsformen der gemeindlichen Diakonie nicht eingegangen werden (vgl. jedoch die Statistik u. Abschn. 3.8). Im Folgenden sollen nur einige Akzente dort gesetzt werden, wo wichtige Wandlungen und Neuentwicklungen im Gange sind. 3.2. Wandlungen in der Anstaltsdiakonie (Diakonissenmutterhäuser, Diakonenanstalten, Krankenhäuser und Behinderteneinrichtungen). Ein vergleichender Blick auf die heute bis 150 Jahre alten Gründungen Fliedners und Wicherns, —»Löhes und v. —»Bodelschwinghs und ihrer Mitstreiter zeigt, daß die großen Anstalten der Diakonie seither an Umfang und Mitarbeitern stark gewachsen sind, daß sie aber ihren Arbeitsfeldern, ihren Grundsätzen und Zielen in erstaunlichem Maß treu geblieben sind. In der Bundesrepublik wurden kaum ein Haus und nur wenige, nicht mehr akute Dienste aufgegeben. Viele neue Dienste, viele Fachausbildungsstätten wurden geschaffen. Aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vertriebene Diakonissenmutterhäuser nahmen hier die Arbeit auf. Doch der Rahmen, in dem besonders die evangelischen —»Krankenhäuser (s. u. Abschn. 3.8.1) arbeiten, hat sich gewandelt, entsprechend den Gegebenheiten des Sozialstaats. Die Krankenpflege, einst vorab für die Ärmeren geschaffen und weithin durch Spenden finanziert, ist durch Gesetze zur Pflicht der öffentlichen Hand geworden, und die krankenversicherten Bürger haben ein Recht auf Pflege erhalten. Die freien und somit auch die konfessionellen Krankenhäuser decken auch heute noch einen erheblichen Anteil am Bettenbedarf in der Bundesrepublik, aber die Planung und somit das Gesetz des Handelns liegen bei der öffentlichen Verwaltung. Das Krankenhausfinanzierungsgesetz des Bundes, das den größten Teil der Investitionen bereitstellt, ist zwar auch für die freien Krankenhäuser unentbehrlich, aber mit der Einbindung in die öffentliche Planung ergeben sich auch Probleme, die nur bei guter Partnerschaft zu lösen sind. Umstritten ist z. Zt., ob die bewährte theoretisch-praktische Krankenpflegeausbildung wie bisher von den Krankenhäusern selbst durchgeführt oder in der Form besonderer Fachhochschulen umgestaltet werden soll. Ähnlich ist die Entwicklung der Heime für körperlich oder geistig Behinderte verlaufen (s.u. Abschn. 3.8.1). Hier haben gerade die diakonischen Anstalten aufgrund einer 150jährigen Erfahrung und der Entwicklung immer neuer, verfeinerter Therapien in einem einst kaum vorstellbaren M a ß dazu geholfen, daß „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige rein werden und Taube hören" (Mt 11,5). Daß diese therapeutischen und pädagogischen Fortschritte gemäß dem Evangelium auch eine heilsgeschichtliche Dimension haben, wird in Theologie und Gemeindepraxis leider meist übersehen. Ein Blick auf die Mitarbeiterschaft dieser diakonischen Einrichtungen zeigt noch stär-

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kere Wandlungen. Daß die Mutter- und Brüderhäuser ihre Anstalten geschlossen mit Diakonissen und Diakonen besetzten, gehört längst der Vergangenheit an. Ein Kern von diesen vermag noch immer den Geist der Häuser zu prägen. Doch die große Mehrheit des Personals steht in einem freien Arbeitsverhältnis und wird nach Tarif besoldet. Ihre Frömmigkeit und kirchliche Bindung sind verschieden geprägt, viele Spezialkräfte haben keine diakonische Ausbildung durchlaufen. Arbeitsrhythmus und Arbeitszeitregelung machen es schwer, das tägliche Gebet miteinander zu halten. Dennoch wächst den Häusern der Diakonie aus den Gemeinden noch immer ein engagierter Nachwuchs zu, der nicht nur Ausbildung, sondern auch Gemeinschaft sucht. Viele, die sich selbst in ihren Dienst miteinbringen möchten, suchen die Mitarbeit in einem christlichen Haus. Ein Hauptproblem evangelischer Krankenhäuser und Heime wird es sein, ob sie das Diktat medizinischer Technik so überwinden können, daß sie als „therapeutische Gemeinschaft" ganzheitliche Therapie und christlichen Beistand am Kranken- und Sterbebett zu geben vermögen. Derartige Hilfen, für die keine Krankenkasse zahlt, fordern besonders die Kirchen und die Laienhelfer der Gemeinden heraus, von denen in angelsächsischen Krankenhäusern bereits viele tätig sind. Noch stärker als im Krankenhaus zeichnet sich der Wandel in der Behindertenarbeit ab. Boten die Heime früher meist eine Zuflucht fürs Leben an, so setzen die heutigen Rehabilitationstherapien und Bildungsmaßnahmen in oft sehr mühsamer Arbeit ihre Patienten instand, entlassen zu werden, einen Beruf zu ergreifen und allein oder in kleinen Wohngruppen ihr Leben aufzubauen. So können z. B. die „von Bodelschwinghschen Anstalten" in Bethel heute 90% ihrer Epilepsiepatienten wieder in Familie und Beruf entlassen. Die Therapien haben den Bedarf an hochqualifizierten Fachkräften für die körperliche und seelische Rehabilitation stark vermehrt. Zugleich aber hat das Arbeitsfeld sich mitten in das gesellschaftliche Leben ausgeweitet, und Entscheidendes hängt nun davon ab, ob engagierte Christen in unseren Gemeinden bereit sind, diese Behinderten voll in ihrer Mitte anzunehmen. Dem Trend unserer Gesellschaft, auszugliedern, was nicht voll leistungsfähig erscheint, muß durch die Praxis und das gesellschaftspolitische Engagement der Gemeinde Einhalt geboten werden (s. o. Abschn. 1.3). 3.3. Heimerziehung. Keines der seit J. A. —»Comenius und A. H. —»Francke klassischen Gebiete evangelischer Diakonie macht gegenwärtig eine so starke Wandlung durch wie die Heimerziehung verlassener, erziehungsgeschädigter, psychisch kranker oder straffälliger Kinder und Jugendlicher (s. u. Abschn. 3.8.1). 956 Einrichtungen mit 52542 Betten dienen zwar zum größeren Teil gesunden Schülern und Studenten als Internate während ihrer Ausbildung. Aber etwa 20000 Betten stehen für Kleinkinder, schulpflichtige und schulentlassene Jugendliche zur Verfügung, die heilpädagogischer Förderung bedürfen. Hier hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die kollektive Heimerziehung von der Mutter vernachlässigter oder sonst verhaltensgestörter Kinder ihre eigenen Probleme hat und leicht Heimschäden setzt. Der Ruf nach Auflösung der Heime erwies sich jedoch als unrealistisch. So wurden eine sehr individuelle Therapie und persönliche Zuwendung entwickelt und vielfache Eingliederungsmaßnahmen, z. B. in kleinen heilpädagogischen Wohngruppen inmitten der Städte, eingerichtet. Einst reichten die Heime aus, um die Jugendlichen als Arbeitskräfte in bäuerlichen oder handwerklichen Betrieben zu integrieren. Heute ist die Aufgabe, geschädigte Kinder für eine mobile Gesellschaft zu stabilisieren, sehr viel mühsamer geworden, zumal tragfähige Jugendgemeinschaften selten geworden sind. 3.4. Altenhilfe. Die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung auf über 70 Jahre und das Schrumpfen der Kleinfamilie haben die Tragfähigkeit der Familie für ihre Alten radikal vermindert. Die leistungsorientierte Mentalität der Industriegesellschaft hat für die Alten nur wenig sinnvolle Funktionen anzubieten. So verstärken sich auch auf diesem Gebiet die Betreuungsmechanismen unserer Gesellschaft mit ihrem Aussonderungseffekt. „Im Heim sind unsere Alten doch am besten aufgehoben", argumentiert die überforderte junge Familie. Siechenheime für Vereinsamte und Kranke gibt es zwar seit dem Mittelalter.

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Die massenweise Isolierung der Alten ist jedoch ein Endprodukt moderner Grundhaltung. Gern läßt man die Diakonie die nötigen Altenheime schaffen, traut man ihr doch noch am ehesten zu, dem Abnehmen und Sterben einen Sinn geben zu können. So hat die Zahl der diakonischen Heime für alte Menschen in den letzten Jahren enorm zugenommen (s. u. Abschn. 3.8.1). Dabei haben sich drei Typen herausgebildet: das Altenwohnheim (mit Selbständigkeit in eigener Wohnung), das Altenheim (eigenes Zimmer mit voller Betreuung) und das Altenpflegeheim. Eine Einrichtung vereint meist zwei oder drei dieser Typen. Doch auch die beste leibliche, kulturelle, geistliche und therapeutische Betreuung der Alten darf die Diakonie nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch hier die Industriegesellschaft ein jahrtausendealtes Kultur- und Glaubenserbe zu zerstören droht, wenn sie die Alten absondert. Die Weisheit der Alten, die Weitergabe der menschlichen Traditionen, die Erhaltung der Familie sind Rollen, welche die Alten nur im täglichen Umgang mit den jüngeren Generationen zu spielen vermögen. Die Diakonie und zunehmend auch die Gemeinden bemühen sich, durch die offene Altenhilfe (s.u. Abschn. 3.8.2; 3.8.3; 3.8.4) wie häusliche Krankenpflege, „Essen auf Rädern", Seniorenclubs und viele kulturelle Angebote, den Alten in ihrem Wohnbereich die Fortsetzung ihrer selbständigen Existenz zu ermöglichen. Diakonie und Kirchen werden sich jedoch ebenso dafür einsetzen müssen, daß in der Stadtplanung wie im sozialen Wohnungsbau planmäßig Wohnungen für Alte neben solchen für Familien mit Kindern angeboten werden. So muß über die Altenbetreuung hinaus das Ziel der Diakonie sein, die Gemeinden zu befähigen, ihre Jugend und ihre Alten wieder zusammenzuführen, wie es biblischer Ethik entspricht. Eine Theologie der Lebensalter ist hier notwendig. 3.5. Kindertagesstätten. Die letzten Jahrzehnte haben einen enormen Ausbau der Kindergärten, -horte, -krippen usw. gebracht, die — einst für „arme Kinder" geschaffen — heute zu Erziehungsstätten für fast alle Kleinkinder geworden sind. Die evangelische Diakonie allein hat heute 7000 verschiedene Einrichtungen (s.u. Abschn. 3.8.2). Zusammen mit der Caritas stellt sie die überwiegende Zahl dieser, meist in der Trägerschaft der Kirchengemeinden befindlichen, Einrichtungen. Der Ausbildungsstand und die Zahl der Erzieherinnen sind in den letzten Jahren stark gestiegen. Obwohl die öffentliche Hand Zuschüsse für Investitionen und Betrieb gibt, bringen die Gemeinden jährlich ganz erhebliche Mittel für ihre Kindergärten auf, mehr als für alle übrigen Zweige ihrer Jugendarbeit. Die heute erhobene Frage, ob diese Erziehung in diesem Alter und in relativ großen Gruppen Gleichaltriger, abseits von Eltern und Nachbarn, der Einführung ins Leben und der Sozialisation dieser Kinder wirklich optimal dient, kann hier nicht erörtert werden. Doch wenn die Kirchen und Gemeinden sich von einem christlich geprägten Kindergarten eine Grundlage christlichen Glaubens versprechen, so ist das doch nur dann realistisch, wenn die Gemeinde zugleich eine intensive pädagogische, glaubensbezogene Elternbildung anbieten kann, Wege zu einem christlichen Familienleben weist und so auch eine Gemeinschaft ihrer jungen Eltern begründet, die auch für die Kinder die mitmenschlichen Beziehungen erweitern würde. Doch hier fehlt es sehr an Mitarbeitern, Methoden und Praxis. Diente der Kindergarten nur dazu, den Müttern die Berufstätigkeit zu erleichtern, würde er die zentrifugale Struktur der Gesellschaft nur verstärken. Gewinnt die Kirche jedoch die Eltern in der gemeinsamen Bemühung um ihre Kinder, könnte sie einen wichtigen Gegenakzent setzen. 3.6. Gemeindediakonie. Die Diakonie in der einzelnen Kirchengemeinde orientiert sich bis heute noch am Berufsbild Fliedners für die Gemeindediakonisse: Kleinkinderschule, Krankenpflege, Jungmädchenkreis. Die Mitarbeiterschaft auf diesen Gebieten hat sich inzwischen differenziert und vermehrt, die Zahl der Diakonissen stark abgenommen. Die neuerliche öffentliche Förderung der ambulanten Krankenpflege—u. a. um Krankenhauskosten zu sparen — führt z. Zt. zum raschen Aufbau zentraler „Diakoniestationen" (bei Kooperation mehrerer Verbände „Sozialstationen" genannt), in denen mehrere Schwestern, Altenpflegerinnen und -pfleger für einen bestimmten Raum eingesetzt werden. Mitunter arbeiten

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auch evangelische und katholische Gemeinden hier als Träger ökumenisch zusammen (vgl. Abschn. 3.8.3). Doch diese diakonischen Betreuungsdienste, so dringend notwendig sie sind, dürfen dennoch nicht das einzige diakonische Engagement der Gemeinden darstellen. In keinem Fall dürfen sie die Gemeindeglieder davon entbinden, dem Liebesgebot zu entsprechen und sich ihrer Nächsten ganz persönlich anzunehmen. Aufgabe einer dienenden Gemeinde ist es, zur annehmenden Gemeinde zu werden, die es mit Hilfe der Fachkräfte in ihrer Mitte lernt, selbst den Menschen in Not zur Seite zu stehen. Zahllose Menschen werden in den Einrichtungen der Diakonie geheilt, seelisch therapiert, körperlich rehabilitiert, erzieherisch resozialisiert. In jedem einzelnen Fall erhebt sich jedoch die Frage, wer sie denn nun im täglichen Leben, vom Arbeitsplatz bis zur Wohnung, von der Familie bis zur Geselligkeit, wirklich akzeptiert und sie integriert. Das Stichwort „Gesellschaft" bleibt oft ein Wunschtraum. Die christliche Gemeinde aber hat die Chance, ihre Glieder so heranzubilden, daß sie mit Sachkenntnis und mit der Bereitschaft, bei dem Beistandsbedürftigen auch zu bleiben, Menschen zu helfen lernen. Sie braucht Information, was sich in ihrer Mitte täglich abspielt, wo suchtkranke oder verhaltensgestörte Jugendliche, Isolierte, Strafentlassene, Problemfamilien oder einfach alte Menschen auf ihren Beistand warten. Sache der Diakonie, die den Menschen an den „Hecken und Z ä u n e n " nachgeht, ist es, sie in die Mitte der Gemeinde hineinzuführen. Die Angst, dem Nächsten falsch zu begegnen, läßt manche gute Absicht zuschanden werden. Ohne Anleitung und Begleitung können die freiwilligen Helfer nicht arbeiten. Wenn aber eine Gemeinde die neutestamentlichen Gnadengaben (—»Charisma) neu zu entdecken und geeignete Glieder zu bestimmten Aufgaben zu berufen beginnt, werden auch neue Kräfte wach. In unserer Statistik (Abschn. 3.8.2; 3.8.3) fällt die wachsende Zahl halboffener (Tagesstätten) und offener (ambulante Pflege- und Beratungsstellen) Dienste auf. Hier mehren sich auch die Chancen, Selbsthilfegruppen zu bilden und Laienmitarbeiter heranzuziehen (s. Abschn. 3.8.4). 3.7. Beratungsdienste und andere neue Arbeitsgebiete. Ratlosigkeit ist das gemeinsame Kennzeichen des aus der Bahn geworfenen Menschen unserer Gesellschaft: scheiternde Ehen, Neurotiker, Depressive, unerwünscht Schwangere, seelisch Geschädigte, suchtgefährdete, straffällige Jugendliche, gestrandete Ausländer, hilflose Alte brauchen zuallererst eine persönliche, annehmende und sachkundige —»Beratung. Nicht allein die Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Hilfesuchenden ist kompliziert und schwer zugänglich, das große „ N e t z " sozialer Hilfemaßnahmen ist es nicht minder. Die richtige Hilfe, den richtigen Platz zu finden, ist eine große, sehr zeitaufwendige Kunst geworden. Die in der Statistik (Abschn. 3.8.3) aufgeführten 1222 Beratungsstellen sind zum größeren Teil neue, oft mit hochqualifizierten Kräften besetzte Einrichtungen, deren Erweiterung dringend notwendig, deren Finanzierung aber weitgehend Sache der Kirchen ist. Wenn es um Heimunterbringung geht, ist der Dienst relativ leicht zu leisten, wenn es jedoch um eine Wiedereingliederung ins normale Leben geht, hat die Vermittlung von Hilfe ihre großen Probleme. Denn der annehmenden Haltung des Beraters steht nicht nur die Schwäche und oft Unbeständigkeit des Beratenen gegenüber, sondern auch die abwehrende Haltung der Umwelt. Dabei beobachten Berater, daß leider auch christliche Gemeinden, kirchliche Gruppen, Familien, Vermieter u. a. sich sehr moralisch und wenig verstehend, sehr gesetzlich und wenig evangeliumsgem ä ß verhalten. Nicht nur Einzelne werden abgelehnt, sondern sogar die Plazierung eines Heims, das der Rehabilitierung oder Resozialisierung dienen soll, stößt oft auf Widerstand. Die Frage, ob die Barmherzigkeit Gottes und die Vergebung der Sünden wirklichkeitsnah gepredigt werden, wird an dieser Stelle unausweichlich gestellt. Ein neuer Arbeitszweig, auf dem die Arbeit mit freiwilligen Helfern gute Fortschritte macht, ist die Begleitung von (evtl. anstaltsentlassenen) psychisch Kranken. Die Entlassung eines Patienten aus einer psychiatrischen Klinik stellt ihn meist vor k a u m lösbare Anpassungsprobleme, denen selbst willige Angehörige k a u m gewachsen sind. Ohne eine sachkundige Begleitung und liebevolle Annahme folgt der Freiheit rasch die Enttäuschung, ein neuer Zusammenbruch, die „Dreh-

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Diakonie IV

türpsychiatrie" kommt in Gang. Z u den Zeichen, die Jesus tat, gehören auch die Heilungen psychisch Kranker, und von den urchristlichen Charismen hat sich das A m t des Exorzisten neben den drei klassischen Ämtern am längsten in der Alten Kirche gehalten. Die weitgehende Ignorierung dieser Kranken in der Kirche heute kann vor dem Evangelium nicht bestehen. Die neue Sozialpsychiatrie sucht dringend nach Laienhelfern, um sie auszurüsten und einzusetzen. Ein weiteres großes, bislang in der Gesellschaft weithin verdrängtes, der Gemeinde vor die Füße gelegtes Aufgabengebiet ist die Annahme der Gastarbeiter- und Asylantenfamilien und insbesondere ihrer Kinder. Ins Land geholt, um unseren Wohlstand zu mehren und lebenswichtige Arbeiten zu tun, hat man wenig getan, ihren Kindern den Sprung in die deutsche Sprache und die Industriegesellschaft mit ihren Lernanforderungen leichter zu machen. Die Bildung einer neuen unterprivilegierten Klasse aber muß verhindert werden; Wohnungsprobleme, Einbürgerungsfragen brauchen eine Lobby für die noch Sprachlosen. Schon seit 1 9 6 0 hat sich die Diakonie zunächst der griechischen Arbeiter angenommen. Die Arbeit weitete sich aus. Inzwischen sind Beratungsstellen, Clubs, Schularbeitenhilfsdienste u. a. m. geschaffen worden. Die ökumenische Verantwortung der Gemeinden aber ist erst von wenigen erkannt. — Nicht weniger dringend, obschon weniger schwierig, ist die Einbeziehung der aus den Ostblockstaaten rückgesiedelten Deutschen, deren Kinder ebenfalls Sprachprobleme haben. Für weitere alte und neue Arbeitsgebiete vgl. die folgende Statistik. 3.8. Statistik der Diakonie innerhalb der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West. Bereits J. H. Wichern hat sich seit 1848 intensiv um eine gründliche Statistik der Inneren Mission, aber ebenso der sozialen Notstände bemüht (vgl. Art. Innere Mission: RE 1 1 3 , 9 0 f). Damit hoffte er, die Kirchen davon zu überzeugen, daß die „noch" funktionierenden alten städtischen Kirchengemeinden nicht annähernd die durch die Industrialisierung mobil gewordenen, entwurzelten Massen aufzufangen vermochten noch daß die übliche Klingelbeutelarmenhilfe dem Gebot der Nächstenliebe irgendwie gerecht werden konnte. Wenn die Statistik die überall aufsprießenden Aktivitäten der Nächstenhilfe dem wirklichen Bedarf gegenüberstellte, so diente das sowohl der Ernüchterung des Enthusiasmus wie der Einsicht in den Kirchen, daß viele Notstände nicht mehr caritativ, sondern nur durch ein neues Gesellschaftskonzept sozialer Sicherung zu bewältigen seien. Da Diakonie „von oben" weder angeordnet noch durchgeführt, sondern höchstens „angeregt" werden kann und die Initiativen am Ort der Not geplant und ergriffen werden, läßt sich aus den Statistiken der Inneren Mission durch 130 Jahre ablesen, wie die Ströme der Not ihr Bett verlagern und wie dem begegnet wird. Die Statistik legitimiert auf der Grundlage der eigenen umfangreichen Basiserfahrung das Diakonische Werk, im Gebiet der Gesellschaftspolitik und der Sozialgesetzgebung seine Stimme zu erheben. Die folgende Statistik (Quelle: Egino Ändert, Zahlen aus der Arbeit der Diakonie: Danken u. Dienen 1979) gibt den Stand von 1978/79 in zusammengefaßter Form wieder. 3.8.1.

Krankenhäuser

und

Heime

Allgemeine Krankenhäuser Spezialkrankenhäuser (z.B. Psychiatrie: 23, Suchtkranke: 18)

Einrichtungen 175 111

Betten 45 545 14 894

zusammen: Heime und Anstalten für Behinderte (incl. Rehabilitation) Heime für Kinder (275) und Jugendliche (Ausbildungsstätten: 263) Wohnheime für Erwachsene (ohne Altenhilfe) (Nichtseßhafte: 86) Heime für alte Menschen (mit Pflegestation: 532) Heime zum Zweck der Erholung, Kur und Ferienunterkunft Hospize

286

60439

393 956 192 1373 599 35

37983 52542 10786 97495 31156 2483

Krankenhäuser und Heime insgesamt

3834

293 884

3.8.2.

Einrichtungen der halboffenen Hilfe (Schulen, Werkstätten, Tagesstätten)

Tageseinrichtungen für Kranke und Behinderte (Werkstätten: 101) Sonderschulen für behinderte Kinder und Jugendliche (Lernbehinderte: 47) Sonderberufsschulen, Sonderberufsfachschulen und berufsvorbereitende/-fördernde Kurse für behinderte Jugendliche sowie gefährdete Jugendliche

Einrichtungen

Plätze

227

16314

157

15 050

30

1612

D i a k o n i e IV

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Sonstige Schulen (Umsiedlerkinder: 9, Heim-Berufsschulen: 29) Tageseinrichtungen für Kinder (7048) u n d Jugendliche (180) Tageseinrichtungen der örtlichen Erholungshilfe (Stadtranderholung) 5 Sonstige (Familienbildungs-: 63, Altentagesstätten: 334) zusammen: 3.8.3.

38 7228

3335 413085

74 561

12985 10674

8315

473 055

Einrichtungen der offenen Hilfe (Beratung, Betreuung, Behandlung, Zurüstung zu ehrenamtlicher Hilfe der Gemeindediakonie) Einrichtungen 3922 358 64

10 Gemeindebezogene Hilfen (Kranken- u. Pflegestationen: 2840) Beratungsstellen für M ü t t e r , alte M e n s c h e n etc. Telefonseelsorgestellen (1980; ev.: 26, ö k u m . 38) Beratungs-, Betreuungs u n d z . T . Behandlungsstellen für Randgruppen 15 der Bahnhofsmission (98), Seemannsmission (13), Binnenschiffer (11) u. a. der Suchtkrankenhilfe der Johanniter-Unfallhilfe

306 139 195 176

zusammen: 20 Dekanats-, Kreis- u n d Ortsstellen der Diakonie, Evangelische Gemeindedienste, Evangelische Gesellschaften, Stadtmissionen Diese Dienststellen, deren Mitarbeiterschaft zwischen einer Sozialarbeiterin und 5 0 0 Mitarbeitern schwankt, leisten bzw. koordinieren insbesondere die „ o f f e n e n " und „ h a l b o f f e n e n e n " diakonischen Dienste. Sie vermitteln dem Hilfesuchenden die nöti25 gen Hilfen, werben andererseits für die Diakonie in den Gemeinden und bauen Helferkreise von Freiwilligen auf. Sonstige Hilfen für Kranke, Erholung, Jugendschutz, V o r m u n d s c h a f t e n

30

Hilfen/Selbsthilfen

3.8.5.

Ausbildungs-,

außerhalb

bestimmter

Einrichtungen

Fort- und Weiterbildungsstätten

für soziale

(Altenclubs:

1973)

3.8.6.

Mitarbeiter

Berufliche Mitarbeiter insgesamt M u t t e r h ä u s e r u. a. Schwesternschaften Diakonenanstalten (Brüderhäuser) Mitglieder der Deutschen D i a k o n e n s c h a f t 45 (darunter neuerdings 172 Diakoninnen)

3.9.

ökumenische

Diakonie

(—>Ökumene).

6062 2820

Berufe

Berufsvorbereitung Ausbildung Bereich „Pflege" (Kinder-, W o c h e n - Familien-, Altenpflege etc.) Bereich „ T h e r a p i e " 35 Bereich „Sozialwesen" (ohne Hochschulen) Bereich „ H o c h s c h u l e n " Bereich „ H a u s w i r t s c h a f t u n d E r n ä h r u n g " Fort- u n d Weiterbildung

40

508 410

Einrichtungen der offenen Hilfe insgesamt 3.8.4.

1222

94 293 13 59 14 18 42 zusammen:

533

Einrichtungen

Mitarbeiter

95 16

223 000 24347

5357

In d e m M a ß , w i e d i e K i r c h e n in D e u t s c h -

l a n d n a c h 1 9 4 5 in d i e ö k u m e n i s c h e M i t v e r a n t w o r t u n g d e r K i r c h e n f ü r e i n a n d e r e r n e u t einb e z o g e n w u r d e n u n d s i e ihre e i g e n e n N o t s t ä n d e e i n i g e r m a ß e n b e w ä l t i g t h a t t e n , v e r s t a n d es s i c h für sie, d i e s o r e i c h e H i l f e e m p f a n g e n h a t t e n , v o n s e l b s t , d a ß sie in d i e G e m e i n s c h a f t der 50 H e l f e n d e n e i n t r a t e n . A l l e r d i n g s w a r es e i n a u s g e s p r o c h e n e s Z e i c h e n d e r V e r s ö h n u n g , d a ß bei d e r g r o ß e n F l u t k a t a s t r o p h e in H o l l a n d 1 9 5 3 sich d i e h o l l ä n d i s c h e n K i r c h e n b e r e i t f a n d e n , die S e n d u n g e n d e s H i l f s w e r k s der E K D a n z u n e h m e n .

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Diakonie IV

Zuerst wurde das Austauschprogramm für Theologiestudenten und andere Mitarbeiter im Auftrag des ökumenischen Rats übernommen. Dann folgte das Programm „Kirchen helfen Kirchen", das Einzelprojekten armer oder verfolgter Kirchen zugute kommt. Die Beratung für Auswanderer und ihre Vermittlung an Kirchen in Ubersee spielte nach dem Krieg eine große Rolle. Umgekehrt ist heute die Mitsorge für die Diakonie der Griechisch Orthodoxen Diözese in Westeuropa mit dem Sitz in Bonn im Blick auf die orthodoxen griechischen Arbeiter zur ökumenischen Aufgabe geworden. Gleiches gilt für andere Exil- oder Minderheitskirchen. 1959 reifte die Erkenntnis, daß die Kirchen der reichen Industriestaaten zur Hilfe bei den regelmäßigen, strukturellen Hunger- und Krankheitsnöten sowie bei besonderen Katastrophen in den Ländern der Dritten Welt berufen seien. Das Diakonische Werk machte die Landes- und Freikirchen willig, Weihnachten 1959 zur ersten Aktion „Brot für die Welt" aufzurufen. Der Name sollte zugleich an Jesus, das Brot des Lebens, und an die Speisung der Fünftausend erinnern. Der Aufruf hatte ein völlig unerwartetes Ergebnis: die größte je in den evangelischen Kirchen erreichte Summe von 17 Mio. DM. Der Ertrag von 1979 liegt bei 50 Mio. DM. Inzwischen sind weitere Mittel aus den landeskirchlichen Haushalten („Kirchlicher Entwicklungsdienst" 1978 mit 80 Mio. DM) und von der Regierungsseite („Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe" mit 73 Mio. DM) hinzugetreten. Weitere Einzelsammlungen für Natur- oder Kriegskatastrophen kamen jährlich mit Millionenbeträgen hinzu. Es darf nicht vergessen werden, daß die Entwicklungshilfe evangelischer Diakonie (wie entsprechend auch der eng mit ihr zusammenarbeitenden Caritas) ihre Entstehung der freien Opferbereitschaft der Gemeinden verdankt und daß sie durch die jährlichen Aktionen bestätigt wird. Hinzu trat das Programm für qualifizierte Berufskräfte für die Entwicklungshilfe „Dienste in Ubersee" sowie Stipendienprogramme für junge Christen zur Ausbildung für Berufe in der Entwicklungshilfe, wenn möglich an Hochschulen ihres Landes. Von Anbeginn zielte die ökumenische Diakonie auf Strukturverbesserungen an der Basis in den Notgebieten der Dritten Welt, insbesondere auf Agrarprogramme, Fischfang, Gesundheitsversorgung, Erziehung und handwerkliche Berufe. Grundsatz ist „Hilfe zur Selbsthilfe", wobei der erste Schritt sein muß, ein Vertrauen zu wecken, daß Veränderungen der Landbau- und Viehzuchtmethoden, des Absatzes, der Genossenschaftsbildung an der Basis möglich und hilfreich sind. Der Vertrauensvorschuß der christlichen Gemeinde ist dafür eine wichtige Voraussetzung, auch wenn „Brot für die Welt" sich nicht nur am Vorhandensein christlicher Helfer, sondern auch an der Härte des Notstands orientiert. Die aus der Missionsarbeit erwachsenen größeren Ausbildungsstätten und modernen Krankenhäuser, wie z. B. das von Moshi in Tansania, erweisen sich als unentbehrliche Ausbildungszentren z. B. für sog. „Barfußärzte" und Schwestern, welche auf den Dörfern die Grundlagen moderner Hygiene- und Gesundheitserziehung wie der einfachen Krankenpflege legen müssen. Nur bei besonderen Hunger-, Kriegs- und Naturkatastrophen führt die ökumenische Diakonie die Hilfe - meist im Verbund mit den Hilfswerken und Kirchen anderer Länder - in eigener Regie durch. Normalerweise werden nur Projekte gefördert, die aus den Kirchen der Dritten Welt oder von anderen dortigen Antragstellern vorgelegt und auf ihre Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit geprüft und unter ihrer Verantwortung durchgeführt werden. Eine genaue Rechnungslegung geht mit der Abwicklung jedes Projekts einher. Die inzwischen großen Erfahrungen der ökumenischen Hilfswerke finden heute auch die Beachtung der Industriestaaten, deren Entwicklungshilfe, oft auf den Wunsch der Entwicklungsländer selbst wie auch der eigenen Exportindustrie, stärker auf die Erschließung von Rohstoffen und Schaffung von industriellen Fertigungen gerichtet war, aber die damit einhergehende soziale Revolution bzw. Proletarisierung einer fast ganz agrarischen Gesellschaft übersah. 4. Die Diakonie in den evangelischen

Kirchen der DDR

4.1. Diakonisches Werk - Innere Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in der DDR. Bis 1970 bildete die EKD, und damit auch „Innere Mission und Hilfswerk" (so

Diakonie IV

677

die Bezeichnung seit 1957), in beiden Teilen —»Deutschlands noch eine Einheit. Trotz Teilung und „Mauer" waren noch immer gemeinsame Tagungen und ein gründlicher Erfahrungsaustausch möglich, vor allem aber konnte der westliche Partner dem östlichen wesentlichen Beistand beim Wiederaufbau der kriegszerstörten oder sanierungsbedürftigen Anlagen leisten. Die Not, besonders der ins Land geströmten Vertriebenen, war in der DDR viel größer und die Mittel der Kirchen sehr viel geringer als in der Bundesrepublik. Die festverwurzelte und ausgedehnte Arbeit der Inneren Mission stellte einen so unersetzbaren Anteil an den gesundheitlichen und sozialen Diensten der DDR dar, daß der sozialistische Staat diese würdigte und eine sachliche, ja weithin gute Zusammenarbeit entstand, die sich bis heute bewährt. Seit der Trennung der beiden Kirchen besteht nun das selbständige Werk „Diakonisches Werk - Innere Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in der DDR" mit einem Hauptausschuß, einer Hauptversammlung und der Geschäftsstelle, die z. Zt. Ernst Petzold leitet. Die Einbindung in die Kirchen ist vorbildlich gelöst, die Mitarbeit der Freikirchen und die regionale und fachliche Gliederung sind ähnlich wie in der Bundesrepublik gestaltet. 4.2. Bestand der Anstaltsdiakonie. Der Vorkriegsbestand an Anstalten und Einrichtungen konnte weithin erhalten werden. In Staatshand überführt wurden die Aufgaben der Heimerziehung, soweit sie nicht geistig und körperlich Behinderten galt. Die 39 Diakonissenmutterhäuser und anderen Schwesternschaften tun nach wie vor ihren Dienst; sie zählen 5867 Schwestern. 6 Diakonenhäuser, davon Eisenach erst nach dem Kriege begründet, haben sich besonders gut entwickelt. Ihnen gehören 1395 Diakone an. Schwestern wie Diakone stehen sowohl im Anstalts- wie im Gemeindedienst, wo sie wichtige Funktionen erfüllen. Vom Gesundheitsministerium ist diesen Anstalten das besondere Recht zugestanden worden, jeweils 1500 Fachkrankenschwestern bzw. -pfleger in den eigenen Häusern in Kooperation mit den staatlichen Fachschulen auszubilden. Die gesamte Mitarbeiterschaft beträgt 15000. An Anstalten bestehen z. Zt.: Einrichtungen Krankenhäuser und Heilstätten Heime für körperlich und geistig Behinderte E r h o l u n g s - u n d Freizeitheime Feierabend- und Pflegeheime Hospize

Betten

51 89

6841 6240

117 226 7

3 633 10215 491

zusammen: 4 9 0

27420

Die Finanzierung erfolgt durch die staatlichen Pflegesätze. Trotz Materialknappheit konnte die Bausubstanz erhalten und erneuert und die Ausstattung modernisiert werden. Hierzu konnte die kontinuierliche ökumenische Hilfe der europäischen Bruderkirchen wesentlich beitragen. Besonders auf den verschiedenen Gebieten der Behindertentherapie und -erziehung hat die Diakonie anerkannte Spitzenleistungen aufzuweisen. 4.3. Gemeindediakonie. Aus der Not der Nachkriegszeit ist in den Gemeinden der Auftrag zur brüderlichen Hilfe aneinander besonders lebendig geblieben und hat zu vielen besonders hoffnungsvollen Initiativen geführt. Es bestehen bis heute 415 Gemeindekrankenpflegestationen (520 Schwestern), 16 Stadtmissionen und 100 Kreisstellen fürsorgerischer Dienste. Diakonische Bewußtseinsbildung und Anleitung zu praktischem Einsatz in der Gemeinde werden in Seminaren, diakonischen Wochen, Diakonietagen u. a. gefördert. Handreichungen und Diaserien, aber auch größere Arbeitsbücher sind erschienen. Die Gemeinden nehmen sich der Körperbehinderten und chronisch Kranken aus den Anstalten an, indem sie sie zu Kranken(fest)tagen einladen oder die Helfer zu Krankenerholungsfreizeiten stellen. Die Begleitung von psychisch Kranken, aber auch Sinnesbehinderten wird sorgsam eingeübt. Der Aufbau solcher Dienste ist um so beachtlicher, als (anders als in den Anstalten)

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Diakonie IV

hierfür keine staatlichen Pflegesätze gezahlt werden, sondern die Kirche selbst die Personalkosten für die nötigen Fachkräfte und andere Unkosten aufbringt. Für die Lebenskraft der Gemeinden spricht auch ihr starkes Engagement für die Aktion „Brot für die Welt" und in der Katastrophenhilfe. So brachte die 21. Aktion „Brot für die Welt" ( 1 9 7 9 / 8 0 ) nicht ganz 6 3 Mio. D M . Seit 1 9 5 9 , dem Beginn der Aktion, wurden insgesamt rund 7 0 2 , 9 M i o . D M gespendet, die zumeist in der Kooperation mit dem Roten Kreuz in der Dritten Welt eingesetzt wurden. Die Diakonik wird an den Universitäten Leipzig und Halle als gleichberechtigtes und gleichwertiges wissenschaftliches Fach der —»Praktischen Theologie behandelt (s. o. S. 6 5 9 , 2 7 f f ) . Literatur Die sich ständig wandelnde Entwicklung der Diakonie auf allen ihren Arbeitsfeldern bringt es mit sich, daß die wissenschaftliche Begleitung ihren Niederschlag vorwiegend in Aufsätzen findet. Im folgenden werden die zentralen Zeitschriften und größeren Werke aufgeführt. Nicht genannt werden die regionalen Zeitschriften der Landesverbände und Freikirchen sowie die Fachzeitschriften, die von einer Reihe der 100 Fachverbände und von den großen Anstalten der Diakonie herausgegeben werden. Erfaßt und bibliographisch aufgearbeitet wird diese Literatur in der Bibliothek der Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werks in Stuttgart (Postfach 476), älteres Material im Archiv in Berlin (Altensteinstr. 50). Umfassend informiert ferner die Bibliothek des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg, Br. Das diakonische Amt der Kirche im ökum. Bereich, hg. v. Herbert Krimm, Stuttgart 1960. - Das diakonische Amt der Kirche, hg. v. dems., Stuttgart 2 1965. — Zoltän Aranyos, Der Diakonat der Kirche in einer sozialistischen Gesellschaft: Diakonie. Beih. 3 (1979) 57-83 (Lit.). - Brot für die Welt. Dokumente, hg. v. Christian Berg, Berlin 1962. - Car. - Car.B. - Caritas. - Vom Werden und Wirken des Dt. Caritasverbandes, Freiburg 1959. — 75 Jahre Dt. Caritasverband, Freiburg 1975. — Paul Collmer, Sozialhilfe, Diakonie, Sozialpolitik, Stuttgart 1969. - Johannes Degen, Diakonie u. Restauration, Neuwied 1975. - Diaconia in Christo. Über die Erneuerung des Diakonats, hg. v. Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, 1962 (QD 15/16) (Lit.). - Diakonie. Jb. des Diakonischen Werks der EKD, Stuttgart 1970 ff (Forts, v. Jb. der Inneren Mission u. des Hilfswerks der EKD, 1958 ff).-Diakonie. Impulse —Erfahrungen — Theorien. Zs. des Diakonischen Werks der EKD, Stuttgart 1975 ff (Forts, v. IMis; mit Beih.). - Diakonie der Gemeinde. Arbeitsbuch für die Nächstenhilfe, hg. v. Hans Christoph v. Hase, 2 Bde., Berlin 1961/64. - Die Diakonie der EKD 1952-1966. Grundsatzfragen, Berichte, Dokumente, hg. v. dems., Gütersloh 1967. - Heutige Diakonie der Ev. Kirche, hg. v. Gerhard Noske, Berlin 1956. Die Diakonie der Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft, hg. v. Hans Christoph v. Hase, Berlin 1966. - ö k u m . Diakonie, hg. v. Christian Berg, Berlin 1959. - Diakonie u. Caritas in den Dokumenten der dt.sprachigen Synoden, hg. v. Richard Völkl, Freiburg 1977. - Diakonie der Kirche in einer veränderten Welt, hg. v. Gerhard Brennecke, Berlin 1956. - Dienet einander. Ein Hb. zum Aufbau diakonischer Verantwortung in der Kirchengemeinde, hg. v. Paul Toaspern, Berlin, DDR 1973.-ESL 7 1980.-Dietrich Gerhard, Die amerikanische Entwicklungshilfe in hist. Sicht: ders., GAufs., Göttingen 1977. Martin Gerhardt, Ein Jahrhundert Innere Mission der Dt. Ev. Kirche, 2 Bde., Gütersloh 1948. - Hb. für Zeugnis u. Dienst der Kirche. I. Diakonie in den Spannungsfeldern der Gegenwart, hg. v. HeinrichHermann Ulrich u. a., Stuttgart 2 1979; II. Gemeinde in diakonischer u. missionarischer Verantwortung, hg. v. Theodor Schober/Hans Thimme, ebd. 1979; III. Das Recht im Dienst einer diakonischen Kirche, hg. v. Theodor Schober, ebd. 1980. - Hans Joachim Hofmann, Offensive Diakonie: Samariter der Menschheit, München 1 9 7 7 , 2 6 3 - 3 4 5 . - Arnd Hollweg, Gruppe, Gesellschaft, Diakonie, Stuttgart 1976. - Jahresberichte des Präsidenten des Diakonischen Werks vor der Synode der EKD: KJ 7 2 - 7 5 (1950) ff. - Herbert Krimm, Beistand. Die Tätigkeit des Hilfswerks der Ev. Kirchen in Deutschland für Vertriebene u. Flüchtlinge nach 1945, Stuttgart 1974. - Einer trage des anderen Last. Vom geordneten Dienen in der Gemeinde, hg. v. Martin Fischer, Berlin 1957. - René Leudesdorff, Art. Diakonie: PThH 2 1975, 102—130. — Siegfried Meurer, Diakonie u. gesellschaftliche Veränderung, Wuppertal 1973. Olaf Meyer, Politische u. gesellschaftliche Diakonie in der neueren theol. Diskussion, 1974 (APTh 12). - Reform v. Kirche u. Gesellschaft 1848/1973. Johann Hinrich Wicherns Forderungen im Revolutionsjahr 1848 als Fragen an die Gegenwart, hg. v. Hans Christoph v. Hase/Peter Meinhold, Stuttgart 1973. - Theodor Schober, Diakonie als handelnde Kirche. Aufs., Stuttgart 1980. - Service in Christ. Essays presented to Karl Barth on his 80 t h Birthday, London 1966. - Solidarität u. Spiritualität (s. o. Abschn. II). —Yorick Spiegel, Diakonie im Sozialstaat: Theol. u. Kirchenleitung. FS Martin Fischer, München 1976, 96—114. — Ev. Stimmen zum Bundessozialhilfegesetz u. Jugendwohlfahrtsgesetz, hg. v. Georg Suhr, Stuttgart 1962. - Friedrich Thiele, Diakonissenhäuser im Umbruch der Zeit, Stuttgart 1963. Evangelos Thodorou, Gottesdienst u. Menschendienst: Diakonie. Beih.3 (1979) 18-33 (Lit.). - Richard Völkl, Kirchl. Caritas in der heutigen Welt:HPTh II/2 (1971) 4 0 4 - 4 2 4 (Lit.). - Heinz Vonhoff/Heinz-Joachim Hofmann, Samariter der Menschheit, München 1977. — Heinz Wagner, Die Dia-

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Diakonie V

konie: H b . der Prakt. Theol., B e r l i n / D D R , III 1 9 7 8 , 2 6 3 - 3 1 7 (Lit.). - Richard Ziegert, Der neue Diakonat, das freie Amt für eine missionarische Kirche. Bilanz einer franz. Bewegung, Göttingen 1 9 8 0 .

Hans Christoph von Hase V. Ausbildung und Fortbildung 1. Rückblick in die Geschichte der Ausbildung (Literatur S. 6 8 2 )

2. Der gegenwärtige Stand

3 . Fortbildung

Die Diakonie benötigt zur Erreichung ihrer Ziele und zur Bewältigung der sich dabei stellenden Aufgaben Männer und Frauen, die bereit sind, sich ehren-, neben- oder hauptamtlich für den Dienst an jungen, alten, kranken, behinderten oder sozialbehinderten Menschen zur Verfügung zu stellen. Die Anforderungen, die der vielseitige Dienst am Menschen an Mitarbeiter stellt, erfordern Einweisung, Anleitung, Ausbildung, Praxisberatung, Supervision und Fortbildung. Die Förderung von Mitarbeitern, die Mitarbeiterausbildung und Mitarbeiterfortbildung sind in erster Linie als Mittel zum Zweck gedacht, als konkrete Hilfe zur Erfüllung von Aufgaben im Rahmen eines Engagements auf Zeit oder einer Profession. An zweiter Stelle kommt der Aus- und Fortbildung Bedeutung als Agent der Professionalisierung diakonischer und kirchlicher sozialer Berufe zu (—»Kirchliche Berufe). 1. Rückblick

in die Geschichte

der

Ausbildung

Früheste Ansätze einer Mitarbeiterausbildung für die Diakonie lassen sich bis in die erste Hälfte des 19. J h . zurückverfolgen: Aus dem Geist der —»Erweckungsbewegung wurde auf die im Gefolge von —»Industrialisierung und beginnender Verstädterung eintretenden religiösen und sozialen Notstände reagiert. Für die Ausbildung von Erzieherinnen kommen erste Anstöße aus —»England. 1 8 3 6 entsteht im Rahmen des Kaiserswerther Diakonissenhauses Theodor —»Fliedners das Seminar für Kleinkinderlehrerinnen, die Keimzelle der heutigen Fachschulen für Sozialpädagogik. Die Ausbildung zur Anstalts- und Gemeindediakonie geht auf Johann Hinrich —»Wicherns „Gehülfenanstalt" oder „Brüderanstalt" am Rauhen Haus in Hamburg (1839) und Theodor Fliedners „Pastoralgehülfenanstalt" zur Bildung von „Hilfsdiakonen" zurück. In diesen Gründungen ist bewußt die soziale und religiöse Praxis der Anstalt der eigentliche Lernort, wofür handwerkliches Können, Lebens- und Glaubenserfahrung vorausgesetzt werden, wozu Unterricht in biblischer Theologie und ihre Entfaltung in Katechese, missionarischem Wort und Seelsorge, Unterricht in Erziehungslehre und Kenntnis der „Zustände des Volkslebens" begleitend hinzutritt. Die berufliche Arbeit der —»Frau in der Kirche des 19. Jh. blieb auf Kinder und Kranke beschränkt. Um die Jahrhundertwende wird von Frauen — durch die —»Frauenbewegung unterstützt — auch die soziale Arbeit als ihr Recht beansprucht. „Sozialarbeit" führt ihre Ausbildungsgeschichte auf die „sozialen Frauenschulen" zurück, die sich aus den „Instruktionskursen für christliche, weibliche Liebestätigkeit" von 6 Wochen (Berlin 1898) entwikkelten. Bescheiden nannte man die Anfänge erster Ausbildung „Versuche" einer „wirklichen Ausbildungsschule" mit dem Ziel: „Ausbildung christlicher Persönlichkeiten mit sachkundigem Verständnis und praktischer Übung in den Erfordernissen in Frage kommender Berufsarbeiten" (Berlin 1901). Dabei muß sich die Konzeption — „sowohl grundlegende als auch spezielle, sowohl theoretische als auch praktische Ausbildung" - noch gegen die bestehende Überzeugung durchsetzen, daß es nur einer praktischen Einführung in die christliche Liebestätigkeit bedürfe. Die erste christlich-soziale Frauenschule, zugleich noch Angebot zur Persönlichkeitsbildung und schon soziale Berufsausbildung, entsteht 1 9 0 5 in Hannover, vom „Deutschen Evangelischen Frauenbund", einem Zweig der Frauenbewegung, initiiert. Erst 3 Jahre danach eröffnet Alice Salomon ihre soziale Frauenschule in Berlin. Das Konzept und die Impulse, die von Anfang an von der Persönlichkeit Alice Salomons und ihrer Schule ausgehen, bestimmen Geschichte und Entwicklung der heutigen Ausbildungsstätten für Sozialarbeit. Sie regen auch die Diakonie zur Weiterentwicklung an: Die genannten Berliner Kurse münden mit der „Ausbildungsschule" in die 1 9 0 9 entstehende Frauenschule

680

Diakonie V

des „Centraiausschusses der Inneren M i s s i o n " . In ihr ist das Lernprogramm gleichgewichtig auf die Lernorte Schule und Anstalt (der Diakonie oder der Wohlfahrtspflege) orientiert und stark vom Lernen an der Praxis bestimmt. Der Kanon der Inhalte hat sich vor allem in den Fächern Erziehungs-, Volkswirtschafts-, Rechts- und Gesundheitslehre stark erweitert. Theologische Inhalte behalten aber ihr besonderes Gewicht. Nach dem Ersten Weltkrieg kommt es im Gefolge der reichsgesetzlich geregelten öffentlichen Wohlfahrtspflege (vgl. das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz 1 9 2 2 u. a.) zu einer zweiten Welle von „Wohlfahrtsschulen". In diese Ausbildungsstätten für soziale Berufstätigkeit (in die zunächst fast ausschließlich Frauen, ab 1 9 2 8 jedoch auch Männer Aufnahme finden) fließt der Geist der „sozialpädagogischen Bewegung" dieser Jahre und der Geist der —»Jugendbewegung mit ein. In den von der Kirche verantworteten Schulen wird der Aspekt wichtig, dem öffentlichen Wohlfahrtswesen christlich orientierte Persönlichkeiten zur Verfügung zu stellen. In einigen Wohlfahrtsschulen mit kirchlicher Trägerschaft gibt es bald zwei Abschlußarten: die staatliche oder (und) die kirchliche Abschlußprüfung. Auf der Basis des kirchlichen Abschlusses oder neben ihm entwickeln sich kirchlich-theologische Zusatzausbildungen oder Spezialausbildungen. Neben solchen sich entwickelnden Verzweigungen entstanden eigenständig in den 2 0 e r Jahren aufgrund besonderer Bedarfslagen (Jugendarbeit-; Erwachsenenbildung, Entlastung des Pfarramtes) die „Bibel- und Jugendführerschule" des Burckhardthauses (Berlin 1 9 2 5 ) , bis Anfang der 3 0 e r Jahre von 6 ähnlichen Institutionen verschiedener Prägung gefolgt. 1 9 2 8 verselbständigte sich die Jugendsekretärsklasse des Johanneums in Wuppertal zur CVJM-Sekretärschule in Kassel-Wilhelmshöhe. Bibelschulen und Sekretärschulen firmierten später auch unter der Rubrik „Gemeindehelferinnenseminare". Sie waren den sozialen Frauenschulen und Wohlfahrtsschulen nach Anlage der Ausbildung verwandt (Wechsel zwischen Lernort Schule und Lernort Praxis). In den Ausbildungsinhalten dominierten jedoch Theologie (Bibelauslegung, Katechetik und Methodik der Jugendarbeit). Der R a u m für Sozialkunde, Pädagogik, Psychologie - Kernfächer der Sozialausbildung — ist in den Bibelschulen schmaler. Zugleich entwickelte sich in einigen der in den Jahren 1 8 4 4 (Duisburg) bis 1 9 2 0 (Lutherstift Rotenburg und Martineum Volmarstein) entstandenen 17 Diakonenanstalten durch die Verflechtung mit der öffentlichen Wohlfahrtspflege ein anderer Typ diakonischer Ausbildung: 1 9 2 8 gründete Johannes Wolff die Wohlfahrtspflegerschule des Stephansstiftes in Hannover. 1 9 2 8 wurde das Examen der Diakonenschule des Rauhen Hauses mit dem Staatsexamen für Wohlfahrtspflege verbunden. ( 1 9 7 1 wurde die hiermit eingeleitete Entwicklung vorläufig abgeschlossen: die Konferenz der Diakonenausbildungsstätten beschloß einmütig eine Ausbildungskonzeption der doppelten Qualifikation. Diese umfaßt die Ausbildung zu einem staatlich anerkannten Sozialberuf — Sozialarbeiter, Erzieher, Krankenpfleger usw. t- und eine theologische Ausbildung.) Dieser doppelte Abschluß ist die Konsequenz einer Entwicklung, die Folge davon, daß sich die im „Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland" organisierte Diakonie gleichzeitig als die Diakonie der Kirche und als ein „freier Träger der Jugend- und Sozialhilfe", (als „Wohlfahrtsverband") sieht. Die Sozialarbeit, die sich im Zusammenhang mit der Sozialgesetzgebung immer mehr zur Pflichtleistung des —»Staates entwickelte, auf die jeder Bürger einen Rechtsanspruch hat, ließ ihre Ausübung immer mehr zum Beruf werden. M i t der Verberuflichung aber stieg das Anforderungsprofil sozialer Berufe. Die staatlicherseits immer konkreter umschriebenen erforderlichen Qualifikationen gelten für die Wahrnehmung von sozialen Berufen bei öffentlichen oder freien Trägern der Sozialarbeit. Dies bewirkte eine starke Entwicklung im Ausbildungswesen. Die Diakonie hat dabei den Spielraum, eigenes Profil ihrer Ausbildungsstätten und alternative Angebote zu entwickeln, nur zögernd und in Ansätzen genutzt. Dabei lehrte die Geschichte zwischen den beiden Weltkriegen: Die kirchlich verantwortete Wohlfahrtspflege mußte der NS-Wohlfahrt weichen, und die Ausbildung für die Diakonie oder evangelische Sozialarbeit wurde im Zuge dieser Entwicklung gedrosselt. Die Bibelschulen dagegen, mit einem eindeutig definierten Auftrag der Kirche, wuchsen in die Aufgabe hinein, die Mitarbeiter auszubilden, die sich vorrangig der Verkündigungsaufgabe verpflichtet sehen und auch Aufgaben der Sozialarbeit wahr-

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Diakonie V

nehmen. Ihre Wirkungsmöglichkeit erwies sich im Dritten Reich als größer. Die Entwicklung der Ausbildung für spezifisch kirchliche Berufe knüpfte daher nach dem Zweiten Weltkrieg auch zunächst hier an. Die nach 1945 wieder errichteten kirchlichen Sozialschulen öffneten sich dagegen eher neuen Impulsen (z. B. den in den USA weiterentwickelten „ M e thoden der Sozialarbeit"). Die Kirche nahm nach 1945 zunehmend, finanziell und konzeptionell, eine Mitverantwortung für die bis dahin von Werken getragenen Ausbildungsstätten wahr. 1954 wurden auf EKD-Ebene Richtlinien zur Ordnung des Dienstes der Gemeindehelferin erlassen. Im gleichen Jahr bemühte sich der Sozialausschuß der „Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend Deutschlands" um die Gewinnung von Zukunftsperspektiven einer Ausbildung für die Jugend- und Sozialarbeit in der Diakonie. Einerseits ging es dabei um die Überlegung eines Verbundsystems der verschiedenen Ausbildungsansätze; zum anderen war Ziel der Beratungen dieses Ausschusses, an dem sich sämtliche bestehenden Ausbildungsarten beteiligten, 1959 die Konzeption einer „Modellschule für Jugend- und Sozialarbeit", die später in der Höheren Fachschule für Jugend- und Sozialarbeit (Wichernschule, Hannover) ihre Verwirklichung fand. Im Zuge der Weiterentwicklung aller Höheren Fachschulen und im Zusammenhang mit der Bildungsreform entstanden schließlich 11 kirchliche Fachhochschulen, in denen die Gelegenheit geboten wird, sich in 8-semestrigen Studiengängen (in die Berufspraktika integriert sind) die Qualifikation eines graduierten Sozialarbeiters bzw. Sozialpädagogen oder eines (je nach Landeskirche verschieden) kirchlich-religionspädagogischen Abschlusses zu erwerben. 2. Der gegenwärtige

Stand (Statistik

s.o. Abschn.

IV.

3.8.S)

Die Ausbildung für eine Mitarbeit in der Diakonie wird heute von Fachschulen oder Berufsfachschulen in kirchlicher diakonischer Trägerschaft in den Bereichen Pflege (293 Ausbildungsstätten), Therapie (13 Ausbildungsstätten), Hauswirtschaft (18 Ausbildungsstätten), Sozialwesen (59 Fachschulen für Sozialpädagogik), in 14 Hochschulen (Fachhochschulen für das Sozialwesen) und in 16 Diakonenanstalten angeboten. Der Rat der E K D hat im Oktober 1976 Empfehlungen zur Ausbildung kirchlicher Mitarbeiter zur Veröffentlichung freigegeben, die von einem Fachausschuß des Bildungspolitischen Ausschusses der E K D erarbeitet worden waren, dem Vertreter der Fachhochschulen, Fachschulen sowie der Diakonenanstalten angehörten. Diese Empfehlungen wollen erreichen, daß sich alle bestehenden Ausbildungsformen als Teil eines Ganzen einfügen in eine Gesamtkonzeption kirchlicher Mitarbeiterausbildung. Auf verschiedenen Wegen soll man zu einem gleichwertigen Ausbildungsstandard gelangen — bei Beachtung bestimmter gemeinsamer didaktischer Prinzipien. Das Ausbildungswesen in kirchlicher Trägerschaft wird dabei im Kontext des öffentlichen Ausbildungswesens gesehen, in dessen Ausbildungsplanung und -entwicklung es sich einpassen soll. 3.

Fortbildung

Fortbildung hat — in enger Verbindung mit dem Ausbildungswesen — die Aufgabe, zwischen —»Theorie und Praxis zu vermitteln, Ausbildungsdefizite zu beheben und neue Erkenntnisse der Sozialwissenschaften und der Theologie aufzuarbeiten sowie die berufliche Qualifikation der hauptberuflichen Mitarbeiter zu verbessern und ungelöste Praxisprobleme zu lösen. Fortbildung ist ein Stimulans für den lebenslangen Lernprozeß von Einzelnen und Gruppen. Sie dient darüber hinaus der Weiterentwicklung von Institutionen. Neben langfristigen ( 1 - 2 Jahre), mittelfristigen (bis zu 1 Jahr) werden kurzfristige Fortbildungen auf Orts- (Bezirks-), Landes- und Bundesebene für bestimmte Personengruppen in bestimmten Arbeitsbereichen der Diakonie angeboten. Es sind zu unterscheiden: 3.1. Allgemeine Fortbildung: Ziel: Erhaltung und Verbesserung der beruflichen Qualifikation. Kennzeichen: Auffrischung, Ergänzung und Vertiefung der Grundausbildung, Erweiterung des Horizonts, Einübung der Zusammenarbeit mit anderen Mitarbeitern, Bearbeitung von Problemen der Pra-

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Diakonie V

xis, arbeitsfeldbezogene Bearbeitung persönlicher Probleme und Konflikte, Einführung in neue Fragestellungen und Methoden im Arbeitsfeld, Erweiterung der Kompetenzen im übertragenen beruflichen Wirkungskreis. oder differenzierte Fortbildung: Ziel: Intensive Fortbildung auf einem 3.2. Schwerpunktbildende bestimmten Gebiet (z. B. Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Altenarbeit, Seelsorge) und Erweiterung der beruflichen Qualifikation zur Erhaltung des Status. Kennzeichen: Langfristigkeit, Gewinnung größerer fachlicher Kompetenzen auf einem Gebiet zur Wahrnehmung einer besonderen Aufgabe in funktionaler Zusammenarbeit mit anderen. 3.3. Spezialisierende Fortbildung (durch Zusatzausbildung - hierfür wird auch der Begriff Weiterbildung verwandt): Ziel: Vermittlung einer zusätzlichen beruflichen Qualifikation, mit deren Hilfe eine spezialisierte oder gehobenere Tätigkeit ausgeübt werden kann, verbunden mit einer Veränderung des Arbeitsauftrages und möglicherweise auch Veränderung des Status (Berufsbezeichnung, Besoldung). Kennzeichen: Systematisch aufgebauter, längerfristiger Ausbildungsgang mit definierten Zulassungskriterien, Abschlußprüfung und Zertifikat. (Beispiel: Ausbildung zum Supervisor oder zum Eheberater.)

3.4. Fortbildung in Verbindung mit Organisationsberatung

und Organisationsentwicklung:

Ziel:

Vermittlung einer Fortbildung, die nicht nur auf die Person, sondern auch die gesamte Institution gerichtet ist. Nicht nur dem Einzelnen, sondern der ganzen Organisation soll durch die Fortbildung ein Impuls zur Weiterentwicklung auf ihre Ziele hin ermöglicht werden. Kennzeichen: Systematisch längerfristig aufgebaute Fortbildung, die auf eine Institution oder Organisation als Ganzes gerichtet ist und einzelne Mitarbeiter, bezogen auf ihre Funktion in der Institution oder Organisation, in einem Gesamtzusammenhang fortbildet.

Träger der kurzfristigen Fortbildung — meist sehr nahe am Arbeitsplatz der Teilnehmer veranstaltet — sind überwiegend örtliche und regionale Institutionen (Anstalten, Ausbildungs- und Bildungsstätten, diakonische Bezirksstellen). Träger der mittel- und langfristigen Fortbildung haben ihren Wirkungsbereich auf Landes- oder Bundesebene (Landeskirchen, gliedkirchliche Werke des Diakonischen Werkes der EKD). Als zentrale Fortbildungsstätte des „Diakonischen Werkes der E K D " hat die 1 9 7 1 eröffnete Diakonische Akademie, Stuttgart, die Aufgabe, leitenden Mitarbeitern, Fortbildern, Praxisberatern (Supervisoren) und Spezialisten aus der Alten-, Behinderten-, Familien-, Jugend-, Kranken- und Sozialbenachteiligtenhilfe zu helfen, ihre Arbeit im sozialen Bezugsfeld sachgerecht und dem Evangelium gemäß zu gestalten. Ihre Ziele sind deshalb: Förderung der Qualifikation von Mitarbeitern für den Umgang mit Klienten durch Fortbildung; Ermutigung der Mitarbeiter durch Hilfen zur Klärung persönlicher Probleme, beruflicher und gesellschaftlicher Rollen; Förderung von Einrichtungen, regionalen und fachlichen Organisationen, insbesondere des Diakonischen Werkes, bei ihrem Bemühen, sich weiterzuentwikkeln und ihre Organisationsformen wie Arbeitsweisen aufeinander abzustimmen. Sie versucht, diese Ziele dadurch zu erreichen, daß sie Mitarbeiter zu problembewußter zielgerichteter Arbeit, zur Entwicklung und Verwirklichung von Konzeptionen, zu phantasievollem Eingehen auf die Bedürfnisse des Klienten, zur Veränderung des eigenen Verhaltens, zu schöpferischem Handeln, zu besserer Zusammenarbeit zwischen Einzelnen und Einrichtungen befähigt. Die Arbeitsweisen sind dazu angelegt, den Erwerb von Wissen, Können und Erfahrung gleichermaßen zu fördern. Bei der Entwicklung der Programme ist die Praxis an der Basis gleich dreimal beteiligt: In der Vorbereitungsphase des Jahresprogramms beraten Fortbildungsausschüsse die Akademie, in denen Experten aus Einrichtungen, Landesverbänden des Diakonischen Werkes und der Fachverbände Mitglied sind. Die Kursteilnehmer bestimmen im Rahmen der Gesamtplanung dann die Schwerpunkte ihrer Kurse mit. Bei Auswertungstagungen oder öffentlichen Abschlußkolloquien, bei langfristigen Lehrgängen wird das Feedback der „Endverbraucher" eingebracht, das für die weitere Gestaltung des Kurstyps wichtige Anhaltspunkte liefert. Jährlich werden die angebotenen 7 0 Veranstaltungen von zur Zeit ca. 2 4 0 0 Teilnehmern besucht. Literatur Dieter Aschenbrenner/Gottfried Buttler, Die Kirche braucht andere Mitarbeiter, Stuttgart 1970 (Lit.). — Ausbildungsstätten für gemeindebezogene Dienste, hg. im Auftrag der EKD u. in Zusammen-

Dialektische Theologie

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arbeit mit dem Comenius-Institut Münster, Hannover 1978 (Institutionen 2). - Gottfried Buttler/Wolf-Eckart Failing, Didaktik als Mitarbeiterbildung, Gelnhausen u.a. 1979. - Arthur W. Combs/Donald L. Auilz/William W. Purkey, Helping Relationships. Basic Concepts for the Helping Professions, Boston 1971; dt.: Die helfenden Berufe, Stuttgart 1975. - Empfehlungen zur Ausbildung kirchl. Mitarbeiter: Sozialpädagogik 1977, 2 ff. - Ev. Fortbildungsstätten, hg. im Auftrag der EKD in Zusammenarbeit mit dem Comenius-Institut, Hannover 1979 (Institutionen 3). - Brigitte Neumann, Die Gemeindehelferin in der Ortskirchengemeinde, Frankfurt 1974.

