Theologische Realenzyklopädie: Band 10 Erasmus - Fakultäten, Theologische 9783110866827, 9783110085754

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Theologische Realenzyklopädie: Band 10 Erasmus - Fakultäten, Theologische
 9783110866827, 9783110085754

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Theologische Realenzyklopädie Band X

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Theologische Realenzyldopädie In Gemeinschaft mit Horst Robert Balz • Stuart G. Hall Brian L. Hebblethwaite • Richard Hentschke Günter Lanczkowski • Joachim Mehlhausen Wolfgang Müller-Lauter • Carl Heinz Ratschow Knut Schäferdiek • Henning Schröer Gottfried Seebaß • Clemens Thoma herausgegeben von Gerhard Krause und Gerhard Müller

Band X Erasmus - Fakultäten, Theologische

Walter de Gruyter • Berlin • NewYork 1982

Redaktion: Dr. Michael Wolter, Gertrud Freitag-Otte Lieferung 1 / 2 Erasmus-Eschatologie ersch. September 1 9 8 2 Lieferung 3 / 4 Eschatologie-Evangelisation ersch. O k t o b e r 1 9 8 2 Lieferung 5 Evangelisation-Fakultäten ersch. D e z e m b e r 1 9 8 2

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Theologische Realenzyklopädie / in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz . . . hrsg. von Gerhard Krause u. Gerhard Müller. Berlin, New York: de Gruyter. NE: Krause: Gerhard [Hrsg.] Bd. 10. Erasmus-Fakultäten, Theologische - 1. Aufl. - 1982 ISBN 3-11-0085755

© 1982 by Walter de Gruyter & Co., vormals Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Vorwort Am 2 5 . August 1 9 8 2 verstarb plötzlich und unerwartet wenige Wochen nach seinem 7 0 . Geburtstag Gerhard Krause. Er hatte während seiner letzten Lebensjahre seine Arbeitskraft vorwiegend der Theologischen Realenzyklopädie gewidmet. Ihretwegen hatte er sich mit 6 5 Jahren emeritieren lassen, um ihr noch mehr Zeit als schon vorher widmen zu können. Sein T o d schmerzt uns tief, hatte er es doch verstanden, die Herausgeber zu einer Arbeitsgruppe zusammenzufügen, was durch die rasche Erscheinungsweise der Bände dokumentiert wird. An diesem 10. Band hatte er noch an der Fertigstellung der ersten beiden Lieferungen mitgewirkt, bevor er aus unserer Mitte abgerufen wurde. Es wird nicht leicht sein, die durch seinen T o d entstandene Lücke zu schließen. Aber die Herausgeber verstehen es als in seinem Sinne, wenn sie versuchen, die Arbeit auch weiterhin so gut und so schnell wie möglich fortzuführen. Als 1 9 7 6 die ersten Lieferungen erschienen, waren noch verschiedene andere Wissenschaftler beteiligt. Schon bald mußten Richard P. C. Hanson und Sven S. Hartman ausscheiden, letzterer aus gesundheitlichen Gründen, ersterer, weil die Arbeitsbelastung zu groß wurde. Professor Hanson empfahl uns für sein Fachgebiet, die Patristik, Stuart G . Hall als seinen Nachfolger, über dessen Mitarbeit ab Band 2 wir sehr froh sind. Sven S. Hartman wurde von Band 2 an von Günter Lanczkowski abgelöst, dem sein großer Überblick über Religionswissenschaft und -geschichte zugute kommt. Aus gesundheitlichen Gründen mußte bald darauf Martin Schmidt die Feder aus der Hand legen. Ihm, der von Anfang an mit der Arbeit an der Theologischen Realenzyklopädie verbunden war, fiel der Abschied besonders schwer. Sein großes Arbeitsgebiet der neueren Kirchengeschichte teilten sich J o achim Mehlhausen und Gottfried Seebaß ab Band 4 . Martin Schmidt wurde am 2 0 . M a i 1 9 8 2 aus diesem Leben abberufen - seine Beiträge zu den ersten Bänden der T R E dokumentieren sein Engagement für dieses Werk über seinen T o d hinaus. Gustaf Wingren hielt es für richtig, mit 7 0 Jahren aus dem Herausgeberkreis auszuscheiden. Wir mußten diesen Wunsch respektieren und danken ihm für viele Anregungen. An seine Stelle trat ab Band 9 als Herausgeber für das Fachgebiet Ethik Brian L. Hebblethwaite, der sich rasch eingearbeitet hat. Von Band 12 an wird es weitere Veränderungen geben. Ich habe wegen meines Wechsels in den kirchlichen Dienst darum gebeten, die Betreuung der Reformationsgeschichte abgeben zu können. Auch Gerhard Krause hatte sich nur der Hauptherausgeberschaft gewidmet, in der ich weiterzuarbeiten beabsichtige. Dies veranlaßte folgende Entscheidungen: Gottfried Seebaß wird die Reformationsgeschichte betreuen, während wir in James K. Cameron einen international angesehenen Wissenschaftler für das 17. und 18. Jahrhundert gewinnen konnten. Joachim Mehlhausen wird sich mit der Kirchengeschichte des 19. und 2 0 . Jahrhunderts befassen, weil sich diesem Zeitraum auch seine persönlichen Forschungen mehr und mehr zugewendet haben. Leider muß auch Wolfgang Müller-Lauter die Herausgeberschaft für die Philosophie aus gesundheitlichen Gründen abgeben. Für ihn trat dankenswerterweise Wolfgang J a n k e in den Herausgeberkreis ein, der trotz dieser personellen Veränderungen auf dem beschrittenen Weg weiter vorangehen will. Wolfenbüttel, den 4 . Oktober 1 9 8 2

Gerhard Müller

Erasmus Erasmus, Desiderius

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(1466/69-1536)

1. Leben 2. Gedankenwelt 3. Schriften bliographien/Quellen/Literatur S. 15)

4. Erasmusinterpretationen

5. Nachwirkung (Bi-

1. Leben Erasmus, der nach seiner Geburtsstadt Rotterdam den Beinamen „Roterodamus" annahm, war der zweite Sohn eines Priesters. Uber seine Jugend ist wenig bekannt; die folgenden Angaben sind nur unter Vorbehalt als verläßlich zu nehmen. Seine Schulbildung empfing er zuerst in Gouda, danach einige Jahre an der unter dem Einfluß der —»Devotio moderna stehenden Schule des Kapitels von St. Lebuinus in Deventer. Dort war der Humanist Alexander Hegius (ca. 1 4 3 3 - 1 4 9 8 ) kurze Zeit sein Lehrer, und dort begegnete er auch Rudolf Agricola (1443/44-1485). Nach eigenem Zeugnis war er ein langsamer Schüler. Nach dem Tode seines Vaters schickten seine Vormunde ihn und seinen Bruder auf eine Schule in 's-Hertogenbosch. 1487 wurden beide in Klöstern untergebracht, Erasmus im Kloster Steyn bei Gouda, das zum Orden d e r - * Augustiner-Chorherren gehörte. 1492 empfing er die Priesterweihe, 1493 wurde er Sekretär des Bischofs von Cambrai und verließ das Kloster. Zwar hat er noch bis 1507 die Mönchskutte getragen, aber ins Kloster ist er nie zurückgekehrt. Die geistige Entwicklung des Erasmus läßt sich erst von seiner Klosterzeit an verfolgen. Er fand dort Brüder, die sich wie er selbst für die bonae litterae begeisterten, als Dichter auftraten und miteinander Briefe wechselten. Seine Studien richteten sich vornehmlich auf die klassischen lateinischen Schriftsteller, einige italienische Humanisten und unter den Kirchenvätern besonders auf—»Hieronymus, aber auch auf —»Augustin. Schon damals huldigte er dem humanistischen Ideal der klassischen Kultur als der Grundlage echter —»Bildung. In diesen Jahren entstanden auch seine frühesten, erst viel später veröffentlichten Schriften: in Steyn De contemptu mundi und 1494/95 die Antibarbari. Die Stellung beim Bischof von Cambrai entsprach nicht Erasmus' Erwartungen und ließ ihm auch wenig Zeit, sich weiterzubilden. 1495 erhielt er die Erlaubnis, nach —»Paris zu gehen, wo er bis 1499 blieb. Er studierte vornehmlich Theologie, und zwar in den Bahnen des —»Nominalismus. Die scholastische Methode (—»Scholastik) weckte schon damals seine Abneigung; sie schien ihm veraltet — ein Urteil, das er sein Leben lang aufrechterhalten hat. Die Fortsetzung seiner humanistischen Studien brachte ihn in Verbindung mit den Pariser Humanisten. 1495 konnte er erstmals etwas veröffentlichen: eine Lobrede im Anhang des Werkes De origine... Fraticorum von Robert Gaguin. Wahrscheinlich hat Erasmus in diesen Jahren eine Vollkommenheit im Lateinischen erworben, die unter den Zeitgenossen ihresgleichen suchte. Er erkannte auch bereits die Bedeutung des Griechischen, obwohl er selbst nur erst geringe Kenntnisse davon besaß. Seinen Lebensunterhalt mußte er durch die Erziehung junger Männer aus Kaufmanns- und Patrizierfamilien verdienen — eine Tätigkeit, an der er wenig Gefallen fand. 1499—1500 verbrachte Erasmus sieben Monate in —»England. Dort lernte er John Colet (ca. 1467—1519) kennen und bei diesem eine Bibelexegese, die soviel wie möglich vom Text selber auszugehen suchte. Unter dem Einfluß seiner englischen Freunde begann er neue Vorstellungen eines Ideals zu entwickeln, das darauf gerichtet war, seine humanistischen Studien, die bis dahin unverbunden neben der Theologie gestanden hatten, dieser in irgendeiner Form nutzbar zu machen. Der Gedankengang ließ das Studium der Klassik keineswegs in den Hintergrund treten. Ihre Einbindung bewies Erasmus, als er im Jahre 1500 die erste Fassung seiner Adagia publizierte. In derselben Zeit lernte er auch perfekt Griechisch, und das in der erklärten Absicht, sich u.a. mittels dieser Sprachkenntnis ganz den arcanae litterae zu widmen. In dieselbe Richtung weist der Plan, die Briefe des Hieronymus zu kommentieren. Die Jahre zwischen 1500 und 1516 waren die unruhigsten in Erasmus' Leben. Abwechselnd lebte er in Paris und den südlichen Niederlanden ( 1 5 0 0 - 1 5 0 5 ) , in England (1505/06), Italien (1506-1509), wieder in England (1509-1514) und Basel (1514-1516). Was der

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Aufenthalt in Italien für seinen Bildungsgang bedeutet hat, ist nicht ganz klar. Auf jeden Fall erwarb er 1506 in Turin den theologischen Doktorgrad. In Rom, wo er sich 1509 aufhielt, machte er die Bekanntschaft einflußreicher Kardinäle, darunter des späteren Papstes —»Leo X . Seine innere Entwicklung gelangte in diesen Jahren zur Vollendung: in einem allmählichen Reifungsprozeß, denn von einer dramatischen Wendung ist nichts festzustellen. Als Lebensziel setzt er sich die Synthese von —»Humanismus und Theologie. Sie soll verwirklicht werden in einer Theologie, die von der Bibel ausgeht und sich eng an die Kirchenväter anschließt, und zur Erneuerung von Kirche und Gesellschaft beiträgt. Die Ausführung dieses Programms erforderte viele Studien: des Griechischen, der Kirchenväter (besonders—»Origenes und Hieronymus) und der Bibel (besonders —»Paulus). In diesen Jahren erschienen auch Schriften, die ihn später berühmt machen sollten: Etichiridiott und Lob der Torheit. Die Jahre 1515—1518 bilden den Höhepunkt in Erasmus' Leben. 1514 war er nach Basel gegangen, um bei dem Buchdrucker Froben den Druck verschiedener Werke zu betreuen. 1516 erschienen seine Ausgaben des Neuen Testaments und der Werke des Hieronymus, die ihn aus einem bekannten Mann zu einer Berühmtheit machten. Seine Korrespondenz gewann immer mehr Ausdehnung; 1516 wurde er zum Ratgeber—»Karls V. ernannt, 1517 von den Klostergelübden entbunden. Auch seine finanzielle Lage verbesserte sich ansehnlich. Es waren die Jahre, in denen seine Ideale in Erfüllung zu gehen schienen. So suchte Christoph von Stadion, der 1517 Bischof von Augsburg geworden war, auf der ersten von ihm geleiteten Diözesansynode seine Geistlichkeit auf die erasmianischen Ideen festzulegen. Und in —•Löwen wurde 1517 gemäß den Idealen des Erasmus das Collegium Trilingue gegründet. Die Verwirklichung der Ideale des Erasmus wurde jedoch durch das Auftreten —»Luthers durchkreuzt. Anfänglich schien Luthers Wirken sich an Bestrebungen des Erasmus anzuschließen. Beide widersetzten sich einem geistlosen kirchlichen Zeremonienwesen und arbeiteten auf eine Reinigung der Kirche hin. In den ersten Jahren hat Erasmus Luther auch vorsichtig in Schutz genommen. Obwohl Luther sich der Differenzen früher bewußt war als Erasmus, fehlte es auch bei diesem von Anfang an nicht an einer gewissen Reserve. Er machte Luther im besonderen zum Vorwurf, daß er durch übereiltes Auftreten die kirchlichen und weltlichen Autoritäten unnötig gegen sich aufbringe. Anfangs war Erasmus bemüht, die reformatorische Bewegung in den Rahmen der bestehenden Ordnung einzufügen. Bezeichnend dafür ist seine Vorrede zu der Ausgabe des Enchiridion von 1518, in der er Lutherohne Namensnennung in Schutz nimmtund ihn zugleich zur Vorsicht mahnt. In Löwen, wo Erasmus von 1517 bis 1521 lebte, wurden die Angriffe, die die Theologen der Universität schon seit einigen Jahren wegen der Ausgabe des Neuen Testaments und der dort in verschiedenen Anmerkungen niedergelegten Auffassungen gegen ihn richteten, jetzt viel heftiger. Sie setzten Erasmus mit Luther gleich, ja sie behaupteten sogar, dessen Werke seien mit Hilfe des Erasmus geschrieben worden. Um sein eigenes Lebenswerk nicht zu gefährden, hielt Erasmus allmählich mehr und mehr Abstand von Luther, ohne jedoch direkt gegen ihn Stellung zu nehmen. Hätte doch in seinen Augen ein Sieg von Luthers Feinden einen Triumph der Barbarei bedeutet. In zunehmendem Maße gewann Erasmus jedoch die Überzeugung, daß Luther aus seiner bedrängten Lage gar nicht gerettet werden wollte. Dessen Schrift De captivitate babylonica (1520) machte für Erasmus den Bruch unheilbar. Die auf dem Reichstag zu Worms gegen Luther verhängte Acht (—»Reichstage der Reformationszeit) bedeutete für ihn eine Krise. Von diesem Augenblick an war er davon überzeugt, daß Luther nur Erfolg haben könne, wenn die Einheit der Kirche zerbrochen werde - ein für Erasmus unmöglicher Gedanke. Um seine eigenen Ideale zu retten, mußte er sich in dem Konflikt neutral halten. 1521 siedelte er nach Basel über, um nicht in den südlichen Niederlanden in die Kampagne gegen Luther hineingezogen zu werden. Aber Neutralität erwies sich als unmöglich. 1523 wurde er von —»Hutten beschuldigt, Luther aus Feigheit im Stich gelassen zu haben, obwohl er sachlich mit diesem einig sei. Von verschiedenen Seiten zu einem Angriff gegen Luther gedrängt, versuchte Erasmus 1524, mit seiner Schrift De libero arbitrio diatribe den Streit auf eine höhere Ebene zu bringen. Didse Frage müßte sich, so meinte er, vorzüglich zu einer wissenschaftli-

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chen Debatte eignen. So war er denn höchst entrüstet über Luthers Gegenschrift De servo arbitrio (1525), in der dieser das gestellte Problem als eine Lebensfrage behandelte und ihn überdies mit gehässigen persönlichen Anschuldigungen beleidigte. Fortan war Luther für ihn ein Fremder. Das bedeutete, wider seinen Willen, eine Entscheidung für die alte Kirche. Unterdessen dauerte sein eigener Streit mit deren Theologen an. Man warf ihm vor, er habe durch seine Schriften die Reformation ausgelöst, ja, sein Streit mit Luther sei nur eine Spiegelfechterei gewesen. Das bewirkte, daß Erasmus' Vorwürfe gegen die Reformatoren nur um so bitterer wurden: durch ihre Schuld sei alle Freiheit der Meinungsäußerung verschwunden, und wo sie zur Herrschaft gekommen seien, führe das zum Untergang aller wahren Kultur. Unter den Schweizer Reformatoren waren mehrere »Zwingli, —»ökolampad - entscheidend von Erasmus beeinflußt. Anfangs hat Erasmus versucht, die hier entstandene Bewegung innerhalb der bestehenden Kirche zu halten. In der Epístola de interdicto esu carnium (1522) setzte er sich zu diesem Zweck für eine gewisse Freiheit in der Handhabung der Fastengebote (—»Fasten/Fasttage) und des—»Zölibats ein. Die Berufung der Zwinglianer auf Erasmus zur Verteidigung ihrer Position im Abendmahlsstreit (1525/26) (—»Abendmahl) hatte zur Folge, daß er sich von ihnen abwandte und sich auf die Tradition der Kirche zurückzog, die anders befunden habe. Als 1529 nach einem Bildersturm die Reformation in Basel durchgeführt wurde, verlegte Erasmus seinen Wohnsitz in das katholische Freiburg: er wollte seine Selbständigkeit bewahren. Trotz allen Kampfes und aller Enttäuschung der zwanziger Jahre blieb seine Produktivität groß. Das bezeugen die fortwährende Umarbeitung und Erweiterung seiner wichtigsten Schriften und die vielen Kirchenväterausgaben. Sein Einfluß war noch immer erheblich. Erasmus hat sich immer einsam und unverstanden gefühlt, aber nach 1529 nahm die Vereinsamung noch zu. Dem Augsburger Reichstag 1530 hat er, obwohl dazu gedrängt, nicht beigewohnt. Doch hat er die dort unternommenen Versöhnungsversuche aufmerksam verfolgt. Der Streit mit—»Bucer (1530), Luther (1534) und Opponenten aus dem altkirchlichen Lager hat ihn sehr verbittert. In De sarcienda ecclesiae concordia (1533) hat er sich noch einmal für eine offene Kirche eingesetzt, die den Evangelischen Zugeständnisse machte und sie unter Zubilligung einer beschränkten Autonomie mit umfassen sollte. Eine ihm 1535 angetragene Stellung an der Kurie zur Vorbereitung des Konzils schlug er aus. Im selben Jahr kehrte er nach Basel zurück, wo er am 12. Juli 1536 starb. 2.

Gedankenwelt

In der Untersuchung der Gedankenwelt oder der Theologie des Erasmus hat die Suche nach Einflüssen, die er in seiner Jugend empfangen hat, eine Zeitlang im Mittelpunkt gestanden, ohne daß es dabei .zu übereinstimmenden Resultaten gekommen wäre. Man hat die Devotio moderna für maßgebend erklärt (A. Hyma), diese umgekehrt ganz ausgeschaltet (R. R. Post) oder auch Devotio moderna und italienischen —»Humanismus, speziell —»Valla und —»Ficino, miteinander kombiniert (P. Mestwerdt). Andere haben Erasmus' Selbständigkeit betont: er setzt sich reine humanistische Bildung innerhalb des Christentums zum Ziel (R.Pfeiffer; O.Schottenloher). In letzter Zeit wird der Einfluß der Früh- und Hochscholastik, besonders des —»Thomas von Aquino, herausgearbeitet, wobei als Charakteristica des jungen Erasmus die heilsgeschichtliche Konzeprion und die Christozentrik gelten. Die Erforschung des reiferen Erasmus steht in vieler Hinsicht noch am Anfang. Im folgenden sollen einige kennzeichnende Züge seiner Gedankenwelt aufgezeigt werden.

Auffallend ist die ungemein scharfe Kritik, die Erasmus an Gesellschaft, Kirche und Theologie geübt hat. Was die Kirche betrifft, so richtet sie sich auf die Vielfalt der Zeremonien und den damit verbundenen Aberglauben, auf den „Pharisäismus", die Hochschätzung menschlicher Einrichtungen und die Geldsucht von Kirche und hoher Geistlichkeit. Hinter dieser Kritik steht als positives Motiv das Verlangen nach Lauterkeit, Reinheit und Einfachheit (J.Huizinga). Erasmus will der philosophia Christi oder philosophia christiana Eingang verschaffen. Dieser Terminus, den griechischen Kirchenvätern entlehnt und von Erasmus erstmals in der Ausgabe der Adagia von 1515 gebraucht, will zum Ausdruck bringen, wie Jesus sich auf der

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Welt in Niedrigkeit offenbart hat, und zugleich auch, wie der Christ und die Christenheit sich in der —»Nachfolge Jesu zu verhalten haben. Damit verbindet sich Erasmus' Ideal des Christentums als „religion du pur esprit" (J.Etienne). Wie gelangt man vom Sichtbaren, Materiellen, das als solches unvollkommen ist, zum Unsichtbaren, Geistigen, Himmlischen? Wer diesen Unterschied vernachlässige, verlasse sich auf tote Zeremonien. Diesen Gedankengang wendet Erasmus auf die kirchlichen Zeremonien, auf —»Heiligen- und —»Reliquienverehrung an, aber auch auf die —»Sakramente und das —»Dogma. Infolgedessen steht er der Transsubstantiationslehre ziemlich indifferent gegenüber und legt auf den Opfercharakter der Messe kein großes Gewicht. Auch in der—»Beichte rechnet er alles Rituelle zum „Fleisch", zum Sichtbaren und Niederen, und hält das Beichten der Sünden vor Gott für den „Geist", das Eigentliche. Dasselbe gilt für das Dogma: je mehr man festlegt, desto mehr erkaltet die Liebe. Überdies kann der Mensch, der jetzt noch nicht vollkommen Geist ist, die Geheimnisse Gottes noch nicht ganz ergründen. Und selbst wenn er es kann, ist es nicht angebracht, sie auszusprechen, wenn der andere sie nicht erfassen kann. Zu einer vollständigen Spiritualisierung kommt es bei Erasmus indessen nicht, da er zugesteht, daß das Äußere ein Zeichen von Frömmigkeit und ein Mittel, zu ihr zu gelangen, sein könne, so daß es jedenfalls für den Schwachen im Glauben notwendig bleibe. Der geistliche Mensch habe solche Hilfsmittel jedoch nicht mehr nötig. Dieser Gedankengang führt zu einer nachdrücklichen Betonung der —»Freiheit des Christen: er ist nicht sklavisch an Vorschriften der Kirche gebunden. Die entgegengesetzte Haltung nennt Erasmus „Judaismus", einen Rückfall ins Alte Testament, in die Zeit und Religion der Sklaverei. Das Christentum als Religion des Geistes kennt keine Vorschriften von Menschen, die anderen bindend auferlegt würden. Auch die Gründer der Mönchsorden wollten nur mit Freunden zusammen in Freiheit des Geistes nach der Lehre des Evangeliums leben und mußten dazu gedrängt werden, äußere Dinge wie Kleidung und Essen durch Vorschriften zu regeln. Damit hängt Erasmus' Gedanke von der Entwicklung der Heilsgeschichte in fünf Perioden zusammen. Nach der Zeit des Alten Testaments ist mit—» Johannes dem Täufer die Zeit der Vorbereitung gekommen. Die dritte Periode ist die des ersten Christentums mit strengen Geboten: das Kreuz auf sich zu nehmen, Vater und Mutter zu verlassen, alle Güter zu verkaufen. Mit—»Konstantin beginnt die vierte Periode, in der von der Kirche neue Gesetze eingeführt werden, die manchmal den Geboten Christi zu widerstreiten scheinen. Erasmus mißbilligt diese Gesetze nicht schlechthin, aber sein Herz schlägt für die dritte Periode. Sieht er doch noch eine letzte Periode vor der Tür stehen, die der entarteten, von der Urkraft des christlichen Geistes abgefallenen Kirche. Man möge daher reserviert sein gegenüber den Geboten der Kirche; sie haben nur Wert, wenn sie zu Christus führen. Diese Ideale gründen in dem großen Vertrauen, das Erasmus in die Möglichkeiten des Menschen setzt. Das heißt nicht ohne weiteres, daß er ein optimisoisches Menschenbild habe. „Aber grenzenlos ist sein Vertrauen in die innere Kraft der Wahrheit und der von ihr erfaßten Vernunft" (Liechtenhan 421). Zwei Waffen hält er für nötig im Kampf gegen die Sünde: Gebet und Erkenntnis. Die ratio ist von der Sünde nicht tangiert, sondern göttlich geblieben. Zudem fallen das Rationale und das Sittliche nahezu ganz zusammen. Erasmus will eine wohlgeordnete Welt, in der jede Menschenklasse und jedes Individuum den ihnen zukommenden Platz einnehmen, und ein Menschenleben, in dem diese Harmonie ebenfalls herrscht. In diesem Ideal hat die Friedensidee des Erasmus ihre Grundlage. In der wohlgeordneten Welt ist Christus der Mittelpunkt. Ihn umgibt der Kreis der Geistlichen, ein zweiter Kreis besteht aus den weltlichen Fürsten, und im dritten Kreis steht das gewöhnliche Volk. Doch ist diese Gesellschaft nicht statisch, sondern im Sinne einer dem Mittelpunkt zustrebenden Erziehung gedacht. Diese Gedanken des Erasmus haben ihr Zentrum in seiner ehrerbietigen Wertschätzung des Neuen Testaments, das als das Zeugnis von Jesus Christus eine vorrangige Stellung einnimmt. Dort findet man Christus eher, als wenn man ihn mit den Augen körperlich betrachtete (vgl. Holborn 149,11 f). Christus soll der Richtpunkt der christlichen Gesellschaft sein.

Erasmus

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Deswegen drängt Erasmus auf Übersetzungen der Bibel in die Volkssprachen (vgl. H o l b o r n 142,15-17). In vorstehender Nachzeichnung der Gedankenwelt des Erasmus wurde der Ausdruck „Theologie des Erasmus" nicht gebraucht. In den letzten Jahren ist jedoch die Frage nach seiner Theologie mehrfach verhandelt worden (Kohls; Chantraine; Winkler). Ist dieser Sprachgebrauch richtig? M. E. nicht in dem Sinne, daß eine bestimmte, die Gedankenwelt des Erasmus prägende theologische Konzeption aufgewiesen werden könnte. Gewiß repräsentiert er einen bestimmten Frömmigkeitstyp. Hier geht es aber um eine andere Frage. Wenn Theologie und Frömmigkeit nicht beziehungslos nebeneinander stehen, so fallen sie doch auch nicht zusammen. Doch kann Erasmus mit guten Gründen ein Theologe genannt werden: 1. Er kannte sich in der Schultheologie seiner Zeit und der voraufgegangenen Jahrhunderte gut aus und machte in verschiedenen Schriften davon hervorragenden Gebrauch. 2. Wie seine Editionen beweisen, besaß er eine phänomenale Kenntnis der Kirchenväter, die er besonders in den Annotationes zum Neuen Testament fruchtbar zu machen wußte. 3. In seinen Schriften begegnet eine Konzentration auf zwei Themen: auf das Leben und die Werke Christi und auf den Heilsweg des Menschen. In dieser Konzentration findet das Bedürfnis nach einer Rückkehr zur Bibel ihren Ausdruck. Diese Ideen und Bestrebungen stehen jedoch in einem größeren Z u s a m m e n h a n g : Es geht Erasmus programmatisch um die Vereinigung der bonae litterae mit den sacrae litterae. Bei bonae litterae hat man nicht nur an das Studium der klassischen Antike im technischen Sinn des W o r t e s zu denken. G e w i ß gehört dieses auch dazu; E r a s m u s w a r für die antike Kultur begeistert, schätzte sie wesentlich höher als die seiner eigenen Z e i t und wandte ihr ein vielseitiges Studium zu. D a h i n t e r aber steht die Idee, d a ß erst die Vertiefung in das klassische Altertum w a h r e Bildung begründe und den M e n s c h e n zum wahren M e n s c h e n m a c h e . Diese Bildung will Erasmus für das Studium der sacrae litterae, der T h e o l o g i e , fruchtbar machen, um sie so aus ihrer Isolierung zu befreien. Im Kreise der Humanisten sah man geringschätzig auf die scholastische T h e o l o g i e herab. Dabei berief man sich v o r allem a u f die Briefe aus Erasmus' eigener Klosterzeit. In ihnen werden beinahe ausschließlich klassische Schriftsteller, k a u m aber christliche erwähnt. Die bonae litterae und die sacrae litterae stehen sozusagen unversöhnt nebeneinander. W e r die wahre Kultur liebt, m u ß sich w o h l von der T h e o l o g i e abwenden. Allmählich wird jedoch Hieronymus zur Idealfigur des Erasmus, weil bei ihm die Verbindung zwischen beiden zu finden ist. So reift in Erasmus der W u n s c h : die humanistischen Studien, die zum Heidentum geführt haben, sollen jetzt Christus ins Z e n t r u m stellen (—•Antike und Christentum). K o n k r e t bedeutet das zunächst, d a ß Erasmus die im H u m a n i s m u s entwickelten philologischen M e t h o d e n für die Bibelwissenschaft und für die T h e o l o g i e insgesamt nutzbar machen will. Seine Gegner haben ihn bisweilen als einen bloßen grammatistes dargestellt, und auch er selbst hat sich so bezeichnet und erklärt, er wolle kein dogmatistes sein. E r vergleicht sein W e r k mit dem des J e t h r o , der in mancher Hinsicht weiser gewesen sei a l s - * M o s e und diesem h a b e nützlich sein k ö n n e n . Besonders wenn er sich apologetisch mit Kritikern seines W e r k e s auseinandersetzte, hat Erasmus es oft so dargestellt, als gehe es ihm um eine rein technische Angelegenheit, die der systematischen T h e o l o g i e n u r zugute k o m m e n k ö n n e . Zweifellos ist diese Seite der Sache tatsächlich sehr wichtig. D e r überwiegende Teil der Annotationen zum Neuen T e s t a m e n t liegt auf dieser E b e n e . Zugleich läuft aber auch inhaltlich Beträchtliches mit. Erasmus selbst sagt das im Bilde vom lebendigen Quellwasser im Verhältnis zu trübem Brunnenwasser. D a m i t spricht er deutlich genug aus, d a ß es ihm um mehr als bloße Hilfsdienste zu tun war. Die humanistische Parole „zurück zu den Q u e l l e n " , die sich der Überzeugung von der Antike als der Quelle der w a h r e n Kultur verdankt, wird nun angewendet als Aufruf zur R ü c k k e h r zu den Quellen des Christentums, dem Neuen T e s t a m e n t und den Kirchenvätern.—»Basilius u n d - * J o h a n n e s C h r y s o s t o m u s sind ein goldener S t r o m und ein üppiger G a r t e n , im Vergleich mit denen die neueren T h e o l o g e n wie dürftige Bächlein, wie D o r n e n und Disteln wirken. Bei den Kirchenvätern ist jene Verbindung von T h e o l o g i e und wahrer Kultur zu finden, deren die W e l t auch heute bedarf. D i e alte Kirche wird zum Ideal, zum goldenen Zeitalter im Vergleich mit Kirche und T h e o l o g i e der neueren Z e i t . W a s Erasmus erstrebt, ist eine neue Theologie, die zugleich ein Wiederaufleben der al-

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ten ist. Dabei kommt der Sprache als Medium eine sehr wichtige Stellung zu (vgl. ASD 1/3,273). So verlagert sich bei Erasmus der Schwerpunkt auf diesacrae litterae. Die Pflege der klassischen Literatur ist eine Rekrutenschule; man soll ihr als Reisender obliegen, nicht als Bewohner. Er betrachtet sie mit einem Augustin entlehnten Bild als die Schätze Ägyptens, mit denen der Tempel geschmückt wird. Christentum und antike Klassiker sind für ihn keine gleichberechtigten Größen. Das bekannte „Heiliger Sokrates, bitte für uns!" (ASD 1/3,254), eine sicher nicht ganz ernst gemeinte Fürbitte, ist im Rahmen einer den Apologeten entlehnten Logos-Theologie gedacht. Die Antike ist für Erasmus eine intellektuelle und moralische Vorbereitung auf die Lehre Christi. Mit dieser Konzeption wird Erasmus zum Mittelpunkt einer Erneuerungsbewegung mit großem idealistischem Elan, die sich von der Scholastik mit der Begründung abwendet, dort habe die Barbarei immer mehr überhand genommen. Die Verfallstheorie, die später in der protestantischen Geschichtsschreibung eine so große Rolle spielen sollte, hat ihren Ursprung in dieser Bewegung. Man hat ihr verschiedene Namen gegeben: christlicher Humanismus (E. F. Jacob) oder deutscher Humanismus (G. Ritter). Den Vorzug verdient m. E. der von niederländischen Forschern gebrauchte Terminus „biblischer Humanismus" (J. Lindeboom), weil diese Bezeichnung treffend den Kern ihres Strebens angibt. Die Bewegung war sehr einflußreich. Noch in den zwanziger Jahren, als die kirchliche Spaltung sich nach und nach abzuzeichnen begann, stellte sie ein wichtiges Bindeglied dar. Es ist kein Zufall, daß die meisten führenden Gestalten sowohl innerhalb des Luthertums dieser Periode als auch aus der schweizerischoberdeutschen Reformationsbewegung aus diesem Kreise hervorgegangen sind. Der inhaltliche Einfluß ist vor allem auf zwei Gebieten sehr erheblich gewesen. Zum einen bedeutet die Bibelauslegung, wie sie vom 16. Jh. an getrieben wird, einen Bruch mit der im Mittelalter üblichen Exegese. Sie bewegt sich zuerst bei den Protestanten, später auch auf katholischer Seite — in den Spuren des Erasmus. Zum anderen betrifft der Einfluß die systematische Theologie. Schon in dem allerersten systematischen Werk evangelischer Provenienz, den Loci communes —»Melanchthons, treten zwei auf den biblischen Humanismus zurückweisende Grundzüge hervor: Einerseits ist diese Schrift, ganz auf der Linie der humanistischen Methode, unmittelbar an der Bibel orientiert. Andererseits teilt sie - trotz großer inhaltlicher Differenzen! — mit Erasmus die Konzentration auf die Christologie und den Heilsweg des Menschen sowie die Ablehnung aller Spekulation. Diese entscheidende Wendung in der Theologie, die von großer Tragweite für die ganze Reformation sein sollte, war teilweise innerhalb des Kreises des biblischen Humanismus vorbereitet worden.

3. Schriften Erasmus war ein unermüdlicher Vielschreiber, der in raschem Tempo seine Gedanken aufs Papier warf. Im folgenden wird eine Übersicht über einige seiner einflußreichsten Werke gegeben. Von vielen von ihnen gilt, daß die Endfassung viel ausführlicher ist, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Auch enthalten aufeinanderfolgende Auflagen desselben Werkes oft beträchtliche Änderungen und Umarbeitungen.

3.1. De contemptu muttdi (ASD V / 1 , 1 - 8 6 ) , veröffentlicht 1521, a b e r - mit Ausnahme des wohl erst kurz vor der Veröffentlichung verfaßten letzten Kapitels — schon vor 1490 geschrieben, handelt von dem Wert des monastischen Lebens im Zusammenhang mit dem Thema der Weltverachtung. Die Schrift erlebte bis 1536 siebzehn Auflagen. - Antibarbari (ASD 1/1,1-138), 1494 oder 1495 in einer ersten, damals nicht veröffentlichten Fassung geschrieben, wurde erst 1520 in einer im Ton beträchtlich verschärften Version publiziert. Erasmus verteidigt hier das gute Recht des Studiums der litterae gegen die scholastischen Theologen, die diese Beschäftigung für nutzlos und gefährlich hielten. In beiden Schriften stehen seine humanistischen Interessen im Mittelpunkt. 3.2. Die Colloquia (ASD 1/3) bestanden ursprünglich aus einer Reihe von Übungen in lateinischer Konversation über alltägliche Gegenstände. Diese Übungen waren aus dem Unterricht erwachsen, den Erasmus um 1500 in Paris gab. 1518 wurden sie unter Redaktion von Beatus Rhenanus, aber ohne Wissen des Verfassers unter dem Titel Familiarium colloquiorum formulae veröffentlicht. Erasmus war, auch wegen der vielen im Text enthaltenen Fehler, über die Publikation etwas verstimmt. Doch hatte das Werk großen Erfolg: es erlebte von 1518 bis 1520 vierzehn Auflagen. Das veranlaßte Erasmus, an zwei verschiedenen ver-

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besserten Fassungen selber mitzuwirken, die zwischen 1519 und 1522 zusammen 25 Auflagen erreichten. Dennoch lehnte er die Verantwortung für diese Schrift weiterhin ab. Erst 1522, als er eine völlig veränderte und vermehrte Ausgabe erscheinen ließ, bekannte er sich zu seiner Verfasserschaft. Durch die Hinzufügung einiger Dialoge erhielt das Werk einen eher literarischen als didaktischen Charakter. Mehrfach hat Erasmus bei neuen Auflagen weitere Dialoge hinzugefügt. Diese berührten oft in sehr kritischem Geist aktuelle kirchliche und gesellschaftliche Probleme. Themen wie die Ehe, die Stellung der Frau, der Krieg, das Fasten, Wallfahrten und Heiligenverehrung kamen zur Sprache, und öfter übten die Colloquia in satirischer Form Kritik an Geistlichkeit und Orden. Die dialogische Form bot Erasmus Gelegenheit, diese brennenden Fragen von verschiedenen Seiten zu betrachten. In diesem Zusammenhang ist besonders die Ausgabe von 1526, die den neuen Titel Familiarium colloquiorum opus trägt, zu erwähnen. Die vier neu aufgenommenen Gespräche riefen feindselige Reaktionen von Seiten der Geistlichkeit hervor. Darum schrieb Erasmus im Juni desselben Jahres eine Apologie: De utilitate colloquiorum. Diese wurde fortan jedesmal in die Ausgaben der Colloquia mit aufgenommen. Erasmus zeigt sich in dieser Verteidigung als christlicher Moralist, der den Geist seiner Leser zur Frömmigkeit bilden will. Trotzdem erfuhren die Colloquia scharfe Anfeindungen, so u. a. aus Löwen 1522, aus Paris ab 1524 und von Alberto Pio von 1529 bis 1531.1531 erließ die Sorbonne sogar eine Verurteilung vieler Stellen aus den Colloquia. All dies tat der Popularität des Werkes, das allein zu Erasmus* Lebzeiten an die hundertmal gedruckt worden ist - zahlreiche Separatausgaben einzelner Colloquia nicht eingerechnet - keinen Abbruch. Das Werk blieb bis weit ins 17. Jh. hinein populär und erlebte sogar im 18. Jh. noch ca. 20 Auflagen. Auch erschienen zahlreiche Ubersetzungen, meist von einzelnen Colloquia oder kleinen Gruppen. Die Ubersetzungen lassen sich in frühe und spätere einteilen. Die frühen (spanisch: 1529; italienisch: 1528,1530,1532; deutsch: 1524, 1527; plattdeutsch: 1527; englisch: 1534) wurden durch den Inhalt veranlaßt, die späteren (ab Ende des 16. Jh.) durch die Form.

3.3. Die Adagia (LB II) bieten griechische und lateinische Sprichworte, Redensarten und Rätselsprüche mit Kommentar. Die erste Ausgabe (1500) enthält 818 Sprichworte, die letzte von Erasmus revidierte (1536)4151. Seit der Ausgabe von 1515 dient die Schrift einem doppelten Zweck: sie ist gleichzeitig Führer auf dem Gebiet der Antike und ein Mittel, um des Verfassers Gedanken auf dem Feld von Gesellschaft und Kirche zu propagieren, „tract for the times" (Mann Phillips, 35). Dazu dienen vor allem die längeren Erläuterungen, die sich zu wahren Essays auswuchsen. In die Ausgabe von 1533 nahm Erasmus auch autobiographisches Material auf. Als Quellen benutzte er antike Sammlungen griechischer Sprichworte, Grammatiker und die wichtigsten klassischen Schriftsteller sowie die Bibel und die Kirchenväter. Die Schrift war zu Erasmus' Lebzeiten besonders populär und ist es zwei Jahrhunderte lang geblieben. Diente das Werk in seinen späteren Ausgaben vornehmlich als Hilfsmittel zur Aneignung klassischer Bildung, so zeigen die zu Beginn erschienenen Separatausgaben einzelner adagia, die z. T. auch in Ubersetzungen herauskamen, daß sie seinerzeit auch um ihrer aktuellen Bedeutung willen geschätzt wurde.