Albrecht Müller-Schöll Diakonisse —»Diakonie, —»Kirchliche Berufe Dialektik -»Artes liberales, —»Dialektische Theologie, ->Hegel/Hegelianismus, —»Kant/ Kantianismus/Neukantianismus, —»Marx/Marxismus Dialektische Theologie 1. Der Begriff „dialektische Theologie" 2. Zur Geschichte der dialektischen Theologie 3. Inhaltliche Differenzierungen 4. Der philosophische Hintergrund 5. Dialektik in der Theologie (Quellen/Literatur S. 694)

1. Der Begriff „dialektische

Theologie"

Als Terminus hat sich der Ausdruck „dialektische Theologie" eingebürgert zur Kennzeichnung derjenigen theologischen Bewegung, die in der Zeit von 1920 bis 1933 durch K. —»Barth, E. —»Thurneysen, F. —»Gogarten, R. —»Bultmann, E. —»Brunner und Georg Merz (18 9 2 - 1 9 5 9 ) vertreten wurde und die in der Zeitschrift Zwischen den Zeiten (1923 - 1 9 3 3 ) ihr gemeinsames publizistisches Organ hatte. Dabei handelte es sich nicht um eine theologische Schule mit einem verbindenden und verbindlichen Programm, sondern um eine eher lockere Arbeits- und Kampfgemeinschaft mit erheblichen inneren Differenzierungen und unscharfen Rändern. In einem weitesten Sinne konnten selbst Kritiker wie P. —> Althaus und P. —»Tillich zeitweise der dialektischen Theologie zugerechnet werden. Der Name „dialektische Theologie" hatte zunächst den Charakter einer (ironisierenden) Fremdbezeichnung. Gemäß einer Reminiszenz Karl Barths aus dem Jahre 1933 soll er bereits 1922 dem Herausgeberkreis vonZwischen den Zeiten „von irgendeinem Zuschauer angehängt" worden sein (Abschied 313). Bis 1924 ist der Ausdruck „dialektische Theologie" nur spärlich literarisch belegt. (Althaus gebraucht ihn Mitte 1924 jedoch bereits wie einen gängigen Terminus.) Sein Ursprung läßt sich wohl nicht mehr ermitteln (s. Sauter 108). In steigendem Maße haben dann die dialektischen Theologen sich diese Kennzeichnung als Selbstbezeichnung zu eigen gemacht. Insbesondere bei Barth ist jedoch stets eine deutliche Zurückhaltung erkennbar geblieben. Als konkurrierende Bezeichnung hatte der von Tillich 1923 geprägte Ausdruck „Theologie der Krisis" bis Mitte der 20er Jahre sogar gegenüber „dialektische Theologie" dominierende Bedeutung und Verbreitung. Eine programmatisch eingeführte Selbstbezeichnung für die dialektische Theologie fehlt charakteristischerweise, da sie sich bewußt nicht als Schule, Richtung, Position, sondern bloß als „Randbemerkung", „Korrektiv" und „Gesichtspunkt" (Barth, Not 99 f) verstanden wissen wollte. Immerhin hat der Ausdruck „Theologie des Wortes Gottes" gelegentlich eine solche selbstidentifizierende Funktion und ist von allen Kennzeichnungen die dem Selbstverständnis der dialektischen Theologen angemessenste (vgl. Barth, Abschied 313; Gogarten, Gericht 11). Gegenüber der Charakterisierung als „Theologie des Wortes Gottes" verdienen jedoch die Ausdrücke „dialektische Theologie" oder „Theologie der Krisis" insofern den Vorzug, als sie etwas für das theologische Denken der dialektischen Theologen in der Zeit von 1 9 2 0 - 1 9 3 3 Spezifisches ansprechen, während der Begriff „Theologie des Wortes Gottes" auch als Kennzeichnung der nachdialektischen Theologie zumindest Barths und Thurneysens in Frage kommt (vgl. Barth, How my mind has changed 181). Der besondere heuristische Wert des Begriffs „dialektische Theologie" liegt weiter darin, daß an ihm Gemeinsam-

684

Dialektische Theologie

keiten und Differenzen zwischen den Dialektikern, Konstante und Variable bei den einzelnen dialektischen Theologen, methodische und thematische Aspekte sowie theologische und philosophische Beziige gleichermaßen sichtbar gemacht werden können. Dem soll im folgenden nachgegangen werden. 2. Zur Geschichte

der dialektischen

Theologie

Die dialektische Theologie ist der Herkunft ihrer Hauptvertreter nach in den Traditionszusammenhängen der sog. —»liberalen Theologie und des religiösen —»Sozialismus verwurzelt. Barth und Bultmann waren Schüler W. -»Herrmanns, Gogarten kam von E. —»Troeltsch her. Thurneysen und Brunner (und zeitweise auch Barth) standen unter dem Einfluß von —»Kutter bzw. —»Ragaz. Für den Bruch mit der liberalen Tradition waren vor allem die Erfahrungen des 1. Weltkriegs und der durch ihn ausgelösten umfassenden Krise ausschlaggebend. Schon der Ausbruch des 1. Weltkriegs erbrachte für Barth (und für Thurneysen) „ein doppeltes Irrewerden" (Barth-Bultmann 306), nämlich einerseits an der liberalen Theologie der Lehrer, denen Barth „Versagen gegenüber der Kriegsideologie" (a. a. O.) attestierte, andererseits aber auch am Sozialismus, der sich dieser Kriegsideologie ebensowenig entzogen habe. Nicht zuletzt deswegen hat die Annäherung an den religiösen Sozialismus bei Barth (und Ähnliches gilt für Bultmann und für Gogarten) nur vorübergehenden Charakter und episodische Bedeutung. Charakteristisch ist die Tatsache, daß die erste gemeinsame Begegnung zwischen Barth, Bultmann, Thurneysen und Gogarten auf der Konferenz von Tambach (22.-25.9.1919) stattfand, einer Konferenz, die die Gründung einer deutschen religiös-sozialen Vereinigung vorantreiben sollte, de facto aber durch Barths Vortrag Der Christ in der Gesellschaft das Ende aller solchen Pläne einleitete und den Auftakt für die dialektische Theologie darstellte. Von führenden Vertretern des religiösen Sozialismus wurde diese Konferenz dementsprechend als „schweres Hemmnis" bzw. als Paralysierung der religiös-sozialen Arbeit empfunden (siehe Mattmüller II, 255). In der durch den Krieg und die Kriegsfolgen bewirkten Situation des Zusammenbruchs und der Krise überbietet die neu entstehende dialektische Theologie das kritische Potential des Liberalismus wie des religiösen Sozialismus durch ihre Orientierung an dem „totaliter aliter des Gottesreiches" (Barth-Thurneysen I, 325) bzw. durch die Verkündigung Gottes, des „ganz Anderen", als der absoluten Krisis über alles Menschenwesen. (Barth übernimmt hier teilweise die Terminologie von R. —»Otto [Das Heilige]; bei Barth erstmals im Tambacher Vortrag 13.33.36; zum Einfluß R. Ottos vgl. Barth-Thurneysen I, 328.330). Nachdem Barth durch seine Vorträge in Tambach und in Aarau (Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke, 1920) die Initialzündung gegeben hatte, ging der entscheidende Durchbruch zur dialektischen Theologie freilich von Gogarten aus. Sein Manifest Zwischen den Zeiten gab den Ton, die Themen und die Thesen vor, an denen sich die dialektische Theologie der frühen 20er Jahre orientieren sollte (Barth-Thurneysen I, 399). Daß der Titel gerade dieses Manifests zum Namen für das gemeinsame Publikationsorgan gemacht wurde, hat symptomatischen Charakter. Die — gelegentlich unterschätzte — Bedeutung Gogartens für die Anfänge der dialektischen Theologie geht auch daraus hervor, daß ein Besuch Gogartens bei Barth der Auslöser für dessen Umarbeitung der 1. Auflage des Römerbriefs zur berühmten 2. Auflage war (vgl. Barths Brief an Thurneysen vom 27. Okt. 1920: „Und nun eine seltsame und erschreckende Nachricht: Als Gogarten . . . fort war, fing plötzlich der Römerbrief an, sich zu häuten, d. h. ich bekam die Erleuchtung, daß er so wie er jetzt ist, unmöglich einfach abgedruckt werden darf, sondern an Haupt und Gliedern reformiert werden muß" [Barth-Thurneysen 1,435]; im Vorwort zur 2. Auflage erwähnt Barth jedoch Gogartens Einfluß bedauerlicherweise nicht). Ungeachtet dessen gilt freilich ganz zu Recht Barth als der führende Kopf und sein Römerbrief (2. Aufl.) als das Hauptdokument der dialektischen Theologie. Die Arbeits- und Kampfgemeinschaft der dialektischen Theologie war vor allem zustande gekommen und zusammengehalten worden durch den massiven Gegensatz und Widerspruch gegen die liberale Theologie, wie er in Gogartens Manifest, dann aber besonders

Dialektische Theologie

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auch in Barths Auseinandersetzung mit Adolf von —»Harnack im Jahre 1922 offenkundig wurde. Der Gegensatz zur positiven Theologie tritt demgegenüber nicht so stark zu Tage, er trägt - wiewohl von Anfang an vorhanden — immer nur einen Nebenakzent. Den Haupteinwand gegen die liberale Theologie haben Barth, Gogarten und Bultmann mit unterschiedlichen Worten, aber in derselben sachlichen Zuspitzung formuliert: „Der Gegenstand der Theologie ist Gott, und der Vorwurf gegen die liberale Theologie ist der, daß sie nicht von Gott, sondern von Menschen gehandelt hat. Gott bedeutet die radikale Verneinung und Aufhebung des Menschen; die Theologie, deren Gegenstand Gott ist, kann deshalb nur den /.öyogrov aravgov zu ihrem Inhalt haben; dieser aber ist ein oxdvdakov für den Menschen. Und so ist der Vorwurf gegen die liberale Theologie der, daß sie sich diesem axävöaXov zu entziehen oder es zu erweichen suchte" (Bultmann, Liberale Theol. 2; ähnlich Gogarten, Zw. den Zeiten 95; Barth, Menschlichkeit Gottes 5). Wurde die neue theologische Richtung von den etablierten Vertretern der Theologie weitgehend abgelehnt, so fand sie beim theologischen Nachwuchs wie in weiten Kreisen der Pfarrerschaft Deutschlands außerordentlich schnell Eingang. Man kann geradezu von einem — auch als solchen empfundenen — Siegeszug der dialektischen Theologie sprechen (vgl. hierzu insbesondere den Briefwechsel zwischen Barth und Thurneysen aus den frühen 20er Jahren). In diesem raschen Erfolg lag freilich auch ein Grund für ihre Kurzlebigkeit, denn mit der alsbaldigen Durchsetzung gegenüber den bisher herrschenden Richtungen, insbesondere der liberalen Theologie, verlor die dialektische Theologie zugleich einen sie zusammenhaltenden Widerpart. Und die in den 20er Jahren neu entstehenden theologischen (und kirchenpolitischen) Fronten liefen quer (auch) durch die dialektische Theologie hindurch. Die Frage, warum sich die dialektische Theologie so rasch und wirkungsvoll durchsetzen konnte, findet ihre entscheidende Antwort in dem Verweis auf die Situation, in die hinein (und aus der heraus) die dialektische Theologie nach dem Ende des 1. Weltkriegs sprach. Das mit dem Begriff „Krisengefühl" eher euphemistisch beschriebene Empfinden oder Bewußtsein eines völligen Zusammenbruchs der tragenden Ordnungen und Ideale insbesondere des deutschen Bürgertums, und darin und darüber hinaus das Irrewerden an der Autonomiefähigkeit des neuzeitlichen Menschen überhaupt, ließen die dialektische Theologie zu einer „zeitgemäßen" Theologie in einem nicht oberflächlichen Sinne des Wortes werden. Diese Zeitgemäßheit wird unübersehbar, wenn man die dialektische Theologie einordnet in den Zusammenhang der gleichzeitig dominierenden oder neu entstehenden Bewegungen und Richtungen in Kunst und Philosophie. So springt etwa die Verwandtschaft zum literarischen —»Expressionismus, die nicht nur eine des Sprachgestus, sondern auch der Lebenshaltung ist, unmittelbar ins Auge. Auf den Zusammenhang mit der Spengler'schen Kulturphilosophie hat Gogarten selbst schon 1920 hingewiesen (Zw. den Zeiten 98 f). Andere Beziehungen, wie z. B. die zum Personalismus (Buber; Grisebach) oder zur Existential-Ontologie, liegen ebenso zu Tage. Charakteristisch für die dialektische Theologie ist, daß sie jene allgemeine Krisenerfahrung bzw. -Stimmung nicht relativiert, sondern theologisch voll aufnimmt, ja nach Möglichkeit noch überbietet. Indem die Krise des Staates, der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Kultur verstanden wird als Symptom und Ausdruck der göttlichen Krisis über den alten Menschen bzw. über alles Menschenwesen, fallen alle menschlichen Versuche der Krisenüberwindung ihrerseits schärfster Kritik anheim. Mit dieser einseitigen Betonung des göttlichen Nein blieb die dialektische Theologie — wie Barth selbst rückblickend feststellt (Menschlichkeit Gottes 7 ff) — ihrer Zeit freilich Entscheidendes schuldig. Daß die primär durch Negationen konstituierte Gemeinsamkeit nicht von Dauer sein konnte, erfuhr die dialektische Theologie in zunehmendem Maße vom letzten Drittel der zwanziger Jahre an. Das Zurücktreten des theologischen —»Liberalismus (Troeltschs früher Tod im Jahre 1923) und das Erstarken des deutschen —»Nationalismus schufen zusammen eine Situation, in der fundamentale Unterschiede und Spannungen zwischen den einzelnen dialektischen Theologen unübersehbar wurden und sich als unüberbrückbar erwiesen. Daß dann im Jahre 1933 von Karl Barth die Initiative zur Einstellung von Zwischen den Zeiten und damit zur formellen

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Dialektische Theologie

Auflösung der dialektischen Theologie ausging, war die — wohl unvermeidbare - Konsequenz aus der neu entstandenen Lage. Für diese Auflösung waren Differenzen maßgebend hinsichtlich der theologischen Deutung und Beurteilung der Wirklichkeit (etwa unter den Stichworten: Geschichte, Gesetz, Menschsein, Volkstum), die von Anfang an bestanden hatten, unter den (kirchen-)politischen Bedingungen der beginnenden 30er Jahre (—»Kirchenkampf) jedoch ein solches Gewicht erhielten, daß sie die Arbeitsgemeinschaft der 20er Jahre sprengen mußten. Die dialektische Theologie war damit auch insofern an ein definitives Ende gelangt, als sich alle an ihr Beteiligten in der Folgezeit um der Kontinuität ihrer je eigenen Intention willen veranlaßt sahen, eine Neuorientierung und Neubegründung ihrer theologischen Konzeption vorzunehmen. Unbeschadet dieser Kurzlebigkeit und ihres Charakters als eines produktiven Mißverständnisses (Barth, Abschied 318 — wobei Adjektiv und Substantiv gleichermaßen betont zu werden verdienen) ist die dialektische Theologie die bisher wirkungsgeschichtlich relevanteste theologische Bewegung des 20. Jh. 3. Inhaltliche

Differenzierungen

Von Differenzierungen der dialektischen Theologie soll im folgenden in einem dreifachen Sinne die Rede sein: im Sinne des Hinweises auf Unterschiede zwischen den Hauptvertretern der dialektischen Theologie: Barth, Gogarten, Bultmann und Brunner; hinsichtlich der Entfaltungen des dialektischen Ansatzes bei ihnen; sowie schließlich im Blick auf Veränderungen, die bei den einzelnen Vertretern sichtbar werden. Als Leitfaden der Darstellung dieser dreifachen Differenzierungen dient dabei der Begriff der Dialektik.

3.1. Karl —»Barth. Die ausführlichsten Darlegungen Barths zum Begriff des Dialektischen finden sich in den frühen 20er Jahren unter dem Stichwort des dialektischen Weges (Wort Gottes 212 ff). Von den für ihn ernsthaft in Betracht kommenden drei Wegen, auf denen die Theologie versuchen kann, ihrer Aufgabe, von Gott zu reden, gerecht zu werden, dem dogmatischen, dem kritischen und dem dialektischen, ist der letztgenannte für Barth „nicht nur, weil er der paulinisch-reformatorische ist, sondern wegen seiner sachlichen Überlegenheit, weitaus der beste" (ebd. 212). Der dialektische Weg fungiert also als Beschreibung der angemessenen theologischen Methode und dient zugleich dem theologiegeschichtlichen Kontinuitätsnachweis, in den neben —»Paulus und den Reformatoren immer wieder auch—»Plato,—» Kant und—»Kierkegaard einbezogen (und aus dem bewußt—»Schleiermacher und der —»Neuprotestantismus ausgeschlossen) werden. Dieser dialektische Weg setzt zunächst „die großen Wahrheiten des dogmatischen und kritischen Weges" voraus. Hierunter versteht Barth einerseits die in „Anlehnung an Bibel und Dogma . . . [formulierten] christologischen, soteriologischen und eschatologischen Gedanken . . . , die sich aus der einen These: Gott wird Mensch entwickeln lassen", andererseits die Negation des Menschen als solchen und die daraus resultierende Aufforderung an den Menschen, „als Mensch zu sterben" (208 f). Aber der dialektische Weg bleibt nicht bei diesen Wahrheiten stehen, sondern er relativiert (im Doppelsinn des Wortes) sie „unter beständigem Hinblick auf ihre gemeinsame Voraussetzung, auf die lebendige, selber freilich nicht zu benennende Wahrheit, die in der Mitte steht und beiden, der Position und der Negation, erst Sinn und Bedeutung gibt" (212). Der dialektische Weg erweist sich also darin dem dogmatischen und dem kritischen Weg überlegen, daß er beide als komplementär, einander ergänzend und begrenzend, durchschaut und damit als je für sich unzureichend erkennt. Der dialektische Weg erscheint von daher als Synthese, in der These (dogmatischer Weg) und Antithese (kritischer Weg) „aufgehoben" sind. Dieser Anschein ist jedoch in gewisser Hinsicht irreführend: 1. der dialektische Weg hat insofern keinen synthetisierenden Charakter, als er die Wahrheiten des dogmatischen und kritischen Weges nicht zu einer Einheit höherer Ordnung verschmilzt, sondern als in ihrer Widersprüchlichkeit unausgeglichen nebeneinander stehen läßt. Die „synthetische" Aufhebung, die hier erfolgt, ist nicht eine der Aussagen, sondern eine der Wahrheitswerte der Aussagen. 2. Der dialektische Weg ist keine Methode der (allmählichen) Annäherung an

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die Wahrheit, sondern bloß eine Methode des Hinweisens auf die Wahrheit, die in der Mitte zwischen Position und Negation steht und sich nur selbst zeigen kann. Mit dem zuletzt Gesagten wird das Problem einer (dialektischen) Selbstaufhebung der Dialektik sichtbar, auf das zuerst Tillich 1923 mit Nachdruck hingewiesen hat. Auf Tillichs Einwand, die dialektische Selbstaufhebung der Dialektik werde bei Barth (und Gogarten) unbemerkt zu derjenigen „Position, auf der der Dialektiker steht, die aber selbst nicht mehr dialektisch ist" (Paradox 167), entgegnet Barth: Weder mache er die dialektische Haltung überhaupt als Position geltend oder verteidige sie als solche, noch versuche er das durch Handhabung einer solchen dialektischen Selbstaufhebung. Vielmehr sei die Selbstaufhebung nur Erinnerung an die Krisis, unter der auch die dialektische Haltung stehe, und damit Hinweis auf die „reale Aufhebung" von Gott her (Von der Paradoxie 179). Dialektischer Weg und dialektische Selbstaufhebung verweisen zurück auf eine die dialektische Methode fundierende und fordernde ontologiscbe Dimension der Dialektik, ist doch die „Wahrheit in der Mitte" nicht nur der (unerreichbare und unanschauliche) Zielpunkt dialektischen Redens, sondern auch der Ursprung, aus dem These und Antithese, Ja und Nein hervorgehen (Christ in der Gesellschaft 20.28 u. ö.; Bibl. Fragen 63), von dem her sie ihre Begründung und Aufhebung erfahren. Mit dem Begriff „Ursprung" bezeichnet Barth dabei diejenige transzendentale (nicht prähistorische) Einheit von Gott und Geschöpf, aus der der Mensch im überzeitlichen Fall (RömerbrieP 149), der nicht mit dem „Sündenfall Adams" identifiziert werden kann (ebd. 150), in die Zeitlichkeit, Anschaulichkeit gestürzt ist. Dieser überzeitliche Fall ist Ausdruck göttlicher Verwerfung (doppelte —»Prädestination) (ebd. 150.168.233), und aus ihm resultiert die totale Getrenntheit der gesamten geschöpflichen Welt von Gott. „Kreatursein fällt zusammen mit Schuldigsein" (von Balthasar, Karl Barth 77; Belege bei Barth, RömerbrieP 151; Wort Gottes 201). Die zeitliche, geschichtliche, anschauliche Welt und insbesondere der zeitliche, geschichtliche, anschauliche Mensch befinden sich als solche im Gegensatz zu —»Gott. Zwischen beiden besteht ein unendlicher qualitativer Unterschied (RömerbrieP XIII), aufgrund dessen Gott für diese Welt der „ganz Andere" (ebd. 17) ist. Angesichts dieser diastatischen ontologischen Grundstruktur scheidet jede Gotteserkenntnis, jede —»Versöhnung mit Gott und jeder Gehorsam gegen Gott als menschliche bzw. anschauliche Möglichkeit a limine aus. Ja, jeder solcher Versuch (—»Religion) ist nur auf anschauliche Weise die Fortsetzung und Bestätigung der—»Sünde, die darin besteht, daß das Geschöpf Gott als ein kommensurables Gegenüber begegnen will. „Gibt es" dennoch Gotteserkenntnis, Versöhnung, Gehorsam, dann nur als eine von Gott her erschlossene „unmögliche Möglichkeit", die selbst — wiederum — dialektischen Charakter hat. Diese dialektische Struktur des Wirkens Gottes an der Welt resultiert daraus, daß es sich um das Handeln des heiligen (unanschaulichen) Gottes an der sündigen (anschaulichen) Welt handelt. Das gilt auch und gerade für die Offenbarung Gottes in —»Jesus Christus und für den Glauben an ihn (Problem der Ethik 154f). Die beiden Worte („Jesus Christus") sind für Barth insofern dialektisch (und d. h. für ihn: nicht als Einheit und als Gegenstand direkter Mitteilung denkbar), als sie hinweisen auf die beiden Ebenen bzw. Welten, die sich in der Person Jesu Christi schneiden: Gottes Welt und unsere Welt. Wichtig ist dabei für Barth, daß der „Punkt der Schnittlinie", an dem Gottes Welt („senkrecht von oben") die unsere berührt bzw. tangiert, „gar keine Ausdehnung auf der uns bekannten Ebene" hat (RömerbrieP 5 f). Was anschaulich wird, ist Nicht-Offenbarung, als solche freilich indirekter Hinweis auf Offenbarung. Das Anschauliche an der Offenbarung und am Glauben ist derjenige „Einschlagstrichter" oder „Hohlraum" (RömerbrieP 5.174 u. ö.), der gerade in seiner Negativität (also indirekt) auf die Positivität der unanschaulichen Wirklichkeit Gottes (Ursprung) verweist. Zwischen beidem besteht für Barth insofern eine „dialektische Relation, die auf eine nicht zu vollziehende und darum auch nicht zu behauptende Identität hinweist" (Briefwechsel mit Harnack 343). Die scheinbar bloß formale Dialektik von Unanschaulichem und Anschaulichem ist für Barth, weil es sich bei ihr faktisch stets um die theologisch qualifizierte Dialektik von göttlichem Ursprung und menschlichem Fall (Sünde) handelt, zugleich Dialektik von —»Gnade und —»Gericht. D. h.: Was für den Menschen

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„Ausdehnung gewinnt", anschaulich und faßbar wird, ist immer und nur das Gericht (Krisis), das freilich in seiner Negativität auf die Positivität der (unanschaulichen) Gnade hinweist. Auch zwischen der Wirklichkeit der Sünde (anschauliche Welt), auf die sich das Gericht Gottes bezieht, und der Wirklichkeit der Gnade (unanschauliche Welt) besteht eine dialektische Beziehung, wobei Barth betont, „daß diese Beziehung eine echt dialektische ist, d. h., daß sie in der Aufhebung des ersten Gliedes durch das zweite besteht, daß also die Reihe nicht umkehrbar ist" (Römerbrief 2 167). (Barths Dialektik-Begriff schließt freilich nicht durchgängig Umkehrbarkeit aus, sondern bezieht sie gelegentlich ausdrücklich ein [s. Problem der Ethik 135]). Mit dem Hinweis auf die Nicht-Umkehrbarkeit der Dialektik bringt Barth das sachliche Übergewicht der unanschaulichen gegenüber der anschaulichen Wirklichkeit zum Ausdruck und will damit das „pseudodialektische Spiel mit der ewigen Spannung, Polarität und Antinomie, in der sich der Mensch angeblich befinden soll" (RömerbrieP 169), unmöglich machen. Das kann freilich nach allem Gesagten nicht heißen, der Mensch stehe in undialektischer Weise unter der Gnade. Im Gegenteil: Der Standpunkt des (anschaulichen) Menschen ist „tiefer im Nein als im Ja". „Wir wissen von der Negation, von dem Gerichtetsein alles Menschlichen durch das Problem der Ethik mehr als von der ihr allenfalls entsprechenden paradoxen Rechtfertigung und neuen Möglichkeit" (Problem der Ethik 135). Die Dialektik von Offenbarung und Glauben besagt also im Sinne Barths kein statisches Gleichgewicht von Position und Negation, sondern von Gott her ein Übergewicht der Position, dem in der Wirklichkeit des anschaulichen Menschen ein Übergewicht der Negation dialektisch entspricht. Diese am Offenbarungsbegriff aufgewiesene dialektische Struktur bestimmt in konsequenter Weise das gesamte theologische Denken des frühen Barth. Wirkungsgeschichtlich besonders relevant dürfte dabei die Anwendung des dialektischen Prinzips auf den Kirchenbegriff sein. Dialektik bedeutet auch hier zunächst: Spaltung der Realität von —>Kirche in zwei einander widersprechende, aber im Widerspruch aufeinander bezogene Wirklichkeiten: die der unanschaulichen und der anschaulichen Kirche (s. RömerbrieP 326). Als anschauliche, irdische Größe steht die Kirche — selbst wenn sie vollkommen wäre — in einem unendlichen Gegensatz zum Evangelium und damit zu Gott selbst (ebd. 316), und deswegen trifft (auch) sie, als die höchste menschliche Möglichkeit, das Nein des göttlichen Gerichts. Das Besondere und damit der Sinn der (anschaulichen) Kirche liegt nicht darin, daß hier der Gegensatz zu Gott überbrückt wäre, sondern gerade darin, daß in ihr das Wissen um den Gegensatz zu Gott, um das Gericht und die Verlorenheit wachgehalten wird. Gerade so (und nur so) ist die anschauliche Kirche dialektischer Hinweis auf die unanschauliche Kirche, auf Gott selbst. Und eben damit wird durch das Dasein und Reden der Kirche jene Mitte freigehalten, jene Wahrheit, die nur Gott selbst sprechen, auf die menschliches Reden bestenfalls indirekt hinweisen kann. Eine gewisse Umakzentuierung des Barthschen Dialektik-Konzepts um die Mitte der 20er Jahre wird darin sichtbar, daß der ontologische Gott-Welt-Gegensatz allmählich in den Hintergrund tritt und „Dialektik" nun primär als Beschreibung der alleine als legitim geltenden bzw. möglichen theologischen Aussage- und Argumentationsstruktur fungiert (Christi. Dogmatik 454—460; Kirche u. Theol. 319). Relevant wird diese Akzentverlagerung dadurch, daß sie ermöglicht, Offenbarung (und Sakrament) — im Unterschied zur Frühzeit Barths - selber als nicht-dialektische Größen zu denken (Kirche u. Theol. 319; Lehre v. den Sakramenten 429 f), und damit den Übergang zum christozentrisch fundierten Analogiegedanken der Kirchlichen Dogmatik (—»Analogie) vorbereitet. In seiner Betonung des notwendigen dialektischen (d. h. indirekten, gebrochenen und vorläufigen) Charakters aller theologischen Aussagen sieht Barth zugleich je länger desto mehr eine spezifische Differenz zu den theologischen Weggefährten, die der lutherischen Tradition angehören, insbesondere zu Gogarten und Bultmann (vgl. dazu den Briefwechsel Barth-Thurneysen II, 424.469). 3.2. Friedrich —>Gogarten. Daß seine Theologie „durchweg dialektisch bestimmt" sei,

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wird von Gogarten zunächst dahingehend interpretiert, „daß keine Aussage in ihr ohne ihre Aufhebung, ihren Gegensatz genommen" sein wolle (Wider die romantische Theol. 150). Zur Begründung für diesen dialektischen Charakter seiner Theologie rekurriert Gogarten auf die „Gegensätze, die mit dem Gedanken ,Gott' gegeben sind und ohne die er schlechterdings nicht zu denken ist" (ebd.). Von daher erklärt sich auch, daß Gogarten alles theologische Denken als wesensmäßig dialektisch bezeichnet und den Begriff „dialektische Theologie" zum Pleonasmus erklären kann (Zum prinzipiellen Denken 16; Theol. Tradition 29 Anm. 1). Mit dem Gottesgedanken ist für Gogarten insofern die dialektische Bestimmung theologischen Denkens gegeben, als der Mensch als das von Gott geschiedene, genauer: sich stets von Gott scheidende Geschöpf beurteilt werden muß (Zum prinzipiellen Denken 16). Diese Scheidung hat für Gogarten primär soteriologischen Sinn. Sie kann als solche nicht einer Dialektik von Endlich/Unendlich untergeordnet oder von ihr her verstanden werden, sondern steht als die absolute Krisis jenseits und zugleich begründend hinter aller Dialektik. Deswegen kann und darf das dialektische Denken nach Gogartens immer wieder betontem Hinweis nicht zu einem Instrument werden, mittels dessen sich der Mensch einen Zugang zu Gott bzw. zur Offenbarung verschafft (Gemeinschaft 170; Entscheidung 39.41.44; Ethik 15.27; Gericht 11). Unter dem Einfluß der Ich-Du-Philosophie (Ebner, Grisebach, Buber) findet auch bei Gogarten in der Mitte der 20er Jahre eine Umakzentuierung seines theologischen Denkens statt, die sein Verständnis von Dialektik unmittelbar mitbetrifft. Explizit wird nun von Gogarten der Gedanke abgelehnt, das Verhältnis des Menschen zu Gott sei dialektisch (Ich glaube 52ff). In Abgrenzung von jeder Form ontologisch-dualistischer Dialektik (Idee/Wirklichkeit, Wesen/Erscheinung, Geist/Leib, Sichtbares/Unsichtbares, Zeitliches/Zeitloses) — später (in Gericht oder Skepsis) wird sich zeigen, daß sich diese Abgrenzung und Polemik an die Adresse Barths richtet — will Gogarten die dialektische Denk- und Redeform nun ausdrücklich auf geschichtlich-anthropologische Sachverhalte bezogen und begrenzt wissen. Es geht ihm um die „Dialektik des Geschöpfes" bzw. „die Dialektik der Geschichte" (Ich glaube 55.80) und nur um sie. Wobei für Gogarten wichtig ist, daß es sich hierbei ebenfalls um eine nicht in eine Einheit auflösbare, also eine nicht-synthetische Form von Dialektik handelt. Auch diese innerweltliche Dialektik behält freilich bei Gogarten ihren konstitutiven theologischen Bezug, und zwar in zweifacher Hinsicht: Einerseits vertritt Gogarten nach wie vor die Uberzeugung, daß sich die Dialektik des menschlichen Daseins, der Geschichte und Kultur, erst vom Glauben an die Schöpfung aus in ihrer ganzen Tiefe enthüllt, nämlich als Dialektik unter dem Vorzeichen von —»Gesetz und Evangelium, Gericht und Gnade; andererseits lehnt Gogarten nun ausdrücklich die Möglichkeit eines Redens von Gott „an sich" ab und läßt nur ein dialektisches Reden vom Geschöpf coram deo als theologisch legitim zu. D. h.: Aussagen von Gott müssen de facto als dialektische Aussagen über den Menschen in seiner Geschöpflichkeit betrachtet und verstanden werden. Mit dieser Position rückt Gogarten deutlich von der Barth/Thurneysen'schen Konzeption von dialektischer Theologie ab und nähert sich in starkem Maße der Auffassung Bultmanns an, die ihrerseits in verschiedenen Hinsichten von Gogarten beeinflußt ist. 3.3. Rudolf —*Bultmann. Auf dem Hintergrund des philosophischen, und zwar sokratisch-platonischen, Verständnisses der dialektischen Methode profiliert Bultmann den Begriff von Dialektik, der seiner Meinung nach für die dialektische Theologie insgesamt charakteristisch ist, de facto freilich in starkem Maße den eigenen Ansatz und die Handschrift Bultmanns zeigt. Gemeinsamkeit zwischen philosophischer und theologischer Dialektik erblickt Bultmann in dem Bewußtsein, nicht in einem einzelnen Satz eine definitive Erkenntnis formulieren zu können und damit die Wahrheit zu besitzen (Frage 74; Bedeutung 115). Die einzelne Aussage gewinnt vielmehr Sinn und Recht erst zusammen mit ihrer Gegenaussage „aufgrund der Beziehung beider Aussagen auf eine unanschauliche Mitte" (Frage 74). Wenn

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die philosophische Dialektik diesen Vorgang jedoch als ein tieferes Erfassen der im Dialog immer schon präsenten Wahrheit deutet, so muß die — dialektische — Theologie ihr hier das Gefolge versagen. Die entscheidende Differenz zwischen philosophischer und theologischer Dialektik liegt dabei für Bultmann im Wahrheitsbegriff (—»Wahrheit). Bezeichnet „Wahrheit" dort eine „Satzwahrheit", so hier die konkrete Wirklichkeit selbst (Bedeutung 116; Frage 75). Diese Wirklichkeit aber ist keine andere als die des göttlichen Handelns bzw. Redens, unter dem der (dialektisch) Redende selbst steht. Weil diese Wirklichkeit unaufhebbaren Geschehenscharakter hat („ewiges Geschehen", Frage 75), also geschichtliche Wirklichkeit ist, darum kann sie nicht wie eine Gegebenheit oder Eigenschaft mit sprachlichen Mitteln dingfest gemacht werden (Liberale Theol. 24). Und eben dieser Unverfügbarkeit der Wahrheit (= Wirklichkeit) trägt nach Bultmanns Meinung das dialektische Reden in seiner Dynamik und Offenheit Rechnung. Das dialektische Reden erweist sich dadurch für Bultmann als angemessenes Reden, daß es der Einsicht in die „Dialektik der Existenz, in die Geschichtlichkeit des Daseins" Ausdruck verleiht (Bedeutung 133). Damit hat die dialektische Redeweise bei Bultmann die Bedeutung der eigentlichen Rede im Gegensatz zu allem verfügenden, objektivierenden, ungeschichtlichen Reden, in dem Gott und die Existenz auf uneigentliche Weise zur Sprache gebracht und damit verfehlt werden. Die Existenzdialektik erweist sich so bei Bultmann als Begründung und Rechtfertigung des dialektischen Redens und in diesem Sinne auch der dialektischen Theologie. 3.4. Emil —>Brunner. Brunners Ausgangsfrage ist die nach dem Verhältnis von Offenbarung und Vernunft. Dabei kann Brunner in scharfen Worten betonen: Offenbarung sei ,^das Paradox, der Denkwiderspruch . . . , das A«iirationale" (Offenbarung 314). Andererseits hebt Brunner hervor: „Das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung i s t . . . von vornherein kein reiner Gegensatz, ja vielleicht — an sich — überhaupt kein Gegensatz" (Aufgabe 256). Diese unterschiedlichen Aussagen erklären sich nicht durch einen Entwicklungsprozeß Brunners, sondern zeigen selbst auf, inwiefern sein theologisches Denken als „dialektisch" zu bezeichnen ist. Dialektisch muß die Theologie nach Brunner darum sein, weil sie einen Widerspruch abzubilden hat: den Widerspruch des Menschen gegen Gott, dem seinerseits Gottes Wort, seine Offenbarung widerspricht (ebd. 266 Anm. 5). Aufgrund dieses Widerspruchs - der Sünde also - gilt es, von Gott und Mensch in „schroffste(m) Dualismus" (Grenzen 264) zu sprechen und jede Kontinuität kategorisch zu bestreiten (Mittler 350). Aber dieser Widerspruch ist für Brunner nur denkbar auf dem Hintergrund einer „Urgleichheit" von Gott und Mensch im „Ursprung" (Gesetz 296). So ist in der Gottesbeziehung des Menschen immer beides zugleich vorhanden: Widerspruch und Trennung auf der einen Seite, Gemeinschaft, ja Gleichheit auf der anderen. Dies eben gibt der Gottesbeziehung ihren dialektischen Charakter. Für Brunner findet dies insbesondere seinen Ausdruck in der „Dialektik des Gesetzes" (Mensch 501; aber auch schon: Gesetz 298: „Doppelbedeutung des Gesetzes"), das stets zugleich „Erinnerung an Gott" und „Erinnerung an den Fall" ist (Gesetz 297). Diese Dialektik stellt eine bleibende Signatur menschlicher Existenz dar. Das absolute Paradox der Offenbarung Gottes an den sündigen Menschen, das Brunner mit dem Begriff „dialektisch" kennzeichnet, erweist sich als das Handeln Gottes „sub contraria specie" (Word 6). Diesem Handeln entspricht darum bei Brunner nur der Glaube als eine „grundsätzlich gebrochene Beziehung" (Offenbarung 314) und d . h . zugleich die grundsätzliche Gebrochenheit und Unabgeschlossenheit des theologischen Denkens und Redens. Dieses erweist sich bei Brunner auch insofern als dialektisch, als es durchaus positiv steht zu einer selbstkritischen, sich ihrer Grenzen bewußten Vernunft, feindlich hingegen zu einem Denken, das seine Grenzen transzendiert. Hier wie durchgängig in seiner späten Theologie ist für Brunner der Gedanke bestimmend, daß die —»Anknüpfung des christlichen Glaubens an das allgemeine Denken sich — materialiter — nur als Anknüpfung im Widerspruch, also wiederum dialektisch, vollziehen könne. 3.5. Gemeinsamkeiten und Divergenzen. Zwischen den analysierten Dialektik-Konzepten scheint eine gewisse Gemeinsamkeit hinsichtlich dessen zu bestehen, was Barth im Jahre

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1922 als den dialektischen Weg bezeichnet und wodurch er dem Stichwort „Dialektik" für die dialektische Theologie zentrale Bedeutung zugewiesen hat. Gemeinsam ist ja offenbar bei den Dialektikern die Überzeugung von der Unangemessenheit menschlicher Rede von Gott als solcher, von der Unverfügbarkeit ihres „Gegenstandes" für die Theologie, eines Gegenstandes, dem der Mensch nicht diskursiv-argumentativ, sondern nur dialektisch, d. h. in Satz und Gegensatz, Rede und Gegenrede, Position und Negation entsprechen kann. Wobei „Entsprechung" hier nicht „Erfassung" bedeutet. Auch das dialektische Reden erreicht ja Gott nicht. Wohl aber gilt die Dialektik in ihrer Offenheit, Unabgeschlossenheit, Ungreifbarkeit als die dem Gegenstand der Theologie angemessene, weil seiner Unfaßbarkeit korrespondierende Redeweise. Gemeinsam ist also allen Dialektikern die Überzeugung von der unerreichbaren, aber allem menschlichen Reden immer schon vorgegebenen Wirklichkeit des göttlichen Selbstwortes (Wort Gottes, Offenbarung) „in der Mitte", dem menschliches Reden nur in der Balance von Rede und Widerrede entsprechen kann. In dieser allen Dialektikern gemeinsamen Vorstellung wußte sich die dialektische Theologie sowohl von der liberalen wie von der sog. positiven Theologie geschieden. Gegen die liberale Theologie richtet sich die scharfe Unterscheidung zwischen göttlicher Offenbarung und menschlichem Denken, Fühlen und Wollen; gegen die theologische Rechte hingegen wird die Ungreifbarkeit und Unverfügbarkeit Gottes auch im Offenbarungsereignis und -Zeugnis ins Feld geführt. Die Dialektik soll beiden Fronten gegenüber der Respektierung, der unverwechselbaren Eigenart des —»Wortes Gottes dienen und so dem Thema der Theologie zur Geltung verhelfen. Diese Gemeinsamkeit steht aber nun zusammen mit höchst unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Bestimmungen dessen, was Dialektik überhaupt sei bzw. welche ontologische Struktur mit diesem Begriff bezeichnet werde. Während bei Barth das Element der Souveränität und Ehre Gottes im Gegensatz zur Endlichkeit, Ohnmacht und Sünde alles Endlichen, Zeitlichen dominiert, lehnt Gogarten immer entschiedener eine Dialektik als Bezeichnung dieser Gott-Mensch/Welt-Relation ab. Die Begründung für das dialektische Reden liegt für ihn in der dialektischen Struktur der geschöpflich-geschichtlichen Welt (in der Dialektik von Vergangenheit und Gegenwart, Sichtbarem und Unsichtbarem, Forderung und Gabe innerhalb der Geschichte), einer Struktur, die sich freilich erstcoram deo als solche ganz enthüllt. In ähnlicher Weise rekurriert Bultmann zur Rechtfertigung des dialektischen Redens auf eine geschöpfliche Struktur: Bei ihm allerdings ist es die Struktur der Existenz bzw. der — immer nur individuell — wahrnehmbaren Geschichtlichkeit, die selber als Tat Gottes begriffen wird. Insofern steht auch bei Bultmann die Wirklichkeit Gottes als begründende Instanz hinter der Notwendigkeit der Dialektik—im Unterschied zu Barth ist es jedoch nicht die qualitative Andersartigkeit, sondern gerade die im Begriff „Unverfügbarkeit" beschreibbare strukturelle Äquivalenz zwischen göttlicher Wirklichkeit und menschlicher Existenz, die das dialektische Reden unverzichtbar macht. Bei Brunner schließlich ist die Dialektik des Gesetzes als das Zugleich von Anknüpfung und Widerspruch im Verhältnis zum Menschsein letztlich fundiert in der ursprünglichen Urgleichheit von Gott und Mensch und in dem diese Gleichheit pervertierenden Widerspruch des sündigen Menschen. Aufgrund dieses Ansatzes kommt es in Brunners Dialektik zu einer Verschränkung von „Natur und Gnade" mit „Form und Materie", die Barths schroffen Widerspruch {Nein!, 1934) hervorgerufen hat. Was besagen nun diese Divergenzen im Dialektik-Verständnis im Blick auf jene oben aufgezeigten Gemeinsamkeiten? Es ist jedenfalls nicht so, daß man Einigkeit im Grundsätzlichen, im Ausgangspunkt oder in der Zielsetzung feststellen könnte; hier besteht vielmehr Dissens. Nicht nur die Begründung, sondern schon der Sinn des dialektischen Redens ist bei den einzelnen Dialektikern verschieden. Von den grundlegenden ontologischen Differenzen her erweist sich der Konsens hinsichtlich des dialektischen theologischen Redens (Stichwort: Unverfügbarkeit) als ein bloß scheinbarer. Die Verlaufsgeschichte der dialektischen Theologie liefert so gesehen den Beweis für die Brüchigkeit einer theologischen Konzeption bzw. Kooperation, die nicht hinreichend ontologisch fundiert ist.

692 4. Der philosophische

Dialektische Theologie Hintergrund

Obwohl die dialektischen Theologen sich weithin bemühen, ihr Dialektik-Verständnis von einem allgemein-philosophischen unter Verweis auf die Eigenart und Einzigartigkeit des theologischen Themas abzuheben, bestehen naturgemäß terminologische und auch sachliche Abhängigkeiten negativer und positiver Art, anhand deren eine Profilierung und Zuordnung möglich ist. Dabei kann es nach dem bisher Gesagten nicht überraschen, daß der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Dialektik-Konzepte auch eine Pluralität der philosophischen Hintergründe entspricht. Das Gemeinsame kann man auch hier am ehesten in Form einer Negation beschreiben: als die nicht-triadische bzw. nicht-synthetische Struktur der hier gemeinten Dialektik. (Und wo Triaden und Synthesen vorkommen - Christ in der Gesellschaft 20.28.33 u. a. - , da nur in charakteristischer Umkehrung). Diese Negation wird von den Vertretern der dialektischen Theologie häufig dahingehend pointiert, daß der theologischen Dialektik das Moment einer Annäherung an die Wahrheit überhaupt fehle. Und eben damit grenzt die dialektische Theologie sich nicht nur vom Dialektik-Konzept des deutschen —»Idealismus (—>Fichte, —»Schelling, —»Hegel), sondern doch auch - wie angedeutet - von bestimmten Implikationen des sokratisch-platonischen Dialektik-Begriffs ab. Aber im Rahmen dieser gemeinsamen Abgrenzung bestehen doch nun ganz unterschiedliche Beeinflussungen und Hintergründe. So war einer der auslösenden Faktoren für die Entstehung der dialektischen Theologie nachweislich der Vortrag mit dem Titel Gotteserkenntnis, den Barths älterer Bruder Heinrich (Philosoph) auf der Aarauer Studentenkonferenz 1919 hielt. An dieser Konferenz nahmen sowohl E. Brunner (als Referent) als auch Karl Barth und Thurneysen teil. Insbesondere Karl Barth (siehe Barth-Thurneysen 1,325.344; Römerbrief 2 VII; Barth-Bultmann 308; Busch 121.129) und Brunner wurden durch diesen Vortrag und weitere Arbeiten Heinrich Barths stark beeinflußt. Es war besonders der aus einer eigenwilligen Kombination Piatos und Kants entwickelte und gedeutete Begriff des Ursprungs, der von Karl Barth und Brunner alsbald aufgegriffen und an zentraler Stelle verarbeitet wurde (s. o. Abschn. 3.1 u. 3.4). Auf den Einfluß, den die personalistische Ich-Du-Philosophie eines Buber, Ebner und Grisebach auf die theologische Entwicklung und insbesondere auf das Dialektik-Verständnis Gogartens, aber auch dasjenige Brunners gehabt haben, wurde bereits oben (Abschn. 3.2) hingewiesen (s.a.—»Dialogik). Entscheidend an der Einbeziehung der Ich-Du-Kategorie in die Dialektik ist dabei Zweierlei: Einerseits tritt dadurch der (dialektische) Gegensatz zwischen Gott und Mensch in den Hintergrund oder verschwindet ganz, andererseits verliert die Dialektik durch ihre Beziehung auf das zwischenmenschliche Leben ihren radikal-antithetischen Charakter, d. h. sie schließt „Anknüpfung" nicht mehr aus, sondern ermöglicht diese. Bei Bultmann ist am stärksten wirksam der Einfluß —»Kierkegaards und —»Heideggers (Sein und Zeit, 1927). Wiewohl alle Dialektiker sich immer wieder auf Kierkegaard berufen haben und er geradezu zum philosophischen Ahnherrn und Gewährsmann der dialektischen Theologie hochstilisiert wurde (z. B. durch das Vorwort zum Römerbrief 2 XIII), zeigt die genauere Analyse, daß wohl nur bei Bultmann eine sachgemäße Aufnahme und Verarbeitung der Gedanken Kierkegaards stattgefunden hat. Für den durch Bultmann repräsentierten Typus einer dialektischen Theologie stellt Kierkegaard in der Tat den Prototyp dar—insofern ist er ein Vorläufer „der" dialektischen Theologie und verdient in diesem Zusammenhang eigene Betrachtung. Kierkegaard entwickelt seine nach-idealistische Dialektik in der Auseinandersetzung mit Hegel. Gegenüber einer am Denken und Begriff orientierten Dialektik geht es Kierkegaard um den Aufweis der Dialektik des realen Lebens, also der Existenzdialektik. Diese erweist sich in den nur im Gegensatz (Sprung) miteinander vermittelten verschiedenen Stadien der Existenz, dem ästhetischen, ethischen und religiösen; in Besonderheit aber im religiösen Stadium selbst, in dem die Begegnung von Ewigkeit und Zeit, Gott und Mensch zum Gegenstand des Selbstbewußtseins wird. Dabei ist die religiöse Erkenntnis für Kierkegaard prinzi-

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piell in zweierlei Weise denkbar: entweder als Erinnerung des Menschen, für deren Zustandekommen bzw. Aufleben der zeitliche Augenblick und der sie hervorrufende Lehrer keine ausschlaggebende Bedeutung haben (so in der sokratisch-platonischen Tradition), oder als Offenbarung Gottes, die für den sie empfangenden Menschen den Charakter des völlig Unerhörten, Paradoxen hat (so der christliche Glaube). Wird diese Sicht des christlichen Glaubens ernst genommen, so wird Offenbarung zur Infragestellung, ja zur Negation des Menschen; denn wenn die Wahrheit über die menschliche Existenz den Charakter einer göttlichen Offenbarung hat, dann enthüllt sie damit, daß der Mensch, der sie empfängt, in der Unwahrheit existiert. Gemessen an dieser Unwahrheit erscheint die Offenbarung als absurd, sie hat für den Menschen den Charakter des Ärgernisses (Skandalon). Sie kann deswegen auch nicht Gegenstand direkter Mitteilung oder unmittelbarer Einsicht sein. Vielmehr entspricht ihr nur die indirekte, dialektische Mitteilung und seitens des aufnehmenden Menschen der wagende Glaube, der das Ärgernis der Inkarnation und Offenbarung nicht umgeht, sondern erträgt. Dabei ist diese Entscheidung des Glaubens für Kierkegaard nicht ein einmaliger Vorgang, sondern der dem Ärgernis, der „Absurdität" der Offenbarung angemessene Modus der Existenz. In ihr entspricht der Mensch dem absoluten Paradox des Gottmenschen Jesus Christus, er erkennt und anerkennt sich als ein in der Unwahrheit Existierender und - darin — als von Gott Begnadigter. So erweist sich gerade die Existenz des Glaubenden im Sinne Kierkegaards als unaufhebbar dialektische Wirklichkeit. War den kühnen und eigenwilligen Gedanken Kierkegaards zu seiner Zeit nur geringe Resonanz beschieden, so erfuhren sie in der —»Existenzphilosophie und in der dialektischen Theologie (insbesondere bei Bultmann) eine Wiederbelebung, deren Spuren über den beherrschenden Einfluß dieser beiden Strömungen hinaus erkennbar geblieben sind und wohl auch bleiben werden. 5. Dialektik

in der

Theologie

Auf die Versuche, die dialektische Theologie im Zusammenhang der Neuzeit-Theorie (s. Rendtorff; Scholder; Steck) oder der Sozialismus-Thematik (Marquardt; Gollwitzer) zu rekonstruieren und zu reformulieren, kann hier nicht eingegangen werden. Jedoch soll das durch die dialektische Theologie zur Diskussion gestellte Sachproblem abschließend jedenfalls in der Form aufgegriffen werden, daß die Frage nach der Notwendigkeit, Angemessenheit und Möglichkeit der (bzw. einer) Dialektik für die Theologie zur Debatte gestellt wird. Geht man von einem Dialektik-Verständnis aus, für das charakteristisch ist, daß der Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch keine uneingeschränkte Gültigkeit besitzt, so läßt sich das theologische Hauptargument für die Notwendigkeit der Dialektik so formulieren: Der schlechthinnigen Einzigartigkeit und Andersartigkeit Gottes gegenüber allem welthaften Sein wird man nur dann gerecht, wenn man hinsichtlich aller Aussagen, die das Sein oder Handeln Gottes betreffen, auf den Widerspruchssatz -i (p & -i p) als Argument verzichtet,also grundsätzlich mit der Möglichkeit und Sachgemäßheit widersprüchlicher Aussagen rechnet. Als zentrale Anschauungsbeispiele und Begründungen hierfür werden immer wieder genannt: der Inkarnationsgedanke („Gott wird Mensch") und das Rechtfertigungshandeln Gottes (bzw. das lutherische simul). Aber daß hiervon nicht nur einzelne theologische Themen betroffen sind, zeigt schnell der Hinweis auf die Tatsache, daß alles Reden von Gott (als Anwendung irdischer, endlicher Zeichen oder Worte auf die nicht-irdische, nicht-endliche Wirklichkeit Gottes) an diesem Problem partizipiert. Ja, wenn die Wirklichkeit als Ganze als von Gottes Sein und Handeln bestimmte gedacht wird, dann läßt sich theologisch eine Beschränkung des dialektischen Redens auf bestimmte Bereiche gar nicht rechtfertigen. Läßt sich die Theologie auf die Dialektik ein, dann muß sie allem Anschein nach konsequenterweise zur „dialektischen Theologie" werden. Die Theologie scheint demnach vor der Alternative zu stehen: entweder jede Form von Dialektik abzulehnen bzw. zu eliminieren oder Dialektik als einzig angemessene Weise theologischen Denkens zu akzeptieren, sich also als „dialektische Theologie" zu etablieren. Im Gegensatz zu solch einer generellen Alternative ist jedoch in jüngerer Vergangenheit

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sowohl von theologischer (Sauter) wie von philosophischer (Simon-Schaefer) Seite auf die Notwendigkeit zur Differenzierung des Dialektik-Problems in verschiedene Aspekte hingewiesen worden. Als die grundlegendste Differenzierung darf dabei wohl diejenige zwischen Objektsprache und Metasprache gelten. D. h. es gilt zu unterscheiden zwischen „Dialektik" als Bezeichnung für ein Strukturmoment der Wirklichkeit einerseits und „Dialektik" als Bezeichnung für ein Strukturprinzip von Aussagen (über die Wirklichkeit) andererseits. Nun hängt beides nach verbreiteter Vorstellung aber untrennbar zusammen, und zwar dergestalt, daß die Realdialektik der Grund für die Aussagendialektik ist und daß deshalb umgekehrt die Aussagendialektik die einzig adäquate Ausdrucksform der Realdialektik sein kann. Anders gesagt: Den Widersprüchen in der Wirklichkeit kann man demzufolge nur gerecht werden durch ein seinerseits widerspruchshaltiges, eben dialektisches Reden. Dieser landläufigen Verquickung beider Ebenen und der damit gegebenen Begründung des dialektischen Redens muß indessen widersprochen werden, weil sie bei näherem Zusehen auf Äquivokationen basieren. Besonders deutlich wird dies am Begriff des Widerspruchs. Auf logischer Ebene besagt „Widerspruch", daß sowohl p als auch Nicht-p zugleich als wahr bzw. gültig behauptet werden. Damit ist aber dasjenige, was sich überp (oder Nicht-p) aussagen läßt, zugleich wahr und falsch (bzw. gültig und ungültig). Wird dies aber als Möglichkeit prinzipiell zugelassen, dann verliert die (prädizierende) Sprache überhaupt ihren Sinn und ihre Funktion. Die prinzipielle Eliminierung des Widerspruchsprinzips auf logischer Ebene führt dazu, daß alle Aussagen „gleich-gültig" werden. Ganz anders auf der mit dem Stichwort Realdialektik gekennzeichneten Ebene, auf der Dialektik als Strukturmoment der Wirklichkeit in Frage kommt. Bei diesen mit dem Begriff „Widerspruch" bezeichneten Unterschieden, Gegensätzen oder Antagonismen (Gott/Mensch; Ewigkeit/Zeit; Sünde/Gerechtigkeit; alter Äon/neuer Aon etc.) handelt es sich durchaus nicht um kontradiktorische Widersprüche derart, daß ein und derselbe Aussagegehalt (eodem respectu!) als gegeben und zugleich als nicht gegeben bezeichnet werden müßte. Ontologische Polaritäten sowie ontische Antagonismen implizieren keine logischen Widersprüche, ja sie sind ihrerseits als solche überhaupt nur aussagbar in einem logischen System, in dem der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch gilt. Der radikale Widerstreit zwischen dem Alten und dem eschatologischen Neuen z. B. ist nur unter der Bedingung formulierbar, daß bei der Behauptung dieses Widerstreits nicht auch dessen kontradiktorischer Widerspruch wahr ist. „Die Widerspruchsfreiheit eines philosophischen Systems oder einer wissenschaftlichen Theorie besagt nur, daß beide möglicherweise wahr sind. Daß ein System jedoch widerspruchsvoll ist, zeigt, daß es unmöglich wahr sein kann, denn in einem widerspruchsvollen System kann man jede Aussage genau so gut beweisen wie widerlegen, d. h. ein solches System ist wertlos, weil ja von keiner seiner Aussagen feststeht, ob sie nun wahr oder falsch ist. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß solche widerspruchsvollen Systeme literarische oder poetische Kunstwerke sein können oder gar viele tiefsinnige Gedanken enthalten. Die oft gehörte Behauptung, die Wirklichkeit selbst sei widerspruchsvoll, wird durch die Häufigkeit ihrer Behauptung nicht besser: Diese Behauptung beruht einfach auf der Verwechslung von konträren, subkonträren oder polaren Gegensätzen mit dem kontradiktorischen Widerspruch, wobei gleichzeitig meist noch die Wirklichkeit mit den Aussagen über die Wirklichkeit konfundiert wird" (Menne 94). Nur durch Beseitigung dieser Konfusion und unter Verzicht auf ein dialektisches (widerspruchsträchtiges) Reden kann auch in der Theologie dem Wahrheitsmoment der Dialektik zur Geltung verholfen werden: dem nachdrücklichen Verweis auf den antagonistischen Charakter der geschichtlichen Welt als Strukturmoment ihrer Beziehung zu Gott und ihrer ontischen Verfassung. Gerade um dieser realen Dialektik willen sollte die Theologie sich nicht (wiederum) als dialektische Theologie etablieren wollen. Quellen Anfänge der dialektischen Theol., hg. v. J. Moltmann. I. Karl Barth — Heinrich Barth - Emil Brunner, München " 1 9 7 7 ; II. Rudolf Bultmann - Friedrich Gogarten — Eduard Thurneysen, ebd. 3 1 9 7 7 . —

Dialektische Theologie

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Dialogik I Dialogik I. Philosophisch

II. Theologisch

I. Philosophisch 1. Historisch

2. Systematisch (Dialektik und Dialogik)

(Quellen/Literatur S.702).

1. Historisch Dialogik ist auf der einen Seite eine inzwischen historisch gewordene Denkströmung, die nach dem ersten Weltkrieg mit ihren maßgeblichen Werken zum Durchbruch, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu breiter Wirkung kam. Ihre klassischen Autoren sind: M. —»Buber, Ferdinand Ebner (1882—1931), F. —»Rosenzweig, G. —»Marcel. Gemeinsam ist diesen Denkern eine neue Sicht des Du, der Begegnung, des Ereignishaften und somit der —»Zeit, der —»Sprache; alles dies nicht nur im Sinne von Einzelthemen, sondern einer existentiellen, darin aber fundamentalphilosophischen, ontologischen Neuorientierung. War „Dialog" in der Antike vornehmlich ein literarischer Gattungsbegriff (wenngleich die Dialogform bei —»Piaton dessen Deutung des Denkens als Rede der Seele mit sich selbst und seine Konzeption von Dialektik voraussetzt), so prägt sich bei den Dialogikern ein philosophischer Begriff von Dialog aus: ein Gespräch, das zu einem „Zwischen" (Buber) führt, d.h. zu einem den Partnern streng gemeinsamen, nicht auf die einzelnen rückführbaren Sinnbestand. Dialog ist keine bloße Abwechslung von Sprechakten einseitig-intentionaler Art, sondern ein in sich gegenläufiges Geschehen. Gemeinsam charakterisiert die Dialogiker ihr Herkommen von einem religiösen, jüdisch-christlichen „Personalismus", den sie im —»Positivismus des Zeitalters, in der vom „—»Idealismus" (Transzendentalphilosophie) geprägten Universitätsphilosophie, darüber hinaus aber schon in der abendländischen Seinsphilosophie verdrängt sehen. Personalismus und Opposition gegen das cartesische „ego cogito" und dessen Folgen (—»Descartes/Cartesianismus) kennzeichnen bereits die Vorgänger der Dialogiker im 19. Jh.: F. H. Jacobi wendet sich (ähnlich wie J. G. —»Hamann und W. von —»Humboldt) gegen die Transzendentalphilosophie —»Kants und —»Fichtes als eine Philosophie des bloßen Ich, die in konsequenter Durchführung „—»Nihilismus" sei (111,44). Hier liegen Mißverständnisse vor, da Fichtes „reines Ich" schon als „Subjekt-Objekt", somit als Beziehung, gedacht ist. Besonders Fichtes Anweisung zum seligen Leben weist dialogische Formulierungen auf. Dennoch wird Fichte nicht als dialogischer Denker gelten können, weil seine antithetische Entgegensetzung von Ich und „Nicht-Ich" dem Subjekt-Objekt-Dualismus verhaftet sowie quantifizierend-undialektisch bleibt (zur Diskussion um Interpersonalität bei Fichte vgl. Hansjürgen Verweyen, Recht u. Sittlichkeit in J.G. Fichtes Gesellschaftslehre, Freiburg/München 1975). - Den Schritt zu einer dialektischen Sicht des Ich als nicht quantifizierbaren Momentes der Wir-Wirklichkeit von „Geist" vollzieht G.F.W. —»Hegel: „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist" (Phänomenologie des Geistes, hg. v. J. Hoffmeister, 6 1952, 140). Sein Geistbegriff H»Geist) unterscheidet sich jedoch dadurch von dialogischer Einheit, daß Hegel diese Einheit nicht als offene Verhältniseinheit pluraler Freiheiten, sondern als Subjekt und Objekt übergreifendes, absolutes, „göttliches" Subjekt begreift. - An Hegels Dialektik setzt die Kritik von L. Feuerbach an: „Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du" (Grundsätze Nr. 62). Indem Feuerbach sich aber gegen den Geist im Sinne Hegels als eine Mystifizierung wendet, gibt er der konkreten dialogischen Einheit unmittelbar als solcher religiöse, göttliche Bedeutung: „Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); Mensch mit Mensch - die Einheit von Ich und Du - ist Gott" (ebd. Nr. 60). Gegen diese „Konstruktion" wird sich Buber, bei aller Anknüpfung an Feuerbachs Wirklichkeitserfassung, wenden (1,294). — Auf andere Weise als Jacobi und Feuerbach kann F. D. E. —»Schleiermacher in seiner „Dialektik" und Hermeneutik als Vorläufer der Dialogik gelten. In der communicatio des Gesprächs erschließt sich Menschsein, in dem scheiternden Streit des Dialogs die Wirklichkeit der Transzendenz — womit er Gedanken Rosenzweigs vorwegnimmt.