3.4. Enchiridiott militis christiani. Den ersten Entwurf schrieb Erasmus 1501. Danach arbeitete er es weiter aus, und 1503 wurde es veröffentlicht (LBV, 1 - 6 6 ; Holborn 1 - 1 3 6 ) . Seine Absicht war, in dieser Schrift eine Anleitung zu einem wirklich christlichen Leben zu geben. Es ist deshalb praktisch, nicht theologisch ausgerichtet und in hohem Maße charakteristisch für Erasmus' spiritualisierendes Frömmigkeitsideal. Er schildert das Leben des Christen als einen beständigen Kampf zwischen Geist und Leib. Der Mensch soll Geist sein und nach dem Ewigen, Unsichtbaren streben. Dieser Kampf ist schwer, weil wir auch nach der Taufe an drei Gebrechen leiden: an der Blindheit, die das Urteil der Vernunft verdunkelt, am Fleisch, das die Leidenschaft weckt, und an der Schwachheit, die uns die schon erworbenen Tugenden wieder verlieren läßt. In 22 Canones gibt Erasmus die Regeln wieder, an die der Mensch sich zu halten habe. Drei dieser Regeln treten als die entscheidenden hervor. Zuvörderst soll der Mensch sich völlig auf Christus ausrichten und ihm allein nachfolgen. Fer-

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ner soll er im Aufstieg zum Unsichtbaren allen Aberglauben überwinden. Endlich soll er sich Christus allein als Vorbild aller Frömmigkeit vor Augen halten. Anfangs blieb das kleine Büchlein völlig unbeachtet. Nach 1509 wurde das anders, und besonders nach dem Neudruck von 1518 gewann es große Popularität. Dazu trug die damals hinzugefügte Widmung an Paul Volz mit unzweideutigen Anspielungen auf Luther bei. Zwischen 1518 und 1530 erschienen nicht weniger als 37 Auflagen, zu denen, ebenfalls ab 1518, auch Übersetzungen traten — allein im 16. Jh. schon in neun Sprachen. Widerspruch erhob sich von den zwanziger Jahren an, am stärksten aus Spanien: eine Folge davon, daß Erasmus' Worte durch das Auftreten der Reformatoren einen neuen Klang gewonnen hatten.

3.5. 1509, während seines Aufenthaltes in England bei seinem Freund Th. —»Morus, hat Erasmus das Moriae Encomium id est stultitiae laus ( ASDIV/3) geschrieben. Er schließt sich in diesem Werk an die klassische Stilform der Lobrede an, die durch ihren absurden Charakter zur Satire wird ( Aristophanes, Lucian). Erasmus legt in dieser Schrift der personifizierten Torheit eine Lobrede auf sich selbst und all ihre Werke in den Mund. Durst nach Erkenntnis, das aktive Leben von Arbeit und Geschäft, aber auch Aberglaube und Heuchelei und ebenso schließlich das unkomplizierte, naturgemäße Leben - an allem geht die Torheit achselzukkend vorbei. Es gibt nur einen Ausweg aus der Torheit: den Sprung aus der irdischen Wirklichkeit. Erasmus ruft Paulus zum Zeugen an, daß der Mensch töricht sein müsse. Das Törichte Gottes sei weiser als die Menschen. In der himmlischen Seligkeit werde der Mensch ganz außer sich selber sein. Den Vorgeschmack dieser Seligkeit genieße der Fromme in seiner Verzückung. Diese christliche Sinngebung der Torheit ist den zahlreichen Kritikern dieser Schrift entgangen. Seit 1515 mußte Erasmus sich immer wieder gegen Angriffe verteidigen. Durch die spöttische Art, in der er die Torheit über die weltlichen Unternehmungen etwa von Theologen und Kirchenfürsten reden ließ, zog er sich die Beschuldigung von Respektlosigkeit und Blasphemie zu. In seinen Apologien neigte er zunehmend dazu, das Werk als eine Bagatelle hinzustellen. Zudem sei es in einer ganz anderen, weniger aufgewühlten Zeit geschrieben worden; jetzt würde er so etwas sicher nicht mehr tun. Nächst den Colloquia ist dies das am weitesten verbreitete und am meisten übersetzte Werk des Erasmus. Es ist zu seinen Lebzeiten sechsunddreißigmal aufgelegt worden. Zu nennen sind die erste Auflage von 1511 in Paris, die vermehrte Ausgabe von 1514 in Straßburgund die Ausgabe von 1515 in Basel mit dem Kommentar von Gerardus Listrius, der zu einem Teil sicher von Erasmus selbst stammt. Unter den zahlreichen Übersetzungen verdient besonders die deutsche von S.—»Franck (1534) Erwähnung.

3.6. Die Abfassung der Querela pacis (ASD IV/2,1 - 1 0 0 ) muß auf dem politischen Hintergrund jener Zeit gesehen werden. Auf Initiative des südniederländischen Staatsmannes Le Sauvage wurden Versuche unternommen, —»Maximilian I. mit—»Franz I. von Frankreich zu versöhnen. Erasmus schrieb die Querela pacis 1517 im Auftrag jenes Le Sauvage, der sich von dem Werk einen positiven Einfluß auf diese Bestrebungen erhoffte. Obwohl die Querela pacis ihren unmittelbaren Zweck nicht erreicht hat, hat das Werk doch großen Einfluß ausgeübt. Erasmus entwarf ein Bild einer christlichen Weltordnung, der die Interessen der einzelnen Staaten und Fürsten untergeordnet zu sein hätten. Man solle sich nur auf Christus als den Stifter des Friedens ausrichten. Dieses Bild wird eingerahmt von scharfer Kritik an dem aktuellen Lauf der Dinge, der diesem Idealbild keineswegs entsprach. Den Schluß des Werkes bildet ein Aufruf an Papst, Kaiser und Könige, als Träger des Bildes des Friedensfürsten Christus dem Friedensideal nachzustreben. Die erste Auflage erschien 1517 in Basel. Eine zweite Ausgabe, 1518 in Löwen publiziert, fügte dem Text viele kritische Marginalien hinzu, die wahrscheinlich nicht von der Hand des Erasmus sind. Zu seinen Lebzeiten hat das Werk es auf 26 Auflagen gebracht. Es gibt zwei frühe deutsche Ubersetzungen, beide 1521 gedruckt, in Augsburg und Zürich, mehrere niederländische (seit 1567) und eine französische.

3.7. Nicht umsonst ist die erste Auflage der Institutio principis christiani (Basel 1516; ASD IV/1,95-219) Karl V., die zweite, einigermaßen veränderte (Basel 1518) dessen Bru-

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der—»Ferdinand gewidmet. Erasmus wollte mit diesem Werk beitragen zu der Erziehung des Prinzen, der durch Geburt zum Fürsten bestimmt ist. Dank der Erbfolge hing nämlich nach seiner Meinung die Qualität des Fürsten ganz mit der Qualität von dessen Erziehung zusammeji. Erasmus beschreibt den Fürsten als den Auserwählten des Volkes, dessen Pflicht es ist, Frieden und Wohlfahrt zu fördern. Er steht im Dienste des Volkes und ist an die Gesetze des Landes gebunden. In der Institutio prtncipis ckristiani behandelt Erasmus bis ins kleinste Detail die Erziehung zu einer solchen Funktion (—•Fürstenspiegel). Bis zum Tode des Erasmus hat das Werk zehn Auflagen erlebt, daneben zwei deutsche Übersetzungen, in Augsburg und Zürich, beide 1521, sowie eine dänische von 1534 (Roskilde) und eine venetianische Ausgabe von 1539. Auch im 17. Jh. ist das Buch noch mehrfach nachgedruckt worden, teils lateinisch, teils in Übersetzungen.

3.8. Das Studium und die Herausgabe von Werken der Kirchenväter paßte vollkommen in das Programm des Erasmus. Die wichtigsten Editionen, die er selbst besorgte, sind, in chronologischer Reihenfolge, die des Hieronymus, 9 Bände, 1516; —»Cyprian, 1520; Arnobius, 1522; —»Hilarius, 1523; Editionen und Übersetzungen von Chrysostomus, 1525—1533; —»Irenaus, 1526; Ubersetzungen von —»Origenes, 1527 und postum 1536; —•Ambrosius, 1527; Augustin, 10 Bände, 1528/29. Neben dieser eigenen Arbeit regte er viele andere zum Herausgeben und Übersetzen an. Die Editionen von Hieronymus und Augustin nehmen nicht nur durch ihren Umfang eine besondere Stellung ein. Augustin hat, besonders durch De doctrina christiana, in erheblichem Maße auf Erasmus* theologisches Denken eingewirkt. Hieronymus, dem er in der Auffassung des Lebenszweckes und im Temperament sehr verwandt war, hat ihm die entscheidenden Hinweise für sein Lebenswerk vermittelt und seinen Lebensgang bestimmt. 3.9. Die Ausgabe des Neuen Testaments (LB VI; —»Textgeschichte) stellt Erasmus' größte wissenschaftliche Leistung dar. Schon seit 1500 hatte sich sein Studium auf die Erforschung der Bibel gerichtet. 1505 gab er ein von ihm entdecktes Manuskript von L. —* Vallas Adnotationes zum Neuen Testament heraus, versehen mit einer wichtigen Vorrede, in der er die philologische Arbeit am Bibeltext verteidigte. In derselben Zeit arbeitete er auch an einer Übersetzung ins Lateinische und an der Interpretation der paulinischen Briefe. Im März 1516 erschien das Novum Instrumentum, dem jahrelange Vorarbeiten und ein halbes Jahr Druckarbeiten in der Druckerei von Froben in Basel vorausgegangen waren. Erasmus wußte, daß die Ausgabe übereilt und verfrüht war. Die Eile war auch dadurch geboten, daß Froben vom vollendeten Druck der Complutensischen Polyglotte (s. TRE 6,347,33 ff) Kenntnis erhalten hatte. Die Ausgabe ist —»Leo X. gewidmet. Auf diese Widmung folgen die einleitenden Stücke: Paraclesis, Methodus und Apologia: eine Ermunterung zum Lesen des Neuen Testaments, Anweisungen zu dessen fruchtbarer Lektüre und eine Verteidigung des Unternehmens. Darauf folgen, in zwei Kolumnen gedruckt, der griechische Text und eine lateinische Übersetzung aus der Feder des Erasmus. Den Schluß bilden die Annotationes zum Text, die ungefähr ebensoviel Raum einnehmen wie Text und Übersetzung zusammen. Das Ganze ist mehr als 1000 Seiten stark. Die Publikation war vorbereitet durch eine wohlgeplante Pressekampagne in den vorausgegangenen Jahren, in der die von dem Löwener Professor Maarten van Dorp (Dorpius) im voraus geäußerten Einwände entkräftet wurden. Was die Textedition betrifft, so besteht ihre Basis in drei Handschriften aus dem 12. Jh., die dem Koine-Text folgen. In der einzigen Handschrift, die die Apokalypse enthielt, fehlten deren letzte Verse, die Erasmus deshalb aus der Vulgata ins Griechische zurückübersetzte. Die lateinische Übersetzung war als Hilfsmittel für die des Griechischen unkundigen Leser gedacht. Erasmus erstrebte keine elegante, sondern eine klare und zuverlässige Übersetzung. Er schloß sich bewußt an die Vulgata an, in den Evangelien stärker als in den Briefen. Die Annotationes verfolgen einen doppelten Zweck: die Festlegung der richtigen Lesart und eine Interpretationshilfe. Überwiegend sind es relativ kurze Anmerkungen philologischer Art. Kirchenväter werden zu jedem der beiden Zwecke reichlich zitiert. Die Absicht war, dem Benutzer durch Text, Übersetzung und Anmerkungen das nötige Material für eine Konfrontation der Vulgata mit dem griechischen Text zur Verfügung zu stellen. Weil die Complutensische Polyglotte erst

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1522 erschien, eroberte das Neue Testament des Erasmus den Markt. Das beweisen die vier folgenden autorisierten Auflagen und die vielen Nachdrucke des griechischen Textes und der Übersetzung. Neue Ausgaben erschienen 1 5 1 9 , 1 5 2 2 , 1 5 2 7 und 1535. Wichtige Veränderungen weisen darin die einleitenden Stücke auf. In der zweiten Auflage wurde die Methodus stark erweitert zu einer Ratio verae theologiae. In der dritten Auflage wurde sie dagegen ganz weggelassen, und von der vierten an wurde auch die Paraclesis nicht mehr aufgenommen, so daß die letzten beiden Ausgaben lediglich noch die ziemlich kurze Apologia enthalten. Von Paraclesis und Ratio erschienen jedoch viele separate, z. T. auch gemeinsame Ausgaben. Sie stellen eine wichtige Quelle für die Schrifttheologie des reifen Erasmus dar. Erasmus plädiert für eine fromme, der Erbauung dienende Theologie, dem Fassungsvermögen des Lesers angepaßt und der Bibcllcktüre von Laien dienend. Ein wichtiges Thema ist der besondere Charakter des Neuen Testaments, das, weil es Christus selbst zum Inhalt hat, die reinste Quelle der göttlichen Weisheit ist. Die —»Hermeneutik behandelt Erasmus vorwiegend im Anschluß an Augustins De doctrina christiana: das höchste Ziel ist, daß Wissenschaft und Frömmigkeit in der Person des Theologen eine Einheit bilden - daß er wird, was er lehrt. Der Text wurde von Auflage zu Auflage immer wieder korrigiert. Außerdem arbeitete Erasmus weitere Handschriften ein, deren er habhaft wurde. Besonders die dritte Auflage weist viele Korrekturen auf, wahrscheinlich infolge der Kritik von Züniga. Die bekannteste Änderung ist die Aufnahme des Comma Jobattneum (I Joh 5,7) in die dritte Auflage. Die Ubersetzung ist in der zweiten Auflage selbständiger gegenüber der Vulgata; Erasmus empfand, daß er nach der günstigen Aufnahme der ersten Ausgabe mehr wagen könne. Später wurde sie nicht mehr tiefgreifend revidiert. In der vierten Auflage wurde in einer dritten Kolumne die Vulgata aufgenommen, in der fünften aber wieder weggelassen. Die stärkste Veränderung erfuhren die Anmerkungen. Vor allem in der zweiten und dritten Auflage wurden sie beträchtlich vermehrt. Einerseits trat viel zusätzliches patristisches Material hinzu und kamen auch andere exegetische Hilfsmittel wie die Clossa ordinaria und —»Nikolaus von Lyra häufiger zu Wort. Teilweise sind diese Änderungen und Zusätze eine Frucht von Erasmus' gleichzeitiger Arbeit an den Kirchenvätereditioncn und anderen Studien. So steht die starke Erweiterung der Anmerkungen zum Römerbrief, die noch in den Ausgaben von 1527 und 1535 stattfand, weithin im Zusammenhang mit seinen Vorarbeiten für den Hyperaspistes. Andererseits führte Erasmus von der zweiten Auflage an noch einen anderen Typus von Anmerkungen ein, worin er eigene Gedanken zur Theologie und zur Verbesserung von Kirche und Gesellschaft vortrug. Meist geschah das in abrißhafter Kürze, manchmal wuchsen sich diese Annotationen aber auch zu kleinen Abhandlungen aus, so z.B. die zu Mt 11 über menschliche Einrichtungen in der Kirche, zu Joh 1 über „sermo", zu Rom 5 über die Erbsünde, zu I Kor 7 über Ehe und Ehescheidung, zu I Kor 15 über die Auferstehung; einige davon erschienen sogar — in Ubersetzung - als Separatausgaben. So wurde auch dieses Werk in den Dienst der Verbreitung von Erasmus' Gedanken gestellt. Kritik am erasmianischen Neuen Testament wurde von dem englischen Theologen Edward Lee und dem spanischen Theologen Diego Lopez de Züniga (Jacobus Stunica) geübt. Die des letzteren ist in vielen Fällen sachlich und zutreffend.

3.10. Die Paraphrasen (LB VII). Schon 1501 hatte Erasmus an einem Kommentar über den Römerbrief zu arbeiten begonnen, den er jedoch niemals vollendet hat. Statt dessen entschloß er sich zu einer populären Auslegung in Form der sog. Paraphrase, einer Kunst, die er umschrieb als „sie aliter dicere ut tarnen non dicas alia" (Allen III, 710,30f). 1517 erschien die Paraphrase zum Römerbrief, 1524 hatte er mit Ausnahme der Apokalypse das gesamte Neue Testament paraphrasiert. Auch später hat er das Werk noch überarbeitet. Näher erforscht sind die Veränderungen in den Paraphrasen zum Römer- und Galaterbrief in der Ausgabe von 1532; es scheint sehr fraglich, ob diese Veränderungen lutheranisierend genannt werden können. Die Paraphrasen sind wahrscheinlich das Werk, das Erasmus am meisten am Herzen lag (vgl. LB X, 1672 EF). Sie fanden ein breites Publikum und wurden oftmals nachgedruckt. Besondere Aufmerksamkeit erregte die Einleitung der Paraphrase zu Matthäus (1522), in der Erasmus die Laien dringend zum Lesen des Evangeliums anhielt. Die Zahl der vollständigen und der Teilübersetzungen ist groß, besonders in den Niederlanden. In England war seit 1547 vorgeschrieben, daß in jeder Parochialkirche und bei jedem Geistlichen unterhalb des Ranges eines Doktors der Theologie ein Exemplar der Übersetzung vorhanden zu sein habe. 3.11. Psalmenkommentare. Zwischen 1515 und 1533 hat Erasmus elf Psalmen kommentiert (LB V, 1 7 1 - 5 5 6 ) . Er bedient sich verschiedener Formen: Kommentar, Paraphrase und Predigt. Vom vierfachen Schriftsinn gibt er in seiner Auslegung nach dem Vorbild des Origenes vornehmlich dem allegorischen und dem tropologischen Sinn breiten Raum. Seine

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eigene Gedankenwelt, z. B. seine Kritik an manchen Formen der Heiligenverehrung und äußerlichen Riten, kommt deutlich zum Ausdruck. Das gilt insbesondere von den populärsten unter den Psalmenkommentaren, dem zu Ps 28 (29) von 1530 über den Türkenkrieg und dem zu Ps 83 (84) von 1533, der unter dem Titel De sarcienda ecclesiae concordia weithin bekannt geworden ist (s.o.). Von ihr sind 26 Ausgaben bekannt, darunter 11 Ubersetzungen. 3.12. Der Ecclesiastes (LB V, 7 6 7 - 1 1 0 0 ) ist die letzte größere Schrift des Erasmus. Sie erschien 1535 nach einer langen Vorgeschichte: schon 1519 hatte Erasmus sie in Aussicht gestellt. Sie beschreibt die Bedingungen, denen Bischof und Priester im Blick auf das hohe Amt des Predigers zu genügen haben. Sodann entfaltet er auf rhetorischem, dialektischem und theologischem Gebiet die Regeln, die die Predigt zu befolgen habe. Endlich zählt er die verschiedenen Gesichtspunkte auf, die bei der Behandlung des christlichen Lebens in der Predigt beachtet werden sollen. Es fällt auf, daß sein Ausgangspunkt dabei der theologische ist. 3.13. 1533 erschien in Basel die erste Auflage der Explanatio symboli apostolorum (ASD V / 1 , 1 7 7 - 3 2 0 ) . Das Werk ist wie ein Katechismus in Dialogform gefaßt. Den aktuellen Streitpunkten jener Zeit geht Erasmus aus dem Weg. Er betrachtet seine Schrift als ein Mittel zu der von ihm für so notwendig erachteten religiösen Erziehung der Gläubigen. Die Explanatio wurde günstig aufgenommen und gut verkauft: noch im Erscheinungsjahr 1533 erlebte sie sechs Auflagen. Luther hat sie heftig bekämpft, da ihre Zweideutigkeit seiner Meinung nach dem Zweifel Vorschub leistete. Bis zum Tode des Erasmus erschienen insgesamt acht Auflagen. Ubersetzt wurde sie, wahrscheinlich schon 1533, ins Englische, 1534 ins Niederländische.

3.14. De libero arbitrio dtaTQtßtj (LB IX, 1 2 1 5 - 1 2 4 8 ; v. Walter) hat Erasmus laut eigener Aussage nicht mit Begeisterung geschrieben. Das Thema stand jedoch seit Luthers Assertio (1521) im Mittelpunkt des Interesses; die englischen Humanisten hatten Luther an diesem Punkt angegriffen. Es kam noch dazu, daß die Lutheraner Erasmus des Pelagianismus bezichtigten, während andererseits Melanchthons Darlegungen Erjsmus nicht befriedigten. Erasmus wollte durch seine Schrift die Diskussion auf eine höhere Ebene bringen. Er betrachtete Luther nicht als Ketzer und sah in der Frage der Willensfreiheit ein theologisches Problem, das sich gut für eine Diatribe, ein Gespräch, eine Verhandlung eigne. Er wollte sich geziemender Mäßigung befleißigen. Die Diatribe ist zusammen mit dem Hyperaspistes die einzige Erasmus-Schrift, die von ihm eine gründlich philosophisch fundierte theologische Bildung erheischte. Daher zog er außer seinen englischen Freunden auch den Basler Theologen Ludwig Ber zu Rate. Die Schrift erschien im September 1524. Sie besteht aus drei Teilen, deren erster sich aus zwei langen und wichtigen Einleitungen zusammensetzt. In der ersten stellt sich Erasmus die Frage, ob dieses Problem überhaupt behandelt werden dürfe; seines Erachtens gehört es zu den „unzugängliche(n) Stellen, in die wir nach dem Willen Gottes nicht tiefer eindringen sollen" (v. Walter 5). Die zweite Einleitung fragt nach dem Kriterium der Wahrheit und somit nach dem Schriftprinzip der Reformation. Im zweiten Teil erörtert Erasmus die biblischen Aussagen, die für, und diejenigen, die gegen die Freiheit des Willens sprechen. Im letzten Teil bringt er seine Schlußfolgerung. Auf der Linie der thomistischen Tradition formuliert er, der Mensch sei am Anfang und wiederum zur Vollendung des Heilsweges ausschließlich auf die Gnade angewiesen, auf dem Wege dazwischen gingen jedoch Gottes Gnade und der freie Wille des Menschen dergestalt zusammen, daß dem Willen der Rang einer Nebenursache zukomme, die freilich ohne die Gnade nichts vermöchte. De libero arbitrio wurde 1524 neunmal gedruckt. 3.15. Der Hyperaspistes (LBX, 1249-1536) ist Erasmus' Antwort auf Luthers De sert>o arbitrio. 1526 erschien der erste Teil, in dem Erasmus auf Luthers Auseinandersetzung mit den beiden Einleitungen von De libero arbitrio eingeht. Unter dem Eindruck des Abendmahlsstreites zeigt sich Erasmus jetzt bereit, der kirchlichen Tradition und Autorität einen höheren Rang als Wahrheitskriterium einzuräumen, als er es noch in De libero arbitrio ge-

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tan hatte. 1 5 2 7 erschien der zweite Teil, eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Sünden- und Gnadenlehre von De servo arbitrio und eine Verteidigung der eigenen Auffassung. 3.16. In der Leidener Ausgabe füllen die Apologien zwei starke Bände (LB I X - X ) . Es handelt sich hauptsächlich um drei Arten von Verteidigungsschriften. Zuerst sind die schon behandelten Apologien zum Neuen Testament zu nennen. Dazu kommen zweitens mehrere gegen die Reformation gerichtete Schriften. Abgesehen von den schon behandelten Werken De libero arbitrio und Hyperaspistes legen sie N a c h d r u c k nicht auf Lehrdifferenzen, sondern auf die von der Reformation verursachte Uneinigkeit innerhalb der Christenheit. Die bekanntesten Stücke dieser Kategorie sind die heftig angegriffene Epistola de interdicto esu carnium ( 1 5 2 2 ) , die gegen Hutten geschriebene.Spowg/a ( 1 5 2 3 ) und die gegen die schweizerische Reformation gerichtete Detectio praestigiarum ( 1 5 2 6 ) . Die dritte Gruppe bilden die Apologien, in denen Erasmus sich mit seinen Opponenten im katholischen Lager auseinandersetzt. Die wichtigsten davon sind die Schriften gegen Natalis Beda ( 1 5 2 6 / 2 7 ) , gegen die spanischen M ö n c h e ( 1 5 2 8 ) , gegen Alberto Pio ( 1 5 3 1 ) und gegen die Sorbonne ( 1 5 3 2 ) . Diese erst wenig erforschten Schriften vermitteln einen ausgezeichneten Einblick in Erasmus' Theologie. 3.17. Der Julius exclusus ist eine der gegen—»Julius II. gerichteten Schriften, die unmittelbar nach dessen T o d , im Februar 1 5 1 3 , erschienen. Erasmus macht darin Julius II. die hochgradige Verweltlichung des Papsttums zum Vorwurf. E r läßt den Papst in einem Dialog mit Petrus auftreten, der darauf hinausläuft, daß Julius der Zutritt zum Himmel versagt wird. Obwohl Erasmus die Autorschaft dieses Werkes stets abgestritten hat, neigt man heute doch dazu, sie ihm zuzuschreiben. Eine Veröffentlichung in ASD ist geplant. Z u Erasmus' Lebzeiten hat das W e r k sechs Auflagen erreicht. 4.

Erasmusinterpretationen

Huizinga hat Erasmus als einen Menschen dargestellt, der letztlich allein ist und es auch sein will: ihn kennzeichnen Zurückgezogenheit und Reserve (vgl. LB X , 1252 A). Doch handelt es sich dabei nicht nur um Charaktereigenschaften. Nicht zufällig ist Erasmus schon während seines Lebens sehr verschieden beurteilt worden. Das hängt damit zusammen, daß seine Schriften höchst differierende Interpretationsmöglichkeiten zulassen - typisch für eine Übergangszeit. Die Divergenz der Beurteilung ist über die Jahrhunderte konstant geblieben. Auch die moderne Erasmus-Forschung, in der konfessionelle Motive nicht mehr eine so große Rolle spielen wie früher, ist doch nicht zu einer einhelligen Ansicht gekommen. Ja, man kann die alten Erasmus-Bilder, wenn auch einigermaßen modifiziert, immer noch wiedererkennen. In der Hauptsache heben sich drei Grundtypen der Erasmus-Interpretation heraus. 4. 1. Die Entstehung eines ersten Bildes geht auf die Zeit zurück, als die erasmianische Sicht von Kirche und Gesellschaft in weiteren Kreisen bekannt zu werden begann und auch solche unter seinen Schriften, die thematisch eine ganz andere Zielsetzung hatten — wie die Annotationes zum Neuen Testament, die Adagia und die Colloquia — zu ihrer Propagierung eingesetzt wurden. Die dadurch ausgelöste Interpretation zeitigt ein sehr negatives Erasmus-Bild. Man wirft ihm Relativismus, Subjektivismus und Skeptizismus vor. Diese Sicht äußert sich erstmals in den Angriffen der Löwener Theologen, Lees und Zünigas auf das Neue Testament seit 1517. In den folgenden Jahren wird die Polemik immer heftiger, ohne sich der Art nach zu verändern. Ihre Höhepunkte erreicht sie in den Angriffen des Syndicus der Sorbonne, Natalis Beda, seit 1523 und der darauf folgenden offiziellen Verurteilung, in der Attacke der spanischen Mönche 1527 und in den Schriften des Grafen von Carpi, Alberto Pio, seit 1529. Die Kritik richtet sich gegen Äußerungen in verschiedenen Schriften, besonders den Annotationes, den Paraphrasen, dem Enchiridion und den Colloquia. Die Vorwürfe sind mannigfach: Ketzerei in der Trinitätslehre, Abweichung von der Lehre von der Gottheit Christi, Leugnung der Erbsünde, Behauptung der Rechtfertigung allein durch den Glauben, Bestreitung der göttlichen Stiftung mehrerer Sakramente, besonders der Beichte und der Kindertaufe, Anpreisung der Ehe auf Kosten des Zölibats usw. Doch hat all diese Kritik einen gemeinsamen Angelpunkt: Mittels seiner Bibelauslegung, die nicht auf der Linie der kirchlichen Tradition bleibt, untergräbt Erasmus das Dogma der Kirche und öffnet dadurch aller denkbaren Ketzerei, auch derjenigen der Reformation, Tor und Tür. Indessen stimmte Luther in dieser Sicht des Erasmus und in diesen Vorwürfen gegen ihn genau mit dessen katholischen Gegnern überein. Von großem Einfluß auf das protestantische Erasmus-Bild der folgenden Zeit war De servo arbitrio, wo Luther Erasmus als einen Lukian und Epikur darstellt und dessen diatribe [wertfreie Untersuchung] seine eigene assertio [positiv-bekennende Behauptung] der göttlichen Wahrheit gegenüberstellt. In seiner letzten gegen Erasmus gerichteten Schrift, dem Brief an -»Amsdorf von 1534, baut er diese Kritik in

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einer Weise aus, die bis ins einzelne der Kritik der katholischen Opponenten parallel geht. In diesem Interpretationstypus ist die Norm, nach der Erasmus beurteilt wird, eine inhaltliche: welche Lehren hat er vertreten? Dahinter steht dann aber das Urteil, daß es für Erasmus keine objektiv feststehende Wahrheit gebe. Darum sieht man in ihm eine größere Gefahr für das Christentum als in dem katholischen bzw. protestantischen Gegner. Diese Sicht hat sich durch die Jahrhunderte gehalten. Im 16. Jh. wurden die Werke des Erasmus indiziert, das —»Tridentinum hat seine Erbsündenlehre anathematisiert. In der modernen Forschung findet sich diese Sicht immer noch. Um 1900 hat H.S. —«Denifle die Reformation als —»Säkularisierung dargestellt und als ihre maßgebenden Züge subjektivistisches Glaubensverständnis, individuelle Autonomie und Relativismus angegeben. In seiner Sicht steht Erasmus als Vorkämpfer dieser Tendenzen neben Luther. Wenn sich auch das katholische Lutherbild seitdem tiefgreifend gewandelt hat, so ist doch die Kennzeichnung des Erasmus - Relativismus, Moralismus, Unbestimmtheit- sowohl bei J. —»Lortz als auch bei E. Iserloh noch immer dieselbe. Auf protestantischer Seite teilt z. B. H. Boehmer diese Auffassung. Derselbe Interpretationstyp tritt jedoch auch mit ganz anderen Vorzeichen auf. Wie früher die —»Aufklärung Ansprüche auf die Ahnherrenschaft des Erasmus erhoben hat, so besteht auch in der modernen Forschung eine Tradition, die Erasmus als den Vorkämpfer jener geistigen Freiheit betrachtet, die erst in der Aufklärung erobert wurde. Diese Interpretation findet sich besonders bei Renaudet. Am meisten Aufmerksamkeit hat dessen These erregt, Erasmus sei der Verfechter einer „dritten Kirche", d.h. einer erneuerten, verjüngten römischen Kirche gewesen. In zugespitzter Form vertritt diese These auch Enno van Gelder. Er spricht von zwei Reformationen im 16. Jh. und betrachtet Luther als den Urheber einer Reformation, die letztlich die Voraussetzungen des Katholizismus bewahrt habe, Erasmus als den Repräsentanten einer viel weitergehenden „Reformation", die die Autonomie des Menschen propagierte. 4. 2. Ein zweites Bild finden wir in seiner schroffsten Gestalt bei Hutten. Verbittert darüber, daß Erasmus ihn in Basel nicht hatte empfangen wollen, schrieb er 1523 die Expostulatio, den schärfsten persönlichen Angriff, der bis dahin gegen Erasmus gerichtet worden war. Nach seinem Bild ist Erasmus ein schwacher, gewissenloser Mann, feige und habgierig, unzuverlässig und entschlossen, sich der jeweils siegreichen Partei anzuschließen. Das gilt seines Erachtens im besonderen für Erasmus' Haltung gegenüber Luther. Obwohl sich deutlich genug gezeigt habe, daß Erasmus mit diesem einig sei, habe er sich nicht öffentlich darüber ausgesprochen und ziehe sich jetzt aus Angst zurück. Diesem Bild liegt die Uberzeugung zugrunde, daß Erasmus letzten Endes Seite an Seite mit Luther stehe; Hutten hat ihn sogar schon 1520 dringend aufgefordert, sich öffentlich zu äußern und gemeinsam mit ihm gegen Rom zu kämpfen. Dahinter steht ein bestimmtes Verständnis der Reformation: sie ist für Hutten ihrem Wesen nach eine Freiheitsbewegung. Diese Freiheit gegenüber der Kurie und überhaupt gegenüber Italien, die er als das entscheidende Motiv ansieht, findet er im Werk des Erasmus wirksam in dessen Kritik an allerlei kirchlichen Mißständen und in seiner Ablehnung geistloser Zeremonien. Bei dieser Interpretation liegt die Norm nicht im lehrhaften Inhalt, sondern in Erasmus' Ansichten von der Struktur der Kirche. Die Größe des Erasmus liegt demnach in seiner Verwerfung der Kirche als eines hierarchisch und sakramental bestimmten Instituts. Im gleichen Sinne hatten aber auch schon vor Luthers Auftreten einige Gegner des Erasmus in dem kritischen Charakter seines Werkes dessen entscheidenden Wesenszug gesehen. Bereits 1514 protestiert der Löwener Professor Maarten van Dorp bei Erasmus gegen die geplante Ausgabe des Neuen Testaments. Eine neue lateinische Ubersetzung schadet, so meint er, der Autorität der Kirche, die sich bei ihren Lehrentscheidungen immer auf die Vulgata gestützt hat. Der griechische Text, für dessen Erhaltung Ketzer gesorgt haben, kann nicht reiner sein als der von der orthodoxen westlichen Kirche gehütete. Überdies hat das Lob der Torheit durch seine Spottlust den Ruf des Erasmus geschädigt. Ganz dieselben Töne hört man bei den zuvor genannten Kritikern aus den zwanziger Jahren. Auf den ersten Blick wirkt ihre Kritik sehr disparat: Erasmus will nichts von der —»Inquisition wissen, er konstatiert in biblischen Büchern Fehler, er polemisiert gegen kirchliche Zeremonien, er will die Zahl der Festtage verringern, hält Fasten für schädlich, ist ein Gegner von Ablässen, wendet sich gegen den Zölibat, findet das Mönchswesen sinnlos, verlangt, daß die Kirche die Ehescheidung zulasse usw. Doch steckt in alledem sehr wohl ein zentraler Gedanke: Erasmus tastet die bestehenden kirchlichen Strukturen im weitesten Sinn des Wortes an, er höhlt alles aus, was der Institution Bestand gibt. Diesen Interpretationstypus findet man in verschiedenen Variationen in der Geschichte der Forschung wieder. Vor allem unter dem Einfluß von —»Seckendorf hat er lange Zeit das übliche Bild auf lutherischer Seite geprägt. In anderer Abwandlung tritt er auch bei Katholiken auf, die ihn zu einem positiveren Bild von Erasmus verwenden: dessen schließliche Ablehnung der Reformation mache deutlich, wie man seine Kritik an der Kirche zu verstehen habe. In Holland wird im 18. und 19. Jh. eine verwandte Anschauung vertreten, nach der Erasmus der erste Reformator sei, der mehr als Luther durch seine Kritik an der Kirche und seine theologische Wirk-

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samkeit diesen Namen verdiene und dessen Anhänger und Popularisator Luther sei. Weniger weit geht die vornehmlich im vorigen Jahrhundert verbreitete Vorstellung von Erasmus als Vorläufer der Reformation oder Reformator vor der Reformation. Diese Betrachtungsweise setzt insofern eine Tradition der Reformation fort, als man damals bestimmte „Zeugen der Wahrheit" im Mittelalter zu benennen liebte, bei denen gewisse Gedanken auf die Reformation vorauswiesen. 4.3. Ein drittes Erasmusbild war das der meisten unter seinen vielen zeitgenössischen Bewunderern. Dort sah man in ihm einen Erneuerer von Kirche und Theologie, der über das Mittelalter als eine Periode der Barbarei hinweg auf die Theologie der ersten Jahrhunderte zurückgriff und sie in neuer Gestalt einer Reform der Kirche nach dem Vorbild der idealen und idealisierten Kirche der ersten Jahrhunderte dienstbar machte. Die tiefgreifende Kritik, die Erasmus übte, hatte in ihren Augen eine positive Absicht. Jene Ideale des Erasmus blieben auch in den zwanziger Jahren, als die inzwischen sich anbahnende kirchliche Spaltung noch nicht als solche ins Bewußtsein getreten war, bei vielen lebendig. Die prominenten Anhänger Luthers waren fast ausnahmslos Geistesverwandte des Erasmus. Melanchthon hat ihn immer als den restaurator ¿ersacrae Htterae geehrt; er hat bis zum Schluß unter seinem Einfluß gestanden und die Verbindung mit ihm stets aufrechterhalten. Im Unterschied zu —»Cranach, der Erasmus sogar im Kreise der Reformatoren abgebildet hat, neigte Melanchthon zu der Ansicht, Erasmus gehöre keiner der Parteien an. Die Reformatoren des schweizerisch-süddeutschen Gebietes waren zum großen Teil Erasmus' Schüler. Seine Haltung im Abendmahlsstreit blieb ihnen unverständlich, und sie haben sie ihm zum Vorwurf gemacht. Aber sie ehrten ihn weiterhin als den Mann, mit dem die ganze Bewegung angefangen habe. Noch 1533 sieht ein katholischer Opponent in Erasmus den Mann, der den größten Teil der Kirche hinter sich vereinigt habe, im Gegensatz zu Luther einerseits, Oekolampad und Zwingli andererseits, die jeweils nur einen kleineren Teil der Kirche mitgenommen hätten. Auch auf katholischer Seite gab es viele, für die Erasmus der große Führer blieb; unter ihnen waren Prälaten, Ratsleute und Fürsten. Viele sahen in ihm den einzigen, der die drohende Kirchenspaltung hätte verhindern können. Diese Sicht des Erasmus hat sich in der frühen Historiographie kaum niedergeschlagen. Dafür waren die Gegensätze zwischen Rom und der Reformation zu groß. Der Interpretationstypus der letzten Jahrzehnte schließt sich jedoch eng an diese Sicht an: Erasmus ist demzufolge nur zu verstehen vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, die er kannte und in der er seine Wurzeln hatte. Er hat sich aber davon distanziert und auf das zurückgegriffen, was ihm als die Quellen galt: auf das Neue Testament und die Kirchenväter. Sein daraufhin entwickeltes Reformprogramm gelangte vor Luthers Auftreten in die Öffentlichkeit. Ihrer beider Kritik an der bestehenden Kirche lief großenteils parallel. Beide wandten sich gegen die Veräußerlichung der Kirche und ihrer Gnadenmittel, die den Menschen nicht zu einer unmittelbaren persönlichen Gemeinschaft mit Gott kommen lasse, und gegen die Scholastik. Beide verlangen auch nach einer gereinigten Kirche. Positiv will Erasmus, daß die Kirche sich aus einem Machtapparat und einer sakralen Gemeinschaft in ein Erziehungsinstitut verwandelt: dem Christen soll geholfen werden, zum Kern des Glaubens durchzustoßen, die Gemeinschaft mit Gott zu finden. Das wichtigste Mittel dazu ist die Schrift, in der Christus zu uns spricht. Dem Sündenbewußtsein, dem Bewußtsein von dem radikalen Bruch zwischen Gott und Mensch, das für Luther so kennzeichnend ist, kommt bei Erasmus nur untergeordnete Bedeutung zu. Nach diesem Bild des Erasmus hat sein Verhältnis zur Reformation wohl eine allmähliche Evolution durchgemacht; von einer radikalen Veränderung und von einer Abwendung von der Reformation kann jedoch nicht die Rede sein. Ebensowenig ist die Theologie des älteren Erasmus in ihren Grundzügen eine andere geworden. Die nachweisbaren Unterschiede sind zurückzuführen auf die verschiedenen Fronten, an denen er nacheinander zu kämpfen hat: anfangs wendet er sich gegen die Theologen, die seine Reformpläne ablehnen, später gegen die Evangelischen, die nach seiner Meinung zu weit gehen. Nach dieser Sicht gehen sowohl die katholische Reform als auch die Reformation teilweise auf Erasmus zurück. Es scheint, daß die moderne Erasmus-Forschung sich überwiegend innerhalb dieses Interpretationstypus bewegt. Gleichwohl ist sie in sich alles andere als homogen. Auffallend ist dabei einerseits eine besonders in den letzten 15 Jahren hervortretende Tendenz, die Theologie des Erasmus derart in den Rahmen der Tradition einzufügen, daß kaum noch etwas Originelles an ihr greifbar bleibt (Kohls; Chantraine). Andererseits besteht heute die Gefahr, daß die theologische Bedeutung des Erasmus überschätzt wird.