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Dialogik I

Im 20. Jh. kommt die neue Sicht des Du erstmals mit H.Cohens Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919) zum Durchbruch. Wenig später erscheinen, teils unabhängig voneinander, die Schriften der eigentlichen Dialogiker: F. Ebners pneumatologische Fragmente unter dem Titel Das Wort und die geistigen Realitäten (1921), F. Rosenzweigs Der Stern der Erlösung (1921) und M. Bubers Ich und Du (1923). F. Ebner geht aus „von der Erfahrung der ,Icheinsamkeit' in jenem existentiellen Sinn, den sie in unserer Zeit gewonnen h a t . . . Von hier aus vertieft er sich, Hamanns Spuren folgend, aber die Einsichten stärker aneinander bindend, in das Mysterium der Sprache als der ewig neuen Setzung des Verhältnisses zwischen dem Ich und dem Du. Er bekennt sich, in direkterer Weise als Kierkegaard, als einer, der das Du im Menschen nicht zu finden vermochte" (Buber, I, 294). Von Dialog spricht Ebner weniger denn vom Wort als der Realität schlechthin, die er von der biblischen Logoslehre her (—>Logos) christologisch versteht. Sein an sich antisystematisches Denken gewann durch F.—»Gogarten rasch Einfluß auf die evangelische Theologie. — Anders versuchtF. Rosenzweig, der früh verstorbene Systematiker unter den Dialogikern, aus guter Kenntnis Kants und Hegels, aber in scharfer Distanzierung zu ihnen, jüdischen Glauben und Kult von einem „Neuen Denken" am Leitfaden der Sprache her auf menschliche Grundstrukturen hin transparent zu machen. Im Ernstnehmen der gesprochenen Sprache mit ihrem Bedürfen des Anderen und der Zeit gewinnen die drei transzendentalen Ideen (Welt, Mensch, Gott) als Schöpfung, Offenbarung und Erlösung Zuordnung und Wirklichkeit. Die Mitte dieses Denkens bildet das Verständnis von Sein als in der sprachlichen Begegnung sich zeitigender Offenbarung der Liebe (vgl. bes. Casper 69—197). Die Wahrheit dieser Offenbarung kann sich, wie alle existentielle Wahrheit, nur in der endzeitlichen Vollendung aller Dialoge bewähren. — Die phänomenologisch zugänglichste Ausgestaltung hat M. Buber dem dialogischen Denken gegeben, teils in dichterisch-konkreter Sprache. Die Unterscheidung der „Grundworte" Ich—Du und Ich—Es, die Analyse der Zeitlichkeit der Begegnung als „Gegen-wart", der Begriff des dialogischen Wirkens als „Passion und Aktion in einem" (I, 85), die versuchte Einbeziehung der Natur und der Gegenstandswelt in die Welt der Du-Beziehung, vor allem der Begriff des „Zwischen" sind originale philosophische Leistungen Bubers. Freilich wird gerade am Beispiel einer fast nur „negativen Ontologie des Zwischen" (Theunissen: PhJ 71) die Grenze der Dialogiker sichtbar. Buber entwickelt keine ausdrückliche —»Ontologie — was das Entstehen einer nicht beabsichtigten Mystik begünstigen kann. Implizite Ontologie liegt darin, daß er das Zwischen mit Sprache, Geist und Sinn gleichsetzt (1,271.405). Das Zwischen ist—so wird man systematisieren dürfen — der in Gegenseitigkeit von Freiheiten (von Ich und Du) zugleich gesetzte wie empfangene Sinn, an dem ein jeder ganz, aber je verschieden teilhat. - Ähnlich grundlegend und zugleich problematisch wie bei Buber die Alternativik von Ich—Du und Ich—Es durchzieht das den deutschsprachigen Dialogikern nahestehende Denken von G. Marcel die Alternativik von Sein und Haben (so der Titel seines 1935 erschienenen Hauptwerkes, dem seit 1918 bereits das Journal métaphysique vorausging). Unter jenem Titel faßt Marcel den zweifachen Bezug zur Welt, nämlich die rational-possessive Ausrichtung auf die Gegenstandswelt einerseits, die Meditation des Menschen und Dinge umgreifenden und tragenden Seinsgeheimnisses andererseits. Angesichts solcher Frontstellungen verwundert es wenig, daß das Gespräch des dialogischen Denkens mit der systematischen Philosophie kaum in Gang kam. Fruchtbarer war die Rezeption in der Theologie, die hier eine Wiederannäherung der Philosophie an biblischpersonale Denkweise oder aber die Möglichkeit der Dispensierung von Philosophie erblickte. — Wenn der Dialogbegriff inzwischen von der „operativen" und „konstruktiven" Richtung der Logistik (—>Logik/Logistik) und Wissenschaftstheorie (bes. der sog. Erlanger Schule) aufgenommen wurde, so besteht hier nur eine sehr entfernte Verbindung zur Dialogik. Deren Grundintentionen wurden inzwischen vielmehr von der pragmatischen Sprachtheorie sowie von dem allbeherrschenden Stichwort und Modewort „Kommunikation" aufgenommen — was jedoch eine philosophische Klärung von „Kommunikation", auch im Verhältnis zu „Dialog", durchaus nicht überflüssig macht.

Dialogik I 2. Systematisch

(Dialektik und

699

Dialogik)

Dialogik im Sinne eines noch nicht eingelösten systematischen Anspruchs kann hier nur programmatisch skizziert werden. Gegenüber der unfruchtbaren Ausspielung von „dialogischer Existenz" als Lebens- und Denkstil gegen Systematik (die man eo ipso für geschlossen erklärt) seien Grundrisse von Dialogik im Sinne einer nach-transzendentalphilosophischen wie nach-dialektischen Sinn-Hermeneutik oder offenen Strukturontologie gezeichnet, in der dem interpersonalen Verhältnis eine Schliisselrolle zukommt (zur Einführung von „SinnHermeneutik" in Anlehnung an P. Tillichs „Sinnelemente" und „Sinnfunktionen" vgl. J.Heinrichs, Der Ort der Metaphysik im System der Wiss. bei Paul Tillich: ZKTh 92 [1970] 2 4 9 - 2 8 6 ) . Dabei gehört das Interpersonale der Denkform an, nicht durchgängig dem Inhalt, wie es in der spezielleren Sozw/philosophie der Fall ist. Sofern nicht der heuristische Primat gerade der interpersonalen Beziehung aus dem Blick gerät, kann man auch von einer relationalen Ontologie sprechen. Im Beziehungsbegriff liegt die Vermittlung zwischen Phänomenologie der interpersonalen „Beziehung" und Analyse von Sinnbezügen (Sinnvollzügen) überhaupt, somit auch zwischen der Dialogik im historischen Sinn und der Transzendentalphilosophie (einschließlich Dialektik), die wesentlich Beziehungsdenken ist. Charakteristisch für die Methode ist dabei ein dialogisches Verhältnis zwischen Erfahrung (a posteriori) und Begriff (a priori). In einem radikaleren Sinn als bei Kant kommen beide Seiten erst im Miteinander zu sich selbst: transzendental-dialogische Begriffe sind aus (interpersonaler und anderer) Sinnerfahrung geschöpft, wie umgekehrt erst im Wort und somit im (vorphilosophischen und philosophischen) Begriff —»Erfahrung zu sich selbst kommt. Die aus einer ursprünglichen Sinnerfahrung geschöpften Grundbegriffe (z.B. Vollzug und Gehalt) dienen zur begrifflichen Rekonstruktion späterer und komplexerer Erfahrung. Solche Rekonstruktionsmethode macht ein schlechtes Konkurrenzverhältnis zwischen Empirie (bzw. phänomenologischer Deskription) und begrifflichem Denken (transzendentaler Explikation) überflüssig. 2.1. Sinnelemente. Der konsequenteste, wenn auch nicht unabdingbare Ausgangspunkt solcher „transzendentalen Dialogik" (die aber unter 2.3. näherhin als nach-transzendental charakterisiert werden wird) wäre die Gesprächssituation selbst: Dialogik als Selbstthematisierung des Gesprächs im philosophischen Gespräch darüber. Doch selbst wo sich das nicht fügt und Philosophie zunächst als „Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst" (Feuerbach a.a.O.) betrieben wird, geschieht dies, wie alles menschliche Sinnvollziehen (= Bewußtseinsleben und Handeln), in einem Sinnsystem des Bewußtseins, an dem das Ich, das subjektive Subjekt S s , nur einen der Pole, ein Relat darstellt, wenn auch in diesem Fall das einzig aktuell aktive. Andere, „objektive" Subjekte SQ gehören als transzendentale Bedingungen der Möglichkeit (Sinnimplikate) wie auch als empirische Bedingungen mit zu diesem subjektiven Sinnsystem, ebenso die Welt der Objekte O, schließlich auch das Sinn-Medium M, an dem das subjektive Bewußtsein ständig partizipiert. Die Sprache repräsentiert par excellence die aposteriorisch-kulturelle Ausprägung des Sinnmediums, das gleichwohl seine apriorischen Komponenten besitzt und in Gestalt eines „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft" (K. O. Apel) die Bedingungen der Möglichkeit für Sinn und Kommunikation überhaupt mit gewissen logischen Grundstrukturen bereitstellt, aufgrund deren ich mich mit jedermann, nicht nur mit Sprechern einer gemeinsamen kulturellen Sprache, in Sinngehalten verständigen kann. Schema der Sinnelemente: M

O

S s = subjektives Subjekt SQ = objektives Subjekt O = Objekte M = Sinnmedium

700

Dialogik I

Diese Elemente des je subjektiven wie intersubjektiven (sozialen) Sinnsystems wären ausführlich als aufeinander nicht rückführbar und in menschlichen Bewußtseinsvollzügen gleichursprünglich aufzuweisen, wobei zugleich die metaphysisch-ontologische Frage nach ihrer ursprünglichen Einheit unabweisbar ist (vgl. dazu Heinrichs, Reflexion § 7; ders., Persönliche Beziehung zu Jesus Christus: ThPh 54 [1979] 50—79). Will man einen Seinsbegriff einführen, so könnte „Sein" die Einheit eines derartigen Relationsgefüges bedeuten. Die Gleichursprünglichkeit der Sinnelemente stellt auch gegenüber Hegels Dialektik eine, wenn nicht die entscheidende Gegenposition dar, sofern für Hegel Andersheit gleich Negativität bedeutet, während in dialogischer Konzeption die personale Andersheit (Du) wie auch die mediale (Sinn) keineswegs als negative Grenze von Ich, Freiheit und Denken gelten können, wie dies an sich (abstrahiert vom ganzen Sinnsystem) für die Gegenstandswelt gilt. SD und M können und dürfen nicht als Sublimationen (höher reflektierte Aufhebungen) von O, etwa unter dem gemeinsamen Titel „Nicht-Ich" (Fichte), verstanden werden. Eben dieser traditionelle, die ganze abendländische Philosophie bis zu Hegel immer konsequenter beherrschende Subjekt-Objekt-Dualismus muß einer ursprünglicheren Mehrwertigkeit Platz machen. Hierin wird der Buberschen Doppelheit der Grundworte Ich—Du und Ich—Es Rechnung getragen — ohne sie aber als Alternativik gelten zu lassen, da in jedem Sprachvollzug grundsätzlich zugleich „Du" und „Es" gesagt wird. Ähnlich nimmt der Begriff des Sinnmediums den Buberschen des Zwischen auf, jedoch ohne die Einschränkung auf das aktuelle Begegnungsereignis (wofür das Wort „Zwischen" indessen besser geeignet bleibt). In existentieller Hinsicht besagt die Pluralität und Gleichursprünglichkeit der Sinnelemente: Angewiesensein auf Schicksal, Fügung, Begegnung. Sein-Können ist Fügung, sosehr die eigene Aktivität in dieses Gefüge gehört und es je neu zusammenbindet. 2.2. Sinnfunktionen. Auf die Erhebung der Sinnelemente folgt die Untersuchung ihrer Inbezugsetzung vom Subjekt her. Je nach der Grundintention des Subjekts gegenüber der begegnenden Andersheit ergeben sich geltungskonstitutive Leistungen oder Sinnfunktionen: (a) theoretisch oder praktisch (die Wirklichkeit in sich aufnehmend oder sich in sie gestaltend), (b) ästhetisch (als noch theoretische Synthese von theoretisch und praktisch), (c) kommunikativ (als deren praktische, auf Gegenseitigkeit von Freiheiten beruhende Synthese), (d) metakommunikativ oder eigentlich dialogisch, d. h. in einer interpersonalen Sinneinheit übereinkommend. Die mittelalterliche Lehre von den transzendentalen Attributen des Seins wird in dieser Sinnfunktionenlehre ersetzt und erweitert. Den aufgeführten Sinnfunktionen entsprechen die transzendentalen Ideen als Inbegriffe der jeweiligen Funktionen oder Sinnbereiche: (a) Wahrheit und Gutheit (Wert), (b) Schönheit, (c) Gerechtigkeit oder Freiheit im sozialen Sinn, (d) dialogische Einheit oder Gemeinschaft. —>Wahrheit z.B. besagt in dialogischem Verständnis nicht allein richtige Gegenstandsbeziehung des Erkennenden noch innerwissenschaftliche Kohärenz noch Konsens, sondern stellt ein Sprachgeschehen dar, als dessen Subjekt entweder der einzelne Sprecher oder eine Sprechergemeinschaft gelten können und worin folgende Relationen in reflexiver Stufung integriert sind: (a) die objektiv-gegenständliche Offenbarkeit und Richtigkeit, (b) die subjektiv-existentielle Wahrhaftigkeit, (c) die interpersonale Angemessenheit und (d) die logische Kohärenz der Sinnwelt der Sprecher. Mit dieser Sicht der Wahrheit als Sprachgeschehen verbindet sich der Gedanke der zeitlichen Bewährung (vgl. Schleiermacher und Rosenzweig). Was die Idee der dialogischen Einheit angeht, so handelt es sich wesentlich um communio von Freiheiten in einem Dritten, dem aller communicatio vorausgesetzten Medium des Sinnes. Von daher tragen dialogische Einheit oder Gemeinschaft einen unablösbar religiösen, d.h. auf die Ganzheit und Unbedingtheit von Sinn bezogenen Charakter. Diese Nähe des Gemeinschaftlichen zum Religiösen wird von der Geschichte aller Religionen und Gemeinschaften belegt. Aus ihr ergibt sich das heute aktuelle Grundproblem der pluralistischen Gesellschaft: die Frage nach einer Sinneinheit oder Wertgrundlage. Das dialogische Prinzip und Postulat allseitiger zwangfreier Verständigung scheint diesen (anonym religio-

Dialogik I

701

sen) Grundwert selber darzustellen. — In der Primärsphäre der Interpersonalität ist dialogische Einheit gleichbedeutend mit—»Liebe. Sinnstrukturen von Liebe wären ein privilegiertes Thema der Dialogik. 2.3. Reflexionsstufen der Gegenseitigkeit. Liebe wie Interpersonalität überhaupt verwirklichen sich jedoch nicht in subjektiven Haltungen und Intentionen allein. Sie sind wesentlich wechselseitige Veränderung (Praxis) aufgrund der Aufnahme der Intentionen des anderen in die eigene Intentionalität und umgekehrt. Diese (durch Wahrnehmbares, besonders Sprache vermittelte) wechselseitige Verschränkung der Intentionen heiße intersubjektive Reflexion. Durch sie werden die je innersubjektiven Vollzüge zu interpersonalen Handlungen, d.h. zu subjektgeleiteten Vollzügen, die Wirklichkeit verändern. Übereinstimmend definierte schon M.—»Weber soziales Handeln als solches Handeln, das seinem „gemeinten Sinn nach auf das Verhalten ¿mderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist" (Wirtschaft u. Gesellschaft, 1922 5 1976, § 1). Die intersubjektive Reflexion muß scharf von der bloß innersubjektiven unterschieden werden; innerhalb beider die jeweils konstitutive, gelebte Reflexion von der nachträglichen, theoretisch-ausdrücklichen, die gewöhnlich allein beachtet wird. Das dialogische Verhältnis ist gelebte interpersonale Reflexion, das folgende Stufen in sich einschließt und ,aufhebt': (a) unreflektierte Intentionalität (physische Einwirkung bzw. bloße Information), (b) einseitig-einfache Reflexion: einseitig interessiertes „strategisches Handeln" (J.Habermas) und Erwarten, (c) gegenläufig-doppelt reflektierte Intentionalität: kommunikatives Handeln mit „Erwartungserwartungen" (N. Luhmann), (d) nochmalige und abschließende Reflexion der Gegenseitigkeit in eine Sinneinheit: metakommunikatives, dialogisches Handeln bzw. Verhältnis. — Hiermit ist zugleich eine reflexionstheoretische Abgrenzung wie auch eine Präzisicrung der Begriffe „Kommunikation" und „Dialog" umrissen. Das dialogische Verhältnis ist metakommunikativ, sich selbst definierend (Ubereinkunft in der Beziehungsdefinition der Partner) und bildet ein dynamisches System quasi kybernetischer Art, dessen Grundprinzip die gegenseitige Reflexion ausmacht. Die Metakommunikation (Verständigung über Erwartungserwartungen) braucht keineswegs ausdrücklich-verbal zu sein. Sie kann die „Begleitmusik" von Kommunikation bleiben (vgl. unter diesen Gesichtspunkten die psychologischen Untersuchungen von R. D. Laing/H.Phillipson/A.R. Lee, Interpersonal Perception, 1966; dt.: Interpersonale Wahrnehmung, 1971). Demnach stellt Dialogik zentral eine neue Art von Reflexionslogik dar, bei der die Reflexion nicht als äußere ,unserer' Betrachtung, sondern als innere der betrachteten ,Sache' selbst angehört. In diesem Punkt geht sie mit Hegel entscheidend über die transzendentale Reflexionsphilosophie hinaus, weshalb sie oben nach-transzendental genannt wurde. Nach-dialektisch in bezug auf Hegels Dialektik ist sie deshalb, weil diese zwar ebensosehr Reflexionstheorie und -logik darstellt, jedoch nicht dem Unterschied zwischen innersubjektiver und interpersonaler Reflexion Rechnung trägt, was mit der unter Abschn. 2.1. erwähnten Auffassung von Andersheit gleich Negativität zusammenhängt. - Möglicherweise läßt sich die Dia-logik der Reflexion auch formallogisch als echt-mehrwertige Logik fassen und somit die formale Logik für die komplexen inhaltlichen und sprachlichen Probleme dialogischer Ontologie und Gesellschaftstheorie fruchtbar machen, wofür vor allem die Arbeiten von G. Günther sprechen. Vom Reflexionsgedanken her dürfte auch das Zeitproblem aufzurollen sein. Reflexion setzt, entgegen der seit E.—>Husserl gängigen Annahme, noch nicht die Zeit eines „Bewußtseinsstromes" voraus, sondern konstituiert diese erst. Die für die Selbstreflexion des Subjekts mitkonstitutive Andersheit bildet den Grund, weshalb menschliche Reflexion iterativ (wiederholend) wird. Kann schon das Gegenübersein von Freiheiten, d. h. von Erwartungen, „Zeit" genannt werden (vgl. Bubers „Gegen-wart"), so entspringt die eigentliche Geschichtszeit aus diesem doppelten Ursprung: Gegenübersein und iterative Reflexion sozialer wie individueller Subjekte. So wird geschichtliche Reflexion als zeitliche Ausweitung der interpersonalen Reflexion sichtbar, wie umgekehrt schon die primäre Interpersonalität ein

Dialogik I

702

Sicheinlassen aufs Gewordensein sowie auf das spezifische Zeiterleben des anderen erfordert. 2 . 4 . Kategorien der Interpersonalität. Betrifft die besagte Reflexionslogik interpersonale Prozesse, so sind darüber hinaus elementare Strukturbegriffe der interpersonalen Handlungssynthese, d . h . dialogische Kategorien und deren Kombinationen, zu erforschen. Kant verstand seine Kategorien als „Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen" (KrV, B 9 4 ) . Hier lautet das analoge Problem: Wie können Freiheiten in der Einheit eines gemeinsamen Sinnes als dessen Momente zusammenfinden? Gegenüber Hobbes' „problem o f o r d e r " scheint dies die tiefer ansetzende Grundfrage dialogischer Sozialphilosophie zu sein. Die Strukturbegriffe (der Quantität der Einbeziehung, der Qualität der Anerkennung, der Relation der Gegenseitigkeit und des Gleichgewichts, der Modalität der Normverbindlichkeit und der Machtordnung) eröffnen die Möglichkeit einer semantischen Sprachanalyse von W ö r t e r n wie „Hoffnung, Vertrauen, Dank, Verpflichtung, Schuld, Neid, Hilfe" usw. Sie gewährleisten zugleich, daß Dialogik nicht auf die Primärsphäre sozialer Beziehungen ( = Interpersonalität) beschränkt bleibt. Dialogik als Sozialphilosophie kann der Gegenläufigkeit von Individuum und Gesellschaft bzw. von primärem und sekundärem Sozialbereich durch die methodische Doppelperspektive von Handlungstheorie und Systemtheorie Rechnung tragen. Die beiden Betrachtungsarten sind vermittelt durch die Einsicht in den systembildenden Charakter der interpersonalen Reflexion: des Dialogs. Quellen Martin Buber, Werke, 3 Bde., München/Heidelberg 1 9 6 2 - 1 9 6 4 . — Ders., Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1965. - Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Berlin 1919, Wiesbaden "1978. -Ferdinand Ebner, Schriften, 3 Bde., München 1 9 6 3 - 1 9 6 5 . - Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Phil, der Zukunft, hg. v. G. Schmidt, Frankfurt a. M. 1967. - Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, 6 Bde., 1 8 1 2 - 1 8 2 5 = Darmstadt 1976. - Gabriel Marcel, Journal métaphysique 1 9 1 3 - 1 9 2 3 , Paris 1927 1 4 1949. - Ders., Etre et avoir, Paris 1953; dt.: Sein u. Haben, Paderborn 1954 2 1968. - Ders., Homo viator, Paris 1945; dt.: Homo viator. Phil, der Hoffnung, Düsseldorf 1949. Ders., Dialog u. Erfahrung. Vortr. in Deutsch, hg. v. W.Ruf, Frankfurt a.M. 1969. - Eugen Rosenstock-Huessy, Angewandte Seelenkunde, Darmstadt 1924. — Ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik der Sprache, 2 Bde., Heidelberg 1 9 6 3 - 1 9 6 4 . - Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1921; 4. Aufl. u.d.T. Im Jahre der Schöpfung 5736, mit einer Einf. v. R. Mayer, Den Haag 1976. - Ders., Kleinere Schriften, Berlin 1937. - Ders., Das Büchlein vom gesunden u. kranken Menschenverstand, hg. u. eingel. v. N. N. Glatzer, Düsseldorf 1964. - Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, Leipzig 1942. — Ders. Hermeneutik, 2 Bde., hg. v. H. Kimmerle, Heidelberg 1959; u. d. T. Hermeneutik u. Kritik, nach der Ausg. v. 1838 neu hg. v.M.Frank, Frankfurt a . M . 1977. Literatur Karl-Otto Apel, Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften: Dialog als Methode (s. u.), 1 - 4 0 = Transformation der Phil. II. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a.M. 1973 = 1976, 2 2 0 - 2 6 3 . — Begegnung. Ein anthrop.-pädagog. Grundereignis, hg. von B. Gerner, 1969 (WdF 231). - Jochanan Bloch, Die Aporie des Du. Probleme der Dialogik Martin Bubers, Heidelberg 1977 (Phronesis 2). — Joseph Böckenhoff, Die Begegnungsphil., Freiburg 1970 (Lit.). - J.Brafman, Dialogue et Dialectique: R M M 75 (1970) 1 - 1 9 . Hans-Jürg Braun, Ludwigs Feuerbachs Lehre vom Menschen, Stuttgart 1971 (Lit.). - Ders., Die Religionsphil. Ludwig Feuerbachs, Stuttgart 1972. - Bernhard Casper, Das dialogische Denken. Eine Unters. der religionsphil. Bedeutung F. Rosenzweigs, F. Ebners u. M. Bubers, Freiburg 1967 (Lit.).-Dialog als Methode: NHP 2/3 (1972). - Hermann Levin Goldschmidt, Dialogik. Phil, auf dem Boden der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1964. - Gotthart Günther, Idee u. Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik, Hamburg 1959 2 1978. — Ders. Beitr. zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Hamburg, I 1976. - Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971. - Johannes Heinrichs, Sinn u. Intersubjektivität. Zur Vermittlung v. transzendentalphil. u. dialogischem Denken in einer transzendentalen Dialogik': ThPh 45 (1970) 1 6 1 - 1 9 1 . - Ders. Fichte, Hegel u. der Dialog: T h P h 4 7 (1972) 90—131. —Ders., Transzendentales-dialogisches —politisches Denken. Thesen zu einer transzendentalen Dialogik': IDZ 3 (1970) 3 7 3 - 3 7 9 . - D e r s . , Reflexion als soziales System. Zu einer Reflexions-Systemtheorie der Gesellschaft, Bonn 1976. - Ders., Freiheit-

Dialogik II

703

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Johannes Heinrichs II. Theologisch 1. Dialog als Reden zu Gott und vor Gott 2. Die Entwicklung theologischen Denkens im Dialog 3. Der Dialog als Form sozialen Bewußtseins 4 . Dialogisches Verhalten — Einstellung oder Methode? 5. Theologische Wahrheitskriterien in der Dialogpraxis (Literatur S . 7 0 8 )

1. Dialog als Reden zu Gott und vor Gott In biblischen Texten sind zahlreiche Zwiegespräche überliefert, die nicht nur in ihrem Inhalt, sondern bereits wegen ihrer Stilform von besonderer theologischer Bedeutung sind. In dem Faktum, daß Gott mit Menschen spricht, tritt das Rechtsverhältnis zwischen Gott und Schöpfung, in dem sie leben, in Erscheinung (vgl. Gen 4,9—15). So sagen die bei —>Deuterojesaja geschilderten Gerichtsszenen, welche Aufgabe Gott seinem Volk zumißt, gerade indem er es zur Rechenschaft zieht (Jes 4 1 , l - 5 . 2 1 - 2 9 ; 4 3 , 8 - 1 3 . 2 2 - 2 8 ; 4 4 , 6 - 8 ; 4 8 , l - l l ; 5 0 , l - 2 a ; s. J. Begrich, Studien zu Deuterojesaja, 1938 [BWANT77] = 1963 [TB 20]). Solange der Prozeß der Offenbarung der —»Gerechtigkeit Gottes an seinem Volk andauert, solange dieses Volk als Beschuldigter und Zeuge zugleich auftritt, besteht die Dialogsituation, in der—»Israel existiert. Im Zwiegespräch soll nicht eine Gottesbeziehung zutage treten wie zwischen Vertrauten, die sich einander eröffnen, sondern der Bund soll als der Sachverhalt deutlich werden, an dem Gott und Israel ihr Tun messen lassen. Gott, der sein Volk als Richter anhört und anspricht, gibt Recht und Unrecht zu unterscheiden und setzt so sein Recht in Geltung. Auch —»Hiobs Klage weist auf das Rechtsverhältnis hin, in dem er sich befindet; seine Auseinandersetzungen mit den Freunden, die seine Lage erklären wollen, sind von grundlegend anderer Art als sein Zwiegespräch mit Gott, in dem er zuletzt Gott Recht gibt, indem er vor ihm verstummt und gerade so Gottes Gerechtigkeit vernimmt (Hi 4 2 , 1 - 6 ) . In den Dialogen —»Jesu entscheidet sich, ob seine Gesprächspartner als Fragende oder Kritiker auf den Grund der Wahrheit kommen, die in der Person Jesu, in seinem Reden und Handeln, mitgeteilt wird. Erscheint Jesus in manchen Streitgesprächen der synoptischen Tradition als Rabbi, der die ihm entgegengebrachten Fragen und Einwände ad absurdum führt, so schildert das —* Johannesevangelium ihn als die gestaltgewordene —»Wahrheit, die von den Menschen nicht erkannt wird, weil sie in ihre Lebenslüge verstrickt sind. Diese Menschen müssen die Worte Jesu zwangsläufig mißverstehen, aber indem Jesus auf ihre Irrtümer eingeht und ihnen widerspricht, führt er sie auf den Weg der Wahrheitserkenntnis. Indem Jesus sich so auf das Gespräch zwischen Menschen mit all seinen Unwägbarkeiten einläßt, gibt er sich als der von Gott Gesandte zu erkennen, in dem Gott auf andere Weise spricht als etwa durch einen Propheten, Priester oder Gesetzeslehrer. Diese biblischen Dialoge sind sämtlich begrenzt und bilden keine unabsehbar offene Gesprächssituation. Sie schließen mit einem Urteil ab, das Gottes Wahrheit ausspricht. Der Dialog wird also nicht — wie etwa bei —»Piaton — in mäeutischer Absicht geführt, um Selbsttäuschungen zu entlarven und in der fortschreitenden gegenseitigen Befragung der Gesprächspartner die Wahrheit aufzudecken, die in den Meinungen der Menschen beschlossen ist. Im biblischen Dialog muß die Wahrheit von Gott mitgeteilt werden. Auf diesen Akt der Mitteilung geht das Gespräch — auch ganz absichtslos und unverhofft—zu, und von ihm geht es wiederum aus.

Dialogik II

704 2. Die Entwicklung

theologischen

Denkens

im

Dialog

Deshalb kann der Dialog in Kirche und Theologie keine bloße Technik sein, sondern er ist auch als Stilmittel eine bestimmte Form der Darstellung, Mitteilung und Wahrnehmung der Wahrheit des Glaubens. —»Paulus hat in seinen Briefen nicht nur das Gespräch mit den angeredeten Gemeinden aufgenommen, sondern seine Argumente auch in der Art eines Disputes mit Dialogpartnern entwickelt, die typische Fragen und Einsprüche vorbringen. Diese Form der Unterrichtung erinnert an den Lehrvortrag der jüdischen Tradition und hat außerdem eine Parallele in der kynisch-stoischen Diatribe (vgl. R. Bultmann, Der Stil der paulinischen Predigt u. die kynisch-stoische Diatribe, 1910 [FRLANT 13]). Es ist zu bedenken, ob solche Zwiegespräche nur den Eindruck einer Disputation mit denkbaren Gegnern erzeugen sollen oder ob Paulus nicht vielmehr versucht, auf diese Weise seine Leser in ein Gespräch zu ziehen, das theologische Erkenntnis vorbereitet und Wahrheit in der Bewegung von Frage und Antwort hervortreten läßt. Der theologische Dialog geht dem Handeln Gottes nach: der allem menschlichen Reden von Gott zuvorgekommenen Heilsoffenbarung, die die Grenzen des Gesetzes überschreitet, in denen sich das Gottesvolk über seine —»Erwählung verständigte. Diesem Dialog tritt das —»Gebet an die Seite. „Auf das bekennende ,Ich bin dein' der Seele antwortet Gott nicht ebenso einfach sein ,Du bist mein', sondern er . . . weist sich aus als der Urheber und ErÖffner dieses ganzen Zwiegesprächs zwischen ihm und der Seele" (F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt, M. 1921, 203 f). In den verschiedenen Formen des Gebets (Klage, Bitte, Dank) wird ausgesprochen, wie Menschen sich vor Gott gestellt sehen. Darum ist das Gebet in besonderer Weise ein Erkenntnisvorgang: Zu Gott wird von Gottes verheißener Treue, Macht und Güte in der Erwartung gesprochen, daß er sich als der in bestimmter Weise Angerufene zu erkennen gibt. Das Gebet ist also kein Zwiegespräch nach dem Muster menschlicher Rede und Gegenrede, mit einem womöglich fiktiven Gesprächspartner, wodurch leicht das Mißverständnis entstehen kann, als sei das Gebet die religiöse Form menschlicher Selbstverständigung. Indem aber das Gebet die menschliche Selbstbetrachtung und Reflexion unterbricht, um den Menschen Gottes Urteil auszusetzen, wird es zum Bestandteil theologischen Denkens. In diesem Sinne sind Texte, die theologische Erkenntniswege beschreiten, als Dialoge und im Wechsel von Gebet und Argumentation konzipiert: z.B. ansatzweise die Konfessionen—»Jeremias ( J e r 8 , 1 8 - 2 3 ; 1 2 , 1 — 5 ; 1 5 , 1 6 - 2 0 ; 20,7—9.14—18), ausgeführt in —>AugustinsSoliloquia und Confessiones und im Proslogion des —»Anselm von Canterbury. Der Dialog wird zwischen Menschen gerade dort zum Prozeß der Wahrheitsfindung, wo die Partner nicht auf bestimmte Rollen oder Standpunkte festgelegt sein dürfen, sondern im Bezug auf einen strittigen Sachverhalt sich ihres Verhältnisses zur Wahrheit der sie gemeinsam bewegenden Sache wie ihrer Beziehung zueinander inne werden. Anlässe zu solchem Gespräch sind vor allem im Verhältnis des Christentums zum Judentum und zur antiken Philosophie gesehen worden. —»Justin hat im Dialogus cum Tryphone ludaeo (ed. E.J. Goodspeed, Die ältesten Apologeten, Göttingen 1914, 9 0 - 2 6 5 ) die antike Literaturform des Dialogs erstmals in das Christentum eingeführt; besonders aufschlußreich in überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht wie in der Auffassung des Wahrheitsproblems ist —» Abaelard, Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum (hg. v. Rudolf Thomas, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970). Die Entwicklung der Theologie als Wissenschaft ist seit dem 12. Jh. eng mit der Disputationstechnik verbunden (—»Disputatio). Sie setzt voraus, daß theologische Erkenntnis sich im Urteilen vollzieht, das im Abwägen, Unterscheiden und Entscheiden ausgetragen werden muß. Derart wird der Sachverhalt, von dem die Theologie zu reden hat, erschlossen, und dieser Aufgabe entspricht der Zusammenhang von Fragestellung, Behauptung, Prüfung in Argument und Gegenargument und schließlich der Lösungs-Antwort. Solche Erkenntnisschritte zeichnen sich in Streit- und Lehrgesprächen ab, wobei in letzteren der Lernende durch Gebrauch und Prüfung überlieferter Argumente in theologisches Denken eingeübt

705

Dialogik II

wird. Erkenntnisschritte können auch durch den A u f b a u theologischer Lehrtexte wiedergegeben werden (vgl. —»Anselms Cur Deus bomo, die scholastischen Quaestiones und des —»Thomas von Aquin Summa theologica). M . —»Luther hat diese Disputationspraxis zugespitzt, indem er Streitgespräche zur Unterscheidung wahrer und falscher T h e o l o g i e (z.B. Disputatio contra scholasticam theologiam) und zum Aufweis des dialektischen C h a r a k t e r s der T h e o l o g i e benutzte (Heidelberger Disputation). In der Auseinandersetzung mit der Diatribe des —»Erasmus über das theologische P r o b l e m der Willensfreiheit (—»Wille/Willensfreiheit) werden nicht nur Einzelargumente geprüft, sondern Luther führt (in De servo arbitrio) einen Dialog über die M ö g l i c h keit, im R a h m e n der humanistischen Gesprächsauffassung eine theologische Verständigung zu erreichen. Die Bindung der theologischen Lehre an den D i a l o g blieb weiterhin in verschiedener Weise in Geltung: in Lehrgesprächen sowohl zwischen Konfessionen wie zur Feststellung evangelischer Lehre (—»Consensus), nicht zuletzt auch in den —»Katechismen, die in Fragen und Antworten aufgegliedert sind, u m die Einübung in den christlichen Glauben in F o r m der Lehre didaktisch zu gestalten. Auch die Loci communes der altprotestantischen —»Dogmatik wollen Dialogergebnisse festhalten und eine dialogische Entfaltung ermöglichen.

3. Der Dialog als Form sozialen

Bewußtseins

Dieses Gebiet der theologischen und kirchlichen Dialogpraxis ist von F. D. E. —»Schleiermacher in seiner Dialektik verlassen worden. Er lehnt sich an Piatons Anschauung des Dialogs als Weg der Wahrheitsfindung an, um die Kunst der Gesprächsführung als Antwort auf die Frage nach der Entstehung des Wissens darzustellen. Diese Frage richtet sich gegen die in der zeitgenössischen Wissenschaftslehre vorherrschende Theorie von der reflexiven Selbstbegründung des reinen Denkens. Indem Schleiermacher die in verschiedenen philosophischen Positionen vertretenen Ideen der Gottheit und der Welt miteinander ins Gespräch bringt, vermeidet er eine Wissenskonstruktion, die mit Hilfe Gottes und der Welt Anfang und Ende des Denkens im vorhinein zu ermessen sucht. Vielmehr sind Gott und Welt transzendent gegenüber allen menschlichen Möglichkeiten, über sie zu sprechen. Darum ist die Sprache des Dialogs der einzig reale Raum des Denkens, der „Zwischenraum" zwischen Wissenwollen und Wissen (Dialektik, hg. V. L. Jonas, Berlin 1839, 577). Schleiermacher scheint außerdem von der Pluralität theologischer und philosophischer Positionen (nicht mehr nur vom Gegenüber von Theologie und Philosophie) auszugehen, wenn er erklärt, daß „Beziehung des Denkens auf das Sein die Bedingung alles Streites ist" (Dialektik, hg. v. Rudolf Odebrecht, Leipzig 1942 = Darmstadt 1976, 23; vgl. in theologischer Hinsicht: Der christl. Glaube, I 2 1 8 3 0 = 1960, § 16). In diesem Streit werden jedoch die realen Gegensätze des Wissens ausgetragen, und deshalb hat er mit bloßen Meinungsverschiedenheiten oder anderen Formen der sozialen Auseinandersetzung nichts zu tun. Weil sich der Dialog der Differenz von Gott und Welt und allen damit gegebenen weiteren Unterschieden aussetzen muß, kann die Theorie der Gesprächsführung keine Rechtfertigung eines weltanschaulichen Pluralismus sein. Sie hat vielmehr das Problem des gemeinschaftlichen Bewußtseins von Gott und der Welt zu beschreiben, das unter den sozialen Bedingungen der Neuzeit nicht mehr durch den Rekurs auf die Subjektivität des reflektierenden Einzelnen zu lösen ist; ebensowenig kann Gemeinsamkeit durch vervielfachte Subjektivität erzeugt werden. Wissen ist immer nur in Form des Gesprächs im Werden, und nur unter der Annahme der Einheit von Gott und Welt, die dem Dialog zugrunde liegt, ohne wissend hervorgebracht werden zu können, wird gemeinsames Denken möglich. Die Einheit dieses Denkens läßt sich jedoch nicht anders als mit den Regeln der Dialogführung darstellen. Die grundlegende und umfassende Bedeutung, die der D i a l o g in neuerer Zeit (besonders seit der Krise der Reflexionsphilosophie des deutschen —»Idealismus und in der Auseinandersetzung mit ihr) gewonnen hat, verdankt sich einer Sicht, die von den im Gespräch eröff-

neten Beziehungen

einen Neuaufbau

problematisch

gewordener

Wirklichkeitsrelationen

erwartet. In der Kritik an jeder reflexiv erreichbaren Einheit von Ich, Welt und G o t t hat L. —»Feuerbach die Menschheit ( „ G a t t u n g " ) das Kriterium der W a h r h e i t genannt (S W . V I . Das Wesen des Christentums, hg. v. Wilhelm Bolin, Stuttgart-Bad C a n n s t a t t 2 1 9 6 0 , 1 9 1 ) und infolgedessen die unmittelbare Beziehung von Ich und D u als konstitutiv für eine gemeinsame W e l t erklärt. Seine Anregungen sind über die von ihm beeinflußte Soziologie und K o m m u nikationstheorie auch für die T h e o l o g i e und die kirchliche Praxis in jüngster Z e i t w i r k s a m geworden: D e m Gespräch wird Heilkraft zugeschrieben; Beziehungen zwischen M e n s c h e n

706

Dialogik II

bilden die Grenzen der erfahrbaren Welt und entscheiden über die Geltung der (allein perspektivisch möglichen) Wahrnehmungen. - E. —»Husserl hat den Rekurs auf eine als fraglich durchschaute Subjektivität durch eine Phänomenologie der Intersubjektivität zu überwinden versucht: Objektivität wird nur im Zirkel wechselseitiger, aber jeweils vom Ich ausgehender Wahrnehmungen gewonnen (—»Phänomenologie). - Den stärksten Widerhall in der evangelischen und katholischen Theologie hat die personalistische Dialogik (s. o. Abschn. I) gefunden (vgl. dazu M. Buber, Nachwort: ders., Das dialogische Prinzip, 1962, 310—319). Sie wurde allerdings zunächst weniger in der Aneignung ihrer philosophischen Elemente (der Frage nach dem Ursprung der Wirklichkeit und ihrer kommunikativen Beantwortung in der Erfahrung des Angewiesenseins auf die Zeit, die Welt begegnen läßt und von ihr zu reden ermöglicht) rezipiert als unter dem Eindruck der gemeinsamen Kritik an Idealismus und —>Positivismus. Bei F. —»Gogarten, K. —»Heim und E. —»Brunner verband sich die Aufnahme der Dialogik mit Kategorien eines existentiellen Denkens, bei Gogarten außerdem mit dem Versuch, die Geschichte als Ort der Begegnung aufzuweisen, bei Heim mit der Berücksichtigung erkenntnistheoretischer Probleme aus der Grundlagenkrisis der —»Naturwissenschaften. Motive der Dialogik und Prinzipien der —»Hermeneutik haben einander später in einer theologischen Bewußtseinshaltung ergänzt, die sich im Einspruch gegen alle Formen objektivierenden Denkens, gegen Theoriebildungen und jede an Tatsachenwahrheiten gebundene Argumentation einig war. 4. Dialogisches Verhalten — Einstellung oder

Methode?

Diese Frontstellung ist inzwischen weitgehend durch Anschauungen von der Kommunikation aufgelöst und ersetzt worden, die sie als sinnstiftendes soziales Handeln erklären (—»Sinn). Sie bestimmen heute in dreifacher Hinsicht das Dialogverständnis und die Dialogpraxis in Theologie und Kirche: 4.1. Dialog als Konfliktlösungsverhalten beruht auf der Annahme, daß Menschen in Beziehung zueinander bleiben, solange sie miteinander sprechen. Die Bereitschaft zum Gespräch ist der wesentliche Schritt zur Vermeidung von Konfrontationen, auch wenn die strittigen Fragen nicht ausgeräumt werden oder gar nicht beantwortet werden sollen. Diese Auffassung ist für die Vermittlung unvermeidlicher sozialer Differenzen ethisch bedeutsam geworden. 4.2. Dialog als Eröffnung von Beziehungen. Für die Vorstellung einer sozialen Koexistenz, die ideologische Gegensätze bestehen läßt, wird „Dialog" zu einer Metapher für das Aufeinander-angewiesen-Sein. Der Dialog begründet unter den Bedingungen des gesellschaftlichen, weltanschaulichen und religiösen Pluralismus ein Zusammenleben, das Gemeinsamkeiten (vor allem ethischer Art) jenseits der bestehenden Unterschiede suchen und finden läßt. Vor diesem Hintergrund ist verstärkt seit den 60er Jahren u. a. vom Dialog zwischen Christen und Marxisten die Rede. Im weiteren Sinne ist hierzu auch der sog. Dialog Kirche - Gesellschaft bzw. Kirche - Welt zu rechnen. 4.3. Dialogik als Ausdruck der Offenheit. Wird im Gespräch Begegnung gesucht, dann können Standpunkte als Ausgangspunkte angesehen werden, die verlassen werden müssen, um einer Wahrheit näherzukommen, die sich nie einem Menschen oder einer Gruppe, die sich gegen andere abgrenzt, in ihrer Fülle offenbart. Behauptungen führen nach dieser Ansicht zur Selbstbehauptung, Positionen verleiten dazu, bei dem zu beharren, was man für die eigene Identität hält. Das Problem der Wahrheitsfindung wird hier sozialpsychologisch aufgefaßt; dem entspricht die Neigung, über dialogisches Verhalten zu sprechen, statt in ein Gespräch über Sachverhalte einzutreten. Auch ohne solche Folgen ist - auf katholischer Seite seit dem —»Vaticanum II — ein Dialog mit anderen Religionen begonnen worden, der Verständigung nicht über Wahrheitsansprüche, sondern im Medium der Religion (religiöse Erfahrung und Praxis) sucht. Bei ökumenischen Dialogen wird häufig eine neue gemeinsame Grundlage gesucht, die konfessionelle Überlieferungen relativiert (—»Ökumene). — In diesen drei — oft ineinander verfließenden — Bedeutungen von „Dialog" wird dieser als ein soziales

Dialogik II

707

Phänomen begriffen. Das geführte Gespräch trägt seinen Wert in sich. Die im Gespräch gesuchten und entdeckten Beziehungen haben Vorrang gegenüber dem, was im Dialog abgesehen von ihm selbst wahrzunehmen ist. Ohne die soziale Ebene zu verlassen, kann der Dialog aber auch als Ort der Erkenntnisgewinnung beschrieben werden: 4.4. Dialog als Methode der Entscheidung über die Wahrheit von Sätzen. Die Wahrheitsprüfung wissenschaftlicher Sätze geschieht im Diskurs, der entweder ein kommunikativer Vorgang ist oder auf einen solchen zurückgeht (—»Wahrheit). Das Für und Wider von Behauptungen wird an Dialogpartner vergeben, die sich auf Aussagen einlassen, welche für den Diskurs konstitutiv sind (dialogdefinite Aussagen); die Gesprächspartner führen den Dialog nach gemeinsamen Spielregeln und verteilen so die Beweislast für die Prüfung der behaupteten Aussagen untereinander. Hier ist der Dialog nicht mehr nur ein soziales Phänomen, sondern er richtet sich auf die Einlösung der Geltung von Sätzen, die nicht durch eine Konvention zustande gebracht wird, auch wenn die Übereinstimmung von Menschen ihre notwendige Bedingung ist. Diese z.B. von W. Kamiah und P. Lorenzen entwickelte Auffassung wird in neueren Analysen wieder stärker auf soziale Prozesse ausgedehnt, wenn der Dialog in erster Linie dem Erfahrungsaustausch gilt, der einen Erkenntniszuwachs in Form gesteigerter gemeinschaftlicher Reflexionsleistungen befördern soll. Die philosophische Frage nach dem Dialog als Methode wird nun durch kommunikationstheoretische Erklärungen ergänzt (J. Habermas, H. Schnädelbach). 5. Theologische

Wahrheitskriterien

in der

Dialogpraxis

Dialogik orientiert sich an der Mitteilungskraft der —»Sprache, die zur sozialen und ontologischen Rahmenbedingung für jede Erfassung der Wirklichkeit erweitert wird. Für theologisches Verständnis beruht jeder Dialog darauf, daß Menschen berufen sind, Gottes Wahrheit auszusprechen und Glauben mitzuteilen, ohne dadurch sich selbst darzustellen (vgl. S. —»Kierkegaards Hinweis auf die Indirektheit dieser Mitteilung, die auch das Gespräch bestimmt). Die Verheißung der Wahrheit gilt allen Menschen so, daß sie ihr Zusammenleben begründet — und dies wird im Gespräch ausgetragen. Dem widerspricht nicht, daß die Theologie Redeweisen kennt, die nicht in Dialoge aufzulösen sind: das die Gewißheit des Glaubens begründende Urteil und das Gebet. Darum ist der Dialog zwischen Menschen nicht die Urform theologischen Redens, sondern muß als bestimmte Sprachform mit bestimmten Aussage- und Beziehungsmöglichkeiten angesehen werden. Dies gilt in besonderem Maße für die Verkündigung (—»Homiletik) und das seelsorgerliche—»Gespräch (—»Seelsorge). Die von der philosophischen Dialogik hervorgehobene Zeitlichkeit, die das Gespräch gewährt, empfängt ihren theologischen Sinn durch die Dialektik von endgültigem Reden von Gott in der Gewißheit des Glaubens und unabgeschlossenem Reden in der Erwartung der Zukunft Gottes. Die in der Ich-Du-Beziehung gehaltene Wahrnehmung der Welt ist ebenfalls konstituiert durch den eschatologischen Charakter der Wahrheit, die sich im Handeln Gottes an Menschen mitteilt und diese Menschen zu gemeinsamer Hoffnung zusammenführt. So ist die Erkenntnis des Glaubens auf den Weg der Geschichte Gottes mit den Menschen gewiesen. Auf diesem Wege ist der Dialog auch das Kennzeichen der —»Mission (im recht verstandenen Sinne: nicht als Ausbreitung des Christentums, sondern als Eingehen auf das Handeln Gottes mit der Menschheit, als Gespräch mit der Erwartung, daß Gott im Gesprächspartner begegnet und auch in dessen Worten unverhofft zu reden beginnt). In alledem löst der Dialog jedoch nicht das assertorische, bekennende Reden von Gott in eine unabsehbare Erörterung von Glaubensstandpunkten, von Perspektiven religiöser Erfahrung und von sozialen Beziehungen auf. Ebensowenig sind diese Beziehungen der Selbstzweck des Dialogs. Die soziale Bedingtheit unserer Wahrnehmung im Medium der Sprache stellt sich im Gegenteil gerade dann heraus, wenn Aussagen, die aus dem Bekennen erwachsen, ohne Rücksicht auf ihre soziale Resonanz ausgesprochen werden. In solchen Grenzsituationen ist

708

Dialogik II

entscheidend, ob und wie ein Dialog neu beginnen kann, hingegen nicht, wie bestehende Beziehungen durch Verschweigen der Wahrheitsfrage mühsam erhalten werden. Der Dialog im Reden von Gott und in der Mitteilung des Glaubens ist nicht selbstschöpferisch, sondern ist durch Aussagen geprägt, auf die das Gespräch sich hinbewegt und von denen es ausgeht, ungeachtet seines tatsächlichen Verlaufs. Diese dialogdefiniten Aussagen („Dialogregeln": G. Sauter, Wissenschaftstheoretische Kritik 3 2 3 - 3 2 7 . 3 5 5 f ) werden im Modus des Consensus ausgesprochen. Sie sind Glaubensaussagen, deren Beweislast nicht verteilt werden kann, und sie sind gegenüber allem, was im Dialog gesagt werden kann, verbindlich. Literatur Emil Brunner, Wahrheit als Begegnung, Berlin 1 9 3 8 , Zürich 2 1 9 6 3 . — Fritz B u r i / J a n Milic Lochman/Heinrich Ott, Dogmatik im Dialog, 3 Bde., Gütersloh 1 9 7 3 - 1 9 7 6 . - Wilhelm Capelle/Henri Irenee M a r r o u , Art. Diatribe: R A C 3 ( 1 9 5 7 ) 9 9 0 - 1 0 0 9 . - Dialog des Glaubens u. der Liebe. Theo!. Gespräch zw. dem ö k u m . Patriarchat v. Konstantinopel u. der E K D 1 9 6 9 , 1 9 7 0 ( Ö R . B 11). - Dialog mit anderen Religionen. Material aus der ö k u m . Bewegung, hg. v. Hans J o c h e n Marguli/Stanley J . Samartha, Frankfurt a . M . 1 9 7 2 . - D i a l o g u. Anerkennung, hg. v. Peter M a n n s , 1 9 8 0 ( Ö R . B 3 7 ) . - D i a l o g u n terwegs. Eine ev. Bestandsaufnahme zum Konzil, hg. v. George A. Lindbeck, Göttingen 1 9 6 5 . - Dokument über den Dialog mit den Nichtglaubenden, hg. v. dem Sekretariat für die Nichtglaubenden, Trier 1 9 6 9 . - Dominique Dubarle, Der Dialog u. die Phil, des Dialogs: I D Z 1 ( 1 9 6 8 ) 3 - 1 4 . - Ecumenical Dialogue at Harvard. T h e R o m a n Catholic-Protestant Colloquium, ed. Samuel H . M i l l e r / G . Ernest Wright, Cambridge, Mass. 1 9 6 4 . - W a l t e r Eller, Christi. Hoffnung auf Erlösung u. Vollendung v. Mensch u. W e l t vor dem Anspruch der Gewißheit menschlicher Erkenntnis. Eine Unters, zu Ansatz u. Rekonstruktion der Theoriebildung der Traditionsverarbeitung in F. Schleiermachers „ D i a l e k t i k " u. „ G l a u b e n s l e h r e " , Diss. T h e o l . Bonn 1 9 7 8 . - Roger G a r a u d y / J o h a n n Baptist M e t z / K a r l Rahner, Der Dialog oder Ändert sich das Verhältnis zw. Katholizismus u. M a r x i s m u s ? , Reinbek 1 9 6 6 . - Uwe Gerber, Disputatio als Sprache des Glaubens. Eine Einf. in das theol. Verständnis der Sprache an Hand einer entwicklungsgesch. Unters, der disputatio u. ihres Sprachvollzuges, 1 9 7 0 ( B S H S T 15) (Lit.). — Christof Gestrich, D e r „Absolutheitsanspruch" des Christentums im Zeitalter des Dialogs. Erwägungen zur theol. Begründung der Mission in der Gegenwart: Z T h K 7 7 ( 1 9 8 0 ) 1 0 6 - 1 2 8 . - Olga Gewerstock, Lucian u. Hutten. Z u r Gesch. des Dialogs im 16. J h . , 1 9 2 4 (GS 3 1 ) . - Friedrich Gogarten, Ich glaube an den dreieinigen Gott, J e n a 1 9 2 6 . — Ders., Glaube u. Wirklichkeit, J e n a 1 9 2 8 . - Martin G r a b m a n n , Die Gesch. der scholastischen Methode, 2 Bde., Freiburg i . B r . 1 9 0 9 / 1 1 . - K a r l Heim, Der ev. Glaube u. das Denken der Gegenwart, Berlin, I 1 9 3 1 = Wuppertal 6 1 9 7 5 . - Alfred Hermann/Gustave Bardy, Art. Dialog: R A C 3 ( 1 9 5 7 ) 9 2 8 - 9 5 5 . - Eilert Herms, Herkunft, Entfaltung u. erste Gestalt des Systems der Wiss. bei Schleiermacher, Gütersloh 1 9 7 4 . - Rudolf Hirzel, Der Dialog, 2 Bde., Leipzig 1 8 9 5 = Hildesheim 2 1 9 6 3 . - I O B (Reg. s . v . , D i a l o g ' ) . - Jewish-Christian Dialogue. S i x y e a r s o f Christian-Jewish consultations, Geneva 1 9 7 5 . - Hermann J o r d a n , Gesch. der altchristl. Literatur, Leipzig 1 9 1 1 . - Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, M a n n h e i m 1 9 6 7 . Friedrich Kaulbach, Schleiermachers Idee der Dialektik: N Z S T h 1 0 ( 1 9 6 8 ) 2 2 5 - 2 6 0 . - Hendrik Kraemer, W o r l d Cultures and World Religions. T h e Coming Dialogue, Philadelphia/London 1 9 6 0 . Jaroslav Krejci, Dialog des M a r x i s m u s mit dem Christentum als Friedensbeitrag: I D Z 1 ( 1 9 6 8 ) 4 3 - 4 9 . - Bernhard Langemeyer, Der dialogische Personalismus in der ev. u. kath. Theol., Paderborn 1 9 6 3 (Lit.). - Paul Löffler, T h e o l . des Dialogs oder dialogische T h e o l . ? : Z M i s s 3 ( 1 9 7 7 ) 9 9 - 1 0 6 . - Kurt Lüthi, T h e o l . als Dialog mit der Welt v. heute, 1 9 7 1 ( Q D 5 3 ) . - H a n s J o c h e n Margull, Verwundbarkeit. Bemerkungen zum Dialog: EvTh 3 4 ( 1 9 7 4 ) 4 1 0 - 4 2 0 . - Ders., Zu einem christl. Verständnis des Dialogs zw. Menschen verschiedener rel. Traditionen: EvTh 3 9 ( 1 9 7 9 ) 1 9 5 - 2 1 1 . - Ders., Der „Absolutheitsanspruch" des Christentums im Zeitalter des Dialogs. Einsichten in die Dialogerfahrung: Europ. T h e o l . Versuche einer Ortsbestimmung, hg. v. T . Rendtorff, Gütersloh 1 9 8 0 , 1 2 7 - 1 3 6 . - Ekkehard Martens, D i a l o g u . Wahrheit: I D Z 6 ( 1 9 7 3 ) 3 1 6 - 3 2 4 . - M i c h a e l Mildenberger, Dialog der Religionen u. Weltanschauungen. Z u r Begegnung der Christen mit Menschen anderen Glaubens, Stuttgart 1 9 7 3 . — Ders., Denkpause im Dialog. Perspektiven der Begegnung mit anderen Religionen u. Ideologien, Frankfurt, M . 1 9 7 8 . - Adam M i c h n i k , Die Kirche u. die polnische Linke. V o n der Konfrontation zum Dialog, München 1 9 8 0 . - Gottfried Niemann, Die Dialogliteratur der Reformationszeit nach ihrer Entstehung u. Entwicklung, Leipzig 1 9 0 5 . - ö k u m . T h e o l . Ein Arbeitsbuch, hg. v. Peter Lengsfeld, Stuttgart u . a . 1 9 8 0 . - Heinrich Ott, Der Dialog zw. den Religionen als theol. Aufgabe unserer Zeit: Unterwegs zur Einheit. FS Heinrich Stirnimann, Freiburg/Wien 1 9 8 0 , 8 8 4 - 8 9 8 . - H u g o Rahner, Art. Dialoge: L T h K 2 3 ( 1 9 5 9 ) 3 3 9 f . - Hans-Richard Reuter, Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers, 1 9 7 9 (BEvTh 8 3 ) ( L i t . ) . - E u g e n Rosenstock-Huessy, Atem des Geistes, Frankfurt, M . 1 9 5 1 . - H a n s J o a c h i m R o t h e « , Die Dialektik Friedrich Schleiermachers: Z T h K 6 7 ( 1 9 7 0 ) 1 8 3 - 2 1 4 . - Gerhard Sauter,

Diaspora 1/1

709

Kommunikation u. Wahrheitsfrage: ders., Erwartung u. Erfahrung, 1 9 7 2 (TB 4 7 ) 1 4 7 - 1 7 8 . - Ders. u. a., Wissenschaftstheoretische Kritik der Theol., München 1 9 7 3 . - Schalom Ben-Chorin, Dialogische T h e o l . Fünf Brennpunkte christl.-jüd. Gesprächs, Trier 1 9 7 5 . — Herbert Schnädelbach, Reflexion u. Diskurs. Fragen einer Logik der Phil., Frankfurt, M . 1 9 7 7 . - Gerolf Schultzky, Die Wahrnehmung des Menschen bei Seren Kierkegaard, 1 9 7 7 ( S T h G C 19). - Hans Schulze, Ethik im Dialog. K o m m , zur Denkschr. der E K D „Aufgaben u. Grenzen kirchl. Äußerungen zu gesellschaftlichen F r a g e n " , Gütersloh 1 9 7 2 . - Eric J . Sharpe, D i a l o g u e a n d F a i t h : Religion 3 ( 1 9 7 3 ) 8 9 - 1 0 5 . - E b e r h a r d Simons, Art. Personalismus: S M ( D ) 3 ( 1 9 6 9 ) 1 1 2 7 - 1 1 3 6 = H T T L 5 ( 1 9 7 3 ) 3 9 0 - 3 9 6 . - W . Cantwell Smith, O n Dialogue and „ F a i t h " : Religion 3 ( 1 9 7 3 ) 1 0 6 - 1 1 4 . - Bruno Snell, Der Beginn des literarischen Dialogs: AuA 2 2 ( 1 9 7 6 ) 1 3 7 - 1 3 9 . — Dorothee Sölle/Klaus Schmidt (Hg.), Christentum u. Sozialismus. V o m Dialog zum Bündnis, Stuttgart u . a . 1 9 7 4 . — Klaus Voss, Logische Probleme des Dialogs: D Z P h 2 6 ( 1 9 7 8 ) 9 8 4 - 9 9 4 . - Falk Wagner, Schleiermachers Dialektik, Gütersloh 1 9 7 4 . - H a n s Waldenfels, Der Dialog zw. Buddhismus u. Christentum - Herausforderung für europ. Christen: G u L 5 3 ( 1 9 8 0 ) 1 8 4 - 2 0 1 . - Michael Weinrich, Im Dialog mit der Dialogik. Die Buber-Forschung seit 1 9 4 5 : V F 2 4 ( 2 / 1 9 7 9 ) 3 3 - 5 4 . - O t t o Z ö c k l e r , Der Dialog im Dienste der Apologetik, Gütersloh 1 8 9 3 .