5.

Nachwirkung

W a s die Nachwirkung des Erasmus betrifft, so hat man zu unterscheiden zwischen dem Einfluß, den seine T e x t a u s g a b e des Neuen Testaments und die von ihm befolgte exegetische M e t h o d e ausgeübt haben, und dem Weiterwirken seiner Ideen im weiteren Sinn. 5 . 1 . Der von ihm gebotene T e x t des Neuen Testaments hat auf die —>Textgeschichte einen bestimmenden Einfluß gehabt: seine Edition wurde über die Ausgaben von Stephanus

und Beza zur wichtigsten Quelle für den sog. textus receptus.

Dic Annotationes

sind für die

Erasmus

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neuere Exegese des Neuen Testaments grundlegend geworden. Sämtliche Exegeten des 1 6 . und 1 7 . Jh. haben von ihnen Gebrauch gemacht. Wichtiger ist aber, daß sie einer neuen M e thode des Exegesierens Bahn gebrochen haben. Unter ihrem Einfluß ist die Methode der —»Glossa Ordinaria von der philologischen Methode verdrängt worden. 5.2. Es w ä r e falsch, überall dort ein Weiterwirken der erasmianischen Gedanken konstatieren zu wollen, w o sachlich übereinstimmende Ideen vorliegen. Selbst im 16. Jh. ist sein Einfluß schwer e x a k t zu bestimmen, weil er mehr in Gestalt einer Unterströmung wirksam geworden ist denn als eine klar umrissene Ideenwelt. Von einem unmittelbaren Einfluß kann in bezug auf zwei Perioden gesprochen werden: die Zeit gleich nach seinem T o d e und die ersten Jahrzehnte des 17. Jh. W a s die erste Periode betrifft, so ist besonders an die Niederlande und England zu denken. In England häufen sich von den dreißiger Jahren an die ErasmusÜbersetzungen, die Paraphrasen waren kirchlich obligatorisch eingeführt, und die Väter der anglikanischen Kirche dachten erasmianisch. Auch in den Niederlanden sind die Ubersetzungen zahlreich. Ein Weiterwirken von Erasmus* Ideen ist in Kreisen der Lateinschulrektoren sowie der sog. „Ursprünglich niederländischen reformatorischen R i c h t u n g " festzustellen; dies hört auch nach 1 5 6 0 , als der Calvinismus schon zur vorherrschenden Kraft geworden ist, nicht auf. Ferner hat man hier an die Kreise der irenischen Theologen wie G. —» Witzel und G e o r g Cassander ( 1 5 1 3 - 1 5 6 6 ) zu denken; bei beiden spielt Erasmus' Einfluß eine erhebliche Rolle. In der zweiten Periode beschränkt sich dieser Einfluß auf die Niederlande, w o der sog. Leidener Kreis, allmählich in den der Remonstranten übergehend, stark von ihm geprägt ist. H . —»Grotius ist der genuinste Erasmianer des 17. Jh. Bibliographien Irmgard Bezzel, Erasmusdrucke des 16. Jh. in bayerischen Bibliotheken, Stuttgart 1979. - Bibliotheca Belgica. Bibliogr. générale des Pays Bas. Hg. v. Ferdinand van der Hacghcn/Marie-Thérèse Lenger, Brüssel, II 1964, s.v. Erasmus. - Bibliotheca Erasmiana. Répertoire des oeuvres d'Érasme, Gand 1893 = Nieuwkoop 1 9 6 1 . - S i m o n Willem Bijl, Erasmus in hetNederlandstot 1617, Nieuwkoop 1978. - Edward James Devereux, A Checklist of English Transi, of Erasmus to 1700, Oxford 1968. - JeanClaude Margolin, Douze années de Bibliogr. Érasmienne ( 1 9 5 0 - 1 9 6 1 ) , Paris 1963 (De Pétrarque à Descartes 6). — Ders., Quatorze années de Bibliogr. Érasmienne ( 1 9 3 6 - 1 9 4 9 ) , Paris 1969 (De Pétrarque à Descartes 21). - Ders., Neuf années de Bibliogr. Érasmienne ( 1 9 6 2 - 1 9 7 0 ) , Paris/Toronto u. Buffalo 1977 (De Pétrarque à Descartes 33). - Overzicht van de werken en uitgaven van Desiderius Erasmus aanwezig in de Bibliotheek der Gemeente Rotterdam, Rotterdam 1936. - Overzicht van de werken en uitgaven van Desiderius Erasmus aanwezig in de Bibliotheek der Gemeente Rotterdam. Vermeerderd met aanvullingen en registers, Rotterdam 1937. Quellen Desiderii Erasmi Roterodami Op. omnia emendatiora et auctiora. Hg. v. Joannes Clericus, 10 Bde., Lugduni Batavorum 1 7 0 3 - 1 7 0 6 = Hildesheim 1 9 6 1 - 1 9 6 2 [LB]. - Op. Omnia Desiderii Erasmi Roterodami. Recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata, Amsterdam 1969 ff [ASD]. - Op. Epistolarum Des. Erasmi Roterodami denuo recognitum et auctum. Hg. v. Percy Stafford Allen u. a., 12 Bde., Oxonii 1 9 0 6 - 1 9 5 8 . - De libero arbitrio öiargißrj sive collatio per Desiderium Erasmum Roterodamum. Hg. v. Johannes v. Walter, 1 9 1 0 = 1935 (QGP 8). - Desiderius Erasmus Roterodamus. Ausgew. Werke. Hg. v. Hajo Holborn/Annemarie Holborn, 1933 = 1964 (VKEGR). - Erasmi Opuscula. A Supplement to the Op. Omnia. Hg. v. Wallace K. Ferguson, Den Haag 1933. - The Poems of Desiderius Erasmus. Hg. v. Cornelis Reedijk, Leiden 1956. - Erasmus Roterodamus, Dilutio eorum quae Iodocus Clithoveus scripsit adversus declamationem Des. Erasmi Roterodami suasoriam matrimonii. Hg. v. Émile V. Telle, Paris 1968 (De Pétrarque à Descartes 15). - Erasmus v. Rotterdam, Ausgew. Schriften, lat. u. dt. Hg. v. Werner Welzig, 8 Bde., Darmstadt 1968 ff. - Desiderius Erasmus. Ein Lebensbild in Auszügen aus seinen Werken. Hg. v. Walther Köhler, 1917 (KIRel 12/13). - Erasmus v. Rotterdam, Handbüchlein des christl. Streiters. Hg. v. Hubert Schiel, Olten/Freiburg i.B. 1952. - Erasmus v. Rotterdam, Briefe. Hg. v. Walther Köhler/Andreas Flitner, Bremen 3 1 9 5 6 . - The Colloquies of Erasmus. Hg. v. Craig R. Thompson, Chicago/London 1965. - La Correspondance d'Érasme, Traduction intégrale, 12 Bde., Brüssel 1967 ff. - Collected Works of Erasmus (English text of Erasmus' correspondence and his other principal writings), Toronto u. Buffalo 1974 ff. Literatur Allgemeine und biographische Arbeiten: Percy Stafford Allen, Erasmus. Lectures and wayfaring Sketches, Oxford 1934. — Cornelis Augustijn, Erasmus en de Reformatie. Een onderzoek naar de hou-

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Erbauung I

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Cornelis Augustijn Erbauung I. Neues Testament

II. Theologiegeschichtlich und praktisch-theologisch

I. Neues Testament 1. Bedeutungsumfang tur S. 21)

1.

2. Die Kirche

3. Der Einzelne

4. Die Einheit

5. Die Mittel

(Litera-

Bedeutungsumfang

Das Wort wird sowohl im materiell handwerklichen Sinn vom Erbauen von Häusern (Mt 7,24.26), Türmen (Mk 12,1), Gräbern (Mt 23,29) u.a. wie in bildhaft-geistiger Bedeutung gebraucht. Aber auch bei der metaphorischen Anwendung ist der ursprüngliche technische Klang des Wortes häufig lebendig geblieben, wenn vom Architekten (I Kor 3,10), vom Fundament (Rom 15,20;I Kor 3,10; Eph 2,20), vom Felsen (Mt 16,18), von den Steinen (1 Petr 2,5), vom Haus (I Petr 2,5), vom Tempel (1 Kor 3,16; Eph 2,21), von der Wohnung (Eph 2,22) gesprochen wird. Vielfach ist aber die bildhafte Anschauung auch völlig verblaßt, und Erbauen hat den Sinn erhalten: fördern, stärken, ermuntern (Act 20,32; I Kor 8,1.10; 10,23; 14,4; Kol 2,7; I Thess 5,11; Jud 20). Im Griechischen kommt das Wort in übertragener Bedeutung nicht besonders häufig vor, z. B. Aristophanes, Pax 749; Epictet, Diss. II, 15,8. Auf gnostische Parallelen ist wiederholt hingewiesen (z.B. Schlier). Die neutestamentlichen Aussagen sind weithin vom Alten Testament geprägt. Das zeigen schon die verschiedenen Anspielungen: Mt 12,1 berührt sich mit Jes 5,2. In Mk 12,10; Act 4,11; I Petr 2,7 wird Ps 118,22 das Wort von dem von den Bauleuten verworfenen Stein zitiert. Stephanus beruft sich Act 7,47 auf I Reg 6,1 und Act 7,49 auf Jes 66,1 f. Jakobus verweist Act 15,16aufAm9,llfundJer 12,15f. Paulus spielt Art 20,32 auf Dtn 33,3 f an. In I Petr 2,4.6 wird Jes 28,16 herangezogen. In den paulinischen Briefen finden sich Berührungen mit Jeremia, wenn vom Pflanzen und Bauen (I Kor 3,6 ff) gesprochen wird. Beides gehört zu den wichtigsten Arbeiten der seßhaft gewordenen Bevölkerung (Dtn 20,5 f). Aber Jeremia hat diese Wortgruppe auf das Handeln Gottes angewendet (1,10; 18,9; 24,6; 31,28; 42,10; 45,4). Während es im Griechischen für den religiösen Gebrauch von „Bauen" keine Belege gibt, ist es für das Alte und Neue Testament charakteristisch, daß Gott der Bauende ist. Wie Jer 24,6; 31,28; 42,10;45,4 gebraucht Paulus auch II Kor 10,8; 13,10 den Gegensatz „aufbauen und zerstören" in theologischem Zusammenhang.

2. Die

Kirche

Wie Gott im Alten Testament sein Volk aufbaut (Jer 31,4; 33,7), so erbaut er sich im Neuen Testament durch Christus seine -»Kirche (Mt 16,18; Act 9,31; I Kor 14,4f.l2). Sie wird Bau Gottes genannt (I Kor 3,9) und dementsprechend auch Tempel Gottes (I Kor 3,16), heiliger Tempel (Eph 2,21), Wohnstätte Gottes (Eph 2,22), geistliches Haus (I Petr 2,5). In Eph 4,12.16 verbindet sich die Vorstellung von der Kirche als Bau mit der als Leib Christi. Der —»Epheserbrief, der die Erwählung vor der Grundlegung der Welt verkündet ( l , 4 f ; 3 , 8 - 1 2 ) , spricht aber auch vom Wachsen und Erbauen ( 4 , 1 2 - 1 6 ) . Daß dieses kein Widerspruch ist, zeigen die Stellen, die die Kirche als Gottes Bau bezeichnen. Auf der einen Seite ist sie das Resultat des Bauens, das Gebäude (I Kor 3,9; Eph 2,21). Auf der andern Seite bezeichnet dasselbe Wort den Akt des Bauens, das Erbauen (Rom 14,19; 15,2; I Kor 14,3.5.12.26; II Kor 10,8; 12,19; 13,10; Eph 4,12.16; 4,29). Das Fundament ist festgelegt. Es darf nicht abgeändert werden (I Kor 3,11). Aber auf diesem unabänderlichen Fundament muß weitergebaut werden (I Kor 3,10.12.147. Die Kirche ist nirgendwo nur Baustelle oder Ruine, sondern sie ist überall vollständig da, und trotzdem ist sie nicht fertig, sondern im Werden; denn immer wieder werden durch Christus Menschen miterbaut zum Hause Gottes (Eph 2,21 f). Die Kirche muß so \angeauferbaut werden, bis alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Gottessohnes gelangen (Eph 4,12f).

Erbauung I

18

1 9 6 9 , 2 9 9 - 3 1 8 . — Julius exclusus: Jesse Kelley Sowards, The Julius Exclusus of Desiderius Erasmus, Bloomington/London 1968. - Carl Stange, Erasmus u. Julius II. Eine Legende, Berlin 1937.

Cornelis Augustijn Erbauung I. Neues Testament

II. Theologiegeschichtlich und praktisch-theologisch

I. Neues Testament 1. Bedeutungsumfang tur S. 21)

1.

2. Die Kirche

3. Der Einzelne

4. Die Einheit

5. Die Mittel

(Litera-

Bedeutungsumfang

Das Wort wird sowohl im materiell handwerklichen Sinn vom Erbauen von Häusern (Mt 7,24.26), Türmen (Mk 12,1), Gräbern (Mt 23,29) u.a. wie in bildhaft-geistiger Bedeutung gebraucht. Aber auch bei der metaphorischen Anwendung ist der ursprüngliche technische Klang des Wortes häufig lebendig geblieben, wenn vom Architekten (I Kor 3,10), vom Fundament (Rom 15,20;I Kor 3,10; Eph 2,20), vom Felsen (Mt 16,18), von den Steinen (1 Petr 2,5), vom Haus (I Petr 2,5), vom Tempel (1 Kor 3,16; Eph 2,21), von der Wohnung (Eph 2,22) gesprochen wird. Vielfach ist aber die bildhafte Anschauung auch völlig verblaßt, und Erbauen hat den Sinn erhalten: fördern, stärken, ermuntern (Act 20,32; I Kor 8,1.10; 10,23; 14,4; Kol 2,7; I Thess 5,11; Jud 20). Im Griechischen kommt das Wort in übertragener Bedeutung nicht besonders häufig vor, z. B. Aristophanes, Pax 749; Epictet, Diss. II, 15,8. Auf gnostische Parallelen ist wiederholt hingewiesen (z.B. Schlier). Die neutestamentlichen Aussagen sind weithin vom Alten Testament geprägt. Das zeigen schon die verschiedenen Anspielungen: Mt 12,1 berührt sich mit Jes 5,2. In Mk 12,10; Act 4,11; I Petr 2,7 wird Ps 118,22 das Wort von dem von den Bauleuten verworfenen Stein zitiert. Stephanus beruft sich Act 7,47 auf I Reg 6,1 und Act 7,49 auf Jes 66,1 f. Jakobus verweist Act 15,16aufAm9,llfundJer 12,15f. Paulus spielt Art 20,32 auf Dtn 33,3 f an. In I Petr 2,4.6 wird Jes 28,16 herangezogen. In den paulinischen Briefen finden sich Berührungen mit Jeremia, wenn vom Pflanzen und Bauen (I Kor 3,6 ff) gesprochen wird. Beides gehört zu den wichtigsten Arbeiten der seßhaft gewordenen Bevölkerung (Dtn 20,5 f). Aber Jeremia hat diese Wortgruppe auf das Handeln Gottes angewendet (1,10; 18,9; 24,6; 31,28; 42,10; 45,4). Während es im Griechischen für den religiösen Gebrauch von „Bauen" keine Belege gibt, ist es für das Alte und Neue Testament charakteristisch, daß Gott der Bauende ist. Wie Jer 24,6; 31,28; 42,10;45,4 gebraucht Paulus auch II Kor 10,8; 13,10 den Gegensatz „aufbauen und zerstören" in theologischem Zusammenhang.

2. Die

Kirche

Wie Gott im Alten Testament sein Volk aufbaut (Jer 31,4; 33,7), so erbaut er sich im Neuen Testament durch Christus seine -»Kirche (Mt 16,18; Act 9,31; I Kor 14,4f.l2). Sie wird Bau Gottes genannt (I Kor 3,9) und dementsprechend auch Tempel Gottes (I Kor 3,16), heiliger Tempel (Eph 2,21), Wohnstätte Gottes (Eph 2,22), geistliches Haus (I Petr 2,5). In Eph 4,12.16 verbindet sich die Vorstellung von der Kirche als Bau mit der als Leib Christi. Der —»Epheserbrief, der die Erwählung vor der Grundlegung der Welt verkündet ( l , 4 f ; 3 , 8 - 1 2 ) , spricht aber auch vom Wachsen und Erbauen ( 4 , 1 2 - 1 6 ) . Daß dieses kein Widerspruch ist, zeigen die Stellen, die die Kirche als Gottes Bau bezeichnen. Auf der einen Seite ist sie das Resultat des Bauens, das Gebäude (I Kor 3,9; Eph 2,21). Auf der andern Seite bezeichnet dasselbe Wort den Akt des Bauens, das Erbauen (Rom 14,19; 15,2; I Kor 14,3.5.12.26; II Kor 10,8; 12,19; 13,10; Eph 4,12.16; 4,29). Das Fundament ist festgelegt. Es darf nicht abgeändert werden (I Kor 3,11). Aber auf diesem unabänderlichen Fundament muß weitergebaut werden (I Kor 3,10.12.147. Die Kirche ist nirgendwo nur Baustelle oder Ruine, sondern sie ist überall vollständig da, und trotzdem ist sie nicht fertig, sondern im Werden; denn immer wieder werden durch Christus Menschen miterbaut zum Hause Gottes (Eph 2,21 f). Die Kirche muß so \angeauferbaut werden, bis alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Gottessohnes gelangen (Eph 4,12f).

Erbauung I

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Bei der Erbauung der Kirche k o m m t Christus (—* Jesus Christus) eine entscheidende Bedeutung zu. Entsprechend der jüdischen Erwartung, daß in der Heilszeit das Heiligtum wieder erstehen wird (Sib 3,652 ff.772 ff; äthHen 9 0 , 3 8 f ; 4 Q Flor 1,1 ff; Bill. I,1004f), verkündigt Jesus nach Aussagen der falschen Zeugen, d a ß er den neuen Tempel, die eschatologische Gottesgemeinde errichten wird (Mk 14,57f; vgl. 15,29). Die von ihm auf—»Petrus, dem Felsen, erbaute Kirche (Mt 16,18) ist seine Gemeinde, die er gegründet hat, die ihm gehört und durch ihn Bestand hat (Kol 2,7; Eph 2,21 f). Von ihm her erfolgt das Wachstum des Leibes zur Auferbauung seiner selbst (Eph 4,16); von ihm erhält —»Paulus die Vollmacht, die Gemeinde zu erbauen (II Kor 10,8; 13,10). Der Kyrios setzt—»Apostel,—»Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer ein, damit diese die Gemeindeglieder instand setzen, ihren Beitrag f ü r die Auferbauung des Leibes Christi zu leisten (Eph 4,11 f). Christus ist aber nicht nur das handelnde Subjekt bei der Erbauung der Kirche; er wird auch zum Material gerechnet, aus dem der Bau besteht. Er ist das Fundament (I Kor 3,10f), er wird wie der einzelne Christ als lebendiger Stein bezeichnet (I Petr. 2,4). Aber er ist nicht irgendein beliebiger Stein, sondern ihm k o m m t eine besondere Bedeutung zu. Es ist wohl kaum Eph 2,20 wie TestSal 22,7 an den Schlußstein gedacht (J. Jeremias: T h W N T 1,792f; 4 , 2 7 8 f ; F.F.Bruce: E x p T 84 [1972/73] 2 3 1 - 2 3 5 ) , sondern an den Eckstein (Jes 28,16; Ps 118,22; 1 QS 8,7; M k 12,10; Act 4,11; Eph 2,20; I Petr 2,6; Barn 6,2.4; E. Percy, Die Probleme der Kol u. Eph.: SHVL 39 [1946] 3 2 8 - 3 3 5 . 4 8 5 - 4 8 8 ; F. Mußner, Christus, das All u. die Kirche: TThSt 5 [1955] 1 0 8 - 1 1 1 ; Pfammatter 1 4 3 - 1 5 1 ; R . J . McKelvey: NTS 8 [ 1 9 6 1 f ] 359; K.T. Schaefer: FS J. Schmid, Regensburg 1963, 224; Merklein 1 4 4 - 1 5 2 ; Krämer 6 4 6 f ) . 3. Der

Einzelne

In der älteren Literatur sprach man viel von der Erbauung der sittlichen Persönlichkeit. Seit der Dissertation von Vielhauer stellt man betont die Erbauung der Gemeinde heraus. Daß dies richtig ist, zeigt die Verwurzelung der neutestamentlichen Aussagen im Alten Testament, w o nicht der Einzelne, sondern das Volk —»Israel erbaut wird. D a es aber im Neuen Testament nicht um das Volk geht, in das man hineingeboren wird, sondern um die Kirche, in die man als lebendiger Stein eingefügt wird (Eph 2,22; I Petr 2,5), erhält Erbauung trotz seiner ekklesiologischen Prägung eine individualistische Nuance, die das Alte Testament nicht kennt. Die Erbauung des Einzelnen steht nicht im Gegensatz zur Erbauung der Gesamtheit. Die christliche Gemeinde ist nicht eine amorphe Masse. Z u ihr gehören einzelne Glieder, die allerdings als eine Einheit eng miteinander verbunden sind. Wenn der einzelne erbaut wird (Act 20,32; Rom 15,2; I Kor 14,17; I Thess 5,11), so soll dadurch nicht das religiöse Innenleben des Individualisten gepflegt werden. Erbauung ist nicht Selbstverwirklichung, sondern ein ekklesiologischer Akt, auch wenn es sich um den einzelnen handelt, weil seine Erbauung Auswirkung auf die Gemeinde hat. Wie der ganze Körper in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn ein Glied leidet (I Kor 12,26), so dient es dem Aufbau der ganzen Gemeinde, wenn ein Glied erbaut wird. I Kor 14,4 wendet sich Paulus gegen den Zungenredner, der sich selbst erbaut, während der Prophet die ganze Gemeinde erbaut. Paulus ist nicht gegen die —»Zungenrede I Kor 14,18. D a r u m kann er auch nicht gegen die damit verbundene Selbsterbauung sein. Da die Glossolalie ein den meisten unverständliches Reden mit Gott im Geist ist (I Kor 14,2.9.11.16), hat sie ihren O r t nicht in der Versammlung der Gemeinde, in der alles zu ihrer Erbauung dienen soll (14,4f.l2.26). Wird die Zungenrede interpretiert, dann erhält sie für die Erbauung eine ähnliche Bedeutung wie die Prophetie (14,5). Das Ineinander und Miteinander von Einzel- und Gesamterbauung k o m m t immer wieder zum Ausdruck (—»Charisma). Wenn der Prophet durch seine Verkündigung tröstet, ermahnt und erbaut (I Kor 14,3), so werden durch seine Worte einzelne Gemeindeglieder getröstet, ermahnt und erbaut, und dadurch ereignet sich die Erbauung der Gemeinde (I Kor 14,4). N a c h Rom 14,19 erfolgt in der Kirche eine gegenseitige Erbauung. Geschieht das nicht, so wird das Werk Gottes, die Gemeinde, vernichtet (14,20). Auch I Thess 5,11 werden die Leser aufgefordert, sich gegenseitig zu ermahnen und einer den andern zu erbauen. Eine Erbauung, bei der der Glaube des Bruders gestärkt und die eschatologische Erwartung wachgehalten

20

Erbauung I

wird, kommt der Gemeinde zugute. Die Erbauung des Einzelnen macht diesen fähig, zum Wachstum des Leibes beizutragen (Eph 4,12.16). Auch Jud 1 8 - 2 1 hat die Selbsterbauung der Frommen eine ekklesiologische Bedeutung, weil dadurch Spaltungen in der Gemeinde vermieden werden. 4. Die

Einheit

Da Erbauung sich mit Ermahnen (I Kor 14,3; I Thess 5,11), Wachsen (Eph 4,16) und —»Frieden (Rom 15,19) berührt und das Gegenteil Auflösen und Zerstören ist (Rom 14,20; I Kor 8,11), ist es verständlich, daß gerade dann von Erbauen gesprochen wird, wenn die Einheit der Gemeinde bedroht und ein ermahnendes Wort notwendig ist. In Korinth, wo man sich auf verschiedene theologische Größen beruft (—»Korintherbriefe), bekämpft Paulus das entstandene Parteiwesen, indem er darauf hinweist, daß die Kirche als Gottes Bau nicht von Menschen, sondern von Gott errichtet ist, wobei die verschiedenen Prediger Hilfskräfte Gottes, aber keine souveränen Autoritäten sind (I Kor 3,9). Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Pneumatiker in Korinth die Ansicht vertreten haben, die—»Gnosis erbaue. Dem setzt Paulus die These entgegen: Die—»Liebe erbaut (I Kor 8,1). Das hat Folgen für das Verhalten. Auf Grund ihrer Erkenntnis praktizieren die Gnostiker eine große —»Freiheit, suchen die andern daran zu gewöhnen und sie ebenfalls dahin zu führen. Diese ihre Erbauung ist für Paulus Zerstörung, weil sie den Bruder zugrunde richtet (8,10ff; —»Gewissen II.2.1). Auch beim gottesdienstlichen Zusammensein (—»Gottesdienst) ist durch das individualistische Verhalten der Pneumatiker die Einheit gefährdet. Paulus lehnt die Bevorzugung der Zungenrede im Gottesdienst ab, weil alles unter dem Kriterium,Erbauung der Gemeinde* stehen soll (I Kor 14,26). Im Kampfbrief gegen die in Korinth eingedrungenen Gegner (II Kor 1 0 - 1 3 ) findet sich der Ausdruck Erbauung dreimal: 10,8; 13,10; 12,19. Wenn Paulus scharfe Worte gebraucht, so betreibt er mit seiner Gerichtsrede und seinem Ruf zur Umkehr nicht das Werk der Zerstörung, sondern alles dient der Erbauung der Gemeinde. Gegensätzlich sich befehdende Kreise gibt es auch in Rom zwischen den Schwachen und den Starken (Rom 14,3 f.10). Die Freiheit der Starken sprengt die ekklesiologische Gemeinschaft. Christen sollen Rücksicht aufeinander nehmen, sich für den Frieden und die gegenseitige Erbauung einsetzen (14,19 f; 15,1 f). Nach I Thess 5,3 gibt es in der Gemeinde Glieder, die die Naherwartung ablehnen und andere in Sicherheit vor dem Gerichtstag Gottes wiegen. Die Kinder des Lichts werden aufgerufen, nicht zu schlafen (5,5 f), sondern sich gegenseitig zu ermahnen und zu erbauen (5,11). Die Gemeinde in Kolossä, die durch eine synkretistische, jüdisch-gnostische Irrlehre gefährdet ist (—»Kolosserbrief), wird zur Festigkeit und Treue im Glauben gemahnt. Die Erbauung schützt vor spaltenden Irrlehrern (2,7). Eph 2 , 1 9 - 2 2 wird im Bild vom Bau die Gleichberechtigung von Juden und Heiden veranschaulicht. Die Heidenchristen sind mit auferbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist. Eph 4,1 — 16 bildet den Abschluß der Ermahnung zur Einheit. Die Vielfalt der Gnadengaben darf die Einheit der Kirche nicht sprengen. Die Wortverkündiger sollen die Heiligen für den Dienst vorbereiten, den Leib Christi zu erbauen (4,12). Jeder (4,7.16), von Christus mit der Gnade beschenkt, hat den Auftrag, der Erbauung des Leibes Christi in Liebe zu dienen, d.h. nicht in Konkurrenz gegeneinander, sondern in liebender Gemeinschaft (4,16). Auch Act 20,32 geht es bei der Erbauung um den Bestand der Gemeinde. Paulus warnt vor den reißenden Wölfen, die die Gemeinde zerstören wollen (Act 20,29 f). Jud 2 0 f ist in Antithese zu den Häretikern geschrieben, die Spaltungen verursachen (V. 18f —»Judasbrief). Die „Geliebten" sollen sich auf dem hochheiligen Glauben aufbauen. 5. Die Mittel Wie im Alten Testament, so stellt auch im Neuen Testament Gott zur Durchführung seines Planes Menschen in seinen Dienst. Das Mittel der Erbauung ist das Wort (Jer 1,9f). Im Neuen Testament haben in erster Linie die —»Apostel (Rom 15,20; II Kor 10,8; 13,10) und

Erbauung I

21

die —> Propheten die Vollmacht, durch ihre Verkündigung die Gemeinde zu erbauen (I Kor 1 4 , 3 f). Auf ihnen als Fundament ist die Gemeinde erbaut (Eph 2 , 2 0 ) . Die von Christus eingesetzten Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer haben alle eine verkündigende Funktion und dienen darum der Erbauung (Eph 4 , 1 1 ) . Alles, was in der gottesdienstlichen Versammlung gesagt wird, Psalm, Lehre, Offenbarung, Zungenrede, Ubersetzung der Zungenrede hat den einen Z w e c k der Erbauung (I K o r 1 4 , 2 6 ) . Die Tätigkeit des Erbauens ist nicht auf Amtsträger beschränkt (Eph 4 , 1 1 f). In der Gemeinde hat jedes Glied von Christus eine Gabe erhalten (Eph 4 , 7 ) . Darum ist jeder zum Aufbau verpflichtet und an der Erbauung beteiligt, aber nicht jeder in gleicher Weise, sondern jeder nach dem M a ß und entsprechend der Kraft (Eph 4 , 1 6 ) . Das erbauende W o r t braucht nicht immer im gottesdienstlichen Ablauf gesprochen zu werden. Es kann auch im alltäglichen Gespräch geschehen. W e r sich durch ein helfendes W o r t um die rechte geistliche Lebensführung des Bruders bemüht, erbaut (I Thess 5 , 1 1 ; Eph 4 , 2 9 ) . Das Erbauen erfolgt nicht nur durch das W o r t , sondern — das ist etwas Neues — auch durch die persönliche Haltung, die man dem Bruder gegenüber einnimmt. V o n der Liebe gehen starke aufbauende Kräfte aus, weil der Liebende nicht daran denkt, w a s ihm förderlich, sondern was für den andern hilfreich ist. Die Liebe, die den Menschen fähig macht, um des andern willen auf seine Freiheit zu verzichten, erbaut (I K o r 8 , 1 ; 1 0 , 2 3 f; R o m 14,15.19f; 15,lf). Literatur Robert Bach, Bauen u. Pflanzen: Zur Theol. der atl. Uberlieferungen. FS Gerhard v. Rad, Neukirchen 1961, 7 - 3 2 . - Karl Barth, KD IV/2, 2 1 9 6 4 , 7 0 9 - 7 2 4 . - Rudolf Bohren, Das Problem der Kirchenzucht im NT, Zollikon 1952, 30—37. — Pierre Bonnard, Jésus Christ édifiant son Eglise. 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22

Erbauung II II. Theologiegeschichtlich und praktisch-theologisch

dert

1. Alte Kirche 2. Mittelalter 3. Luther und Luthertum im 16. Jh. 5. 19. und 20. Jahrhundert (Literatur S. 28)

4. 17. und 18. Jahrhun-

Soll die Frage nach dem kirchlich-theologischen Verständnis von „erbauen" nicht ephemeren Urteilen verfallen, wäre eine Auslegungsgeschichte der wichtigste Bibeltexte oder eine Geschichte der Begriffe OÌKOÒOPÉO)/aedifico/ahmen erforderlich. „Seelengeschichtliche Studien" (Doerne 539) oder die Verschiedenes unter dem modernen Gattungsbegriff —» Erbauungsliteratur darstellende Literaturwissenschaft können sie nicht ersetzen. Da jedoch kaum Teilforschungen vorliegen, können hier nur einige Hauptlinien skizziert werden. 1. Alte

Kirche

1.1. Die griechischen Autoren erwähnen den auch der Mission Regel und Einheit gebenden Begriff selten und mißdeuten ihn oft. Dieser Sachverhalt ist nicht leicht genau zu erklären. Bei —»Irenaus kommt er nur einmal vor: Erbautwerden „auf dem euch gegebenen Glauben" (haer. 3.3.3).-»Barnabas und—»Hermas gebrauchen „bauen" selten metaphorisch für Christwerden und Kirche-bauen, sondern meinen damit die individuelle Gesetzeserfüllung. —»Justin kennt die Wortgruppe oixoòofinur in sinnfällig technischer Bedeutung. Wenn —»Ignatius auf den paulinischen Begriff anspielt, ist nicht der Bau der èxxXtjota gemeint, sondern die Christen als Steine im „Bau Gottes". Bei —» Clemens von Alexandrien ist „bauen" zwar ein Paulus zitierendes Leitwort, doch zielt es auf das Individuum des christlichen Gnostikers und verbindet Gnosis und Liebe anders als der Apostel (Pohlmann 1058-1067).—»Origenes sieht das Erbauen von I Kor 10,23 im Kontext wortloser Tröstung durch den heiligen Geist und braucht die an Ps 127 erinnernde Baumetapher mit wesentlich ethischem Interesse an menschlicher Mitwirkung (princ. II 7,4; III 1,19). 1.2. Lateinische Autoren kommen der „ E r b a u u n g " als Wirken des Geistes durch Predigt und Sakrament näher. Die vorchristliche Ubersetzung von olxoóoftéa) durch aedifico, meist bautechnisch, aber auch metaphorisch gebraucht (anders Ersch/Gruber 2 4 0 ; Thibaut 2 8 7 ) , ermöglichte —»Hieronymus, alle V o r k o m m e n im Neuen Testament (außer Lk 1 2 , 1 8 ; M k 1 3 , 1 ) in der Vulgata durch die W o r t g r u p p e aedific- wiederzugeben und damit die Auslegungs- und Begriffsgeschichte entscheidend zu bestimmen. —»Tertullian gebraucht das Wort öfter und meint: der heilige Geist aedificat ecclesiam, templum scil.et domum et civitatem dei (Marc. 111,23). Hieronymus entnimmt I Kor 14, daß aedificat io Predigt in verständlicher Sprache sei (PL 26, 506 f. 545 f; 3 0 , 7 5 9 - 7 6 2 ) . —»Augustin kennt aedificare weder nur „im Sinne künstlerischen Schaffens", noch allein die Sakramente als Mittel betreffend, quibus aedificatur ecclesia (civ. Dei 22,17; Pohlmann 1068), sondern auch Predigt zur Erbauung kirchlichen Friedens (op. monach. VII; PL 40, 554) und andere Näherbestimmungen (PL 40,147; andere Belege Thibaut 286). Er verbindet erbauen aber wohl noch nicht mit dem Affekt des Lobgesanges (PL 36,914). Die Vita S. Augustini des Possidius zur „Erbauung der heiligen und wahren Kirche" (PL 32,33) zeigt einen weiteren, nicht an den media salutis orientierten Sprachgebrauch. —»Gregor I. rechtfertigt Kirchenbilder als ad aedificationem imperii populi factae, kennt aber auch die die eschatologische Erbauung der Kirche durch Juden bekehrende Predigt (PL 77, 1 1 2 9 B ; 7 9 , 6 1 6 C ) . Die Synode von Narbonne schickt 5 8 9 einen Priester ins Kloster, quia non potest aedificare populum, und 7 9 7 empfiehlt der Bischof von Orléans volkssprachliche Predigt unter Verbot der Ausrede, quod non babeat linguam unde possit aliquem aedificare (du Cange I, 114a; Auerbach 214). 2.

Mittelalter

W e r k e mittelalterlicher Theologie widerlegen Vielhauers oft nachgesprochene Vermutung, daß das Bild v o m Bau seit der Mitte des 5 . Jh. auf lange Zeit aus der lateinischen Literatur verschwinde (Vielhauer 1 6 2 ) . Die folgende Skizze läßt vielmehr vermuten, daß v o m 11. bis 1 4 . J h . vergleichsweise ebenso viel wie im 1 8 . Jh. über aedificatio nachgedacht wurde, dazu erheblich differenzierter, nämlich ekklessiologisch, individuai- und sozialethisch, hermeneutisch und enzyklopädisch. Das Wesen mittelalterlicher Kultur als „Bauen in Gemeinschaft" (Huizinga 49) läßt vermuten, daß bei den Übertragungen der Wortgruppe aedific- am häufigsten der architektonische Sinn ihrer Bedeutung mitschwingt. Aedificatio ecclesiae meint zunächst das einheitgebende Moment zwischen Herr-

Erbauung II

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schcrn und Untergebenen. —»Gregor d. Gr. fordert vom König: boni operis exempla monstrando aedifica (MGH. Ep 2,308,28). -»Thomas von Aquin orientiert die auetoritas der Prälaten an II Kor 10,8 (S. th. 2 - 2 q. 88, a. 12 ad 2). Lambert von Hersfeld nimmt dies ad aedificationem, nonad destruetionem ecclesiae Dei zur Beurteilung des Königs (PL 146,1131B). Die in -»Gerhochs J e aedificio Dei geforderte Kirchenreform will Reinigung von falschen Priestern und tyrannischen Fürsten (PL 194,1187.1336). —•Robert von Melun rühmt mit Mt 16,18 die Kirche alspetram super petram edificatam gegen anprallende Irrlehren (Grabmann II, 356 f). Die brüderhehe aedificatio mutua kann gegen Häresien und Herrscher zur politischen Kampfparole werden. In Schriften de pietate et bonis moribus ist die aedificatio moralis gemeint, der hermeneutisch der sensus tropologicus dient (du Cange I, 114 b; Hugo v. St. Victor, PI 177,1114 C). Wie —»Caesarius von Heisterbach die Brüder zu Gesprächen de Deo rebusque edificatoriis und zu gegenseitiger Erbauung mahnt (hom. exc. 274), so will auch ein Mystiker über das von Christus mit Sakramenten zu siebenfacher Geistesführung erbaute Haus propter aedificationem simplicum simpliciter loqui (Grabmann II, 488). Ebenso rät De imitatione Christi zu Gesprächen über aedificabilia, die ad profectum spiritualem helfen (1,10). Die Verbindung der wortbezogenen brüderlichen Erbauung zur —»Mystik besteht darin, daß auf dem Grunde des Herzens Gott und Mensch zugleich bauen (Hugo v. Sankt Viktor, PL 176,664 f). Von den mannigfaltigsten Wegen der —»Askese, dem mönchischen aedificare solitudinem (Stephan Langton: Smalley 250) oder der Schau der beatissima virgo als fortissimus lapis aedificii Dei (Hildegard v. Bingen, Scivias I, 4: PL 197,421 A) gilt: „das Wesen der frommen Erbauung liegt in der Aufrichtung des Bedeutungsraumes in der Andacht" (Ohly 20). Eines der Frauenklöster, die imitatio, contemplatio und compassio Christi bis zur ekstatischen Süße des Gemeinschaftsgenusses pflegten, liefert im Danziger Nonnenpsalter den wohl ältesten Beleg für „Erbauung" (Wodtke 393). Der mystischen aedificatio ist die scholastische aufs engste verbunden. —»Hugo von St. Viktor entwirft im Bilde der von Gott erbauten Arche Noah und ihrer Bedeutungsstufen eine Wissenschaftslehre und Systematik der Theologie. Das übernatürliche Wissen wird analog zum Kirchengebäude in Wände, Säulen und Gewölbe strukturiert, da Theologie auch erbauen soll (PL 176, 183 ff; 7 9 9 - 8 0 5 ) . PseudoHrabanus gliedert das spiritualc aedificium als „Haus der Seele" so, daß die historia das Fundament bildet,allegoria undanagogia die Wände und Säulen, den Schmuck aber die tropologia, innerlich durch affectus, äußerlich durch effectus guter Werke (PL 112,849ff). Im gleichen Bilde sagt —»Rupert von Deutz mit derVulgatzsuperaedificaremysterium (PL 168,839 f. Ohly's Ubersetzung „Uberbau", S. 15, irritiert). Wenn —»Petrus Cantor das exercitium und aedificium der Theologie in lectio, disputatio und praedicatio stuft (PL 205,25 ff), dann bleibt das ebenfalls ein Aspekt der hermeneutisch-enzyklopädischen Baumetapher des Mittelalters. 3. Luther und Luthertum

im 16. Jh.

3.1. Bei —»Luther hat der Sprachgebrauch von „erbauen" 1 5 2 3 eine deutliche Zäsur. In den deutschen Schriften von 1 5 1 7 - 1 5 2 1 steht das Verb (mit Ausnahme der wohl ironisch gemeinten Stelle WA 6 , 4 6 , 1 9 ) 9 m a l für die spirituelle Übertragung auf das Glauben schaffende Werk des heiligen Geistes, „das erleuchte menschen werden yn der Christenheit" (WA 1 , 1 9 3 , 3 3 ff), manchmal verbunden mit mystischer Terminologie und allegorischer Exegese (WA 1 , 7 0 5 , 2 6 ff; 7 , 5 8 6 , 5 ) , nach der Leipziger Disputation als Auslegung von M t 16,18 auf den „festen, rechten glauben, auff Christo, dem fels, erbawet" (WA 6 , 3 1 4 , 2 0 ; 3 1 5 , 8 ; 7 , 4 1 1 , 8 ) . U m die Jüterboger Prediger Fr. Günther und Th. - » M ü n t z e r gegen —»Ecks Angriffe zu verteidigen, verglich Luther 1 5 1 9 w o h l alle biblischen Vorkommen vonaedificare mit dem Ergebnis: verbum ,aedificari' verbum spiritus est, significans per fidem ittcorporari etcrescere in Christo (WA 2 , 6 2 9 , 1 6 - 3 6 ; ähnlich 8 , 4 8 8 , 3 6 ) . Ein differenzierteres Bild zeigt 1 5 2 2 das Septembertestament. Für die 69 Vorkommen v o m Stamm oixoöofi- gibt Luther drei Übersetzungen: 1. bei Bauwerken, ethischem und geistlichem Sinn „bauen/Bau" (42mal, davon 3mal reflexiv); 2. bei ethischem und reformrelevantem Sinn mit der Awwotatio des—»Erasmus zu R o m 15,20 „bessern/Besserung" (18mal); 3. bei Gebäuden (Lk 7,5; Joh 2,20) und bei geistlichem Sinn (Act 2 0 , 3 2 ; II Kor 5,1; Eph 2 , 2 0 . 2 2 ; 4 , 1 2 ab 1 5 3 0 ; Kol 2,7; Jud 20) „erbauen" (9mal). Der Unterschied zwischen bauen und erbauen scheint begrifflich unscharf, aber doch wichtig genug, um 1 5 3 0 / 3 1 aus „bessern" Eph 4 , 1 2 in „erbaw e " zu ändern und aus „erbawen" Ps 2 8 , 5 in „bawen". Die Übersetzung des Alten Testaments gibt zwar öfter für banah „erbawen", aber nur bei sichtbarem Objekt. In den deutschen Schriften nach 1 5 2 4 steht noch einmal „Jerusalem und Juda erbawen" (WA 2 3 , 5 2 3 , 2 7 ) , gelegentlich werden Bibeltexte mit „erbawen" zitiert. Alle anderen Vorkom-

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men der W A für erbauen ( 3 0 ) und Erbauung(5) sind nur in den für Luthers authentischen Sprachgebrauch unzuverlässigen Predigtbearbeitungen zu finden. Selbst w o der Zusammenhang das W o r t nahelegt, wie im „gleichnis eines gebewes" (zu Ps 1 1 8 , 2 2 f : W A 3 1 / 1 1 7 1 — 1 7 5 ) , fehlt es. Luther hat es auf wenige Bibeltexte reduziert und sonst vermieden. Eine Erklärung des Vorgangs durch Luther ist nicht bekannt. Was veranlaßt ihn, sich von dem zur Sprache der Spiritualisten gehörenden Wort (Grimm, DWb 3 , 7 0 5 - 7 0 7 ; Wodtke 393) gerade 1523/24 zu distanzieren? Möglicherweise Th. Müntzer, dessen Schriften von 1523/24 die verdeutschten Psalmen und Lobgesänge seiner weit bekannt gewordenen Liturgiereform 5mal rechtfertigen, weil sie die Christenheit „erbawen" und „zum Untergang aller (Zeremonien) der gotlosen" dienen (Müntzer 30,3). Mit Berufung auf Eph 5,19,1 Kor 14 und lateinische Hymnendichter sollen sie dem Wort Gottes „aus der biblien", „zu erbawung des glaubens als zur ankunfft" dienen, „Christus den gekreuzygten vorzuhalten der weit" (ebd. 164,3; 214,1; 395,29). Solche biblisch-reformatorischen Anklänge stehen in einem Kontext, dem Erbauung ein göttlicher „geystes wirckung empfintlich werden" ist, die durch bitteres Leiden und lang wartende Arbeit Gottes Kraft und Wort „aus dem abgrunde des hertzen" quellen sieht (ebd. 125,20; 234,3; 2 3 7 , 5 - 1 8 ) . Schöpfung und Sünde, Gesetz und Inkarnation, Sakramente und Lobgesänge bekommen „vorwiegend einen funktionalen Charakter", um durch Tötung des Eigenwillens in den mystischen Heilsprozeß und zum neuen Sein „in Gottes Ordnung" als Bereitung auf die erwartete Christusherrschaft zu gelangen (Bräuer 9 2 f f u.ö.). Das war die von Luther seit 1517 schrittweise überwundene mystische Theologie, die er im Alstedter Experiment erkannte und bekämpfte: Ego plane spiritum istum, quisquís sit, non queo ferre (WA.B 3,120,28, Nr. 641). Konnte ihm „erbawen" durch den Gebrauch als Leitwort methodischer Umfunktionierung des Glaubens diskreditiert erscheinen? Seine ambivalente Entscheidung, die das umstrittene Wort durch zeitweilige Vermeidung und sparsame Verankerung im Bibeldeutsch gleichsam überwintern ließ, gab seiner künftigen Geschichte eine Orientierungsbasis, auch bei den weiter wirksamen Spiritualisten. 3.2. Im Luthertum des 16. Jh. weitete sich der Sinn von „ e r b a u e n " schon in den bearbeiteten Lutherpredigten. Oft bezeichnet das W o r t die Gründung der Kirche (Gemeinde, Leib Christi, Reich Gottes oder Christi) auf Christus als Fels (Eckstein) des Heils und der Seligkeit, aber Subjekt des Bauens sind neben dem Evangelium auch Bibelstudium, Liebe und Gebrauch der Gaben Gottes „zu nutz und dienst der Leute, das sie davon g e b e s s e r t . . . und also die Kirche erbawet w e r d e " ( W A 4 5 , 6 8 6 , 4 ; 4 7 , 3 2 5 , 2 6 ; 2 1 , 4 1 8 , 3 1 ) . „ E r b a w u n g " des Gottesvolks sagen —»Aurifaber und —»Cruciger, „ a u f f ( e r ) b a w e n " hat Aurifaber bei Gebäuden, „erbaulich" k o m m t nicht vor. Anders braucht—»Bucer „ ( a ) u f f b a w u n g " oft für das Geisteswirken, seltener für Diakonie, fast immer im K o n t e x der Heiligung und Kirchenzucht. Erasmus Sarcerius stellt das W o r t 1 5 5 9 im Pastorale oder Hirtenbuch schon in zwei Bedeutungsfelder. N a c h der Enzyklopädie soll der „ L e r e r zur besserung vnd auffbawung" auch „gute künste" studieren und die Dialektik, „einem erbaweten Hause gleich", durch Rhetorik „ausbawen vnd polieren" ( 2 - 6 ) . In der Liturgik gilt für das Bewahren oder Abschaffen menschlicher Bräuche im Gottesdienst die Regel, „das die Gemeinde Gottes gebessert vnd erbawet w e r d e " , d. h. ohne Neuerungssucht, Ärgernis und Z w a n g ( 1 7 6 — 1 8 1 ) . So lehrt auch die —»Konkordienformel die Veränderbarkeit der als Adiaphora umstrittenen Kirchengebräuche — jetzt adjektivisch — „wie es der Gemeinen Gottes am nützlichsten und erbaulichsten sein m a g " (BSLK 8 1 4 , 3 6 ; 1 0 5 6 , 2 6 ) . N o c h gar nicht individualistisch-pietistisch (Eiert 1 , 2 8 7 ) ist Erbauung zwar zum Lehrstück geworden, behält aber durch die Zuständigkeit für die Adiaphora ein Potential lutherischer Gesetzesfreiheit. Die Bedeutung der Kirchenordnung des 16. Jh. für die Begriffsgeschichte von Erbauung (Hinweise Achelis 447; Graff I, 3. lOf) können Texte der teils lutherischen, teils reformierten Ordnung der Kurpfalz belegen. Es ist nicht individuell, sondern kasuell gemeint, wenn 1546 Lektion und Gesang „zu des chors und anderer pesserung und uffbauung der Kirchen" dienen sollen, 1556 die Kirchenordnung „den gottliebenden leiden lieh und auferbeulich sein möcht" und eine Pfarrberufung erfolgt zur „Verbesserung und auferbauung, öffentlich und privatim", d.h. Beichte (EKO XIV, 9 1 . 1 1 7 . 4 3 1 ) . Noch ist in Lehre, Kirche und Schule mit der altkirchlichen Formel „alles zu der Ehre Gottes und uferbauung unsers nechsten" koordinierbar (ebd. 5 4 9 . 6 1 1 ; Eiert 1,289). Damit die Predigt „in eynfalt unsers christlichen glaubens erbauet", sind nicht „spitzfindige, unerbauliche fragen", sondern homiletische Kriterien, wie Textskopus, Verständlichkeit und reine Lehre nötig (ebd. 5 1 0 - 5 1 5 . 5 3 0 f ) . Auch die censura morum oder Abendmahlsausschluß dienen „zu aufbauung der gemein Gottes", wenn man sie „erbaulich" handhabt (ebd. 1 0 1 . 4 3 8 f). Wie der Buchdrucker soll auch sein Zensor zur Erbauung der Religion und

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Kirche arbeiten (ebd. 430). Um 1600 ändert sich die Sprache zu „bau und beßerung der Kirchen", „wolfart" und „wolstand" (ebd. 5 9 5 - 6 0 5 ) . Im ganzen sucht die Kirchenordnung, um praktikabel zu sein, die Generalklausel Erbauung ethisch zu präzisieren, ähnlich wie Nächstenliebe; das entsprach Luthers „bessern", ließ aber den pneumatisch-eschatologischen Grund der Kirche zurücktreten.

4. 17. und 18. Jahrhundert 4.1. Das 17.Jh. nennt noch für Gottesdienst, Abendmahl und Lied den traditionellen Zweck zur Erbauung der Kirche (Zeller, Protestantismus 87.101.141.160). Nik. Rebhans Concionator sagt schon im Titel ut ecclesiam Christi aedificet (1625). Doch bald soll das Wort, durch fides et Caritas moderiert, über die Lehre hinaus Glaubensfolgen wie Lob, Dank und devotio in attimis ausdrücken (Graff 1 , 6 6 - 7 0 ) . Für Weigel und Böhme assoziierte „erbauen" zu sehr die „Mauerkirche", aber ihre Bücher über Wiedergeburt und inneres Leben mit Gott haben ihrem Schüler von Tschesch 1627 die „Seele erbauet, dadurch mir denn alles geistlich und erbaulich worden" (Zeller, Theol. I, 144). Drei Ursachen lassen sich für die vorpietistische Umprägung des Begriffes ins Subjektive und Psychische nennen: a) Der seit 1570, bald auch in Holland und England spürbaren „Würdigung des Dienstes der Erbauung" (Weber 1/2, 260; II, 63) gab J. —»Gerhard in der Widmung seiner schnell verbreiteten Meditationes sacrae 1606 eine theologische Legitimation: Theologiae finis est spiritualis ille inferioris hominis regeneratio; Theologie sei wie Medizin doctrina practica. Neu war an dieser alten Formel die Bestimmung derpraxis durch Wiedergeburt als vom Geist gewirkter Lebensbesserung. Der von Gerhards Lehrer J. —•Arndt alsbald bestätigten neuen Zielbestimmung der Theologie (s.u.) fehlte nur noch die Benennung des Wiedergeburtserlebnisses mit „Erbauung". Sie erfolgt u.a. in J . H . —» Alstedts Encyclopaedia, die 1630 als einheitgebendes Ziel aller Wissenschaften und Künste das Heilen aller Krankheiten des Menschen nannte, sive ut ipsum aedificent, nämlich ad instaurationem imaginis Dei in homine (Henningsen 291 ).—b) Nachdem M. Opitz auf Schriften „zur Erbauung der Gottesfurcht, guter Sitten und Wandels" hingewiesen und Poesie als „eine verborgene Theologie, und Unterricht von göttlichen Sachen" erklärt hatte (Buch v. der dt. Poeterey, 1624 Cap. II), wurden Erbauungslieder und -bücher von Barockdichtern „der erfolgreichste, lange Zeit überlegene Konkurrent der schöngeistigen Literatur" (Wodtke 401). Mit neuen Redeformen und Wortbildungen zur Aussage von eigentlich Unaussprechbarem, wie in —>Schefflers Heilige Seelen-Lust (1657), nahm sie auch die —>Emblematik in den Dienst der Erbauung (Schöne, Emblematik 59 f), die selbst immer mehr als individuelle Gemütsbewegung durch Psychagogie der schon von Arndt kultivierten Affekte des inneren Menschen begriffen w u r d e . - c ) Die Reformorthodoxie konzentrierte die Wende des Theologiebegriffs unter englischen, reformierten und mystischen Einflüssen auf Kirchen* und Frömmigkeitsreformen. Die damals attraktiven Titel ihrer populären Schriften (Der gläubigen Seele Schönheit; Der himmlische Liebeskuß; Geistliche Seelenmusik) förderten die Umdeutung der Erbauung ins Psychische. Der irenische Altlutheraner Joh. Wilh. Baier konstatierte 1677: frequens occurrit nomen aedificationis (Comp, theol. homileticae, S 22). —•Arndts Wahres Christentum (1606) gebraucht erbauen selten und im biblischen Sinne (I, 3 2 , 4 ; III, 20; IV/1,4.19; V/1,2; V/2,3). Hatte er im Brief an Gerhard vom 14.1.1607 (s. o.) der Schultheologie „das Allergeringste" und „das Hauptsächlichste" den „Ermahnungen zum Volke zur Besserung des Lebens" zugeordnet, so kam sein Sendschreiben an Mentzer 1620 zur Gleichordnung beider Stücke, „ohne welche die wahre Kirche keineswegs kann erbauet werden". Indem „bei der Reinigkeit der Lehre zugleich die Wiedergeburt getrieben" wird, meint diese „Bau der Seelen" und „Besserung des Lebens" (VI/2,7). — Th. Großgebauer erneuerte die biblische Bildrede von der aedificatio mutua (Doerne 539), pädagogisierte sie aber, indem er in der Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion (1661) Katechese und Konfirmation zur Erweckung der Affekte für Bekehrung und Wiedergeburt empfahl; dabei wird das die Wiedergeburt im Einzelfall prüfende Hirtenamt „wie in der gleichzeitigen jesuitischen Moraltheologie zum Amt der individuellen Seelenführung und Seelenforschung" (Eiert 1,319). Heinr. Müllers Gesangbuch Geistliche Seelenmusik (1659) stellte das „Singen der Seele" emblematisch und mit dem Sinnspruch laus tendit ad astra dar; diese Theorie übernahm die Lied- und Musikauffassung des Pietismus (Ritsehl II, 84; Zeller, Theol. 1,169; Blankenburg: ThR 44, 334 f). Wenn J. Lütkemanns Schüler

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Chr. Scriver in Gottholds zufällige Andachten (1663) an Natur- und Alltagsgegenständen allegorischemblematische Anspielungen auf göttliche Wahrheiten „zu erbaulichem Gespräch" aufwies oder J. Schaitbergers Nützliche Lebens-Regeln zur Erbauung wahrer Gottseligkeit (1702) forderte: „seid im Reden allezeit erbaulich" (Zeller, Theol. 1,165; Protestantismus 330), dann nahm Erbauung den Sinn geistreich-frommer Selbst- oder Freundesgespräche an. 4.2. Der—»Pietismus hat Erbauung durch programmatischen Gebrauch, viele Drucke alter wie neuer Erbauungsbücher und Distanzierung von separatistischen Gruppen zu einem populären Wort gemacht, das sich schnell abnutzte. In —»Speners Pia Desideria ( 1 6 7 5 ) gilt das M a ß an Erbauung als „Kriterium des Urteils über die kirchlichen Zustände und Begründung für die vorgebrachten Besserungsvorschläge" (Krummacher 6 0 2 ) . O b im Untertitel „gottesgefällige Besserung" an Luthers eine Übersetzung von olxodofirj oder auch an die chiliastische Hoffnung auf „besseren Zustand der Kirchen auf Erden" erinnert, kann hier offen bleiben. Mit der Tradition ist „Erbauung der Seelen" aller Zeremonien „letzter Z w e c k " (Graff I, 68); geistliche Lieder wecken ihre Affekte als „Herzensmusik", was J . Porst's Gesangbuchvorreden weithin bekannt machen (Zeller, Theol. 1 , 1 7 8 ff; Blankenburg: T h R 4 4 , 3 3 5 f). Spezifisch pietistisch ist wohl Speners zeitweilige Konzentration seelischer Erbauung auf die Collegia pietatis. Eingerichtet 1 6 7 0 zur Erbauung „gottseliger Freude" durch Lektüre, Predigterläuterungen und Gespräche über „göttliche Geheimnisse", legitimiert sie Spener seit 1675 mit I Kor 14, Luther und andern Zeugen als Kirchenreform, die den 3. Stand ins Allgemeine Priestertum einübe, indem „Leyen" mit eigenen Predigten „sich selbst erbauten und ermahnten". Im Kern soll das Bekennen der Glaubensmängel und -fortschritte „das Feur der Liebe", „brünstigere Begierde" nach Besserung und „hertzlichen Ernst" wecken (Sendschreiben 4 4 - 7 2 ; Ritsehl II, 142f). Mochte diesecorreptio fraterna durch Bloßlegung des Innersten über bloße Gemütserhebung hinaus Sündenhaß und Gottesfreude entbinden, so barg ihre Methodik doch auch den Keim sozialpsychologischer Verweltlichung. Das Frankfurter Modell gestalteten A. Fritsch {Von Christschuldiger Erbauung deß Nächsten durch gottselige Gespräche, 1676), V . L . Seckendorfs Privatbeichte als „erbauliche Konversation" ohne notwendige Absolution ( 1 6 8 5 : Graff I, 3 7 6 . 3 7 9 ) und andere in ihrer Weise aus. Auch —> Francke war „durch gute erbauliche Reden zu allem Guten gereitzet" (Langen 39), wandelte aber die Wiedergeburt zu einer als Bußkampf, Gebet und erbauliche Schriftanwendung auf sich selbst methodisch praktikablen Reform des Theologiestudiums, die geistliche Affekte als Gegensatz zu natürlichen sah und in den Schein von Selbstbekehrung geriet (Ritsehl II, 168 ff; Eiert 1 , 4 0 0 ; Hirsch II, 159 f). Langfristig wirksamer war die Erbauung „durchs W o r t . . . auf den gewissen vesten Glaubens-Grund" (Bogatzky: Langen 36), vor allem durch volkstümliche Bibelerklärungen (—• Bengel, J . A . ; —>Rambach, J . J . ) . 4.3. Wahrscheinlich haben Empfindsamkeit und Aufklärung durch Reduktion des Begriffes auf natürliche Frömmigkeit, moralischen Wert und ästhetische Gefühle den stärksten Anteil an seiner Säkularisierung. Subjekt und Objekt der Erbauung wird jetzt der Mensch, dessen Erbauen die umgangssprachliche Bedeutung von „befriedigen, Freude machen" annimmt (Grimm, D W b 3 , 7 0 6 ) . B. H. Brockes' Irdisches Vergnügen in Gott zu seines Schöpfers Ehre und sowohl seiner, als des Nächsten Erbauung (1721 ff) sind Gedichte über Natur und Leben, die befriedigen, ver-ge-nügen wollen. Erbauliche Gedanken eines Tabakrauchers sind andächtig-humorvolle Selbstapplikationen der Vergänglichkeit (in J.S. —»Bachs Klavierbüchlein, 1725, Nr. 20). Zedier entfaltet nach 6 Aspekten des biblischen Begriffs ausführlich, daß „Erbauung und Besserung des Nächsten eine feine Christentugend ist" (GVUL 8, 1473). —»Goethe erlebt bei der Kaiserkrönung patriotische „Freude und Erbauung" (Dichtung u. Wahrheit, Buch 5). —»Lavaters Aussichten in die Ewigkeit (1768 ff) wollen schon „kein Erbauungsbuch" sein (Bd. III, Vorbericht),—»SchillersRäuber verspotten die unwirksame Pietisten-Erbauung (1,1 u. 2) und—»Tersteegen wünscht zwar das Singen geistlicher Lieder „mit Ehrerbietung, Andacht nach Eph 5,19 und herzlicher Begierde" (Zeller, Theol. 1,188 ff), will oder kann aber in 584 „erbaulichen Schlußreimen" kein einziges Mal sagen, was erbaulich sei. —»Kant definiert den popularisierten Begriff 1793/94 kritisch als „die moralische Folge aus der Andacht... auf die wirkliche Besserung des Menschen". Sie sei weder „Rührung" noch als bloßes Hören, Lesen oder Singen vor Gott verdienstlich, sondern bestehe darin, daß man durch feste Grundsätze, pflichtgemäße Gesinnungen und Abwehr

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anfechtender Neigungen „gleichsam einen neuen Menschen als einen Tempel Gottes erbaut" (Die Religion usw., ed. K. Vorländer, '1956, 2 2 3 - 2 2 6 ) . Entsprechend wird der Zweck des Gottesdienstes moralisiert und verschult. Konfirmation und Firmung sollen durch Liedeinlagen „Erbaulichkeit" im Sinne der Rührung bieten. Konsequent wird Erbauung dem Katholiken V.A. Winter neben Herzensbesserung auch „ästhetische Kraft" (Graff II, 53.245 ff. 307). Die von Spener als Predigtzweck bestimmte „Erbauung allerlei Art" erhält bei J. Lange 10 „Beförderungsmittel", wird bei F. A. Hallbauer Sache der „Anwendung", bei L. —»Mosheim das movere der Rhetorik als „rühren und bewegen" (Schenk 105.116 f. 134.154.337), bei J. J. —»Spalding alles, was hilft, „daß wir dadurch bessere, gottseligere und ruhigere Menschen werden", nicht aber Trinitäts- oder Zweinaturenlehre (Graff II, 37). - Um 1740 war die Unterhaltungsliteratur zu 4/s erbaulich und zu 'Is schöngeistig; um 1800 hat sich dies Verhältnis umgekehrt (Eiert II, 147). Inflationärer und multivalenter Gebrauch scheint dem Wort „erbauen" im Wechsel philosophischer und weltanschaulicher Richtungen zunehmend die Deckung zu nehmen.

5. 19. und 20. Jahrhundert —•Schleiermacher hat vor allem die Praktische Theologie angeregt, Erbauung als Leitund Zielbegriff kirchlicher Praxis zu verstehen. Sie bemüht sich erfolgreich um die biblische Grundbedeutung, die sie der Fachsprache zuführen konnte, nicht aber d e m wegen seiner Bedeutungsänderung überschärft kritisierten Wort der Umgangssprache. 1 9 5 5 hat K. —> Barth den fachübergreifend gesamtkirchlichen Urbegriff „mit einer Plerophorie ohnegleichen dogmatisch entfaltet" (Doerne 5 4 0 ) , während ihn im Blick auf das Sprachproblem G. Ebeling präzis, aber aufs sparsamste gebrauchte. J. H. Campe erklärt „erbauen" so: „das Gemüt erheben, fromme Gedanken erwecken und zum Guten aufmuntern" (Wb. der dt. Sprache 1 [1807] 954). Anders definierte Schleiermacher: „erhöhte religiöse S t i m m u n g . . . im Zusammenhang mit dem Fundament des christlichen Glaubens." Dieser Zweck des Kultus sei aber „etwas rein subjektives", so daß der „allgemeine Ausdruck" zum Kriteriuni kultischer Darstellungsmittel über „bloße Cautelen" hinaus wenig tauge (SW. XIII. Prakt. Theol. 216 ff. 616 ff. 824 ff). 1830 bezeichneter aber „die leitende Tätigkeit im Kirchcndienst" als „erbauende . . . zur Erweckung und Belebung des frommen Bewußtseins" (Kurze Darst. des theol. Stud. § 279— 302). Damit war der Begriff der neu begründeten —»Praktischen Theologie aufgegeben. Sein immer noch hohes Gewicht zeigen die 84 Erbauliche und christliche Reden (1843-51) von S.A. —»Kierkegaard. Gemeint ist nicht nur eine Darstellungsform, sondern auch die Bedingung ihrer Möglichkeit, die Wahrheitpro me, dem „Einzelnen" zugeeignet und als Liebe erfahren (Schröer 114-116), die „lächeln" läßt, aber „von hinten verwundet". Denn das von —»Hegel gehaßte Erbauliche „ist das Amen des endlichen Geistes" und eine nicht zu übersehende Erkenntnisweise. „Christlich müssen alle, alle Dinge zur Erbauung dienen" (SW XVIII, 329ff; XXIV/XXV, 3f; XXXIII, 111; Tagebücher I, 229; II, 78.122). Als die Praktische Theologie die in Gottes Bauen der Kirche begründete Bedeutung des biblischen Begriffes entdeckt hatte, erklärten ihn C. J. —»Nitzsch, Th. —»Harnack und E.Ch. —»Achelis zum Endzweck und Oberbegriff aller kirchlichen Tätigkeiten, doch sagten sie mißverständlich „Selbsterbauung der Kirche". Das setzte sich ebenso wenig durch wie die Bezeichnung der geistlichen Übung des Gläubigen in Meditation und Gebet als „Selbsterbauung" durch M. —»Kähler und E. —»Luthard (Theol. Ethik, 1883, S 675 ff; O. Zöckler, Hb. der theol. Wiss., III 1885, 360). Häufiger nannte die -»Homiletik Erbauung als Zweck der Predigt, doch ließ sich damit Verschiedenes begründen, teils die Kultpredigt, teils die Pflege des Individuellen (Wintzer 6 6 - 7 5 ) . Dabei wurde der populäre Begriff oft grob kritisiert und pauschal dem Pietismus angelastet. Nitzsch tadelt die Beschränkung aufs Gefühl, Palmer das Subjektive, Bassermann den Gemeinplatz, Steinmeyer die Banalphrase, Schian das Sentimentale, Doerne - bei gerechterer Würdigung des Pietismus - die „heillos verschlissene, dem Sprach- und Vorstellungsbereich der Christenheit fremde, ja ärgerliche und lächerliche Vokabel". Aber der liberale Fr. —»Niebergall und der Lutheraner W. —»Caspari halten Feier und Freude im „heutigen" Begriff für positiv und dem biblischen Begriff für anpassungsfähig, jener mit Gefühlspsychologie, dieser mit Erwachsenen-Katechese. Der diakritische Punkt im Verständnis kultischer Erbauung bleibt das Credo, das Niebergall „religiössittlich" bestimmt, Caspari durch Einsicht in die Notwendigkeit des „irdischen Gefäßes". Doch führen beide über bloße Konfrontation im Sprachlichen hinaus. Nach 1945 erinnerten E. —»Thurneysen (Seelsorge, 1948, § 1 f) und ausführlicher R. Bohren an den biblischen Zusammenhang, daß —»Kirchenzucht „die Gemeinde in ihrer sichtbaren Gestalt erbaut". 1955 erschien in K. -»Barths Versöhnungslehre (KD I V / 2 , 6 9 5 - 8 2 4 „Der Heilige Geist und die Erbauung der christlichen Gemeinde"), die bisher grundsätzlichste und umfassendste Behandlung der Sache. Erbauung wird innerhalb streng christologischer Ekklesiologie aufgewiesen als das Handeln Jesu im Heiligen Geist, das der Christenheit in der Welt als seiner irdisch-geschichtlichen Existenzform Sein, Wachstum, Erhaltung und Ordnung gibt. Darin ist Individuelles, Psychisches und - problematischer -

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Erbauungsliteratur I

Rechtliches „eingeschlossen". Eine kritische Rezeption steht überhaupt, besonders in der Praktischen Theologie noch aus. Die Vorherrschaft gegensätzlicher Orientierungen kennzeichnet die Bibelrevision des Neuen Testaments: Luthers 9maliges „erbauen" wird 1956 um 13 Male vermehrt; diese insgesamt 22 Vorkommen werden 1975 auf 11 reduziert, aber 15mal wird Luthers „bauen/Bessern" ersetzt durch auf-, wiederauf- und ausbauen. Diese Lage mag G. Ebelings Entscheidung erklären, „erbauen" zur Pointierung der Definition „Kirche ist das Geschehen ihres Grundes" nur selten zu brauchen (Theol. u. Verkündigung, 1962, 9 3 . 1 0 2 ; Dogmatik, III 1979, 3 5 8 . 3 6 4 ) . Sieht man das Sprachproblem darin, daß „die Sache in der Katastrophe der Vokabel nicht mit u m k o m m t " (Doerne 5 4 0 ) , dann sind Ersatzwörter nicht beliebig: „ A u f b a u " assoziiert den an Kriegsruinen erprobten, hier aber irreführenden Machbarkeitsoptimismus; „Auferbauung" (Bucer; P. Brunner; Barth) ist sachnäher, aber noch Fachsprache und sprachökonomisch eine unnötige Verlängerung (Osman 3 6 ) . Wenn es aber zum Streit um die Sprache des Glaubens gehört, daß „ e r b a u e n " mit andern Grundwörtern christlicher Rede weniger „Säkularisation als sprachbildende K r a f t " (Schöne) erfährt, sondern das Absinken zur Hülse für andere Gehalte, dann muß der Kirche, zumal in Zeiten ihres eigenen Umstrittenseins, umso mehr daran gelegen sein, die Bedeutung eines biblischen Leitwortes für ihr Sein und Leben zur Sprache zu bringen. Literatur Ernst Christian Achelis, Art. Erbauung: RE 1 5 (1898) 4 4 6 - 4 4 8 . - Erich Auerbach, Lit.sprache u. Publikum in der lat. Spätantike u. im MA, Bern 1958.-Heinrich Bassermann, Uber den Begriff Erbauung: ZPrTh 4 (1882) 1 - 2 2 . - Walter Blankenburg, Die Entwicklung der Hymnologie seit 1950: ThR 4 2 / 4 4 (1977/79). - Rudolf Bohren, s. o. Abschn. I. - Siegfried Bräuer, Thomas Müntzers Liedschaffen: LuJ 41 (1974) 4 5 - 1 0 2 . - Walter Caspari, Die Erbaulichkeit der Liturgie: N K Z 25 (1914) 5 4 5 - 5 5 5 . Martin Doerne, Art. Erbauung: RGG 1 2 (1958) 5 3 9 f . - Werner Eiert, Morphologie des Luthertums, 2 Bde., München ' 1 9 6 5 . - Johann S. Ersch/Johann G. Gruber (Hg.), AEWK 1/36 (1842) 2 4 0 - 2 4 3 . Martin Grabmann, Die Gesch. der schol. Methode, 2 Bde., (1909/11), Darmstadt 1 9 5 6 . - P a u l Graff, Gesch. der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der ev. Kirche Deutschlands, 2 Bde., Göttingen 2 1 9 3 7 / 3 9 . - J ü r g e n Henningsen, Enzyklopädie: ABG 10 (1966) 2 7 1 - 3 6 2 . - Emanuel Hirsch, Gesch. der neuern ev. Theol., 5 Bde., Gütersloh 5 1975.-Johan Huizinga, Das Problem der Renaissance, Darmstadt 2 1 9 5 2 . - H.-H. Krummacher, Art. Erbauung: HWPh 2 (1972) 6 0 1 - 6 0 4 . - August Langen, Der Wortschatz des dt. Pietismus, Tübingen 2 1 9 6 8 . — Thomas Müntzer, Sehr. u. Briefe, krit. GA, hg. v. Günther Franz, Gütersloh 1968. - Friedrich Niebergall, Art. Erbauung: RGG 2 (1910) 4 2 8 - 4 3 2 ; RGG 2 2 (1928) 2 1 1 - 2 1 4 . - Friedrich Ohly, Sehr, zur ma. Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977. Nabil Osman, Kleines Lexikon untergegangener Wörter, München 1971. — Hans Pohlmann, s.o. Abschn. I. - Albrecht Ritsehl, Gesch. des Pietismus. 3 Bde., ( 1 8 8 0 - 86), Berlin 1966. - C. G. F. Schenk, Gesch. der dt.-prot. Kanzelberedsamkeit, Berlin 1841. —Albrecht Schöne, Säkularisarion als sprachbildende Kraft, Göttingen 1959. - Ders., Emblematik u. Drama im Zeitalter des Barock, München 2 1968. - Henning Schröer, Kierkegaards opbyggelige taler og vor tids kirkelige forkyndelse: Kierkegaardiana, Kopenhagen, VI 1966, 1 0 7 - 1 5 1 . - B e r y l l Smalley, The Study oftheBible in the MA, Oxford 1 9 5 2 . Andre Thibaut, Art. Edification: DSp 4 (1960) 2 7 9 - 2 9 3 . - Philipp Vielhauer, s.o. Abschn. I. - Hans Emil Weber, Reformation, Orthodoxie u. Rationalismus, 2 Bde. (1937/40), Darmstadt 2 1966.-Friedrich Wintzer, Die Homiletik seit Schleiermacher, Göttingen 1969. - Friedrich Wilhelm Wodtke, Art. Erbauungsliteratur: RDL 1 (1958) 3 9 3 - 4 0 5 . - W i n f r i e d Zeller, Der Protestantismus des 17. Jh., 1962 (KIProt 5). - Ders., Theol. u. Frömmigkeit. GAufs., 2 Bde., Marburg 1971/78. Gerhard Krause

Erbauungsliteratur I. Alte Kirche II. Mittelalter bis Neuzeit III. Die Erbauungsliteratur in der Gegenwart

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I. Alte Kirche 1. Erbauung und Literatur teratur S. 42)

2. Schriftauslegung

3. Unterweisung

4. Erzählung

(Quellen/Li-

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Erbauungsliteratur I

Rechtliches „eingeschlossen". Eine kritische Rezeption steht überhaupt, besonders in der Praktischen Theologie noch aus. Die Vorherrschaft gegensätzlicher Orientierungen kennzeichnet die Bibelrevision des Neuen Testaments: Luthers 9maliges „erbauen" wird 1956 um 13 Male vermehrt; diese insgesamt 22 Vorkommen werden 1975 auf 11 reduziert, aber 15mal wird Luthers „bauen/Bessern" ersetzt durch auf-, wiederauf- und ausbauen. Diese Lage mag G. Ebelings Entscheidung erklären, „erbauen" zur Pointierung der Definition „Kirche ist das Geschehen ihres Grundes" nur selten zu brauchen (Theol. u. Verkündigung, 1962, 9 3 . 1 0 2 ; Dogmatik, III 1979, 3 5 8 . 3 6 4 ) . Sieht man das Sprachproblem darin, daß „die Sache in der Katastrophe der Vokabel nicht mit u m k o m m t " (Doerne 5 4 0 ) , dann sind Ersatzwörter nicht beliebig: „ A u f b a u " assoziiert den an Kriegsruinen erprobten, hier aber irreführenden Machbarkeitsoptimismus; „Auferbauung" (Bucer; P. Brunner; Barth) ist sachnäher, aber noch Fachsprache und sprachökonomisch eine unnötige Verlängerung (Osman 3 6 ) . Wenn es aber zum Streit um die Sprache des Glaubens gehört, daß „ e r b a u e n " mit andern Grundwörtern christlicher Rede weniger „Säkularisation als sprachbildende K r a f t " (Schöne) erfährt, sondern das Absinken zur Hülse für andere Gehalte, dann muß der Kirche, zumal in Zeiten ihres eigenen Umstrittenseins, umso mehr daran gelegen sein, die Bedeutung eines biblischen Leitwortes für ihr Sein und Leben zur Sprache zu bringen. Literatur Ernst Christian Achelis, Art. Erbauung: RE 1 5 (1898) 4 4 6 - 4 4 8 . - Erich Auerbach, Lit.sprache u. Publikum in der lat. Spätantike u. im MA, Bern 1958.-Heinrich Bassermann, Uber den Begriff Erbauung: ZPrTh 4 (1882) 1 - 2 2 . - Walter Blankenburg, Die Entwicklung der Hymnologie seit 1950: ThR 4 2 / 4 4 (1977/79). - Rudolf Bohren, s. o. Abschn. I. - Siegfried Bräuer, Thomas Müntzers Liedschaffen: LuJ 41 (1974) 4 5 - 1 0 2 . - Walter Caspari, Die Erbaulichkeit der Liturgie: N K Z 25 (1914) 5 4 5 - 5 5 5 . Martin Doerne, Art. Erbauung: RGG 1 2 (1958) 5 3 9 f . - Werner Eiert, Morphologie des Luthertums, 2 Bde., München ' 1 9 6 5 . - Johann S. Ersch/Johann G. Gruber (Hg.), AEWK 1/36 (1842) 2 4 0 - 2 4 3 . Martin Grabmann, Die Gesch. der schol. Methode, 2 Bde., (1909/11), Darmstadt 1 9 5 6 . - P a u l Graff, Gesch. der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der ev. Kirche Deutschlands, 2 Bde., Göttingen 2 1 9 3 7 / 3 9 . - J ü r g e n Henningsen, Enzyklopädie: ABG 10 (1966) 2 7 1 - 3 6 2 . - Emanuel Hirsch, Gesch. der neuern ev. Theol., 5 Bde., Gütersloh 5 1975.-Johan Huizinga, Das Problem der Renaissance, Darmstadt 2 1 9 5 2 . - H.-H. Krummacher, Art. Erbauung: HWPh 2 (1972) 6 0 1 - 6 0 4 . - August Langen, Der Wortschatz des dt. Pietismus, Tübingen 2 1 9 6 8 . — Thomas Müntzer, Sehr. u. Briefe, krit. GA, hg. v. Günther Franz, Gütersloh 1968. - Friedrich Niebergall, Art. Erbauung: RGG 2 (1910) 4 2 8 - 4 3 2 ; RGG 2 2 (1928) 2 1 1 - 2 1 4 . - Friedrich Ohly, Sehr, zur ma. Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977. Nabil Osman, Kleines Lexikon untergegangener Wörter, München 1971. — Hans Pohlmann, s.o. Abschn. I. - Albrecht Ritsehl, Gesch. des Pietismus. 3 Bde., ( 1 8 8 0 - 86), Berlin 1966. - C. G. F. Schenk, Gesch. der dt.-prot. Kanzelberedsamkeit, Berlin 1841. —Albrecht Schöne, Säkularisarion als sprachbildende Kraft, Göttingen 1959. - Ders., Emblematik u. Drama im Zeitalter des Barock, München 2 1968. - Henning Schröer, Kierkegaards opbyggelige taler og vor tids kirkelige forkyndelse: Kierkegaardiana, Kopenhagen, VI 1966, 1 0 7 - 1 5 1 . - B e r y l l Smalley, The Study oftheBible in the MA, Oxford 1 9 5 2 . Andre Thibaut, Art. Edification: DSp 4 (1960) 2 7 9 - 2 9 3 . - Philipp Vielhauer, s.o. Abschn. I. - Hans Emil Weber, Reformation, Orthodoxie u. Rationalismus, 2 Bde. (1937/40), Darmstadt 2 1966.-Friedrich Wintzer, Die Homiletik seit Schleiermacher, Göttingen 1969. - Friedrich Wilhelm Wodtke, Art. Erbauungsliteratur: RDL 1 (1958) 3 9 3 - 4 0 5 . - W i n f r i e d Zeller, Der Protestantismus des 17. Jh., 1962 (KIProt 5). - Ders., Theol. u. Frömmigkeit. GAufs., 2 Bde., Marburg 1971/78. Gerhard Krause

Erbauungsliteratur I. Alte Kirche II. Mittelalter bis Neuzeit III. Die Erbauungsliteratur in der Gegenwart

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I. Alte Kirche 1. Erbauung und Literatur teratur S. 42)

2. Schriftauslegung

3. Unterweisung

4. Erzählung

(Quellen/Li-

Erbauungsliteratur I 1. Erbauung

und

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Literatur

1.1. Erbauung der Kirche und Erbauung der Seele. Die neutestamentlichen Schriften sprechen in erster Linie vom „Erbauen der Kirche" (Mt 16,18). Diese—»„Erbauung" der christlichen Gemeinde ist zuweilen als gemeinschaftsbezogene Vorstellung dem heidnisch philosophischen Gedanken eines „Fortschritts" (TiQoxoizrj) des einzelnen auf die sittliche Vollkommenheit hin gegenübergestellt worden. Doch vollzieht sich die „ E r b a u u n g " der Kirche immer nur in der „Erbauung" von Tugenden wie —»Glaube, —»Hoffnung, —»Demut und —»Liebe unter ihren einzelnen Gliedern (vgl. I Thess 5,11). In der Beziehung auf die Kirche wie auf den einzelnen schließt Erbauung die gleiche Grundlegung oder Stärkung des Glaubens, die gleiche Erschließung oder Förderung des „Lebens im Geist" in sich. Es ist mithin der unmittelbare Bezug auf das geistliche Verfaßtsein, der die „erbauliche" von anderen Arten belehrender oder moralisierender Literatur unterscheidet. In der Historia Lausiaca des Palladius verbindet sich das Motiv der „Erbauung und Bestärkung"

(Pr. 1: eig oixoöofiTjv xai áatf áXciav) mit dem des „geistigen Fortschritts" (Pr. 2: im XQOXonrj rijg öiavoiag) und des „Fortschreitens in einem frommen Vorsatz" (Pr. 3: ngoxójixijg iv Ttj .tgodiaei rijg evaeßeiag). Doch hat das griechischeoixodofuj sehr viel stärker die Grundbedeutung des „Bauens" bewahrt als das lateinische aedificatio, und die gängigste Entsprechung zu aedificare im übertragenen Sinn ist dxpeXeiv [helfen] oder y>vxeAeiv [der Seele helfen] (Thibaut 287).