Gerhard Sauter Dialogpredigt —»Homiletik Diaspora I. Israelitische und jüdische Diaspora 1/1. Alttestamentliche Zeit 1/2. Frühjüdische und rabbinische Zeit II. Konfessionelle Diaspora innerhalb des Christentums

711 717

I. Israelitische und jüdische Diaspora 1/1. Alttestamentliche Zeit Diaspora ist ein griechisches Wort und bedeutet „Zerstreuung". Es nimmt Bezug auf israelitische oder jüdische Siedlungen außerhalb Palästinas. Nach Jes 11,11 erstreckte sich die Diaspora über drei Kontinente. Es gibt mehrere Ursachen für die Ausbreitung der Israeliten in der Welt. Einmal ihre Funktion als Händler, dann als Söldnertruppen, als Gefangene oder Sklaven von Eroberern und als Kolonisten: Salomos Handelsaktivitäten hatten die Einsetzung königlicher Bevollmächtigter in Südarabien (I Reg 10), in Afrika (I Reg 9 , 2 6 - 2 8 ; 10), in Kilikien und Syrien (I Reg 10,28 f) bereits im 10. Jh. v. Chr. zur Folge (vgl. Josephus, Ant VIII, 153 f). Auch nach Ägypten wurden Gefangene mitgenommen (s. u.). Die Hauptursache für die Zerstreuung war aber die assyrische und babylonische Eroberung (—»Exil). Tiglat-Pilesar III. oder Phul ( 7 4 5 - 7 2 8 ) von Assyrien griff Israel im 9. Jahr seiner Herrschaft an und deportierte Gefangene nach Assyrien (II Reg 15,29; I Chr 5,6.26; und ANET 283 f; A O T 3 4 7 f ; Galling 57f). Der Babylonischen Chronologie zufolge (vgl. Schmidtke 90) zerstörte Salmanassar V. (726—722) Samaria unmittelbar vor dem Ende seiner Herrschaft (II Reg 17,3—6; 18,9—12). Sargon II. (722—706), der die Belagerung Samarias kommandierte und sich später das Hauptverdienst am Sieg zuschrieb, gab an, 2 7 2 9 0 Israeliten deportiert zu haben (ANET 284 f; AOT 348; Galling 60 f). Dies war jedoch kein sehr großer Teil der Bevölkerung, zu der mindestens 6 0 0 0 0 Grundbesitzer (II Reg 15,19f) gehörten. Sargon kam im 2. Jahr seiner Herrschaft zurück und nahm weitere Gefangene (ANET 285 f; A O T 348 f). Die israelitischen Exulanten wurden in Obermesopotamien am Fluß Habur (Häbür) bei Gozan (Teil Haläf) oder in den Städten der Meder (II Reg 17,6; 18,10.11) angesiedelt. Inschriftliche Zeugnisse aus Assyrien sprechen für die Anwesenheit von Israeliten in dieser Gegend während des späten 8. und frühen 7. Jh. (Albright). Avigad fand das Siegel eines aus dem Exil zurückgekehrten Ammoniters. Dies könnte bedeuten, daß auch einige Israeliten zurückkehrten. Salamanassar V. siedelte Teile der Bevölkerung von Babylon, Kutha, Awwa, Hamath und Sepharwajim nach Samaria um (II Reg 17,24). Sargon will ebenfalls Angehö-

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Diaspora 1/1

rige der Stämme der Tamud, Ibadidi, Marisimani und Haipa umgesiedelt haben (ANET 286; Galling 63). Gemäß seiner üblichen Praxis (Paul) sandte der assyrische König einen israelitischen Priester von Assyrien nach Israel zurück, um die neue Bevölkerung das Gesetz des Landesgottes zu lehren (II Reg 17,27 f). Die Exilsgemeinde wurde beträchtlich vergrößert durch Sanherib (705-682), der befestigte Städte Judas einnahm und sie als Beute betrachtete (II Reg 18,13; II Chr 32,1; ANET 287f; Galling 6 7 - 6 9 ) . Es finden sich keinerlei Anzeichen dafür, daß es eine Rückkehrbewegung von Assyrien nach Palästina gegeben hat. Man nimmt an, daß sich die meisten der Exilierten der Kultur der neuen Umgebung assimiliert haben (—»Assyrien und Israel). Nebukadnezar II. ( 6 0 5 - 5 6 1 ) führte nach Jer 52 drei Strafexpeditionen gegen Juda und Jerusalem durch und nahm Gefangene mit nach Babylonien. Die drei Deportationen ereigneten sich in Verbindung mit der Gefangennahme Jojachins am 16. März 597 (Jer 52,28; II Reg 2 4 , 1 2 - 1 6 ; ANET 564; Galling 74), der Bestrafung Zedekias im Juli 587 (Jer 52,29; II Reg 2 5 , 1 - 2 1 ) und in Vergeltung für die Ermordung Gedaljas 582 v. Chr. (Jer 52,30; 40,7; 41,18; II Reg 2 5 , 2 2 - 2 6 ) . Die Bevölkerung Judas wurde an den „Flüssen Babylons" (Ps 137) oder entlang dem Fluß Kebar (Satt en-Nil) (Ez 1,3), der durch Nippur fließt, angesiedelt. Die Siedlung wurde Tell-Abib (Ez 3,15) genannt. Die genaue Lage der fünf in Esr 2,59 (Neh 7,16) genannten Orte ist unbekannt. Inschriftliche Belege aus dem 6. und 5. Jh. (Coogan; Avigad 2 2 8 - 2 3 2 ) zeigen, daß die Exulanten in Babylonien der Aufforderung des Jeremia (Jer 29,4—7) nachkamen und Häuser bauten, Gärten anlegten, Handel trieben und Familien gründeten. Sie bauten ihr Gemeinwesen hinsichtlich des religiösen und sozialen Lebens aus und wurden von den Babyloniern zunehmend integriert (Oded 480—486). Meinhold versteht die —»Josephnovelle und das —»Estherbuch als literarische Ausdrucksformen der Diaspora. Humphreys nimmt dies auch für die Danielgeschichten an (—»Daniel/Danielbuch) und meint, daß sie einen Lebensstil widerspiegeln, der schöpferisch und nützlich für die Juden in der Diaspora war. Sie konnten Teil der Landesbevölkerung sein, brauchten aber ihr religiöses und kulturelles Erbe nicht aufzugeben. Die Exilsgemeinde war verantwortlich für die Sammlung der schriftlichen und mündlichen Traditionen ihrer Vergangenheit und dafür, daß diese zu einer nationalen religiösen Literatur ausgestaltet wurde. Das „Buch des Gesetzes Moses", das—»Esra (Neh 8,1) verlas, stammt von den Verbannten, ebenso eine Redaktion des —»Deuteronomistischen Geschichtswerks. Die Entstehung der —»Klagelieder und einzelner —»Psalmen sowie die Sammlung der prophetischen Literatur fallen in diese kreative Periode. Das babylonische Exil hatte eine weitreichende Wirkung auf die Gestaltung der Zukunft des jüdischen Volkes. Nach dem Kyros-Erlaß (Esr 1 , 1 - 4 ; 7 , 1 2 - 2 6 ) kehrten einige Juden nach Palästina zurück, viele jedoch blieben in Babylonien (—»Babylonien und Israel). Die Ähnlichkeit zwischen der Weisheit des Amenemope (ANET 421—425; AOT 3 8 - 4 1 ; Textbuch 7 5 - 8 8 ) und Prov 2 2 - 2 4 deutet auf eine enge Verbindung zu ägyptischem Geistesleben und ägyptischer Literatur hin. Nicht alle Israeliten, die in —»Ägypten waren, waren dort als Gefangene. Einige waren nach dort ausgewichen, um der Gefangennahme durch Sanherib zu entgehen (II Reg 18,19). Necho (609-593) fiel in Palästina ein und nahm einen Teil der Bevölkerung mit nach Ägypten (II Reg 23,29; II Chr 36,4). Nach der Ermordung Gedaljas (587—582) nahmen einige Judäer den Jeremia als Geisel gefangen und flohen nach Ägypten, um sich der Vergeltung der Babylonier zu entziehen (Jer 4 2 , 1 8 - 2 2 ; 4 3 , 1 - 7 ) . Psammetich II. (593-588) bediente sich israelitischer Söldner bei seinem Angriff auf Nubien (Arist 13; Greenberg). „Der Perser" in Arist 13 wurde als Hinweis auf Kambyses (530-522) aufgefaßt, der Ägypten im Jahre 525 angriff. Alexander der Große (336—323) nahm Juden mit nach Ägypten (Josephus, Ant XI,345), ebenso Ptolemaios I. Soter, der Sohn des Lagos ( 3 2 3 - 2 8 5 ; Arist 3 - 4 ) . Die Juden siedelten in verschiedenen Teilen Ägyptens. Einige kamen nach Tachpanches (Tell-Dafneh), Memphis, Migdol (Teil el-Her) in Unterägypten und in das „Land Pathros" (Jer 43,7; 44,1; 46,14). Von anderen wissen wir, daß sie in Elephantine (Syene oder Assuan) in Oberägypten wohnten, wie aus den aramäischen Schriftstücken aus dieser Stadt aus dem

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5./4. Jh. (ANET 491 f; Cowley; AOT 4 5 0 - 4 5 2 ; Galling 8 4 - 8 8 ) hervorgeht. Vor kurzem entdeckte Belege weisen auf eine Kolonie in Edfu während dieser Periode hin (Kornfeld). Die Juden in Elephantine hatten einen Tempel, der vor Kambyses erbaut, aber wieder zerstört worden war. In einem Brief an den Statthalter von Juda erbaten die Juden von Elephantine Hilfe beim Wiederaufbau des Tempels. Ein gelegentlich nach der „wilden Bubastis" benannter anderer Tempel, der während der Regierungszeit Ptolemaios' VI. Philometor (181 — 146) durch den Hohen Priester Onias (Josephus, Ant XIII,62—73) errichtet worden war, stand in Leontopolis bei Heliopolis. Die Juden in Ägypten hatten auch eine griechische —»Bibelübersetzung. Es gibt keine Anzeichen für eine Massenrückwanderung von Ägypten nach Palästina, aber es bestand aufgrund der Nachbarschaft der Länder eine regelmäßige Verbindung. Die stattliche Sammlung hebräischer Handschriften, die die Ubersetzungsvorlage der Septuaginta bezeugen und die in —»Qumran gefunden wurden, bestätigt diese Ansicht. Unmittelbare Belege dafür, daß es Israeliten in Syrien gegeben hat, fehlen. Der früheste Hinweis auf Israeliten in Kleinasien stammt aus der Zeit Salomos. Dieser richtete ein Handelsunternehmen ein, um Pferde von Kue (Kilikien) und Streitwagen von Ägypten zu kaufen und sie über königliche Zwischenhändler an die Hethiter und Syrer zu verkaufen (I Reg 10,28 f). Später erwähnt Obadja (Ob 1,20) Verbannte aus Jerusalem in Sefarad, der lydischen Hauptstadt Sardes (Hanfmann/Waldbaum). Joel klagt darüber, daß die Philister und Phönizier Israeliten an die Jawanim, d. h. jonische Griechen, verkauften (Joel 4,6; vgl. auch Ez 27,13; Jes 66,19f). Literatur William Foxwell Albright, An Ostracon from Calah and North Israelite Diaspora: BASOR 1 4 9 (1958) 3 3 - 3 6 . - Nachman Avigad, Seals of the Exile: IEJ 15 ( 1 9 6 5 ) 2 2 2 - 2 3 4 . - F. Blanchetiere, Juifs et non-Juifs. Essai sur la diaspora en Asie-Mineure: RHPhR 5 4 ( 1 9 7 4 ) 3 6 7 - 3 8 2 . - M i c h a e l D. Coogan, Life in the Diaspora. Jews at Nippur in the Fifth Century B . C . : BA 3 7 ( 1 9 7 4 ) 6 - 1 2 . - D e r s . , West Semitic Personal Names in the Murasu Documents, 1 9 7 6 (HSM 7). - Arthur E. Cowley, Aramaic Papyri of the Fith Century B.C., Oxford 1 9 2 3 = Osnabrück 1 9 6 7 . - Kurt Galling, Textbuch zur Gesch. Israels, Tübingen 3 1 9 7 9 . - Moshe Greenberg, Ezekiel 17 and the Policy of Psammetichus II: JBL 7 6 ( 1 9 5 7 ) 3 0 4 - 3 0 9 . - George M. A. Hanfman/Jane C. Waldbaum, New Excavations at Sardis and Some Problems of Western Anatolian Archaeology: Near Eastern Archaeology in the 20"' Century, New York 1 9 7 0 , 3 0 7 - 3 2 6 . - W. Lee Humphreys, A Lifestyle for Diaspora. A Study of the Tales of Esther and Daniel: JBL 92 ( 1 9 7 3 ) 2 1 1 - 2 2 3 . - K e n n e t h A. Kitchen, The 3 r d Intermediate Period in Egypt ( 1 1 0 0 - 6 5 0 B.C.), Warminster 1 9 7 3 , 4 3 2 — 4 4 7 . - W. Kornfeld, Unbekanntes Diasporajudentum in Oberägypten im 5 . / 4 . Jh. v. Chr.: Kairos 18 ( 1 9 7 6 ) 5 5 - 5 9 . - A r n d t Meinhold, Die Gattung der Josephsgesch. u. des Estherbuches: Z A W 8 7 ( 1 9 7 5 ) 3 0 6 - 3 2 4 ; 88 ( 1 9 7 6 ) 7 2 - 9 3 . - M a r t i n Noth, Die Wege der Pharaonenheere in Palästina u. Syrien. Unters, zu den hieroglyphischen Listen palästinischer und syrischer Städte. IV. DieSchoschenkliste: ders., Aufs, zur bibl. Landes-u. Altertumskunde, Neukirchen, II 1 9 7 1 , 7 2 - 9 3 . - Bustanay Oded, Exile and Diaspora: Israelite and Judaean History, London 1977, 4 8 0 - 4 8 8 . - S. Paul, Sargon's Administrative Diction in II Kgs. 1 7 , 2 7 : JBL 8 8 ( 1 9 6 9 ) 73 f. - Friedrich Schmidtke, Der Aufbau der Babylonischen Chronologie, Münster 1 9 5 2 . - R. Zadok, The Jews in Babylon during the Chaldean and Achaemenian Period, Jerusalem 1 9 7 8 .

Lawrence A. Sinclair 1/2. Frühjüdische und rabbinische Zeit 1. Verbreitung 2. Gründe für die Entstehung der Diaspora und ihre Ausbreitung 3. Selbstverwaltung 4. Der zivile Status der Juden in der Diaspora 5. Das Verhältnis zwischen der Diaspora und Jerusalem (Quellen/Literatur S. 7 1 6 )

1.

Verbreitung

Wenn es um die Zahl der Juden in der Antike geht, neigen die Quellen zu Übertreibungen (z. B. Sib III, 271; Josephus, Ant. XIV, 115; Diodorus SiculusXL,3.8). Ihre wirkliche Anzahl betrug im 1. Jh. n. Chr. auch nach sehr vorsichtiger Schätzung kaum weniger als sechs Millionen. Unser Wissen bezieht sich im wesentlichen auf die griechisch-römische Welt (vgl. die Liste in Act 2,5—11). Über die Juden Babyloniens ist uns demgegenüber nur sehr wenig be-

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kannt, obwohl gerade sie einen wichtigen Faktor der jüdischen Geschichte der Zeit des Zweiten Tempels bildeten. Die größten babylonischen Gemeinden bestanden in Nehardea 0 , Sura, Pumbedita, Ktesiphon, Seleukia, Nisibis und im Königreich Adiabene. Die Juden gelangten jedoch auch tief in den persisch-parthischen Osten hinein, bis nach Elam und Medien sowie Hyrkania am Kaspischen Meer. Noch weniger wissen wir über die Juden der Arabischen Halbinsel, die dort seit der Zerstörung des Ersten Tempels vor allem in der Arabia Felix saßen. Die größte Konzentration von Juden in der griechisch-römischen Welt gab es in —»Ägypten . Philo gibt ihre Zahl mit rund einer Million an (Flacc 43), was der Wahrheit ziemlich nahekommen dürfte. Allein in —»Alexandrien bewohnten die Juden zwei der fünf Stadtteile (Flacc 55), woraus man auf ihre Gesamtzahl schließen kann. (Die Gesamtbevölkerung betrug nach Diodor XVII, 52,6 etwa 300 000.) Nach Josephus kamen während des ersten jüdischen Aufstandes gegen Rom (66—73 n. Chr.) einige zehntausend Juden in Ägypten ums Leben (Bell II, 494ff; VII,369). Vernichtungen in noch größerem Ausmaß gab es im Gefolge des Aufstandes der Juden unter Trajan (115—117). Das Verbreitungsgebiet der jüdischen Siedlungen erstreckt sich bis Nubien im Süden. Die größten Zentren außer Alexandrien gab es im ,Oniasland', in Fayyum und in den Metropolen Oxyrhynchos, Hermopolis Magna, Diospolis Magna (Theben) und Apollinopolis Magna (Edfu). Von Ägypten breiteten sich die Juden in die Kyrenaika aus. Ihre wichtigsten Ansiedlungen dort waren Kyrene und Berenike. Ihre große Zahl und Bedeutung in diesen beiden Ländern wirft einiges Licht auf das Ausmaß der Zerstörung während des Aufstandes unter Trajan. Auch Syrien und Phönikien waren wichtige jüdische Einwanderungs- und Siedlungsgebiete, vor allem wegen ihrer Nähe zu Palästina (Erez Israel) und gleichzeitig zu Babylonien. Unter den größten Gemeinden in diesem Gebiet müssen insbesondere die in —»Antiochien und Damaskus erwähnt werden, außerdem Apamea und Laodikea (am Orontes), Palmyra (in der Syrischen Wüste), Chalkis (im Libanon), Tyros, Sidon, Beirut und Tripolis (in Phönikien). In Kleinasien gab es fast keine Stadt ohne jüdische Gemeinde, was sich z. B. aus den in Act 13—14; 15,1-21,7 geschilderten Missionsreisen des Apostels Paulus ergibt. Im Westen gab es Juden bis in die Gegend von Mysien, Jonien, Lydien und Karien; hervorzuheben sind hier die Gemeinden in den Städten Pergamon, Smyrna, Ephesus, Milet, Sardes und Halikarnass. Im Süden gab es Juden in Lykien, Pisidien, Pamphylien und Kilikien; eine besondere Stellung nahm die Gemeinde in der Stadt Tarsos ein. Im Landesinneren saßen Juden in Phrygien, Lykaonien, Kappadokien und Galatien, im Norden in Bithynien, Paphlagonien und Pontus. Auf den küstennahen Inseln gab es Gemeindegründungen in den Städten —»Zyperns, auf Chios, Samos, Kos, Rhodos, Mindos und Delos. Von Kleinasien zogen die Juden auch zum Schwarzmeerbecken: der Krim, Pannonien, Skythien, Thrakien und Makedonien, und außerdem in die wichtigsten Gebiete Griechenlands-. Thessalien, Böotien, Ätolien, Attika, Argos und Peloponnes sowie die Inseln Euböa und Kreta. Von Griechenland zogen sie nach Süditalien; dort konzentrierten sich die meisten in Rom, und nur eine Minderheit lebte in den Städten der Campania: Puteoli, Neapel, Capua und Pompeji. Von Italien verbreiteten siesich nach Sizilien, Sardinien, Mauretanien, Afrika, Spanien und Gallien. 2. Gründe für die Entstehung

der Diaspora und ihre

Ausbreitung

2.1. Gefangenschaft und Sklaverei. Die häufigen Auseinandersetzungen in Palästina in der hellenistischen Zeit trafen die Juden wegen ihrer politischen Stellung besonders schwer. Der Verkauf von Gefangenen in die Sklaverei begann im Jahr 302/301 v. Chr. (Arist 12ff; Josephus, Ap 1,205-211, die Zahl 100000 ist jedoch übertrieben) und zog sich mit Unterbrechungen hin bis zum Jahr 198 v. Chr. durch die ,Syrischen Kriege' (Ant XII,144.156). Erneut und verstärkt kam es zu Versklavungen unter Antiochus Epiphanes im Jahr 167 v. Chr. (I Makk 1,32; II Makk 5,14.24). Das bezeugen auch die Versuche eines Gefangenenloskaufs durch die Hasmonäer (I Makk 9,70-72; 10,33; 14,7; II Makk 1,27; CIJ 1,709—711). Die Eroberung Palästinas durch Pompejus endete ebenfalls mit der Wegführung

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von vielen Gefangenen, diesmal nach Rom (Philo, LegGai 155). Es folgt eine lange Kette ähnlicher Katastrophen, z. B. die Verbannung Aristobuls und seiner Familie (Josephus, Bell 1,154; Ant XIII,71.79.97), der Verkauf der Bewohner Tarichäas in Galiläa im Jahr 53 v. Chr. (Bell 1,180; Ant XIV,120) und der Führungsschicht der Städte Gofna, Emmaus, Lod und Thamna (Bell 1,222; Ant XIV,275; vgl. 304.313.319ff). Auch der Konflikt bei der Thronbesteigung des —> Herodes (40-37 v. Chr.) führte zu einem ähnlichen Unglück. Das neue Gesetz des Herodes gegen die „Einbrecher" (gemeint waren Leute des Widerstandes, die durch politisch motivierten Raub von sich reden machten) ermöglichte es ihm, seine Widersacher willkürlich als Sklaven ins Ausland zu verkaufen (Ant XVI, 1—5). Beim Aufstand nach des Herodes Tod (4 v. Chr.) eroberte Varus Sepphoris und verkaufte seine Bewohner in die Sklaverei (Ant XVII,28 9). Auch der erste jüdische Krieg gegen die Römer begann mit dem Verkauf von jüdischen Sklaven, die in den hellenistischen Städten gefangengenommen worden waren (Bell 11,457.477—478); und jede Phase des Feldzuges Vespasians in Galiläa endete auf ähnliche Weise (Bell 111,305-306.337.407; Vita 84.414 ff). Die meisten Gefangenen kamen aus Judäa. Zum Teil wurden sie noch während der Kämpfe verkauft (Bell VI,383 ff). Ihre Zahl betrug nach Josephus 97000 (Bell VI,414-420). Im Laufe der Zeit wurden viele von ihren Glaubensgenossen in der Diaspora freigekauft und in ihre Gemeinden aufgenommen. Nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes (135 n. Chr.) wurden Zehntausende von Gefangenen auf die Märkte von Botna (bei Hebron), Gaza und Akko gebracht und gelangten von dort nach Westen (yAZ 1,4: 39d). Wahrscheinlich wurden auch später Juden in die Sklaverei verkauft, in der Hauptsache wegen ihrer Teilnahme an verschiedenen Aufständen (wie z. B. dem Gallus-Aufstand im Jahr 351), aber unser Wissen darüber ist dürftig. 2.2. Vertreibung aus religiösen Gründen. Dieses Phänomen ist nur aus Rom vor dem Hintergrund des Konfliktes mit den fremden Kulten bekannt. Zum ersten Mal wurden die Juden von dort im Jahr 139 v. Chr. vertrieben (Val. Maximus: Stern Nr. 147), danach im Jahr 19 n. Chr. (Josephus, Ant XVIII,81-84; Philo, LegGai 159-161; Sueton, Tib. 36,1; Tacitus, Ann 11,85,5 u. ö.) und schließlich im Jahr 49 n. Chr. (Act 18,2; Sueton, Claud. 25,4). Uber die Zahl der Vertriebenen kann jedoch nichts gesagt werden. 2.3. Verbannung und Flucht aus politischen Gründen. Verbannung und Flucht aus politischen Gründen gibt es seit den Diadochenkämpfen (Josephus, Ap 1,186-189.194). Sehr zahlreich wurden die Fälle während der ,Syrischen Kriege' angesichts der politischen Unsicherheit und der Streitereien zwischen den Anhängern der Seleukiden und denen der Ptolemäer (Polybius V , 8 6 , 7 - l l ; Josephus, Ant XII, 130; Hieronymus, Comm. in Dan 11,14). Im Kampf gegen die Hellenisierung und unter Antiochus Epiphanes (175—164 v. Chr.) wurde der Hohepriester Onias III. nach Dafne bei Antiochia verbannt (II Makk 4,33). Er zog offensichtlich in Begleitung eines großen Gefolges fort, wie es seiner Stellung zukam. Nach ihm zog sein Sohn Onias IV. nach Ägypten (Josephus, Ant XII.387; XIII,62; vgl. Bell VII,423). Die Verfolgungen unter Epiphanes waren ein wichtiger Grund zur Flucht aus dem Land (I Makk 1,38; 2,43; 3,9; 10,33; II Makk 1,27). Auf der anderen Seite veranlaßten die Siege der Hasmonäer und ihr entschiedener Kampf gegen die Hellenisten auch letztere, Asyl in der Fremde zu suchen (II Makk 4,26; 5,7-9; I Makk 7,5; 11,21.25; 15,21-24). Unter Jannai (103-76 v. Chr.) wurden nach Josephus 8000 von dessen politischen Gegnern in die Verbannung geschickt (Josephus, Bell 1,98 ; Ant XIII,383). Ähnliches geschah auch im Jahr 65 v. Chr. im Kampf zwischen den hasmonäischen Brüdern Hyrkanos und Aristobulos (Ant XIV,21). Die Verbannung der Herodessöhne Archelaos nach Vienna in Gallia Narbonensis (6 n. Chr.) und Herodes Antipas nach Lugdunum (Lyon; 39 n. Chr.) gaben die Grundlage für neue Siedlungen, denn es ist nicht anzunehmen, daß Personen ihres Standes allein in die Verbannung zogen (Bell 11,111.183.344; Ant XVIII,252; Strabo XVI,2,46). Während des ersten jüdischen Krieges gegen Rom kam der Strom der politischen Flüchtlinge zu seinem Höhepunkt. Die meisten waren Sikarier. Ihre Hauptziele waren Ägypten und die Kyrenaika (Bell VII,407-419.437-450).

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2.4. Auswanderung aus wirtschaftlichen und demographischen Gründen. Nach Philo „kann ein einziges Land die Juden wegen der Menge ihrer Menschen nicht fassen" (Flacc 45—46). Abgesehen von der Bevölkerungsdichte Palästinas muß man die begrenzte landwirtschaftlich nutzbare Fläche, das ungünstige Klima, Wassermangel und die Schäden der häufigen Kriege in Rechnung stellen. All dies führte zu schwerer und andauernder Not und in der Folge zu Auswanderung, die in der römischen Zeit wegen der Unterdrückung durch die Prokuratoren einerseits und der Tätigkeit der Zeloten andererseits einen Höhepunkt erreichte (Josephus, Bell 11,277—279; Ant XX,256). Die Auswanderung aus Palästina und den Ländern der Diaspora hatte auch wirtschaftliche Gründe. Bei der Schilderung der Größe und Pracht der alexandrinischen Synagoge, der Schönheit des dortigen Gottesdienstes und der Vielfalt der Teilnehmer werden z. B. in der talmudischen Überlieferung die wirtschaftlichen Verbindungen der teilweise wohlhabenden alexandrinischen Juden mit den von auswärts kommenden Juden erwähnt: „Man saß (in der Synagoge) nicht durcheinander. Vielmehr hatten die Goldbearbeiter ihren besonderen Platz, ebenso die Silberbearbeiter, die Grobschmiede, die Kupferschmiede und die Weber. Wenn ein Jude von auswärts (nach anderer Überlieferung: ein Bedürftiger) eintrat, erkannte er seine Berufsgenossen und wandte sich ihnen zu, so daß er dadurch Unterhalt für sich und die Seinen erhielt" (ySuk V, 1: 55a—b; tSuk 4,6; bSuk 51b). Dieser Bericht deutet indirekt an, daß Alexandrien damals ein wichtiger Anziehungspunkt für Juden war. Der Übertritt des Königshauses von Adiabene hing mit den Tätigkeiten jüdischer Kaufleute zusammen (Josephus, Ant XX,17ff). Ein wichtiger Grund für das Anwachsen der Diaspora in hellenistischer Zeit hängt mit der Gründung von Militärsiedlungen zusammen. Das Ägypten und die Kyrenaika der Ptolemäer waren von Anfang an Ziele solcher Auswanderung (Arist 12—14.36; Josephus, Ap 1,186-189; 11,44). Dafür gibt es auch Belege in Inschriften und Papyri. Die größte Auswanderungswelle kam jedoch erst nach dem sechsten syrischen Krieg (170-168 v. Chr.) und den Verfolgungen Antiochus' IV. (167 v. Chr.). Ihren Höhepunkt erreichte sie bei der Errichtung der Militärsiedlung ,Oniasland' (nach Onias IV.), dessen Zentrum in Leontopolis (heute Teil al-Yahudiye) im Bezirk von Heliopolis war (Bell 1,33; VII,423 ff.; Ant XIII,62-73; vgl. Ap II,49ff). Auch im seleukidischen Königreich gab es Militärsiedlungen von Juden aus Mesopotamien (Ant XII,119.147—153; vgl. II Makk 8,10), von denen sich allerdings kaum Spuren finden. 3.

Selbstverwaltung

Die meisten Juden der Diaspora lebten in Gemeinden, die juristische und politische Körperschaften waren; sie waren offiziell anerkannt, und ihnen war das Recht zugesprochen, „nach den Gesetzen der Väter zu leben". Die Gemeinden wurden mit verschiedenen Ausdrücken gemäß der juristischen und politischen Terminologie der jeweiligen Zeit und des Ortes bezeichnet, woraus Stellung und innerer Aufbau der Gemeinden ersichtlich werden. Der gebräuchlichste und verbreitetste Ausdruck war ,die Juden', zu dem meist der Ortsname hinzutrat, wie: oi tv... 'Iovdaioi, oder: oi and ... 'lovöalot (vgl. CIJ 11,1440-1443). Die vollkommenste und am meisten privilegierte Organisationsform war dusnoXhevua, das die Polis zum Vorbild hatte. Diese Organisationsform besaßen die Gemeinden in Alexandrien (Arist 310) und Berenike in der Kyrenaika (CIG 5361; SEG XVI,931). Ein Synonym ist ;roIneia (vgl. Josephus, Ant XIV, 117), mit dem z. B. die Gemeindein Antiochien im 4. Jh. benannt wurde (Johannes Chrysostomus, Jud. 1,3). Der Ausdruck xaroixia umschreibt dagegen Gemeinden, die ursprünglich Militärsiedlungen waren, wie in Phrygien (Josephus, Ant XII,147—153; CIJ 11,775). Die Ausdrücke o Aaög oder tö'¿OvoqTÜJV 'lovdaCojv und insbesondere ovvayaiyrj betonten mehr den landsmannschaftlichen und national-religiösen Charakter in der jüdischen Selbstverwaltung. Sie waren vor allem in der römischen Zeit gebräuchlich. In der Praxis begegnen auch andere Ausdrücke (wie corpus, universitas, ovvodog, Otdoog), aber ihr Gebrauch ist nicht sehr häufig, vor allem, weil sie besondere (soziale, religiöse, berufliche u. ä.) Definitionsmerkmale enthalten. Als offizielle Körperschaften konnten die Gemeinden eigenes Kapital und eigenes öffentliches Vermögen besitzen und hatten außerdem eigene Institutionen und eigene Gerichtsbarkeit. Sie genossen also weitge-

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hend Verwaltungs- und Gerichtsautonomie. In der Praxis beschränkte sich dies jedoch auf Angelegenheiten, die nicht im Widerspruch mit den Regierungsgesetzen standen, wie Zivilrecht (aber nicht Strafrecht), Eherecht, Gebräuche, eigene (religiöse und öffentliche) Institutionen usw. Bisweilen genossen die Juden so großes Ansehen in diesen Gebieten, daß sogar Nichtjuden es vorzogen, sich an die jüdische Gerichtsbarkeit zu wenden, wie es beispielsweise in Antiochia im 4. Jh. geschah (Johannes Chrysostomus a.a.O.). Im Zentrum des Gemeindelebens stand die Synagoge {avvayajyij oder jzgooevx'/i), die als Asylstätte im Auftrag des Herrschers bekannt war (vgl. Josephus, Ant XVI, 164; Philo, Flacc 48 ff; CIJ 11,1449). In den großen Städten befanden sie sich im Zentrum der jüdischen Wohnviertel oder jüdischen Straßen, wie beispielsweise in Alexandrien (Flacc 55; Bell 11,495; Ant XIV,117; Ap 11,33-36), Oxyrhynchos (CPJ 11,423; 111,454), Appolinopolis Magna (CPJ II, Abt. IX, 160-408) und Hermoupolis (CPJ 111,468). Es scheint, daß Landsmannschaften in Ägypten eine allgemeine und nicht nur jüdische Erscheinung waren. Nach Josephus waren für die Juden Alexandriens besondere Wohnbezirke bestimmt, „damit sie in größerer Reinheit ihr Leben führen können, da sie weniger mit Nichtjuden zusammen sind" (Bell 11,488). Im Schatten der Synagogen befanden sich alle Führungseinrichtungen der Gemeinde, an ihrer Spitze der Ältestenrat (yegovaia), in dem öffentliche Entscheidungen {iprj(piafiara) gefällt wurden. Ihre Mitglieder wurden ,Älteste' (yegdvzreg oder ngeoßmegoi) genannt. Manchmal wurden sie von einem Einzelnen geleitet, wie dem yeoovaiaQxrjg in den Gemeinden Roms (z. B. CIJ 1,9.106.119.147) und dem ¿Ovägxrjg im ptolemäischen Alexandrien (Josephus, Ant XIV,117), manchmal auch von einem Führungskollegium wie den TiQcoTevovzeg rfjg yegovoiag im römischen Alexandrien (Bell VII,412). Aus ihrer Mitte wurde eine Exekutive von agxovTEg in nicht festgesetzter Zahl gewählt oder ernannt, die gewöhnlicherweise aus der Aristokratie kamen. In einigen Gemeinden finden wir als Posten den jigoaTazrjg, der eine Artpatronus der Gemeinde war und deren Angelegenheiten vor der Obrigkeit vertrat (CIJ 1,100.365; 11,1441.1447). In anderen Gemeinden gab es den Posten desqjßovTioTtjg, zu dessen Aufgabenbereich die Finanzverwaltung gehörte (CIJ 1,337.494; 11,772.782.918—919). Eines der am weitesten verbreiteten Ämter war das des ,Schreibers' (ygafifiazevg), der wohl für die Abfassung von offiziellen Schriftstücken (Beschlüsse, Verordnungen, Scheidebriefe, Befehle usw.) zuständig war. Vielleicht war er auch mit der Verwaltung des Gemeindearchivs, das als Notariatsamt fungierte, beauftragt (Josephus, Vita 6; Ap 1,33—36; CPJ 11,142—143). Die geistigen und religiösen Leiter in den meisten Gemeinden waren die Synagogenvorsteher (ägxiovvdycayoi). Neben ihnen wirkten die Priester, Chazzanim, Lehrer, Ubersetzer und Bibelausleger (Juster 1,450—456). Andere Einrichtungen, die im Dienst der Gemeinde standen, waren die verschiedenen pädagogischen Einrichtungen, Beerdigungsgesellschaften (Chevra Qadischa), Armenkasse usw. 4. Der zivile Status der Juden in der Diaspora Wegen der reichen Quellenlage konzentrierte die Forschung ihr Interesse auf Alexandrien. Nach vorherrschender Meinung war der jüdische Kampf um Gleichberechtigung dort so etwas wie ein ,Emanzipationskampf', dessen Ziel das Recht auf Bürgerschaft der griechischen Polis war. Die Hauptstütze für diese These ist der Gebrauch der Wörter ioonokneia, ioovoßia, iaofioigia, ioorifiia und looreXeia bei Josephus (Ant XII,8.119; XVI,160—161; XIX,280; XX,173 ff; Bell 11,487-488; V I I , 4 3 ^ 4 ; Ap 11,35). Bei der historischen Wertung gibt es jedoch unterschiedliche Meinungen: Einige stützen sich auf Josephus und vertreten die Meinung, daß die Juden Bürger der Polis waren, während andere dies abstreiten und Josephus der Verfälschung und Apologetik verdächtigen. Die Entdeckung von Pap. Lond. 1912 (CPJ 11,153) mit einem Brief des Kaisers Claudius an die Alexandriner unterstützt die zweite Meinung, weil er im Widerspruch zu dem claudianischen Edikt steht, das von Josephus zitiert wird (Ant XIX,280-285). Es scheint, daß der Vergleich mit dem ,Emanzipationskampf' zu einer Kette von Fehlern bei der Untersuchung dieses Problems geführt hat. Es ist schwer, sich eineBürgerschaft der Juden in einer griechischen Polis ohne Verleugnung der Religion vorzustellen, denn der städtische Kult war ein organischer Bestandteil des öffentli-

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chen Lebens in der Polis, einschließlich der Aufzeichnung der Bürger nach cpvXai und örj/xoi. So ist es fraglich, o b die Juden zu einem solchen Opfer bereit waren. Andererseits m u ß m a n ihren K a m p f um Gleichberechtigung nicht als Streben nach dem Bürgerrecht in der Polis verstehen; eher kann man ihn als K a m p f um Gleichberechtigung zwischen zwei getrennten politischen Gruppen, der jüdischen Gemeinde und der griechischen Polis, sehen — ein K a m p f , in dem die Juden auf ihrer Gleichberechtigung in der Selbstverwaltung bestanden, o h n e Abhängigkeit von der Polis, sondern nur von der Zentralherrschaft. Demgegenüber versuchten die Griechen, sie davon abzuhalten und auf sie die Herrschaft der Polis anzuwenden wie auf alle anderen Stadtbewohner Ifiéroixoi [Beisassen]). Die Lösung dieses Problems m u ß sich vor allem auf die Schriften Philos stützen, nicht nur, weil er diesem T h e m a einen beachtlichen Teil seines W e r k e s gewidmet hat, sondern auch, weil er an der Spitze der offiziellen Gesandtschaft stand, die die Juden Alexandriens an den H ö f e n der Kaiser Caligula und Claudius vertrat (vgl. LegGai). In der T a t findet sich in seinen Schriften eine äußerst klare juristische Beschreibung der jüdischen Rechte. D e m n a c h ist die Politeia ( = Gesamtheit der politischen Rechte) der alexandrinischen Juden eine Verbindung aus d e n , S i t t e n der V ä t e r ' mit einer ,Teilnahme an den Bürgerrechten' (fietovaiai; JIOAITIXÜV öixaiajv, Flacc 5 3 ; vgl. Leg G a i 3 7 1 ) . Aus diesem G r u n d wurden seine Brüder alsTIOXÌZCLL angesehen (Flacc 4 7 . 8 0 ; Leg G a i 1 9 3 - 1 9 4 ; vgl. 2 1 1 . 2 6 5 . 3 4 9 . 3 6 3 ) ; das bezieht sich nicht auf das Bürgerrecht in der Polis, sondern auf die Zugehörigkeit zum jüdischen Politeuma. N a c h seinen W o r t e n suchten sie einen Standpunkt zwischen den àazoi [Bürgern der Polis] und den ¡IÉXOLXOL ( V i t M o s 1,34—36). Dementsprechend hatten sie als Einzelpersonen einen juristischen Status, der ,Bürgern' und .Freien' vorbehalten w a r (Flacc 8 0 ) . Sie waren als Gemeinde mit eigenen Institutionen anerkannt, die Entscheidungsrecht (iprjcpiaßa), das R e c h t , Anträge an das G e r i c h t zu stellen, R e c h t zu Repräsentationsgesandtschaften und das R e c h t , „ n a c h den Gesetzen der V ä t e r zu l e b e n " , besitzt, genau wie in der Polis. N u r drei Papyri deuten möglicherweise auf das Streben der Juden hin, sich in das alexandrinische G y m n a s i u m einzuschmuggeln und auf diese Weise das Bürgerrecht der Polis zu erlangen. Allerdings werden in dem ersten Zeugnis ( C P J 11,150) keine Juden erwähnt, w ä h r e n d im zweiten ( C P J 11,151) das Gymnasium zu einer Zeit erwähnt wird, als es n o c h von privater Initiative abhing und die Mitgliedschaft n o c h kein Indikator für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht w a r . Im dritten Zeugnis ( C P J 11,153) werden die Juden gewarnt, die W e t t k ä m p f e unter Leitung der G y m n a s i a r c h e n zu stören ( è m a n a i g e i v ; Z . 9 2 — 9 3 ) , so d a ß also das Eindringen oder Sicheinschmuggeln auf einer zweifelhaften T e x t k o r r e k t u r beruht. In Wirklichkeit beziehen sich alle historischen und papyrologischen Zeugnisse zum Stand der Juden auf ihr R e c h t , nach den Gesetzen der V ä t e r zu leben, und auf ihre Selbstverwaltung in den Gemeinden o h n e Abhängigkeit von der griechischen Polis. 5. Das Verhältnis

zwischen

der Diaspora

und

Jerusalem

Philo beschreibt sehr schön die nationale Einheit der Juden mit griechischen Begriffen, nach denen die Gemeinden der D i a s p o r a ,Wohnsitze' ( à n o i x i a i ) von Auswanderern sind, die ihre ,Mutterstadt' (mt/tgojtoAig) Jerusalem verlassen haben (Flacc 4 6 ; LegGai 2 8 1 ) . D e m n a c h ist —»Jerusalem die w a h r e und e w i g e , G e b u r t s s t a d t ' (jiaroig) aller J u d e n , w o auch immer sie sich befinden. Verhältnis und T r e u e zu Jerusalem aber waren hauptsächlich eine Folge des monotheistischen G l a u b e n s , nach dem der Eine G o t t ein einziges Heiligtum in der ,Heiligen Stadt' besitzt (SpecLeg 1 , 6 7 - 7 6 ; V i t M o s 1 1 , 1 9 3 . 3 2 4 ; LegGai 2 7 8 - 2 8 3 ) . Im täglichen Leben drückte sich das in den Pilgerfahrten zu den Wallfahrtsfesten nach Jerusalem (—»Wallfahrt), den A b g a b e n an den T e m p e l (vor allem der Tempelsteuer [Machazit haScheqel oder Didrachma]), dem —»Gebet, halachischen Beziehungen usw. aus. - Weiteres —»Exil. Quellen und Literatur CIJ. - CPJ. - Jean Juster, Les juifs dans l'empire romain, 2 Bde., Paris 1 9 1 4 . - Aryeh Kasher, The Jewish Attitüde towards the Alexandrian Gymnasium in the First Century: American Journal of An-

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cient History 1 ( 1 9 7 6 ) 1 4 8 - 1 6 1 . - Ders., The Jews in Hellenistic and Roman Egypt (hebr.), Tel-Aviv 1 9 7 8 . - Carl H . Kraeling, The Jewish Community at Antioch: J B L 5 1 ( 1 9 3 2 ) 1 3 0 - 1 6 0 . - Harry J. Leon, The Jews of Ancient Rome, Philadelphia 1 9 6 0 . - Shemuel Safrai, Pilgrimage at the Time of the Second Temple (hebr.), Tel-Aviv 1 9 6 5 ; dt.: Wallfahrtim Zeitalter des 2. Tempels, Neukirchen 1 9 8 0 . Shemuel Safrai/Menahem Stern (Hg.), The Jewish People in the First Century, 2 Bde., Assen 1 9 7 4 - 1 9 7 6 . - Emil Schürer, Gesch. des jüd. Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Leipzig, III 4 1 9 0 9 = Hildesheim 1 9 6 4 . - E. Mary Smallwood, The Jews under R o m a n Rule, Leiden 1 9 7 6 - Menahem Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism, Jerusalem, 1 1 9 7 4 . - Victor A. Tcherikover, Hellenistic Civilization and the Jews, Philadelphia 1 9 5 9 .

Aryeh Kasher II. Konfessionelle Diaspora innerhalb des Christentums In der Neuzeit hat der Begriff Diaspora mit verschiedenen ähnlichen Begriffen und Sachverhalten konkurrieren müssen und bis heute seine abschließende Bestimmung noch nicht erhalten. Traditionell ist damit eine konfessionelle Minderheit in einer sie umgebenden konfessionellen Mehrheit gemeint. Das kirchlich-konfessionelle Moment ist für diese Fassung konstitutiv. Damit nicht ganz identisch ist der Begriff Minderheiten. Hier liegt der Ton auf dem Rechtlich-Verfassungsmäßigen, das entweder die kirchliche Selbständigkeit einer Minderheit unterstreichen soll, wie z.B. die der —»Waldenser oder die der Protestanten in —»Frankreich und —»Polen, der —»Baptisten und —»Methodisten in Deutschland und in der Sowjetunion, oder ihre völkische und sprachliche Eigenständigkeit besonders herausheben möchte, wie etwa die der Wenden in —»Brandenburg, aber auch die vieler Einwandererkirchen im Südosten von Europa und in den USA. Minderheiten in diesem soziologischen Sinne halten auch dann an ihrer Eigenart fest, wenn sie unter Konfessionsverwandten leben. Das Staats- und Kirchenrecht kennt einen besonderen Minderheitenschutz. Davon wiederum zu unterscheiden sind Auslandsgemeinden, die von Kirchenmitgliedern, die in einem anderen Lande leben, gebildet werden. Ihr unterscheidendes Kennzeichen ist, daß sie rechtlich, personell und finanziell mit der Heimatkirche verbunden bleiben, auch wenn sie mit den Kirchen der Gastländer in weitreichenden Beziehungen stehen. Die Gefahren der Diaspora lassen sich durch das Gegensatzpaar von Preisgabe der Identität auf der einen und Verhärtung, Abkapselung gegenüber der Umwelt auf der anderen Seite kennzeichnen. Im protestantischen Deutschland ist die erste dieser beiden Gefahren stets stärker gesehen und herausgestellt worden. Vor allem sie hatte man im Auge, wenn es um konkrete Hilfe ging. Zu nennen sind hier besonders die Bemühungen —»Zinzendorfs und der —»Brüdergemeine um die Aufrechterhaltung der Verbindung mit den Brüdern in der Diaspora und auf den Missionsfeldern. Aber auch die Bemühungen von A. H. —»Francke, der sich um die evangelische Diaspora in England, Nordamerika und Rußland große Verdienste erworben hat. Später hat dann der ihm freundschaftlich verbundene Samuel Urlsperger ( 1 6 8 5 - 1 7 7 2 ) von Augsburg aus diese Fürsorge auch auf die Salzburger Emigranten und deren Ansiedlung in Ebenezer (Georgia) und auf den Geheimprotestantismus in den habsburgischen Ländern ausgedehnt. So wie auch Gotthilf August Francke ( 1 6 9 6 - 1 7 6 9 ) die werdende lutherische Kirche in Pennsylvania unterstützte. Auch die Deutsche Christentumsgesellschaft muß in diesem Zusammenhang genannt werden. Das Jahr 1 8 3 2 brachte dann die Gründung des Gustav-Adolf-Vereins, der sich seit 1 9 4 6 Gustav-Adolf-Werk nennt. Aus der Sorge um die Wahrung des lutherischen Erbes in der Diaspora entstand im Gegensatz dazu 1 8 5 3 die lutherische Gotteskasten-Bewegung mit zahlreichen Vereinen, die seit 1 9 3 2 im Martin-Luther-Bund zusammengeschlossen sind.

Das Verständnis von Diaspora, das allen diesen Bemühungen zugrundeliegt, wird heute vielfach problematisiert. Daran haben die Veränderungen des modernen Lebens einen bedeutenden Anteil. Sie lassen die Christenheit sowohl in der Welt mit einem Anteil von etwa 1,1 Mrd. Christen bei einer Weltbevölkerung von etwa 3,7 Mrd. Menschen als auch in ihrer eigenen Lebenswelt als Minderheit erscheinen. Der Diaspora-Begriff wird darum zunehmend als Ausdruck des Selbstverständnisses und als Deutungsinstrument für die Analyse der Situation der Christenheit in der modernen Welt herangezogen. Die Bedeutung der konfessionellen Unterschiede tritt dabei zurück; eine Tendenz, die durch den Einfluß der ökumenischen Bewegung verstärkt wird (—»Ökumene/ökumenisch). Der Diaspora-Begriff nähert sich seiner urchristlichen Fassung wieder an. Über alle inneren Grenzen hinweg wird er auf

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die Christenheit, die sich als Ganze den Herausforderungen einer weitgehend unchristlichen Welt und Umwelt gegenübersieht, bezogen. Diese Deutung hat in Deutschland ihre stärksten praktisch-theologischen Auswirkungen bisher an drei Stellen gezeigt: Einmal in der Tatsache, daß im Gustav-Adolf-Werk und im Martin-Luther-Bund (—»Diasporawerke) seit Jahrzehnten darüber diskutiert wird, ob der herkömmliche Diaspora-Begriff noch zeitgemäß ist. Er wird dabei differenziert, v. a. in konfessionelle, säkulare, ideologische und religiöse Diaspora (Besch mit Rückgriff auf Krusche). Zum anderen hat E. Lange versucht, mit Hilfe des Diaspora-Begriffes eine Zweiphasigkeit des modernen christlichen Lebens- und Glaubensvollzuges herauszuarbeiten, indem er den —»Gottesdienst der Gemeinde als eine, das Leben in der Diaspora der modernen Lebenswelt als eine zweite Phase der christlichen Existenz beschreibt und zeigen möchte, daß der Gottesdienst wesentlich die Aufgabe hat, die Laien für dieses Leben in der Welt zuzurüsten, so daß sie in ihrem Alltag in der Lehre und Verheißung Jesu bleiben und für sie Bürgschaft leisten können. Versammlung der Glaubenden und Existenz in der Zerstreuung, Ekklesia und Diaspora sind aufeinander bezogen. Drittens ist unter dem Druck des Staates und unter dem Eindruck des Rückganges des kirchlichen Lebens in der DDR von Krusche u.a. die These vertreten worden, daß sich die Kirche auf dem Weg in eine ihr ideologisch aufgezwungene Diaspora befinde. Ähnlich wirkt auch außerhalb der DDR der Begriff,Diasporakirche' als Kritik am Konzept der —> Volkskirche (s. Besch; Greinacher). An das Verständnis von Diaspora, das sich in solchen Erwägungen auswirkt, ist freilich die Frage nach dem Maßstab zu richten, von dem her die Unchristlichkeit der Umwelt festgestellt wird. Welche erkennbaren Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit solche Festsetzungen gewagt werden können? So lange ein praktikabler Maßstab nicht genannt wird, und es scheint, daß er nicht genannt werden kann, formuliert diese Fassung des Diaspora-Begriffes nur einen Pauschalverdacht über die Gottlosigkeit der modernen Welt. Die Teilnahme am modernen Lebensstil, auch Unkirchlichkeit sind noch keine Beweise für Unchristlichkeit. Hinzu kommt, daß diese Fassung des Diaspora-Begriffes die Wirkungen übersehen läßt, die vom Evangelium ausgegangen sind und noch ausgehen. Statt sie zu entdecken, wird der Blick einseitig auf den vermeintlich frommen Menschen und Christen gerichtet, der mit der Last einer aufzeigbaren Christlichkeit und als Bürge für ihre Gültigkeit überfordert ist. Es bleibt zu fragen, ob die Rückkehr zu dem konfessionell geprägten Diaspora-Begriff nicht wieder klarere Konturen in das Gespräch bringen würde. Literatur Günter Besch, Theol. der Diaspora?: EvDia 4 6 ( 1 9 7 6 ) 3 1 - 3 8 . - Ders., Gefahren u. Chancen der Diaspora: ebd. 4 7 ( 1 9 7 7 ) 3 8 - 4 7 . - Ders., Aufgaben, die vor uns liegen: ebd. 5 0 ( 1 9 8 0 ) 7 - 1 6 . - H e r mann Wolfgang Beyer, Die Gesch. des Gustav-Adolf-Vereins in ihren kirchen- u. geistesgesch. Zusammenhängen, Göttingen 1 9 3 2 . - Friedhelm Borggrefe, Unterwegs zur Diasporakirche: EvDia 4 4 ( 1 9 7 4 ) 5 1 - 6 5 . - M i c h e l Bouttier, Die Diaspora, eine Notwendigkeit für die Kirche: ebd. 5 0 ( 1 9 8 0 ) 17—31. — Wilhelm Däntine, Strukturen der Diaspora: ebd. 3 8 ( 1 9 6 8 ) 3 7 - 5 6 . - Ders., Mission u. Diaspora: ebd. 4 9 ( 1 9 7 9 ) 3 9 - 5 3 . - Otto Dibelius, Die Bedeutung der Diaspora für Kirche u. Volk, Kassel 1 9 5 2 . Dietrich Gang, Die Aufgabe der ev. Diaspora im ökum. Zeitalter: EvDia 4 9 ( 1 9 7 9 ) 8 7 - 9 7 . - Klaus Hensel, Dienst an der luth. Kirche in der Diaspora: J M L B 13 ( 1 9 6 5 / 6 6 ) 8 8 - 1 0 0 . - Hermann Fischer, Diaspora. Erwägungen zu einem Begriff u. einer Situation: EvDia 3 7 ( 1 9 6 7 ) 3 5 - 5 2 . - T h e o d o r Heckel, Kirche jenseits der Grenzen, Göttingen 1 9 4 9 . - Gottfried Klappert, Das ärgerliche W o r t „ D i a s p o r a " : J M L B 23 ( 1 9 7 6 ) 5 5 - 7 8 . - Kurt Klein, Die Christen - Minorität in der Welt u. für die Welt: ebd. 2 2 ( 1 9 7 5 ) 7 7 - 9 0 . - Werner Krusche, Die Gemeinde Jesu Christi auf dem Weg in die Diaspora: EvDia 4 5 ( 1 9 7 5 ) 5 6 - 8 2 . - H a r a l d Kruska, Z u m neuen Verständnis der Diaspora: ThViat 5 ( 1 9 5 3 / 5 4 ) 2 9 9 - 3 2 1 . - Ernst Lange, Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christl. Gottesdienstes in der Gegenwart, Stuttgart/Gelnhausen 1 9 6 5 . - Gottfried Niemeier, Diaspora als Gestalt kirchl. Seins u. kirchl. Sendung: EvTh 7 ( 1 9 4 7 / 4 8 ) 2 2 6 - 2 3 3 . - Christian-Erdmann Schott, Diaspora als Herausforderung an diePrakt. Theol.: EvDia 4 8 ( 1 9 7 8 ) 7 4 - 9 9 . - Heinrich Steitz, Die Stellung der Diasporawiss. im System der Prakt. Theol.: 1 1 4 . Jahresbericht des Gustav-Adolf-Werkes der Ev. Kirche in Hessen u. Nassau, Darmstadt 1 9 5 7 , 2 0 - 3 1 .

Christian-Erdmann Schott

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Diasporawerke 1. Entstehung (Literatur S. 7 2 5 )

2. Arbeitsfelder

3. V o m Verein z u m Werk der Kirche

4 . G e g e n w ä r t i g e Arbeit

1. Entstehung 1.1. Vorgeschichte. Es entspricht den geographischen, politischen und kirchenpolitischen Gegebenheiten der ersten drei nachreformatorischen Jahrhunderte, daß Fürsorge für die —»Diaspora zunächst stets den Charakter des Zufälligen trägt. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jh. bietet sich mit der —»Erweckungsbewegung und dem neu erwachenden Kirchenbewußtsein, teilweise in Verbindung mit der Wendung zum —»Konfessionalismus, der geistliche, mit dem —»Idealismus und dem Aufkommen der Idee des liberalen Nationalstaates sowie dem nach den Freiheitskriegen neu erwachten Gemeinschaftsgefühl der geistige Boden für die Entstehung der verschiedenen, auf die Fürsorge für die Diaspora gerichteten Werke. 1.2. Gustav Adolf-Stiftung und Gustav Adolf-Verein. Unmittelbarer Anlaß zur Begründung der Gustav Adolf-Stiftung ist 1832 die Zweihundertjahrfeier zum Gedenken an den Tod Gustav Adolfs am 6. November 1632 (—»Dreißigjähriger Krieg), bei welcher der schon einige Jahre zuvor entstandene Plan der Errichtung eines Denkmals für den „Retter der evangelischen Kirche und der deutschen Freiheit" (C. G. L. Großmann, zit. Beyer 3) und einer Sammlung für diesen Zweck erneuert wird. In der Debatte, ob der Denkmalbau solchen Aufwand rechtfertige und in welcher Weise dem steinernen Mal ein lebendiges Denkmal zur Seite zu stellen sei, äußert der Leipziger Superintendent und Professor der Theologie, Christian Gottlob Leberecht Großmann (1783 — 1857), als erster den Gedanken einer Stiftung „zur brüderlichen Unterstützung bedrängter Glaubensgenossen und zur Erleichterung der Not, in welche durch die Erschütterung der Zeit und durch andere Umstände protestantische Gemeinden in und außer Deutschland mit ihrem kirchlichen Zustande geraten" (zit. Beyer 15). Im Herbst 1833 genehmigt das sächsische Kultusministerium die Satzung der „Gustav Adolf-Stiftung", die von zwei Hauptvereinen in Leipzig und Dresden getragen wird. Als erste erhält, schon im Frühjahr 1833, die Gemeinde Karlshuld (südwestlich von Ingolstadt) eine Gabe. Aus den Zinsen des Stiftungskapitals können im Laufe der Jahre 429 Taler verteilt werden, vor allem an Gemeinden in Böhmen, Österreich und Ungarn. Der Charakter der Stiftung brachte es dennoch mit sich, daß das Werk außerhalb Sachsens relativ unbekannt blieb. So ist es auch erklärlich, daß der Darmstädter Hofprediger Karl Zimmermann (1803 — 1877) von der sächsischen Sache nichts wußte, ais er am 31. Oktober 1841 in der von ihm herausgegebenen Allgemeinen Kirchenzeitung seinen Aufruf an die protestantische Welt (s. Beyer 21 ff) erließ, einen „Verein für die Unterstützung hilfsbedürftiger protestantischer Gemeinden" zu gründen. Der Aufruf stieß auf ein bedeutendes Echo. Sehr bald gelang es, den sächsischen und den neu entstandenen hessischen Kreis zusammenzuführen; am 16. September 1842 beschloß eine Versammlung in Leipzig mit 600 Teilnehmern aus allen Teilen Deutschlands die Begründung des „Evangelischen Vereins der Gustav Adolf-Stiftung". Die erste Hauptversammlung am 21. September 1843 in Frankfurt/M. vereinigte die Delegierten von 29 Vereinen und beschloß eine Satzung, nach der es an den einzelnen Orten „Zweigvereine", in den Ländern „Hauptvereine" und einen — von der „Hauptversammlung" zu wählenden — „Centraivorstand" mit Sitz in Leipzig geben sollte. Bis zum Zweiten Weltkrieg hat sich diese Struktur im Wesentlichen nicht verändert. Die für die Diasporahilfe nötigen Geldmittel sollten aus dem Kapitalfonds, durch Beiträge, Kollekten und Vermächtnisse aufgebracht werden, wobei je ein Drittel dem Zweigverein, dem Hauptverein und dem Centraivorstand zufließen sollte. Auch die finanziellen Regelungen haben sich bis in die jüngste Zeit erhalten. Der Anstoß Zimmermanns hatte die Sache des Gustav Adolf-Vereins zu einer Sache des deutschen Protestantismus gemacht, die nicht nur die Grenzen der Konfession, sondern

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auch diejenigen des Landeskirchentums übersprang. Es ist nicht übertrieben, hier eine Linie beginnen zu sehen, mit welcher „schon Jahrzehnte vorher vorweggenommen (wird), was dann auch im Deutschen Evangelischen Kirchenbund 1922 und schließlich in der—»Evangelischen Kirche in Deutschland 1948 in Eisenach Gestalt gewann" (Gennrich, Stärke 25 f), wie denn dem Verein überhaupt von Anfang an ein starker ökumenischer Zug eignet. Dem entspricht, daß eine einseitig gegen die römische Kirche gerichtete Frontstellung schon in Zimmermanns Aufruf abgewiesen wird (so auch die späteren Präsidenten Fricke und Rendtorff, s. Gennrich, Liebe 17). Nicht immer hat sich der Verein jedoch aus den interkonfessionellen Konflikten heraushalten können (der damalige Präsident Fricke gehörte 1886 zu den Gründungsmitgliedern des —»Evangelischen Bundes). Auch der Gedanke, daß die nationalen Grenzen keine Grenze des Liebeswerkes sein sollen, findet sich bereits in der ersten Satzung (weitere Zitate bei Gennrich, Liebe 17). Das junge Werk gewann schnell an Volkstümlichkeit. Bei der 50-Jahrfeier 1882 konnte man 44 Hauptvereine, 1387 Zweigvereine und Ortsvereine und 388 Frauenvereine zählen. Bis zum Ende des 19. Jh. sind an 4518 Gemeinden in der Diaspora Unterstützungen in einem Wert von insgesamt 33094069,74 Mark vergeben worden (s. W.Zimmermann: RE 3 7,256). 1.3. Lutherische Gotteskastenvereine. Deutlicher als bei der Entstehung der Gustav Adolf-Stiftung ist bei dem auf dem Boden der lutherischen Erweckung entstehenden Werk die Not der Diaspora das leitende Motiv. Zunächst unabhängig voneinander, und auch in den nächsten Jahrzehnten nur in lockerer Gemeinschaft, bilden sich kleine, jeweils stark im eigenen lutherischen Kirchentum verwurzelte Kreise, die, z. T. gewollt, sich auf das unmittelbar Notwendige beschränkend und bewußt im Verborgenen wirkend, erst 1880 zu einer gewissen, immer noch lockeren organisatorischen Einheit zusammenfinden. Einen Hilferuf des 1838 nach Amerika ausgewanderten Pastors Friedrich Wyneken (1810-1876) aufnehmend, entstand 1840 unter Führung des Lehrers am Missionsseminar Pfarrer Jakob Trautmann in Dresden ein „Verein zur Unterstützung der lutherischen Kirche in Nordamerika" (vgl. Schmidt, Wort Gottes 17 f). Der Ruf Wynekens, der ein Ruf zur Rettung lutherischer Kirche war und dies als kirchliche und geistlich-theologische Aufgabe begriff, veranlaßte auch W. —»Löhe und den Nördlinger Pfarrer Friedrich Wucherer (1803 — 1881), sich der Hilfe für die in Not geratenen Glaubensgenossen in Amerika anzunehmen. Löhe begann 1841 in seinem Neuendettelsauer Pfarrhaus zwei junge Männer zu Lehrern auszubilden; dies ist der Beginn einer Diasporaarbeit, deren theologische Begründung im Jahre 1844 im Zuruf aus der Heimat an die deutsch-lutherische Kirche Nordamerikas ihren schriftlichen Niederschlag fand. Aus diesen Anfängen wuchs das Neuendettelsauer Missions- und Diasporaseminar, getragen von der 1849 begründeten „Gesellschaft für Innere und Äußere Mission im Sinne der Lutherischen Kirche". Neben den Gruppen in Sachsen und Franken ist ein Kreis zu nennen, der sich um Pastor Ludwig Adolf Petri (1803-1873), einen der führenden Köpfe der lutherischen Erweckung in Hannover, Gründer des Zeitblattes für die Angelegenheiten der lutherischen Kirche, scharte. Zur Gründung des sog. „Gotteskastens" kam es, als Petri und seine Freunde im Zeitblatt a m 3 1 . Oktober 1853 einen Aufruf zur Unterstützung der „bedrängten Glieder der lutherischen Kirche" veröffentlichten (Schmidt, a. a. O. 102). Auffallend, wenn auch theologisch begründet, ist die Kürze und Klarheit des Aufrufs: Man plane die Errichtung eines „Gotteskastens" und wolle, was an regelmäßigen Beiträgen oder spontanen Gaben zusammenkomme, an diejenigen, für die es gedacht sei, weiterleiten und jeweils im Zeitblatt darüber quittieren. Auf jede eingehende Begründung außer der, daß „die Unterzeichneten . . . den kirchlichen Grundsätzen der Gustav-Adolf-Vereine nicht beizutreten vermögen", wird verzichtet. Gemeint ist die Tatsache, daß mit der Betonung des (damals modernen!) Vereinsprinzips (—»Vereinswesen) notwendigerweise der Kirchenbegriff in den Hintergrund treten mußte (so schon der „Pilger aus Sachsen", s. Schmidt, a. a. 0 . 1 7 f). War doch der Verein vom Ansatz her ein Forum für die Vielfalt von Meinungen und Glaubensprägungen. Die

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Einheit der Kirche sollte durch das gemeinsame Liebeswerk wachsen (Zitate aus Zimmermanns Aufruf bei Beyer 24 f). Von hier aus ist es auch zu verstehen, daß die Aufrufenden „ihrem Gewissen folgen" wollen, und daß sie erklären: „Wir beabsichtigen weder Opposition oder Demonstration zu machen, noch haben wir es auf glänzende Erfolge angelegt". Sicherlich drückt sich hierin schon die Ahnung aus, daß der Gotteskasten nicht auf Popularität rechnen kann. Aber bedeutsamer ist der in dem Verzicht auf eigenständiges Instrumentarium und Organisation zum Ausdruck kommende Wille zum dezidiert kirchlichen Handeln, wie er im übrigen auch in der bloßen Namensgebung zum Ausdruck kommt. — Bis zum Ende des 19. Jh. entstehen in den lutherischen Landes- und Freikirchen 17 eigenständige Gotteskastenvereine. Uber den Umfang der geleisteten Arbeit lassen sich aufgrund der selbständigen Tätigkeit der Vereine nur Einzelangaben machen. In Sachsen nahm man zwischen 1890 und 1895 jährlich rund 80000 Mark ein. Die Einnahme des hannoverschen Gotteskastens betrug in den Jahren 1893 — 1898 insgesamt 75000 Mark (beim Gustav-Adolf-Verein waren es im gleichen Zeitraum 2 0 0 0 0 0 Mark, s. Uhlhorn 39). Auch im Hinblick auf die geleistete Hilfsarbeit ist für die Jahre des Anfangs eine Ubersicht schwer zu gewinnen. Den Anstoß hatte die Not in Nordamerika gegeben. Bald kam die Entsendung von Predigern nach Südafrika und Australien, später Brasilien hinzu. Im übrigen sah man vor allem dort seine Aufgabe, wo man lutherische Kirche in Gefahr wußte bzw. wo neu entstehende lutherische Diaspora der Unterstützung bedurfte. Wo dies in reformierter Umgebung oder in Abwehr gegen uniertes Kirchentum geschah, blieben Widerspruch und Kontroversen nicht aus, wie man auch umgekehrt die Arbeit des wesentlich weiter verbreiteten Gustav Adolf-Vereins mit — nicht immer gerechter — Kritik begleitete. Erst in jüngerer Vergangenheit ist es zu einer Versachlichung des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Diasporawerken gekommen. 1.4. Andere Initiativen. Neben den beiden großen Diasporainitiativen hat es vielerlei Einzelinitiativen gegeben. Erwähnt seien neben Diasporahilfsvereinen in der Schweiz und in Frankreich für den deutschen Raum die 1837 entstandene, vier Jahre später so genannte Langenberger „Evangelische Gesellschaft für die protestantischen Deutschen in Nordamerika", der—»Evangelische Bund, der sich in Österreich der evangelischen Diaspora annahm, der aus Freundeskrei ofliednerwerks entstandene „Verband zur Förderung des Evangeliums in Spanien" sowie der für evangelische Christen in Osteuropa engagierte „Missionsbund Licht im Osten" (begr. 1920), welcher der evangelikalen Bewegung nahesteht. Im angelsächsischen und skandinavischen Raum haben sich die für die Diaspora tätigen Kräfte zumeist innerkirchlich entwickelt und betätigt; sie sind in der Regel eingegliedert in die für Mission und ökumenische Diakonie bestehenden kirchlichen Dienste. In den letzten Jahren haben von den USA aus die sog. „Ostmissionen" und ähnliche verwandte Organisationen von sich reden gemacht. 1.5. Bonifatiuswerk. Im Raum des deutschen Katholizismus wirkt das — seit 1968 so genannte— „Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken". In bezug auf seine Entstehung um die Mitte des letzten Jahrhunderts lassen sich geistes- und kirchengeschichtliche Parallelen zu derjenigen des Gustav Adolf-Vereins aufweisen; zugleich liegen Motive zu seiner Begründung im erstarkenden —»Ultramontanismus und dessen Zusammenprall mit dem werdenden liberalen Staat, auf dessen Boden andererseits erst die Möglichkeiten zur vereinsmäßigen Formierung dieser Initiative gegeben sind. Am 4. Oktober 1849, auf dem dritten deutschen Katholikentag in Regensburg, wurde die Gründung des Bonifatiusvereins beschlossen, der „ein Verein für die kirchliche Mission Deutschlands, d. h. für arme katholische Gemeinden in protestantischen und gemischten Städten und Dörfern" sein und sich „unter eigens zu erbittenden Schutz und die oberste Leitung des deutschen Episkopates" — so der erste Statutenentwurf - stellen sollte. Zum ersten Präsidenten wurde Josef Reichsgraf zu Stolberg-StoIberg gewählt, seit dem Kölner Kirchenstreit (1836) einer der fuhrenden Laien im katholischen Deutschland. Tätigkeitsfeld dieses schon bald päpstlich anerkannten und in den deutschen Diözesen

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weit verbreiteten Hilfswerkes sind die Diasporagebiete im deutschsprachigen R a u m , vor allem in Nord- und Mitteldeutschland. Aber sehr bald gehörten auch die Seelsorge für deutsche Katholiken im Ausland sowie die Studentenseelsorge zum Arbeitsbereich des Vereins, der zwischen 1 8 6 7 und 1 9 3 1 auch schon die katholische Diaspora in Dänemark in seine Hilfe einbezog. Für das erste Jahrhundert seines Bestehens kann der Verein auf die Förderung von insgesamt 5 0 0 0 kirchlichen Bauvorhaben - Kirchen, Schulen, Pfarrwohnungen, Gemeinderäume — zurückblicken. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat zunächst die kirchliche Beheimatung der Flüchtlinge und Vertriebenen in den Vordergrund; allein zwischen 1 9 4 5 und 1 9 7 4 wurden über dreitausend Neubauten mit Hilfe des Bonifatiuswerkes errichtet. Heute gelten als wichtigstes Arbeitsfeld die Diözesen der für das Gebiet der D D R zuständigen Berliner Bischofskonferenz. Seit 1 9 7 4 ist auch das Gebiet der Nordischen Bischofskonferenz (Skandinavien) in den Statuten des Werkes als Arbeitsgebiet verankert. Das Bonifatiuswerk verfügt heute ( 1 9 7 7 ) über ein jährliches Aufkommen von ca. 5 0 Mill. D M , aufgebracht durch Spenden, Kirchenkollekten, Schenkungen, monatliche Abgaben der Diözesanpriester und Haushaltsmittel der deutschen Diözesen. Geleistet wird weiterhin Kirchbauhilfe, personelle Hilfe und besondere Unterstützung von Unterrichts-, Freizeit- und Bildungsarbeit. Sitz des Bonifatiuswerkes ist Paderborn (Generalvorstand des Bonifatiuswerkes der deutschen Katholiken, 4 7 9 0 Paderborn, Kamp 2 2 ) ; wichtigstes Publikationsorgan ist neben einem jährlich erscheinenden Priesterjahresheft das Bonifatiusblatt. Besondere Arbeitszweige sind u. a. das „Bonifatiuswerk der Kinder", die „Diaspora-Miva" für Motorisierungshilfe und die „Akademische Bonifatius-Einigung". Mit der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der Diaspora- und Konfessionskunde befaßt sich das — vom Bonifatiuswerk mitgetragene — Johann-Adam-Möhler-Institut, das ebenfalls in Paderborn ansässig ist. Die Arbeitsgebiete und das finanzielle Volumen des Bonifatiuswerkes und der evangelischen Diasporawerke sind nur bedingt vergleichbar; einerseits beschränkt sich das Bonifatiuswerk auf Deutschland und Skandinavien (auf Lateinamerika z. B. bezieht sich die selbständig geführte Aktion „Adveniat"), andererseits werden hier z. T . Aufgaben übernommen, welche im evangelischen Raum den Landeskirchen oder ihren Zusammenschlüssen direkt zugeordnet sind. 2.