Die altkirchlichen Autoren kennen ebenso eine Erbauung der Gemeinschaft wie des Einzelnen. So ging es z.B. —»Clemens von Rom, —»Ignatius von Antiochien und Polykarp von Smyrna in erster Linie um den Aufbau der Kirche durch die Belehrung und Ermutigung der Gemeinden. Auch die Berichte und Erzählungen von Märtyrern und anderen Heiligen dienten diesem Zweck, indem sie die Liebe, Verbundenheit und Verehrung der Christen ihrer Kirche gegenüber zu wecken suchten. Schriften, die zur individuellen Heiligkeit anleiten sollten, entstanden etwas später, gegen Ende des 2. Jh., als Teil des Versuchs, das Christentum mit der griechischen Kultur zu verschmelzen. Der entscheidende Faktor für ihre Entwicklung w a r jedoch die Ausbreitung des —»Mönchtums im 4. Jh. Mönchsschriftsteller wie Johannes —»Cassianus konnten aedificatio mit ihrem eigenen Bemühen um geistliche Vollkommenheit gleichsetzen. 1.2. „Praxis" und „Theorie". Im Mittelpunkt der Erbauungsliteratur steht ein Programm geistlicher Unterweisung, das erstmals in —»Alexandrien vertreten wurde und letztlich eine Verschmelzung von griechischer Philosophie und biblischer Frömmigkeit darstellte. Seine Grundlegung erhielt es, um hier einen N a m e n zu nennen, —»Orígenes, seine endgültige Ausgestaltung durch —»Evagrius Ponticus, und in den lateinischen Westen fand es Zugang durch Johannes —»Cassianus. Es gliedert das geistliche Leben in zwei sich teilweise überschneidende Stufen, „Praxis" und „Theorie", versinnbildlicht durch die biblischen Gestalten M a r t h a und Maria (Lk 1 0 , 3 8 - 4 2 ) . Ziel der „Praxis" ist es, die Seele von Leidenschaften und Lastern zu läutern und einen Zustand dercuiádeia [„Entleidenschaftlichung"] und „Reinheit des Herzens" zu erreichen; Oewgia, das geistige Schauen, dagegen zielt auf Gotteserkenntnis und wohl auch, entsprechend dem altehrwürdigen Grundsatz, daß nur Gleiches das Gleiche erkennt, auf Angleichung an Gott. Damit w a r ein auf—»Aristoteles und noch weiter zurückgehendes Begriffspaar, das einst der Abhebung des Ideals der öffentlichen Wirksamkeit von dem des privaten Strebens gedient hatte, zur Bezeichnung für die beiden Hauptaspekte religiösen Rückzugs aus der Welt, —»Askese und —»Mystik, geworden (Guillaumont 3 8 - 6 3 ) . Dieses Programm einer zur „Theorie" führenden läuternden „Praxis" w a r auch ein Wesenszug des zeitgenössischen heidnischen Piatonismus (—»Plato/Platonismus). Die Kirchenväter übernahmen Begriffe und Vorstellungen der Philosophie und gaben ihnen neue Inhalte und Anwendungen. So war ajtäQeia für Evagrius (Pract. Prol. 8) in allererster Linie die Quelle oder vielmehr der negative Aspekt der Liebe (áyámj) zu Gott, die zu seiner Erkenntnis führt. Sie zu erlangen, hat der christliche Asket nicht nur gegen seine Leidenschaften zu kämpfen - das hatten die Philosophen gemeint, wenn sie das sittliche Leben bildlich einen

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Erbauungsliteratur I

„Krieg" oder sportlichen „Wettkampf" nannten: wie vor ihm der Märtyrer (—»Martyrium) ringt der Asket mit den personifizierten Mächten des Bösen, den „unkörperlichen Heerscharen der Bosheit", die er nur mit der Unterstützung (ovvegyia) Gottes überwinden kann. Auch auf der Stufe der geistigen Schau ist der Asket noch tätig, obliegt ihm doch womöglich noch die apostolische Aufgabe, andere zu lehren. Darin wie auch sonst ahmt der Asket Christus nach. Das Ideal der radikalen Christusnachfolge geht auf die urchristliche Frömmigkeit zurück, die in der Gottesliebe und der Bereitschaft, um dieser Liebe willen das Martyrium auf sich zu nehmen, den Gipfel christlicher Vollkommenheit und nicht nur eine Stufe im Aufstieg zu höherer mystischer Erkenntnis gesehen hatte (Hausherr: O C P 1 9 3 5 , 1 1 6 - 1 2 1 ) . Origenes hatte versucht, diese ältere Frömmigkeit mit philosophischen Zielsetzungen zu verbinden. Spätere Autoren, die der origenistischen Spekulation und anderen, weniger intellektualistischen Ausformungen der Mystik gleichermaßen abhold waren, haben wieder das alte, reine Ideal der radikalen Selbstverleugnung zur Geltung gebracht. Sie stellten das geistliche Leben als „Martyrium des Gehorsams", als beharrliches Sich-üben in der Liebe und Unterdrückung des Eigenwillens, mit einem Wort, als reine Askese dar (Hausherr, ebd. 129-132). Die altkirchlichen Schriften über das geistliche Leben haben demnach mehr über „Praxis" als über „Theorie" zu sagen. Trotzdem wäre es falsch, ausgehend von einem modernen Verständnis, das „Erbauung" im Bereich des Gefühls oder allenfalls der Moral ansiedelt, anzunehmen, daß die Kirchenväter sich aufs Moralisieren beschränkten, wenn sie zur Erbauung schrieben. 1.3. Unterweisung, Erzählung, Schriftauslegung. Nach —»Clemens von Alexandrien (paed. I, 1,2), der darin heidnischen Vorbildern (vgl. Seneca ep. 95,66) folgt, gibt es zwei Weisen, die Seele zu heilen und ihr rechtes Handeln nahezubringen: unmittelbar durch Ermahnung, Rat und Unterweisung, mittelbar durch Beispiele dessen, was zu tun oder zu unterlassen ist. Nach diesem formalen Gesichtspunkt läßt sich das patristische Erbauungsschrifttum grob in „unterweisende" und „erzählende" Werke einteilen. Beide Gattungen können sich ohne weiteres mit einer dritten, der Bibelauslegung, verbinden wie im Leben des Mose von —»Gregor von Nyssa. Tatsächlich hat die Schriftauslegung den Kirchenvätern ein Medium zur Erbauung an die Hand gegeben, das infolge seiner Nähe zur—»Bibel als dem ersten und wichtigsten christlichen Erbauungsbuch den erzählenden und unterweisenden Schriften gegenüber einen Vorrang beanspruchen konnte. 2.

Schriftauslegung

2.1. Lectio divina. Wenn —»Ambrosius (Exp. Ps. 118,12,33) die tägliche Lesung als Übung empfiehlt, wenn Nonnen nahegelegt wird - wie es —»Athanasius (virg. 12), Evagrius (virg., PG 40,1263 A) und —»Pelagius (Demetr. 12) tun - , die ersten Stunden des Tages mit einem Buch in Händen zu verbringen, dann geht es stets um die Bibel, das erste und herausragendste Erbauungsbuch der Christen. —»Hieronymus legt sogar einen Bibelleseplan für eine junge Sanctimoniale vor (ep. 107,12). Als zusätzlichen Lesestoff läßt er verschiedene Schriften—»Cyprians, des Athanasius und des-»Hilarius von Poitiers gelten (ep. 54,11). Die —»Benediktusregel (73) erweitert diesen Kanon um die Basiliusregel, die Vitae Patrum und die Schriften Cassians. Die Beschäftigung mit solcher Literatur war nicht so sehr Studium oder Streben nach Erkenntnis als vielmehr ein Lesen um eines unmittelbaren Ergriffenwerdens und sittlicher Besserung willen, lectio... ut quae legimus, meditemur imitari (eine Lesung . . . , damit wir nachzuahmen sinnen, was wir lesen), wie Ambrosius es umschreibt (Exp. Ps. 118,12,33). Diese Übung hatte Wurzeln in der jüdischen „Meditation der T o r a " und schloß auch Techniken ein, die in mancher Hinsicht der Seelenführung heidnischer Philosophen verpflichtet waren—wiederholtes Lesen, gedächtnismäßige Einprägung, meditatio und ruminatio (Überdenken und Wiedervergegenwärtigen), Beziehung des Gelesenen auf die eigene Lage des Lesers (Rabbow, 2 1 8 - 2 2 ; 3 5 2 - 5 4 ) . Vor allem aber stand die lectio divina in Beziehung zum —»Gebet, und zwar gewöhnlich als ein Auftakt dazu: „Wenn du be-

Erbauungsliteratur I

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test, sprichst du zu Gott; wenn du liest, spricht Gott zu dir" (Cyprian, ep. 1,5; vgl. ferner Rousse 473). 2.2. Geistliche Hermeneutik. Einige Bücher der Bibel waren unmittelbar erbaulich; andere, besonders im Alten Testament, enthielten Texte, die der .geistlichen' Deutung mittels Allegorese oder Typologie bedurften (—»Bibelwissenschaft, —»Hermeneutik, —»Schriftauslegung). So gut wie jede Schriftstelle ließ sich in vielfältiger Weise symbolisch deuten, und darin liegt zum Teil der Grund, warum die Bibelauslegung ein so beliebtes Medium geistlicher Unterweisung war. 2.3. Sermones ad populum. Hieronymus (prol. Ezech. hom., Orígenes VIII, GCS 33,315) teilt die exegetischen Schriften des Orígenes in drei Gattungen ein, in excerpta oder scholia, die sich mit ausgewählten Einzelfragen der Exegese befassen, in volumina oder totrtoi, fortlaufende Auslegungen biblischer Bücher, und in Homilien (tractatus, sermones), Gemeindepredigten über einzelne biblische Texte (in gleicher Weise läßt sich —»Augustins exegetisches Werk einteilen, Pontet 216 f). Vornehmlich die Homilien, die üblicherweise frei gehalten und von Schnellschreibern aufgezeichnet wurden, waren das Medium der Erbauung, eine Funktion, die Orígenes ausdrücklich einer zeitaufwendigen Kommentierung gegenüberstellt (hom. 10,5 in Gen.). Der Gegensatz liegt nicht in der exegetischen Methode begründet. Orígenes* ausführlicher Kommentar zum Hohenlied und seine beiden Homilien dazu bieten im wesentlichen das gleiche Ineinander von gelehrter Auslegung und geistlicher Deutung (Ohly 19). Was die Eigenart der Homilie ausmacht, ist ihre Kürze und Allgemeinverständlichkeit (vgl. Orígenes, hom. 10,5 in Gen.). Unter diesem Gesichtspunkt stellte Augustin, der sich stets seiner seelsorgerlichen Verantwortung bewußt war, die Arbeit an De trinitate zurück, um drei weitere psalmorum expositiones zu diktieren (ep. 169,1). Aus dem gleichen Grund behandelte er Ps 119(118), das längste Stück des Psalters, in Gestalt von 32 Predigten zum Vortrag in populis (enn. in Ps. 118, prol.). 2.4. Beispiele erbaulicher Schriftdeutung 2.4.1. Exodus. Bereits Paulus hatte den Durchzug durch das Rote Meer als Typos oder Vorausbildung der Taufe und das Wasser aus dem Felsen als Vorausbildung des Herrenmahls verstanden (I Kor 10,1-11;—»Exodusmotiv). Diese sakramentale Deutung erhielt einen festen Platz in der Katechese, zum Teil auf Grund der Praxis, die Taufe zu —»Ostern, dem christlichen Passa, zu spenden (Daniélou, Sacramentum 152f). Die typologische Deutung der Menschen, Geschehnisse und Vorschriften in Ex hatte stets erhebliches Gewicht; bei Clemens sowie bei Orígenes und seinen Nachfolgern aber verschmolz sie mit einer Deutung, die das Buch griechischem Denken entsprechend als philosophische Allegorie verstand. —»Philo hatte den Auszug aus Ägypten und die Wüstenwanderung als das Herauswachsen der Einzelseele aus der Welt der Stofflichkeit, der Sinne und Leidenschaften, als ihre stufenweise Läuterung und schließliche, niemals völlig verwirklichte Annäherung an die Erkenntnis Gottes gedeutet (Daniélou, Sacramentum 177-90). Dieses Thema des Fortschreitens der Seele auf Gott hin sollte für die Spiritualität des Orígenes und seiner Nachfolger großes Gewicht erhalten, vorab für —»Gregor von Nyssa, dessen Leben des Moses die Vorstellung Philos von Gottes grenzenloser Transzendenz samt der darin beschlossenen Konsequenz, daß die Vollkommenheit der Seele niemals mehr sein kann als eine mystische „Ausstreckung" (éjtéxTaoig) ohne Ende, weiter fortführt und ausbaut. Doch verknüpft sich dieses Thema bei Gregor auch mit einer reichen Fülle typologischer Einzeldeutungen, und die Schrift beginnt mit einer „historischen" Lebensbeschreibung des Moses, die ganz in der Art Philos gehalten ist und ausgesprochen „erbaulichen" Charakter trägt (Daniélou, SC 1,16-25). Als Symbole zeitloser philosophischer Wahrheiten und zugleich als Vorausbildungen Christi und der Kirche konnten die Einzelheiten des Auszuges aus Ägypten auf vielfältige Weise gedeutet werden. Die 42 Stationen der Wüstenwanderung nach Num konnten so, um ein markantes Beispiel zu nennen, typologisch die 42 Generationen des Stammbaumes Jesu in Mt 1 repräsentieren, sie konnten aber auch als Stufen im Fortschreiten der Christenseele verstanden

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Erbauungsliteratur I

werden (Orígenes, hom. 27 in Num; Hieronymus, ep. 78 an Fabiola). Anspielungen auf Geschehnisse des Exodus als Symbole der Seelenreise begegnen bei den monastischen Schriftsteilem immer wieder, etwa bei Cassian (coli. III, 7,5—7; V, 1 4 - 1 6 ) , —»Philoxenus von Mabbug (hom. 9, SC 44, 2 6 3 - 6 6 ) und Johannes Climacus (lib. ad past. 15, PG 88, 1201-04). 2.4.2. Der Psalter. Das am besten bekannte und am häufigsten ausgelegte biblische Buch war der Psalter. Hieronymus (ep. 112,20) nennt Augustin gegenüber umfangreiche Erklärungen des gesamten Psalters von Orígenes, —»Eusebius von Caesarea, Theodor von Heraclea, Asterius von Scythopolis, —»Apollinaris von Laodicea und —»Didymus von Alexandrien, außerdem Teilkommentare über je einige wenige Psalmen (hier hätte er —»Basilius von Caesarea und Evagrius anführen können), und weist darauf hin, daß —»Hilarius von Poitiers, dem Ambrosius streckenweise gefolgt sei, und Euseb von Vercelli die Auslegungen von Orígenes und Euseb ins Lateinische übersetzt hätten. Augustin ließ sich davon nicht abschrecken und schrieb seinerseits die umfänglichen Ennarrationes in Psalmos. Die griechischen Kommentare sind nur bruchstückhaft überliefert (hauptsächlich in —»Katenen); doch das Erhaltene reicht hin, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie Orígenes und seine Nachfolger inadäquaten Texten ihre eigenen geistlichen Überzeugungen abgewannen. So enthält etwa Ps 119 (118), ein Lobpreis des Gesetzes, für Orígenes, der darin einer älteren jüdischen Tradition folgt, das Ganze der—»Ethik. In den beiden Eingangsversen: „Selig sind die Untadeligen auf dem Wege . . . , selig sind, die seine Zeugnisse ausforschen", vermochte er die aufeinanderfolgenden Stufen der „Praxis" und der denkenden „Schau", wie er sie selbst unterschied, wiederzufinden. Der Begriff des Weges bringt ihn auf sein Lieblingsthema, das Fortschreiten der Seele im Sich-ausstrecken „nach dem, was vorne ist" (Phil 3,13), noch wichtiger aber ist ihm, daß es zugleich an den Heiland gemahnt, der ja von sich sagt: „Ich bin der Weg" (Joh 14,6). Der zum Preis des Gesetzes geschriebene Psalm wird bei Orígenes und seinen Nachfolgern zu einem fortlaufenden Bittgebet an Christus, das David als Vorausbildung des wahren Christen prophetisch gesprochen hat. Die Erklärung des Orígenes zu diesem Psalm läßt der Reihe nach die Leitmotive seiner asketischen Lehren anklingen, unter deren tiefem Eindruck seine monastischen Nachfolger stehen: den Kampf (áywv) des christlichen „Athleten" gegen unlautere Gedanken und die Dämonen des Bösen, seine Prüfungen und Anfechtungen, Erniedrigungen und Tröstungen, den Gegensatz zwischen Furcht und einer Liebe ohne Mißmut und Zwang (vgl. II Kor 9,7); selbst die Vorstellung, daß die —»Keuschheit eine Art des Martyriums darstellt, begegnet hier (zu Ps 118,151 LXX). Mehr oder minder eng an Origenes angeschlossen haben sich Hilarius und Ambrosius; der originellste Zug der Expositio in Psalmum CXVIII des Ambrosius besteht darin, daß die Erläuterungen zum Psalm mit solchen zum Hohenlied abwechseln, weil beide biblischen Bücher für den Kirchenvater den gleichen erbaulichen Zweck verfolgen. Augustin dagegen behandelt den Psalm, der das Gesetz zu preisen scheint, als eine antipelagianische Meditation über die Unzulänglichkeit des Gesetzes und das Geheimnis der —»Gnade. 2.4.3. Das —»Hohelied. Dem Wortsinn nach ist das Hohelied eine Art bukolischer Liebesidylle; für Origenes und seine Nachfolger aber galt es als der wichtigste biblische Text zum Thema der Vereinigung mit Gott. Kommentare zum Hohenlied boten einen unschätzbaren Rahmen für mystische „Theorie". In der Antike begegnen drei Hauptformen seiner geistlichen Deutung. Eine jüdische Deutungstradition verstand das Hohelied als Allegorie der Liebe Gottes zu seinem auserwählten Volk. —»Hippolyt von Rom, der den ersten christlichen Hoheliedkommentar schrieb, hat diese Allegorie einfach umgesetzt in eine solche der Vereinigung Christi mit seiner Kirche. Diese ekklesiologische Deutung wurde von Origenes in zwei Werken, die einen erheblichen Einfluß ausübten, fortgeführt, und zwar in einem umfangreichen Kommentar in zehn Büchern, von denen drei (bis Cant 2,15) in der lateinischen Ubersetzung Rufins erhalten sind, sowie in zwei von Hieronymus übersetzten Homilien, die den gleichen Textbereich abdecken. Was Origenes in diesen Meisterwerken über den geistlichen Aufstieg, die beiden Arten der Liebe, die Selbsterkenntnis und die ordinata caritas aus-

Erbauungsliteratur I

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führt, gehört zum Tiefsten, was er über diese Themen je geschrieben hat. Die Allegorie der Vereinigung der Kirche mit Christus wird hier ergänzt und geradezu überstrahlt durch die Deutung auf die Vereinigung der Seele mit dem Wort. Gregor von Nyssa folgt Origenes, wenn er das Hohelied als „Brautzug der Seele" zu ihrer unkörperlichen, geistlichen und makellosen Vereinigung mit Gott beschreibt (comm. in Cant. I. S. 15, 1 3 - 1 5 ) . Gregors aus fünfzehn Predigten bestehender, kurz vor seinem Tod entstandener, bis Cant 6,8 reichender Hoheliedkommentar ist der reifste Ausdruck seiner Mystik. Im Bereich der lateinischen Patristik ragt als Deuter des Hohenliedes Ambrosius heraus. Seine Erläuterungen dazu finden sich breit gestreut in Schriften wie De virginibus, Expositio in Psalmum CXVIII und sogar in der Leichenrede auf den ermordeten Valentinian II. Ambrosius ist anscheinend auch der erste, der sich, hierin dann von Hieronymus gefolgt, in einem Aufruf zur Jungfräulichkeit auf die Liebesdichtung des Hohenliedes bezogen hat (virg. II, 42 f; Hieronymus, ep. 22,25). 3.

Unterweisung

Die praeceptiva pars der hellenistischen Ethik hatte ihre wichtigste Ausdrucksform in der Diatribe, dem volkstümlichen Vortrag, gefunden. Die verschiedenen Stilmerkmale der Diatribe — abgehackte, parataktische Sprache, Wechselrede mit einem imaginären Gesprächspartner usw. - waren mehr auf lebendige Darstellung als auf systematische Gedankenentwicklung abgestellt (Marrou 992 f). Von der Diatribe ging der wichtigste literarische Einfluß auf das frühchristliche Schrifttum aus. Die altkirchlichcn Ethiker wollten Aufmerksamkeit gewinnen und eine erzieherische Wirkung ausüben; an geordneter Lehrdarbietung war ihnen weniger gelegen; deshalb schrieben sie bewußt unsystematisch und wechselten häufig und abrupt das Thema. Das alles erschwert den Versuch, diese Literatur unter inhaltlichen Gesichtspunkten zu überblicken. Einen Ansatzpunkt dafür bietet indessen die von Clemens von Alexandrien (paid. 1,1,1 f) aufgenommene geläufige Unterscheidung zwischen „protreptischer" Ermahnung, die auf die Gesinnung des Menschen zielt, „anleitender Rede", die zum Handeln anweist, und „Trostrede", die die Gemütsbewegungen der Seele heilt. 3.1. Protreptikos und Trostschrift. Als literarische Genera sind Protreptikos und Trostschrift (Consolatio) im 5. Jh. v. Chr. entstanden, noch ehe es zu einer klaren Unterscheidung von Philosophie und Rhetorik gekommen war. Der Protreptikos war ein in der Regel an Athleten oder Heere gerichteter Aufruf zu beherzter Pflichterfüllung oder eine Ermunterung zu einer Entscheidung, die bleibende sittliche Folgen nach sich zog, wie der Bekehrung zur Philosophie. Die Trostschrift zielte demgegenüber darauf ab, Gemütsbewegungen, insbesondere die Trauer über einen Todesfall, zu heilen. Die Philosophen konnten Protreptikos und Consolatio als erste und zweite Stufe ethischer Unterweisung miteinander verknüpfen (z. B. Philo von Larissa bei Stobaeus 3 9 , 2 0 - 4 0 , 2 0 Wachsmuth) und in beiden eine gleichgeartete „Umwertung der Werte" vornehmen. Das stehende protreptische Argument der Philosophen war, daß die Glückseligkeit, der alle Menschen nachstreben, nicht auf Reichtum und anderen äußeren Gütern beruhe, denen man gemeinhin nachjage, sondern auf der Tugend als dem einen wahren Gut, zu dem die Philosophie verhelfen könne; die geläufige philosophische Consolatio besagte, daß die vor Augen liegenden Übel, die Gemütsbewegungen wie Trauer hervorrufen, unwirklich oder zumindest unwesentlich seien. Christliche Autoren vermochten diese Art Paradox ohne weiteres zu übernehmen. Der Protreptikos des Clemens mit seinen breiten Angriffen gegen das Heidentum ist in erster Linie eine missionarische Apologie des Christentums (—• Apologetik). Der typische christliche Protreptikos hatte jedoch Leser vor Augen, die bereits Christen waren, und ermunterte sie, sich den Elitegruppen der Märtyrer oder der Ehelosen innerhalb der Kirche zuzugesellen. Die uns erhaltenen „Ermahnungen zum Martyrium" zeigen untereinander eine bemerkenswerte formale Uneinheitlichkeit. Tertullians Ad martyras ist eine kurze, mit klassischen exempla constantiae überfrachtete rhetorische Ermunterung für christliche „Athleten", die im Gefängnis ihrer letzten Bewährungsprobe entgegenharren. Die 235 entstandene

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Ermahnung zum Martyrium des Origenes ist dagegen eine weitläufige Abhandlung, in der Warnungen vor Götzendienst (6—10) und Ermahnungen zur Standhaftigkeit ( 1 1 - 2 1 ) durch Beispiele aus den Makkabäerbüchern ( 2 2 - 2 7 ) , Erörterungen zurTheologie des Martyriums (28—44) und einen Ausfall gegen Kompromisse ergänzt werden. Völlig anders stellt sich wiederum Cyprians Ad Fortunatum de exhortatione martyrii dar, eine Schrift, die als Anthologie einschlägiger Bibelstellen „nicht eine Abhandlung", sondern „den Stoff zu einer Abhandlung" bietet (Ad Fort. 3: . . . non tarn tractatum ... quam materiam tractantibus). Ebenfalls eine Ermahnung zum Martyrium ist Cyprians 58. Brief an die Gläubigen in Thibaris, desgleichen die pseudocyprianische Schrift De laude martyrii. Im 4. Jh. traten an die Stelle der nun nicht mehr erforderlichen Ermahnungen zum Martyrium diejenigen zu einem asketischen Leben in geschlechtlicher Enthaltsamkeit wie De virginitate Gregors von Nyssa (Tertullians De exhortatione castitatis stellt einen Vorläufer dieser Gattung dar). Vor allem Ambrosius hat zahlreiche Ermahnungen zur Jungfräulichkeit geschrieben: De virginibus in drei Büchern für seine Schwester Marcellina, De virginitate, De viduis, De institutione virginis und Exhortatio virginitatis. In diesem Schrifttum geht häufig die Protreptik in Apologetik über (etwa in De virginitate von Ambrosius oder Ad Theodorum lapsum von Johannes Chrysostomus) und die Ermahnung in Polemik (vgl. Hieronymus, Adv. lovinianum). Stärker positiv gewandt, vermochte ein Protreptikos wie der Brief 2 des Basilius von Caesarea ein weitgestecktes Programm monastischen Lebens zu entfalten. In der heidnischen Literatur waren nächst Abhandlungen und Briefen Reden das vornehmliche literarische Medium der Consolatio. Bei den griechischen Vätern gehören zur Trostliteratur Reden Gregors von Nazianz (or. 7; 8; 43) und Gregors von Nyssa (Trauerreden auf Meletius, Pulcheria und Flacilla), zahlreiche Briefe des Basilius von Caesarea und Abhandlungen, etwa des Johannes Chrysostomus Ad Stagirium a daemone vexatum, Adeos qtti scandalizati sunt ob adversitates und das ausgeprägt stoische Schreiben Quod nemo laeditur nisi a se ipso aus der Verbannung. Eine Liste des einschlägigen lateinischen Schrifttums könnte beginnen mit Cyprians De mortalitate sowie dem recht harten Trostbrief an Turasius und fortfahren mit Briefen von Ambrosius (15;37), Augustin (92;263 u.a.), Paulinus von Nola (13) und vor allem Hieronymus (23;39;60;66;75;77;79;108;118;127). Hinzu kämen Predigten wie Augustins Sermo 172 über I Thess 4,12 f und Leichenreden, insbesondere die Reden des Ambrosius auf seinen Bruder Satyrus (De excessu fratris Satyri libri duo) und die Kaiser Valentinian II. und Theodosius I. Auch Carmen 31 des Paulinus müßte genannt werden. Beide Aufzählungen erwähnen nur das wichtigste. In der rhetorischen Theorie unterschied man drei Hauptteile der Leichenrede, das encomium, den Lobpreis des Verstorbenen, mit oder ohne eine die Trauer wachrufende lamentatio, eine consolatio, die aufwies, daß man nicht zu trauern brauche, und einen abschließenden Protreptikos an die Hinterbliebenen (Kassel 40). Der gängige Kondolenzbrief bestand entsprechend aus Beileidsbekundung, Trostzuspruch und Ermahnung (Demetrius, typi epist. 5). Doch es blieb hier freier Spielraum. Beileidsbekundung und Ermahnung konnten ganz fortfallen; das encomium konnte sich verselbständigen wie bei Hieronymus, ep. 77; 108 und damit zu einem Stück biographischer Literatur werden. Der Trost zusprechende Teil bestand hauptsächlich aus stehenden Argumenten, die ohne große Abwandlungen von Philosophen, Rhetoren und Kirchenvätern wiederholt wurden: Alle Menschen sind sterblich; sie können dem Spruch des Schicksals oder der Vorsehung nicht widerstehen, sollten sich darauf allerdings vorbereitet haben; wir sollten dankbar sein für das, was wir haben durften, im Gedenken daran, daß es uns nur geliehen, nicht zum Besitz gegeben war; das Leben ist voller Leid, dem der Tod ein Ende setzt; die Abgeschiedenen haben es jetzt besser, sie sind „nicht verloren, sondern vorausgegangen"; die Zeit heilt Wunden, die Vernunft aber vermag das noch eher; usw. Durch zahlreiche Dichterzitate und Beispiele tapfer getragenen Leidens veranschaulicht, sollten solche Argumente dem Leidtragenden ins Bewußtsein rufen, daß sein Unglück weder einmalig noch untragbar war. Christliche Trostliteratur bot die gleiche Therapie an und ersetzte dabei lediglich die klassischen Zitate und Beispiele durch entsprechendes biblisches Material. Es gab auch Verschiebungen in der Akzentuierung und

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Thematik, etwa im Blick auf das Leben nach dem Tod, ein Thema, bei dem sich die christlichen Autoren ihrer Überlegenheit den Heiden gegenüber bewußt waren; nicht umsonst war ihre beliebteste Bibelstelle I Thess 4,13. Trotzdem bringt die christliche Trostliteratur wenig, was über eine Adaptierung der gängigen philosophischen Heilmittel gegen die Trauer hinausführt; auffällig selten ist die Rede von einer Vereinigung mit Christus durch —»Leiden, vom Aufsichnehmen des Kreuzes und von der Freude, am eigenen Fleische auszufüllen, „was den Trübsalen Christi noch fehlt" (Kol 1,24). Es war üblich, dem Trostzuspruch eine Ermahnung folgen zu lassen. Ja, Trostschriften wie die Briefe 79 und 118 von Hieronymus oder Ad viduam iurtiorem von Johannes Chrysostomus können zur reinen Protreptik für Weltentsagung und Ehelosigkeit werden. Protreptik bildet auch einen wesentlichen Bestandteil der berühmtesten Trostschrift der Spätantike, der Consolatio philosophiae des —»Boethius, die er im Gefängnis in Erwartung seiner Hinrichtung schrieb. Die Rückkehr zum philosophischen Nachdenken ist ihm das Heilmittel für sein Leid. Zwischen gebundener Sprache und Prosa wechselnd, bildet das Werk in fünf Büchern einen Dialog zwischen Boethius und der Philosophie als der Personifikation der menschlichen Vernunft und wird zu einem Werk philosophischer Theologie. Trauer ist im übrigen nicht die einzige Gemütsbewegung, der die altkirchlichen Schriftsteller beizukommen versucht haben. Von Cyprian und Basilius gibt es Schriften über den Neid, von Basilius und Gregor von Nazianz über den Zorn, die nach dem Muster ähnlicher Werke von Plutarch und anderen gestaltet sind (Cyprian, De zelo et livore; Basilius, TIFQÍ (pOóvov [PG 3 1 , 3 7 2 C - 3 8 5 B ] ; Kara oey^ofiévcov [PG 31,353 A - 3 7 2 B ] ; Gregor von Nazianz, Kara Qvfxov [carm. mor. 25, PG 3 7 , 8 1 3 - 8 5 1 ] ) . Der gängige Rahmen für die literarische Beschäftigung mit solchen Emotionen war indessen der Katalog der sieben Hauptsünden, und der Kampf mit diesen Sünden ist ein zentrales Thema der begleitenden monastischen Literatur, die zum geistlichen Leben anleitet. 3.2. Anleitung zum geistlichen Leben. Die „anleitende Rede" oder allgemeine Wegweisung für das geistliche Leben bildet den umfangreichsten und am wenigsten überschaubaren Bereich der altkirchlichen Erbauungsliteratur. Der vornehmliche Adressat dieses Schrifttums war seit dem 4. Jh. der Mönch, gewissermaßen der hauptberufliche Spezialist geistlichen Lebens. Die Mönchslitcratur beginnt mit der Protreptik zur Ehelosigkeit, diese wird durch umfängliche Handreichungen für das ehelose Leben weitergeführt, und daran schließen sich noch stärker ins Einzelne gehende Regeln für die monastische Lebensführung an. Spezialfragen werden in besonderen Schriften behandelt, entweder in der Form von Reden oder von kurzen Antworten auf schriftlich gestellte Fragen. Der allerpersönlichsten Erbauung des Mönchs dient eine eigene Meditationsliteratur, vor allem in der Gestalt von Spruchsammlungen. 3.2.1. Handreichungen. Der Aufruf zum monastischen Leben konnte ohne weiteres übergehen in praktische Anleitungen zu seiner Verwirklichung. Bietet Buch I von De virginibus des Ambrosius ein Lob der Jungfräulichkeit, das in Buch II durch Beispiele bekräftigt wird, so besteht Buch III aus Empfehlungen - Fasten, häufiges Gebet, reichliches Tränenvergießen, Schweigsamkeit, Maßhalten bei Tisch und eine strenge Beschränkung der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Ambrosius hat dabei auf des Athanasius Brief an Jungfrauen und einige noch weit ältere Schriften zurückgegriffen. Längst vor der Entstehung des Mönchtums hat es ja schon Christen, insbesondere Frauen gegeben, die sich einem Leben in Keuschheit widmeten, und ihre Lebensführung war Gegenstand spezieller Abhandlungen Tertullians (De virginibus velandis) und Cyprians (De habitu virginum). Seinen eifrigsten Nachfolger in diesem Bereich fand Ambrosius in Hieronymus: dessen an seine aristokratische Anhängerin Eustochium gerichteter berühmter 22. Brief (384) verbindet umfangreiche Darlegungen über die Pflichten der gottgeweihten Jungfrau mit beißender Kritik an aller Halbherzigkeit. Eine ähnliche Verbindung von Polemik und asketischer Unterweisung findet sich in einem späteren Brief (130, aus dem Jahr 413), den Hieronymus an eine andere aristokratische Sanctimoniale, Demetrias, gerichtet hat - im Gegenzug zu einem Schreiben des

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Pelagius an dieselbe Adressatin, in dem die praktische Anleitung begleitet war von einer eindrucksvollen Darlegung der pelagianischen Lehre über die Möglichkeit und damit auch die bittere Notwendigkeit, die Vollkommenheit zu erlangen. Zwei der wichtigsten Handreichungen zum monastischen Leben in griechischer Sprache sind die lange Athanasius zugeschriebene Schrift Über die Jungfräulichkeit {lóyogao)xr¡QÍag TiQÖq Tf¡v nagOévov) und De instituto chrisliano, sei nun Gregor von Nyssa der Verfasser dieser Schrift oder nicht. Mit ihr verbinden sich vielschichtige Authentizitäts- und Uberlieferungsprobleme. Inhaltlich bildet das Werk eine Parallele zu dem in einer vollständigen griechischen Textgestalt sowie in zahlreichen anderen griechischen, syrischen und arabischen Fassungen vorliegenden Großen Brief des „Makarius", und es ist umstritten, ob „Gregor" eine Kurzfassung des „Makarius" oder der Große Brief eine erweiterte Metaphrase der Schrift Gregors darstellt (vgl. Jacger 1 4 6 - 1 6 2 ; Desprez 26). Beide Werke befassen sich unter zwei Aspekten mit dem Mönchtum: einmal in einer Erörterung seiner Zielsetzung (Angleichung an Gott durch Reinigung von den Leidenschaften, die die atürliche Gottesliebe der Seele durchkreuzen) und zum anderen in einer ausführlichen Handreichung für die Leitung einer Mönchsgemeinschaft. Weitere Beispiele dieser Handreichungsliteratur sind De monástica exercitatione des Nilus von Ankyra und derLiberasceticus des—»Maximus Confessor. Diesen Handreichungen für das monastische Leben kann man solche für das Priestertum gegenüberstellen, die in ihrer Zielsetzung begrenzter sind - oder aber erheblich weiter ausgreifen. Die Schrift De sacerdotio des Johannes Chrysostomus und die Pastoralregcl —»Gregors des Großen befassen sich vornehmlich mit dem apostolischen Auftrag des Priesters als Lehrer bcne vivcns qualiter doceat (Reg. past. I, prol. [einen guten Lebenswandel führend, wie er lehre]) und nicht mit seiner eigenen geistlichen Bildung. Demgegenüber ist die als christliches Gegenstück zu Ciceros De officiis konzipierte Schrift De officiis ministrorum des Ambrosius eine ausführliche Studie über praktische Ethik, in der es um die Grundsätze rechten Verhaltens und nicht eigentlich um die Einübung geistlichen Lebens geht.