Arbeitsfelder

Die großen durch die wirtschaftliche und politische Entwicklung Europas hervorgerufenen Bevölkerungsverschiebungen bereiteten den für die Diaspora engagierten Kräften schon im 19. J h . ein sich zunächst ständig und schnell erweiterndes Arbeitsfeld. In katholischen Gebieten waren zahlreiche evangelische Diasporagemeinden entstanden. 1 8 5 0 verzeichnet eine Liste des Centraivorstandes 1 0 0 Gemeinden in Deutschland und weitere rund 5 0 in Böhmen, Ungarn, Österreich mit seinen schlesischen Gebieten, Belgien und Frankreich (Beyer 1 5 4 ) . In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ergeben sich in Südamerika, besonders in Brasilien neue Aufgaben aus der großen Auswanderungswelle; auch politische Verschiebungen haben Konsequenzen für die Gustav-Adolf-Arbeit, z. B. nach dem Kriege 1 8 7 0 / 7 1 in Elsaß-Lothringen oder in den östlichen Provinzen Preußens aufgrund einer entsprechenden preußischen Ansiedlungspolitik. Nach der Jahrhundertwende tritt Österreich in den Vordergrund, wo die evangelische Kirche durch die —>Los-von-Rom-Bewegung innerhalb weniger Jahre um 1 0 0 0 0 0 Glieder zunimmt. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges kann der Gustav-Adolf-Verein eine stolze Bilanz für die zurückliegenden 8 0 Jahre ziehen: Eine Summe von über 6 0 Millionen M a r k ist für Beihilfen aufgewandt worden, um 6 5 0 0 Gemeinden die Errichtung von Kirchen, Schulen oder Pfarrhäusern, um Pfarrern die Finanzierung ihres Gehalts, jungen Theologen durch Stipendien die Ausbildung zu ermöglichen. Hier entstanden Verbindungen, die zum Zu-

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sammenwachsen der evangelischen Kirchen in Europa einen kaum zu überschätzenden Beitrag geleistet haben. Das Gotteskastenwerk blieb demgegenüber in Dimensionen, die dem Anfang entsprachen. Das Hauptaugenmerk lag nach wie vor auf dem Aufbau lutherischer Kirche unter den nach Ubersee Ausgewanderten, und hier wiederum auf der Entsendung von Pastoren. In der Einheit des Glaubens und des Bekenntnisses sah man die Chance, über das Bereitstellen der äußeren Mittel hinauszugehen und Diasporahilfe zu geben im Sinne geistlicher Stärkung und des gemeinsam zu leistenden Zeugnisses. Auch in Europa engagierten sich die Gotteskastenvereine an solchen Stellen, wo man vor die Frage nach dem Proprium lutherischer Kirche gestellt war. Die beiden Weltkriege brachten auch für die Arbeit der Diasporawerke einschneidende Veränderungen. Unmittelbarste Kriegsfolge war jeweils der Rückgang des Aufkommens aufgrund des wirtschaftlichen Niedergangs, der die Arbeitsmöglichkeiten einschränkte. Auch die psychologischen Folgen der Kriege wirkten sich aus, insbesondere, wo es sich um Beziehungen in die deutsche evangelische Auslandsdiaspora handelte, obwohl man sich stets von nationalistischen bzw. ideologischen Einseitigkeiten fernzuhalten suchte (vgl. Gennrich, Stärke 2 9 ff; Uhlhorn 7 7 ; beide Werke gerieten dadurch in Konflikt mit den nationalsozialistischen Machthabern). Grenzziehungen, Bevölkerungsverschiebungen bzw. Vertreibung infolge der beiden Weltkriege ließen Diasporagebiete verschwinden — insbesondere wo es sich um deutschstämmige evangelische Gemeinden handelte —, andererseits fanden sich ehemals blühende Kirchentümer neu in einer Diasporasituation wieder. So ist den Diasporawerken seit den zwanziger Jahren unter den zerstreuten Resten der „Evangelisch-Lutherischen Kirche im Russischen Reiche", die bis 1 9 1 7 in ihrer „Unterstützungskasse" selber über ein ausgezeichnetes Diasporawerk verfügte, ein neues Betätigungsfeld entstanden; die evangelischen Kirchen Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns, Jugoslawiens, Rumäniens sowie die baltischen Kirchen sind ihrer Zahl nach stark zusammengeschmolzen; bis auf winzige Reste gibt es deutschsprachige Gemeinden seit dem 2. Weltkrieg nur noch in der Sowjetunion und in Siebenbürgen. Entsprechend hat sich die Art der Hilfe verändert. Die Unterstützung von Neubauten ist der Hilfe bei baulichen Reparaturen gewichen; Literaturarbeit kann sich weit weniger als vor den Kriegen auf deutschsprachige Literatur beschränken; besonders in Lateinamerika ist noch Gebets- und Gottesdienstliteratur bzw. theologisches Schrifttum in der Landessprache zu schaffen. Die Unterstützung der Ausbildung des theologischen Nachwuchses kann nur noch in Ausnahmefällen darin bestehen, ein Studium an einer deutschen Ausbildungsstätte zu finanzieren. Das Schwergewicht liegt heute — ähnlich wie bei den aus der Mission hervorgegangenen Kirchen Asiens und Afrikas — darin, die Stärkung der Arbeitsstrukturen jeweils der Partnerkirchen zu betreiben. Insofern hat sich auch der Charakter des Franz-Rendtorff-Hauses in Leipzig (begründet 1930) und des Erlanger Auslandsund Diasporatheologenheims (begründet 1935) geändert. Beide Häuser spielen aber noch heute eine wichtige Rolle für die Aus- und Fortbildung von Theologen aus Diasporakirchen sowie für die kirchenkundliche Beschäftigung mit Fragen der Diaspora. Die traditionell engen Verbindungen nach Osteuropa waren lange Zeit unterbrochen. Mit zunehmender Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Ost und West und infolge einer veränderten Kirchenpolitik im sozialistischen Lager ist seit Anfang der siebziger Jahre neben die west- und südeuropäische auch wieder die südosteuropäische evangelische Diaspora als wichtiges Betreuungsgebiet getreten. 3. Vom Verein zum Werk der

Kirche

Die beiden großen Diasporawerke haben sich — wie auch die großen Werke der Inneren und Äußeren Mission —, seit sie ins Leben gerufen wurden, als Werke der Kirche verstanden. Entsprechend dem Unterschied in der konfessionellen Frage vollzog sich die Arbeit des Gustav-Adolf-Vereins stets in der Nähe der Kräfte, welche die Einigung des gesamten deut-

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sehen Protestantismus unter dem Dach einer Kirche bzw. eines Kirchenbundes verfolgten. Nach Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses 1903 gingen bestimmte Aufgaben des Gustav-Adolf-Vereins auf die kirchenoffizielle Ebene über, eine Entwicklung, die sich mit der ausgedehnten Auslandsarbeit des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes noch verstärkte und schließlich zur Bildung des Kirchlichen Außenamtes der —»Evangelischen Kirche in Deutschland führte. Von Seiten des Gustav-Adolf-Vereins war der Leipziger Theologieprofessor Franz Rendtorff (1860-1934), Präsident von 1916 bis 1934, gestaltend und weiterführend an dieser Entwicklung beteiligt. Im Jahre 1935 betont eine neue Satzung die kirchliche Bindung durch eine Umbenennung: Fortan wird der Name „Gustav-AdolfWerk" geführt; seitens der EKD wird 1946 die Verankerung der Gustav-Adolf-Arbeit im Leben der evangelischen Kirche ausdrücklich bestätigt mit dem neuen Namen: „Gustav-Adolf-Werk der EKD". Beim Gotteskastenwerk ist eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen, nun bezogen auf die jeweiligen kirchlichen Zusammenschlüsse der lutherischen Kirche. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. bildete die Diasporafürsorge neben der Arbeit der Leipziger Mission und der lutherischen Seemannsmission eine der Klammern, welche die lutherischen Landeskirchen zu praktischer Zusammenarbeit verbanden. Auch zu den freikirchlichen Lutheranern (—»Freikirchen) hat das Gotteskastenwerk eine Ebene der Begegnung sein können. Zunächst aber bedurfte es noch des Zusammenwachsens der Vereine untereinander. Seit 1880 gab es jährliche Zusammenkünfte und eine gemeinsame Zeitschrift. 1922 installierte man eine gemeinsame Geschäftsstelle, zunächst in Leipzig, seit 1928 in Erlangen. 1932 erhält das Werk den Namen „Martin-Luther-Bund" und nimmt in der Folge unter dem Erlanger Professor Friedrich Ulmer (1877—1946) einen erheblichen Aufschwung. Am Zusammenwachsen des Weltluthertums sind die Kräfte lutherischer Diasporafürsorge nicht unbeteiligt. Die Tatsache, daß die Arbeit des Lutherischen Weltkonvents in den zwanziger Jahren auf dem Gebiet der Nothilfe so effektiv war, beruhte nicht zuletzt darauf, daß man sich die Erfahrungen der deutschen Diasporawerke zunutze machte (vgl. hierzu Schmidt-Clausen 103; ferner 73 f. 130f). - Nach dem Zweiten Weltkrieg ergab sich für den Martin-Luther-Bund ein intensiver Arbeitskontakt mit den deutschen Organen des Lutherischen Weltbundes; zugleich ist er „Anerkanntes Werk" der —»Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Die beiden deutschen Diasporawerke sind - entgegen der Entwicklung bei anderen auf ähnliche Weise entstandenen großen kirchlichen Initiativen des 19. Jh. — den Weg der Integration in die Kirche bzw. deren Zusammenschlüsse nicht voll mitgegangen. Wenn auch das Maß der persönlichen Mitarbeit von Mitgliedern und Freundeskreisen stark zurückgegangen ist, so liegt hier doch nach wie vor die tragende Grundlage für den Status eines „freien Werks". Andererseits haben sich die Beziehungen zu den Diasporakirchen vielfach auf die Ebene der Beziehungen von Kirche zu Kirche verlagert. Nicht nur der ekklesiologische Bezug aller Diasporaarbeit, sondern auch die kirchliche Praxis verpflichtet deshalb die Werke zur Einbindung auch in die äußeren Strukturen der Kirche, nicht nur im Sinne der eigenen, sondern auch im Sinne der Kirche in der Diaspora. 4. Gegenwärtige

Arbeit

4.1. Struktur. Die Teilung Deutschlands hat für beide Diasporawerke gravierende Folgen gehabt. Seit 1966 sind das „Gustav-Adolf-Werk in der Deutschen Demokratischen Republik" (Centrale: DDR-7031 Leipzig, Pistorisstr. 6) und das „Gustav-Adolf-Werk der EKD" (Zentrale: 3500 Kassel, Olgastr. 8) zwei rechtlich selbständige Werke. Der MartinLuther-Bund (Zentralstelle: 8520 Erlangen, Fahrstr. 15) verlor seine Gliedvereine in der DDR. Beide Werke sind eingetragene Vereine, die ihrerseits von regionalen Gliederungen als korporativen Mitgliedern getragen werden. Zum Gustav-Adolf-Werk gehören in der Bundesrepublik 20, in der DDR 9 Hauptgruppen, die sich z. T. aus weiteren insgesamt ca. 500 Zweiggruppen zusammensetzen, sowie jeweils die Arbeitskreise der Gustav-Adolf-Frauen-

Diasporawerke

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arbeit. Außerdem gibt es Gustav-Adolf-Vereine in Brasilien, Österreich und Schweden, daneben in weiteren europäischen Ländern Arbeitszweige und Dienste mit enger Verbindung zum Gustav-Adolf-Werk. - Der Martin-Luther-Bund wird von 11 Gliedvereinen getragen, zu denen Vereine in Österreich und der Schweiz sowie weitere 7 ausländische Werke und das Diasporawerk in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in einer Arbeitsverbindung hinzutreten. 4.2. Aufgaben. Die Arbeit beider Werke trägt nach wie vor einen kirchlich-missionarischen Akzent. Im Vordergrund stehen Hilfsprojekte, welche Gemeindebildung und Gemeindeleben in Gottesdienst, Seelsorge, Unterweisung und Diakonie sowie die Zurüstung von Pfarrern, kirchlichen Mitarbeitern und verantwortlich tätigen Gemeindegliedern fördern. Hierin liegt das Proprium der Diasporawerke, das sie berechtigt, mit anderen, z. T. finanziell weit stärkeren Werken der ökumenischen Diakonie und des Entwicklungsdienstes auf geographisch gleichem Felde und in Partnerschaft zu den gleichen Kirchen tätig zu sein. Das finanzielle Volumen der für die Diasporakirchen geleisteten Hilfe, aufgebracht aus Kollekten, Einzelspenden und — in geringerem Maße — kirchlichen Haushaltsmitteln, läßt sich für 1980 beim Gustav-Adolf-Werk mit 5,5 Mill. DM, beim Martin-Luther-Bund mit 1,4 Mill. DM beziffern. Publikationsorgane sind die Jahrbücher Die evangelische Diaspora und Lutherische Kirche in der Welt, die Zeitschriften Gustav-Adolf-Blatt und lutherischer Dienst, der in volkstümlicher Form informierende Gustav-Adolf-Kalender sowie spezielle Pressedienste. — In den Zentralen befinden sich Bibliotheken für Diasporakunde und Verleihstellen für Filme, Diaserien und Arbeitsmaterial. Für bestimmte Schwerpunktbereiche unterhalten die Werke selbständige Arbeitszweige (Verlag des Gustav-Adolf-Werkes, Martin-Luther-Verlag, Sendschriften-Hilfswerk, das vom bayerischen Martin Luther-Verein betreute Brasilienwerk des Martin-Luther-Bundes, Bibelmission sowie die Heime für Diasporatheologen in Leipzig und Erlangen). In jüngerer Zeit hat sich - unter gegenseitiger Anerkennung der jeweiligen Zielsetzung und kirchlichen Zuordnung — zwischen den beiden Diasporawerken eine engere Zusammenarbeit herausgebildet. Diese geht von gegenseitiger Information über Kooperation bei einzelnen Projekten sowie ständigen Programmen bis zu theologischer Arbeit auf gemeinsam veranstalteten Tagungen. Mit der zunehmenden Informationsdichte und Mobilität im europäischen Raum haben sich auf der Ebene der Gemeinde vielerlei bilaterale Beziehungen zur evangelischen Diaspora ergeben. Vor den Werken steht als neue Aufgabe die intensive Information über die Existenz und Lage evangelischer Diaspora sowie die Beratung bei der Anknüpfung und Pflege von Kontakten und der Gestaltung der Hilfe, die sich jedes Paternalismus zu enthalten hat. Hier wäre dann auch bewußt zu machen, daß Diasporahilfe einen Teilaspekt der in I Kor 12 gemeinten Gemeinschaft des Leibes Christi darstellt. Literatur Günter Besch, Aufgaben, die vor uns liegen: EvDia 5 0 ( 1 9 8 0 ) 7 - 1 6 . - Hermann Wolfgang Beyer, Die Gesch. des Gustav Adolf-Vereins, Göttingen 1 9 3 2 . - Joachim Cochlovius, Bekenntnis u. Einheit der Kirche im dt. Protestantismus 1 8 4 0 - 1 8 5 0 , Gütersloh 1 9 8 0 . - Evangelium in Aktion. Aus der Arbeit des Gustav-Adolf-Werkes der EKD, hg. v. Fritz Heinrich Ryssel, Kassel 1 9 7 2 . - Paul Fleisch, Die luth. Diasporaarbeit u. die Einheit der luth. Kirche in Deutschland: J M L B 2 ( 1 9 4 7 ) 21 - 2 5 . - W . Funke, Art. Gotteskasten: R E 7 ( 1 8 9 9 ) 2 6 - 3 1 . - Paul Wilhelm Gennrich, Die neue Schau der Diaspora. Franz Lau's Beitrag zur Diasporawiss.: EvDia 3 8 ( 1 9 6 7 ) 7 - 3 6 . - Ders., Stärke deine Brüder. 1 2 5 Jahre Gustav-Adolf-Werk, Berlin o. J. - Hb. des Bonifatiuswerkes, hg. v. Generalvorstand des Bonifatiuswerkes, Paderborn 1 9 6 4 . - Klaus Hensel, Dienst an der luth. Kirche in ihrer Diaspora: J M L B 13 ( 1 9 6 5 / 6 6 ) 8 8 - 1 0 0 . - Walter Hirschmann, 4 0 Jahre Martin Luther-Bund: J M L B 2 0 ( 1 9 7 3 ) 1 1 8 - 1 2 4 . - Wolfram v. Krause, Auslanddiaspora u. ev.-luth. Kirche: J M L B 5 ( 1 9 5 1 / 5 2 ) 6 0 - 7 6 . - Otto Lerche, Hundert Jahre Arbeit an der Diaspora. Nachweisungen aus den Veröff. des Centraivorstandes des Ev. Vereins der Gustav Adolf-Stiftung, Göttingen 1 9 3 2 . — Liebe überwindet Grenzen. Berichte, Bilder, Informationen über das Gustav Adolf-Werk, hg. v. Fritz Heinrich Ryssel, Kassel o. J. - Priester-Jahrheft 1 9 7 4 . 1 2 5 Jahre Bonifatiuswerk, hg. v. Generalvorstand des Bonifatiuswerkes, Paderborn 1 9 7 4 . — Gottfried Probst, Ein 25-jähriges Jubiläum des Martin Luther-Bundes: J M L B 8 ( 1 9 5 7 / 5 8 ) 5 - 1 3 . - Martin

Dibelius,

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Martin

Schmidt, Das Ringen um luth. Einheit in der Erweckungsbewegung: Wege zur Einheit der Kirche im Luthertum, Gütersloh 1 9 7 6 . - Ders., W o r t Gottes u. Fremdlingschaft, E r l a n g e n l 9 5 3 . - Kurt Schmidt-Clausen, V o m Luth. Weltkonvent zum Luth. Weltbund, Güterlsoh 1 9 7 6 . - Johannes Schulze, Der Weg des Martin Luther-Bundes im letzten Jahrzehnt: J M L B 1 9 ( 1 9 7 2 ) 1 0 1 - 1 1 3 . - F r i e d r i c h Uhlhorn, Die dt.-luth. Diasporafürsorge. Gesch. des luth. Gotteskastens, Leipzig 1 9 3 2 . - Fritz Winter, Bruderdienst einst u. jetzt: EvDia 3 9 ( 1 9 6 8 ) 8 6 - 9 1 . - Martin Wittenberg, 4 4 0 Jahre luth. Diaspora u. Diasporafürsorge: J M L B 6 ( 1 9 5 3 / 5 4 ) 1 1 - 4 8 .

Peter Schellenberg Dibelius, Martin

(1883-1947)

1. Leben M . Dibelius wurde als Sohn des Pfarrers und späteren Oberhofpredigers Franz Dibelius (s. R G G 3 2 , 1 8 1 ) am 1 4 . 9 . 1 8 8 3 in Dresden geboren, besuchte das Kreuzgymnasium und studierte Theologie in Neuchätel, Leipzig, Tübingen und Berlin. 1 9 0 5 legte er in Leipzig das 1. Theologische Examen ab und erwarb im gleichen J a h r mit einer von H. —>Gunkel angeregten Arbeit über Die Lade Jahves ( 1 9 0 6 [ F R L A N T 7]) in Tübingen den philosophischen Doktorgrad. Inzwischen zur akademischen Laufbahn entschlossen, ging er nach Berlin und erwarb dort, neben Unterricht in Religion und Deutsch an verschiedenen Schulen und einem Lehrerinnenseminar, 1 9 0 8 den Licentiat der Theologie mit einer selbstgewählten Arbeit über Die Geisterwelt im Glauben des Paulus (Göttingen 1 9 0 9 ) . 1 9 0 9 habilitierte er sich für Neutestamentliche Wissenschaft; die als Habilitationsschrift geplante Untersuchung über Die urchristliche Überlieferung über Johannes den Täufer ( 1 9 1 1 [ F R L A N T 15]) mußte er freilich zurückziehen, weil der noch als Emeritus Einfluß ausübende B. Weiß an „zuviel Tendenzkritik" und der Ablehnung seiner Hypothese einer 3. Quelle im Lukasevangelium Anstoß nahm; daß er sich doch habilitieren konnte, verdankte er Weiß' Nachfolger A. —»Deißmann. 1 9 1 5 wurde er als Ordentlicher Professor nach —»Heidelberg berufen und blieb an dieser Universität, auch als er 1 9 2 8 nach Bonn und 1 9 4 6 , schon schwer krank, nach Berlin berufen wurde. Der überzeugte Demokrat hat sich in der Zeit des Nationalsozialismus von allen politischen Kompromissen frei gehalten, so daß ihm 1 9 3 8 die Gestapo für einige Zeit den Paß abnahm. Als völlig Unbelasteter mußte er 1 9 4 5 auf Betreiben der Amerikaner eine Reihe öffentlicher Funktionen übernehmen und begann auch sofort wieder mit Vorlesungen, obwohl ihn schon vor Kriegsende eine Lungentuberkulose befallen hatte, die ihn 1 9 4 5 / 4 6 zu monatelangem Krankenhausaufenthalt zwang. Bei einem Besuch in Zürich im Januar 1 9 4 7 schien das Schlimmste überwunden, und im M ä r z 1 9 4 7 schrieb er: „Es geht mir recht wohl und ich habe Lust zur Arbeit", aber bald darauf griff die Krankheit weiter um sich, und nach monatelangem Krankenlager starb er am 1 1 . 1 1 . 1 9 4 7 .

2. Neutestamentliche

Arbeiten

Drei Fragestellungen durchziehen die wissenschaftliche Arbeit von M . Dibelius am Neuen Testament: die religionsgeschichtliche Stellung des Urchristentums, die vorliterarische und literarische Entwicklung der urchristlichen Literatur und das Verhältnis von Evangelium und Welt. Die auf H. Gunkels Anregung hin unternommene Untersuchung über die Lade Jahves, die als leerer Gottesthron erklärt wird, betont ausdrücklich, daß bei der Rekonstruktion eines derartigen verlorenen Kultgegenstandes „die Religionsgeschichte das letzte W o r t zu sprechen h a t " (60). Deutlicher wird der Sinn solcher Untersuchung bei der Arbeit über Die Geisterwelt im Glauben des Paulus: Am Nachweis, daß der Geisterglaube für die eschatologische Grundanschauung des Paulus eine zentrale Bedeutung hat, läßt sich erkennen, daß Paulus „die Beziehungen des Christen zum Vatergott allen Gefahren und Bedrängnissen dieser Welt entnimmt" ( 2 0 6 ) , und der Kommentar zu den kleineren Paulusbriefen ( 1 9 1 1 3 1 9 5 3 [ H N T 12]) und zu den Pastoralbriefen ( 1 9 1 3 4 1 9 6 6 [ H N T 13]) legt besonderen Nachdruck auf die religionsgeschichtlichen Zusammenhänge, aber zugleich auf die Frage, „was Paulus

Dibelius, Martin

727

. . . seinen Lesern sagen will" (29 f), und schon hier achtet Dibelius auf die Christianisierung der traditionellen Paränese (besonders zu IThess 4,1; Kol 4,1; I Tim 3,1); beide Züge werden in späteren Auflagen verstärkt (der bekannte Exkurs zu I Tim 2,2 über das „Ideal christlicher Bürgerlichkeit" findet sich erst in der 2. Aufl.). Diese Art religionsgeschichtlicher Fragestellung durchzieht auch die weitere Forschung von Dibelius, für die nur zwei Beispiele genannt werden können: Die Isisweihe bei Apuleius und verwandte Initiationsriten (SHAW.PH 4,1917 = Botschaft u. Gesch. II, 3 0 - 7 9 ) zeigt auf dem Hintergrund der Verehrung der Elemente in der hellenistischen Religiosität die Ausschließlichkeit und Überlegenheit des Christentums; der Kommentar zum Hirt des Hermas (1923 [HNT.Erg.Bd.) weistin zahlreichen Exkursen das Eindringen fremden religiösen und paränetischen Stoffes und seine nicht immer geglückte Christianisierung nach. Die theologische Fruchtbarkeit solcher religionsgeschichtlichen Forschung kommt aber am deutlichsten in den (leider in die Gesammelten Aufsätze nicht aufgenommenen) Vorlesungen über Le Nouveau Testament et l'Histoire des Religions (ETR 5 [1930] 2 1 1 - 2 6 6 . 2 9 5 - 3 1 6 ) zum Vorschein; Dibelius lehnt hier nicht nur die „Alternative, ob etwas aus dem Judentum oder dem Hellenismus stammt", als irrig ab, sondern stellt auch ausdrücklich die Forderung auf: „Man muß erst das kennen, was übernommen worden ist, um verstehen zu können, was dieses Übernommene in Verbindung mit dem christlichen Glauben Besonderes sagen wollte" (221.296). So wichtig diese Arbeiten aber auch sind, die eigentlich bleibende Leistung von Dibelius liegt bei den beiden anderen Forschungsbereichen. Schon in seiner Untersuchung über—»Johannes den Täufer weist er darauf hin, daß „die Tradition, die den Evangelisten . . . vorlag, verschiedene, uns zum Teil noch deutlich erkennbare Formen aufweist" (4), und so will die Programmschrift Die Formgeschichte des Evangeliums (Tübingen 1919) einerseits dem „Wachstum der kleinen Einheiten, aus denen die Evangelien zusammengesetzt sind", nachspüren und „die Entstehung dieser kleinen Gattungen begreiflich machen", andererseits das „Motiv der Tradition" nachweisen: „Die Mission bot den Anlaß, die Predigt das Mittel zur Verbreitung dessen, was die Schüler Jesu als Erinnerung bewahrten" (3.6). Dibelius hat diese doppelte Fragestellung dann in der stark erweiterten 2. Auflage seines Buches, in einer Übersetzung der „alten Überlieferung der Gemeinde in Geschichten, Sprüchen und Reden" (Die Botschaft von Jesus Christus, Tübingen 1935), in einer skizzenhaften Geschichte der urchristlichen Literatur (2 Bde., 1926 [SG 934/935]), in mehreren Aufsätzen zur Analyse der —»Apostelgeschichte (gesammelt in den Aufsätzen zur Apostelgeschichte, Göttingen 1953) und in zahlreichen Einzeluntersuchungen, schließlich auch in methodisch klärenden Forschungsberichten (ThR 1 [1929] 1 8 5 - 2 1 6 ; 3 [1931] 2 0 7 - 2 4 2 ) an einem großen Teil des neutestamentlichen Stoffes durchgeführt und dabei immer wieder zwei Gesichtspunkte betont: a) „Man darf die formgeschichtliche Betrachtung nicht mit der ästhetischen verwechseln . . . , die formgeschichtliche Betrachtung hat es mit der Aufhellung eines Stückes Geschichte zu tun, mit der Erforschung jener im Dunkeln liegenden Entwicklung, die von Wort und Tat Jesu zur Wiedergabe von Wort und Tat in den Evangelien führt" (ThR 1 [1929] 188) bzw.: „Indem der Literarhistoriker des Urchristentums die Formwerdung des Christentums nach der literarischen Seite darstellt, schreibt er Literaturgeschichte des Urchristentums" (Gesch. I,5f). b) In Auseinandersetzung mit den fast gleichzeitigen formgeschichtlichen Arbeiten von R. —»Bultmann betonte Dibelius, „daß die Skepsis Bultmanns in allen Fragen der Geschichtlichkeit nicht notwendig mit formgeschichtlichen Maßstäben zusammenhängt, sondern mit seiner Vorstellung von der Art der urchristlichen Gemeinde" (DLZ 3/3 [1932] 1109). Er hat dann auch kurze Darstellungen Jesu (Jesus, 1939 [SG 1130]) und Paulus' (Paulus, 1950 [SG 1160], zu Ende geführt von W. G. Kümmel) geschrieben, die erkennen lassen, daß von diesen religionsgeschichtlichen und literarischen Voraussetzungen aus sich geschichtlich gesicherte und in sich überzeugende Anschauungen von Gestalt und Verkündigung Jesu und Paulus' gewinnen lassen. Und ein (ursprünglich englisch erschienener) umfangreicher Aufsatz über Evangelienkritik und Christologie (Botschaft u. Gesch. I, 293—358) weist darauf hin, daß die Evangelien und die Tradition, die sie bewahren, „den Charakter eines Bekenntnisses und einer Verkündigung", aber ebenso „einen historischen

Dibelius, Martin

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Charakter tragen", daß darum aber „die Evangelien, was sie sind, nur für das Auge des Glaubens sind" (332.357). Ebenso wie das vorliterarische und literarische Problem der urchristlichen Literatur hat auch die Frage des Verhältnisses von Evangelium und Welt Dibelius durch sein ganzes Forscherleben beschäftigt. Wie schon in seinen Kommentaren zu den kleineren Paulusbriefen hat er in dem für das Verständnis eines paränetischen Textes grundlegenden Kommentar zum Jakobusbrief (1921 [KEK 15]) besonders nach dem „typisch urchristlichen Ethos" (50) gefragt, und diese Fragestellung ist ihm dann immer wichtiger geworden. In dem aus „innerem Bedürfnis" fesselnd geschriebenen Buch Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum (Göttingen 1925) führt er auf dem Hintergrund einer Analyse der geistigen Strömungen jener Zeit die Thesen aus, daß „ein Interesse an der Welt, das auf ihren Umbau gerichtet wäre, . . . im Evangelium nicht existiert. Wohl aber enthält das evangelische Ethos, das den Menschen, nicht die dem Ende verfallende Welt, verwandeln will, eine Fülle von Motiven, die sich auswirken konnten und auswirken mußten, wenn die Welt stehen blieb", und daß „des neuen Wesens, das mit Jesus in die Welt k a m , . . . nur inne [wird], wer versucht, aus diesem Hintergrund des Evangeliums heraus sein Leben zu führen und seine Welt zu gestalten" (146.170f). Dibelius hat diese Grundgedanken nicht nur in zahlreichen Vorträgen weiter ausgeführt („Das Medium zwischen Ethos und Ethik, Unbedingtem und Bedingtem, ist nicht ein Gesetz..., sondern der Mensch, der den unbedingten Imperativ des Evangeliums vernommen hat, aber auch weiß, daß er in die Bedingtheit der Welt verstrickt ist" [Die Unbedingtheit des Evangeliums und die Bedingtheit der Ethik: ChW 40 (1926) 1116]), sondern auch an Einzelbereichen exemplifiziert (Das soziale Motiv im NT: Botschaft u. Gesch. I, 178—203; Rom und die Christen im l.Jh.: ebd. II, 177—228). Zu einem von ihm geplanten „größeren Buch über die Entstehung der christlichen Ethik" (so brieflich 18.12.1940) ist er aber nicht mehr gekommen. 3. Sonstiges Nur kurz kann hier noch daraufhingewiesen werden, daß sich das Wirken und die Interessen von M. Dibelius nicht auf die ihn vor allem beschäftigende neutestamentliche Forschung beschränkte. Er hat sich intensiv politisch, ökumenisch und musikalisch praktisch und literarisch engagiert. Individualismus und Gemeindebewußtsein in Joh. Seb. Bachs Passionen (Botschaft u. Gesch. 1 , 3 5 9 - 3 8 0 ) hat er mit eben solcher Kennerschaft behandelt wie —»Nietzsches Jesusbild (Der „Psychologische Typus des Erlösers" bei Friedrich Nietzsche: DVfLG 22 [1944] 6 1 - 9 1 ) ; ein 1940 auf Aufforderung hin veröffentlichtes Buch Britisches Christentum und britische Weltmacht (Berlin 1940) ist zwar, wie er selber schrieb, „im wissenschaftlichen Sinn nicht falsch", konnte aber zu jenem Zeitpunkt schwerlich von irgend jemandem objektiv aufgenommen werden. Eines aber muß doch noch betont werden: ob Forscher, politisch, literarisch, künstlerisch oder kirchlich Handelnder, M. Dibelius war in allem immer ein überzeugter Christ. In einem Aufsatz über Auslegen und Einlegen (DtPfBl 41 [1937] 6 2 9 - 6 3 1 ) betonte er: „Die biblischen Texte wollen dem Leser und Hörer Botschaft von Gott bringen, Offenbarung — und die Frage an ihren Exegeten lautet: Welches ist die Botschaft an uns?"; und in der Schrift Wozu Theologie? (Leipzig 1941; „es kam mir darauf an . . . sozusagen unmittelbar vor Toresschluß noch einmal festzustellen, was ist oder war und was sein könnte", schrieb er dazu am 15.6.1941) stellt er zwar fest, daß sich die Arbeit des Theologen „am Rande der menschlichen Existenz vollzieht und daß er etwas zu tun hat, was Vielen als unmöglich, andern als frevelhaft erscheinen muß", fügt aber hinzu: „Die Spannung zwischen Forschung und Glaube darf nicht verschwinden um der Sache willen" (16.60). Quellen Bibliographie bis 1943: Bibliographia Dibeliana atqueBultmanniana: C N T 8 (1944) 1 - 2 2 (für die Rezensionen nicht ganz vollständig). - Nachtrag bis 1948: W. G. Kümmel, Martin Dibelius als Theologe (s.u.), 131 Anm. 1; 193 Anm. 2.—Seither: Aufs, zur Apostelgesch., Göttingen 1953.-Botschaft u.

Dibelius, Otto

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Gesch. I. Zur Evangelienforschung, Tübingen 1 9 5 3 ; II. Zum Urchristentum u. zur hell. Religionsgesch., ebd. 1 9 5 6 . - Gesch. der urchristl. Lit. Neudr. der Erstausg. v. 1 9 2 6 unter Berücksichtigung der Änderungen der engl. Übersetzung v. 1 9 3 6 , 1 9 7 5 (TB 58). Literatur Martin Dibelius: RGWS 5 (1929) 1 - 3 7 . - Hans Jochen Genthe, Kleine Gesch. der ntl. Wiss., Göttingen 1 9 7 7 , 2 4 0 - 2 4 3 . 2 6 0 f. - Werner Georg Kümmel, Martin Dibelius als Theologe: T h L Z 74 ( 1 9 4 9 ) 1 2 9 - 1 4 0 = ders., Heilsgeschehen u. Gesch., 1 9 6 5 ( M T h S t 3 ) 1 9 2 - 2 0 6 . - Ders., Das NT. Gesch. der Erforschung seiner Probleme, 1958 2 1 9 7 0 (OA 3 / 3 ) 3 3 2 - 3 3 7 . 4 2 3 - 4 2 8 . 4 8 8 - 4 9 1 . - Stephen Neill, The Interpretation of the N T 1 8 7 1 - 1 9 6 1 , London 1 9 6 4 , 2 4 0 - 2 4 5 . - Nekrologe: Hans Werner Bartsch: Z d Z 2 (1948) 1 3 - 1 5 . - R.P. Bratsiotis: Theol(A) 19 ( 1 9 4 1 / 4 8 ) 7 3 4 f f . - Nils Alstrup Dahl: N T T 4 9 (1948) 191 f. - Heinrich Greeven: FAB 2 ( 1 9 4 8 ) 2 6 - 3 1 . - Herbert Preisker: FuF 2 4 ( 1 9 4 8 ) 191 f.

Werner Georg Kümmel Dibelius, Otto

(1880-1967)

1. Leben Dibelius wurde am 15. Mai 1880 in Berlin geboren, er starb dort am 31. Januar 1967. Der Vater war Geheimer Regierungsrat in der Reichsdruckerei von Berlin, die Mutter stammte aus einer Pfarrersfamilie und regte, ebenso wie der Onkel, der Dresdner Oberhofprediger D. Franz Dibelius, schon den Schüler an, sich mit Christentum und Kirche zu beschäftigen. Dibelius studierte von 1899 bis 1904 in Berlin Theologie, besonders bei A. v. —»Harnack. 1902 wurde er in Gießen zum Dr. phil. promoviert; 1903 bestand er das 1. theologische Examen in Berlin und bezog danach das Predigerseminar in Wittenberg. Nach der Promotion zum Lic. theol. in Berlin und dem 2. theologischen Examen im Jahre 1906 ließ sich Dibelius während eines mehrmonatigen Studienaufenthaltes in —»Schottland stark von der Eigenständigkeit und Selbstverantwortlichkeit des dortigen Kirchenlebens beeindrukken. Ende 1906 wurde Dibelius ordiniert und versah danach Pfarrstellen in verschiedenen Provinzialkirchen der altpreußischen Landeskirche: von 1907 bis 1910 als Archidiakonus in Crossen/Oder, von 1910 bis 1911 als Pfarrer an der reformierten Gemeinde in Danzig, von 1911 bis 1915 als Oberpfarrer in Lauenburg/Pommern und von 1915 bis 1925 als Pfarrer in Berlin-Schöneberg. Der Wegfall des landesherrlichen —»Kirchenregiments 1918 führte in Deutschland zu einer weitgehenden Trennung von —»Kirche und Staat, die von Dibelius aufgrund seiner in Schottland gemachten Erfahrungen begrüßt wurde. Als Geschäftsführer des Vertrauensrates der altpreußischen Kirche arbeitete er aktiv an ihrer verfassungsmäßigen Neuordnung mit. Ab 1921 betraute der Evangelische Oberkirchenrat in Berlin, das leitende Verwaltungsorgan der altpreußischen Kirche, Dibelius als nebenamtlichen Oberkonsistorialrat mit weiteren übergemeindlichen Aufgaben im Schul- und Sozialwesen. 1925 wurde Dibelius Generalsuperintendent der Kurmark und damit einer der führenden Geistlichen in Altpreußen. Obwohl er den politischen Umbruch in Deutschland 1933 aus seiner nationalkonservativen Haltung heraus begrüßte, geriet Dibelius schon bald in Konflikt mit den nationalsozialistischen Machthabern, da er kompromißlos den Anspruch des Evangeliums jeder menschlichen Ideologie gegenüberstellte und sich daher für die Freiheit der Kirche vor Übergriffen des Staates einsetzte. Bereits im Juni 1933 wurde Dibelius durch das von den —»Deutschen Christen usurpierte Kirchenregiment abgesetzt und zwangspensioniert. Nach kurzem Aufenthalt als Kurprediger in San Remo/Italien arbeitete Dibelius dann im Verlaufe des —»Kirchenkampfes in der Bekennenden Kirche mit. 1937 wurde er verhaftet, weil er angesichts häretischer Äußerungen des nationalsozialistischen Reichskirchenministers in einem offenen Brief das Recht christlichen Widerstandes gegen staatliche Einmischungen in Lehre und Leben der Kirche geltend gemacht hatte. Der Prozeß endete mit einem Freispruch für Dibelius, der aber öffentliches Redeverbot erhielt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Dibelius vom Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin als Generalsuperintendent der Kurmark bestätigt und erhielt das Recht, den Titel „Bischof" zu fuhren. Bis zu sei-

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Dibelius, Otto

nem Rücktritt am 31. März 1966 blieb er Leiter der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (—»Brandenburg), bis 1951 war er auch Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin. Als Mitglied des vorläufigen Rates der —»Evangelischen Kirche in Deutschland entwarf Dibelius im Oktober 1945 das Stuttgarter Schuldbekenntnis , 1 9 4 9 u n d l 9 5 5 wurde er für jeweils 6 Jahre zum Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland und damit zu ihrem obersten Repräsentanten gewählt. Ein besonderes Anliegen Dibelius' war die Aufnahme ökumenischer Kontakte und der Ausbau der ökumenischen Beziehungen der Kirchen (—»Ökumene). Schon 1910 besuchte er die Weltmissionskonferenz in Edinburgh, 1921 die Evangelisch-Reformierte Synode in Ohio/USA. Er nahm 1925 an der Weltkonferenz für praktisches Christentum in Stockholm teil, 1927 an der Weltkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung in Lausanne und 1948 an der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam. 1954 wurde Dibelius in Evanston für 6 Jahre zu einem der Präsidenten des Weltrats der Kirchen gewählt. 1959 regte er die Bildung der Konferenz der Europäischen Kirchen in Nyborg/Dänemark an. In seinen letzten Lebensjahren unternahm Dibelius in seiner Funktion als deutscher und ökumenischer Kirchenführer zahlreiche Reisen in fast alle Kontinente. Seine weltweite Anerkennung drückt sich in der Fülle von Ehrungen aus: Ehrendoktor der Universitäten Gießen (1925), St. Andrews/ Schottland (1930), Eden/USA (1936), Marburg (1949), Toronto/Canada (1950), Gettysburg/USA (1952), Yale/USA (1954), Tokio/Japan (1958); Ehrenbürger von Berlin (1958). 2. Werk und

Wirkungsgeschichte

Dibelius hat ein umfangreiches Schrifttum hinterlassen; die umfassendste Bibliographie zählt 450 Titel auf (Stupperich 45—71). Schwerpunkte seiner literarischen Arbeit liegen auf historischem und exegetischem Gebiet; die eigentliche Bedeutung Dibelius' wird aber eher deutlich an seinen zahllosen, stets sorgfältig ausgearbeiteten Predigten und Ansprachen sowie den programmatischen Schriften, die sich mit der Stellung der Kirche in der Öffentlichkeit befassen. Eine Schlüsselrolle in seinem Denken spielt die Revolution von 1918 in Deutschland, die er politisch verurteilte, aber auch als „reinigendes Gewitter" verstand. Zwar hatte die Revolution den Zusammenbruch eines auf christlichen Prinzipien ruhenden Staatswesens ausgelöst und war für die Entchristlichung und — da für Dibelius alles Sittliche im Religiösen wurzelte—auch für die Entsittlichung der Gesellschaft verantwortlich, aber sie bot der Kirche nach der Trennung vom Staat auch die große Chance einer Selbsterneuerung: Nach dem Ende des christlichen Staates in Deutschland frei und selbständig wie nie zuvor, sollte die Kirche dem weltanschaulich neutralen Staat gegenüber zur Wächterin für die Sittlichkeit überhaupt werden. Als Gewissen des Volkes, so meinte Dibelius, hatte sie klare sittliche Weisungen zu geben und sollte so zu einem wesentlichen Faktor für das politische, soziale und kulturelle Leben werden. Sie hatte aber auch darüber zu wachen, daß das Machtbewußtsein des Staates — unabhängig von der Regierungsform im einzelnen — sittlich gerechtfertigt bleibt; ein Staat würde entarten, wenn er sich zu einem omnipotenten Machtund Gewaltsystem entwickelt. Mit dieser Konzeption, die Dibelius besonders in seinem berühmten Buch Das Jahrhundert der Kirche entfaltete, bezog er in den zwanziger Jahren bewußt eine kritische Position gegenüber der —»Dialektischen Theologie. Sein pragmatisch-positivistisches Kirchenverständnis erregte den nachdrücklichen Widerspruch Karl —»Barths, aber es zeigte sich, daß im Kirchenkampf auch von Dibelius' Ansatz her der Weg in den geistlichen Widerstand gegen eine Obrigkeit führte, deren Totalitätsanspruch die Freiheit der Kirche und ihrer Verkündigung antastete. Nach dem Zusammenbruch Deutschlands 1945 konnte Dibelius mit der Übernahme des Berliner Bischofsamtes seine Vorstellung von Kirche verwirklichen, deren Einheit und Tradition sich in diesem Amte symbolisierte. Aber Dibelius geriet damit in Gegensatz zu den Wünschen der Bekennenden Kirche nach einem eher bruderrätlichen Kirchenregiment. Unter den wachsenden Spannungen zwischen Ost und West hatte Dibelius in

Didache

731

besonderer Weise zu leiden, als mit der Teilung Deutschlands auch sein Berliner Bistum geteilt wurde, dessen östlichen Teil er ab 1961 nicht mehr betreten durfte. Da er die D D R als ein Paradigma eines atheistischen Staates ablehnte, wurde Dibelius von den politischen Kräften im Osten Deutschlands zunehmend bekämpft. Tiefgreifende Auseinandersetzungen brachen um den Berliner Bischof auf, als er die These vertrat, der Christ brauche selbst konkrete Einzelvorschriften eines totalitären Staates nicht zu beachten, da dieser die radikale Verneinung einer christlich verstandenen Obrigkeit sei. So umstritten Dibelius im einzelnen war, als Persönlichkeit wie als Kirchenführer war er eine der prägenden Gestalten der evangelischen Kirche in Deutschland im 20. Jh. Seine Auffassung, daß die Kirche, selbst frei von ideologischen Bindungen, der Gesellschaft gegenüber ein Wächteramt wahrzunehmen habe, entsprach weitgehend dem Selbstverständnis der evangelischen Kirche in den ersten Jahrzehnten nach 1 9 4 5 . Werke

(Auswahl)

Das kirchl. Leben Schottlands, Gießen 1 9 1 1 . — Das Kgl. Predigerseminar zu Wittenberg 1 8 1 7 - 1 9 1 7 , Berlin 1 9 1 8 . - D a s Jahrhundert der Kirche, Berlin 1 9 2 6 6 1 9 2 8 . - N a c h s p i e l , Berlin 1 9 2 8 . - F r i e d e auf Erden?, Berlin 1 9 3 0 3 1 9 3 3 . - G r e n z e n desStaates, Berlin 1 9 4 9 . - O b r i g k e i t ? , Berlin 1 9 5 9 . Ein Christ ist immer im Dienst. Erlebnisse u. Erfahrungen in einer Zeitenwende, Stuttgart 1 9 6 1 . - O b rigkeit, Stuttgart/Berlin 1 9 6 3 . - In Gegensätzen leben. Dreißig Predigten, Berlin 1 9 6 5 . - Reden - Briefe 1 9 3 3 - 1 9 6 7 , hg. v. Jürgen Wilhelm Winterhager, Zürich/Stuttgart 1 9 7 0 . - S o h a b e i c h ' s erlebt. Selbstzeugnisse, hg. v. Wilhelm Dittmann, Berlin 1 9 8 0 . Literatur Day is Dawning. T h e Story o f Bishop O t t o Dibelius, Based on His Proclamations and Authentic Documents, hg. v. Fred D. Wentzel, Philadelphia 1 9 5 6 . - Günter Gloede, O t t o Dibelius. Bischof, Bürger u. Weltbürger: ders. (Hg.), ö k u m . Profile, Stuttgart, I 1 9 6 1 , 2 9 2 - 2 9 9 . - Gerhard J a c o b i (Hg.), O t t o Dibelius. Leben u. Wirken. M i t Grußworten zum 8 0 . Geburtstag, Berlin o. J . ( 1 9 6 0 ) . - Finn J o r , O t t o Dibelius, Stavanger 1 9 5 6 . - Klaus Günther Karlson, O t t o Dibelius. Berlins erster Bekenntnisbischof, Berlin 1 9 6 1 . - Klaus Scholder, O t t o Dibelius ( 1 8 8 0 - 1 9 8 0 ) : Z T h K 7 8 ( 1 9 8 1 ) 9 0 - 1 0 4 . - Robert Stupperich, O t t o Dibelius. Sein Denken u. Wollen, Berlin 1 9 7 0 (Bibliogr.). - Violett-Buch zur Obrigkeitsschr. v. Bischof Dibelius, Frankfurt a . M . 1 9 6 3 . - Jürgen Wilhelm Winterhager, Die Bewährung des Geistes im K a m p f mit den M ä c h t e n der Zeit, dargestellt an Zeugnissen aus dem bisherigen Lebenswerk des Ev. Bischofs von Berlin: Akademische Bl. 5 7 ( 1 9 5 5 ) 8 3 - 9 3 .

Carsten Nicolaisen Dichtung —»Literatur und Religion Didache 1. Einleitung 2. Titel 3 . Die Zwei-Wege-Lehre 4 . Liturgischer Teil 5 . Gemeinderechtlicher Teil 6 . Schlußkapitel 7. Die Didache und das Neue Testament 8 . Abfassungszeit und -ort (Quellen/Literatur S. 7 3 5 ) .

1.

Einleitung

Die Didache wurde erstmals 1883 von dem Metropoliten Philotheos Bryennios veröffentlicht, der sie 1873 in der Bibliothek des Konstantinopler Klosters des Heiligen Grabes in einer Handschrift entdeckt hatte. Diese Handschrift befindet sich seit 1 8 8 7 als Cod. Hierosolymitanus 5 4 beim griechischen Patriarchat von Jerusalem und enthält das einzige direkt überlieferte Zeugnis des Originalwerkes. Es handelt sich dabei um eine Abschrift des Schreibers Leon, dessen Explicit vom 11. Juni 1 0 5 6 datiert. Der Text der Didache besteht aus vier ungleichen Teilen: einem katechetisch-ethischen Teil — der sich auf die jüdisch-christliche Zwei-Wege-Lehre stützt (Kap. 1 - 6 ) —, einem liturgischen (Kap. 7—10), einem gemeinderechtlichen (Kap. 11 — 15) sowie einem abschließenden eschatologischen Teil (Kap. 16). In diesen vier Teilen sind jeweils Elemente unterschiedlichen Ursprungs zusammengefaßt; ihre endgültige Anordnung stammt wohl von einem einzigen, unbekannten Autor.

732

Didache

2. Titel In Cod. Hierosolymitanus 54 gehen der Didache zwei Titel voraus: A lóaxr) rcö v óéóexa xvgiov óià TWV óéóexa àjioaxóXwv rolg eOveaiv. Wie es zu dieser doppelten Benennung kam, weiß man nicht genau. Wahrscheinlich ist jedoch der zweite Titel vom ersten abgeleitet, der seinerseits ebenfalls die Erweiterung eines noch kürzeren Titels zu sein scheint, denn in der griechisch-patristischen Tradition wird das Werk Aióaxv ànoOTÓlujv (Ps.-Athanasius, Syn. Sacr. Scripturae, PG 28,432; Nikephoros v. Konstantinopel, Stichometrie, PG 100,1060), Aiöaxr) xaXovfiévr] TWV àjzoaróXcov (Athanasius, Ep. fest. 39, PG 26,1437), TWV àjioorólwv aiXsyó/usvai Alòaxai (Eusebius, h.e. 111,25,4) oder Aióaxaì TWV àjtoaxóXojv (Th. Zahn, Gesch. des ntl. Kanons, Erlangen/Leipzig, II 1892, 292) genannt. Doch diese traditionelle Bezeichnung muß sich nicht unbedingt auf den vollständigen, in der Jerusalemer Handschrift enthaltenen Text beziehen. Möglicherweise ist damit nur der erste Teil der Didache gemeint, der auch in einer lateinischen Übersetzung aus dem 2. oder 3. Jh. vorliegt. Diese Übersetzung ist unter der Überschrift De doctrina apostolorum in zwei Handschriften des 11. Jh. enthalten (clm. 6264; Cod. Melk 597; vgl. Schlecht). CUIOOTÓACJV UNAAIDAXT]

3. Die

Zwei-Wege-Lehre

Der griechische Text der Zwei-Wege-Lehre in Cod. Hierosolymitanus 54 ist länger als der lateinische in der Doctrina apostolorum. Vom Verfasser der Didache wurde eine längere, mit den synoptischen Evangelien verwandte Passage eingefügt, die man den „evangelischen" Abschnitt (1,3b—2,1) nennt. Diese Interpolation deutet klar darauf hin, daß in der Urkirche verschiedene Fassungen der Zwei-Wege-Lehre kursierten (Layton). Tatsächlich begegnet die Zwei-Wege-Lehre mit einigen Varianten auch im -+Barnabasbrief, in den Apostolischen Kanones und in der Epitome. Während àie Apostolischen Kanones (s. Harnack) und die Epitome (s. Schermann; Wohleb) sich in diesem Zusammenhang recht nahestehen, bringt der Barnabasbrief eine abweichende Darstellung der zwei Wege. Doch keiner dieser drei Texte stimmt genau mit Did 1—6 überein, was auf eine ursprünglich mündliche Tradition schließen läßt, die in der schriftlichen Überlieferung unterschiedlichen Niederschlag gefunden hat. Bezeugt wird dies Ende des 4. Jh. durch di e Apostolischen —»Konstitutionen, die dieses Thema durch eine Paraphrase von Did 1—6 im Rahmen ihrer liturgischen und gemeinderechtlichen Bestimmungen ihrer Zeit anpaßten (Const. Ap. VII, 1—32). In jedem Falle stellt die Zwei-Wege-Lehre mit Ausnahme des „evangelischen" Abschnitts, der für die Didache spezifisch ist, einen vorchristlichen Stoff jüdischen Ursprungs dar; dieser taucht auch in den Schriften von —»Qumran auf. Die Zwei-Wege-Lehre stellt in charakteristischer Weise den Weg des Lebens, der zum Licht führt, und den Weg des Todes, der in der Finsternis und im Verderben endet, einander gegenüber. Mit Sicherheit ist das Thema der frühjüdischen Weisheitsliteratur fremd, die diese typische Opposition in den kanonischen Texten nicht kennt. Dennoch besteht auf Grund des paränetischen Stils und des pädagogisch-ethischen Lehrinhalts eine gewisse Ähnlichkeit (zur Zwei-Wege-Lehre s. Rordorf: RSR 60). Am Ende von Kap. 6 wird den Gläubigen Enthaltung vom Götzenopferfleisch auferlegt. Berücksichtigt man die Aussagen des Neuen Testaments zu diesem Thema (insbesondere Art 15,29), so ist dies ein Beweis dafür, daß der Text an Heidenchristen adressiert ist (vgl. den T i t e l z l i ó a ^ . . . TOLQ EOVEOLV). Da im übrigen die Zwei-Wege-Lehre erst spät in der jüdischen Tradition auftaucht, muß man sich fragen, ob sie nicht vom Einfluß des persischen Dualismus geprägt ist. 4. Liturgischer

Teil

Der liturgische Teil behandelt der Reihe nach und voneinander getrennt die Taufe, das Fasten, das Gebet sowie das Abendmahl.

Didache

733

4.1. —>Taufe. In Zusammenhang mit der Taufe (Kap. 7) nennt der Verfasser der Didache zweimal die trinitarische Formel (vgl. Mt 28,19; —»Trinität); der Nachdruck bestätigt, daß die Verwendung dieser Formel in der christlichen Tradition verwurzelt ist; ebenso die Praxis, in fließendem Wasser zu taufen. Der Taufritus soll übrigens unmittelbar nach der Unterweisung in der Zwei-Wege-Lehre stattfinden, die demnach schon sehr früh als Einleitung für die Durchführung der Taufe diente. 4.2.—>Fasten. Der Taufe soll laut Text auch ein Fasten des Täufers, des Täuflings und eventuell anderer Personen (7,4) vorausgehen. Am Anfang von Kap. 8 steht, man dürfe nicht mit den Heuchlern montags und donnerstags fasten. Diese Heuchler gehörten aller Wahrscheinlichkeit nach einer Dissidentengruppe an, die sich auf die jüdischen Fastenbräuche berief. Der Verfasser der Didache befürwortet demgegenüber das Fasten am Mittwoch und Freitag; für diese in der christlichen Tradition wohlbekannte Praxis führt er allerdings keine Gründe an. 4.3.—>Gebet. Übergangslos folgt nun die Empfehlung, nicht wie die Heuchler zu beten (8,2). Möglicherweise ist hier dieselbe Dissidentengruppe gemeint wie in 8,1. Nach der Aufforderung an die Gläubigen, so zu beten, „wie der Herr es in seinem Evangelium befohlen hat", wird mit einigen kleineren, jedoch für die synoptische Tradition (Mt 6,9—13; Lk 11,2—4) bedeutsamen Abweichungen das —»Vaterunser wiedergegeben, das dreimal am Tag gesprochen werden soll (8,3). 4.4. Agape und Herrenmahl. In Kap. 9 und 10 wird die Abendmahlsliturgie beschrieben (—>Abendmahlsfeier). Die Beschreibung umfaßt zwei gleichlange Teile, die seit Bryennios in unterschiedlichster Weise kommentiert wurden (Lietzmann; Rordorf; s.TRE 1, 232—234). Der erste Teil (Kap. 9) führt nacheinander die für diese Liturgie charakteristischen Segensformeln für Wein und Brot an; die Reihenfolge widerspricht allerdings der allgemein üblichen Praxis (erst die Brot-, dann die Weinsegnung). Auf den ersten Blick scheint der zweite Teil (Kap. 10) eine Danksagung am Ende eines Sättigungsmahles darzustellen. Da je(vgl. I Kor 16,22) die Gegenwart des doch abschließend in 10,6 mit dem Ruf fiagavaOä Herrn beschworen wird, besitzt auch dieses Gebet eucharistischen Charakter. Man muß wahrscheinlich davon ausgehen, daß sich der ganze Komplex auf eine Agape und ein nachfolgendes Herrenmahl im eigentlichen Sinne bezieht. Diese Interpretation entspricht der historischen Entwicklung, denn in apostolischer Zeit ging die Agape im allgemeinen dem Herrenmahl voraus (vgl. I Kor 11,17—34). Sie hebt zudem klar den Ursprung dieses Ritus hervor, der im wesentlichen wohl auf die bei jüdischen Festmählern üblichen —»Benediktionen zurückgeht. Die Danksagung, zugleich Quelle der Erfüllung und der göttlichen Gegenwart, folgt in diesem Kontext notwendig auf das kultische Sättigungsmahl. Diese Interpretation stellt die Verbindung zwischen der rituellen Segnung der Speisen einerseits und der Parusie Christi am Ende des Herrenmahles andererseits her. Die Tatsache, daß in den eucharistischen Gebeten der Didache weder das letzte Mahl noch die Passion Christi erwähnt werden, erschwert die Interpretation des Textes. Dennoch kann der ganze Abschnitt als eine Anamnese im weitesten Sinne betrachtet werden und erinnert in dieser Hinsicht an die Anaphora der Apostel Mari und Addai, die ebenfalls keinen Einsetzungsbericht enthält. 5. Gemeinderechtlicher

Teil

Der gemeinderechtliche Teil zerfällt in die Kap. 11 — 13 einerseits und 1 4 - 1 5 andererseits. Diese beiden K o m p l e x e haben jeweils unterschiedlichen Charakter.

5.1. Das Amt der Apostel und Propheten. In Kap. 11 — 13 wird das Amt der —»Apostel und der Propheten (—»Amt/Ämter/Amtsverständnis) beschrieben. Im wesentlichen handelt es sich dabei um umherreisende Pneumatiker — ein weiterer Beweis für die frühe Entstehungszeit der Didache. Der Text betont die Regeln der christlichen Gastfreundschaft gegen die Wanderprediger,

734

Didache

die ihren Besuch bei den Gemeinden nicht über zwei Tage hinaus ausdehnen sollten. Die Propheten sind im übrigen an ihrem Auftreten zu messen; diese Regel gilt offenbar für alle Personen, die im Namen des Herrn kommen. Die umherreisenden Wanderprediger, deren Vielfalt durch die im Neuen Testament beschriebenen Ämter belegt ist (vgl. insbesondere I Kor 12,28), sind letztlich durch Armut, Uneigennützigkeit, missionarischen Geist sowie durch eine Ubereinstimmung von Worten und Taten gekennzeichnet. Den größten Raum innerhalb dieses Abschnitts nehmen die Propheten ein, die, wie am Ende von Kap. 10 angedeutet wird, wohl auch für die Liturgie des Abendmahls zuständig waren. 5.2. Sonntagsgottesdient und lokale Amtsordnung. Kap. 14—15 stammen wahrscheinlich aus späterer Zeit. Kap. 14 greift das Thema der Abendmahlsliturgie wieder auf und reflektiert eine spätere Entwicklungsphase. Dasselbe gilt für Kap. 15, das explizit die lokale Amtsordnung thematisiert, die im Laufe der Zeit an die Stelle der in Kap. 11 — 13 erwähnten Wanderprediger trat. Die Ausführungen zur Abendmahlsliturgie in Kap. 14 zeigen einen weiterentwickelten Ritus und eine Vertiefung seiner Auffassung in der Urkirche. So wird etwa daran erinnert, daß der Gottesdienst an einem —»Sonntag stattfinde. Es handelte sich dabei wohl um den Sonntagabend, da die Hauptmahlzeit damals generell gegen Abend eingenommen wurde. Der Gottesdienst soll auch mit einem Sündenbekenntnis sowie einer brüderlichen Versöhnung einhergehen, damit das Opfer (Ovaia) rein sei (14,1). Der Begriff Ovaia kommt in Kap. 14 dreimal vor; durch ihn wird das Herrenmahl einem Opfer gleichgesetzt, in Ubereinstimmung mit der späteren Interpretation der ältesten christlichen Tradition (—»Abendmahl), die also in dieser Hinsicht durch die spezifischen Ausdrücke der Didache beeinflußt wurde. Doch trotz des klaren Bezugs auf Mal 1,11.14, wo auf das Opfer des Neuen Bundes angespielt wird, ist keineswegs sicher, ob das Substantiv Ovaia hier bereits den vollen Sinn hat, den es in der späteren Liturgie erhalten sollte. Wie bereits gesagt, dokumentiert Kap. 15 eine charakteristische Entwicklung: Die Wanderprediger werden nach und nach durch —»Bischöfe und Diakone ersetzt, die in der Sicht der Didache auch die liturgischen Funktionen der Propheten und Lehrer erfüllen können. Die JiQEoßvreQOL werden in der Didache gar nicht erwähnt; die èJiiaxonoi. üben ihr Amt innerhalb der Gemeinde allem Anschein nach im Rahmen eines Kollegiums aus. Der Text geht zwar nicht weiter auf die jeweilige Rolle der Bischöfe und Diakone während des Gottesdienstes ein, doch bestanden hier zwischen beiden mit Sicherheit Unterschiede. Wie bereits durch die Amtsbezeichnungen angedeutet, wurde die Abendmahlsliturgie wahrscheinlich von den Bischöfen geleitet, während die Diakone nur Hilfsfunktionen innehatten. Daß der monarchische Episkopat in der Didache noch nicht erscheint, ist ein offensichtliches Zeichen dafür, daß der Text vor dem 2. Jh. verfaßt wurde (zur Entstehung der gemeindlichen Amtsordnung vgl. André Lemaire, Les ministères aux origines de l'Eglise, 1971 [LeDiv 68]). Kap. 15 enthält zusätzliche Informationen zur Gemeindeordnung. Zweimal wird in diesem Zusammenhang „das Evangelium" zitiert (15,3.4; s. dazu u. Abschn. 7). 6.

Schlußkapitel

Kap. 16 hat eschatologischen Charakter und erinnert deutlich an Mt 24. Mitunter wurde vermutet, daß es ursprünglich den Schlußteil der am Anfang der Didache stehenden Zwei-Wege-Lehre darstellte. Doch die Zwei-Wege-Lehre ist ein äußerst homogenes Ganzes, und jene Hypothese hat keine ausreichende Grundlage. Da außerdem in der zweiten Hälfte von Kap. 16 von der —> Auferstehung der Toten und der Parusie Christi die Rede ist, hebt sich dieser Abschnitt deutlich von der Zwei-Wege-Lehre ab und muß wahrscheinlich dem letzten Bearbeiter des Textes zugeschrieben werden, dessen eschatologische Anschauungen, die seiner Zeit angepaßt sind, er wiedergibt.

Didache 7. Die Didache

und das Neue

735

Testament

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Didache und den Schriften des Neuen Testaments ist für ihre Datierung wichtig. Wird nämlich in der Didache eindeutig das Neue Testament zitiert, so ist sie in das 2. Jh. zu datieren. Ist die Didache jedoch unabhängig vom Neuen Testament entstanden, so ist sie wahrscheinlich dem 1. Jh. zuzuordnen. Die neuere Forschung ist sich darin einig, daß die Didache als Ganzes die Schriften des Neuen Testaments in ihrer heutigen Gestalt nicht kennt. Abgesehen vom „evangelischen" Abschnitt (1,3b—2,1) ist die Zwei-Wege-Lehre jüdisch geprägt und damit unabhängig vom Neuen Testament. 1,3b—2,1 weisen zwar eine gewisse Verwandtschaft mit Mt und Lk auf, doch die Abweichungen enthalten deutliche Archaismen, so daß die betreffenden Verse nicht auf die synoptische Überlieferung in ihrer Endgestalt zurückgehen dürften. Das gilt auch für den liturgischen Teil. Dieser enthält zwei Passagen, die zweifellos an synoptische Stellen erinnern: das Vaterunser und das Logion fifj ÔÔJTE TÒ äyiov rolç xvai (9,5). Einerseits erwähnt der Text ausdrücklich, daß das Vaterunser aus dem Evangelium des Herrn stammt, andererseits stimmt jedoch die Fassung der Didache nicht wörtlich mit Mt 6,9—13 und Lk 11,2—4 überein. Ebenso scheint Did 9,5 älter zu sein als Mt 7,6. Insgesamt gesehen sind auch im gemeinderechtlichen Teil die Anklänge an den Text der Evangelien zu vage, um genaue Zitate aus den synoptischen Evangelien belegen zu können. Die beiden Verweise in Kap. 15 auf „das Evangelium" beziehen sich möglicherweise auf ein schriftliches Werk. Aber auch hier wird der Wortlaut der Parallele Mt 18,15 —17 nicht exakt wiedergegeben; die Aussagen von Kap. 15 beruhen demnach sicherlich auf Spruchsammlungen, die älter sind als der heute vorliegende Text der Evangelien. Die eschatologisch geprägten Ausdrücke von Kap. 16 sind ebenfalls archaischer als Mt 24,3—44 und bestätigen somit die Eigenständigkeit der Didache innerhalb der synoptischen Tradition. Die Parallelen zwischen der Didache und Mt sind allerdings so zahlreich, daß sie die Entstehungsgeschichte des letzteren in mancherlei Hinsicht erhellen könnten. 8. Abfassungszeit

und -ort

Da die Didache die Schriften des Neuen Testaments nicht voraussetzt, kann sie in das 1. Jh. datiert werden. Darauf deuten im übrigen auch die Zwei-Wege-Lehre und der liturgische Teil hin, der die Liturgie des Herrenmahls auf einer sehr frühen Entwicklungsstufe beschreibt. Das Hervortreten der Wanderprediger im gemeinderechtlichen Teil ist ebenfalls ein Zeichen für das hohe Alter der Schrift. Bischöfe und Diakone werden zwar in Kap. 15 erwähnt, jedoch ausdrücklich nur als Stellvertreter der Wanderprediger; die èniaxonoi der Didache üben ihr Amt zudem im Rahmen eines Kollegiums aus, was auch für das 1. Jh. charakteristisch ist. In diese Zeit passen nicht zuletzt auch die eschatologischen Aussagen von Kap. 16. Als Entstehungsort der Didache wurden —>Ägypten und —»Syrien genannt. Die längeren Ausführungen zu den Wanderpredigern und den Erstlingsfrüchten, die ihnen übergeben werden sollten, lassen eher vermuten, daß sie in den ländlichen Gebieten Vordersyriens verfaßt wurde, die noch vor Ägypten christianisiert worden sind, ohne daß sich hier allerdings Sicherheit gewinnen läßt. Quellen Karl Bihlmeyer, Die Apostolischen Väter. N B der Funkschen Ausg., Tübingen 1 9 2 4 = 3 1 9 7 0 . Philotheos Bryennios, Aiòa/J] TOJV òwóexa ÒJZOOTÓJMV, Constantinopolis 1 8 8 3 . - Die Didache, hg. v. H. L i e t z m a n n , 6 1 9 6 2 (KIT 6). - Hippolyte Hemmer/Gabriel Oger/A. Laurent, Les Pères apostoliques, 2 Bde., 1 9 0 7 2 1 9 2 6 ( T D E H C 5). - La Doctrine des douze apôtres (Didachè), hg. v. Willy Rordorf/André Tuilier, 1 9 7 8 ( S C 2 4 8 ) ( L i t . ) . - J o h n Barber Lightfoot, The Apostolic Fathers, London 1 8 9 1 2 1 8 9 8 . - Kirsopp Lake, The Apostolic Fathers, London/Cambridge, Mass. 1 9 1 2 = 1 9 5 9 . - Cyril C. Richardson, Early Christian Fathers, 1 9 5 3 (LCC 1) (Lit.). - R. A. Kraft, Barnabas and the Didache, New Y o r k 1 9 6 5 (The Apostolic Fathers. A New Transi, and C o m m . 3 ) .

Didaktik

736 Literatur

Altaner, 8 1 9 7 8 , 8 2 . 5 5 7 ( L i t . ) . - J e a n - P a u l Audet, La Didachè. Instructions aux apôtres, 1 9 5 8 (EtB). - Stanislas Giet, L'énigme de la Didachè, 1 9 7 0 (PFLUS 1 4 9 ) . - Adolf v. Harnack, Die Lehre der zwölf Apostel, 1 8 8 4 (TU 2 / 1 — 2 ) . —Bentley Layton, The sources, date and transmission of Didachè 1 , 3 b — 2 , 1 : H T h R 6 1 ( 1 9 6 8 ) 3 4 3 - 3 8 2 . - H a n s L i e t z m a n n , M e s s e u. H e r r e n m a h l , 1 9 2 6 = 3 1 9 5 5 = 1 9 6 7 ( A K G 8 ) . - Willy Rordorf, Le baptême selon la Didachè: Mélanges liturgiques offerts au R. P. D o m Bernard Botte 0 . S.B., Louvain 1 9 7 2 , 4 9 9 - 5 0 9 . - D e r s . , Un chapitre d'éthique judéo-chrétienne. Les deux voies: RSR 6 0 ( 1 9 7 2 ) 1 0 9 - 1 2 8 = Judéo-christianisme. FS Jean Daniélou, Paris 1 9 7 2 , 1 0 9 - 1 2 8 . - Theodor Schermann, Eine Elfapostelmoral oder die X-Rezension der „Beiden W e g e " , 1 9 0 3 ( V K H S M 1 1 , 2 ) . Joseph Schlecht, Dottrina XII apostolorum. Die Apostellehre in der Liturgie der kath. Kirche, Freiburg 1.Br. 1 9 0 1 . - Leo Wohleb, Die lat. Ubers, der Didache krit. u. sprachlich unters., 1 9 1 3 (SGKA 7 / 1 ) = 1967.

André Tuilier Didaktik 1. Begriff 2. Darstellungsebene und Obejektverständnis 3. Stufungen 4 . Differenzierungen 5. Positionen 6. Forschungsmethoden 7. Didaktische Dimension von Christentum und Theologie (Literatur S. 7 4 1 ) .

1. Begriff Das Wort „Didaktik" geht über lat. (ars) didactica auf griech. óióaxnxfj TÉ%vr] [Lehrkunst] zurück und verdankt seine Verbreitung der Pädagogik des Barocks, besonders der berühmten Didactica Magna des J. A. —»Comenius. Comenius bezeichnet sie als ars docetidi et discendi [die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren]. Unter Kunst versteht er die Beherrschung einer Gesamtheit von Verfahrensregeln, die sich auf Einsichten in den entsprechenden Sachzusammenhang gründen. Im gegenwärtigen pädagogischen Sprachgebrauch tritt das Wort „Didaktik" in weiteren und engeren Bedeutungen auf. Im weitesten Sinn ist Didaktik zu fassen als Theorie des Lehrens, wobei „Theorie" in unterschiedlichem Maße entwickelte Satz- oder auch nur Vorstellungsgefüge über einen Sachverhalt bezeichnen kann. Den zentralen Begriff des Lehrens setzen die einzelnen didaktischen Entwürfe in unterschiedlicher Bedeutung voraus. Als durchweg nachweisbares zentrales Begriffselement (jeweils unterschiedlich spezifiziertes Genus) tritt jedoch die Förderung von Lernen auf. Für Lernen läßt sich ebenfalls nur das zentrale gemeinsame Begriffselement angeben: Es meint eine Veränderung psychischer Dispositionen (Wissen, Denkfähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen), die auf Einwirkungen der Außenwelt und ihre Verarbeitung (z.B. Umstrukturierung von Informationen) zurückgehen (—»Psychologie). 2. Darstellungsebene

und

Objektverständnis

Gegenstand dieses Artikels sind nicht Lehrvorgänge als solche, sondern Didaktiken als Theorien über Lehrvorgänge. Seine Aussagen sind somit nicht der objekt-, sondern der meta-sprachlichen Ebene zuzuordnen (—>Wissenschaftstheo rie). Doch setzen beschreibende und klassifizierende Äußerungen über Theorien ihrerseits ein Verständnis des Gegenstandes dieser Theorien voraus. Denn voneinander abgehoben werden solche Theorien besonders nach der Art, wie sie ein gemeinsames Gegenstandsfeld auffassen. Die folgende Skizze der allgemeinen Struktur jedes Lehrvorgangs ist ihrerseits aus der vergleichenden Betrachtung unterschiedlicher Didaktiken erwachsen und beansprucht, unter Absehung von den beträchtlichen terminologischen Differenzen, ihnen weithin gemeinsame Mindestvoraussetzungen wiederzugeben: 2.1. Bei Lehrvorgängen treten sich eine hinsichtlich eines Gegenstandes (Inhalt, Lernobjekt, Stoff usw.) der Selbsteinschätzung nach befähigtere und/oder emotional angemessener eingestellte Person oder Personengruppe ( A) und eine weniger befähigte und/oder emotional weniger angemessen eingestellte Person oder Personengruppe (B) unmittelbar (soziale Situation) oder mittelbar (Lehrmaterialien, -programme, -maschinen) gegenüber.

Didaktik

737

2.2. A ist Träger einer Lehrabsicht, d.h. hegt Vorstellungen darüber, welches Können, Fühlen und/oder Wollen bei B in welchem Maße und auf welche Weise (Tätigkeitsformen des Lehrens, Methoden) dadurch gefördert werden sollen, daß B zu bestimmten Tätigkeiten (Formen des Lernens) veranlaßt wird. 2.3. B bringt für die beabsichtigte Förderung bestimmte Voraussetzungen (Lernvoraussetzungen) mit, die teils angeboren, teils durch vorausliegende Erfahrungen entstanden sind und über die sich A bestimmte Vorstellungen macht. 2.4. In der Lehrsituation, in der A entsprechend seinen Vorstellungen tätig wird, treten die genannten Faktoren in Wechselwirkung. So wird etwa nicht nur die Art der Tätigkeit A's von den angestrebten Dispositionen B's, den angenommenen Merkmalen des Lehrgegenstandes und den vermuteten Lernvoraussetzungen B's abhängen, sondern auch seine Lehrabsicht von seiner Einschätzung der Lernvoraussetzungen B's und seiner eigenen Lehrvoraussetzungen (Vertrautheit mit dem Lehrinhalt, Lehrfähigkeit). 3.

Stufungen

Lernen (—»Mensch) tritt als allgemeine menschliche Erscheinung akzidentell und intentional auf. Träger der Intention kann nur der Lernende selbst, dann aber auch ein anderer sein, der ihn beim Erwerb einer als wertvoll angesehenen Fähigkeit unterstützt. Lehren tritt schon auf den primitivsten Kulturstufen auf und ergibt sich immer wieder sporadisch in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen. Schon in Urzeiten bilden sich überall bestimmte Lehrformen aus wie etwa die Sequenz „Vormachen - Veranlassung zum Nachmachen — Rückmeldung über den Erfolg durch Lob und Tadel" mit den zugehörigen Variationen „wiederholtes Vormachen - allmähliche Annäherung an die N o r m " usw. Wo eine Tätigkeit immer wieder auftritt, werden auch Erfahrungen dazu gesammelt, Vorstellungen darüber ausgebildet, Gespräche geführt, und es entstehen sprachliche Formulierungen, die sich immer wieder auch zu Redensarten, Faustregeln und Sprichwörtern (z.B. 'O fifi dageig ävdgamog ov Tiaiöeverai. Verba docent, exempla trahunt) verdichten. Solche Vorstellungen und Formulierungen lassen sich als 1. Stufe der Didaktik ansehen. Ursprünglich ergibt sich Lehren nebenbei in Situationen, die nicht primär auf Lehre ausgerichtet sind. Mit der Höherdifferenzierung der —»Kultur reichen jedoch sich sporadisch nebenbei ergebende Lehrsituationen zur Übermittlung der komplexer und umfangreicher gewordenen Handlungsformen nicht mehr aus, sondern Lehre muß als Unterricht institutionalisiert werden. Dabei treten folgende Merkmale hinzu: Es wird eine Reihe von Situationen geschaffen, deren Hauptzweck in der Lehre besteht. Dazu werden bestimmte Lehrinhalte ausgewählt, die in einer bestimmten Reihenfolge zu übermitteln sind und Dispositionen intensiv und extensiv kontinuierlich entwickeln sollen (Curriculum). Im Zuge der Arbeitsteilung fällt Lehre als besondere Aufgabe einem bestimmten Personenkreis zu. Parallel entwickeln sich Handlungsformen für Lehrende und Lernende, die als besonders lernförderlich angesehen und bewußt angewendet werden. Es entstehen Einrichtungen, die fast ausschließlich der Lehre dienen (z. B. Schulen; —»Schulwesen). In dem Maße, wie deutlich wird, daß die Gestaltung von Lehrsituationen komplexere Fähigkeiten verlangt, deren Erwerb selbst institutionalisierte Lehre erfordert, entsteht Didaktik auf der 2. Stufe als Unterrichtslehre. Unterrichtslehren bieten und begründen Anweisungen für die Unterrichtsgestaltung und Leitvorstellungen, aus denen solche Anweisungen folgen. Auf der 3.Stufe entsteht Didaktik als empirische Wissenschaft vom Lehren bzw. vom Unterricht u. a. deshalb, weil sich Unterrichtslehren für die Optimierung von Unterricht in vieler Hinsicht als unzureichend erweisen und mancherlei erkenntniskritisch anfechtbare Aussagen enthalten. Unterrichtswissenschaft verfährt systematisch, methodisch und kritisch. Sie zielt auf logisch zusammenhängende, durch bestimmte beschreib- und begründbare Verfahren gewonnene und Einwendungen standhaltende Aussagen über die Unterrichtswirklichkeit, wie sie unabhängig von den Wünschen des theoretisierenden Beobachters tatsächlich besteht. Der Unterrichtswissenschaftler versucht, das soziale Feld Unterricht

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Didaktik

in genau zu beschreibende und möglichst auch quantitativ zu erfassende Faktoren und Faktorengruppen aufzugliedern und gesetzmäßige Beziehungen zwischen ihnen zu erkennen, d.h. Aussagen darüber zu formulieren, wie sich der eine Faktor in Abhängigkeit vom anderen ändert. Solches nomologisches Wissen läßt sich zur Erklärung gegenwärtiger Zustände (d. h. zu ihrer Rückführung auf frühere), zur Vorhersage künftiger und zur technischen Planung (Zweck - Mittel) verwenden (—>Sozialwissenschaften). Den Bedürfnissen der Unterrichtspraxis und den theoretischen Möglichkeiten der Gegenwart entspricht Didaktik auf ACT 4.Stufe als Praktische Didaktik. Da das gegenwärtig verfügbare unterrichtswissenschaftliche Wissen als Gestaltungsgrundlage für die Unterrichtspraxis (—Theorie und Praxis) nicht ausreicht und seine Beschaffung wegen der Komplexität der Unterrichtswirklichkeit auch auf grundsätzliche forschungsmethodische Grenzen stößt, muß die Praktische Didaktik plausible Vermutungen über die Eignung von Unterrichtselementen und -strukturen aufnehmen. Zudem sind für die Praxis Ziel- und Inhaltsfragen von besonderer Bedeutung, die sich bei weitem nicht allein auf erfahrungswissenschaftlicher Basis beantworten lassen. Das wissenschaftliche Niveau einer Praktischen Didaktik entscheidet sich daran, inwieweit sie ihre Adressaten über Gewißheitsgrad und Geltungsart ihrer Sätze aufklärt. 4.

Differenzierungen

Didaktiken lassen sich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten klassifizieren. Vorhandene Konzeptionen sind jedoch selten an den idealtypischen Endpunkten polarer Klassifizierungsskalen einzuordnen, sondern unterscheiden sich voneinander eher akzentuell. Ihre Charakteristik ergibt sich durch die unterschiedliche Kombination der Merkmale verschiedener Skalen. Sie lassen sich differenzieren: 4.1. nach der Art der beabsichtigten Einflußnahme in deskriptive und präskriptive Didaktiken. Erstere liefern nur Entscheidungsgrundlagen in Form von Analyseschemata und Informationen über Zusammenhänge, letztere empfehlen bestimmte Entscheidungen. Jedoch implizieren einerseits Empfehlungen Tatsachenannahmen über ihre Bezugswirklichkeit, andererseits schließen Informationen die Empfehlung ein, sie konkurrierenden vorzuziehen, und Analysen den Anspruch, die entscheidungsrelevanten Strukturen und Elemente zu benennen. 4.2. nach dem Umfang der erfaßten Lehrsituation in holistische und partikularistische Didaktiken. Erstere wenden sich gleichmäßig der Gesamtstruktur der Lehrsituation in ihrem ganzen Umfang zu, letztere konzentrieren sich auf bestimmte Teilstrukturen (z. B. Mediendidaktik). Doch geben holistische Konzeptionen für partikularistische den Rahmen vor und implizieren letztere ein mindestens rudimentäres Gesamtbild. 4.3. nach dem Inhaltsbezug in inhaltsneutrale und inhaltsspezifische Didaktiken (Allgemein- und Bereichs-/Fachdidaktiken). Doch zeigen allgemeine Konzeptionen häufig eine Tendenz zu bestimmten Inhalten (so etwa Begegnungsdidaktiken zu ästhetischen, moralischen und religiösen) und lassen inhaltsspezifische die Frage nach der Ubertragbarkeit mancher Aussagen auf andere Inhalte zu. 4.4. nach dem Bezug auf bestimmte Lebensalter oder auf bestimmte Bildungsstufen in stufenneutrale und stufenspezifische Didaktiken (z. B. Didaktik der Erwachsenenbildung, des Vorschulalters). 4.5. nach demlnstitutionenbezug 'minstitutionsneutrale daktiken (z.B. Gymnasialdidaktik, Hochschuldidaktik).

und institutionsspezifische

Di-

4.6. nach dem Bezug auf besondere Adressatenmerkmale in adressatenneutrale und adressatenspezifische Didaktiken (z.B. Bezug auf bestimmte Formen geistiger Behinderung). 4.7. nach der Betonung bestimmter Unterrichtselemente in ziel-, inhaltsundmethodenakzentuierte Didaktiken. Ein Beispiel für Zielakzentuierung bietet die curriculare Didaktik

Didaktik

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in ihrer klassischen Form, bei der Inhalte und Verfahren nur als Mittel zur Hervorbringung geniu prädeterminierter Zieldispositionen gelten, für eine inhaltsakzentuierte Didaktik die Theorie des Klassischen, nach welcher es darauf ankommt, bewährte Inhalte ihre Eigenwirkung auf die Lernenden entfalten zu lassen (Litt), für eine methodenakzentuierte Didaktik die kommunikative Didaktik (Schäfer/Schaller). 5.

Konzeptionen

Im folgenden werden stichwortartig einige Konzeptionen charakterisiert, die gegen Ende der siebziger Jahre im deutschen Sprachraum die besondere Aufmerksamkeit der Theoretiker auf sich ziehen. Da sie sich hinsichtlich verschiedener Merkmale unterscheiden, liegen sie nicht auf der gleichen Vergleichsebene. Sie werden ständig weiterentwickelt und von verschiedenen ihrer Vertreter unterschiedlich akzentuiert. 5.1 • Nach der bildungstheoretischen Didaktik, die sich als „Theorie der Bildungsaufgaben und Bildungsinhalte bzw. der Bildungskategorien" versteht, beruhen didaktische Entscheidungen auf „bildungstheoretischen Voraussetzungen". —»„Bildung" geschieht als „Erschließung" eines Inhalts für eine Person und einer Person für einen Inhalt (Klafki). Weniger weist einerseits der Didaktik die Aufgabe zu, das „Lehrgefüge" von den geschichtlichen Kräften her verständlich zu machen, deren Wechselspiel sich in ihm niedergeschlagen hat, und beansprucht andererseits den geistigen „Mächten" gegenüber für sie die Freiheit zu einer dem Aufwachsenden gegenüber verantwortlichen „Transposition" der Inhalte in den Raum der Bildung. 5.2. Die lehrtheoretische Didaktik versteht Heimann in ihrer ursprünglichen Form und ihrem Kern als wertfreies Analyseschema, nach welchem in jedem Unterricht „immer folgende formal konstant bleibende, inhaltlich variable Elementar-Strukturen gegeben sind: solche intentionaler, inhaltlicher, methodischer, medien-bedingter, anthropologisch-psychologischer und situativ-sozial-kultureller Art" (153). Die beiden letzteren findet der Unterrichtende als Bedingungen seines Unterrichts vor, hinsichtlich der vier ersteren fällt er Entscheidungen (was ihm nicht immer deutlich bewußt wird). Schulz will der „Relativierung aller Positionen" durch das „wissenschaftliche Interesse an uneingeschränkter Rationalität" dadurch vorbeugen, daß er in diese Konzeption ein „emanzipatorisches Interesse" an der „Subjekthaftigket" aller am Unterricht Beteiligten einführt, das verhindert, „die Schüler zu Objekten einer verallgemeinernden Technik zu machen" (W.Schulz: Ruprecht u.a. 160). 5.3. Das Kernschema der curricularen Didaktik, wie sie durch Robinsohn in die deutschsprachige Diskussion eingeführt wurde, lautet „Situationen — Qualifikationen — Curriculum-Elemente" und läßt ihre strenge Zielorientierung erkennen. „ B i l d u n g . . . ist Ausstattung zum Verhalten in der Welt" (13). Die Qualifikationen, zu denen Curricula führen müssen, ergeben sich aus den Anforderungen, die gegenwärtige und besonders künftige Lebenssituationen an den Aufwachsenden stellen. Diese sind deshalb genauestens humanund fachwissenschaftlich zu analysieren und zu prognostizieren. Curriculum-Elemente, d. h. sämtliche Elemente der planvoll aneinanderzureihenden Unterrichtssituationen (Inhalte, Arbeitsweisen Lehrender und Lernender, Medien, Zeitaufteilung usw.) sind nach ihrer optimalen und empirisch überprüften Eignung zur Hervorbringung der genau beschriebenen Zieldispositionen auszuwählen. Noch mehr als die ständige, sorgfältige Kontrolle der erzielten Ergebnisse macht die fortwährende Veränderung der Lebenssituationen, für die qualifiziert werden soll, andauernde Revisionen durch erneutes Durchlaufen dieser Arbeitsschritte notwendig. Das Ausmaß des erforderlichen technischen und organisatorischen Aufwands hat die auch nur annähernde Verwirklichung dieses Programms ebenso verhindert wie der Vorwurf der Anpassungspädagogik und der Erstickung jeglicher Initiative der am Unterricht Beteiligten durch solche von Experten detailliert vorbestimmte „geschlossene" Curricula. In gegenwärtigen Konzepten von „offenen" Curricula ist nicht nur diese aufwendige

Didaktik

740

Lernzielbestimmung aufgegeben, sondern in hohem Maße sogar die Zielorientierung des Unterrichts selbst. 5.4. Eine streng technologische Zweck-Mittel-Strukturierung des Unterrichts fordert die informationstheoretisch-kybernetische Didaktik als Wissenschaft davon, „wie die Lernprozesse des Lernsystems initiiert und gesteuert werden können und wie vorgegebene Verhaltensziele in optimaler Weise zu erreichen sind" (v.Cube: Ruprecht u.a. 129). Sie ist gekennzeichnet durch die Auffassung vom Unterricht als Regelungsvorgang (—»Kybernetik), bei dem Lernplanung (bestimmt durch die Lernziele), Lernsteuerung, Reaktionen des Lernenden und Lernkontrolle einen Regelkreis bilden, die Redundanztheorie des Lernens und die Ersetzung des Lehrers durch Automaten. 5.5. In der kommunikativen Didaktik wird Lehre als—»Kommunikation gesehen und in bewußter Entgegensetzung gegen andere Konzeptionen neben der Inhaltsdimension des Unterrichts besonders seineBeziehungsdimension hervorgehoben. Ihre Vernachlässigung führt zur technischen Betrachtung und Behandlung des Schülers als Objekt, nur durch ihre angemessene Berücksichtigung kann der Unterricht seiner wesentlichen erzieherischen Aufgabe genügen. Für die Vertreter dieser Richtung ist deutlich, „daß der edukative Effekt des Unterrichts nicht«« den Inhalten zu sehen ist, sondern sicha« ihnen, im kommunikativen Durchsprechen der Inhalte, herausstellt" (Schäfer: ders./Schaller 129). Die durch andere Didaktiken unbesehen mitbewirkte komplementäre Kommunikation im Unterricht soll von der Einsicht her, „daß die Identität des Ich vornehmlich auf der Teilnahme am fortwährenden kommunikativen Interaktionsprozeß beruht", in symmetrische Kommunikation überführt werden. Bei detaillierterer Betrachtung zeigt sich, daß sich diese Konzeptionen nicht durchwegs ausschließen, sondern in unterschiedliche Gesamtrahmen ähnliche Teilstrukturen einarbeiten. Mindestens der Praktiker sollte sich deshalb von jedem Purismus fernhalten und sie eklektisch-komplementär zu handhaben versuchen. 6.

Forschungsmethoden

Der Vielfalt von Teilproblemen, die in didaktischen Zusammenhängen auftreten, entspricht die Vielzahl der Methoden, die zu ihrer Lösung angewendet werden. Gegebene Unterrichtsformen mit ihren Rahmenbedingungen und Unterrichtsauffassungen (Lehrpläne usw.) stellen historisch-kulturelle Objektivationen dar und sindhermeneutischen Methoden zugänglich. Allgemeinere Lernzielvorstellungen hängen mit Werten und Normen zusammen, die in bestimmten hermeneutisch und sozialwissenschaftlich aufhellbaren Lebenszusammenhängen wurzeln. Die Stimmigkeit zielbegründender Argumentationen läßt sich sprachanalytisch und logisch überprüfen, die darin enthaltenen Tatsachenbehauptungen sind erfahrungswissenschaftlich kontrollierbar. Ideologiekritisch läßt sich beurteilen, inwieweit Zielvorstellungen Ausdruck von Interessen sind, die sich gegen emanzipatorische Persönlichkeits- und Gesellschaftsideale richten (—»Emanzipation). Da in Lernzielbegründungen neben Ist-Sätzen Soll-Sätze eingehen, sind Lernziele nicht ausschließlich wissenschaftlich begründbar. Das Urteil über ihre Legitimität wird einmal vom wissenschaftlichen Status der Tatsachenbehauptungen abhängen, die in ihre Begründung eingeflossen sind, zum anderen von der ethisch-politischen Qualität der Entscheidungsprozesse, denen sie ihre Verbindlichkeit verdanken. Erfahrungswissenschaftlich prinzipiell am ehesten kontrollierbar sind die Auswirkungen einzelner Unterrichtselemente und Strukturen. Jedoch setzt die Komplexität von Lehrsituationen prinzipielle Grenzen sowie die nur langfristig kumulative Wirkung vieler didaktischer Faktoren und die Schwierigkeit der Wahrung der Ceteris-paribus-Bedingung bei Vergleichsuntersuchungen aufwandsmäßige und ethische. Als verhältnismäßig leicht abgrenz- und faßbare pädagogische Situation eignet sich Unterricht vergleichsweise gut für Experimente. Kategoriensysteme für die Unterrichtsbeobachtung werden zunehmend verfeinert.

Didymus von Alexandrien 7. Didaktische

Dimension

von Christentum

und

741

Theologie

In der Bibel tritt gegenüber dem sozial-kultischen Element das individuell-intentional-existentielle hervor, welches auf die verstehende Aneignung der Glaubensinhalte zielt. Der Glaubende soll in die Lage versetzt werden, seine Handlungen bewußt auf die zentralen Inhalte zu beziehen: „Wenn dich morgen dein Sohn fragen wird . . . , dann sollst du deinem Sohn sagen" (Dtn 6,20). Jesus wird wiederholt als Arianismus, die Apollinaristen (—»Apollinaris von Laodicea) und die Doketen, die die Realität des Menschseins Christi leugneten. Christus hat sich freiwillig der Inkarnation unterworfen, um die Menschheit zu erlösen (PsT III, 185,4—9), wodurch aber seine Göttlichkeit nicht beeinträchtigt wurde (ebd. V, 328,18). Wie die Heiligen (s.u.), so hat auch er den Körper nicht aus Neigung zur Materie angenommen, sondern um den Menschen zu helfen. Seine Seele ist aufgrund ihres Menschseins zur Sünde fähig; sie kennt das Vorstadium des Affekts, doch nicht diesen selbst und die daraus resultierende Sünde (ebd. IV, 2 8 2 , 4 - 7 ; EcclT IV, Exkurs 1,157f). Die Verbindung von göttlicher und menschlicher Natur in Christus ist unauflöslich (PG 39,1284 C.1645 C). 3.3. Der—^Mensch besteht nach Didymus aus dem vergänglichen Körper, der darin eingeschlossenen, präexistent gedachten unsterblichen Seele und dem Geist (z.B. E c c l T IV, 2 2 5 , 2 3 m. Anm. 3 ) . Der Gedanke der Präexistenz der —»Seele, der einerseits auf die griechische Philosophie, andererseits auf Origenes zurückgeht, w a r ein Kernpunkt der Seelenlehre des Didymus. Da das W e r k De anima verloren ist, sind wir auch hier ganz auf die T u r a Kommentare angewiesen. Den meisten Aufschluß gibt HiT (I, Exkurs I, 3 1 1 - 3 1 4 ) . Ursprünglich waren die Seelen mit Gott vereint; nach HiT I, 56,24 ff fielen sie von ihm ab, weil sie sich nach der Materie sehnten. Zur Strafe dafür wurden sie mit dem vergänglichen Leib verbunden (ZaT II, 263,5; PsT II, 125,10 ff; Enarr. in Pe 1,1). Das Streben des Menschen ist es, durch Unterwerfung des Körpers (EcclT IV, 225,6ff m.Anm.3) die Seele von diesem zu abstrahieren und der Vollkommenheit und Gottesschau wieder zuzuwenden; dabei dienen ihm die Heiligen als Vorbild. 3.4. Die Aufgabe der -»Heiligen im System des Didymus ist es, den sündigen Menschen als Vorbild zu dienen (HiT I, 73,16—18). Wie alle Menschen, so unterliegen auch die Heiligen der Erbsünde (HiT III, 2 8 2 , 2 0 - 2 8 3 , 1 ; EcclT IV, 2 2 0 , 6 - 9 ) , denn Leiblichkeit ohne Erbsünde ist für Didymus nicht denkbar (c. Man., PG 3 9 , 1 0 9 6 BC). Auf dem Wege zur Vollkommenheit kann auch der Heilige noch fortschreiten, indem er seine Körperlichkeit immer mehr zurückdrängt (GenT II, 2 1 3 , 5 - 8 ) . 3.5. Die Entscheidung zur —>Sünde steht dem Menschen frei, nachdem er sie einmal erkannt hat (EcclT IV, 226,13 ff). Didymus unterscheidet zwischen der Erbsünde, die jedem Menschen aufgrund seiner Leiblichkeit anhaftet (EcclT IV, 229,19) und der vorgeburtlichen Sünde, die die Seelen durch den Abfall von Gott auf sich geladen haben. Der Abfall von Gott ist eigentlich das Böse, denn das Böse ist nicht von Anfang an böse, sondern durch die Abkehr vom Guten böse geworden (HiT, I, 9 - 2 2 m. Anm. 7; EcclT II, 88,9ff; Z a T III, 309,21 ff).

Didymus von Alexandrien 4.

745

Nachwirkung

Didymus hat in erster Linie auf seine direkten Schüler gewirkt. V o n Hieronymus, Rufin, Cassiodor und Epiphanius wurden seine Werke übersetzt. Im Osten konnten sie nur in origenistischen Kreisen im Untergrund bewahrt werden. Der Forschung bleiben noch viele Aufgaben: Die PG-Edition ist unzulänglich und unvollständig; eine gründliche Durchforstung und (Neu-) Edition der Katenenfragmente wäre für noch viele Werke wünschenswert. Eine Untersuchung über die Bekämpfung der verschiedenen Häresien der Zeit würde sicherlich unser Bild von den Glaubenskämpfen im 4. Jh. vervollständigen helfen. Bis auf die Christologie und die alexandrinische allegorische Exegese ist das Lehrgebäude des Didymus noch kaum untersucht; nach der endgültigen Publikation der Tura-Kommentare steht dem nichts mehr im Wege. Quellen CPG II, N r . 2 5 4 4 - 2 5 7 3 (Lit.). Exegetische Schriften. Katenen: Robert Devreesse, Les anciens comm. grecs de l'octateuque et des rois, Vatikan 1959. — Ders., Les anciens commentateurs grecs des psaumes, ebd. 1970. - Michael Faulhaber, Hohelied-, Proverbien- u. Predigerkatenen, 1902 (ThSLG 4). - Ders., Die Propheten-Catenen nach röm. Hss., 1899 (BSt[F] 4 / 2 - 3 ) . - Marguerita Harl, La Chaîne palestinienne sur le psaume 118. Origène, Eusèbe, Didyme, Apollinaire, Athanase, Théodoret, 2 Bde., 1972 (SC 189; 190). - Georg Karo/Hans Lietzmann, Catenarum Graecarum Catalogus: NGG 1902, 1 - 6 6 . 2 9 9 - 3 5 0 . 5 5 9 - 6 2 0 . Sandro Leanza, Procopii Gazaei Catena in Ecclesiasten, 1978 (CChr 4). — Ekkehart Mühlenberg, Psalmenkomm. aus der Katenenüberlieferung, 3 Bde., 1 9 7 5 - 1 9 7 8 (PTS 15; 16; 19). - F.Petit, Catenae Graecae in Genesin et in Exodum. I. Catena Sinaitica, 1977 (CChr 2); auch PG 33 (1587-1616 = 39, 1400-1473); 39. - Joseph Reuss, Johanneskomm, aus der griech. Kirche aus Katenenhss. gesammelt: TU 89 (1966) 1 7 7 - 1 8 6 . - Marcel Richard, Le comm. du codex Marcianus Gr.23 sur Prov. XXX, 1 5 - 3 3 : ders., Op. minora, Turnhout, III 1977, Nr. 84. - Karl Staab, Die griech. Katcnenkomm. zu den kath. Briefen: Bib. 5 (1924) 2 9 6 - 3 5 3 . - D e r s . , Pauluskomm, aus der griech. Kirche aus Katenenhss. gesammelt, 1933 (NTA 15) 5 7 - 8 3 . - F r i e d r i c h Zoepfl, Didymi Alexandrini in epistulascanónicas brevis enarratio, Diss. Münster 1914. -Tura-Papyri (alle Texte sind mit französischer bzw. deutscher Ubersetzung sowie Anmerkungen versehen) : GenT: Didyme l'Aveugle, Sur la Genèse, ed. P. Nautin/L. Doutreleau, 2 Bde., 1976/78 (SC 233; 2 4 4 ) . - H i T : Didymus der Blinde, Komm, zu Hiob. I. Kap. 1 - 4 , ed. A.Henrichs, 1968 (PTA 1); II. Kap. 5 , 1 - 6 , 2 8 , ed. ders., 1968 (PTA 2); III. Kap. 7 , 2 0 c - 1 1 , ed. U. Hagedorn/D. Hagedorn/L. Koenen, 1968 (PTA 3). —EcclT: Didymos der Blinde, Komm, zum Ekklesiastes. 1/1. Kap. 1,1-2,14, ed. G.Binder/L. Liesenborghs, 1979 (PTA 25); 1/2. Erl., ed. G.Binder, 1980 (PTA 26) (in Vorher.); II. Kap. 3 - 4 , 1 2 , ed. M. Gronewald, 1977 (PTA 22); III. Kap. 5 u. 6, ed. L.Koenen/J.Kramer, 1970 (PTA 13); IV. Kap. 7 - 8 , 1 8 , ed. J. Kramer/B.Krebber, 1972 (PTA 16); V.Kap. 9,8-10,20, ed. G.Binder/M.Gronewald, 1979 (PTA 24); VI. Kap. 1 1 - 1 2 , ed. L.Koenen/G. Binder/L. Liesenborghs, 1969 (PTA 9).-PsT: Didymos der Blinde, Psalmenkomm. I. Ps 2 0 - 2 1 , ed. L. Doutreleau/A. Gesché/M. Gronewald, 1969 (PTA 7); II. Ps 2 2 - 2 6 , 1 0 , ed. M. Gronewald, 1968 (PTA 4); III.Ps 2 9 - 3 4 , ed. A. Gesché/M.Gronewald, 1969 (PTA 8); IV. Ps 3 5 - 3 9 , ed. ders., 1969 (PTA 6); V. Ps 4 0 - 4 4 , 4 , ed. ders., 1970 (PTA 12). - Der Psalmenkomm. v. Tura, Quaternio IX (Pap.Colon.Theol. 1), ed. A.Kehl, 1964 (Papyrologica Coloniensia 1 = PTA 8). - ZaT: Didyme l'Aveugle, Sur Zacharie, ed. L.Doutreleau, 1962 (SC 8 3 - 8 5 ) . - P r T : Protokoll eines Dialogs zw. Didymos dem Blinden u. einem Ketzer, ed. B.Krämer: ZPE 32 (1978) 2 0 1 - 2 1 1 . Dogmatische Schriften: Fragment inédit de Didyme l'Aveugle en trad. latine ancienne, ed. M. Bogaert: RBen 73 (1963) 9 - 1 6 . - Apollinarii Laodiceni antirrheticus contra Eunomium, ed. J. Dräseke: TU 7 / 3 - 4 (1892) 2 0 5 - 2 5 1 . - Didymus der Blinde, De trinitate, 2 Bde., ed. J. Hönscheid/I. Seiler, Meisenheim 1975/74.-GregoriiNysseni Op. III. op. minora, ed. F. Müller, Leiden, 1 1 9 5 8 , 7 1 - 8 5 . - P G 39 (vgl. ebd. 1 0 3 3 - 1 0 8 6 = PL 23,103-154); 2 9 , 6 7 1 - 7 7 4 ; 4 5 , 1 2 8 1 - 1 3 0 2 . Literatur Bertold Altaner, Augustinus u. Didymus der Blinde: VigChr 5(1951) 1 1 6 - 1 2 0 = ders., Kl. patristischeSchr., 1967 (TU 83) 2 9 7 - 3 0 1 . - D e r s . , Wer ist der Verf. des Tractatus in Isaiam VI, 1 - 7 ? : ThRv 42 (1943) 1 4 7 - 1 5 1 = ders., a.a.O. 4 8 3 - 4 8 8 . - Ders., Patrologie, neu bearb. v. 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Didymus von Alexandrien

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770

Dionysius von Alexandrien

Als philologisch geschulter Exeget, der sich dem Wortsinn der Bibel verpflichtet weiß, tritt uns Dionysius weniger in dem bis auf wenige Bruchstücke verlorenen Kommentar zum Ekklesiastes entgegen als vielmehr in den Briefen an Basilides (außer Feltoe vgl. Conybeare: JThS 1914), in denen der Zeitpunkt der Auferstehung Jesu bzw. das Problem der drei Tage zwischen Tod und Auferstehung Jesu behandelt werden. Aufschlußreich ist auch die bereits erwähnte Untersuchung der Verfasserfrage zur Apokalypse des Johannes in der Schrift Über die Verheißungen (Euseb, h.e. VII,24-25). Exegetisch, aber auch christologisch bemerkenswert sind die Ausführungen in der Schrift Über das Martyrium. An Orígenes (vgl. Feltoe 231—241.245—248), die sich anscheinend kritisch mit Orígenes, mart. 29 auseinandersetzen (Bienert, PTS 21, 125—131). — Besondere philosophische Bildung verrät die Abhandlung Über die Natur (Feltoe 1 3 1 - 1 6 3 ) . Sie ist die älteste und zugleich ausführlichste Auseinandersetzung mit dem Materialismus und der Atomenlehre Demokrits und Epikurs vom christlichen Standpunkt aus. Dionysius hat sie seinem Sohn Timotheus gewidmet (Euseb, h.e. VII,26,3; vgl. Roch 2 3 - 2 5 ; Feltoe 2 5 4 - 2 5 6 ) . - D i e theologisch bedeutsamste Abhandlung des Dionysius sind seine vier Bücher Widerlegung und Verteidigung an Dionysius von Rom (Feltoe 176— 198 mit Fragmenten aus Euseb, Athanasius und Basilius). — Darüber hinaus existieren noch eine Reihe kleinerer Fragmente, deren Zuweisung nicht immer leicht ist, die aber von dem vielfältigen Wirken des Dionysius Zeugnis geben. 3.

Nachwirkung

Dionysius' Einfluß auf die weitere Entwicklung der Kirche ist größer als die fragmentarische Überlieferung seines Werkes vermuten läßt. Vor allem die alexandrinisch-bischöfliche Tradition hat er nachhaltig geprägt. Systematisch baute er die Führung der alexandrinischen Kirche in Ägypten und Libyen weiter aus und verschaffte ihr so eine gewichtige Stimme in der Gesamtkirche. Als unermüdlicher Vermittler, bereit zu Kompromissen in kirchlichen und theologischen Streitfragen, schuf er wichtige Voraussetzungen auf dem Weg zur späteren Reichskirche, insbesondere durch seinen engen Kontakt mit Rom. Man hat ihn später einenxavovixóg genannt (Basilius, ep. 188, can. 1), einen in kirchlichen Rechtsfragen kundigen Mann. Darin wird etwas sichtbar von seinem Einfluß auf die Entwicklung der kirchlichen Ordnung, wie sie sich u. a. im Aufstellen eines achtjährigen Osterzyklus zeigt (Euseb, h.e. VII,20; vgl. Richard: Muséon 1974). Auch für die Festigung des neutestamentlichen Kanons hat Dionysius einen wichtigen Beitrag geleistet. Das Ergebnis seiner philologisch-kritischen Untersuchung der johanneischen Schriften ist bis heute nicht überholt, sondern eröffnet griechisch-orthodoxen Theologen in unserer Zeit den Zugang zur historisch-kritischen Bibelexegese (vgl. St.G.Papadopulos). Gelitten hat sein weiteres Ansehen durch seine Stellungnahme im Streit mit dem libyschen Sabellianismus (—»Jesus Christus). Denn im 4. Jh. beriefen sich arianische Theologen auf seine früheren Äußerungen und brachten ihn in den Verdacht, Stammvater der arianischen Häresie zu sein. Als „Quelle des Arius" bezeichnet ihn Gennadius gegen Ende des 5. Jh. (Turner 90). Die Verteidigungsschrift des Athanasius - De sententia Dionysii (Opitz 46—67) — hat daran nicht viel ändern können. Nachgewirkt hat das Urteil des —>Basilius. Er vergleicht Dionysius mit einem ungeschickten Gärtner, „der einen jungen Baum aus einer krummen in eine gerade Richtung bringen will, dann aber durch übermäßigen Gegendruck die Mitte verfehlt" (ep.9,2). In der neueren Kirchen- und Dogmengeschichte werden das bischöfliche Wirken des Dionysius und seine Bemühungen um das Gesamtwohl der Kirche gewürdigt, theologisch erscheint er jedoch häufig als wenig begabter Schüler des Orígenes. Erst die durch einen Neufund (Bienert: Kl.5) deutlicher als bisher sichtbar gewordenen Differenzen zu seinem ehemaligen Lehrer lassen verstärkt die Frage nach seiner theologischen Eigenart aufkommen. Dabei ist auffallend, wie sehr Dionysius älteren apologetischen Traditionen verpflichtet ist (Lorenz 94 ff; vgl. auch Orbe 617ff).

Dionysius von Alexandrien

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Dionysius Areopagita

772 Dionysius Areopagita 1. Datierung und Identität

2. Werk und Lehre

3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S.778)

1. Datierung und Identität D e r Autor des Corpus Dionysiacum bleibt anonym. Die moderne Forschung hat gezeigt, daß die Gruppe vorgeblicher Schriften des Konvertiten und nachmaligen Anhängers des Paulus (Act 1 7 , 1 7 — 3 4 ) frühestens gegen Ende des 5 . J h . verfaßt sein k a n n ; ihre Abhängigkeit v o m späteren Neuplatonismus (—»Plato/Platonismus), wie er vornehmlich in der Athenischen Schule von Syrianus und dessen Schüler —»Proclus vertreten wurde, ist evident. Neben der seit langem bekannten inhaltlichen Abhängigkeit der Behandlung des Bösen in d. n. 4 , 1 8 - 3 5 von Proclus' W e r k D e malorum subsistentia ( K o c h ; Stiglmayr: H J 1 6 , 2 5 3 . 7 2 1 ) ist in jüngerer Z e i t plausibel gemacht worden (Corsini, P F L U T 1 3 / 4 , 7 5 — 1 6 5 ) , d a ß Dionysius die syrianische Interpretation des Parmenides (zu dessen Verwendung bei Dionysius vgl. Ivanka, Plato Christianus 2 2 8 ) voraussetzt und modifiziert hat: W ä h r e n d bei Syrianus die negativen Aussagen der ersten Hypothese des Parmenides auf das Eine, die positiven der zweiten Hypothese auf eine Reihe von Hypostasen bezogen werden, verbindet Dionysius in De divinis nominibus auf spezifische Weise beide Hypothesen mit dem Urprinzip, so daß die positiven Prädikate zu einer nicht-untergeordneten Reihe göttlicher Attribute oder „ N a m e n " werden. —Begriffliche Beziehungen zwischen Dionysius und der Athener neuplatonischen Schule (Saffrey; Theiler) bedürfen noch genauerer Untersuchung. Wenn heute z. B. feststeht, daß die Lehre von den göttlichen Henaden für Syrianus kennzeichnend ist und hauptsächlich von Proclus verbreitet wurde (Proclus, Théologie platonicienne 3, ed. H. D. Saffrey/L.G. Westerink, Paris 1978, I X - L X X V I I ) , muß der Gebrauch des Ausdrucks évâç im Corpus Dionysiacum auf diese beiden Denker zurückgehen (so Sheldon-Williams [StPatr 11] in seiner Diskussion der Identifizierung von Engeln mit Henaden bei Dionysius). Andere neuere Forschungen haben sowohl hinsichtlich der Systematik (Brons, F K D G 2 8 ; Gersh, S P G A P 8 ; K o c h ; R o q u e s , T h e o l [ P ] 2 9 ; V a n n e s t e , Mystère) als auch der literarischen Form (Koch 1 0 — 6 2 ) Parallelen zwischen dem Corpus Dionysiacum und dem späteren Neuplatonismus insgesamt festgestellt. Abgesehen von Syrianus und Proclus ist ein Einfluß bestimmter neuplatonischer D e n k e r schwer auszumachen, o b s c h o n man Gründe dafür genannt hat, d a ß Damascius, das letzte Athener Schulhaupt, den dionysianischen Begriff des unfaßlichen und unaussprechlichen Urprinzips mitgeprägt hat (Grondijs: B A G B 1 8 ; H a thaway 1 8 — 2 0 ; Rist: FS M e e k 1 3 4 ) . Auch der Einfluß des christlichen Piatonismus, vornehmlich der des —»Gregor von Nyssa, ist offenkundig: Wahrscheinlich stammen einige charakteristische platonische T h e m e n aus dieser Quelle. Vor allem Völker hat Gregors Lehre vom Bösen, von den Stufen des spirituellen Lebens und der Nachahmung Christi mit Gedanken des Dionysius in Verbindung gebracht (vgl. aber Roques, Structures 226); die mystischen Begriffe wie „Ekstase" und „göttliches Dunkel" sind auf alexandrinische und kappadokische Autoren zurückgeführt worden (Puech); und man hat auf eine ununterbrochene Tradition negativer Theologie seit —»Clemens von Alexandrien hingewiesen, deren Erbe das Corpus Dionysiacum ist (Lossky: RSPhTh 28). Doch leidet eine Quellenforschung nach der Art Völkers an der grundlegenden Schwäche, daß sie dem Einfluß Gregors zuschreibt, was oft nichts anderes als platonischer Gemeinplatz ist (s. Hornus: RHPhR 41, 69), und dadurch die Eigenständigkeit des Dionysius verdunkelt. Auch kann man das charakteristische, spät-neuplatonische Rahmenwerk von Hierarchien, triadischen Strukturen, Henaden, Schemata des intelligiblen und intelligenten Seins nicht einfach weginterpretieren, um Dionysius nahtloser in eine christlich-platonische Tradition einzufügen. Die neuplatonischen Elemente im Corpus Dionysiacum legen somit für seine Abfassungszeit das späte 5 . oder frühe 6 . J h . nahe. D e r terminus ante quem bestätigt diese Ansetzung: Die frühesten datierbaren Zitate finden sich bei dem monophysitischen Patriarchen —»Severus von Antiochien 5 1 0 bzw. 5 1 8 / 2 8 (zu diesen Jahreszahlen vgl. R o q u e s : D S p 3 , 2 4 9 ) . D a n a c h spielten die dionysianischen Schriften in dem monophysitisch-chalcedonensischen (—»Chalkedon, —»Monophysiten) Gespräch von—>Konstantinopel ( 5 3 3 ) eine R o l l e , w o ihre O r t h o d o x i e und Echtheit von Hypatius von Ephesus in Zweifel gezogen wurden

Dionysius Areopagita

773

(Roques: ebd. 247 f). — Andere, liturgische und theologische Details, die für die Datierung herangezogen wurden, sind weniger zuverlässig, als bisweilen angenommen: So hat Stiglmayr (Aufkommen 3 9 - 4 5 ) mit seiner These, daß die Christologie des Corpus Dionysiacum (s. u. Abschn. 2.2) nach-chalcedonensisch und daß insbesondere seine Tendenz, kontroverse Begrifflichkeit zu vermeiden, von der irenischen Zielsetzung des Henotikon Kaiser Zenos (482) beeinflußt sei, weithin Anklang gefunden. Es ist zwar die ausgesprochene Absicht des Dionysius, Polemik zu vermeiden (ep. 6,1077 A; 7, 1077 C - 1 0 8 0 A), doch beweist der Verzicht auf mono- oder diophysitische Begriffe nicht eo ipso den Einfluß des Henotikon, dessen Terminologie im übrigen bei Dionysius fehlt (zu berücksichtigen ist allerdings, daß der Gebrauch leicht identifizierbarer Ausdrücke die Absichten des Fälschers vereitelt hätte). In der Tat berufen sich die streitenden Parteien des frühen 6. Jh., ob Monophysiten oder Orthodoxe, beide auf die Autorität der dionysianischen Schriften (J.Leroy: DSp 3,300); die Form der damaligen Kontroverse läßt allerdings vermuten, Dionysius sei ein gemäßigter Monophysit gewesen, dessen erfolgreiche Fälschung die chalcedonensischen Theologen nötigte, die Rechtgläubigkeit seines Textes zu verteidigen. — Etwas überzeugender ist die zweite These Stiglmayrs (Aufkommen 3 4 - 3 9 ) , daß die liturgische Gestalt der Messe in e.h. 3 die Einführung des Credos in die Messe durch Petrus Fullo (476) voraussetzt (s.a. Boularand: BLE 59, 1 4 6 - 1 5 2 ; Corsini: AAST 93, 11; Hornus: RHPhR 41, 49 Anm. 151). Die Untersuchung der —»Liturgie des Corpus Dionysiacum ist einer der fruchtbarsten Wege zur Bestimmung von dessen Umwelt und Absichten. Sie gehört immer noch zu den am meisten vernachlässigten Gebieten der Dionysius-Forschung, obwohl „der liturgische Bereich wahrscheinlich der einzige ist, in dem Dionysius und seine Begrifflichkeit ihre Eigenständigkeit und Bedeutung in der byzantinischen Welt behauptet haben" (Meyendorff 110). Boularand hat gezeigt, daß die Merkmale der Eucharistiefeier (—> Abendmahlsfeier) in e.h. 3 dem syrischen Ritus (nicht dem alexandrinischen — so überzeugend gegen Schepens; s. Hornus: RHPhR 41, 4 9 - 5 6 ) entsprechen, wie er vom 4. Jh. an bekannt ist: Einzelne Lücken (z. B. Trishagion, Anamnese, Epiklese und Vaterunser) erklären sich hauptsächlich aus dem Ziel dogmatischer Konzentration, da Dionysius keine liturgische Gesamtdarstellung geben, sondern dem Eingeweihten mit faßlichen platonischen Begriffen die Bedeutung des Ritus erläutern will. Auch Roques findet Ähnlichkeiten mit syrischen Gebräuchen des 4. und 5. Jh. (Theol[P] 29, Kap. 8), wobei er die Ansichten des Dionysius über die Taufe (e.h. 2) besonders zu —»Cyrillus von Jerusalem, —»Theodor von Mopsuestia und —»Johannes Chrysostomus in Beziehung bringt (Iren. 31). Versuche, Dionysius mit einer bekannten historischen Gestalt zu identifizieren, sind erfolglos geblieben (Verzeichnis und bibliographischer Nachweis der wichtigsten Hypothesen [nicht weniger als 22] bei Hathaway 3 1 - 3 5 ) . Die meisten Vorschläge können als widerlegt gelten (Hornus; Roques: DSp 3,249—257); nur zwei beanspruchen einige Plausibilität. (1) Von Balthasar hat Scholien, in denen die Orthodoxie des Dionysius verteidigt wird und die lange —»Maximus Confessor zugeschrieben wurden (PG 4 , 1 4 - 4 3 2 . 5 2 7 - 5 7 6 ) , aufgrund einer syrischen Ubersetzung als Werk des Johannes von Scythopolis (frühes 6. Jh.) erwiesen. Er hält es für möglich (38), daß Johannes zu dem Kreis um Dionysius zählte und vielleicht sogar von der Unechtheit der Schriften wußte (PG 4,264 BC). Hornus vermutete eine Zeitlang in Johannes selbst den Verfasser (RHPhR 3 5 , 4 4 6 f; vgl. aber ebd. 4 1 , 3 7 ) , was nicht zu belegen ist und die unwahrscheinliche Annahme impliziert, ein Autor, und gar der einer Fälschung, sei sein eigener Kommentator gewesen. Dennoch bleibt wahr, daß keine der beiden Hauptaussagen des Johannes daß Dionysius, alles andere als ein Häretiker, vielmehr als eine Reihe von Angriffen gegen aktuelle Häresien gelesen werden könne; und daß sein Piatonismus sowohl in sich selbst schlüssig sei als auch auf aristotelischen und früheren platonischen Traditionen aufbaue (Sheldon-Williams: Cambridge History 473 —477) - den Zielen des Corpus Dionysiacum widerspricht. (2) Die andere noch immer verteidigte These stammt von Riedinger, der Dionysius mit Petrus Fullo gleichsetzt. Dagegen sind von Corsini (AAST 93,8 ff) und Hornus (RHPhR 41, 5 6 - 6 4 ) ernsthafte Einwände vorgebracht worden, auf die Riedinger in seiner jüngsten Darstellung (TRE 2) jedoch nicht eingeht. Liturgische Ähnlichkeiten (eines der einleuchtenderen Argumente Riedingers), wie z. B. die öffentliche Myrrhenweihe und die Epiklese über dem Taufwasser, beweisen lediglich eine wahrscheinliche Gleichzeitigkeit der verglichenen Quellen und einen gemeinsamen syrischen oder konstantinopolitanischen Hintergrund. Dennoch ist Riedingers These ein nützlicher Beitrag zur Bestimmung der Umwelt der dionysianischen Schriften, und sein

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Vergleich der Dialoge des Pseudo-Caesarius (s. TRE 2,15 ff) mit dem Corpus Dionysiacum Ziele und Methoden des apokryphen Schrifttums jener Zeit.

2. Werk und

verdeutlicht

Lehre

2.1. Corpus Dionysiacum. Es besteht allgemeine Ubereinstimmung, daß die 4 Abhandlungen und 10 Briefe des Corpus Dionysiacum einen gemeinsamen Verfasser haben. Es handelt sich um folgende Abhandlungen: De caelesti hierarchia (e.h.), eine Darstellung der triadisch und hierarchisch geordneten Engelwelt von ausschließlich intelligiblem Wesen (—»Engel). Diese vermittelt zwischen Gott und den Menschen. — De divinis nominibus (d.n.), eine Untersuchung über die in der Bibel oder in philosophischen Schriften vorkommenden göttlichen Attribute. —De ecclesiastica hierarchia (e.h.), eine Deutung der Funktionen der kirchlichen Ämter und Stände sowie der Sakramente im Hinblick auf die in De caelesti hierarchia entwickelten Vorstellungen. — De mystica theologia (myst.), eine Untersuchung des transzendenten göttlichen „Dunkels", das sich menschlicher Erkenntnis entzieht, und der Möglichkeit der mystischen Vereinigung des Menschen mit dem Göttlichen. - Diese Werke sind von späteren unter dem Namen des Areopagiten überlieferten Schriften zu trennen (Bibliographie von Editionen der letzteren bei Roques: DSp 3,257). Dionysius bezieht sich im übrigen auf andere, uns völlig unbekannte Werke, die wahrscheinlich nie existiert haben: Vermutlich gehört es zu den Kunstgriffen des Fälschers, den Eindruck eines umfassenden Schrifttums zu vermitteln, an dessen Lehren das Corpus Dionysiacum anknüpft (Roques: ebd. 2 5 9 - 2 6 2 ) . Die im 19. Jh. aufgestellte Hypothese, Teile des Corpus Dionysiacum seien spätere Interpolationen, ist von Brons wiederbelebt worden (NAWG.PH), dessen Analyse von d.n. 6 8 1 A - 6 8 4 D , e.h. 552C—565 B und ep. 6; 7,1—3; 8,1—6; 9,2—6; 10 unter sprachlichen, literarischen und liturgischen Aspekten ernste Zweifel an der von anderen behaupteten Einheit des Corpus begründet (vgl. etwa Hathaway 82; allg. 6 1 - 8 3 ) . Es ist wahrscheinlich, daß einer oder mehrere Interpolatoren versucht haben, die areopagitische Fiktion zu verstärken und eine größere „Verkirchlichung" des Corpus Dionysiacum zu erreichen (Brons, NAWG.PH 42).