3.2.2. Regeln. Die älteste Mönchsregel ist die ursprünglich koptisch geschriebene Pachomiusregel (vor 346); sie ist vollständig nur in der lateinischen Ubersetzung des Hieronymus erhalten. Unter ihrem Einfluß stehen neben anderen Basilius, Cassian und —»Benedikt von Nursia. Im griechischen Osten ist der bedeutendste Vertreter der Regelliteratur Basilius von Caesarea, zu dessen asketischen Schriften (Quasten III, 212 f) vor allem die Moralia und zwei Mönchsregeln gehören. In der lateinischen Übersetzung Rufins übten die Basiliusregeln Einfluß auf Cassians Instituía wie auch auf Benedikt aus. Gedacht waren diese Regeln zum Vortrag vor der Mönchsgemeinschaft ebenso wie zur Konsultation im Einzelfall. (Die —»Benediktusregel, die selbst dreimal jährlich abschnittsweise vorgetragen werden sollte, führt die Instituía und die „Regel unseres heiligen Vaters Basilius" als monastische Erbauungsschriften an [73].) Die Regeln sollten nicht nur der Weisung, sondern auch der Belehrung dienen. So enthalten die Benediktusregel und die verwandte, jedoch viel umfangreichereRegula Magislri (s. dazu TRE 5,575,18 ff) Kapitel über den —»Gehorsam, die Schweigsamkeit und die Stufen der —»Demut. 3.2.3. Geislliche Reden und Briefe. Seit den Tagen des Antonius pflegten bedeutende Einsiedler Ratschläge in geistlichen und anderen Fragen zu erteilen. Die Regel des Pachomius (Nr. 19.20.21.22) und spätere Regeln sehen regelmäßige „Disputationen" über geistliche Themen vor. Zu den Aufzeichnungen oder literarischen Nachgestaltungen solcher Disputationen zählen drei herausragende Werke der Erbauungsliteratur: die Collaliones Cassians, die Geisilichen Homilien des Makarius und die Lehrvoriräge des Dorotheus. —»Cassians Collaiiones, eine Fortsetzung seiner Instituía, sind eine in elegantem Latein gehaltene Nachgestaltung von Unterredungen, die er in seiner Jugend mit ägytischen Wüstenvätern geführt hatte. Leicht lesbar und belebt durch eine Reihe wertvoller Anekdoten, bringen sie ein bemerkenswert weltoffenes und maßvolles Leitbild monastischen Lebens zur Geltung. - Eine enthusiastischere Form monastischer Unterweisung tritt dagegen in den sog. Makariushomilien zutage (—»Makarius). Sie betonen das geistliche Ringen, die persönliche Erfahrung göttlicher Wirklichkeit, die überragende Bedeutung des Geistes und die Rolle des Gebetes als Weg zur Vollkommenheit; das alles ist kennzeichnend für eine damals weitver-

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breitete Gefühlsfrömmigkeit. — Im Gegensatz zu den Makariushomilien sind die siebzehn erbaulichen Lehrvorträge des Dorotheus unzweifelhaft orthodox und bemerkenswert nüchtern. Ihr Verfasser, der in der Mitte des sechsten Jahrhunderts als Abt eines Klosters nahe —»Gaza wirkte, vertritt eine der spekulativen Mystik eines Origenes und Evagrius entgegengesetzte Tradition. Sein Anliegen ist die praktische Erbauung durch Gehorsam und Ausschaltung des Eigenwillens, durch Demut und Entsagung, Geduld, Liebe und Gottesfurcht. Eine unschätzbare Dokumentation der Spiritualität dieser Zeit in ihrem praktischen Vollzug bieten die schriftlich vorliegenden Fragen urtd Antworten des Barsanuphius und Johannes, der Lehrer des Dorotheus (s. CPG III, 7350); zugleich gewähren sie einen genauen und faszinierenden Einblick in die persönliche Entwicklung der beiden Asketen. Zwei umfangreiche Sammlungen von leider nicht durchweg authentischen Briefen über asketische und exegetische Fragen liegen unter den Namen des —»Nilus von Ankyra und Isidors von Pelusium (etwa 3 6 0 - 4 3 5 ) vor. 3.2.4. Sentenzen zur Meditation. Schriften zur persönlichen Lektüre und Meditation entstanden vor allem in Gestalt kurzer, in sich abgeschlossener Sprüche (Sentenzen), deren Anordnung eine kursorische Lektüre verhinderte; gewöhnlich waren sie zu Hundertergruppen (Zenturien) zusammengefaßt. In der christlichen wie heidnischen Literatur hatte die Verwendung solcher Sentenzen zur sittlichen Unterweisung schon längst einen festen Platz. Es gibt zwei Hauptgruppen von Sentenzensammlungen: einerseits Anthologien von Texten, die größeren Schriften entnommen sind (z.B. Epiktets Enchiridion), andererseits Gruppen von Sprüchen (yvcbpai), die von vornherein als abgeschlossene Einheiten gestaltet sind und in großer Formengielfalt begegnen - als zum Nachdenken herausfordernde Definition, als Apophthegma, Vergleich usw. Christliche Ethiker haben beide Arten von Sentenzenmaterial verwandt. Auszüge aus der Bibel wurden nicht allein zu apologetischen Zwecken, sondern auch zur sittlichen Wegweisung angefertigt. Die wichtigsten Sammlungen dieser Art sind das dritte Buch der Testimonia ad Qttirinum Cyprians, dasSpecttlum Augustins und der syrisch erhaltene Antirrheticus des Evagrius, acht Bücher mit Zitaten zum Thema der acht Hauptsünden. Später wurden auch Anthologien aus Augustin selbst sowie aus Basilius von Caesarea und Gregor von Nyssa zusammengestellt; und unter dem Namen des Nilus erschien im 6. Jh. eine christliche Bearbeitung von Epiktets Enchiridion. Noch auffälliger ist die Übernahme heidnischen Materials in einem anderen Fall: Stücke aus einer noch erhaltenen Sammlung von yvwfiai des Pythagoras, die auch von Porphyrius und Stobaeus geplündert wurde, erscheinen in überarbeiteter und abgewandelter Gestalt in den Sextussprüchen, einer christlichen Sentenzensammlung der Zeit um 190/200. Sie war schon Origenes bekannt, wurde aber später dem römischen Bischof Sixtus II. (257—258) zugeschrieben und 398 von Rufinus ins Lateinische übertragen. — Der Bahnbrecher der christlichen Sentenzenliteratur in ihren verschiedenen Formen - als Doppelspruch, als biblischer Syllogismus, als Seligpreisung usw. - war aber der monastische Theoretiker und wohl auch Erfinder der Zenturie—»Evagrius Ponticus (Balthasar 181-184). Das Hauptwerk des Evagrius ist der Monachos (Guillaumont 31), eine Trilogie, bestehend aus dem Praktikos mit hundert Sentenzen, dem Gnostikos mit fünfzig Sentenzen zur Anleitung für das Verhalten des geistlichen Lehrers und den Kephalaia gnostika, einer Darlegung der hochspekulativen origenistischen Theologie des Evagrius in sechs Zenturien (von allerdings nur je neunzig Sentenzen). Der wichtigste Beitrag des Evagrius zur asketischen Literatur war die systematische Behandlung der ,acht bösen Gedanken'. Dieses Thema wird in zahlreichen späteren Schriften behandelt (z. B. Cassian, inst. V - X I I ) und lebt in den,sieben Todsünden' des Mittelalters weiter. - Unter den späteren Zenturienverfassern ragt—»Maximus Confessor heraus. Von ihm stammen zumindest zweihundert Capita gnostica sowie vierhundert Capita de caritate; diese handeln hauptsächlich von der überwältigenden Gottesliebe, die auf die Loslösung von allem Geschaffenen folgt. Maximus ist in erster Linie Evagrius verpflichtet, dessen Lehren er, ohne seinen Namen zu nennen, zurechtrückt und korrigiert. Vier Zenturien Über Liebe und Enthaltsamkeit stammen von dem Maximusschüler Thalassius, zwei Über Nüchternheit und

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Tugend von Hesychius vom Sinai usw. Die bedeutendste Einzelzenturie sind wohl die Hundert gnostischen Kapitel über die geistliche Vollkommenheit aus der Feder des —»Diadochus von Photice, das klassische Zeugnis einer Erfahrungsmystik. Die berühmte Paradiesesleiter des Johannes Climacus, ein sorgfältig ausgearbeiteter Führer zum geistlichen Leben, ist ebenfalls ein Mosaik von aneinandergereihten yvd>fiai (Couilleau 374). Jede der 30 .Sprossen' der .Leiter' stellt eine Sammlung von Sentenzen dar, die gewöhnlich mit einer Reihe von Definitionen beginnen und danach oft Anekdoten und Reminiszenzen bieten, von denen manche bemerkenswert grausig sind. 3.2.S. Schriften über das Gebet. Das -»Gebet, das seit Clemens von Alexandrien (str. VII,39,6) als „Gespräch mit Gott" verstanden wird, ist das Hauptanliegen des Mönchs. Unablässiges Gebet unter Ausschluß jeder niedrigeren Tätigkeit konnte als Aufgabe einer Elite innerhalb der Mönchsgemeinschaft aufgefaßt werden (inst, christ. 79,15 ff; bes. 80,2 f; 81,6 ff; 82,15 ff; Jaeger 206). Bedeutende Schriften über das Gebet sind indessen längst vor Entstehung des Mönchtums erschienen. Tertullians De oratione (ca. 198/200) hat Cyprians De dominica oratione (251/252) beeinflußt, während Origenes gegen 233 seine gänzlich anders geartete Abhandlung Über das Gebet schrieb. Alle drei Schriften behandeln ausführlich das—»Vaterunser und geben Anweisungen, wo und wie man beten soll. Unter den späteren Vaterunsererklärungen finden sich die fünf Homilien De oratione dominica Gregors von Nyssa und Buch 11,10—39 von Augustins De sermone domini in monte; der eindringlichste Beitrag Augustins zum Verständnis des Gebetes ist indessen sein Brief 130 an Proba. Das bedeutendste in der Nachfolge des Origenes über das Thema des Gebets geschriebene Werk ist De oratione von Evagrius Ponticus, eine Sammlung von 153 Sentenzen. Hier wird eine strenge Mystik vertreten, die ein Höchstmaß an geistiger Abstraktion fordert: Im Gebet, das „Umgang des Geistes mit Gott" (3) und insofern auch Erkenntnis der—»Trinität ist, geht es nicht nur darum, die Leidenschaften abzustreifen, sondern auch alle bildhaften Vorstellungen und bestimmten Denkinhalte aufzugeben. Griechisch unter dem Namen des Nilus überliefert, wurde die Schrift mit ihren Auswirkungen auf Johannes Climacus, Hesychius Sinaites und Maximus Confessor zu einem bedeutsamen Gestaltungsfaktor der mittelalterlichen byzantinischen Mystik; über Philoxenus von Mabbug fand sie Eingang in die syrische Überlieferung, und im lateinischen Sprachraum ist die Abhängigkeit Cassians von Evagrius in den dem Gebet gewidmeten Büchern der Collationes (IX und X) unverkennbar (Hausherr: RAM 15 [1934] 169). 4. Erzählung Die erzählende Erbauungsliteratur ist stets deren beliebteste Form gewesen und setzt bereits mit dem Neuen Testament ein. Die Heiligengeschichten (—»Heilige), die ihren zentralen Bestand ausmachen, sind „eine fortgesetzte Biographie des in den vollkommensten Gliedern seines mystischen Leibes gegenwärtigen Christus" (Fontaine 68), seien es nun Märtyrer wie Perpetua oder Asketen wie Antonius d. Gr. Diese Literatur sollte das Gedächtnis der Heiligen pflegen und lehrhaften, gelegentlich auch apologetischen Zwecken dienen. Ihre Helden konnte sie feiern (und so die Gruppensolidarität der späteren Christen stärken), aber auch als Beispiele individueller Heiligkeit und als „Zeugnis zur Bekehrung Ungläubiger" (Pass. Perp. 1,5; vgl. Athanasius, v. Ant. 14) darstellen. 4.1. Märtyrerberichte. In der erzählenden christlichen Literatur der ersten drei Jahrhunderte ist der Märtyrer die beherrschende Gestalt. Pontius, der Verfasser der ältesten erhaltenen christlichen Biographie, der Vita Cypriani (geschrieben bald nach Cyprians Märtyrertod i. J. 258), beteuert wohl, daß das Leben seines Helden belehrend wäre, auch wenn er nicht den Märtyrertod erlitten hätte, und die erste Hälfte der Vita ( 2 - 1 0 ) ist dann auch eine Darstellung von Cyprians Weg als Christ und Bischof von Karthago, wobei in den apologetischen Passagen und in der nur beiläufigen Behandlung von Cyprians Herkunft, Geburt und frühen Lebensjahre sich bereits Züge späterer christlicher Biographien abzeichnen. Die zweite Hälfte der Vita aber (11—19) ist nichts anderes als eine Passio Cypriani, ein Bericht

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von Cyprians Märtyrertod, in dem sein Wirken gipfelte und der ihm das unbestreitbare Anrecht auf Verehrung gab. Die frühchristlichen Märtyrerberichte haben eine Reihe literarischer Vorbilder, heidnische Kiemliteratur, die über den Tod von Philosophen und anderen großen Persönlichkeiten berichtet, die vielgelesenen Kapitel II Makk 6—7 über die Hinrichtung Eleazars und der sieben Brüder mit ihrer Mutter, die neutestamentlichen Erzählungen von der Enthauptung —»Johannes des Täufers und der Steinigung des Stephanus. Ihre literarische Form wechselt: Zwei der ältesten Texte, das Polykarpmartyrium (ca. 156) und der Bericht über die Märtyrer von Lyon (177) sind Rundschreiben. Das Martyrium des Ptolemaeus und Lucius erscheint erst in der Form einer einfachen Erzählung in Justins zweiter Apologie. Der Bericht konnte aber auch die Form der acta, des Gerichtsprotokolls vom Märtyrerprozeß, annehmen. Eine wichtige Parallele dazu bilden die sog. Heidnischen Märtyrerakten, die in den beiden ersten nachchristlichen Jahrhunderten in nationalistisch gesinnten griechischen Kreisen Alexandriens entstanden sind. Es handelt sich um überarbeitete Protokolle, die auf amtliche Berichte über Gesandtschaften und Gerichtsverfahren zurückgehen bzw. sie nachahmen (Musurillo 2 3 6 - 2 7 7 ) . Die christlichen Gemeinden ließen ebenfalls die oft nur geringfügig überarbeiteten Prozeßprotokolle zirkulieren (z.B. die Akten derScilitanischen Märtyrer; vgl. Delehaye 1 7 3 - 1 8 2 ) . Der Versuchung, die Texte auszuschmücken, konnte man jedoch kaum widerstehen. So setzt sich das berühmteste Dokument der Märtyrerliteratur, die Passio der Perpetua und Felicitas (203) aus verschiedenen Elementen zusammen: Sie beginnt mit einem lehrhaften Prolog, es folgen Perpetuas eigene Tagebuchaufzeichnungen aus dem Gefängnis (wohl die ergreifendsten Texte der gesamten Märtyrerliteratur) und die Visionen ihres Leidensgefährten Satyrus, und den Höhepunkt bildet der blutrünstige Bericht von der Hinrichtung der Märtyrer. Mit der öffentlichen Anerkennung des Christentums im 4. Jh. änderte sich der Charakter der Märtyrerliteratur. Die Zielsetzung, die Gläubigen für ein mögliches eigenes Martyriumzu stärken, trat zurück. Man sah in den Märtyrern nicht mehr so sehr die Vorbilder zur unmittelbaren Nachahmung, sondern verehrte sie als die Sturmtruppe eines Heeres, das inzwischen gesiegt hatte. In ihrer volkstümlichen Ausprägung konnte die Märtyrerliteratur romanhafte Züge annehmen wie in der Passio des heiligen Eustathius (Delehaye 317f). Auf einem höheren Niveau verbanden sich in ihr Christentum und antike Bildungstradition: Hier sind das Peristephanon des Prudentius, ein Stück Dichtung von beachtlichem literarischem Rang, und unzählige Panegyriken aus der Feder von Basilius, Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomus und anderen zu nennen, die nach dem Muster und unter Verwendung der vorgegebenen Stilelemente des rhetorischen Enkomions gestaltet sind (Delehaye 1 8 3 - 2 3 5 ; Payr 3 3 8 - 3 4 2 ) . 4.2. Mönchsgeschichten und Heiligenleben. Als die Märtyrerliteratur ihre unmittelbare Aktualität verlor, trat der Mönch als das überragende christliche Vorbild an die Stelle des Märtyrers (—»Mönchtum). Der Prototyp des Mönches war Antonius. Die Literatur über Antonius und andere Wüstenväter zeigt unterschiedliche Formen. Die schlichtesten Texte sind àxtApophthegmata Patrum, etwa in das 5. Jh. zurückreichende griechische, lateinische und koptische Sammlungen von Aussprüchen der Wüstenväter und Anekdoten über sie. Die Texte sind entweder alphabetisch nach den Namen der Väter, denen sie jeweils zugeschrieben wurden (Antonius, Arsenius usw.), oder anonym nach Themenbereichen (Über die Stille und Zerknirschung, Über die Selbstbeherrschung usw.) geordnet. Eine anspruchsvollere Neugestaltung dieses weithin anekdotischen Materials erfolgte in zwei wichtigen (bald ineinander gearbeiteten) Sammelwerken, der Historia Lausiaca des Palladius und derHistoria monachorum in Aegypto. Unter den späteren Sammlungen dieser Art ist wohl am bekanntesten das Pratum spirituale des —»Johannes Moschus. Erwähnenswert sind auch zwei biographische Kompilationen syrischer Herkunft, die Historia religiosa —»Theodorets und das • Werk De beatis orientalibus (566-568) von dem verbannten monophysitischen Bischof Johannes von Ephesus.

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Die früheste und dennoch zugleich erheblich stärker durchgestaltete literarische Darstellung des monastischen Leitbildes ist die von —»Athanasius bald nach dem Tod des Heiligen geschriebene Vita Arttonii (i. J. 357). Diese umfassende Biographie hat als ein wahrer „Bestseller" ihre Spuren in mehr als einem der bereits genannten Werke hinterlassen und ist der wichtigste Text der patristischen Hagiographie. Athanasius schildert seinen ungebildeten koptischen Helden als das Idealbild des Mönchs, ja des wahren Christen schlechthin. Seine Vita ist ein Leitfaden und eine Propagandaschrift in Gestalt einer Biographie. Der Lebensweg des Antonius entspricht in gewissem Ausmaß dem alexandrinischen Programm des geistlichen Fortschritts: Nach jahrelanger Übung in der Selbstbeherrschung wird er schließlich ein mit den Kräften höherer Erkenntnis begabter Visionär und ein viel um Rat gefragter Lehrer. Das Schwergewicht liegt jedoch auf der-»Askese bzw. auf dem anhaltenden Kampf mit den personifizierten Mächten des Bösen. Das von Athanasius gezeichnete Bild des Einsiedlers, der in der Wüste von den Teufeln angegriffen wird, symbolisiert in eindrucksvoller Weise die mönchische Existenz. Die „Versuchungen des Hl. Antonius" sollten zu einem bedeutenden Thema der europäischen Kunst werden, während Antonius selbst - als Asket mit legendären Kräften in der Volksfrömmigkeit ein potentieller Konkurrent der verfaßten Kirche - zum Vorbild der Rechtgläubigkeit wurde. Die Vita Antonii enthält eine wuchernde Fülle von Material aus erster und zweiter Hand; ihre klare Ausrichtung und einen guten Teil ihrer Wirkungskraft verdankt sie den theologischen und seelsorgerlichen Interessen des Athanasius (Dörries 176).

Schon bald ins Lateinische übersetzt, regte die Vita Antonii zu Versuchen ähnlicher Art an. Den Anfang machte um 380 Hieronymus mit der kurzen Vita des Paulus von Theben, des angeblich ersten aller Einsiedler. Zehn Jahre später ließ er ihr die noch kürzere, in Syrien spielende Vita des Malchus, des gefangenen Mönches, und die gehaltvollere Vita des Hilarion folgen, des Begründers des palästinischen Mönchtums, den er auf eine Stufe mit dem großen Antonius stellte. Im lateinischen Sprachbereich machte der Vita Antonii die ihr als literarisches Kunstwerk überlegene Vita des —>Martin von Tours von —»Sulpicius Severus die größte Konkurrenz. Das Werk, das apologetische Ziele verfolgt, ist in einem knappen, äußerst geschliffenen Latein abgefaßt und bildet ein Mosaik aus Einzelepisoden, deren jede mit dem überzeugenden Feuer der narratio in einer Gerichtsrede vorgetragen wird. Es gliedert sich in drei Hauptteile: 1) die in großen Zügen chronologisch geordnete Geschichte der Taten und Reisen Martins als Soldat, Diakon, Dämonenaustreiber und Einsiedler bis zu seiner Bischofswahl und der Gründung seines Klosters in Ligugé ( 2 - 1 0 ) ; 2) einen nun nicht mehr chronologisch geordneten Bericht von Martins Taten (virtutes) als Bischof während der folgenden fünfundzwanzig Jahre ( 1 1 - 2 4 ) ; 3) eine knappe Schilderung von Martins persönlichem Charakter ( 2 5 - 2 7 ) . Auf Veranlassung Augustins schrieb Paulinus, der ehemalige Sekretär des Ambrosius, 422 eine Vita seines einstigen Oberen. Vorbilder waren die biographischen Schriften des Athanasius, Hieronymus und Sulpicius. Augustin selbst erhielt bald nach seinem Tod (430) eine Biographie. Verfasser war sein alter Kollege Possidius von Calama (gest. 437). Von diesen beiden Viten ist das ausdrücklich um der „Erbauung der heiligen und wahren Kirche unseres Herrn Christus" willen geschriebene Werk des Possidius das bei weitem besser gelungene. Die Vita Ambrosii des Paulinus ist naiver und weniger geordnet; es lehnt sich auch viel enger an hagiographische Klischees an. Ambrosius wird in erster Linie als der große Bischof gezeichnet, der im Interesse der Kirche den weltlichen Mächten entgegentritt. Ein ähnliches Bild eines kämpferischen Kirchenmannes zeichnet das Leben Severins (gest. 482), das um 511 von dem Severinschüler Eugipp geschrieben wurde und literarisch noch anspruchsloser ist als das Werk des Paulinus. Im Osten war der Einfluß der Vita Antonii nicht geringer als im Westen. In Ägypten entstanden nach ihrem Muster mehrere griechische und koptische Viten des Begründers der ersten erfolgreichen monastischen Gemeinschaft, Pachomius (ca. 290—346), in Palästina das Leben der hl. Melania der jüngeren (3 83 - 4 3 6 ) , einer schwerreichen römischen Asketin und Klostergründerin (Verfasser war wohl Gerontius, Melanias Nachfolger in der Klosterleitung), eine Vita des streitbaren Bischofs Porphyrius von Gaza (395-420), die seinem Diakon Marcus zugeschrieben wird, eine Vita des Monophysiten Petrus des Iberers ( 4 1 1 - 4 9 1 )

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und vor allem die wichtigen Mönchsbiographien des Cyrill von Scythopolis (ca. 523—558): die beiden umfänglichen Lebensbeschreibungen des hl. Euthymius (377—473) und des hl. Sabas (439—523), dazu noch die kürzeren Viten Johannes des Hesychasten (gest. 558), des Cyriacus (gest. 556); Theodosius (gest. 529) und Abrahamius (gest. 557). Nach Konstantinopel gehören das von Callinicus verfaßte Leben des Hypatius (gest. 446), der Abt eines Klosters nach Chalkedon war, und die anonyme Vita Daniels des Styliten (gest. 493). Daniels Lehrer war der berühmte syrische Stylit Symeon der Ältere (gest. 459). Neben einer von seinem Schüler Antonius verfaßten griechischen und einer längeren syrischen Biographie ist ihm ein längerer Abschnitt von Theodorets Historia religiosa (s.o.) gewidmet. Diese Liste ließe sich noch erheblich erweitern. Alle diese Viten sowie die schon früher genannten erzählenden Sammelwerke haben zahlreiche Themen gemeinsam. Die Absicht, dem Leser Vorbilder zur Nachahmung zu bieten (sie wird am deutlichsten von Theodoret zum Ausdruck gebracht), tritt vielfach hinter der ganz anderen Zielsetzung zurück, die Krafttaten und aufsehenerregenden, gerade nicht nachahmbaren Leistungen der jeweiligen Helden bekanntzumachen. Diese selbst werden schablonenhaft als Musterheilige gezeichnet: Sie erscheinen als Außenstehende, die sich durch ihre rigorose Lebensführung von gewöhnlichen Sterblichen unterscheiden, die sich das Recht erworben haben, beim himmlischen Gericht Fürsprache einzulegen, und die auf Erden mit wertvollen übermenschlichen Kräften begnadet worden sind (Brown 80—101). Dort, wo der Zweck der christlichen Biographie lediglich darin bestand, von heiligen Personen zu berichten und sie zu preisen, konnte sie zur reinen Panegyrik werden. In der Tat gibt es zahlreiche mehr oder weniger biographische Enkomien über vor kurzer oder längerer Zeit Verstorbene, vor allem von Gregor von Nazianz und Johannes Chrysostomus. Sie sind nach den rhetorischen Regeln ihrer Gattung aufgebaut. Dort, wo der Zweck der Biographie in der Unterweisung bestand, war sie am Ende kaum mehr als eine Predigt, die ein paar blasse Erzählungselemente enthielt. Gregor von Nyssa hat diese beiden Funktionen der Biographie, den Lobpreis und die Unterweisung, in der Vita seiner eigenen Schwester, Macrina der Jüngeren, hervorragend miteinander verbunden. Dieses Meisterwerk besteht aus zwei Teilen: Der erste (370—386,21) erzählt das Leben der Macrina als Stufen innerhalb eines geistlichen Aufstiegs; der zweite (386,22-414,14) ist ein bewegender Augenzeugenbericht von Macrinas letzten Tagen, ihrem Tod und Begräbnis, der für eine Biographie ungewöhnlich lang und gewichtig ist. 4.3. Romanhafte Literatur. War man der Notwendigkeit enthoben, sachkundige Gegner zu widerlegen oder den Leser für eine ernsthafte Entscheidungssituation zu stärken, dann konnte sich das Erzählen leicht zum reinen Erdichten wandeln. Dieser Zug zum Romanhaften tritt in einer Gruppe der neutestamentlichen —»Apokryphen zu Tage, die später auch als Quelle ikonographischer Details Bedeutung gewinnen sollte. Dieses Schrifttum stellte sich als Ergänzung der kanonischen Evangelien und der Apostelgeschichte dar und bot zur Befriedigung der Neugierde Auskünfte, die dort nicht zu finden waren, etwa über das Leben Marias vor den Geschehnissen der evangelischen Geschichte (Protevangelium Jacobi), über die Kindheit Jesu (verschiedene Kindheitsevangelien), über seine Höllenfahrt (Nikodemusevangelium) und über das spätere Wirken der Apostel. Extreme Beispiele solcher Dichtung sind die Geschichten von Paulus und Thekla, in den von einem Zeitgenossen Tertullians in Kleinasien geschriebenen Paulusakten (Tertullian, bapt. 17) oder die Pseudodemenzen (—»Clemens von Rom). Das herausragende Werk der christlichen Romanliteratur ist wohl die früher Johannes Damascenus zugeschriebene, jedoch erst aus dem 11. Jh. stammende „erbauliche Geschichte" der indischen Heiligen Barlaam und Joasaph, die im Kern einfach eine Umgestaltung der Geschichte Buddhas darstellt, wobei Joasaph Boddhisattva entspricht. 4.4. Autobiographie. War der geläufigste Zweck von —»Autobiographien, etwa des Gedichts De vita sua des Gregor von Nazianz, eine Selbstrechtfertigung, so ist doch das größte literarische Selbstporträt der Antike, Augustins Confessiones, erklärtermaßen eine Erbau-

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ungsschrift, die „ G o t t . . . preist u n d des Menschen Geist und Gemüt zu ihm sich erheben läßt" (retract. II, 6,1). M i t seinem Bericht von vergangenen und vergebenen Sünden möchte Augustin das Herz zum Innewerden der Gnade Gottes erheben — „damit es nicht in den Schlaf der Verzweiflung falle und sage: ,Ich kann nicht' " (conf. X, 3,4). „Bekenntnis" umschließt dabei zwei sich ergänzende Momente, das Eingeständnis der eigenen Sünde und mehr noch das Lob Gottes, der ohne Sünde ist (Solignac 9 - 1 2 ) . Diese doppelte Zielrichtung bestimmt den eigenartigen Aufbau des Werkes, in dem auf zehn autobiographische Bücher drei weitere folgen, die einer geistlichen Auslegung des ersten Kapitels der Genesis gewidmet sind. Die Bücher X I - X I I I deuten die sechs Schöpfungstage als Préfiguration der Geschichte, nämlich der Geschichte von Gottes Handeln vom Anfang der Zeit bis zum endzeitlichen Sabbat, das in sich auch seinen Ruf an die Gläubigen, darunter Augustin selbst, beschließt. Die ersten zehn Bücher hingegen erzählen, wie Gott, der in den Confessiones durchgehend als Dialogpartner angerufen wird, an einem einzelnen menschlichen Wesen gehandelt hat. Die Darstellung seines Lebens bis zur Taufe im Jahre 387, die Augustin in den Büchern I - I X bietet, hat literarische Vorläufer in den Berichten älterer Schriftsteller über ihre Suche nach der Wahrheit, über begangene Verfehlungen u n d gnadenhafte Bekehrung (Courcelle: RPh 31 [1937] 2 3 - 5 1 ) ; sie erhält indessen mit der Darstellung von Augustins geistlichem Zustand zwölf Jahre später (Buch X) eine eigenständige, beunruhigende Fortsetzung. Die Confessiones sind eine Geschichte des inneren Lebens; sie erzählen von der Reise einer Seele fort von Gott (Buch I - I V ) , ihrer Rückkehr zu ihm (V—IX) und ihrer noch unvollkommenen Ruhe in ihm (X). Augustin hat den biographischen Stoff nach der Maßgabe seiner Bedeutsamkeit für sein Fühlen und Wollen ausgewählt. Für sein neuplatonisches Gottesbild ist Gott allenthalben derselbe, ubique totus, so daß eines Menschen „Gottesnähe" oder „ G o t tesferne" notwendigerweise eine Angelegenheit seiner eigenen Haltung und seines eigenen Bewußtseinsstandes ist. Daraus erwächst der Nachdruck, den Augustin auf die Innenschau legt, ein Nachdruck, der mehr als alles andere die Wirkung der Confessiones auf—»Petrarca, —»Teresa von Avila, —»Rousseau und andere erklärt. Augustins Fähigkeit, menschliche Gemütsbewegungen zu verstehen, seine rhetorische Kraft, sie zu wecken und zu Gott sich erheben zu lassen, und die Lebendigkeit, mit der er die Erfahrung, unter Gottes wirksamem Handeln zu stehen, mitzuteilen versteht, haben die Confessiones zum bedeutendsten Werk der patristischen Erbauungsliteratur zumindest im Westen werden lassen. Quellen Acts of the Christian Martyrs, ed. H.Musurillo, Oxford 1972. - Ambrosius, Expositio psalmi CXVIII,ed. 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caritate: PG 90, 9 5 9 - 1 0 8 0 . - Orígenes, Homélies sur le cantique, ed. O. Rousseau, J 1966 (SC 37). Ders., Ermunterung zum Martyrium, Uber das Gebet, ed. P. Koetschau, 1899 (GCS Orig. 1;2). - Palladius, La Storia Lausiaca, ed. Chr. Mohrmann u. a., Mailand 1974 (Vita dei Santi 2). - Pontius, Paulinus, Possidius, Vita di Cipriano, Vita di Ambrogio, Vita di Agostino, ed. dies., Mailand 1976 (ebd. 3). Sulpicius Severus, Vie de saint Martin, ed. J.Fontaine, 1967 (SC 133); dt.: BKV 20, 1914. Literatur Altaner8 1978, 2 3 6 - 2 4 4 . 5 9 5 - 5 9 7 . - Hans Urs v. Balthasar, Die Hiera des Evagrius: ZKTh 63 ( 1939) 8 6 - 1 0 6 . 1 8 1 - 2 0 6 . - P. Brown, The Rise and Function of the Holy Man in Late Antiquity: JRSt 3 (1971) 8 0 - 1 0 1 . - Henry Chadwick, The Sentences of Sextus, Cambridge 1959. - Ders., Art. Florilegium: RAC 7 (1969) 1131-1160.-Derwas James Chitty,The Desert a City, Oxford 1966.-Pierre Courcelle, Antécédents autobiographiques des Confessions de Saint Augustin: RPh 31(1957) 2 3 - 5 1 . Jean Daniélou, Sacramentum Futuri, Paris 1950. — Ders., Art. Écriture sainte et vie spirituelle II a: DSp 4 (1960) 1 3 2 - 1 6 9 . - V. Desprez/M. Canévet, Art. Ps.-Macaire (Syméon): DSp 10 (1980) 2 0 - 4 3 . Hermann Dörries, Die Vita Antonii als Geschichtsquelle: ders., Wort u. Stunde, Göttingen, I 1966, 1 4 5 - 2 2 4 . - Charles Favez, La consolation latine chrétienne, Paris 1937. - André J. Festugière, Les moines d'orient, 4 Bde., Paris 1961-1964. - Ders., Lieux communs littéraire et thèmes de folklore dans l'hagiographie primitive: WSt 73 (1960) 1 2 3 - 1 4 2 . - P. Härtel, De exhortationum a Graecis Romanis-, que scriptarum historia et indole, Leipzig 1889. - Irenée Hausherr, Les grands courants de la spiritualité orientale: OrChrP 1 (1935) 114-138.-Ders., Art. Centurie: DSp 2 (1953) 4 1 6 - 4 1 8 . - D e r s . , Le traité de l'oraison d'Evagre le Pontique: RAM 15 (1934) 3 4 - 9 3 . 1 1 3 - 1 7 0 . - Werner Jaeger, Gregory of Nyssa and Macarius, Leiden 1954. - Charles Kannengiesser, Enarratio in Ps CXVIII. Science de la révélation et progrès spirituel: RechAug 2 (1962) 3 5 9 - 3 8 1 . - Guiseppe Lazzati, Gli sviluppi délia letteratura sui martyri nei primi quattro secoli, Turin 1956. - E. E. Malone, The Monk and the Martyr: StAns 24 (1956) 2 0 1 - 2 2 8 . - L. Malunowiczówna, Les éléments stoiciens dans la consolation grecque chrétienne: StPatr 13 (1971) (TU 116) 3 5 - 4 5 . - Henri Irénée Marrou, Art. Diatribe. B. Christi.: RAC 3 (1957) 9 9 7 - 1 0 0 9 . - Jane F. Mitchell, Consolatory Letters in Basil and Gregory Nazianzen: Hermes 96 (1968) 2 9 9 - 3 1 8 . - Peter v. Moos, Consolatio, München 1971. - Friedrich Ohly, Hohelied-Studien, Wiesbaden 1958.-Michel Olphe-Galliard, Art. Cassien: DSp2 (1953) 214-276.-TheresiaPayr, Art. Enkomion: RAC 5 (1962) 3 3 2 - 3 4 3 . - Maurice Pontet, L'exégèse de Saint Augustin prédicateur, Paris 1946. - Johannes Quasten, Patrology, 3 Bde., Utrecht 1960-1962. - Paul v. Rabbow, Seelenführung, München 1954. - Bernhard Rehm, Art. Clemens Romanus. II. Ps.-Clementinen: RAC 3 (1957) 1 9 7 - 2 0 6 . — Jacques Rousse/Hermann Josef Sieben/ André Boland, Art. Lcctio divina et lecture spirituelle: DSp 9 (1976) 4 7 0 - 5 1 0 . - André Thibaut, Art. Édification: DSp 4 (1960) 2 7 9 - 2 9 3 . - M. Viller, Aux sources de la spiritualité de Saint Maxime: RAM 11 (1930) 1 5 4 - 1 8 4 . 2 3 9 - 2 6 8 . - W a l t e r Völker, Das Vollkommenheitsideal des Orígenes, Tübingen 1931. John Procopé II. Mittelalter 1. Stoffauswahl

2. Formen und Gattungen

(Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 50.73)

Erbauungsliteratur, als welche im Grunde die gesamte christliche Literatur gelten kann, die auf —»Frömmigkeit als die Gesamtheit des religiösen Verhaltens sowohl innerhalb der —»Gemeinde als auch im persönlichen Bereich abzielt, enthält einerseits von der Theologie ausgehende frömmigkeitserzeugende Impulse, andererseits theologiekritische Momente und ein affektives und emotionales Gegengewicht zu ihr. Wesentlich ist dabei, ob und wie weit es ihr gelingt, sich vor den Gefahren von beiden Seiten zu bewahren; Dogmatismus, Intellektualismus und Rationalismus von der Theologie, Individualismus und Entartung zur Sentimentalität von der Frömmigkeit (vgl. Zeller, Frömmigkeit). 1.