2.2. Theologie. Der Gottesbegriff des Dionysius ist ein gutes Beispiel für seine Modifizierung neuplatonischer Lehren. —»Gott ist vollkommenes Selbstsein, weil er ewig unveränderlich ist (d.n. 912BC), und zeigt zugleich ein Anderssein in seiner nach außen gerichteten schöpferischen Aktivität (zum philosophischen Hintergrund dieser Gedanken vgl. Beierwaltes 166ff). Aber Gottes schöpferisches Hervorgehen gründet in seinem Selbstsein, so daß er paradoxerweise beides ist, Stabilität und Bewegung (z.B. d.n. 825B). Sein Hervorgehen ist eine Offenbarung, eine Differenzierung seines Wesens (die —»Trinität [d.n. 652 A] ist eine innere, die —»Schöpfung eine äußere Differenzierung), die seine Einheit nicht in Frage stellt. Gott ist jenseits des Seins (xmegovoioq; s. Corsini: AAST 93, 5 0 - 5 3 ) und unsagbar; gleichzeitig aber sind seine Differenzierungen, die göttlichen Attribute (in denen er ganz und unteilbar gegenwärtig ist) oder „Namen", Offenbarungen seiner Erkennbarkeit (d.n. 640 f; s. Lossky: RSPhTh 28, 207). Gott ist alleiniger Schöpfer: die hierarchischen Ordnungen (—»Engel) dienen lediglich der Vermittlung seiner einzigartigen Schöpferkraft (d.n. 816BC). — Nach manchen Forschern bringen die dionysianischen Modifizierungen des Neuplatonismus nichts ein (vgl. Brons, FKDG 28, 327). Es kann, wie Beierwaltes (194) zeigt, nicht zweifelhaft sein, daß es zur Wahrung des christlichen Verständnisses von Gott als Trinität, Einheit, Logos und Schöpfer geschieht, wenn Dionysius seinen paradoxen Gottesbegriff als Sein jenseits des Seins entwickelt. Freilich beschränkt sich das trinitarische Denken des Dionysius weithin, die Trias als einen göttlichen „Namen" unter anderen zu nennen (s. c. h. 2 1 2 C ; d.n. 645 BC; e.h. 373 CD). Er wahrt den christlichen Trinitätsglauben, ohne gleichzeitig, wenn auch innerhalb der durch die Metaphysik des Proklus gezogenen Grenzen, von der Trinität in differenzierteren! Sinne Rechenschaft zu geben. Nichtsdestoweniger vermeidet ein solches Paradox die mit jedem platonischen System verbundene Doppelgefahr des Pantheismus bzw. des Emanationismus (Meyendorff 97). Der Ungenauigkeit seiner Christologie (—»Jesus Christus) verdankt es Dionysius, daß er

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einerseits von den Monophysiten beansprucht, andererseits von Orthodoxen verteidigt wurde. Diese Ungenauigkeit mag entweder aus den irenischen, unpolemischen Absichten des Autors resultieren oder aber aus der bloßen Schwierigkeit, das Inkarnationsgeschehen in neuplatonische Begriffe zu fassen. Für Dionysius ist Christus wahrer Gott (d.n. 592 A.953 A) und wahrer Mensch (e.h. 4 4 1 A ; ep. 4,1072 A - C ) ; seine Wirksamkeit wird, um ihre Einzigartigkeit auszudrücken, mit dem (neuplatonischen, vgl. Saffrey) Neologismus deavôçixôç (ep. 4,1072 C) beschrieben. Doch wird an keiner Stelle die Frage der menschlichen Natur oder der Leiblichkeit Christi erörtert (Roques, TheolfP] 29, 305—313), auch wenn Dionysius unverkennbar die Inkarnation als eine Art Zusammensetzung denkt (d.n. 592A), die der unveränderlichen göttlichen Natur Christi keinen Abbruch tut. Christus geht aus der Einheit des Vaters hervor, aber weder mindert er diese Einheit, noch ist er weniger eines als sie (e.h. 444C): Die Doppelbewegung des Hervorgehens und der Rückkehr ist neuplatonisch, so sehr das undifferenzierte Wesen der Hypostasen dem Piatonismus zuwiderläuft. Aus alledem folgt, daß die göttlichen Attribute voll und ganz auch für Christus gelten. Als Gott erleuchtet er die himmlische, als Mensch ist er das Haupt der menschlichen, kirchlichen Hierarchie (e.h. 372 AB) und in diesem Zusammenhang in seinen Beziehungen zum Vater den Gesetzen der Vermittlung durch die Engelchöre unterworfen (e.h. 181C). Das strenge Vermittlungsprinzip ist Dionysius eigentümlich und charakterisiert seine Christologie. Es schließt die Vorstellung aus, daß jeder Christ direkte Verbindung mit Christus als Menschen habe; diese Verbindung steht vielmehr nur der höchsten menschlich-hierarchischen Stufe kraft ihrer Berufung und Weihe offen. Das mystische Vokabular (—»Mystik) des Corpus Dionysiacum ist traditionell: es hat seine Quellen im Piatonismus, bei —»Philo, im —»Gnostizismus und bei den alexandrinischen und kappadokischen Vätern (Lossky, Essai 2 1 - 4 1 ; Puech; Roques: DSp 2 , 1 8 9 4 - 1 9 1 1 ; Vanneste; Völker). Auch wenn es auf persönliche Erfahrungen hindeuten mag, gibt es sich nicht als persönliches Bekenntnis aus. Es ist auch keineswegs völlig in das metaphysische System des Dionysius integriert. Positive (kataphatische) und negative (apophatische) Theologie stehen, Hervorgehen und Rückkehr entsprechend, nebeneinander, aber letztere sollte nicht mit mystischer Theologie gleichgesetzt werden: Wie Lossky zeigt (RSPhTh 28, 219), wird auf dem negativen Weg die Einheit mit den göttlichen Wirkkräften erlangt, während Ekstase zur Vereinigung mit dem göttlichen Wesen führt. Gleichwohl wird mystische Erfahrung in der Sprache negativer Theologie beschrieben: Diese ist die notwendige Vorbereitung jener, und Verneinung die engste Annäherung an die nicht mehr mitteilbare Erfahrung einer intuitiven Schau (d.n. 648 B; myst. 1033 BC). Gott ist, in diesem Kontext, gänzlich unerkennbar (myst. 1001A; ep. 1). Um eine die Begrenztheit der menschlichen Seele selbst in der mystischen Vereinigung überschreitende göttliche Transzendenz zu umschreiben, gebraucht Dionysius den Begriff des „Dunkels" (yvôçoç oder OXÔTOÇ; vgl. Puech 3 6 - 4 2 ) . Mystisches Dunkel bezeichnet zugleich Gottes wesensmäßige Unerkennbarkeit und menschliches Nichtwissen. Dionysius freilich verwendet diesen Begriff, der mit seinen Assoziationen in der Schrift wurzelt und zu einem traditionellen, von Philo bis Gregor von Nyssa nachweisbaren Vokabular gehört (ebd. 4 6 - 5 2 ) , nur sparsam und verzichtet darauf, sein Verständnis vom Wesen der mystischen Vereinigung zu erläutern. Für Vanneste ist sie weniger eine Erfahrung der Vereinigung mit Gott als eine verstandesmäßige Intuition von Gottes Jenseitigkeit und Anderssein, die im Bereich des intellektuell Möglichen liegt und einem Extremzustand negativer Abstraktion entspricht (Mystère 2 0 4 - 2 0 9 . 2 1 7 . 2 2 2 ) . Er stellt in Abrede (ebd. 212.214ff), daß der Impuls göttlicher Liebe notwendig sei, um die letzte Stufe mystischer Schau zu erreichen (vgl. dagegen Roques: RAC 3,1116f). Doch betont Dionysius immer wieder, daß die mystische Vereinigung tatsächlich jedes Verstehen überschreitet, daß sie einen „Bruch" in den organischen Beziehungen der intelligiblen Welt bedeutet und nur im Nichtwissen erlangt wird (d.n. 592.872 AB; myst. 1001A). Damit hebt er sich stärker von platonischen und gnostischen Traditionen ab, als gemeinhin angenommen wird, insofern diese, wenn auch nur implizit, die mystische Transzendenz normaler Verstandestätigkeit mit der Natur des Geistes in seinem reinsten und höchsten Zustand zusammenbringen.

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Die —>Bibel ist für Dionysius zugleich ein vollkommener Text, der in keiner Weise angetastet werden darf (d.n. 640 AB), und ein geheimnisvoller Text, der nur mit Hilfe der —»Gnade, kraft der Heiligkeit des Interpreten, und durch die in der kirchlichen Tradition geübte Auslegung zu verstehen ist (e. h. 376BC). Dionysius begreift diese Tradition als direkte, von Geist zu Geist geschehende Übertragung des lebendigen Gotteswortes durch die priesterliche Hierarchie an die Gläubigen: Sie ist, wie es auch bei der Schrift der Fall ist, durch den konservativen Charakter des Vorganges geschützt, der durch die Heiligkeit des Übermittlers und durch eine esoterische Haltung gegenüber Außenstehenden gewährleistet wird (e.h. 372A). Derselbe Gedanke esoterischer Einweihung in Mysterien durch Zwischeninstanzen und Symbole liegt der dionysianischen Einstellung zu den Sakramenten und der Liturgie zugrunde (e.h. 376 Df). Die -^Sakramente vermitteln in verschiedenen Graden Reinigung, Erleuchtung und Vollkommenheit durch das Handeln würdiger Diener (e.h. 503 AC). Dionysius paßt hier sein übliches Schema hierarchischer Vermittlungen an die Lehren der Kirche von der bischöflichen und priesterlichen Vollmacht an. Was indessen vermittelt wird, ist hauptsächlich eine Form von Gnosis, auf deren symbolischen Gehalt es eigentlich ankommt. Selbst die Eucharistie (e.h. 3) (—»Abendmahl), die in erster Linie das Sakrament der a v v a ^ i g und der Gemeinde darstellt, wird (nach M e y e n d o r f f 1 0 5 ) als ein Abbild intelligibler Realitäten verstanden (e.h. 4 2 8 AC). Ebenso wird das Untertauchen bei der —»Taufe als Nachahmung des T o d e s Christi angesehen (e.h. 3 9 6 B . 4 0 4 A). Auch die Taufe ermöglicht durch Erleuchtung den Ubergang in das intelligible Universum: Heiligkeit und Wissen des Einzelnen sind unlösbar miteinander verknüpft. Gleichfalls als Individuen werden Glieder des Episkopats in die Hierarchie kooptiert (e. h. 3 7 3 C . 5 1 3 C). Dionysius zeigt durchweg einen wenig entwickelten Sinn für die Kirchengemeinschaft - vielleicht eine weitere Folge, o b absichtlich oder nicht, der künstlichen und vorgefaßten neuplatonischen Struktur seiner Hierarchien (zu den Sakramenten s. bes. Roques, Theol [P] 2 9 , 2 4 6 - 2 9 4 ) .

evaxjig

3.

Nachwirkung

3.1. Der Osten. Der Einfluß des Dionysius (dazu umfassend, mit Quellen und Bibliographie, DSp 3,286—429) im griechischen Osten (—»Byzanz) sollte nicht überschätzt werden. Er zeigt sich, wo er eine Rolle spielt, eher in theologischer als in eigentlich mystischer Literatur: in den christologischen oder trinitarischen Streitigkeiten sowie in liturgischem und sakramentalem Zusammenhang. Die asketische Tradition war nicht primär literarisch und wird die dionysianischen Spekulationen im allgemeinen kaum annehmbar oder auch nur nützlich gefunden haben. Wo es zu Spekulationen kam, leiten sie sich vornehmlich von den maßstabsetzenden kappadokischen Vätern des 4. Jh. her, und Dionysius hat die größte Resonanz, soweit er sich in diese Tradition einreihen läßt. Im Syrischen dagegen scheint sein Einfluß beträchtlich gewesen zu sein: Sergius von Reshaina (gest. 536) war wahrscheinlich sein erster Übersetzer und begründete ein Interesse, das bis ins 9. Jh. nachweisbar ist. Daneben sind armenische (aus dem 8. Jh.) und arabische Übersetzungen bekannt. Die Legende vom Martyrium des Dionysius und seine Autobiographie waren auf Griechisch und in orientalischen Übersetzungen weit verbreitet (Roques: DSp 3,257); ihr Einfluß wurde möglicherweise durch die bekannte Zugänglichkeit des Corpus Dionysiacum selbst verstärkt (Teilsammlung von Viten und Enkomien: PG 4 , 5 7 7 - 6 1 6 ) . Die frühesten Bezugnahmen auf Dionysius in der griechischen Tradition stehen gewöhnlich in Zusammenhang mit der monophysitisch-orthodoxen Konferenz von Konstantinopel (533). Die Scholien des Johannes von Scythopolis datieren aus dieser Zeit. Trotz der Verwendung des Dionysius durch —»Leontius von Byzanz, besonders in seiner Inkarnationslehre, gibt es wenig Belege für einen Einfluß des Corpus Dionysiacum vor—»Maximus Confessorim 7. Jh. Maximus zitiert Dionysius reichlich; sein 5.Ambiguum (PG 91,1045—1060) ist ein Kommentar zu ep.4, und seine Beschreibung der Ekstase als eines „Bruchs" im Zustand des Menschseins unterscheidet sich von Dionysius nur insoweit, als Maximus in der Ekstase die Endstufe der Vergöttlichung des Individuums sieht. - Im 8. Jh. zitiert —»Johannes von Damaskus ausgiebig aus allen Werken des Dionysius, ausgenommen die Mystische Theolo-

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III

gie\ vor allem seine Theodizee- und Engellehre sind stark von Dionysius abhängig. —»Theodor Studites beruft sich zu einzelnen Punkten in seinen Briefen auf Dionysius, aber sein System zeigt keine wesentlichen dionysianischen Einflüsse, außer in der Darstellung des mönchischen Lebens (PG 99,1524 A), in der die kirchliche Hierarchie des Dionysius ihre Spuren hinterlassen hat. —»Photios nimmt gelegentlich Bezug auf Dionysius und auf Debatten um die Echtheit seiner Schriften (PG 103,44f); sein Schüler —»Arethas von Caesarea meldet Zweifel an der Autorität des Corpus an (A. Wenger: DSp 3,309). In der Suda jedoch wird Dionysius gepriesen und Proclus als sein Schüler betrachtet (II, 106—109, ed. A. Adler). — Im 11. Jh. ist —»Nicetas derjenige Autor, der Dionysius am meisten verdankt, besonders in seiner Angelologie und seiner Psychologie der entkörperlichten Seele. In seiner Lehre von den Beziehungen zwischen der himmlischen und der kirchlichen Hierarchie modifiziert er freilich die dionysianische Auffassung unter dem Einfluß des —»Evagrius Ponticus. — Nach zwei Jahrhunderten ohne nennenswerte Bezeugung erlangt das Corpus Dionysiacum erneute Bedeutung im Palamistenstreit (—»Hesychasmus) des 14. Jh. —»Gregorios Palamas, wenngleich in erster Linie Nachfolger der Kappadokier und des Johannes von Damaskus, zieht es ebenso heran wie seine Anhänger Philotheos Kokkinos, —»Nikolaos Kabasilas und —»Gennadios Scholarios. Aber Dionysius figuriert auch in den Schriften seiner Gegner, so bei Johannes Cyparissiotös, Nikephoras Gregoras und anderen. 3.2. Der Westen. —»Gregor der Große, der sich 579—586 in Konstantinopel aufhielt, zitiert e.h. 7 - 1 4 in seiner 34. Homilie von 593 (PL 7 6 , 1 2 4 6 - 1 2 5 9 ) ; dies ist der früheste Beleg dionysianischen Einflusses im Westen. Auf der —»Lateransynode von 649 wird die Berufung der Monotheleten auf das Corpus Dionysiacum verworfen. Ungefähr zur selben Zeit sah Maximus Confessor einen Kodex der Schriften in Rom (P. Chevallier: DSp 3,319). Es gibt Hinweise, daß sie von den Päpsten des 8. und 9. Jh. kontinuierlich anerkannt und benutzt wurden. Die erste vollständige lateinische Übersetzung stammt von Hilduin (827—835) und wurde später von —»Johannes Scotus Eriugena geringfügig verbessert (852). Grundlegend für die Autorität des Dionysius im Westen wurde jedoch Hilduins Passio S. Dionysii (PL 106,23—50). Zitate aus dem Corpus Dionysiacum vor dem 12. Jh. gehen offenbar nicht auf die Fassung Eriugenas zurück, dessen suspekte Orthodoxie und spätere Verurteilung, zusammen mit den zahlreichen verbleibenden Unklarheiten seiner Übersetzung, deren Verwendung hinderlich gewesen sein dürften. Die erste befriedigende lateinische Übertragung ist die des Johannes Saracenus um die Mitte des 12. Jh. Saracenus benutzte ein Exemplar des Textes von Eriugena mit Glossen aus griechischen Kommentatoren; auf seiner Version beruht der Einfluß von Dionysius' negativer und mystischer Theologie im späteren Mittelalter. Von einem gleichzeitigen Studium der annotierten Ubersetzung Eriugenas in der Schule von —»St. Victor zeugen —»Hugos Kommentare zu De caelesti hierarchia und —»Richards Verarbeitung der dionysianischen Mystik. Während —»Abaelard die Identität von Dionysius mit dem Areopagiten bezweifelt (PL 178,154f), zieht er doch De divina nominibus in derIntroduetio ad Theologiam (ebd. 1062—1064) in seiner Diskussion von Gottes unaussprechlichem Wesen heran. In der zisterziensischen Tradition des 12. Jh. ist der Einfluß des Dionysius auf—»Bernhard von Clairvaux strittig (M.-A. Fracheboud: DSp 3,329—331), nicht aber der auf—»Wilhelm von St.Thierry und Isaac de l'Etoile, die von ihm die negative Theologie, den Begriff des göttlichen Dunkels und das Thema der docta ignorantia übernahmen. Robert—»Grossetestes sorgfältige Übersetzung (1240—1243) und Kommentare zum Corpus Dionysiacum waren besonders in England wirksam, wo —»Wyclif und andere sie benutzten. Vor allem in der Version des Saracenus spielte Dionysius zur selben Zeit bei —»Albertus Magnus und —»Thomas von Aquin eine Rolle, die nicht nur Kommentare zu dem Gesamtwerk bzw. zu De divinis nominibus schrieben, sondern auch viele dionysianische Themen aufgriffen: Albertus etwa die mystische und symbolische Theologie, die Hierarchie der Engel und das Motiv der Theophanien, Thomas die Begriffe von exitus und reditus (letztere freilich durch Eriugena vermittelt; zu anderen dionysianischen Themen und Anklängen bei Thomas vgl. J. Turbessi: DSp 3 , 3 5 3 - 3 5 6 ) . - Dionysius' Einfluß auf Meister -»Eckehart ist durch-

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gängig, aber schwer faßbar. Daß Gott Name und Eigenschaft transzendiert, daß er der Seele als „Dunkel" und „Nichtwissen" gegenwärtig ist, daß die Engel Zwischenwesen sind, die das göttliche Licht direkt an den höheren Teil der menschlichen Seele vermitteln, alles dies ist dionysianisch. Johannes —»Tauler ist in ähnlicher Weise von Dionysius beeinflußt, aber nicht im selben durchdringenden Maße wie ein anderer Mystiker des 14. Jh., —» Jan van Ruysbrock, und der spätere —» Dionysius der Kartäuser. — Im 15. Jh. wurde zum ersten Mal ernsthafte Kritik an der Echtheit des Corpus Dionysiacum geübt, hauptsächlich durch Laurentius —»Valla in seinen Adnotationes zum Neuen Testament (1457), die von —»Erasmus (der mit Valla übereinstimmte) nach vorheriger handschriftlicher Verbreitung 1505 im Druck publiziert wurden. Der englische Humanist William Grocyn machte im London des frühen 16. Jh. ähnliche Zweifel geltend (Tigerstedt 2 9 - 3 1 ) . - Doch gab es neben dieser Kritik auch mächtige Gegenstimmen. —»Nikolaus Cusanus stellte zwar, wahrscheinlich unter dem Einfluß von Valla (ebd. 22), die Echtheit des Corpus in Frage, ist aber gleichwohl weitgehend von der negativen Theologie des Dionysius und von dessen Begriff der Übersubstantialität des Absoluten abhängig (Beierwaltes 196); er regte auch die Übersetzung Ambrogio Traversaris von 1436 an. Am Ende des 15. Jh. übersetzte und kommentierte Marsilio —»Ficino die Mystische Theologie und die Namen Gottes und trat als eifriger Verfechter der Echtheit des Dionysius auf, der zwar der Schüler Piatos, aber der Meister der neuplatonischen Tradition gewesen sei (so schon Cusanus und—»Bessarion). Im Gegensatz hierzu versucht —»Faber Stapulensis in einem Vorwort zur Übersetzung Traversaris (Ausgabe von 1499), Dionysius, den er verehrt, so weit wie möglich von Plato zu trennen (Tigerstedt 26—28). In der Reformationszeit und danach machten —»Luther und andere sich die erasmianische Skepsis zu eigen, während die katholische Tradition das Corpus Dionysiacum verteidigte und benutzte, so vor allem die großen spanischen Mystiker von den —»Franziskanern des 15. Jh. und —»Johannes vom Kreuz bis zur Schule der —»Karmeliter im 17. und 18. Jh. Erst im 19. Jh. wurde der Glaube an die Echtheit des Corpus Dionysiacum durch die philologischen Arbeiten von Stiglmayr und Koch endgültig destruiert. Quellen Editionen: Balthasar Cordier, Antwerpen 1634 = PG 3, 1857. - Eine kritische Edition gibt es nur von Dé caelesti hierarcbia, hg. v. Gunther Heil, 1956 = 1970 (SC 58). - Ein verbesserter Text von De divinis nominibus findet sich in: S. Thomae Aquinatis In librum beati Dionysii De divinis nominibus expositio, hg. v. Ceslao Pera, Rom 1950. - Vgl. insgesamt CPG III, 1979, 2 6 9 - 2 7 7 . Übersetzungen: Vgl. DSp 3 (1954) 263 f. - Spearritt, s.u. 1 7 4 - 1 8 0 . - D i e letzte deutsche Ubersetzung stammt von Walter Tritsch, München/Planegg 1955/56. - Dionysiaca. Receuil donnant l'ensemble des traductions latines des ouvrages attribués au Denys l'Aréopagite, hg. v. Philippe Chevallier, 2 Bde., Paris 1937/50. Indices: Albert van den Daele, Indices ps.-dionysiani, 1941 (RTHP 3/3). - Dionysiaca, s.o. 1585-1660.

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Rist, A note on Eros and Agape in Pseudo-Dionysius: VigChr 2 0 ( 1 9 6 6 ) 2 3 5 - 2 4 3 . - Ders., In search o f the divine Denis: T h e Seed of Wisdom. F S T . J . M e e k , T o r o n t o 1 9 6 4 , 1 1 8 — 1 3 9 . - R e n é Roques, Contemplation, extase et ténèbre chez le Pseudo-Denys: D S p 2 ( 1 9 5 3 ) 1 8 8 5 — 1 9 1 1 . - Ders., L'univers dionysien. Structure hiérarchique du monde selon le Pseudo-Denys, 1 9 5 4 (Theol [P] 2 9 ) . - Ders. u. a., Denys l'Aréopagite (le Pseudo-): DSp 3 ( 1 9 5 4 ) 2 4 4 - 4 2 9 . - Ders., Denys l'Aréopagite. La Hiérarchie Céleste, Introduction, 1 9 5 6 = 1 9 7 0 , v - x c i (SC 5 8 ) . - Ders., Art. Dionysius Areopagita: R A C 3 ( 1 9 5 7 ) 1 0 7 5 - 1 1 2 1 . - Ders., Structures théologiques. De la Gnose à Richard de Saint-Victor, 1 9 6 2 ( B E H E . R 7 2 ) . - Denys Rutledge, Cosmic Theology. 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P a o l o : Aevum 4 2 ( 1 9 6 8 ) 1 - 2 8 . - D e r s . , L a teologia antinomica dello Pseudo-Dionigi: Aevum 4 9 ( 1 9 7 5 ) 1 - 3 5 ; 5 0 ( 1 9 7 6 ) 1 9 5 - 2 3 4 . - Michele Schiavone, A proposito della sesta Epistola dello Pseudo-Dionigi: G M 1 7 ( 1 9 6 2 ) 2 6 0 - 2 7 2 . - Ders., N e o p l a t o n i s m o

780

Dionysius Areopagita

e Cristianismo nello Pseudo-Dionigi, Mailand 1963 (Pubblicazioni dell'Istituto di Filosofia dell'Università di Genova 26). - 1 . P. Sheldon-Williams, The Ecclesiastical Hierarchy of Pseudo-Dionysius: DR 82 (1964) 2 9 3 - 3 0 2 ; 83 (1965) 2 0 - 3 1 . - Ders., The ps.-Dionysius and the holy Hierotheus: StPatr 8 (1966) 1 0 8 - 1 1 7 . - Ders., The pseudo-Dionysius, John of Scythopolis: Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy, Cambridge 1967 2 1 9 7 0 , 4 5 7 - 4 7 7 . - Ders., Henads and angels. Proclus and the ps.-Dionysius: StPatr 11 (1972) 6 5 - 7 1 . - Placid Spearritt, The soul's participation in God according to Pseudo-Dionysius: DR 88 (1970) 3 7 8 - 3 9 2 . - Ders., A philosophical enquiry into Dionysian mysticism, Bösingen 1975 (Lit.) - Josef Stiglmayr, Der Neuplatoniker Proclus als Vorlage des sog. Dionysius Areopagita in der Lehre vom Übel: HJ 16 (1895) 2 5 3 - 2 7 3 . 7 2 1 - 7 4 8 . - Ders., Das Aufkommen der Pseudo-Dionysischen Schriften u. ihr Eindringen in die christl. Lit. bis zum Laterankonzil 649: IV. Jahresbericht des öffentlichen Privatgymnasiums an der Stella Matutina zu Feldkirch, 1895, 3 - 9 6 . - Willy Theiler, Rez. v. A. van den Daele, Indices pseudo-dionysiani (s.o.): ThLZ 69 ( 1944) 71 f. - E. N. Tigerstedt, The Decline and Fall of the Neoplatonic Interpretation of Plato, Helsinki 1974 (Commentationes Humanarum Litterarum 52). - T. Tomasic, Negative Theology and Subjectivity. An approach to the tradition of the Pseudo-Dionysius: IPQ 9 (1969) 4 0 6 - 4 3 0 . - Jean Vanneste, Le Mystère de Dieu. Essai sur la structure rationelle de la doctrine mystique du pseudo-Denys l'Aréopagite, Paris 1959. - Ders., Endre v. Ivânkas Studien über Pseudo-Dionysius: Kairos 2 (1960) 1 8 3 - 1 8 5 . Ders., La théologie mystique du Pseudo-Denys l'Aréopagite: StPatr 5 (1962) 4 0 1 - 4 1 5 . - D e r s . , La doctrine des trois voies dans la théologie mystique du Pseudo-Denys l'Aréopagite: StPatr 8 (1966) 462—467. — Walther Völker, Kontemplation u. Ekstase bei Pseudo-Dionysius Areopagita, Wiesbaden 1958 (Lit.) - Wilhelm Weischedel, Dionysius Areopagita als phil. Theologe: FS Joseph Klein, Göttingen 1967, 1 0 5 - 1 1 3 . Gerard O'Daly

Anhang 1. Register 2.2. Ubersetzer genda

1.1. Bibelstellen 1.2. Namen/Orte/Sachen 2. Mitarbeiter 2.1. Autoren 2.3. Registerbearbeiter 3. Karten 4. Artikel-und Verweisstichwörter 5. Corri-

1. Register

1.1. Bibelstellen (bearbeitet von Hannelore Hollstein) Es werden nur die Bibelstellen aufgeführt, zu denen sich im Text nähere Ausführungen finden. Z u r Vororientierung wird zunächst der Artikel genannt, in dem die registrierte Bibelstelle vorkommt. Nach der Seitenangabe wird (durch Komma getrennt) in der Regel die Zeile genannt, in welcher eine Bibelstelle v o r k o m m t bzw. ein Bibelzitat beginnt, in Einzelfällen die Zeile, in welcher Darlegungen über eine Bibelstelle einsetzen. 1,26 3 6 6,1-4 12,1-3 32,23-33 4,24-26 12,23 20 20,2-17 20,21 31,18 16,8.10.26 17,7 19,18 1,1 Jdc 2,10 1,1-4,40 4,4428,68 5,6-21 6,20 8,2f.l6 12-26 28,6932,52 32,8 32,17 32,24 18 20,1 16,1-3 16,14-23

Clemens v. Alexandrien 110,20 Dämonen 276,25; 288,1 Dämonen 277,37; 289,47 Dämonen 288,1 Columbanus 161,4 Dämonen 275,25 Dämonen 275,25 Dämonen 275,26 Dekalog 410,7. 16.35 Dekalog 408,40 Clemens v. Alexandrien 106,32 Dekalog 424,37 Dämonen 276,16 Dämonen 276,18 Dekalog 416,4.25 Deuteronomium 543,39 Deuteronomium 532,16 Deuteronomium 533,3 Dekalog 408,40 Didaktik 741,6 Demut 461,26 Deutero536,46 nomium Deutero535,18 nomium Clemens v. Alexandrien 107,35 Dämonen 275,51 Dämonen 276,6.9.10 Dan 324,10 Dan 324,6 David 379,22 David 379,22

17 18,7 II Sam 7 23,1-5 II Reg 2 2 , 3 23,25 Jes 14,9 34,14

David David Chronist. Theol. David Deuteronomium Dämonen Dämonen

40-55

Deuterojesaja

4 0 ff

Deuterojesaja Deuterojesaja Deuterojesaja Deuterojesaja Dialogik

40,1 40,9-11 40,12-17 41,1 5.21-29 41,1-5 41,8-13 41,25-29 42,1-4 43,18-19 44,3 49,1-6 50,4-9 (10.11) 52,1353,12 53

Deuterojesaja Deuterojesaja Deuterojesaja Deuterojesaja Deuterojesaja Deuterojesaja Deuterojesaja Deuterojesaja Deuterojesaja Deuterojesaja

379,22 379,35 76,2 383,2 536,35 276,29 276,3;278, 12 510,50; 511, 28; 520,14. 17.43.46.55 510,19.27; 521,8 515,56 513,58 512,18 703,21 513,1; 514,40 516,3 515,11 521,22 518,36 517,3 521,22 521,22 521,22; 522,42 521,20.38; 523,32.52;

782 Jes

Bibelstellen 53 55-66

110,1 132,11 f 137 42,1-6 42,1-3 15,33 2

Deuterojesaja Deuterojesaja Christentum Diaspora Daniel David Dämonen Demut Didache Dämonen Christentum David David Diaspora Dialogik Demut Demut Daniel

7

Daniel

61 Jer Ez Hos Sach Mal Ps

Hi Prov. Dan

Esr

31,20 52 14,14.20 3,5 13,14 9,9f 1,11.14 91,5f 104,29

8-12

Daniel

11,30-34 1,1-3 a

Daniel Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Chronist. Theol. Consilia

6,3-5 9,2 I Chr

1 5,3 Off 6,16 ff 9,2 ff 10-11 Chr 36 10-29 10,9 16,26 17 29,10f

II Chr 1 - 9 10-36 36,22 f Mt

4,1-11

524,6.15.20; 526,7.28.31. 32.34 '

5,21-48 5,33-37

510,38 525,42

5,48

17,46 710,10 326,1.35 386,50 276,12 461,11 734,23 272,21

6,9-13

14,49 388,5 383,2 710,16 703,33 481,28 460,39 332,29.36. 47; 333,7 332,29; 333,20.33. 52; 334,2. 30 331,50; 332,25 337,15

6,10 7,22 7,22 f 10,38 11,4-6 11,27 12,27 15,28 17,11 19,11 19,12

Mk

81,28.42

7,9-13 7,15 10,17-22 10,45 13,32

81,36 82,51 84,11 79,12

23 25 28,18 1,24 2,5

Lk

79,12

1,48 10,31 f 12,49

79,12

75,31

4,34 13,1-20 2,5-11 6 6,1-6 12,15 15,29 1,18 ff

Diakonie Dämonen Didache Dekalog

18,22

84,12 84,12

Joh

76,1 84,15 76,18; 77,20.29

Art

76,27 81,27.39

Rom

Clemens v. Alexandrien Dämonen Dämonen Columbanus Dämonen Christentum Dämonen Cranach Comenius Consilia Evangelica Consilia Evangelica Dekalog Diakonie Dämonen Dämonen Christentum Dekalog Dekalog Dekalog Diakonie Cyrillus v. Alexandrien Demut Dämonen Christentum Dämonen Consilia Evangelica Consilia Evangelica Consilia Evangelica Demut Diakonie Diaspora Diakonie

16,8 17,33

78,44

Evangelica Dekalog Consilia Evangelica Demokratie Didache

4,34

193,34 422,17 192,51 450,34 733,17; 735,16 109,14 284,4 285,48 160,50 283,55 16,36 283,36 222,29 164,38 192,38 192,34 425,41 651,40 284,19 283,41 16,14 415,42.46 415,37 416,1 650,56 258,35 473,11; 476,13 285,38 13,42 284,51 194,5 193,14 195,27 464,31 650,58 711,53 621,44; 622,7 621,28 280,40 732,44 427,21

Namen/Orte/Sachen 1,26 f 2,14f

Dekalog Dekalog

5,8 5 , 1 2 ff 6,14 7,12

Diakonie Dekalog Demut Christentum Consilia Evangelica Demut

12,2 12,16 13,1-7

13,3 f 13,8-10 I Kor

10,17 11,10 11,31 12-14 12,4 12,12-27 15,23 16,2 16,15 f

II Kor 5,19 8-9 Gal

3,24 3,25 4,27 6,10

1.2.

Demokratie Diakonie Dekalog Dekalog

417,11 417,11; 418,29 652,3 421,19 474,51 15,18 193,45 475,11.16; 477,15 434,49; 435,44; 443,33 653,52 419,45 416,24.30. 31; 4 1 7 , 3 . 20

Confessio Tetrapolitana 176,28 Dämonen 279,51 474,13 Demut Clemens v. 115,22 Rom Consilia Evangelica 195,45 Corpus Christianum 210,35 Clemens v. Rom 117,14 625,52 Diakonie Clemens v. 116,54 Rom 421,13 Dekalog Diakonie 631,28; 663,29 Dekalog 426,10 426,27 Dekalog Clemens v. 122,7 Rom 646,37 Diakonie

Eph

Phil

1,20-22 4,12f 6,3 6,10-17 1,1 2,5 ff 2,5-7 2,5-8

2,6-11 I Tim 2,4 3

Tit Hebr

3,11 5 1,15 1,1 2,9

4,9 9,12-14 Jak 5,14 I Petr 1,1 2,9 2,9 f 2,13-17 3,21 4 , 1 4 ff I Joh

1,1

Apk

2 , 1 2 ff 16,14.16

783 Dämonen Clemens v. Alexandrien Dekalog Dämonen Diakonie Demut Diakonie Columbanus Demut Deismus Diakonie

284,17 109,24 418,23 284,45 622,16.51 466,52 647,36

160,50 464,32 401,9 622,1; 623,5; 626,6 Diakonie 626,46 626,24 Diakonie Dämonenüt285,16 Clemens v. Alexandrien 108,15 Cyrillus v. Alexan258,34 drien Coccejus 136,10 Dämonen 284,28 Dämonen 284,7 621,48 Diakonie Corpus Christia213,32 num Corpus Christianum 208,6 Demokra434,50 tie Dämonen 285,42 Christenverfolgungen 24,53 Clemens v. Alexan107,12 drien Christenverfol24,53 gungen 280,31 Dämonen

Namen/Orte/Sachen

(bearbeitet von Klaus Breuer/Michael Wolter) Das TRE-Register enthält alle Sachbegriffe, Personen- und Ortsnamen, zu denen sich an den angegebenen Stellen registrierwürdige Informationen finden. — Fettdruck von Registerwörtern und Stellenangaben weist auf einen eigenen Artikel hin. - Die Verweisung nennt zur Vororientierung durchgängig zuerst den Artikel, in dem das regisstrierte Wort vorkommt, danach Seite und Zeile. M i t / / i s t ein für das Registerwort relevanter längerer Zusammenhang gekennzeichnet. Auf systematische Zu- und Unterordnungen ist verzichtet; man findet daher systematische Unterbegriffe an ihrem alphabetischen Ort. Sammelregistrierungen sind vorgenommen für: Klöster und Stifte, Päpste, Päpstliche Bullen und Enzykliken, Synoden, Universitäten. Die gesuchten Klöster, Päpste usw. findet man bei diesen Registerwörtern nach alphabetischer Ordnung.

784

Namen/Orte/Sachen

Abendmahl: Clemens v. Alexandrien 1 0 9 , 3 0 f f ; Confessio Helv. Post. 1 7 1 , 4 2 ; Confessio Tetrapolitana 176,12; Consensus Tigurinus 1 8 9 , 2 8 ff; Cranmer 2 2 9 , 5 Abendmahlsfeier: Didache 7 3 3 , 2 0 f f ; 7 3 4 , 1 0 f f Abgaben, kirchliche: Diakonie 6 2 9 , 4 9 ff Absolutismus: Deutschland 5 8 4 , 8 Abwehrzauber: Dämonen 2 7 2 , 3 9 f f ; 2 7 6 , 4 3 ff; 2 7 8 , 4 7 ff Acacius: Cyrill v. Jerusalem 2 6 1 , 1 2 f f Ägypten: Diaspora 7 1 0 , 3 7 ff; 7 1 2 , 8 ff Agathangel v. Jaroslavl: Christenverfolgungen 53,20f; 54,19f Agricola, M a r t i n : Choral 5 , 2 . 1 l f Albanien: Christenverfolgungen 5 7 , 3 6 ff Alexandrien: Diaspora 7 1 4 , 1 0 f f , 7 1 5 , 3 8 f f Allnordischer Glauben: Deutschgl. Bewegungen 557,27 Almosen: Diakonie 6 3 1 , 2 7 Alphabet (glagolit.): Cyrillus u. Methodius 2 6 7 , 2 7 ff Altar: Cranach 2 2 2 , 3 9 ; 2 2 5 , 4 9 Altenhilfe: Diakonie 6 7 1 , 4 6 ff Amt/Ämter/Amtsverständnis: Clemens v. R o m 1 1 5 , 1 1 ff; Demokratie 4 5 3 , 1 0 ; Diakonie 6 2 2 , 1 4 f f ; 6 3 2 , 5 2 f f ; Didache 7 3 3 , 4 7 f f ; 7 3 4 , 2 6 f f ; (jüd.:) Diaspora 7 1 5 , 1 6 f f Angst: D ä m o n e n 2 7 0 , 3 9 ff Anselm v. Canterbury: D ä m o n e n 2 9 4 , 1 0 Anstaltsdiakonie: Diakonie 6 2 8 , 2 2 f f ; 6 3 6 , 2 0 f f ; 6 3 7 , 4 1 f; 6 3 9 , 1 0 f f ; 6 7 0 , 2 3 f f , 6 7 7 , 1 6 f f Antiochien: Diodor 7 6 3 , 4 5 ff Antiochos IV.: Daniel/-buch 3 3 7 , 1 7 f f Apokalyptik: Daniel/-buch 3 2 8 , 4 9 f f Apologetik: Clemens v. Alexandrien 1 0 4 , 8 ff; Dämonen 2 8 7 , 2 8 Arabien: Christenverfolgungen 3 4 , 6 ff Aramäisch: Daniel/-buch 3 3 4 , 4 9 f f Armenfürsorge: s. Diakonie Armenien: Christenverfolgungen 3 2 , 2 3 ff; 3 7 , 2 2 ff; 5 6 , 2 2 ff Armenordnungen: s. Kastenordnungen Armut: Consilia evangelica 1 9 3 , 5 0 f f Arndt, J o h a n n : Demut 4 7 8 , 4 7 ; Deutschland 582,52 Asarjagebet: Daniel/-buch 3 4 3 , 2 0 f f Askese: D ä m o n e n 2 7 3 , 1 3 f f ; 2 8 3 , 1 7 f f Assyrien: Diaspora 7 0 9 , 3 6 ff Astrologie: D i o d o r 7 6 4 , 2 2 ff Asylrecht: David 3 8 2 , 3 ff Aufklärung: Dänemark 3 0 7 , 3 2 ; Demut 4 8 1 , 6 ; Deutschkatholiken 560,25; Deutschland 584,47 Augsburger Bekenntnis: Confessio Tetrapolitana 1 7 4 , 3 3 ff Augsburger Reichstag, 1 5 3 0 : Cochläus 1 4 2 , 2 1 Augustin: Cyprian 2 5 1 , 3 4 ff; Demut 4 6 6 , 3 1 f f Augustiner-Eremiten: Demut 4 7 3 , 4 f f Auslandsgemeinden: Diaspora 7 1 7 , 2 5 Avignon: Clemens V . 9 6 , 2 3 ff Babel-Bibel-Streit: Delitzsch, Friedrich 4 3 3 , 2 5 ff Babylonnien: Daniel/-buch 3 3 1 , 3 2 f f ; Diaspora 710,1 Iff; 711,53ff B a c h j a ibn Paquda: D e m u t 4 6 3 , 2 6 f f Baker-Eddy, M a r y : Christian Science 6 3 , 1 1 ff

Barmherzige Schwestern: Diakonie 6 3 5 , 2 9 ff Barmherzigkeit: Diakonie 6 5 0 , 6 ff Baronius, Caesar: Constitutum Constantini 200,38 Barth, Heinrich: Dialektische Theol. 6 9 2 , 2 1 Barth, Karl: Dämonen 2 9 9 , 4 6 ; Demokratie 4 4 4 , 7 ; Descartes 5 0 5 , 2 5 ; Deutschland 5 9 0 , 4 9 Basilius v. Ancyra: Cyrill v. Jerusalem 2 6 1 , 3 0 f Basisgemeinde: Demokratie 4 5 5 , 4 2 Behaviorismus: Demokratie 4 4 1 , 1 2 Behinderte: Diakonie 6 7 1 , 1 7 f f Bekenntnisschriften: Confessio Helv. Post. 1 6 9 , 1 3 ff; Conring 1 8 5 , 2 4 Bei: Daniel/-buch 3 4 2 , 4 6 ff Belsazar: Daniel/-buch 3 2 7 , 2 8 ff Benedikt v. Aniane:Cluny 1 2 6 , 3 6 ; 1 2 7 , 3 0 Benedikt v. Nursia: Demut 4 6 7 , 3 0 f f Benediktusregel: Cluny 1 2 6 , 2 4 ; Demut 4 6 7 , 2 9 f f ; 4 6 8 , 3 0 f f ; Deutschland 5 7 0 , 3 2 Benjamin (Metropolit) v. Petersburg: Christenverfolgungen 5 3 , 4 3 f Beratung: Diakonie 6 7 3 , 2 7 f f Bernhard v. Clairvaux: Cluny 1 2 7 , 3 7 f f ; Demut 4 6 8 , 3 5 ff Bernhardin v. Siena: David v. Augsburg 3 8 9 , 3 9 Bethel (bei Bielefeld): Diakonie 6 4 0 , 4 9 Bettelorden: Deutschland 5 7 3 , 1 7 ; 5 7 4 , 2 1 Bettelwesen: Diakonie 6 3 0 , 4 0 f f ; 6 3 7 , 5 f f Bibel: Clemens v. Alexandrien 1 0 5 , 3 7 f f ; Confessio Tetrapolitana 1 7 6 , 5 0 ; Dionysius Areopagita 7 7 6 , 1 ff Bibelillustrationen: Cranach 2 2 0 , 3 5 Bibelschulen: Diakonie 6 8 0 , 1 8 . 5 1 ff Bibelübersetzungen: Cyrillus u. Methodius 2 6 8 , 1 2 ff; Dän.-hallische Mission 3 2 0 , 4 0 Bibelwissenschaft: Christentum 19,3 ff; Coccejus 1 3 4 , 1 ff Biblische Theologie: Coccejus 1 3 7 , 2 0 Biblizismus: Crusius 2 4 3 , 3 3 Biel, Gabriel: Demut 4 7 2 , 19 ff Bild Gottes: Diadochus 6 1 8 , 2 2 f f Bildung: Devotio moderna 6 1 1 , 1 2 ff; Didaktik 739,Uff Bischof: Cyprian v. Karthago 2 4 8 , 5 1 ff; Deutschland 5 6 9 , 8 ff; Diakonie 6 2 2 , 3 8 ff Bistum: Deutschland 5 6 6 , 3 4 f f ; 5 6 9 , 5 0 B o c k , Emil: Christengemeinschaft 1 0 , 9 . 5 1 Bodelschwingh, F. v.: Diakonie 6 4 0 , 4 8 Böhmische Brüder: Comenius 1 6 2 , 1 8 Böse, D a s : Dämonen 2 9 8 , 5 2 Bonaventura: Demut 4 6 9 , 3 9 f f Bonifatius: Deutschland 5 6 9 , 4 0 Bonifatiuswerk: Diasporawerke 7 2 1 , 3 8 ff B o o k o f C o m m o n Prayer: Cranmer 2 2 8 , 1 B o r r o m e o , Carlo: Diakonie 6 3 5 , 7 ff Boxer-Aufstand: Christenverfolgungen 4 0 , 2 1 ff Bremen: Coccejus 1 3 3 , 1 ; D ä n e m a r k 3 0 1 , 3 ff Brenz, J o h . : Christoph v. Württemberg 6 8 , 4 7 B r o t für die Welt: Diakonie 6 7 6 , 1 0 f f ; 6 7 8 , 3 ff Bruderliebe: Diakonie 6 4 6 , 2 6 ff Bruderschaften: Diakonie 6 3 0 , 1 5 ff Brüderunität/Brüdergemeine: Diakonie 6 3 6 , 4 3 ff Brüder u. Schwestern vom gemeinsamen Leben: Devotio moderna 6 0 7 , 2 1 ff Brunner, Emil: Dialektische Theol. 6 9 0 , 2 0 ff Buber, M a r t i n : Dialogik 6 9 8 , 2 4 f f

Namen/Orte/Sachen Bucer, Martin: Confessio Tetrapolitana 173,50 Bürgerrum: Deutschkatholiken 561,15 ff; Deutschland 573,32 Bulgarien: Christenverfolgungen 58,31 ff Bullinger, Heinrich: Confessio Helv. Post. 169,17ff; Consensus Tigurinus 189,12ff; Devotio moderna 615,45 ff Bultmann, Rudoolf: Christentum 19,33 ff; Dialektische Theol. 689,44ff; Dibelius, M. 727,43 f Bund: Christentum 15,7ff; Coccejus 135,2f; 137,26 ff; Confessio Helv. Post. 171,14 Bundd der ev. Kirchen in der DDR: Deutschland 595,37 Bund für deutsches Christentum: Deutsche Christen 553,48 Bußbücher: Columbanus 160,34 ff Buße: Clemens v. Alexandrien 109,34 ff wbyzanz: Dämonen 291,45 ff Calvin/Calvinismus: Consensus Tigurinus 189,11 ff; Dämonen 297,13; Demokratie 436,4; Demut 477,29ff; Diakonie 632,41 ff Canterbury: Cranmer 227,31 Caritas: Diakonie 664,42ff Charisma: Christentum 20,16 ff Chiliasmus: Dionysius v. Alexandrien 768,37ff China: Christenverfolgungen 39,6ff Chlodwig: 1 - 2 ; Deutschland 567,15 Chomjakow, Alexej Stepanovitsch: 2—4 Choral/Choralgesang: 4 - 9 Choralbuch: Choral 7,16 ff Christengemeinschaft: 1 0 - 1 3 Christentum: 1 3 - 2 3 Christenverfolgungen: 2 3 - 6 2 ; Clemens v. Rom 117,37 ff; Cyprian v. Karthago 2 4 7 , 1 7 ff. 49 ff; Dionysius v. Alexandrien 768,13 ff Christian II., Kg. v. Dänemark: Dänemark 304,23 Christian III., Kg. v. Dänemark: Dänemark 305,7 ff Christian Science: 62—64 Christianitas: Corpus Christianum 212,30ff Christlich-jüdische Zusammenarbeit: 6 4 - 6 8 Christliche Wissenschaft: s. Christian Science Christoph v. Württemberg: 6 8 - 7 1 Christusmystik: Deißmann 406,18 ff Chrodegang v. Metz: 71—74 Chronikbücher: s. Chronistische Theologie/ Chronistisches Geschichtswerk Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk: 7 4 - 8 7 Chyträus, David: 8 8 - 9 0 Clarke, Samuel: 9 0 - 9 2 Claudel, Paul: 9 2 - 9 5 Clemens V., Papst: 9 5 - 9 8 Clemens VII., Papst: 9 8 - 1 0 1 Clemens v. Alexandrien: 101 — 113; Dämonen 289,14 Clemens v. Rom: 113-120 Clemensbrief, 2.: 121-123 Clinical Pastoral Training: 123—125 Cluny: 126-132; Deutschland 571,47 Coccejus, Johannes: 1 3 2 - 1 4 0 Cochläus, Johannes: 140—146 Coimbra, Universität: 146-149

785

Coleridge, Samuel Taylor: 149-154 Collenbusch, Samuel: 154-156 Columba: 156-159 Columbanus: 159-162 Comenius, Johan Arnos: 162-169; Didaktik 736,21 f Confessio Helvetica Posterior: 1 6 9 - 1 7 3 Confessio Tetrapolitana: 173-177 Confessio Virtembergica: Christoph v. Württemberg 70,16 Confutatio Confessionis Augustanae: Cochläus 142,27 Coming, Hermann: 177-179 Consalvi, Ercole: 179-182 Consensus: 1 8 2 - 1 8 9 Consensus Tigurinus: 189-192 Consilia Evangelica: 192-196 Constitutum Constantini: 196-202 Contarini, Gasparo: 2 0 2 - 2 0 6 Corpus Christianum: 2 0 6 - 2 1 6 Corvinus, Antonius: 2 1 6 - 2 1 8 Cranach, Lukas d.Ä.: 2 1 8 - 2 2 5 Cranach, Lukas d. J.: 2 2 5 - 2 2 6 Cranmer, Thomas: 2 2 6 - 2 2 9 Cremer, Hermann: 2 3 0 - 2 3 6 Cromwell, Oliver: 2 3 6 - 2 3 8 Cruciger, Caspar d.Ä.: 2 3 8 - 2 4 0 Criiger, Johann: 2 4 1 - 2 4 2 Crusius, Christian August: 2 4 2 - 2 4 4 Curriculum: Didaktik 737,35; 739,33 ff Cyprian, Ernst Salomo: 2 4 5 - 2 4 6 Cyprian v. Karthago: 2 4 6 - 2 5 4 Cyrillus v. Alexandrien: 2 5 4 - 2 6 0 Cyrillus v. Jerusalem: 2 6 1 - 2 6 6 Cyrillus u. Methodius: 2 6 6 - 2 7 0 Dämonen („böse Geister"): 2 7 0 - 3 0 0 ; Clemens v. Alexandrien 107,25 ff Dänemark: 3 0 0 - 3 1 9 Dänisch-hallische Mission: 3 1 9 - 3 2 2 Dalman, Gustaf: 3 2 2 - 3 2 3 Dan: 3 2 3 - 3 2 5 Daniel/Danielbuch u. Zusätze: 3 2 5 - 3 4 9 Dante Alighieri: 3 4 9 - 3 5 3 Danzig: 3 5 3 - 3 5 7 Darby/Darbysten. 3 5 7 - 3 5 8 Darwin/Darwinismus: 3 5 9 - 3 7 6 Daub, Karl: 3 7 6 - 3 7 8 David: 3 7 8 - 3 8 8 David v. Augsburg: 3 8 8 - 3 9 0 DDR: Christenverfolgungen 61,9 ff Déchristianisation: Christenverfolgungen 46,39 ff Decius, röm. Kaiser: Christenverfolgungen

26,Uf

Dehn, Günther: 3 9 0 - 3 9 2 Deismus: 3 9 2 - 4 0 6 Deißmann, Adolf: 4 0 6 - 4 0 8 Dekalog: 4 0 8 - 4 3 0 : Deuteronomium 533,20ff Delitzsch, Franz: 4 3 1 - 4 3 3 Delitzsch, Friedrich: 4 3 3 - 4 3 4 Demokratie: 4 3 4 - 4 5 9 Demut: 4 5 9 - 4 8 8 Denck, Hans: 4 8 8 - 4 9 0 Denifle, Heinrich Seuse: 4 9 0 - 4 9 3 Denkschriften, Kirchliche: 4 9 3 - 4 9 9

786

Namen/Orte/Sachen

Descartes, René: 4 9 9 - 5 1 0 ; Coccejus 138,34 Deuterojesaja: 5 1 0 - 5 3 0 Deuteronomium/Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule: 530-552 Deutsche Christen: 5 5 2 - 5 5 4 Deutscher Orden: Danzig 3 5 4 , 8 ; Deutschland 568,33 Deutschgläubige Bewegungen: 5 5 4 - 5 5 9 Deutschkatholiken: 5 5 9 - 5 6 6 Deutschland: 5 6 6 - 6 0 5 Devotio moderna: 6 0 5 - 6 1 6 ; Demut 4 7 1 , 4 7 f f De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: 6 1 6 - 6 1 7 ; Deuteronomium 5 3 6 , 2 7 f f dhimma: Christenverfolgungen 3 5 , 4 2 f f ; 3 6 , 3 3 ; 37,12 Diadochus v. Photice: 6 1 7 - 6 2 0 Diaken: Diakonie 6 3 1 , 3 4 f f ; 6 3 3 , 5 0 f f Diakon: Diakonie 6 2 2 , 4 2 ff; 6 2 4 , 4 1 ff; 6 3 1 , 5 0 ff; 6 3 2 , 5 2 ff, 6 4 9 , 21 ff; 6 6 5 , 2 0 Diakonie: 6 2 1 - 6 8 3 ; Christentum 2 0 , 3 1 ff Diakoniewissenschaft/Diakonik: Diakonie 6 5 6 , 5 6 ff Diakonisches Werk: (der EKD:) Diakonie 6 4 2 , 7 f f ; 6 6 9 , 1 5 f f ; (der DDR:) 6 7 6 , 5 1 ff Diakonisse: Diakonie 6 2 6 , 1 4 ff; 6 3 8 , 1 9 f f Dialektik: Dialektische Theol. 6 8 6 , 2 0 ff Dialektische Theologie: 6 8 3 3 - 6 9 6 ; Deutschland 590,48 Dialogik: 6 9 7 - 7 0 9 Diaspora: 7 0 9 - 7 1 8 Diasporawerke: 7 1 9 - 7 2 6 Dibelius, Martin: 7 2 6 - 7 2 9 Dibelius, Otto: 7 2 9 - 7 3 1 Didache: 7 3 1 - 7 3 6 Didaktik: 7 3 6 - 7 4 1 Didymus v. Alexandrien: 741 — 7 4 6 Diepenbrock, Melchior: 7 4 7 - 748 Diesterweg, Adolph: 7 4 8 - 7 5 0 Dillingen, Universität: 7 5 0 - 7 5 2 Dilthey, Wilhelm: 7 5 2 - 7 6 3 Diodor v. Tarsus: 7 6 3 - 7 6 7 Diokletian, röm. Kaiser: Christenverfolgungen 2 7 , 2 0 ff Dionysius v. Alexandrien: 7 6 7 - 7 7 1 ; Christenverfolgungen 27,8 f Dionysius Areopagita: 772—780 Disputano: Dialogik 7 0 4 , 4 6 ff Dolce Stil Novo: Dante 3 5 0 , 1 4 ff Donatio Constantini: s. Constitutum C o s t a n tini Draco: Daniel/-buch 3 4 2 , 52 ff Dreißigjähriger Krieg: Deutschland 5 8 3 , 2 6 f f Dressler, Gallus: Choral 5 , 1 2 f Dritte Welt: Diakonie 663, 14 ff Dualismus: Dämonen 2 7 9 , 2 3 ff Duns Scotus, Johannes: Dämonen 2 9 6 , 1 4 Ebed Jahwe: s. Gottesknecht Ebner, Ferdinand: Dialogik 6 9 8 , 6 ff Eccard, Joh.: Choral 6,29 ff Ecclesia Universalis: Corpus Christianum 2 1 3 , 2 1 ff; 2 1 4 , 4 2 f f Eger v. Kalkar, Heinrich: Devotio moderna 606,27 Ehelosigkeit: Consilia evangelica 194,37 ff

Eid: Christenverfolgungen 4 5 , 2 6 f f ; 4 7 , 3 8 ff Eigenkirchenwesen: Cluny 1 3 0 , 3 2 f f Elemente: Dämonen 2 8 0 , 1 7 f f Elephantine: Diaspora 711,3 f Endzeit: Daniel/-buch 329, 17 ff Engel: Clemens v. Alexandrien 107,25 ff England: Cromwell 2 3 6 , 2 1 ff; Demokratie 4 3 6 , 3 3 ; Diakonie 666, 4 3 f f Entwicklungshilfe: Diakonie 663,25 ff.44ff Erasmus v. Rotterdam: Devotio moderna 610,25ff; 612,17ff Erfahrungstheologie: Clinical Pastoral Training 124,99 ff Erweckung: Collenbusch 154,30; Dänemark 3 0 8 , 1 3 ; Deutschland 5 8 7 , 3 2 Eschatologie: Clemens v. Alexandrien 1 0 8 , 3 0 ff; Deuterojesaja 5 1 6 , 3 7 f f ; 5 1 9 , 1 4 f f Esra/Esraschriften: Chronist. Theol. 8 1 , 2 7 f f Ethik: Clemens v. Alexandrien 110,13 ff; Confessio Tetrapolitana 176,32; Demut 4 8 3 , 3 4 f f ; Deutschland 5 9 5 , 4 4 f f Evagrius Ponticus: Diadochus 6 1 9 , 1 2 ff Evangelische Kirche in Deutschland: Deutschland 5 9 0 , 3 2 ; 5 9 4 , 4 8 Evangelische Räte: s. Consilia Evangelica Exil: Demut 4 6 1 , 2 5 ; Deuterojesaja 5 1 4 , 5 ; Diaspora 709,34 ff Exodusmotiv: Deuterojesaja 519,5 ff Exorzismus: Dämonen 271,7 ff; 2 7 2 , 2 2 ff; 2 8 2 , 4 2 f f ; 2 8 3 , 3 5 ff; 2 8 7 , 1 8 Expressionismus: Dialektische Theol. 6 8 5 , 3 4 Falk, Johannes: Diakonie 637,34 ff Familie: Diakonie 662,5 ff Fasten: Demut 4 6 1 , 2 0 ; Didache 7 3 3 , 7 f f Festkalender: Cyrill v. Jerusalem 2 6 4 , 1 8 Feuerbach, Ludwig: Dialogik 6 9 7 , 4 1 Finnland: Diakonie 668,44 Firmilian: Cyprian v. Karthago 2 5 0 , 9 f f Fliedner, Theodor: Diakonie 638,14 Florenz: Dante 3 4 9 , 4 0 Föderaltheologie: Coccejus 134,48 ff; Demokratie 4 3 6 , 2 9 Formgeschichte/Formenkritik: Dibelius, M. 7 2 7 , 1 9 ff Fouché Joseph: Christenverfolgungen 46,53 ff Franciscus v. Assisi: Demut 4 6 9 , 2 7 f f Franck, César: Choral 8 , 2 4 f Francke, A. H.: Demut 480,9; Diakonie 636,43 ff Franken: Chlodwig 1, 19f; 2,5ff; Chrodegang 7 2 , 2 0 ff; Deutschland 567,14 Frankfurter Schulgß demokratie 4 4 1 , 5 5 Frankreich: Consalvi 180,27 Franziskaner: Dämonen 2 9 5 , 5 2 Französische Revolution: Christenverfolgungen 4 5 , 1 ff; Demokratie 437,24 Frau: Diakonie 6 2 6 , 1 4 ff; 6 7 9 , 3 2 ff Frauenschulen, soziale: Diakonie 679,35 ff Freiheit: Demokratie 4 4 9 , 1 5 Freikirchen: Diakonie 634,18 ff Fremdvölkersprüche: Deuterojesaja 5 1 3 , 1 ff Friedenskirchen: Diakonie 668,3 ff Friedrich I., Kg. v. Dänemark: Dänemark 304,38 Frieling, Rudolf: Christengemeinschaft 11,1 Frömmigkeit: Devotio moderna 6 0 5 , 2 9 f f Fürstenporträt: Cranach 221,15

Namen/Orte/Sachen Fugger, Jakob: Diakonie 630,50f Funktionalismus: Demokratie 441,21 Gastarbeiter: Diakonie 674,7ff Gastfreundschaft: Diakonie 625,6 ff Gebet: David v. Augsburg 389,13 ff; Diakonie 650,29 ff; Dialogik 704,17 ff; Didache 733,14 ff Gebote (zehn): s. Dekalog Gegenreformation: s. Kath. Reform u. Gegenreformation Geist/Hl. Geist/Geistesgaben: Clemens v. Alexandrien 107,17ff Geister, böse: s. Dämonen Gehorsam: Consilia evangelica 195,20 ff Geisteswissenschaften: Dilthey 753,31 ff; 754,7 ff Geld: Diakonie 625,50 ff Gemeindediakonie: Diakonie 621,27 ff; 641,44; 648,50ff; 672,44 ff; 677,41 ff Genfer Bekenntnis: Consensus Tigurinus 190,38 ff Georgien: Christenverfolgungen 33,42 ff Gerechtigkeit: Demut 474,18 Gerhard, Joh.: Demut 478,17 Gerichtsbarkeit, kirchl.: Deutschland 574,6 Gerichtsreden: Deuterojesaja 512,46 ff Gerson, Johannes: Demut 472,30ff Gesangbuch: Crüger 241,43 Geschichte: Daniel/-buch 340, 19ff; Chronist. Theol. 84, 16ff; Deuterojesaja 518,10ff Geschichte Israels: Chronistische Theol. 74,41 Geschichtlichkeit: Dilthey 755,9 Geschichtsschreibung: Chronistische Theol. 76,38; 77,11 ff; 83,35ff; Dtr. Gesch.werk/ Dtr. Schule 543,37ff Gesellschaftsdiakonie: Diakonie 633,37 ff; 645,20ff; 654,56 ff Gesetz: Christentum 15,7ff; (dtn.:) Deuteronomium 533,40ff; 546,11 ff; 549,38 ff Gesetz u. Evangelium: Coccejus 137,2ff; Diakonie 651,25 ff Gespräch: Dialogik 699,29; 705,47 ff Glaube: Chomjakow 3,8 f; Clemens v. Alexandrien 110,9ff; Demut 474,19; 478,36 Glaubensbekenntnis(se): Christengemeinschaft 11,25 ff Gleichheit: Demokratie 449,30 Gnosis: Clemens v. Alexandrien 105,22 ff; 110,28 ff; Dämonen 288,20ff Gogarten, Friedrich: Dialektische Theol. 684,35; 688,52ff Gotien: Christenverfolgangen 29,37 ff Gott: Daniel/-buch 340,32 ff; Chronistische Theol. 84,9 ff; Clemens v. Alexandrien 106,28 ff; Dämonen 275,17ff; Descartes 505,51; Dialektische Theol. 687,26ff; 689,4ff; 693,35 ff; Dionysius Areopagita 774,28 ff Gottesdienst: Diakonie 649,49 ff Gottesfurcht: Demut 467,31 ff Gotteskastenwerk: Diasporawerke 720,18 ff; 723,3 ff; 724,13 ff Gottesknecht: Deuterojesaja 521,19ff Gregorianische Reform: Cluny 130,49 Griechisch, ntl.: Deißmann 406,37ff

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Griechisch-unierte Christen: Christenverfolgungen 56,1 ff Groote, Gerhard: Devotio moderna 606,20 ff; 607,21 Großmann, Christian Gottlob Leberecht: Diasporawerke 719,20 f Grüber, Heinrich: Christenverfolgungen 51,9f Grundgesetz (der BRD): Demokratie 442,36 Gustav-Adolf-Verein: Diasporawerke 719,14ff Gustav-Adolf-Werk: Diaspora 717,41; Diasporawerke 724,9f Hackfurth, Lukas: Diakonie 631,47 ff Häresie: Dämonen 282,23 ff; Deutschand 575,9 Hagiographen: Dtr. Gesch.werk/-Schule 551,30 ff Harald Blauzahn: Dänemark 301,4 Hauer, J. W.: Deutschgläubige Bewegungen 557,18 Hegel, G.F.W.: Dialogik 697,36 Heidanus, Abraham: Coccejus 135,50 Heil u. Erlösung: DIAKONIE 651,42ff Heilige: Didymus 742,43 ff Heiligung: Collenbusch 155,4 ff Heilsgeschichte: Clemens v. Alexandrien 108,1 ff Heilsorakel/-ankündigungen: Deuterojesaja 513,15 ff; 516,3 ff Heinrich VIII. v. England: Cranmer 227,10 ff Heimerziehung: Diakonie 671,30 ff Heinrich VII., dt. König: Clemens V. 97,6 ff Herrschaft: Demokratie 445,46 Herrschaft Gottes/Reich Gottes: Christentum 19,50 ff Heshusius, T.: Chyträus 88,21 f Hexen: Dämonen 293,40 Hideyoshi, Toyotomi: Christenverfolgungen 41,29 ff Hilfswerke: (der EKD): Diakonie 641,44ff; (ökum.:) 667,50ff; (Schweiz:) 666,12 Hölle: Dante 352,9 Holl, Karl: Corpus Christianum 208,24 ff Homoousios: Cyrill v. Jerusalem 262,8 f Hospital: Diakonie 625,15; 628,49ff Hugo v. St. Viktor: Demut 472,49 ff Humanismus: Devotio moderna 609,42 ff Hus, Jan: Deutschland 575,11 ff Ich-Du-Philosophie: Dialektische Theol. 689,19; 692,29; Dialogik 698,6 ff Idealismuus, dt.: Demut 481,20 Ignatius v. Antiochien: Christenverfolgungen 24,52; Diakonie 623,17ff Indien: Dänisch-hallische Mission 319,49ff Innere Mission: Diakonie 639,42ff; 657,30ff Interim: Christoph v. Württemberg 68,41 f; 70,24 f Interpersonalität: Dialogik 701,1 ff Investiturstreit: Constitutum Constantini 199,44 ff; Deutschland 571,52 ff Irland: Columba 157,14ff Isaak Abrabanel: Dekalog 413,26 Isidor v. Peludium: Cyrill v. Alexandrien 254,55 f Islam: Christenverfolgungen 35,40ff

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Namen/Orte/Sachen

Jacobi, F.H.: Dialogik 6 9 7 , 2 6 Japan: Christenverfolgungen 4 1 , 2 4 ff Jerusalem: Cyrill v. Jerusalem 2 6 3 , 4 5 ff; Diaspora 7 1 6 , 7 7 ff v. Augusburg 3 8 9 , 4 0 Jonas v. Susa: Columbanus 160,43 Josef (Metropolit) v. Leningrad: ChristenverJesuiten: Demut 4 8 0 , 2 5 ff; Deutschland 5 8 2 , 1 6 ; Dillingen 751,5 ff Jesus Christus: Christentum 16,1 ff; Clemens v. Alexandrien 107,8 ff; Cyrill v. Alexandrien 2 5 8 , 1 5 ff; Demut 4 6 4 , 2 6 f f ; Diodor 7 6 4 , 2 9 f f ; Didymus 7 4 4 , 2 0 ff; Dionysius Areopagita 7 7 4 , 5 2 ff Jezdegerd I. (Sassanidenherrscher): Christenverfolgungen 31,22 ff Jezdegerd 11. (Sassanidenherrscher): Christenverfolgungen 33,8 ff Johannes v. Antiochien: Cyrill v. Alexandrien 255,49 f Johannes Chrysostomus: Cyrill v. Alexandrien 2 5 5 , 1 8 ff Johannesv.Jerusalem: Cyrill v. Jerus. 2 6 2 , 4 0 ff Johannes v. Kastl: David v. Augsburg 3 8 9 , 4 0 Jonas v. Susa: Columbanus 160,43 Josif (Metropolit) v. Leningrad: Christenverfolgungen 54,18 f Judentum u. Christentum: Christl.-jüd. Zusammenarbeit 64,45 ff Jugendweihe: Christenverfolgungen 61,29 f Jugoslawien: Christenverfolgungen 5 9 , 7 f f Kabbala: Dämonen 2 7 8 , 4 0 f f Kaiserswerther Verband: Diakonie 638,24 Kaisertum u. Papsttum: Clemens V. 96,49 ff; Constitutum Constantini 1 9 9 , 5 0 ff; Dante 351,18 Karl V., Kaiser: Clemens VII. 99,43 ff Karl Martell: Chrodegang 7 1 , 4 1 ff Karolinger: Deutschland 5 6 8 , 1 ; 5 7 0 , 1 1 ; Karolingische Reichskirche: Chrodegang 73,25 Kartäuser: Deutschland 5 7 2 , 4 2 Kastenordnungen: Diakonie 6 3 2 , 6 f f ; (Leisnig:) 6 3 1 , 2 2 f f ; (Straßburg:) 6 3 1 , 4 6 f f Kathartik: Dämonen 2 7 1 , 2 0 Katholische Aktion: Christenverfolgungen 50,20 f Katholische Reform u. Gegenreformation: Deutschland 5 8 1 , 5 0 ; 5 8 2 , 1 2 Katholizismus: Deutschland 5 8 5 , 2 0 ff Ketzertaufstreit: Cyprian v. Karthago 2 4 9 , 2 7 ff Keuschheit: Consilia evangelica 1 9 4 , 3 7 f f Kierkegaard, S.A.: Dialektische Theol. 6 9 2 , 3 7 f f Kindergärten: Diakonie 672,23 ff Kindertaufe: Corpus Christianum 2 1 5 , 7 f f Kirche: Corpus Christianum 2 1 0 , 2 7 ff; Diakonie 6 3 3 , 3 0 f f ; Dialektische Theol. 6 8 8 , 2 4 f f Kirche u. Staat: Dänemark 3 0 6 , 3 8 ; 3 0 8 , 4 9 f f ; Deutschland 5 9 6 , 3 6 f f Kirche v. England: Cranmer 2 2 7 , 1 5 ff; 2 2 8 , 3 2 Kirchenentfremdung: Deutschland 58 9,6 ff Kirchengeschichte: Cyprian 2 4 5 , 3 7 Kirchenkampf: Christenverfolgungen 4 8 , 3 1 ff; Denkschriften 4 9 3 , 43 ff; Deutschland 591,37ff

Kirchenlied: Choral 5 , 2 4 f ; 6,4ff; 7,45; 8 , 5 0 f f ; Crüger 2 4 1 , 1 8 Kirchenmusik: Crüger 2 4 1 , 2 8 ; s.a. Choral/ Choralgesang Kirchenordnungen: Corvinus 216,35 ff; Cranmer 2 2 9 , 1 5 Kirchenreform: Demokratie 4 5 4 , 1 7 f f Kirchenregiment, Landesherrliches: Conring 178,39; Deutschland 5 7 4 , 5 0 Kirchenstaat: Consalvi 180,19; 181,14 Kirchenverfassung: Christoph v. Württemberg 68,51 ff; Clemens v. Rom 116,23 ff; Demokratie 4 5 3 , 4 4 ff Kleinasien: Diaspora 7 1 1 , 1 5 f f ; 7 1 2 , 2 6 f f Klöster: Christoph v. Württemberg 69,16 ff Klöster und Stifte: Aduard: Devotio moderna 6 1 0 , 4 2 ; 612,3 Annegray: Columbanus 160,3 Bobbio: Columbanus 160,12; 161,14 Cluny: 1 2 6 - 1 3 2 Derry (Irland): Columba 157,22 Duisburg: Devotio moderna 6 1 4 , 1 2 ff Durrow (Irland): Columba 157,23 Fontaine: Columbanus 160,3 Gengenbach: Chrodegang 73,11 f Gorze: Chrodegang 7 2 , 4 0 ff Herford: Devotiomoderna614,7 ff;615,28 V F F Iona: Columba 157,28 ff Lorsch: Chrodegang 73,13 f Luxeuil: Columbanus 160,3; 161,15 Noricum: Diakonie 629,29 f Säzava: Cryillus u. Methodius 2 6 9 , 1 s'Hertogenbusch: Devotio moderna 6 1 2 , 2 2 Steyn bei Gouda: Devotio moderna 6 1 2 , 2 6 Subiaco: Devotio moderna 6 0 8 , 1 9 Windesheim bei Zwolle: Devotio moderna 6 0 6 , 4 4 ; 6 0 7 , 4 0 ff Klosterregeln: Columbanus 1 6 0 , 2 7 f f Köhler, Walter: Corpus Christianum 2 0 9 , 2 3 Königtum: (israelit.:) Chronistische Theol. 7 4 , 5 1 ff; David 3 8 2 , 4 9 f f ; Dtr. Gesch.werk 5 4 5 , 5 1 ff; (sakrales:) Dänemark 302,23 Kolping, Adolf: Diakonie 6 4 1 , 1 2 Kommunikation: Didaktik 740,11 ff Konfessionalismus: Deutschland 5 8 1 , 3 4 ff; 587,35 Konkordienformel: Consensus 186,26; Deutschland 5 8 2 , 4 1 Konstantin I.: Christenverfolgungen 28,5.18 ff; Constitutum Constantini 196,33; 1 9 7 , 1 6 f f Konstantin u. Methodius: s. Cyrillus u. Methodius Konstantinische Schenkung: s. Constitutum Constantini Konstantinische Wende: Diakonie 6 2 8 , 2 f f Konzile: s. Synoden Korea: Christenverfolgungen 4 3 , 1 4 f f Krankenhaus/Krankenpflege: Diakonie 6 7 0 , 3 2 ff Krankheit: Dämonen 281,43 ff; 285,31 ff Kreuzzüge: Clemens V. 97,42 ff Kroatien: Cyrillus u. Methodius 2 6 9 , 1 5 ff Krise: Dialektische Theol. 684,11 ff; 6 8 5 , 2 6 ff; Kritische Theorie: s. Frankfurter Schule Kritischer Rationalismus: Demokratie 441,41

Namen/Orte/Sachen Ktesias (griech. Historiograph): Daniel/-buch 331,1 Künneth, W.: Demokratie 4 4 3 , 3 1 Kult: Dan 3 2 4 , 2 1 ff; Chronistische Theol. 84,42 ff Kultur: Coleridge 152,48 Kulturrevolution (in China): Christenverfolgungen 4 1 , 3 f Kunst (u. Religion): Cranach 2 1 9 , 2 f f Kurie: Consalvi 179,33 Kybernetik: Didaktik 740,3 ff Kyros (pers. König): Deuterojesaja 5 1 8 , 4 3 f f Lagarde, Paul de: Deutschgläubige Bewegungen 555,14 Laie: Coleridge 151,29 ff Lajis/Lesem: Dan 3 2 4 , 9 f f Latente Kirche: Christentum 14,5 Lebensphilosophie: Dilthey 7 5 3 , 4 9 f f ; 7 5 7 , 2 7 ff; 7 5 9 , 4 9 ff Lehren/Lernen: Didaktik 7 3 7 , 1 5 ff Leibniz, G . W . : Clarke 9 1 , 2 1 f ; 9 2 , 6 f f Leiden: Diakonie 6 4 4 , 4 0 ff Levi/Leviten: Chronistische Theol. 79,12 ff; Dtr. Gesch.werk 5 4 7 , 2 4 ff Liberale Theologie: Dialektische Theol. 685,4 Lichtenberg, Bernhard: Christenverfolgungen 51,11 f Lichtfreunde: Deutschkatholiken 5 5 9 , 3 5 ; 560,32 Liebe: Diakonie 6 4 4 , 3 0 . 4 1 f; 6 4 6 , 4 7 ff; 653,21 ff; Dialogik 7 0 1 , 2 Lilit: Dämonen 2 7 8 , 1 2 f Literatur u. Religion: Claudel 93,11 ff; Coleridge 149,15 ff Liturgie: Cyrill v. Jerusalem 2 6 4 , 4 ff Liturgie (jüd.): Dekalog 4 1 3 , 3 8 ff Liturgische Bewegung: Choral 8,42 Löhe, W.: Diakonie 6 4 0 , 4 4 Logos: Clemens v. Alexandrien 102,35 f; 103,42 f; 104,48 ff; 106,45 ff Los-von-Rom-Bewegung: Deutschkatholiken 559,24 ff Ludendorff, Mathilde: Deutschgläubige Bewegungen 5 5 7 , 4 3 Ludolf v. Sachsen: Demut 4 7 2 , 1 4 f f Lund, Bistum: Dänemark 3 0 1 , 4 3 Luther, Martin: Cochläus 141,14 ff; Corpus Christianum 2 0 6 , 4 0 ff; Cruciger 23 9,47 ff; Dämonen 2 9 6 , 4 5 ; Demokratie 4 3 5 , 3 9 ; Demut 4 7 4 , 4 ff; Denifle 4 9 2 , 2 1 ff; Deutschland 5 7 8 , 4 6 f f ; 5 9 0 , 4 2 ; Devotio moderna 6 1 5 , 4 6 f f ; Diakonie 6 3 1 , 1 7 f f ; Dialogik 705,4 f Lutherbildnisse: Cranach, 2 2 0 , 1 2 ; 2 2 6 , 1 2 Luthertum: Christenverfolgungen 5 6 , 2 6 f f ; Diakonie 6 6 8 , 1 7 f Lyrik: Dante 3 5 0 , 1 3 ff Mähren: Cyrillus u. Methodius 2 6 7 , 1 0 f f Makkabäer: Daniel/-buch 3 3 9 , 2 8 ff M a r Aba (Katholikos): Christenverfolgungen 32,5 ff Marcel, Gabriel: Dialogik 6 9 8 , 3 7 f f

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Maria: Demut 4 7 3 , 1 1 ff Marienbild: Cranach 2 1 9 , 3 5 Martensen, Hans Lassen: Dänemark 3 1 1 , 3 0 Martin-Luther-Bund: Diasporawerke 7 2 4 , 2 2 ff Marutha (Bischof) v. Maipherkat: Christenverfolgungen 3 1 , 2 4 ff M a r x / M a r x i s m u s : Demokratie 440,14 maskilrm: Daniel/-buch 3 3 8 , 4 6 ff; 340,8 Mauburnus, Johannes: Devotio moderna 6 0 7 , 6 Mauriner: Cluny 128,46 Mazdaismus: Christenverfolgungen 30,1 ff Meditation: Devotio moderna 606,34 Melanchthon, Philipp: Cochläus 142,22; Cruciger 2 4 0 , 6 ; Demut 4 7 6 , 4 1 f Mensch: Clemens v. Alexandrien 109,49 ff; Diadochus 618,23 ff; Dialektische Theol. 6 7 7 , 1 9 f f ; Didymus 7 4 2 , 3 1 ff Menschensohn: Daniel/-buch 334,13 ff Merowinger: Chlodwig 1,5 f Messalianer: Diadochus 6 1 9 , 5 6 f f Messias/Messianische Bewegungen: Daniel/ -buch 3 3 8 , 3 6 f f ; David 3 8 6 , 3 9 f f Methodismus: Dämonen 2 9 7 , 4 5 Metropolitanverfassung: Deutschland 5 6 9 , 5 0 Metz: Chrodegang 72,3 f. 45ff Minderheiten: Diaspora 717, 14 ff Mission: Dänemark 3 1 0 , 2 6 ; Dänisch-hallische Mission 3 1 9 , 4 4 ff; Deutschland 5 6 7 , 4 3 ; Diakonie 6 6 7 , 2 6 ff Mittelalter: Demokratie 4 3 5 , 1 ff; Deutschland 569,6 ff Mönchtum: Consilia evangelica 192,53 ff; 195,43 ff; Dämonen 2 9 1 , 1 9 ; 2 9 4 , 1 ; Demut 4 6 7 , 2 7 ff; 4 6 9 , 5 ff; Deutschland 570,33; 5 7 4 , 2 1 ; Diakonie 6 2 9 , 1 4 f f (irofränkisches:) Columbanus 161,5 ff Mongolen: Christenverfolgungen 36,45 ff Monophysiten: Dämonen 2 9 3 , 2 M o s e ben N a c h m a n : Demut 4 6 3 , 1 1 ff Mutterhausdiakonie: Diakonie 6 3 8 , 2 4 . 3 1 ff Mystik: Denifle 4 9 1 , 3 0 ; Devotio moderna 606,4 ff; Dionysius Areopagita 7 7 5 , 2 2 ff Mythologie: Daniel/-buch 332,33 ff Nachfolge: Consilia evangelica 192,31 ff Nächstenliebe: Diakonie 644,26 ff; 647,25 ff; 6 5 3 , 2 1 ff N a g r a n (arab. Stadt): Christenverfolgungen 34,15f Napoleon Bonaparte: Consalvi 180,21 Nationalsozialismus: Christenverfolgungen 48,31 ff; Deutsche Christen 5 5 2 , 3 7 ; Deutschgläubige Bewegungen 5 5 8 , 2 ; Deutsschland 591,10 Naturrecht: Demokratie 4 4 4 , 4 1 ff Nero, röm. Kaiser: Christenverfolgungen 26,4 Nestorianische Kirche: Christenverfolgungen 32,1; 3 8 , 1 6 f ; 3 9 , 7 f f Nestorius/Nestorianischer Streit: Cyrill v. Alexandrien 2 5 5 , 2 5 ff Neuplatonismus: Dionysius Areopagita 772,6 ff Niebuhr, R.: Demokratie 4 4 3 , 2 0 Niederlande: Diakonie 6 3 3 , 5 0 f f ; 6 6 6 , 1 5 f f Niemöller, Martin: Christenverfolgungen 49,45 ff

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Namen/Orte/Sachen

Nikolaus v. Kues: Constitutum Constantini 200.23 f nomen Christianum: Christenverfolgungen 23,54; 24,10ff.48; 25,28f N o t h , M a r t i n : Deuteronomium 5 3 7 , 2 7 ff; Dtr. Gesch.werk 5 4 3 , 2 6 f f Novalis: Dilthey 7 5 6 , 1 6 ff Novatianisches Schisma: Cyprian v. K a r t h a g o 2 4 8 . 2 4 ff Nürnberg: Denck 4 8 8 , 3 3 Nygren, Anders: Demut 4 8 5 , 2 6 Oberlin, J . F : Diakonie 6 3 7 , 1 7 f f Obrigkeit: Diakonie 6 3 2 , 2 2 f f ; 6 3 3 , 1 9 f f Öffentlichkeitsauftrag: Denkschriften 4 9 4 , 4 ff; Deutschland 5 9 5 , 4 4 ff Ökumene: Comenius 1 6 6 , 9 ; Diakonie 6 7 5 , 4 5 ff ö k u m e n i s c h e r R a t der Kirchen: Deutschland 5 9 7 , 3 8 ff Österreich: Chyträus 8 8 , 3 7 ff; Diakonie 6 6 9 , 9 Offenbarung u. Vernunft: Dialektische T h e o l . 6 9 0 , 2 0 ff Opfer: Diakonie 6 5 0 , 8 ff Origenes: D ä m o n e n 2 8 9 , 2 4 ; D e m u t 4 6 6 , 8 ff; Dionysius v. Alexandrien 7 6 7 , 3 2 ff O r t h o d o x e Kirchen: Diakonie 6 6 4 , 1 7 ff O r t h o d o x i e : (altluth.:) Cyprian, E . S . 2 4 5 , 3 ; Danzig 3 5 5 , 2 4 ; (russ.:) C h o m j a k o w 3 , 2 2 ff Ostsiedlung: Deutschland 5 6 8 , 2 6 Ottonen: Deutschland 5 6 8 , 1 5 Pädagogik: Comenius 1 6 5 , 1 8 ff; Diesterweg 7 4 8 , 1 3 ff Päpste: Clemens V . : 9 5 - 9 8 Clemens VII.: 9 8 - 1 0 1 Coelestin I.: Cyrill v. Alexandrien 2 5 5 , 3 5 f Hadrian I.: Constitutum Constantini 1 9 8 , 3 4 f Paul III.: Contarini 2 0 3 , 2 6 Pius VII.: Consalvi 1 8 0 , 5 ff; 1 8 1 , 2 9 Silvester I.: Constitutum Constantini 1 9 6 , 3 3 ; 1 9 7 , 2 0 ff Stephan I.: Cyprian v. K a r t h a g o 2 4 9 , 2 7 f f Päpstliche Bullen und Enzykliken: Ardenti Cura ( 1 9 3 7 ) : Christenverfolgungen 50,35 Palästina: Diaspora 7 1 2 , 4 3 ff; 7 1 4 , 3 ff Paltz, J o h a n n v.: Demut 4 7 3 , 1 0 f f Papsttum: Cluny 1 3 1 , 1 6 ; Cyprian v. K a r t h a g o 2 5 2 , 4 ff Parität: Deutschland 5 8 5 , 5 0 f f Paulus (Apostel): Dialogik 7 0 4 , 4 f f Pecock, Reginald: Constitutum Constantini 200,28 f Pentateuch: Deuteronomium 5 3 1 , 3 3 ff; 5 3 8 , 5 4 f f peregrinatio: Columba 1 5 7 , 3 1 ; C o l u m b a n u s 1 6 0 , 1 ff Petersz, Gerlach: Devotio m o d e m a 6 0 7 , 3 Petri, Ludwig Adolf: Diaspora werke 7 2 0 , 3 9 Petrus Lombardus: C o i m b r a 1 4 6 , 4 9 ff; Dämonen 2 9 4 , 4 8 Petrus de Soto: Dillingen 7 5 0 , 4 8 f Pfalz: Confessio Helv. Post. 1 7 0 , 4 ; 1 7 2 , 2 1 Pfarrer: Deutschland 6 0 2 , 1 ff Pfarrstellen: Deutschland 6 0 1 , 2 9 f f Philo v. Alexandrien: Diaspora 7 1 6 , 1 0 ff

Philosophie: Crusius 2 4 3 , 1 7 Pietismus: Coccejus 1 3 9 , 2 0 ; Collenbusch 1 5 4 , 3 2 ; Dänemark 3 0 7 , 1 6 ; Dänisch-hallische Mission 3 2 0 , 2 0 ; Danzig 3 5 6 , 4 ; Deutschland 5 8 4 , 1 8 ff Pikten: C o l u m b a 1 5 7 , 5 2 f f Polen: Christenverfolgungen 6 0 , 4 4 ff; Cyrillus u. Methodius 2 6 9 , 9 f ; Danzig 3 5 3 , 4 1 Polis: Diaspora 7 1 4 , 4 0 ; 7 1 5 , 5 1 ff Populus Dei: Corpus Christianum 2 1 1 , 3 4 ff Positivismusstreit: Demokratie 4 4 1 , 5 4 Prädestination: Confessio Helv. Post. 1 7 1 , 2 8 Prämonstratenser: Deutschland 5 7 2 , 4 2 Praktische Theologie: Dänemark 3 1 8 , 2 1 ; Diakonie 6 5 7 , 2 1 ff Preußen: Danzig 3 5 6 , 1 4 Privatbuße: Columbanus 1 6 1 , 2 2 Prognostik: Daniel/-buch 3 3 1 , 5 0 ff Propheten: Chronistische T h e o l . 8 4 , 2 5 ; Dtr. Gesch.werk 5 4 5 , 3 9 f f ; 5 5 1 , 1 5 f f Pseudo-Clementinen: Clemens v. R o m 1 1 8 , 1 3 ff Puritanismus: Coccejus 1 3 9 , 2 2 ; Cromwell 2 3 6 , 2 4 f f ; Demokratie 4 3 6 , 4 0 Q u i m b y , Phineas Parkhurst: Christian Science 6 2 , 4 4 ff Q u m r a n : Demut 4 6 0 , 2 5 f; 4 6 2 , 1 7 ff R a d , Gerhard v.: Deuteronomium 5 3 7 , 1 9 f f Radewijn, Florens: Devotio moderna 6 0 6 , 3 7 f f Rationalismus: Danzig 3 5 6 , 1 0 Rav (Abba Arika): David 3 8 4 , 5 2 f f Recht (atl.): Dekalog 4 1 0 , 6 f f Rechtfertigung: Contarini 2 0 4 , 2 8 ; 2 0 5 , 2 3 Rechtsgeschichte: Conring 1 7 7 , 4 9 Reflexion: Dialogik 7 0 1 , 3 2 ff Reformation: Clemens VII. 9 9 , 1 5 ff; D ä n e m a r k 3 0 4 , 2 0 ; Danzig 3 5 4 , 3 7 f f ; Demokratie 4 3 5 , 3 8 ff; Deutschland 5 8 0 , 1 3 ff; Devotio moderna 6 1 3 , 1 ff Reformierte Kirchen: Confessio Helv. Post. 1 6 9 , 2 2 ; Deutschland 5 8 2 , 3 1 ; Diakonie 6 6 6 , 3 ff Reich Gottes: Coccejus 1 3 8 , 4 Reichskirche: Deutschland 5 7 1 , 1 3 Religiöse Sozialisten: Deutschland 5 9 0 , 3 7 ; Diakonie 6 4 1 , 2 7 Religion: Dilthey 7 5 9 , 4 0 f f Religionsgeschichte Israels: David 3 8 2 , 1 4 f f Religionsgeschichte des Urchristentums: Dibelius, M . 7 2 6 , 3 8 Religionsgespräche der Reformationszeit: Hagenau: Cochläus 1 4 3 , 1 7 ; W o r m s : 1 4 3 , 2 2 ; Regensburg: 1 4 3 , 5 1 ; Contarini 2 0 4 , 1 4 Religionswissenschaft: Christentum 1 8 , 4 1 ff; Dilthey 7 6 0 , 3 9 f f Rendtorff, Franz: Diasporawerke 7 2 4 , 7 Revolution: (1848/49:) Deutschkatholiken 5 6 1 , 4 6 ; ( 1 9 1 8 : ) Dibelius, O . 7 3 0 , 2 7 f R h a u , Georg: Choral 4 , 4 5 ff Rieker, Karl: Corpus Christianum 2 0 7 , 1 7 Rittelmeyer, Friedrich: Christengemeinschaft 1 0 , 2 5 ff.51 Römisch-katholische Kirche: Christenverfolgungen 5 0 , 7 ff; 5 5 , 3 4 ff; Deutschland 586,18; 589,49ff; 591,24; 598,17ff

Namen/Orte/Sachen R o m a n t i k : Dämonen 2 9 8 , 4 3 ; Deutschland 586,25 R o n g e , J o h . : Deutschkatholiken 5 5 9 , 3 1 ff Rosenberg, Alfred: Deutschgläubige Bewegungen 5 5 7 , 3 8 Rosenzweig, Franz: Dialogik 6 9 8 , 1 4 ff R u m ä n i e n : Christenverfolgungen 5 7 , 5 0 ff Rupert von Deutz: Dämonen 2 9 4 , 2 1 Russisch-orthodoxe Kirche: Christenverfolgungen 5 1 , 5 1 ff R u ß l a n d : Christenverfolgungen 5 1 , 5 1 ff; D i a k o n i e 6 6 4 , 3 3 ff S a b b a t : Coccejus 1 3 6 , 6 ; Dekalog 4 0 9 , 3 8 ff Säkularisierung (in Frankreich): Christenverfolgungen 4 6 , 3 9 ff Sailer, J . M . : Diepenbrock 7 4 7 , 1 0 S a k r a m e n t e : Christengemeinschaft 1 1 , 4 9 ff; Consensus Tigurinus 1 8 9 , 4 6 ; Diakonie 6 5 0 , 4 0 f f ; Dionysius Areopagita 7 7 6 , 1 0 f f Salomo: Dämonen 2 7 7 , 5 0 ; 2 7 8 , 2 1 f S a l o m o n , Alice: Diakonie 6 7 9 , 4 6 f Samaritaner: Chronistische T h e o l . 7 9 , 4 2 ff Sapor II. (Sassanidenherrscher): Christenververfolgungen 3 0 , 2 9 f f Sassaniden: Christenverfolgungen 2 9 , 5 2 f f ; 3 2 , 5 2 ff satisfactio: Cyprian v. Karthago 2 5 2 , 2 4 ff Saul: David 3 7 9 , 2 1 ff; 3 8 0 , 1 9 f f Schall, J o h . Adam: Christenverfolgungen 3 9 , 3 7 ff Schisma: Deutschland 5 7 4 , 2 4 Schleiermacher, F . D . E . : Christentum 1 8 , 2 9 f f ; D ä m o n e n 2 9 9 , 1 8 ; Demut 4 8 1 , 2 5 ; Deutschland 5 8 7 , 5 0 ; Dialogik 6 9 7 , 4 8 ; 7 0 5 , 1 9 f f ; Dilthey 7 5 5 , 2 8 f; 7 5 7 , 3 1 . 5 1 Schöpfer/Schöpfung: Christentum 1 4 , 4 7 ff; Descartes 5 0 7 , 4 ; Deuterojesaja 5 1 5 , 2 9 ff; 5 1 7 , 2 8 ff Scholastik: Dämonen 2 9 4 , 4 7 Schottland: Columba 1 5 7 , 2 5 ff; Diakonie 666,34ff Schriftauslegung: Claudel 9 3 , 3 6 ff; Clemens v. Alexandrien 1 0 6 , 1 6 ff; Didymus 7 4 2 , 2 6 ff; D i o d o r 7 6 4 , 4 4 ff Schriftprinzip: Coccejus 1 3 5 , 3 0 Schütz, Heinrich: Choral 6 , 3 5 ff; 7 , 1 ff Schule/Schulwesen: Comenius 1 6 7 , 7 ; Devotio moderna 6 1 1 , 2 1 f f ; Diesterweg 7 4 8 , 4 3 f ; 7 4 9 , 4 2 ff Schweden: Diakonie 6 6 8 , 3 9 Schweiz: Confessio Helv. Post. 1 6 9 , 1 9 f f ; 1 7 2 , 1 2 Seele: Clemens v. Alexandrien 1 0 9 , 5 1 ff .Seelsorgelehre: Diakonie 6 5 8 , 1 ff Sefär Hasidim: Demut 4 6 3 , 1 7 f f Sexualität: D ä m o n e n 2 8 1 , 3 2 f f ; 2 8 5 , 3 0 Sieveking, Amalie: Diakonie 6 3 7 , 4 4 f Slawophilen: C h o m j a k o w 2 , 4 6 S o h m , Rudolf: Corpus Christianum 2 0 7 , 3 2 f f Souveränität: Demokratie 4 4 7 , 4 Sowjetunion: s. Rußland Soziale Frage: Deutschland 5 8 8 , 2 4 Sozialethik: Dilthey 7 5 8 , 3 6 Soziallehre, Katholische: Demokratie 4 4 4 , 3 3 Sozialismus: Demokratie 4 4 0 , 2 2 f f Sozzini/Sozinianer: Coccejus 1 3 5 , 1 2

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Spener, Ph. J . : Demut 4 7 9 , 3 7 ; Diakonie 6 3 6 , 3 ff Spengler, Oswald: Dialektische Theol. 6 8 5 , 3 5 Spitalorden: Diakonie 6 3 0 , 2 7 f f Staat: Demokratie 4 4 3 , 5 4 ; Dibelius, O. 7 3 0 , 3 3 ff; 7 3 1 , 6 f Staatskirchenrecht: Deutschland 5 9 7 , 5 Stadt: Deutschland 5 7 3 , 2 7 f f Staupitz, J o h . v.: Demut 4 7 3 , 3 4 f f Steiner, Rudolf: Christengemeinschaft 1 0 , 8 . 1 8 ff; 1 1 , 1 0 Stoecker, Adolf: Diakonie 6 4 1 , 1 4 Straßburg: Confessio Tetrapolitana 1 7 4 , 1 ff Sturm, J a k o b : Confessio Tetrapolitana 1 7 4 , 4 Stuttgart: Christengemeinschaft 1 0 , 4 9 Suärez, Francisco: Dämonen 2 9 8 , 2 0 Subsidiaritätsprinzip: Diakonie 6 4 0 , 3 1 ff; 6 6 1 , 4 5 ff Suda: D i o d o r 7 6 4 , 1 0 f f Sünde: Didymus 7 4 2 , 4 8 ff Susanna: Daniel/-buch 3 4 1 , 5 0 f f Symbolik: Daniel/-buch 3 3 2 , 2 9 f f Synagoge: Diaspora 7 1 5 , 7 Synoden: Chalkedon 4 5 1 : Cyrill v. Alexandrien 2 5 9 , 4 f Ephesus 4 3 1 : Cyprian v . K a r t h a g o 2 5 1 , 3 2 ; Cyrill v. Alexandrien 2 5 5 , 4 0 f f Konstantinopel 3 8 1 : Cyrill v. Alexandrien 261,49ff Konstantinopel 4 9 9 : Diodor 7 6 3 , 1 8 f Konstantinopel 5 5 3 : Cyrill v. Alexandrien 259,8 f Konstanz 1 4 1 4 - 1 8 : Devotio moderna 6 0 6 , 3 5 M ä c o n 5 8 5 : Diakonie 6 2 9 , 3 1 Seleucia 3 5 9 : Cyrill v. Jerusalem 2 6 1 , 2 9 f f Trient 1 5 4 5 - 6 3 : Christoph v. Württemberg 70,12ff;Cochläusl43,39;Diakonie634,52ff II. V a t i k a n u m 1 9 6 2 - 6 5 : Christl.-jüd. Zus.arbeit 6 6 , 4 2 f ; Diakonie 6 6 5 , 1 9 f f Vienne 1 3 1 1 / 1 2 : Clemens V. 9 7 , 3 4 f f W o r m s 8 6 8 : Diakonie 6 2 7 , 1 5 f Systemtheorie: Demokratie 4 4 1 , 2 8 Täufer: Denck 4 8 9 , 4 1 T'ai-p'ing-Aufstand: Christenverfolgungen 40,18 f T a u f e : Christengemeinschaft 1 2 , 1 2 . 4 4 f f ; Clemens v. Alexandrien 1 0 9 , 2 7 ff; Diadochus 6 1 8 , 3 6 f f ; Didache 7 3 3 , 1 ff Tauler, J o a h n n e s : Demut 4 7 1 , 1 ff; Devotio moderna 6 0 6 , 8 ff Teil el Qädr: Dan 3 2 3 , 4 9 ; 3 2 4 , 3 7 Tempel (in Jerusalem): Dtr. Gesch.werk 5 4 4 , 4 0 ff; 5 4 9 , 1 3 ff Templer-Orden: Clemens V . 9 7 , 2 1 ff Tetrateuch: Dtr. Gesch.werk 5 5 1 , 4 ff Teufel: Clemens v. Alexandrien 1 0 7 , 4 7 f ; D ä m o n e n 2 7 9 , 2 9 ff; 2 8 1 , 5 f Theodizee: Chronistische Theol. 8 4 , 4 T h e o t o k o s : Cyrill v. Alexandrien 2 5 5 , 2 8 ff; 258,25 f Theurgie: D ä m o n e n 2 7 1 , 1 5 Thielicke, Helmut: Demokratie 4 4 3 , 3 9 T h o m a s v. Aquino: Dämonen 2 9 5 , 1 8 ; Demut 4 7 0 , 4 ff T h o m a s v. Kempen: Demut 4 7 1 , 4 9 f f ; Devotio moderna 6 0 7 , 2

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Tichon (russ.-orth. Patriarch): Christenverfolgungen 5 3 , 1 0 f f Tiridates III. (armen. König): Christenverfolgungen 32,24 ff Tod: Dämonen 282,3 ff Tradition: Clemens v. Alexandrien 106,6 ff Trajan (röm. Kaiser): Christenverfolgungen 24,51; 25,26 Tranquebar: Dänisch-hallische Mission 319,49 ff Transsubstantiation: Descartes 507,24 .Transzendentaltheologie: Dilthey 756,48ff; 757,27 ff; 759,18 ff Trillhaas, Wolfgang: Demokratie 443,43 Trinität: Didymus 744,10 ff Tritojesaja: Deuterojesaja 5 1 0 , 3 2 f f Troeltsch, Ernst: Corpus Christianum 208,26 ff; Dilthey 752,50 ff Tschechoslowakei : Christenverfolgungen 59,39 ff Türkei: Christenverfolgungen 37,3 ff Tugend: Demut 4 6 6 , 2 2 ff; 470,7 ff; 484,5 Tun-Ergehen-Zusammenhang: Demut 4 6 0 , 3 9 f Tura: Didymus 742,20 ff Ukraine: Christenverfolgungen 55,25 ff Ultramontanismus: Deutschland 586,53 Umwelt: Diakonie 6 4 5 , 3 2 f f Ungarn: Christenverfolgungen 58,30ff; Confessio Helv. Post. 172,38; Diakonie 669,3 Universitäten: Deutschland 5 7 4 , 4 0 Bremen: Coccejus 133,6 Coimbra: 1 4 6 - 1 4 9 Dillingen: 7 5 0 - 7 5 2 Duisburg: Christl.-jüd. Zus.arbeit 67,3 f Franeker: Coccejus 133,35 Greifswald: Cremer 230,50; 231,40 Helmstedt: Conring 177,41 Leiden: Coccejus 133,39 Paris: Denifle 492,3 Rostock: Chyträus 88,24; 89,24 Wittenberg: Cruciger 239,1 Unterricht: Didaktik 737,31 ff Urgemeinde: Diakonie 621,28 ff Urlsperger, Samuel: Diaspora 7 1 7 , 3 6 f f Valerian (röm. Kaiser): Christenverfolgungen 26,37 ff Valla, Laurentius: Constitutum Constantini 200,25 f vaticinium ex eventu: Daniel/-buch 330,1 ff Vereinigte Staaten v. Amerika: Demokratie 436,55; Diakonie 667,12 ff

Vereinsdiakonie: Diakonie 637,22 ff Verfassungsstaat: Demokratie 4 4 5 , 4 0 ff Vermittlungstheologie: Deutschland 587,53 Vernunft u. Offenbarung: s. Offenbarung u. Vernunft Vier-Reiche-Schema: Daniel/-buch 3 3 0 , 5 2 f f Vietnam: Christenverfolgungen 43,34 ff Vision: Daniel/-buch 3 2 9 , 5 2 f f Vinzenz v. Paul: Diakonie 635,16 ff Voetius, Gisbert: Coccejus 135,52ff Volk: Demokratie 446,29; Deutschland 590,36 Volkskirche: Dänemark 309,2ff; Deutschland 598,96 ff Volkskunde: Dalman 323,13 Vollkommenheit: David v. Augsburg 388,48 ff Vorsehung: Clemens v. Alexandrien 104,12 Wahrheit: Consensus 187,22 ff; Dialektische Theol. 690,4ff; Dialogik 700,36ff Walter, Johann: Choral 6,13 ff Weisheitsliteratur: Daniel/-buch 330,20 ff Wellhausen, Julius: Deuteronomium 5 3 6 , 4 0 f f Weltbild: Dämonen 2 7 3 , 2 7 f f Wichern, J . H . : Diakonie 6 3 9 , l l f f Wiechert, Ernst: Christenverfolgungen 49,52 ff Wiener Kongreß: Consalvi 180,52ff Windesheimer Kongregation: Devotio moderna 607,49; 611,52ff; 6 1 4 , 2 4 f f Wohlfahrtsschulen: Diakonie 680,8 ff Wohlfahrtsstaat: Diakonie 640,25 ff; 653,42ff; 661,10ff Wort Gottes: Dtr. Gesch.werk 545,26 ff; 549,26ff; Diakonie 6 5 1 , 1 7 f f Württemberg: Christoph v. Württemberg 68,22ff; Devotio moderna 612,7ff

Xenodochien: Diakonie 625,12 Ximenes de Cisneros, Garcia: Devotio moderna 607,15 Xinthen, Joh.: Devotio moderna 6 1 0 , 3 2 f f Zeit: Christentum 15,24 ff; Descartes 506,36 Zeller, Heinrich: Diakonie 637,41 Zerbolt, Gerhard: Devotio moderna 606,49 Zimmermann, Karl: Diasporawerke 719,34 Zisterzienser: Deutschland 572,42 Zwei-Wege-Lehre: Didache 732,17 ff Zwingli, Ulrich: Demokratie 436,4; Demut 477,13 ff

2 . Mitarbeiter 2.1.

Autoren

Dr. Jürgen Albert, Heidelberg (Diakonie III) Prof. Dr. Arnold Angenendt, B o c h u m (Columbanus) Prof. Dr. Marianne Awerbuch, Berlin (Demut II) Prof. Dr. Remigius Bäumer, Freiburg (Cochläus) Prof. Dr. Peter F. Barton, Wien/Österreich (Chyträus) Prof. Dr. H o r s t Beintker, J e n a / D D R (Cremer)

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Prof. Dr. Karl-Heinz Bernhardt, Berlin/DDR (Dalman; Delitzsch, Friedrich; De Wette) t The Rev. Dr. Maurice Bevenot SJ (Cyprian v. Karthago) Priv. Doz. Dr. Wolfgang A. Bienert, Hermannsburg (Dionysius v. Alexandrien) Kirchenrat i.R. D.Dr. Walter Blankenburg, Schlüchtern (Choral/Choralgesang) Prof. Dr. Hugo Gotthard Bloth, Münster (Diesterweg) Prof. Dr. Dr. Otto Böcher, Mainz (Dämonen I u. IV) Prof. Dr. Hartmut Boockmann, Kiel (Deutschland I) Doz. Dr. Friedrich de Boor, Halle/DDR (Cruciger) Rektor Louis Christian Bröndum, Kopenhagen/Dänemark (Dänemark II) f Dr. Emile Brouette (Devotio moderna I) Prof. Dr. August Buck, Marburg (Dante) Doz. Dr. Christian Bunners, Berlin /DDR (Crüger) Dr. John Coulson, Bristol/England (Coleridge) Prof. Dr. Karl-Fritz Daiber, Hannover (Demokratie II) Prof. George Drake, Colorado Springs, Co./USA (Cromwell) Studiendirektor Dr. Hans Düfel, Erlangen (Cranach) Dr. Hermann Ehmer, Karlsruhe (Christoph v. Württemberg) Prof. Dr. Geoffrey Rudolph Elton, Cambridge/England (Cranmer) Prof. Dr. Heiner Faulenbach, Bonn (Coccejus; Collenbusch) Prof. Dr. Karl Suso Frank, Freiburg (Cluny) Pfarrer Dr. Rudolf Freudenberger, Würzburg (Christenverfolgungen 1;2.2—4;3;5;7) Prof. Dr. Hans-Georg Fritzsche, Berlin/DDR (Dekalog IV) Prof. Dr. Horst Fuhrmann, München (Constitutum Constantini) Prof. Dr. Ulrich Gabler, Amstelveen/Niederlande (Consensus Tigurinus) Prof. Dr. Klaus Ganzer, Würzburg (Contarini) Priv. Doz. Dr. Erich Geldbach, Bensheim (Darby/Darbysten) Prof. D. Hans-Werner Gensichen, Heidelberg (Dänisch-hallische Mission) Prof. Dr. Christof Gestrich, Berlin (Deismus) Prof. Dr. J.F.Gerhard Goeters, Bonn (Dehn) Prof. Dr. Werner Goez, Erlangen (Clemens V.) Dr. Heiner Grote, Bensheim (Diepenbrock) Prof. Dr. Johannes Gründel, München (Consilia Evangelica) Prof. Dr. Wilfried Härle, Marburg (Dialektische Theologie) Univ.-Doz. Dr. Christian Hannick, Wien/Österreich (Cyrillus und Methodius) f The Rev. Dr. Edward R. Hardy, (Cyrillus v. Alexandrien) Pfarrer i.R. Dr. Hans Christoph von Hase, Stuttgart (Diakonie IV) Dr. Johannes Heinrichs SJ, Frankfurt (Dialogik I) Prof. Dr. Ulrich Herrmann, Tübingen (Dilthey) Prof. Dr. Friedrich Heyer, Heidelberg (Christengemeinschaft) Prof. Dr. Wolfgang Hübener, Berlin (Descartes) Prof. Dr. Hans Hübner, Düsseldorf (Dekalog III) Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Neuendettelsau (Cyprian, E.S.) Dr. Aryeh Kasher, Tel Aviv/Israel (Diaspora 1/2) Prof. Dr. JamesM. Kittelson, Columbus, Oh./USA (Confessio Tetrapolitana) Prof. D.Dr. Adolf Köberle, München (Christentum) Dr. Joachim Köhler, Tübingen (Denifle) Prof. Dr. Oskar Köhler, Freiburg (Corpus Christianum) Dipl.Theol. Dorothee König-Ockenfels, Freiburg (Corpus Christianum) Dr. Bärbel Kramer, Köln (Didymus v. Alexandrien) Dr. Gisbert Kranz, Aachen (Claudel) Prof. Dr. Werner Georg Kümmel, Marburg (Dibelius, M.) Prof. Dr. Annette Kuhn, Bonn (Deutschkatholiken)

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Mitarbeiter

Prof. Dr. Jürgen Lebram, Leiden/Niederlande (Daniel/Danielbuch u. Zusätze) Rabbi Dr. Jonathan Magonet, London/England (Dekalog II) Prof. Dr. Gottfried Maron, Kiel (Deutschland II) Prof. Dr. S. Dean McBride Jr., Evanston, Ill./USA (Deuteronomium/Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule I) Prof. André Méhat, Paris/Frankreich (Clemens v. Alexandrien) Prof. Dr. Kurt Meier, Leipzig/DDR (Deutsche Christen) Prof. Dr. Diethelm Michel, Berlin (Deuterojesaja) Dr. Reinhold Mokrosch, Darmstadt (Devotio moderna II) Dr. Cornelia Morper, Gerbrunn (Christenverfolgungen 4) Priv. Doz. Dr. Karl Heinz zur Mühlen, Tübingen (Demut V—VII) Prof. Dr.Gerhard Müller D.D., Erlangen (Clemens VII.) Dr. Albrecht Müller-Schöll, Stuttgart (Diakonie V) Dr. Heinz Neumeyer, Pinneberg (Danzig) Dr. Próinséas Ni Chathäin, Dublin/Irland (Columba) Dr. Carsten Nicolaisen, München (Dibelius, O.) Dr. Kurt Nowak, Leipzig/DDR (Deutschgläubige Bewegungen) Dr. Gerard O'Daly, Würzburg (Dionysius Areopagita) Prof. Dr. Konrad Onasch, Halle/DDR (Chomjakow) Prof. Dr. Werner O.Packull, Kitchener, Ontario/Kanada (Denck) Dr. David A. Pailin, Manchester/England (Clarke) Prof. Dr. Lothar Perlitt, Göttingen (Dekalog I) Prof. Dr. Paul Philippi, Heidelberg (Diakonie I u. III) Prof. Dr. Dr. Dietrich Pirson, Köln (Conring) Dr. Eckhard Plümacher, Berlin (Deißmann; Delitzsch, Franz) The Rev. Douglas Powell, Exeter/England (Clemens v. Rom, 2. Clemensbrief) Prof. Dr. Horst Dietrich Preuß; Neuendettelsau (Demut I) Doz. Dr. Aleksander Radler, Lund/Schweden (Demut VIII) Prof. Dr. Dr. Stefan Rehrl, Salzburg/Österreich (Demut III-IV) Dr. Hans-Diether Reimer, Stuttgart (Christian Science) Prof. Dr. Dr. h.c. Bernhard Rensch, Münster (Darwin/Darwinismus) Prof. Dr. Manuel Augusto Rodrigues, Coimbra/Portugal (Coimbra) Pfarrer Dr. Gert RöwenUrunk, München (Crusius) Dr. Dieter Rohde, Hannover (Deutschland IV/1) Prof. Dr.Pieter Johan Roscam Abbing, Groningen/Niederlande (Diakonie II) Prof. Dr. Wolfgang Roth, Evanston, Ill./USA (Deuteronomium/Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule II) Dr. Peter Rummel, Augsburg (Dillingen, Universität) Prof. Dr. Magne Sasbö, Oslo/Norwegen (Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk) Prof. Dr. Gerhard Sauter, Bonn (Consensus II; Dialogik II) Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Chlodwig; Christenverfolgungen 2.1) Prof. Dr. Christoph Schäublin, Basel/Schweiz (Diodor v. Tarsus) Pastor Peter Schellenberg, Erlangen (Diasporawerke) Prof. Dr. Hans Scheuerl, Hamburg (Comenius) Prof. Dr. Günter R. Schmidt, Lüneburg (Didaktik) Prof. Dr. Martin-Anton Schmidt, Basel/Schweiz (David v. Augsburg) Pfarrer Dr. Christian-Erdmann Schott, Mainz (Diaspora II) Dr. Uwe Schott, Dülmen (Daub) Prof. Dr. Henning Schröer, Bonn (Comenius; Denkschriften) Prof. Dr. Georg Schwaiger, München (Consalvi) Univ.-Lektor Dr. Martin Schwarz-Lausten, Horsholm/Dänemark (Dänemark I) Prof. Dr. Josef Semmler, Düsseldorf (Chrodegang v. Metz)

Karten, Artikel und Verweisstichwörter

795

Prof. Lawrence A. Sinclair, Waukesha, Wis./USA (David I u. III; Diaspora 1/1) Prof. Dr. Hans-Werner Surkau, Marburg (Dekalog V) Prof. Dr. Günter Stemberger, Wien/Österreich (Dämonen III) Frank Stoeßel, M . A . , Würzburg (ChristenVerfolgungen 6) Prof. Dr. Dietrich Stollberg, Marburg (Clinical Pastoral Training) Dr. Martin Stupperich, Hildesheim (Corvinus) Prof. Georges Tavard, Delaware, Ohio/USA (Dämonen V) Prof. Dr. Clemens T h o m a , Luzern/Schweiz (David II) Prof. Dr. Heinz Eduard Tödt, Heidelberg (Demokratie I) D r . André Tuilier, Paris/Frankreich (Didache) D r . Hedwig Wahle, Wien/Österreich (Christlich-jüdische Zusammenarbeit) Prof. Dr. Gunther Wanke, Erlangen (Dämonen II; Dan) Rev. Dr. Kallistos Ware, Oxford/England (Diadochus v. Photice) Vizepräsident a . D . D.Erwin Wilkens, Hannover (Deutschland III) T h e Rev. Dr. Edward J . Yarnold SJ, Oxford/England (Cyrillus v. Jerusalem) Prof. Dr. Endre Zsindely, Zürich/Schweiz (Confessio Helvetica Posterior)

2.2. Übersetzer Aus dem Dänischen: Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Dänemark I) Prof. Dr. Henning Schröer, Bonn (Dänemark II)

Aus dem

Englischen:

D r . Diether Kellermann, Tübingen (David I u. III; Diaspora 1/1) Dr. Nico Oswald, Berlin (Dekalog II) Prof. Dr. Wolfgang Roth, Evanston, Ill./USA (Deuteroncmium) Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Columba; Cyrillus von Alexandrien) Michael Schröter, Berlin (Clarke; Clemens von R o m ; 2. Clemensbrief; Confessio Tetrapolitana; Cromwell; Cyprian von Karthago; Dämonen V ; Denck; Diadochus von Photice) Hiltrud Wickert, Berlin (Cyrillus von Jerusalem; Dionysius Areopagita) Rosemarie Wirsching, Berlin (Coleridge)

Aus dem

Französischen:

Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Devotio moderna I) Mariann Wolter, Berlin (Clemens von Alexandrien; Didache)

Aus dem

Hebräischen:

Dr. Frowald Hüttenmeister, Tübingen (Diaspora 1/2)

Aus dem

Niederländischen:

Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Diakonie II)

Aus dem

Portugiesischen:

Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Coimbra)

2.3.

Registerbearbeiter

Dr. Klaus Breuer, Heidelberg (Namen/Orte/Sachen) Cand. theol. Hannelore Hollstein, Lünen (Bibelstellen) Dr. Michael Wolter, Berlin (Namen/Orte/Sachen) 3. Karten Dänemark Kirchenprovinzen und Bischofssitze in Mitteleuropa vor der Reformation Die Konfessionen in Deutschland um 1 6 1 8

nach S. 3 0 4 nach S. 5 7 2 nach S. 5 8 0

4 . Artikel und Verweisstichwörter Chlodwig (K. Schäferdiek) Chomjakow, Alexei Stepanowitsch (K.Onasch)

1 2

796

Artikel und Verweisstichwörter

Chor —» Kirchenbau, —» Kirchenmusik Choral/Choralgesang (W. Blankenburg) Chorbischof —» Bischof Chorherren —» Augustiner-Chorherren, —» Praemonstratenser, —> Stift Chrisma —» Salbung Christengemeinschaft (F. Heyer) Christenlehre —» Katechetik, —» Religionsunterricht Christentum (A. Köberle) Christentumsgesellschaft —» Basel, Christentumsgesellschaft Christenverfolgungen (R. Freudenberger/C. Morper/K. Schäferdiek/ F. Stoeßel) Christian Science (Christliche Wissenschaft) (H.-D. Reimer) Christianisierung —» Mission Christliche Sozialbewegung und Soziallehren —»Sozialismus Christliche Welt/Freunde der Christlichen Welt —» Kulturprotestantismus Christlicher Verein Junger M ä n n e r —» Jugend, —» Vereinswesen Christlich-jüdische Zusammenarbeit (H.Wahle) Christologie —» Jesus Christus Christoph von Württemberg (H. Ehmer) Christus —»Jesus Christus, —»Messias/Messianische Bewegungen Christusdarstellungen —» Bilder, —> Jesus Christus Christusfrömmigkeit —»Jesus Christus Christusmystik —» Jesus Christus, —» Mystik Christusprädikate —» Jesus Christus Chrodegang von Metz (J.Semmler) Chronikbücher —» Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk Chroniken —> Formgeschichte/Formenkritik, —> Geschichte, —» Kirchengeschichtsschreibung Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk (M. Siebe) Chronologie —»Africanus, Julius, —»Geschichte, —»Mauriner, —»Urchristentum, —»Zeitrechnung Chrysostomus —»Johannes Chrysostomus Chrysostomus-Gebet —» Gottesdienst, —»Liturgie Chrysostomus-Liturgie —»Agende, —» Gottesdienst, —» Liturgik Chyträus, David (P. F. Barton) Ciborium —»Altar, —» Geräte, Liturgische Circumcellionen —»Afrika Citeaux —»Zisterzienser Ciarenbach, Adolf —» Rheinland Claretiner —» Orden, Neuere katholische Clarke, Samuel (D.A.Pailin) Claudel,Paul (G.Kranz) Clemens V., Papst (W.Goez) Clemens VII., Papst (G.Müller) Clemens von Alexandrien (A. Mehat) Clemens von Rom (D. Powell) Clemensbrief, Zweiter (D. Powell) Clinical Pastoral Training (D. Stollberg) Cluny(K.S.Frank) Coccejus, Joahnnes (H.Faulenbach) Cochläus, Johannes (R. Bäumer) Codex Alexandrinus, Bezae Cantabrigiensis etc. —»Bibelhandschriften Codex juris canonici —» Kirchenrechtsquellen Coimbra, Universität (M. A. Rodrigues)

4

10 13T 23 62

64 68

71

74

88

90 92 95 98 101 113 121 123 126 132 140

146

Artikel und Verweisstichwörter

797

Coleridge, Samuel Taylor (J.Coulson) 149 Collegium Germanicum —»Katholische Reform und Gegenreformation, —» Papsttum, —» Theologiestudium Collegium Romanum —»Papsttum, —»Theologiestudium Collenbusch, Samuel (H. Faulenbach) 154 Collins, Anthony —» Deismus Columba (P.NiChathäin) 156 Columbanus (A. Angenendt) 159 Comenius, Johan Amos (H. Scheuerl/H. Schröer) 162 Confessio Helvetica Posterior (E. Zsindely) 169 Confessio Tetrapolitana (J. M. Kittelson) 173 Confessor —» Martyrium Confiteor —» Liturgie Confutado Augustanae Confessionis —»Augsburger Bekenntnis, Confutatio und Apologie Conring, Hermann (D. Pirson) 177 Consalvi, Ercole (G.Schwaiger) 179 Consensus (G. Sauter) 182 ConsensusTigurinus (U. Gabler) 189 Consilia Evangélica (J. Gründel) 192 Constitutum Constantini (H.Fuhrmann) 196 Consuetudines —» Ordenswesen Contarini, Gasparo (K. Ganzer) 202 Cordier, Leopold —»Jugend CorpusChristianum (O.Köhler) 206 Corpus evangelicorum und catholicorum —» Dreißigjähriger Krieg Corpus juris canonici —»Gratian von Bologna, —»Kirchenrechtsquellen Corpus juris civilis —» Recht/Rechtswesen Corvinus, Antonius (M.Stupperich) 216 Court, Antoine —» Frankreich Cranach,Lucasd.Ä.undd. J. (H.Düfel) 218 Cranmer, Thomas (G. R. Elton) 226 Credo —»Glaubensbekenntnis(se), —»Katechismus, —»Liturgie Cremer, Hermann (H.Beintker) 230 Crescas —»Chasdaj Crescas Cromwell, Oliver (G. Drake) 236 Cruciger, Caspar d. Ä. (F. de Boor) 23 8 Crüger, Johann (C. Bunners) 241 Crusius, Christian August (G. Röwenstrunk) 242 Cudworth, Ralph —»Cambridge, Platoniker von Cura religionis —» Kirche und Staat, —»Kirchenrecht, —» Kirchenregiment, Landesherrliches Curriculum —» Didaktik, —»Pädagogik Custodia utriusque tabulae —» Kirche und Staat, —» Kirchenrecht, —» Kirchenregiment, Landesherrliches Cyprian, Ernst Salomo (F. W. Kantzenbach) 245 Cyprian von Karthago (f M. Bevenot) 246 Cyrillus von Alexandrien (f E. R. Hardy) 254 Cyrillus von Jerusalem (E. J. Yarnold) 261 Cyrillus und Methodius (C. Hannick) 266 Dämonen („böse Geister") (O. Böcher/G. Wanke/G. Stemberger/G. Tavard) 270 Dänemark (M. Schwarz-Lausten/L. C. Bröndum) 300 Dänisch-hallische Mission (H.-W. Gensichen) 319

798

Artikel und Verweisstichwörter

Dalman, Gustaf (K. H. Bernhardt) Damaskusschrift —> Qumran Damnatio —» Kirchenzucht, —» Lehrverpflichtung/Lehrfreiheit/Lehrzuchtverfahren Dan (G. Wanke) Dan (Stamm) —»Geschichte Israels Daniel/Danielbuch und Zusätze (J. Lebram) Dannhauer, Johann Konrad —» Orthodoxie, Altlutherische, —» Straßburg Dante Alighieri (A. Buck) Danzig (H. Neumeyer) Darby, John Nelson/Darbysten (E. Geldbach) Darwin, Charles/Darwinismus (B. Rensch) Daseinsanalyse —» Heidegger, Martin Datenverarbeitung/Datenschutz —» Kommunikationswissenschaft Daub, Karl (U.Schott) David (L. A. Sinclair/C.Thoma) David von Augsburg (MA. Schmidt) De Vio, Tommaso —> Cajetan Debora/Deboralied —> Geschichte Israels Debrecen —» Ungarn Dehn, Günther (J. F. G.Goeters) Deismus (Chr. Gestrich) Deißmann, Adolf (E. Plümacher) Dekalog (L. Perlitt/J. Magonet/ H. Hübner/H.-G. Fritzsche/H.-W. Surkau) Dekretale/Dekretalensammlungen —> Kirchenrechtsquellen Delitzsch, Franz Julius (E. Plümacher) Delitzsch, Friedrich (K.-H. Bernhardt) Demokratie (H. E. Tödt/K.-F. Daiber) Demoskopie —» Meinungsforschung, —» Sozialwissenschaften Demut (H. D. Preuß/M. Awerbuch/St. Rehrl/K. H. zur Mühlen/A. Radler) Denck, Hans (W. O. Packull) Denifle,HeinrichSeuse(J.Köhler) Denkschriften, Kirchliche (H. Schröer) Descartes, René (W. Hübener) Determinismus/Indeterminismus —» Wille/Willensfreiheit Deuterojesaja(D.Michel) Deuteronomium/Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule (S. D. McBride, Jr./W.Roth) Deutsche Christen (K. Meier) Deutsche Evangelische Kirche —» Evangelische Kirche in Deutschland, —» Kirchenkampf Deutsche Theologie —* Theologia deutsch Deutscher Evangelischer Gemeindetag —> Gemeinde Deutscher Evangelischer Kirchentag —> Kirchentage Deutscher Orden —»Preußen, —»Ritterorden, Geistliche Deutschgläubige Bewegungen (K. Nowak) Deutschkatholiken (A. Kuhn) Deutschland (H. Boockmann/G.Maron/E. Wilkens/D. Rohde) Devotio moderna (tE.Brouette/R.Mokrosch) De Wette, Wilhelm Martin Leberecht (K.-H.-Bernhardt) Dezisionismus —» Entscheidung, —> Ethik Diadochus von Photice (K. Ware) Diakon —» Am t/Ämter/ Amtsverständnis, —»Kirchliche Berufe Diakonie (P. Philippi/P.J. Roscam Abbing/J.Albert/H.Chr.v.Hase/A.Müller-Schöll)

322

323 325 349 353 357 359

376 378 388

390 392 406 408 431 433 434 459 488 490 493 499 510 530 552

554 559 566 606 616 617 621

Artikel und Verweisstichwörter/Corrigenda

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Diakonisse —» Diakonie, —» Kirchliche Berufe Dialektik —»Artes liberales, —»Dialektische Theologie, —*Hegel/Hegelianismus, —» Kant/Kantianismus/Neukantianismus, —> M a r x / M a r x i s m u s Dialektische Theologie (W.Härle) Dialektischer Materialismus —> M a r x / M a r x i s m u s Dialog —» Gespräch Dialogik (J.Heinrichs/G.Sauter) Dialogpredigt —» Homiletik Diaspora (L.A.Sinclair/A.Kasher/Chr.-E. Schott) Diasporawerke (P. Schellenberg) Dibelius, Martin ( W . G . K ü m m e l ) Dibelius, O t t o (C. Nicolaisen) Dichtung —» Literatur und Religion Didache (A. Tuilier) Didaktik (G. R. Schmidt) Didymus von Alexandrien (B. Kramer) Dienstrecht, Kirchliches —» Kirchliche Berufe, —»Pfarrer Diepenbrock, Melchior (H. Grote) Diesterweg, Adolph (H.G.Bloth) Dillingen, Universität, (P. Rummel) Dilthey, Wilhelm ( U . H e r r m a n n ) Dimissoriale —> Gemeinde, Kasualien D i o d o r von Tarsus (Chr. Schäublin) Diözesansynode —» Bistum Diözese —» Bistum Dionysius von Alexandrien (W.A.Bienert) Dionysius Areopagita (G. O'Daly) 5. Corrigenda S. 219,7: lies Abb. 8 statt Abb. 5 S. 223,49: lies G u n d e r a m s statt G r u n d e r a u s S. 224,25: lies Strechau statt Strechnau S. 242,32: lies JBBKG 52 statt JBBKG 55 S. 265,6: lies PG 33 statt PL 33 S. 4 3 0 , 3 7 : lies 1 4 3 - 1 6 0 statt 4 3 - 1 6 0 S. 4 5 8 , 2 6 : lies der statt u. S. 459,30: lies u. statt uh S. 5 0 2 , 4 0 : lies hinderlich statt hinterlich S. 509,37: lies Concerning statt Conderning

683

697 709 719 726 729 731 736 741 747 748 750 752 763

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SPÄTMITTELALTER UND REFORMATION Texte und Untersuchungen Herausgegeben von Heiko A . Oberman

Gregorii Ariminensis O E S A Lectura super Primum et Secundum Sententiarum Edidit A. Damasus Trapp O S A Tomus I: Super Primum (Prologus, Dist 1-6)

Prologus: Edidit Willigis Eckermann O S A , collaborante Manfred Schulze. - Dist 1 - 6 : Elaboraverunt Manuel Santos-Noya, Walter Simon, Wolfgang Urban Groß-Oktav. C I V , 522 Seiten. 1981. Ganzleinen D M 234,I S B N 3 11 004950 3 (Band 6)

Tomus II: Super Primum (Dist 7-17) im Druck

Tomus III: Super Primum (Dist 19-48) in Vorbereitung

Tomus IV: Super Secundum (Dist 1-5)

Elaboraverunt A . Damasus Trapp O S A , Manuel Santos-Noya, Manfred Schulze Groß-Oktav. L X I , 396 Seiten. 1979. Ganzleinen D M 1 9 8 I S B N 3 11 006516 9 (Band 9)

Tomus V: Super Secundum (Dist 6-18)

Elaboraverunt A . Damasus Trapp O S A , Venicio Marcolino, Manuel Santos-Noya Groß-Oktav. VI, 392 Seiten. 1979. Ganzleinen D M 168,I S B N 3 11 004951 1 (Band 10)

Tomus VI: Super Secundum (Dist 24-44)

Elaboraverunt Venicio Marcolino, Walter Simon, Volker Wendland Groß-Oktav. X , 337 Seiten. 1980. Ganzleinen D M 148,I S B N 3 11 006751 X (Band 11)

Preisänderungen vorbehalten

Walter de Gruyter

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Berlin • N e w York