Stoffauswahl

Bei der Behandlung unseres Gegenstandes müßte eine ganze Anzahl von Themen berücksichtigt werden, die aber nur gelegentlich gestreift werden können: -»Autobiographie, —»ars moriendi, -»BibelÜbersetzungen (und -kcÄnmentare), -»Bekehrung(sgeschichten) und Lob der Laienfrömmigkeit (—»Merswin), geistliche Briefe (—»Fénélon), Exerzitien, —»Florilegien — die größte Verbreitung fand die im 3. Jh. v.Chr. entstandene Spruchsammlung Dicta oder Disticha Catonis (PRE 5/1,358 ff)-.—»Gebetbücher (Beisel), einschließlich der durch ihre Illustrationen in kunst- und kulturgeschichtlicher Hinsicht bedeutsamen Stundenbücher (Bohalta), wie z.B. das im Musée Condé in Chantilly bei Paris aufbewahrte des Herzogs Jean de Berry (1340-1416). Sie tragen oft den Titel Hortulus animae (Beck, Er-

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bauungslit. 26f; Althaus, Gebetslit. Reg.; Zu den 30 Ausgaben, die zwischen 1 4 9 8 - 1 5 2 3 erschienen, die erste deutsche 1501, s. Rudolf 106; Proben aus Gebetbüchern bei Müller, Quellen 2 3 5 - 2 4 4 ; s.u. Quellen). Zur Erbauung bestimmt ist auch vieles auf den Gebieten: —»Hagiographie, —»Hymnen und andere christliche —»Poesie; —»Meditation(en), z.B. die Meditationes des —»Anselm von Canterbury (PL 158) oder die —»Bonaventura zugeschriebenen Meditationes vitae Christi (Bonaventura, Op. omnia, Paris, XII 1868, 5 0 9 - 6 3 0 ) , -»Katechismen (Weidenhiller; Moufang), alle auf Kontemplation (Baumgartner), Kultus, —»Liturgie, —»Perikopenbücher (Pietsch; Kämpfer), Rituale und —»Sakramente bezogene Literatur. Allerdings stellen gerade diese beiden letzten Bereiche Schwerpunkte der (hoch)mittelalterlichen Frömmigkeit dar. Wenn auch die speziell für das —»Mönchtum bestimmte Literatur, die „klösterliche Erbauungsliteratur" (Böhmer 4) außer Betracht bleibt, darf man aber nicht vergessen, daß das Kloster im Mittelalter der Hauptort frommen Lebens war. Verzichtet werden muß auch auf das, was im Mittelalter über das—»Martyrium gesagt wurde, und auf eine Einbeziehung der—»Ketzer, die es durch die Kirche erleiden, auch auf die Themen —»Pastoraltheologie, —»Predigten, Postillen und auf eine Betrachtung des bedeutsamen Einflusses der —»Mystik. Die Grenzen zwischen all den genannten Gebieten und der Erbauungsliteratur sind fließend. Es ließe sich z. B. am Homilarium des Paulus Diakonus einer Mustersammlung von 244 Predigten, in der -»Ambrosius, —»Hieronymus und —»Augustin als zu dogmatisch orientierte Theologen zurückstehen hinter—»Beda Venerabiiis (45 Stücke) und—»Maximus von Turin, leicht zeigen, daß der Gesichtspunkt der Erbauung vorrangig ist vor dem der Belehrung. Nicht zu unterschätzende Anregungen für die Erbauungsliteratur des Mittelalters sind von seinen mächtigen volkstümlichen Predigern wie —»Berthold von Regensburg und —»Geiler von Kayserberg ausgegangen. In der Regula pastoralis —»Gregors d. Gr. sind natürlich auch solche Maximen und Ideale enthalten, die nicht nur für einen Priester, sondern für jeden Christen gelten und für seine Erbauung Bedeutung haben. —»Gregor von Tours hat ausdrücklich erklärt, daß er vom Sammeln dessen, was sich am Grab seliger Märtyrer und Bekenner ereignet habe, zur Darstellung von Heiligenleben fortgeschritten sei, weil sie zur Erbauung der Kirche beitragen könnten (Mart. 11,19). Da für ihn Geschichte gleichbedeutend ist mit dem Kampf der Kirche gegen Heiden, Ketzer und sündhafte Christen, und Gott und die Heiligen die Geschichte lenken, hat auch seine Geschichtsschreibung hagiographischen und erbaulichen Charakter. Eine scharfe Trennung ist am wenigsten zulässig zwischen der Erbauungsliteratur und der Mystik, weil aus ihr das bedeutsame Anliegen der Innerlichkeit und Verinncrlichung der Frömmigkeit stammt und weil vor allem die Deutsche Mystik in einen breiten Strom von Erbauungsliteratur ausmündet (Zeller, Mystik). Man wird dieses geschichtlich nicht richtig einordnen können, wenn man nicht für viele Motive ihre Herkunft aus der Mystik beachtet. Dafür zwei Beispiele, eines mehr zum Formalen und eins zum Inhaltlichen: a) Als eine Nachwirkung der von —»Plato bevorzugten Dialogform wird man es anzusehen haben, wenn in der mystischen und erbaulichen Literatur das Zwiegespräch als ein wichtiges stilistisches Mittel vorkommt. Es wird da aber nicht zwischen Lehrer und Schüler oder zwei gleichgestellten Menschen geführt, sondern zwischen dem Menschen und seiner Seele. Wir treffen z. B. bei —»Hugo von St. Viktor auf diese Darstellungsmethode in De arrha animae, weiter bei —»Bonaventura im Soliloqium, in dem anima devota, veritatis aeterno diseipula, metitando interrogat, et homo interior mentaliter loquendo respondet (Prol. 4), in dem die gottesfurchtige Seele als Schülerin der ewigen Weisheit meditierend Fragen stellt und der innere Mensch in geistlicher Rede Antwort gibt. Bei —»Seuse sprechen im Büchlein der Ewigen Weisheit der Diener als fragender und die Ewige Weisheit als belehrende miteinander. In De imitatione Christi (s.u. Abschn. 2.4) spricht Gott, der Herr, und die gläubige Seele hört 111,1). Man merkt an der Verwendung dieser Dialogform schon, daß Mystik und —»Scholastik nicht als Gegensätze, sondern als korrespondierende Faktoren derselben Geistigkeit angesehen werden müssen (Dress; Zeller, Christusverständnis 17f), die auch das Stilmittel des^K«fio-rejpo«sio-Schemas gemeinsam haben. Methodisch bedeutet das, daß auch die Qujesiio-Literatur nicht als eine von der Erbauungsliteratur ganz klar zu unterscheidende Gattung angesehen werden kann. Die formalen Unterscheidungsmerkmale für Traktat (zu ihrem Aufbau im streng wissenschaftlichen Sinn s. Curtius 228 f), Predigt, Meditation, Quaestio, Expositio moralis, —»Dialog etc. erweisen sich bei näherem Zusehen als porös und austauschbar. In allen diesen literarischen Formen finden sich theologische, moralische, asketische Themen und auf das Gemüt gerichtete Tendenzen. h) Ein zentrales Thema der Mystik und der Erbauungsliteratur ist das Thema des —»Leidens. Eine Ausführung von frömmigkeitsgeschichtlich hohem Rang über das Leiden findet sich bei Seuse im 13. Kapitel seines Büchleeins der Ewigen Weisheit. Er wandte sich in seinem 40. Lebensjahr von seinem selbstgewählten Leiden durch rigoristische Askese ab und sah das Leidensideal in Zukunft in geduldigem Ertragen auferlegten Leidens. Leiden und Dienen gehören zusammen. Der „Diener", der die Ewige Weisheit nach dem Sinn des Dienens und Leidens befragt, ist als Leidender dem Ritter im Turnier überlegen. Der Vergleich mit dem Ritter ist auch wichtig für das Minnemotiv (Banz; —»Minne) und es zeigt

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sich hier, wie eng Mystik und höfische Dichtung miteinander verbunden sind (Schwietering). Ein Werk mit wichtigen leidenstheologischen Aussagen ist auch der Hiobtraktat des Marquard von Lindau (1320/30 8 1 5 . 8 . 1 3 9 2 ; s. Greifenstein). Wo es um Leid geht, wird auch nach Trost gefragt. Die christliche Trostliteratur (Auer, Joh, von Dambach; M. Schmidt; Reidemeister) ist nicht unwesentlich beeinflußt von —»Boethius, besonders von seiner Consolatio philosophiae. —»Eckhart unterscheidet in seinem Buch der göttlichen Tröstung nach II Kor 1,3 f drei Arten von Betrübnis: Die eine kommt aus dem Schaden an äußerem Gut, die andere aus dem Schaden, der Verwandten und Freunden zustößt, und die dritte aus dem, was einem selber an Geringschätzung, Leid und körperlichen Schmerzen widerfährt. Eckehart bietet für diese Gelegenheiten Gründe, Lehren und Beispiele bzw. Vorbilder des Trostes. Nach —»Bernhard von Clairvaux mit seiner typischen Verbindung von Leidenstheologie und Passionschristologie ist Trost zu empfangen nur möglich für den, der auch die Verzweiflung kennt. Das ist die menschlich-psychologische Zusammengehörigkeit von miseria und misericordia, der in der göttlichen Dreifaltigkeit eine Barmherzigkeit entspricht, die im Kreuz über das Leiden siegt (Zeller, Christusverständnis 15).

2. Formen und

Gattungen

„Das Mittelalter hat fast sämtliche Formen und Gattungen der Erbauungsliteratur ausgebildet. Man tut gut, den Umfang des Begriffes ziemlich weit zu fassen" (Rupprich 312 mit vielen Literaturangaben). Von dem, was dort als speziell zur Erbauungsliteratur gerechnet wird, seine noch besonders genannt „die geistlichen Allegorien wie die Himmelburg, die Himmelsstraße [Hasak], das Himmlische Bergwerk, Hortulus animae, Paradisus animae, geistliche Arzneien, Apotheken e t c . . . . ferner die Baum-Allegorien:,Wunne Baum der minnenden Seele', Palmbaumtraktat; weiters die Blumen-Allegorie, wie ,Die Lilie' u.a. Christus verkündet erbauliche Lehren als Bräutigam der Seele, als Arzt." In diesen Zusammenhang gehören auch die seit dem 14. Jh. beliebten Mosaiktraktate mit dem Titel Geistliches ABC - mna findet eine Nachwirkung noch bei Matthias Claudius in der Form von moralischen Zweireihern: Ein gülden ABC - und die reichhaltige Specu/«/w-Literatur. Speculuni ist der Titel eines Anhangs zu Hugos Werken, in dem die Symbolik der Liturgie behandelt wird. —»Vinzenz von Beauvais betrachtet in seinem Speculutn maius die ganze Welt als einen Spiegel der Gedanken Gottes, die man im einzelnen entdeckt in dem Spiegel der Natur, der Wissenschaft, der Moral und der Geschichte. Von der Vorstellung aus, daß ein Buch Gedachtes reflektiert, wird „Spiegel" zur „Metapher für Schriften, die beanspruchen, irgendeine Klasse von Sachverhalten und von Ideen - etwas des Rechtes, der Tugend, der Sitten, der Träume, der Lehre von der Dreifaltigkeit und so weiter - exemplarisch rein, genau und wahr abzubilden und damit lehrbar zu machen" (Hartlaub, 141). Da der Spiegel auch ein Mittel zur Selbstbegegnung ist, erklärt sich, daß er in übertragenem Sinn als Titel bei solchen Schriften verwendet wird, die zur Selbstkenntnis mahnen oder sie lehren (ebd. 17f; Titelbeispiele bei Rupprich). Umfangreiches, für eine Geschichte der Erbauungsliteratur noch heranzuziehendes Material liegt nur handschriftlich vor. - Aus der großen Stoffmasse können nur einige Beispiele herausgegriffen werden. 2.1. DieLegenda aurea ( 1 2 6 3 - 1 2 7 3 ) ' des Erzbischofs von Genua, Jacobus de Voragine (ca. 1 2 3 0 - 1 2 9 8 ) , war das Volksbuch des Mittelalters schlechthin. Der Titel ist nicht ursprünglich, er bringt die Wertschätzung des Werkes zum Ausdruck. Die Leistung Jacobs von Voragine besteht darin, daß er Stoffe unterschiedlichster Herkunft und Prägung in eine straffe Form zwang. Er ging nicht chronologisch vor, sondern reduzierte weitgehend das historische Detail im Interesse des Typischen und gliederte streng nach dem —»Kirchenjahr. Innerhalb der Möglichkeiten seiner Zeit verfuhr er durchaus kritisch, indem er manches in Anbetracht der Würde seines Helden für unglaubwürdig oder als der Andacht nicht förderlich erachtete. Seine Sprache nimmt sich nicht das klassische Latein zum Vorbild, sondern den einfachen Satzbau und Erzählton der Vulgata. Mit dem Maßstab der historischen und theologischen Kritik wird man der Legenda aurea nicht gerecht. Historische oder philologische Kritik würde die Kraft des Epischen, Bildhaften und Mythischen in dieser volkstümlichen Prosa übersehen. Man kann darin den gleichen Dreiklang: Märchen,

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Mythos, Dichtung wahrnehmen, unter dem ein Jahrhundert lang Germanisten von den Gebrüdern Grimm bis Friedrich von der Leyen die deutsche Dichtung des Mittelalters gewürdigt haben. Der Gläubige konnte all den Legenden die Gewißheit entnehmen, daß die Einbindung in eine Gemeinschaft, die er als mittelalterlicher Mensch im sozialen Bereich erfuhr und wollte, auch im geistlichen galt. Die vielen Wunderberichte dienten nicht nur der Unterhaltung, regten Wallfahrten an oder ersetzten sie, sondern boten auch den Unberechenbarkeiten des Lebens und Weltlaufs gegenüber die Hoffnung, man könne einmal ähnliche Gnade und Hilfe erfahren. Und wenn einem hier nur bitteres Leiden blieb und der Tod vor Augen stand—hatten nicht auch alle Märtyrer Schreckliches erdulden müssen und waren gerade darum der himmlischen Herrlichkeit ganz gewiß? 2.2;. Geistliche —>Mitine. G. —»Biel gehört zu den Theologen, in deren Gesamtwerk Predigten einen großen Raum einnehmen, worin sich sein Bemühen um die Volksfrömmigkeit entsprechend den Grundsätzen der —»Brüder vom gemeinsamen Leben bekundet. Der Erbauungsliteratur im engeren Sinne ist seine Übersetzung des Traktats Hugos von St. Viktor De laude caritatis (in der deutschen Auswahl von P. Wolff 98 ff) zuzuordnen. Er wendet sich mit ihr gegen eine profane Minnedichtung, die menschliche und göttliche Liebe ununterschieden durcheinandermengt. Der Systematiker Biel differenziert zwischen vier Arten der Liebe. Er nennt sie die natürliche, die sinnliche und die freivernünftige, bei der wieder entschieden werden müsse, ob der Wille dabei gut oder böse ist. An vierter Stelle erfolgt eine Beschreibung des habitus infusus der Liebe. Sein Grundanliegen ist, daß die Frauenliebe ihren rechten Stellenwert innerhalb der Nächstenliebe erhält nicht nicht zur Konkurrenz für die Gottesliebe wird. Er war beunruhigt durch eine Minneallegorie, die man nach Elze (Beitr. Biels) identifizieren kann mit der jüngeren Fassung der „Minneburg", deren ältere Reimfas.sung von H. Pyritz 1950 ediert wurde (DTMA 43). 2.3. Das Thema Passion (s. Ruh; Pickering; Füglister; Roth). Ist die zentrale Bedeutung des Gekreuzigten im Zeugnis des Neuen Testamentes und in der Verkündigung und Liturgie der Christenheit völlig klar, so zeigt sich doch in der christlichen —»Kunst (Hinz) lange eine Zurückhaltung gegenüber dem Thema der Kreuzigung (—»Kreuz). In der altkirchlichen Christologie dient die Passion als ein gewichtiges Argument für das vere homo. In der Germanenmission und im Frühmittelalter hatte das aus dem -*Heliand bekannte Christusbild Gültigkeit: Christus ist in erster Linie der allwaltende Himmelskönig, sein Leben und Leiden tritt demgegenüber zurück. Die Entscheidung für ihn erfolgte innerhalb des politisch-religiösen Verbandes. Etwa zur Zeit —»Bernhards von Clairvaux ging diese Epoche zu Ende. Es setzt eine Individualisierung ein, für die es wichtig wird, ein persönliches Verhältnis zu Jesus zu gewinnen, auch und gerade bezüglich seiner Passion, die als sein eigentliches Heilswerk gilt. Sie will als für den einzelnen ganz persönlich geschehen begriffen werden. Christus weiß um menschliches Leiden aus eigener Erfahrung, und die Nähe und Vertrautheit, die er dadurch zu den Menschen gewinnt, bewirkt ihr Vertrauen zu ihm. Der Sohn Gottes ist der Mensch Jesus. Diesen sucht Bernhard in der mystischen Schau. Mit diesem Menschen Jesus kann man in der Form leidenschaftlicher Liebe umgehen nach dem Vorbild des Verhältnisses von Braut und Bräutigam im Hohen Lied. Für diese Art von Mystik ist charakteristisch, daß sie das Gefühl Jesus zuwendet (K.D. Schmidt II, 240 f). So rückt denn Bernhard das Gefühl gleichrangig neben die Tat. Est caritas in actu, est et in affectu (PL 183, 1020 D2). Ihren symbolkräftigen Ausdruck findet diese Christusbeziehung in einem visionären Erlebnis Bernhards, das der Zisterzienserabt Menard berichtet. Bernhard lag betend vor dem Altar hingestreckt und küßte ein über dem Fußboden erscheinendes Kreuz mit dem Gekreuzigten, der die Arme von den Balkenenden zu lösen und diesen Diener Gottes zu umarmen und zu sich zu ziehen schien. Die Szene ist mehrfach bildlich dargestellt worden und hat die Bernhardikonographie nachhaltig beeinflußt (Bildbeispiele bei Bainton nach S. 610).

Der Christus am Kreuz macht aber aus seinem Selbstopfer eine Tat, eine passio activa (Bernhard, Sermo in fer. IV hebd. sanctae cap. 11) und kann darum die verschiedenen

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Barmherzigkeitsbeweise gewähren, deren der Mensch bedarf. Die Ursache seines Leidens ist die übergroße Liebe Gottes zu uns, um derentwillen der Vater nicht den Sohn, und der Sohn sich selbst nicht schonte, so daß sein Sterben nicht Schwäche, sondern übergroße Kraft war (Ausw. v. Leclercq 160f). In der auf die Passion Jesu gerichteten Frömmigkeit versucht nun der Mensch der Selbstentäußerung und humilitas (—»Demutfides Herrn zu entsprechen in einer asketischen Haltung, einer perfekten WeltabgewandthelF. Aus der Betrachtung der Selbsterniedrigung Jesu kommt der Anreiz zur eigenen Selbsterniedrigung als Ausdruck der Liebe zu Jesus und zu Gott. Sie vollzieht sich in verschiedenen Stufen von der Skalvenfurcht vor dem Herrn über die Lohnerwartung ibs zur selbstlosen Gottesliebe, „ w o wir uns selber und alles andere nur noch propter Deum lieben, nicht mehr Gott um unseretwillen (M. A. Schmidt 95). Die Aufnahme des Menschen in das innergöttliche Liebesgeheimnis (Stange 9 Anm. 16; M . A. Schmidt 9 6 ) kann in sehr sinnlichen Bildern beschrieben werden, von denen das des Kusses über die sieben pseudobernhardinischen Hymnen des lateinischen Passions-Salve, die P. —»Gerhardt als Vorlagen dienten und im protestantischen Passionslied (O Haupt voll Blut und Wunden) seine kraftvolle Wirkung erweist. Kaum durchgesetzt hat sich Bernhards aus rhetorischen Kategorien stammendes dreiteiliges Schema, das bei der Passion drei Dinge betrachten will: opus, modus and causa passionis (Sermo in fer. IV hebd. sanctae cap. 2), worin sich Jesu Geduld, seine Demut und seine Liebe offenbaren (Ausw. Leclercq 158). Er findet sich beispielsweise wieder bei G. —»Zerbolt in De reformatione interiori (28) und De spiritualibus ascensionimis (32) (Elze, Verständnis 133,19). Sehr bedeutsam ist dagegen für die Passionsbetrachtung das auf Augustin zurückgehende Wortpzztaffectus - effectus geworden. In De civ. Dei IX,5 wird gesagt, daß von einer vindicta [Zorn, Rache, Strafe] Gottes nur geredet werden könne im Bezug auf ihre Wirkung, nicht hinsichtlich einer Gemütsbewegung Gottes. In dem ganzen Zusammenhang geht es um die menschlichenpassiones [Leidenschaften], insbesondere die misericordia und compassio. De civ. Dei XI, 14 ist von demeffectus exauditionis und Aemaffectus clamoris (Ps 16,6) die Rede, und XVI, 4 wird beim Turmbau zu Babel zwischen dem affectus als der Absicht und dem effectus als der Ausführung unterschieden. Systematisch auf die Passion angewandt worden ist diese Terminologie von —»Ludolf von Sachsen in seiner Vita Christi (Bodenstedt; Passmann), genauer: in einem von ihm übernommenen Prolog Jordans von Quedlinburg zu seiner Schrift De passione Domini (Elze, Verständnis 127). Danach geht es um compassio im Sinne einer affektiven, gefühlsmäßigen Aneignung des historischen Passionsgeschehens mittels einer intensiven, Mitleid hervorrufenden Betrachtung und einer effektiven imitatio, nicht in einem künstlich herbeizuführenden Martyrium, sondern im ganzen Leben. Die compassio ist die Aufgabe für den inneren Menschen, die imitatio für den äußeren, der sich für sein religiöses und sittliches Verhalten alle die Tugenden zum Vorbild nehmen soll, die der leidende Christus übte. Da das ganze Leben des Christen imitatio, Leidensnachfolge, sein soll, ist es wichtig, daß das ganze Leben Christi als Leiden verstanden wird. Alle Einzelheiten finden Beachtung. —«Mechthild von Magdeburg hat in 111,10 ihrer unter dem Titel Das fließende Licht der Gottheit bekannten Offenbarungen das Leiden Christi bis in die kleinsten Details bezogen auf das geistliche Leben bzw. das Leiden und Sterben der Seele, die Christus liebt. Auch —»Bonaventura wollte alle Spuren des Lebens Jesu zum Zwecke der Nachfolge möglichst genau nachzeichnen, besonders in seinen Werken Lignum vitae und Vitis mystica (Opera, ed. Quaracchi VIII, 68 ff. 159 ff). Das Leiden Christi beginnt mit seiner Geburt im Stall als Zeichen der Armut und reicht bis zu den Schmerzen und nach Hunderten zählenden Wunden am Kreuz. Interesse an den Einzelheiten der Passion, an ihrem genauen chronologischen Ablauf ist bereits am Titel eines —»Beda zugeschriebenen, schon im 14. Jh. verdeutschten Traktats erkennbar: De meditatione passionis Christi per Septem diei horas libellus (Rupprich 334). Der Sache nach bestimmt dasaffectus-effectus-Schemi die gesamte theologische und erbauliche Literatur zur Passion und ihr Nacherleben vom Hochmittelalter bis zur Reformation. Selbst die Stigmarisierung, die —»Franciscus von Assisi am 17. September 1224 empfing, und die letzten Endes so wenig faßbar ist wie die —»Ekstase (Buber), läßt sich noch am ehesten verstehen als Einheit von vollkommener compassio und imitatio, die hier gnadenhaft zur äußeren conformitas geworden ist. Von den bekannten Hymnen Stabat mater dolorosa (Jacopone da Todi?) und Bonaventuras Recordare sanctae crucis (in der ausdrücklich zur Erbauung bestimmten Ausgabe Hymnarium 69.63) betont der erste stark das Mitleiden (Fac, ut tecum lugeam/Fac.ut ardeat cor meum), während der zweite zumindest in der letzten Strophe die imitatio anstrebt: Tecum volo vulnerari. Natürlich finden sich die beiden Motive auch in

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ganz starker Ausprägung bei H. —»Seuse. Seine Lebensbeschreibung ist ein hervorragendes Erbauungsbuch. Franciscus sah bei seiner Stigmarisierung einen gekreuzigten Seraph mit einem Menschenantlitz. Auch Seuse erblickte in einer Vision einen solchen Seraph. Auf seinen drei Flügelpaaren standen, von unten nach oben zu lesen, die Sätze: „Empfange Leiden williglich. Trage Leiden geduldiglich. Lerne leiden christusförmiglich" (c. 42). Seuse hört, daß er durch die leidende Menschheit Jesu hindurchmüsse, wenn er zu seiner lauteren Gottheit gelangen wolle (c. 13). Auch für den franziskanischen Verfasser der aus dem ersten Drittel des 14. Jh. stammenden Meditationes vitae Christi ist es bezeichnend, daß „er immer von dem ,Herrn Jesus' spricht und den mit dem Christusprädikat gegebenen Gedanken an eine göttliche Hoheit unterdrückt (Elze, Züge 386). 2.4. M i t den vier Büchern De imitatione Christi „erreichte das Erbauungsschrifttum den Rang der Weltliteratur" (Rupprich 3 1 3 ; —»Nachfolge Jesu, —»Thomas von Kempen). Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, wieso ein Buch weltberühmt werden konnte, das eigentlich lauter Anforderungen stellt, die dem Menschen von N a t u r aus widerstreben: Weltund Selbstverachtung ( 1 , 1 , 1 2 ; 1 , 2 , 1 6 ; Versangaben nach Eichler), Abwertung der eigenen Meinung und Person gegenüber der anderer ( 1 , 2 , 1 7 ; 9 , 1 0 ; 111,8), Bevorzugung von Demütigungen gegenüber Ehrungen (11,7,22), Sterben als ein Prinzip der Lebensgestaltung (11,12,58), kurz: Weltentsagung und Selbstverleugnung. Eine eindrucksvolle Gegenüberstellung dessen, was der Mensch von N a t u r aus möchte und was bei den Christen im Gegensatz dazu durch die Gnade bewirkt wird, findet sich in 111,54. In diesen Gegensatzpaaren entspricht die N a t u r dem äußeren Menschen, die Gnade dem inneren. Mit diesem Schema, das sich schon beim T h e m a Passion als maßgebend erwies, sei versucht, wenigstens eine Eigenart des Buches knapp zu skizzieren, das zu einer vollen frömmigkeitsgeschichtlichen Würdigung einer fortlaufenden Kommentierung bedürfte. 2.4.1. Der innere und äußere Mensch stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander: was der eine entbehrt, kommt dem andern zugute, und was dem einen zulieb getan wird, schadet dem andern. Äußerer Trost z. B. ist kein geringer Nachteil für den inneren, von Gott kommenden (1,10,8). Unter äußerem Trost ist die unreine Liebe zu verstehen, die den Menschen ans Irdische bindet (11,1,43.44). Der innere Trost kommt aus dem Jesus in uns (111,16,11). Beide Trostarten zusammen vertragen sich nicht (111,30,4,5). Wer sich in fremde Angelegenheiten mischt und äußere Zerstreuungen sucht, wird sich selten innerlich sammeln (1,11,2). Was unserem äußeren Menschen gefällt, schadet dem inneren. Hat einer dagegen äußerliche Schwierigkeiten, so wird er zur Innerlichkeit zurückgerufen, erkennt sich als Exulant und wird seine Hoffnungen nicht auf das Irdische setzen. Zu dem, was dem äußeren Menschen nicht gefällt, für den inneren aber gut ist, gehört der unverdient erhaltene Tadel (1,12,1.2). Wer nach himmlischem Ruhm trachtet, kümmert sich nicht um den zeitlichen und umgekehrt (11,6,14.15). Leider wird materieller Verlust schmerzlicher empfunden als Schaden an der Seele (111,44,5.6). 2.4.2. Der innere und äußere Mensch sind Gegner. Der Geist möchte sich wohl über alles Irdische emporschwingen, wird aber gegen seinen Willen vom Fleisch zur Knechtschaft gezwungen (111,48,18). Mitten im Gebet überfallen einen fleischliche Gelüste (111,48,20). Für ein reines Gebet ist es nötig, die Gelüste des Fleisches zu kreuzigen (111,48,37). Wer sich nach dem Willen Gottes richtet, urteilt nicht nach dem äußeren Eindruck (111,38,2; 50,30; 11,7,12), sondern unterscheidet das Sichtbare vom Geistigen. Eine äußere Niederlage hindert nicht ein inneres Leben bei Gott (11,50,11). 2.4.3. Äußeres und Inneres müssen sich in Übereinstimmung befinden, d. h. es soll kein Unterschied herrschen zwischen Schein und Sein. Tracht und Tonsur bedeuten wenig, nötig ist die Abtötung der Leidenschaften (1,17,6). Ein rechter Ordensmann muß im Inneren sein, was er äußerlich scheint, ja, er soll innerlich mehr sein als äußerlich wahrnehmbar ist, weil Gott ins Innere sieht: quia inspector noster est Deus (1,19,1.2). 2.4.4. Die Pflege des inneren Menschen verlangt Einsamkeit, Zurückgezogenheit, eine völlige Abkehr von der Welt. Die größten Heiligen mieden so viel wie möglich den Umgang mit anderen Menschen (1,20,4). Wer ein innerlicher und geistiger Mensch werden will, muß sich mit Jesus von der Welt abwenden (1,20,10). In der Zelle findet man, was draußen immer wieder verlorengeht (1,20,26). Ein Lob gebührt den Ordensleuten, die selten ausgehen (1,20,32). Auf einen fröhlichen Ausgang folgt oft eine traurige Rückkehr (1,20,16). Man soll lieber die Tür verriegeln und Jesus, den Geliebten zu sich rufen. Mit ihm im Kämmerlein zu bleiben, ist die einzige Möglichkeit, Frieden zu finden (I,20,45.46). J 2.4.5. Den Leib und die ganze gegenwärtige Lebensweise empfindet ein innerlicher Mensch als Hindernis. (Das sind Anklänge an die Vorstellung vom Leib als Kerker der Seele.) Je mehr ein Mensch ein vergeistigtes Leben sucht, desto bitterer wird ihm das gegenwärtige Dasein (1,22,12). Eigentlich möchte er unabhängig sein von der Notwendigkeit, essen und trinken zu müssen und allem, wozu die

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Natur ihn sonst zwingt (1,22,13). Ein innerlicher Mensch wird durch die körperlichen Notwendigkeiten in diesem Leben sehr bedrückt (1,22,14). 2.4.6. Ein geistiger Mensch muß Fortschritte machen. 1,25,3: Igitur ad profectum ferveas [Arbeite mit Feuereifer auf Fortschritt hin!]. Die Hindernisse einer geistigen Lebensweise müssen überwunden werden (11,1,41). Besonderer Gelegenheiten für fromme Übungen bedarf es nicht. Ein innerlicher Mensch sammelt sich auch bei äußerer Arbeit schnell, da er ja die Äußerlichkeiten nie ganz an sich herankommen läßt (11,1,36.37). Tantum homo impeditur et distrahitur: quantum sibi res attrahit (II, 1,40). 3 Die höchste Kunst besteht darin, in Übereinstimmung mit Jesus leiden zu lernen (1,25,29.30). Wer sich hier nach dem Kreuz Christi geformt hat, braucht bei seiner Wiederkunft das Zeichen des Kreuzes am Himmel nicht zu fürchten (11,12,3.4). Das —»Kreuz ist der Inbegriff des gesamten Heils (11,12,7.8). Christus trug sein Kreuz und starb daran, damit auch sein Nachfolger das Kreuz trägt und an ihm zu sterben begehrt (11,12,10). Herzlich nachfühlen kann das Leiden Christi nur der, der selbst Leid zu erdulden hatte (11,12,19). Die Liebe zum Kreuz Christi, der Wunsch nach Gleichförmigkeit mit ihm erzeugt ein Verlangen nach Ungemach und stärkt den Geist so, daß der Mensch ohne Trübsal gar nicht mehr leben möchte (11,12,37). „Trinke den Kelch des Herrn mit Freuden, wenn du sein Freund sein willst und Anteil an ihm begehrst" (12,46). Wir haben unsern Lebensweg als Sterbende zu gehen, und je mehr einer sich selbst abstirbt, desto mehr beginnt er zu leben für Gott. Verdienst und Fortschritt im Christenstand werden nicht erreicht durch gute Tage und Tröstungen, sondern durch viel Leid (11,12,58-63). 2.4.7. Die Kraft dazu kommt von innen. Frucht bringt das Leid nur dem, der nicht nur äußerlich gerufen, sondern auch innerlich erleuchtet wurde (111,2,15). Darum wird Jesus um inneres Licht gebeten (111,23,20). Rechter Friede muß seinen Grund nicht im Äußeren haben, sondern in der rechten Verfassung des Herzens (111,27,14). Selbst beim Gebrauch der Hl. Schrift bedarf es der inneren Belehrung (111,43,17). — Man begreift von hier aus die Vorliebe der Spiritualisten mit ihrem Interesse am inneren Wort für die Nachfolge Christi. S u d b r a c k sieht einen der Gründe für den Erfolg der Imitatio in der Kraft der Einseitigkeit (Personale M e d i t . ) , mit der alles auf G o t t konzentriert wird. D e m ist zuzustimmen. Es darf a b e r dabei nicht vergessen werden, d a ß das Buch ganz unbeabsichtigterweise auch eine dem M e n s c h e n sehr entgegenkommende T e n d e n z hat. O b w o h l es seine Nichtigkeit überaus stark betont, gewährt es mit dem gezeichneten und empfohlenen W e g in die Innerlichkeit dem gedrückten und vielfach abhängigen M e n s c h e n zugleich eine erstaunliche innere Freiheit und Überlegenheit. M a n c h e s wirkt dabei verblüffend modern. M i t entwaffnender L o gik und philosophischer Weisheit wird z . B . einem, der in einer reiselustigen Z e i t in dieser Beziehung zu kurz g e k o m m e n ist, jedes Minderwertigkeitsgefühl g e n o m m e n mit dem Hinweis, d a ß er, der auf Neues aus ist, das Wesen der Dinge noch nicht erkannt h a b e (vgl. 1 , 2 0 , 3 8 . 3 9 ) . D a s Buch bietet beiläufig an zahlreichen Stellen auch eine Anleitung zu dem, w a s m a n heute Selbstfindung nennt, man k ö n n t e auch sagen: es leistet einen Beitrag zur Uberwindung von Identitätskrisen. Innerlichkeit bedeutet schließlich auch Unabhängigkeit v o m Urteil der Leute (11,6,20), Freiheit von Neigungen zu weltlichen Dingen (11,6,27) und H e r r sein über sich selbst (111,38,1). Gelegentliche kritische T ö n e h a b e n das Buch sicher ebenfalls attraktiv g e m a c h t . Die Kirche wird zwar nicht attackiert, das Priesteramt erscheint in einem unvergleichlich hohen R a n g , a b e r das Prinzip der Innerlichkeit unterstreicht auch nicht die Notwendigkeit der Kirche als einer hierarchischen Organisation, sondern bedeutet doch eine deutliche Unabhängigkeit von ihr. Im einzelnen findet sich Kritik an W a l l f a h r t e n , dem Heiligenkult und dem Reliquienwesen ( 1 , 2 3 , 2 5 ; 111,58,9; I V , 1 , 3 0 . 3 1 ) . D e r ganze Wissenschaftsbetrieb wird in seiner Bedeutung relativiert. Es gibt Wertvolleres (111,31,14.15; 5 9 , 1 5 ) . D a s Leben der einfachen Leute erfährt eine Aufwertung. Erbauliche und schlichte Bücher h a b e n auch ihre Bedeutung, nicht nur die gewaltigen und tiefgründigen W e r k e (1,5,4). A m jüngsten T a g wird nicht gefragt nach unserer Lektüre, sondern nach unseren T a ten, nicht nach geistreichen W o r t e n , sondern nach einem gottgefälligen Leben (1,3,25). Die einzigartige Stellung, die dem Individuum in der Nachfolge eingeräumt wird, würde nicht i m m e r wieder so gezündet h a b e n , wenn es sich hier um etwas Zeitbedingtes o d e r N e bensächliches handeln würde. D i e in der Imitatio dargestellte Individualität des M e n s c h e n , seine Isoliertheit v o r G o t t und seine Unmittelbarkeit zu ihm ist etwas genuin Christliches von bleibender Bedeutung.

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2.5. Johann von —*Staupitz. Aus seinen Schriften gehören wenigstens zwei in unsern Zusammenhang. Die erste ist Das Büchlein von der Nachfolge des willigen Sterbens Christi (1515 21523). Es nimmt mehrere Motive aus der—»ars-moriendi-Literatur auf, z.B. die (neun) -»Anfechtungen und die guten und bösen Engel. Im 5. Kapitel wird das meist als modern angesehene Phänomen der Verdrängung des Gedankens an den Tod beschrieben. Ein Beispiel für nicht am Buchstabensinn orientierte Schriftdeutung ist die Auslegung des Kreuzeswortes Jesu „Mich dürstet" mit „15 Stufen" eines rechten Durstes nach Gott. Die Erklärung des Wortes „Weib" in Joh 19,26 als von Christus an seine „Braut" gerichtete, wird zu einem begeisterten Zeugnis für die Marienfrömmigkeit des Autors. Wesentlicher als diese geschichtlich interessanten Züge ist die grundsätzliche Einsicht, daß der, der sich selber lebt, Christo stirbt, bzw. daß niemand den neuen Menschen in Christo anziehen kann, der den alten nicht ausgezogen hat. Es wird niemand von neuem geboren, der nicht geistlich gestorben ist. Staupitz hat 1516 in einem Brief an Johannes Lang diese Gedanken in eine Form gebracht, die daran erinnert, wie Luther im Kleinen Katechismus das Sakrament der Taufe erklärt: „Adam möge dich zum Tode, Christus zum ewigen Leben befördern" (A. Jeremias 308). Christus wird von Staupitz zwar auch als Vorbild angesehen, von dem und keinem andern er sterben lernen will, aber es finden sich auch ganz der Theologie des jungen Luther entsprechende Sätze, so etwa, daß Gott jedem die Gemeinschaft mit sich im Paradies zusagt, der sich selbst verdammt und Christus in allem rechtfertigt, vor allem aber — das ist schon Rechtfertigungslehre — es sei besser, daß der Mensch stürbe, ehe er sein Vertrauen auf seine guten Werke und seine Gerechtigkeit setze, denn Gott wolle nach der vielfachen Verkündigung des Evangeliums allein Sünder und keinen Gerechten selig machen. Die zweite zu nennende Schrift von Staupitz ist Das Büchlein von der Liebe Gottes (De amore Dei libellus), ( 1 5 1 8 ) das aus im Jahr vorher in München gehaltenen Adventspredigten hervorgegangen war. Luther schenkte dieses Werk der Erbauungsliteratur, das neben' dem Namen seines Ordensoberen seinen eigenen nannte, 1518 seiner Mutter. —»Arndt hat es neu herausgegeben (Magdeburg 1605). Die enge geistige Beziehung zwischen Luther und Staupitz zeigt sich nicht nur in dem von beiden verwendeten Gedanken der resignatio ad infernum, des Einverstandenseins mit der Hölle, wenn es Gottes Wille ist, sondern auch an einzelnen Formulierungen in von Staupitz' Schrift, die sich ähnlich bei Luther wiederfinden, z.B. „Haus, Hof, Wiesen und Äcker". Luthers Definition „Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlassest, das ist eigentlich Dein Gott" (BSLK 560), lautet bei Staupitz: „Denn was dein Herz am höchsten liebt, das ehrt es als Gott, es möge der Mund so oder so von Gott reden." Es geht Staupitz darum, daß nicht die Kreatur an die Stelle des Schöpfers gesetzt wird. Wie aller Umgang mit der Schrift eine Verinnerlichung zum Ziel hat, zeigt sich an der tiefsinnigen Deutung von Joh 16,7: „Aus den Augen muß Christus ins Herz, aus dem Fleisch in den Geist gehen." Die Liebe Gottes galt uns schon, als wir noch Sünder waren. Werke können keinen Trost geben. Ein gutes Werk ist nur möglich als Folge des einwohnenden Heiligen Geistes. „Also entspringt Liebe aus Liebe, aus der Liebe Gottes zu uns unsere Liebe zu Gott". Sie wird uns ohne eigene Gerechtigkeit gegeben, so daß Gott lieben auch lautere Gnade ist, nicht menschliche Kunst oder eigenes Vermögen. Zur vollkommenen Liebe zu Gott gehört die „vollkommene Leermachung des Geistes" — damit wird die aus der Deutschen Mystik bekannte Forderung der Gelassenheit erhoben. Staupitz unterscheidet drei Höhengrade bei denen, die die Liebe Gottes über alle Dinge empfangen: Anfänger, Zunehmer und Vollkommene. Diese Stufung entspricht einerseits dem mittelalterlichen Schulbetrieb (Fibulisten, Donatisten, Alexandristen), andererseits einer schon bei —»Origenes üblichen geistlichen Abstufung (kirchlicher Gemeindeglaube, philosophisches und schließlich pneumatisches Christentum).4 (Literatur S. 73)

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Anmerkungen Die lateinische Ausgabe von Graeße (1848) entspricht nicht mehr heutigen Anforderungen. Den besten Eindruck vom Geist des Buches vermittelt die Übersetzung von Richard Benz, der sich die elsässische von 1362 zum Vorbild nahm. Das Zuhausebleiben als Voraussetzung für den Umgang mit Jesus ist ein immer wiederkehrendes Motiv bei Tersteegen, z.B. Geistliches Blumengärtlein 1,19.23.33.69.110.181.184.224f.227.238.257. In säkularisierter Form findet es sich dann bei Goethe: „Selig, wer sich vor der Welt/Ohne Haß verschließt/Einen Freund am Busen hält/Und mit dem genießt" (An den Mond). Was hier auf das Leben mit Gott bezogen ist, wird bei Goethe zur Maxime der Persönlichkeitsentwicklung: „Was euch nicht angehört/Müsset ihr meiden" (Faust 11,11745 ff). Uber im 19. Jh. im Luthertum verbreitete Ausgaben mittelalterlicher Erbauungsliteratur in Ubersetzungen s. Große, Anh. 1,618-647.

Erbauungsliteratur III

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III. Reformations- und Neuzeit 1. Luther und seine Anhänger 2. Der Einfluß englischer Erbauungsliteratur auf die deutsche 3. Klassiker der lutherischen Erbauungsliteratur 4. Bedeutende Vertreter reformierter Erbauungsliteratur 5. Katholische Erbauungsliteratur 6. Aufklärung 7. Dichtung als Erbauungsliteratur 8. Erweckungsbewegung 9. Repristinationsversuche und Nachklänge bis in die Gegenwart 10. Forschungsaufgaben und Beurteilungskriterien (Quellen/Literatur S. 73)

1. Luther und seine

Anhänger

—»Luthers Theologie fehlte nie der Praxisbezug (Maurer 8.67.79; Brecht, Luther 154). Von Anfang an stehen neben seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen solche, die für die Gemeinde bestimmt und der Erbauungsliteratur zuzurechnen sind. Er war ein viel gelesener und einflußreicher religiöser Schriftsteller (Dannenbauer 6). Von seiner Auslegung der Bußpsalmen waren die ersten Bogen schon vor Abschluß des Druckes vergriffen. Sein Umgang mit der Schrift als Erbauungsschriftsteller war immer gleichbleibend existentiell, meditativ und affektiv. Nach Luthers Verständnis von Predigt beschränkt sich diese nicht auf die Verkündigung im Gottesdienst, sondern schließt auch die Vorlesungen, den Unterricht und die Abfassung von Traktaten ein (Niebergall 263). Luthers erste eigenständige Veröffentlichung war eine Auslegung der sieben Bußpsalmen (WA 1,154 ff. 1 5 8 - 2 4 6 ) . Die Vermutung liegt nahe, daß die lebenslange Vorliebe Luthers für den Psalter damit zusammenhängt, daß dieses Buch ihm schon als Mönch besonders vertraut geworden war, bildete es doch den wöchentlich wiederkehrenden Inhalt des Stundengebetes (Elze, Züge 382). Luther begann seine Publikationstätigkeit 1516 als Herausgeber eines Fragments von einer anonym entstandenen Schrift, die für ihn den Geist —»'Taulers atmete und der er einen Titel gab, der die auch für —»Staupitz schon wichtige biblische Typologie Adam-Christus enthielt: Eyn geistlich edles Buchleyn von rechter unterscheyd und vorstand, was der alt und neu mensch sey, was Adam und was Gott kind sey und wie Adam in uns sterben und Christus ersteen soll. Eine vollständige Ausgabe des Traktates, die Anfang Juni 1518 ebenfalls mit einer Vorrede von Luther erschien (WA 1,378 f), trug den Titel Eyn deutsch Theologia. Die Nachdrucke nennen sich —»Theologia deutsch (Baring). Brecht (Randbemerkungen) hat einleuchtend dargetan, daß Luther selbst als Verfasser der ca. 170 Marginalien in Frage kommt, die die 1520 bei Rhau-Grunenberg erschienene Ausgabe der von Luther zuerst herausgegebenen mystischen Schrift enthält.

Im Frühjahr 1517 erschienen Die Sieben pußpsalm mit deutscher außlegung nach dem schrifftlichen synne tzu Christi vnd gottis gnaden, neben seyns selben, wäre erkenntniß, grundlich gerichtet. In diesem umständlichen Titel meint der schriftliche Sinn bei dem vorausgesetzten mittelalterlichen System des vierfachen Schriftsinns nicht den buchstäblichen, sondern den christologischen. Weiter werden die Themen der Gottes- und Selbsterkenntnis im Titel als die beiden Brennpunkte genannt, um welche die Auslegung kreist. Luthers wissenschaftliche Beschäftigung mit den Psalmen hat in stärkerem Maße seine volkstümliche Auslegung vorbereitet und beeinflußt, als die Weimarer Ausgabe annimmt (Süß 372 f). Von der überkommenen Auffassung, daß die Psalmen überall auf Christus und seine Gläubigen weisen, gelangte Luther, der dem für die Vorlesung bestimmten Textdruck von 1513 eine Christus in den Mund gelegte Vorrede vorausstellte (Brecht, Luther 130), zunehmend zu einer grammatisch-historischen Exegese, ohne je den Charakter des Psalters als Gesang- und Gebetbuch zu vergessen. Eindeutig ist in der Auslegung der sieben Bußpsalmen klargestellt, daß da, w o Gottes Barmherzigkeit gepriesen werden soll, die menschlichen Verdienste und Werke zunichte werden müssen. Ein rechtes Leben besteht im Kreuzigen und Töten des alten Menschen. Äußerlicher Wandel, ob er sich nun nach der Welt oder der „scheinend heyligkeit" orientiert, soll zunichte werden. Ein gutes Leben besteht nicht aus äußeren Werken und Schein, sondern aus einem seufzenden und betrübten Geist, daß „eyn geistarme Seele" (164,20) nichts mehr hat als Geschrei, Flehen und Bitten in festem Glauben, starker Hoffnung und steter Liebe. Vor Gott sind alle ungerecht, auch die sich in Werken der Gerechtigkeit üben. Es kann sich niemand mit Werken aus der Ungerechtigkeit heraushelfen. Selig sind die, die Gott erlöst aus Gnaden (167,13).

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Aber trotz dieser Feststellung ist dann doch wieder von dem die Rede, was der Mensch tun muß, nämlich nicht die Sünden zudecken, sie sich selbst vergeben und vergessen, sondern sie ansehen, daran denken und sie strafen (167,20). Sich selbst dabei nicht betrügen (Ps 32,3), bedeutet, nicht aus Eigeninteresse Gott dienen. Wenn der Psalm vom Schreien den ganzen Tag über redet (32,3), denkt sich das Luther verursacht durch den Blick des Menschen auf das göttliche Gericht, dies Geschrei „ist unermeßlich und mit keiner zungen aussprechlich, alleyn den erfarnen bekant" (169). Die Stelle erinnert an das Selbstzeugnis Luthers aus dem Jahre 1518, das stilisiert ist nach II Kor 12,3, nun aber keine Ekstase beschreibt, sondern das Erleiden von - kurzen - Strafen, „so groß und höllisch wie keine Zunge es sagen . . . und kein Unerfahrner glauben kann" (WA 1,557,33 ff). Verursacht ist das Geschrei durch das Gerichtsurteil Gottes, das er wie einen Dorn in das elende Gewissen sticht. Die Wende ist abhängig von einer bestimmten Haltung des Menschen. „So bald er sich als einen Sünder erkennt und dir's klagt, so bald ist er gerecht und angenommen von dir" (170,15 f). Die Unterweisung, von der der Psalm redet, bezieht sich auf den Weg des Kreuzes, „den kannst du nit finden, sondern ich muß dich führen als einen Blinden" (172,1). Der Weg, den Gott erwählt, das ist „nit das Werk, das du erwählst, nit das Leiden, das du erdenkst", sondern was wider eigenes Erwählen, Denken und Begehren geschieht. Dem gilt es zu folgen, Gottes Ruf zu erkennen und Schüler zu sein. Ps 3 8 , den nach Luthers Meinung Christus in seinem Leiden und seiner Buße, die er für unsre Sünde getan hat, betete, kann ihm niemand nachbeten, wenn er nicht gleichförmig mit ihm in der Buße und dem Leiden ist. Die Pfeile, von denen der Text spricht (V. 2) bestehen aus Worten Gottes, in denen er schilt und droht in der Schrift. Uber die Sünden klagen (V. 5) kann nur jemand, der in der Gerechtigkeit und Gnade lebt. Die in der Sünde liegen oder allzu heilig sind, fühlen sie nicht. Es ist schon sonderbar: wer keine Sünde hat, der fühlt und hat sie, wer sie hat, der fühlt sie nicht. Wie die Wunden am Leib (V. 6), so muß man auch die der menschlichen Natur behandeln mit der Salbe der Gnade, mit dem Wasser des Wortes Gottes, des Gebets und der Buße. Die Weisheit als Gegenmittel gegen die aus Torheit entstandenen Wunden ist die Selbsterkenntnis nach Prov 11,2: Weisheit ist bei den Demütigen. Die körperlichen Leiden (V. 8) werden als Ausdruck der Unreinigkeit und Bosheit des Herzens gedeutet.

Die ganze Auslegung hat als Zielpunkt jene Demutstheologie (—»Demut), die Gott im absoluten Gegensatz zum Menschen sieht und von Gott für den Menschen nur unter der Voraussetzung etwas erwartet, daß er sich den Standpunkt Gottes zu eigen macht und sich selbst für ganz nichtig erklärt. Gottes Natur ist es, daß er aus nichts etwas macht. Wer noch nicht nichts ist, aus dem kann Gott auch nichts machen. Er macht nur die Sünder fromm. Jeder andere bleibt in seinem eigenen Werk als ein erdichteter falscher Heiliger und Heuchler. Gottes Hilfe ist nicht da, wo Menschenhilfe ist, ja nur da, wo es Verfolgungen durch Menschen gibt. Denn Gott ist nicht ein Vater der Reichen, sondern der Armen, Witwen und Waisen. Die Reichen hat er leer gelassen. Gott macht nur die Verdammten selig. In äußerstem Radikalismus wird von Luther auch die Möglichkeit verworfen, sich selbst als verdammt anzusehen, um auf diese Weise doch zu den Seligen zu gehören. Mit Gott kann man nicht spielen (183 f). Bei Ps 51 ist das Innere und Verborgene der Weisheit Gottes von Luther gleichgesetzt worden mit der Selbsterkenntnis und diese mit dem Selbsthaß. Alle Gerechtigkeit muß man nicht bei sich, sondern bei Gott suchen. Ein reines Herz wird im Sinne der Deutschen Mystik als ein von der Liebe zu allen Dingen befreites Herz angesehen. Das Gegenteil von einem richtigen Geist, um dessen Erneurung im Innersten der Beter fleht, ist ein krummer Geist des Fleisches und Adams, der nur das Seine will. Der richtige Geist ist der gute, stracks auf Gott gerichtete und Gott allein suchende Wille. Die, welche fühlen und wissen, daß sie um ihrer Sünde willen verwerflich sind, kommen dem Urteil Gottes zuvor und bitten in Demut „Verwirf mich nicht", was die andern mit Heiligkeit gewonnen zu haben meinen. Die Übertreter Gottes Werke lehren und die Sünder zu Gott bekehren, das bedeutet: sie nicht mehr der Menschen Gerechtigkeit und Werke lehren, wie es die Hoffärtigen tun, sondern den Weg der Gnade. Der Sermon von Ablaß und Gnade (WA 1 , 2 4 3 - 2 4 6 ) , der im Februar 1518 erschien, faßt die Hauptgedanken der 95 Thesen vom 31. Okt. 1517 zusammen. Zur wahren Reue und —»Bekehrung gehört der Vorsatz, das Kreuz Christi zu tragen und gute Werke zu tun. Es ist ein Irrtum, für die Sünden genugtun zu wollen, Gott verzeiht sie aus Gnade. —»Ablaß gibt es um der unvollkommenen und faulen Christen willen, er fördert niemand zum Besseren. Ablaß ist nur das Unterlassen guter Werke. Wenn für den Bau des Petersdomes Geld gegeben

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wird, soll es um Gottes willen, nicht wegen des Ablasses geschehen. Man soll vor allem den Armen in nächster Nähe geben, danach zur Ausstattung der Kirchen in der eigenen Stadt. Wenn das nicht mehr nötig ist, kann für den Bau von St. Peter oder anderes gespendet werden. Ob durch den Ablaß Seelen aus dem —»Fegfeuer befreit werden, sei ganz unsicher. In der Fastenzeit 1518 veröffentlichte Luther als Beichtanleitung Eine kurze Erklärung der zehn Gebote nebst einer lateinischen Bearbeitung (WA 1 , 2 5 0 - 2 5 6 . 2 5 8 - 2 6 5 ) , gegliedert in kurze Erläuterungen des Sinnes und Ausführungen, was Erfüllungen, und was Ubertretungen der Gebote sind. Die gesamte Auslegung schließt mit einer Belehrung über die Selbstprüfung vor dem Empfang des Sakramentes. Es genügt, wenn man von keiner groben Todsünde weiß, auch von keinem Vorsatz dazu, das Übrige befehle man der Gnade Gottes: „lass deinen glauben deine reinigkeit sein, so bistu gewiss" (265). Nicht selbstquälerische und detaillierte Gewissensprüfung oder Generalbeichten, wie sie Luther selbst mehrmals abgelegt hat, bringen die Gewißheit der Sündenvergebung, sondern der Glaube an die Gnade Gottes. Bei der großen Bedeutung, die der Passionsbetrachtung in der vorreformatorischen Zeit zukommt, verdienen zwei lateinische Sermone Luthers (WA 1 , 3 3 6 - 3 3 9 . 3 4 0 - 3 4 5 ) Aufmerksamkeit, die aus einem auf das Jahr 1518 datierten Manuskript veröffentlicht wurden (Elze, Verständnis) und vermutlich beide Abschriften von Luthers vorbereitendem Manuskript darstellen. Traditionsgemäß betont Luther, daß es in der Passionsmeditation um die Übung und Vervollkommnung des-» Affekts gehe, d. h. darum, in sich ein Gefühl für die Liebe Gottes zu erwecken, und um den exemplarischen Charakter der Passion Christi, d. h. daß der Betrachter zu den von Christus geübten Tugenden formiert werde. Aber für Luther spielt auch die Selbsterkenntnis bei der Passionsbetrachtung eine große Rolle, sie wird gewonnen aus dem Anblick der foeditas [Häßlichkeit] Christi (Jes 53,2), die zusammen mit seiner specics formosa, seiner schönen Erscheinung (Ps 44; 45,3), seine göttlich-menschliche Verfassung ausmacht. Es kommt darauf an, über sich selbst beim Anblick Christi zu weinen. Auch der satisfaktorische Charakter seiner Passion, die den Menschen von der Verzweiflung befreit, wird betont.

Ein Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (WA 2,136—142) aus dem Jahre 1519 beginnt mit einer deutlichen Kritik der herkömmlichen Passionsfrömmigkeit. Sie könne eher ein Bedenken des Judas und der Juden Bosheit heißen als des Leidens Christi. Völlig sinnwidrig werde die Frucht des Leidens Christi in eigener Leidfreiheit gesucht. Um ordentlich Mitleid mit Christus zu erregen, wird die Passion in allen Einzelheiten stundenlang erzählt. Aber das hilft so wenig wie eine angeblich opere operato wirkende Messe. Das Leiden Christi soll zur Erkenntnis des Zornes Gottes über die Sünde und den Sünder führen, „daß du dir tief einbildest und gar nicht zweifelst, du seist der, der Christum also martert, denn deine Sünd habens gewißlich tan". Ein kleines Hündlein wird dem großen Hund zum Schrecken geschlagen. Wenn Gott so mit dem liebsten Kind verfährt, kann sich der Sünder ausrechnen, was mit ihm geschieht. Der ganze Nutzen des Leidens Christi besteht in der Selbst-, d.h. der Sündenerkenntnis. Die fruchtbare Betrachtung des Leidens Christi ist aber auch nicht als menschliche Leistung, sondern nur durch Gottes Gnade zu vollbringen. Das gründliche Bedenken des Leidens Christi, nicht das oberflächliche, hat eine ähnliche Wirkung wie die Taufe, es erwürgt den alten Adam, macht einen Christus darin gleichförmig, daß man auf Kreaturen keine Zuversicht setzt. Da Gott frei ist in seinem Werk, stellt es sich nicht automatisch bei der Betrachtung des Leidens Christi, sondern vielleicht unabhängig davon ein, daß der Mensch sich selbst mißfällt. Die erkannten Sünden wird man nicht los durch gute Werke oder durch Ablaß, sondern man muß sie aus dem eigenen Gewissen wieder auf Christus schütten, sonst entsteht Verzweiflung. Auch auf Christus bleiben sie nicht, sondern sie sind durch seine Auferstehung verschlungen. An ihm gibt es keine Schmerzen und Wunden, keine Anzeichen der Sünden mehr. Aus dem Leiden Christi kommt das Erschrecken über uns, aber auch die Erkenntnis seiner Liebe gegen uns, und schließlich wird in Christus auch Gottes gutes Vaterherz erkannt. Ist man im Blick auf die Güte und Liebe Gottes, nicht aus Furcht vor Strafe, den Sünden feind geworden, so wirkt das Leiden Christi (außer als Sakrament, als das es bisher betrachtet wurde) auch als Exempel; es ist eine Hilfe zum Ertragen der Krankheit, zur Bekämpfung der Hoffart, der Unkeuschheit, von Haß, Neid

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oder Rachsucht oder anderer Laster und Untugenden. Solche Übungen sind die rechten Früchte des Leidens Christi. Das charakteristisch Reformatorische dieser Schrift besteht darin, daß Luther keine Regeln für die Anfechtungsüberwindung aufstellt, sondern „Methoden zur Entwaffnung des Menschen vor dem Angriff Gottes auf das Gewissen, das durch Sterben hindurch ins Leben mit Gott treten soll" (Appel 118). Es geht nicht um imitatio Christi, sondern um conformitas, um eine von Gott selbst bewirkte confirmatio (ebd. 109). Ebenfalls aus dem Jahre 1 5 1 9 stammt eine der schönsten Erbauungsschriften des jungen Luther, der auf Spalatins Bitte für den fürstlichen Rat Markus Schart verfaßte Sermon von der Bereitung zum Sterben. Wie die vorhergehende Arbeit ist auch diese in einzelne Punkte gegliedert, insgesamt sind es hier zwanzig. Zur Vorbereitung auf den Tod als einen Abschied aus diesem Leben gehört, daß der Mensch sein zeitlich Gut ordnet, um Ursachen von Zank und Hader bei den Hinterbliebenen auszuschalten. Geistlich wird Abschied genommen, indem man allen vergibt, die einen beleidigt haben, und selbst Vergebung begehrt von denen, die man beleidigt hat und denen man Liebe schuldig geblieben ist. Ist jedermann auf Erden Abschied gegeben, soll man sich allein auf Gott richten. Der Weg zu ihm geht durch eine enge Pforte wie auch die Geburt aus der Mutter Leib in die Welt. Beides ist mit Gefahr und Ängsten verbunden. Der Raum und die Freude, in die wir durch die Todesangst gelangen, ist aber größer als alles in der Welt. Zur rechten Sterbevorbereitung gehön die Beichte aller großen und erinnerlichen Sünden, der Empfang der Sakramente des Leibes Christi und die Ölung. Die Sakramente sind Zeichen, die zum Glauben dienen und reizen. Ohne Glauben sind sie nichts. Die Sakramente ehren, heißt, daran glauben und sich darauf verlassen, daß alles wahr ist und das und nur das geschieht, was Gott darin anzeigt. Ihre Tugend oder Kraft erweisen sie darin, daß sie gegen drei Untugenden (Anfechtungen) wirken: das schreckliche Bild des Todes, das greuliche mannigfaltige Bild der Sünde und das unvermeidliche Bild der Hölle. Der Tod wird groß und schrecklich dadurch, daß der Mensch ihn zu intensiv betrachtet, sich all die schrecklichen, jähen, bösen Todesfälle vorhält, die man je gesehen und von denen man gehört und gelesen hat, wie Gott vor Zeiten hier und da die Sünder geplagt und verderbt hat. Daraus entsteht Verzagtheit, verzweifeltes Festhalten am Leben und Haß gegen den Tod, was letzten Endes Ungehorsam gegen Gott ist. Im Leben soll man sich im Umgang mit dem Gedanken an den Tod üben, „wenn er noch fern ist und nicht treibt. Aber im Sterben, wenn er von selbst schon allzu stark ist, da ist das gefährlich und nutzt nichts". - Auch die Sünde wächst und wird groß, wenn man sie zu viel betrachtet, und von der Hölle gilt, daß man sie zur Unzeit bedenken kann. Dazu gehört der Vorsatz, Gottes Rat erforschen und herausfinden zu wollen, wie es sich bei einem selbst mit der Vorherbestimmung verhalte. Auf diese Weise macht der Teufel dem Menschen Gott verdächtig, löscht die Liebe Gottes aus und erzeugt einen Haß gegen ihn. Wenn man den Sakramenten als Gottes Wort, Zusagen und Zeichen glaubt, daß sie nicht nur anderen, sondern einem selbst gelten, dann sind darin Tod, Sünde und Hölle überwunden. „Denn wie wir glauben, so wird uns geschehen." Die Frage nach der Würdigkeit oder Unwürdigkeit des Sakramentsempfängers, die der Teufel ins Spiel bringt, wird nur durch eine entschieden: „Glaube macht würdig, Zweifel macht unwürdig." Gott baut sein Wort und Sakrament nicht auf unsere Würdigkeit, sondern aus lauter Gnade baut er uns Unwürdige aufsein Wort und Zeichen. Auf des Priesters Absolution kann man sich verlassen wie auf Gottes eigenes Wort. Was das Sakrament zusagt, ist im Glauben an den Inhalt des Zeichens auch ohne dieses zu erlangen, aber das Zeichen ist eine Übung und Stärkung des Glaubens. Ein ganzes Leben lang soll man Gott und seine Heiligen um den rechten Glauben für die letzte Stunde bitten. Warum sollte Gott uns nicht etwas Großes wie das Sterben auflegen, wenn er so viel Vorteil dadurch, so viel Hilfe und Stärke dazu verleiht? Angesichts der Gnade und Barmherzigkeit sollen wir den Tod nicht fürchten, sondern seine Gnade preisen. Die Liebe zu ihm und sein Lob erleichtern das Sterben. Eine teilweise enge Verwandtschaft mit den Sterbemahnungen der —»ars moriendi-Literatur und mit spätmittelalterlichen Trostbüchern (als spätere Beispiele s. noch Mylius; Leon; Marperger) ist unverkennbar. Ebenso aber auch, daß das überkommene Material ganz von der reformatorischen Mitte her gestaltet ist, so daß man bei dieser Schrift Luthers von einem frömmigkeitsgeschichtlichen Neuanfang (Zeller, Theol. u. Frömmigkeit 11,29) sprechen kann. Später erschienen, aber früher verfaßt als der Sermon von der Bereitung zum Sterben und sachlich eng mit diesem und dem Sermon von der Betrachtung des hl. Leidens Christi zu-

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sammengehörig, sind die Tessaradekas consolatoria, eine Trostschrift, die von Spalatin für den kranken Kurfürsten erbeten und auch ins Deutsche übersetzt wurde ( W A 6 , 9 9 bzw. 1 0 4 - 1 3 4 ) . Das menschliche Leben wird durch sieben Übel eingeengt, die sich in, vor, hinter, unter, um, links und rechts und über uns befinden, nämlich: unsere eigene Sünde, Elend und T o d , vergangene Schwierigkeiten, böser T o d und Hölle, unsere Feinde, die Leiden der Freunde und Christus a m Kreuz. Aber, wie das letzte der von Luther beschriebenen „Bilder" zeigt, treffen uns alle diese Übel nicht, ohne daß Gottes Güte sie mildert. E r schickt die Plagen aus pädagogischen Gründen. Mit allem aber, besonders mit Christi Leiden, hat er nur unser Heil im Sinn. Als Belehrung, Tröstung und Anweisung zum sittlichen Leben dient Luthers für die Herzogin Margarete von Braunschweig-Lüneburg verfaßter Sermon von dem heiligen hochtvürdigen Sakrament der Taufe (WA 2 , 7 2 7 - 737). Eine weitere Erbauungsschrift Luthers aus dem Jahr 1519 trägt den Titel Ein Sermon von dem hochtvürdigen Sakrament des heiligen Leichnams Christi. Und von den Bruderschaften (WA 2, 7 4 2 - 7 5 8 ) . In der zugleich deutsch und lateinisch abgefaßten Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen ( W A 7 , 2 0 — 3 8 ) verwendet Luther in einer sehr eigenständigen Weise das bis auf Plato zurückzuverfolgende Schema v o m äußeren und inneren Menschen, das in der Erbauungsliteratur eine große Rolle spielt, besonders da, w o sie eine Affinität zu dualistischem Denken bekundet. Luthers Freiheitsbegriff ist weder auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezogen noch auf eine W ü r d e des Menschen, die bei äußerer Unfreiheit nicht verlorengehen kann, sondern christliche Freiheit ist nach Luther „einzig der G l a u b e " ( 1 0 . Abschn.), der bewirkt, „ d a ß wir keines Werkes bedürfen, die Frommheit und Seligkeit zu erlangen" (vgl. Geyer 5 6 f f ) . 1 5 2 1 erschien Das Magníficat verdeutscht und ausgelegt ( W A 7 , 5 4 4 - 6 0 4 ) . M i t den Kämpfen und Gegensätzen der Zeit hat die Schrift insofern etwas zu tun, als Luther damit einen Dank abstatten will an Herzog J o h a n n Friedrich von Sachsen, der sich nach dem Bekanntwerden der Bannbulle in einem Schreiben an seinen Onkel Kurfürst—»Friedrich den Weisen, für Luther einsetzte. Luther stellt klar, daß zum rechten Verständnis des Wortes Gottes der Heilige Geist gehört. Im Gegensatz zu Menschenaugen, die nur nach oben blicken auf alles, was groß und hoch ist, und den Anblick von Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst vermeiden, sieht Gott nach denen, die in der Tiefe sind. Zu ihnen gehört auch Maria, „eines gemeinen, armen Bürgers Tochter, welche Herrn Hannas' und Kaiphas' Tochter nicht hätte würdig geachtet, daß sie ihr sollte ihre geringste Magd sein". In ihrem Lobgesang macht sie Gott groß, nicht sich selbst, und es ist kein geringes Wunder, daß sie sich bei den ihr zuteil gewordenen Gütern der Hoffart und Anmaßung enthält. Der rechte Geist, mit dem der Heiland im Glauben erfaßt wird, ist nicht der der „Nießlinge", die bei Gott Genuß und Nutzen suchen. Statt der Gabe muß man den Geber suchen und lieben. Luther übersetzt rajreivmatg in V. 48 mit „Nichtigkeit" und kritisiert die Deutung dieses Begriffs im Sinne einer Tugend, der Demut: „denn der Mensch niemals weniger von der Demut weiß, als eben, wenn er recht demütig ist". Der Nachdruck liegt nicht auf irgendwelchen Vorzügen Marias, sondern auf Gottes Ansehen. Nach ihrem Vorbild soll jeder darauf achten, was Gott in ihm wirkt und ihn dafür loben, was bedeutet: mit Gott zufrieden sein und nicht das Kleine und Wenige verschmähen, das er gibt. Obenan sitzen und nur der Beste sein wollen, ist Hochmut. Wenn Maria gelobt wird, dann wegen der Gnade Gottes. Zu Gott soll man durch Maria kommen, nicht zu ihr. Bei der Behandlung der in dem Lobgesang aufgezählten Werke Gottes kommt Luther unter dem Stichwort Barmherzigkeit auf „Geld, Gut, Leib, Ehre, Weib, Kind und Freund" (vgl. EKG 201,4) als gute Dinge zu sprechen, die man aber auch entbehren können und nicht mit Gewalt wieder an sich bringen muß, weil man nur an Gott hängen soll. Wenn der Fürst meint, es sei seine Aufgabe, Land und Leute vor Unrecht zu schützen, dann muß er darauf achten, daß nicht „ein Löffel aufgehoben werde, da man eine Schüssel zertritt", d. h. ob nicht ein Krieg alles noch viel schlimmer macht. Die höchsten Güter, den Glauben und das Evangelium, kann man einem Menschen nicht nehmen, wenn man ihm auch das Leben nimmt. Auch um dem Evangelium zum Sieg zu verhelfen, ist keine Gewaltanwendung erlaubt. Gott selbst zerstört die Hoffärtigen, und zwar auf zweierlei Weise, öffentlich und sichtbar durch Kreaturen, etwa so, daß ein Fürst einen Krieg gewinnt, oder „durch seinen Arm". Dabei werden die Frommen kraftlos und unterdrückt, die andern groß und mächtig. Aber wenn sie sich ganz sicher fühlen, „so sticht Gott ein Loch in die Blase, so ist's gar aus. Die Narren wissen nicht, daß eben, indem sie

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aufgehen und stark werden, sie von Gottes Arm verlassen sind". Wir sollen gern „geistesarm sein und Unrecht haben, unsern Widerpart lassen recht haben; sie werden's doch nicht lange treiben." Daß Gott die Gewaltigen absetzt, bedeutet nicht eine revolutionäre Veränderung der Verhältnisse. „Denn solange die Welt steht, muß Obrigkeit, Gewalt und die Stühle bleiben." Der Mißbrauch von Vernunft, Weisheit und Recht unterliegt der Strafe Gottes. Die „Gelehrten, die Heiligen, die Mächtigen, die Großen, die Reichen" sind besonders gefährdet, weil sie versucht werden, wider Gott zu streiten, wie schon die Sprichwörter bekunden: „Die Gelehrten, die Verkehrten. Ein Fürst, Wildpret im Himmel. Hier reich, dort arm." Das Erheben der Niedrigen ist nicht so zu verstehen, daß sie den Platz der von Gott Abgesetzten einnehmen. „Es ist alles zum Trost der Leidenden und zum Schrecken der Tyrannen gesagt. Bei der Auslegung des Begriffes „Söhne Abrahams" empfiehlt Luther, recht freundlich mit den Juden umzugehen, „denn es sind noch Christen unter ihnen zukünftig." „Wer wollte Christ werden, wenn er siehet Christen so unchristlich mit Menschen umgehen?"

Da Luther auf der Wartburg nicht nur den Lobgesang der Maria zum Abschluß brachte, sondern auch die Kirchenpostille in Angriff nahm, sei daran erinnert, in welch hohem Maße die „Erbauung" der Gemeinde bei Luther durch Predigten geschah. „Allein im Jahre 1523 hielt e r . . . 1 3 7 Predigten" (Bomkamm, Erneuerung 2 1 2 ) . — Zur Erbauung gehören immer auch die Züge der Einfachheit, Kindlichkeit und Volkstümlichkeit. Von dieser Seite der Predigten Luthers kann man sich ein gutes Bild machen aufgrund des von H. Meyer unternommenen Versuches, mit Hilfe von Luthers Christtagspredigten die Gestalten der Weihnachtsgeschichte zu deuten. Wieder in einer Zeit höchster Anspannung, während des Augsburger Reichstages 1530, entstand auf der Feste Coburg die Auslegung von Luthers Lieblingspsalm, genannt Das schöne Confitemini (WA 3 1 / 1 , 6 5 - 1 8 2 ) nach den Anfangsworten des 118. Psalms. Zu Luthers Erbauungsschriften gehört auch Ob man vor dem Sterben fliehen möge, 1527 (WA 2 3 , 3 3 8 - 3 8 3 ) und der nicht von ihm selbst, sondern von Veit Dietrich aufgrund des von Luther bei der Tröstung eines angesehenen Wittenbergers angewandten seelsorgerlichen Verfahrens niedergeschriebenen Berichts. D. Martin Luthers tröstlicher Unterricht, wie man in Leibesschwachheit der Kleinmütigkeit und anderen Anfechtungen des Teufels begegnen möge (EA 6 4 , 3 0 0 - 3 1 2 ) , vor allem aber die beiden zu denkendem Beten anleitenden Schriften Betbiichlein 1552 (WA 1 0 / 2 , 3 7 5 - 4 9 5 ) und Einfältige Weisezu beten für einen guten Freund; für Meister Peter, Balbierer, 1535 (WA 3 8 , 3 5 8 - 3 7 5 ) . Diese Gebetsschriften haben traditionsbildend gewirkt (Uhden; Schulz; Kaukol). „Wie sehr Luthers Theologie von seiner Frömmigkeit her bestimmt ist, zeigt beispielsweise selbst eine Schrift wie ,De servo arbitrio' (1525) mit ihrer Betonung der ,pietas' und des ,pie vivere'" (Zeller, Luth. Lebenszeugen 243), ebenso die Verwendung der als Motiv der Erbauungsliteratur wichtigen Unterscheidung: innerer und äußerer Mensch (Bornkamm, Äußerer und innerer Mensch).

Ein typisches Beispiel eines Erbauungsschriftstellers in Luthers Spuren stellt Wenzeslaus Linck (Lorz, Wirken) dar. Es ist bezeichnend für ihn, daß er die Scholien Luthers zum 118. Psalm übersetzte und publizierte in Verbindung mit einer eigenen Schrift Wie man ein rayn hertz richtig gemäte/ oder rätvig gewissen/ erlangen müge. Mit einer Analyse der elf Erbauungsschriften Lincks ließe sich aufzeigen, wie die starke theologische Prägung durch Luther auch die Gefahr der geistigen Abhängigkeit in sich barg und die im Bereich der Frömmigkeit so notwendige selbständige Aneignung (hier: der Rechtfertigungslehre) erschweren konnte, worin mindestens eine teilweise Erklärung der relativen Erfolg- und Wirkungslosigkeit Lincks zu sehen ist. Auch von Veit Dietrich liegen Erbauungsschriften vor, in denen vom Beten der Passion Christi oder dem Tod gesprochen wird. Ein knrtze Außlegung des 32. Psalm unter dem Gesichtspunkt von Vergebung der s&nden wie man darumb bitten vnd darzu kommen kan, erweist den Verfasser als einen Theologen, der in allen seinen schriftstellerischen Bemühungen klar vom reformatorischen Zentralanliegen bestimmt ist. Die oft zusammen gedruckten Erbauungsbücher von Caspar Huber(inus) und Urbanus —»Rhegius haben vor allem das Todes- und Trostthema behandelt. Besonders Rhegius folgt in seiner Seelenärtzney der von Luther in seinem Sermon von der Bereitung zum Sterben begründeten Tradition. Die Hinzufügung der Totentanzbilder Hans Holbeins zu den Erbauungsschriften der beiden Autoren zeigt, daß auch diese Bilder nicht nur unter kunstge-

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schichtlichem Gesichtspunkt betracttet werden dürfen, sondern auch als Zeugnisse der Frömmigkeitsgeschichte. Waren die Erbauungs- und Trostbücher Gebrauchsliteratur, so diese Bilder Gebrauchskunst. Zwei wichtige Werke eines Repräsentanten der unmittelbar nachreformatorischen Zeit, des Salzwedeler Pfarrers Stephan Prätorius (Cosack 1—96; Beck, Erbauungslit. 2 2 3 - 2 3 1 ; ders., Volkslit. 45) seien ebenfalls erwähnt. 2. Der Einfluß englischer Erbauungsliteratur

auf die

deutsche

Eine Reihe prominenter englischer Erbauungsschriftsteller stellt Heppe ( 2 5 - 5 2 ) unter den Vertretern des puritanischen Pietismus (—»Puritanismus) vor, aber auch Angehörige der Hochkirche und der Dissenters haben Erbauungsbücher verfaßt (Uberblick bei Beck, Die rel. Volkslitteratur 177-198; Große 6 0 0 - 6 1 6 ) . Die Übernahme dieser Literatur durch Übersetzungen erfolgte zunächst in calvinischen Gemeinden in Holland, der Schweiz und in Oberdeutschland (Leube 166). Aber auch in der von lutherischen Theologen schon vor dem Erscheinen der Pia Desideria geäußerten Kritik an der Kirche macht sich der Einfluß der Ideale aus den englischen Andachtsbüchern bemerkbar (ebd. 172). Schöfflers Untersuchungen zeigen, wie eine durch frühprotestantische Askese motivierte Literaturfeindschaft allmählich auch bei den Geistlichen abgebaut wird und zu literarischer Produktivität führt. Ein nicht geringes Verdienst als Vermittler kommt Reitz (Mohr: MEKGR 22) in seiner Historie der Wiedergeborenen zu (Mohr: ebd. 23). Die Exempel des I. Teils, die Lebensgeschichte unbekannter Frauen, stammen, wie Schräder (Nachw. des Herausgebers zu Reitz' Historie) eruieren konnte, aus einer englischen Quelle: Vavasor Powell,Spiritnall experienres ofsundry beleevers. Aber auch in den anderen Teilen sind Engländer vertreten; besonders zahlreich im II. Teil, der mit König Eduard VI. beginnt und dessen 22 Lebensbilder 17 Engländer, acht Männer und neun Frauen behandeln, aus dem Adelsund Predigerstand ebenso wie aus der unteren Schicht. Dabei werden Andachtsbücher erwähnt, z.B. —»Baxters Hausbuch der Armen; M. Capel, Tractat von den Versuchungen; das Martyr-Buch. Merkwürdig ist, daß Reitz (III, XIII) bei—»Bunyan nur dessen Autobiographie berücksichtigt, nicht aber seine beiden Allegorien: vom heiligen Krieg {Relation of the holy war) und die Pilgerreise, die als einflußreichstes englisches Erbauungsbuch auch —»Jung-Stilling für seinen Roman Das Heimweh zum Vorbild gedient hat (Zeller, Protestantismus LXVf).

3. Klassiker der lutherischen

Erbauungsliteratur

Philipp Nicolai (1556-1608), der Verfasser des während einer schweren Pestepedemie in ünna entstandenen Freuden-Spiegel des Ewigen Lebens, der auch das Geistliche BrautLied der gläubigen Seelen („Wie schön leuchtet der Morgenstern") und „ein anderes von der Stimm zu Mitternacht" („Wachet auf, ruft uns die Stimme") enthält, ist von der Forschung gern mit dem Blick auf das dogmatische Spezialinteresse von der Ubiquität konfessionalistisch gewertet worden, wobei die Bemühung, vorprotestantisches Frömmigkeitsgut, vor allem aus der Mystik, aufzuzeigen, negativ beurteilt wurde (Lindström). Eine Wandlung setzte hier ein mit den Arbeiten anläßlich der 400. Wiederkehr des Geburtstages Nicolais (10. August 1556. Literaturbericht von Blankenburg). Von Zeller wird Nicolai in diesem Zusammenhang auf eine Stufe mit J. —»Arndt gestellt, dessen Vier Bücher vom Wahren Christentum das einflußreichste, verbreitetste und bedeutendste Werk der lutherischen Erbauungsliteratur sind. Die Veranlassung seines Werkes ist nach Arndts eigenem Zeugnis die Krise eines Christentums, dem es an Frömmigkeit fehlt: „Viele meinen, die Theologie sei nur eine bloße Wissenschaft und Wortkunst, da sie doch eine lebendige Erfahrung und Übung ist. Jedermann studiert jetzo, wie er hoch und berühmt in der Welt werden möge, aber fromm sein will niemand lernen" (I. Vorr. 2). Arndts Entdeckung zur Überwindung der Gespaltenheit von Lehre und Leben und zu einer Übertragung der Lehre ins Leben und ihrer Verwirklichung in der Praxis ist das Leben Christi. Omnia nos Christi vita docere potest (ebd.). Daß Arndt in diesem Zusammenhang von Christus spricht, zeigt deutlich, daß er den irdischen Jesus und den Erhöhten nicht trennen will. Wenn Arndt in der Vorrede (4) sagt, der Christ bekomme mit der gebotenen Lektüre Anleitung, „wie du nicht allein durch den Glauben an Christum Vergebung deiner Sünden erlangen sollst", so zeigt ein solcher Halbsatz, daß das Grundanliegen und die Grundentdeckung der Reformation in der dritten Generation allzu

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bekannt und wirkungslos geworden ist; es geht Arndt darum, „wie du die Gnade Gottes recht gebrauchen sollst zu einem heiligen Leben". Das mit Hilfe mystischer Begrifflichkeit geschilderte christliche Leben hat natürlich keinen satisfaktorischen Charakter (Vorr. zu I, 6).

Gegenüber der schon von Zeller als problematisch erkannten Sicht Koepps, dem Arndts Frömmigkeit als Synkretismus erscheint, konnte Weber (101—109) durch Textvergleiche überzeugend demonstrieren, daß die mystischen Vorlagen Arndts durch den Filter lutherischer Dogmatik gegangen sind. Die Methoden, deren sich Arndt bei der Übernahme des gelegentlich heterogenen Stoffes bediente, sind von Weber (40) zutreffend als Eliminierung, Kommentierung, Biblisierung und Laisierung bezeichnet worden. Der Nachweis der theologischen Entscheidung im einzelnen bei einer scheinbar ekletizistischen Methode steht noch aus. (Zum Auswahlprinzip Arndts vgl. auch Beyreuter: Gesch. des Pietismus 36 f.) Der zweite kühne Griff, den Arndt tut, ist die sehr starke Einbeziehung der Naturphilosophie des Paracelsus. Sowohl er als auch Joh. —»Gerhard wollten bzw. sollten Medizin studieren; —»Tersteegen betätigte sich als Hersteller volksmedizinischer Mittel. Eine ganze Reihe von Pietisten und ihre Vorbilder hatten eine starke Affinität zur Medizin. Die Untersuchung der Bedeutung von Naturphilosophie und -mystik auf diese Kreise ist ein dringendes Desiderat. Arndt verfährt in seinem Liber naturae nach einer Konkordanzmethode. Er bringt auf die Natur bezogene Kenntnisse und Spekulationen in Ubereinstimmung mit den Aussagen der Schrift und betrachtet außerdem die Natur mit Hilfe der —»Makrokosmos-Mikrokosmos-Vorstellung symbolisch oder emblematisch. Die Konkordanzmethode findet Anwendung im Interesse einer universalen oder ganzheitlichen Auffassung und Betrachtung: „ d a ß man sehe, wie die Schrift, Christus, Mensch und die ganze Welt übereinstimme (III, Vorr. 2). Arndt gehört geistesgeschichtlich in den großen Zusammenhang der —»Pansophie (Peuckert); in Anbetracht der Stellung, die Christus bei Arndt hat, könnte man auch von einer Christosophie sprechen. Man soll Christus ergreifen mit dem Verstand, dem Willen und herzlicher Liebe. Zwar ist es nichts nütze, Christus durch bloße Wissenschaft zu erkennen und lieb zu haben, es heißt aber auch: „aus der wahren Erkenntnis Christi kommt auch die Liebe Christi (III, Vorr. 3). Es gibt „zweierlei Wege, Weisheit und Erkenntnis zu erlangen: der erste durch viel Lesen und Disputieren, die man heißet Gelehrte; der andere durchs Gebet und die Liebe, und die heißet man Heilige" (III, Vorr. 3). Empfohlen wird der zweite, weil man nur auf ihm den inwendigen Schatz finden kann. Aber Arndt verteidigt dabei auch, daß die Betrachtung der Natur zum wahren Christentum gehört, denn die Kreaturen führen uns zu Gott und Christo (III, Vorr. 2). Ein wahrer Christ soll „der Kreaturen gebrauchen zur Erkenntnis, Lob und Preis Gottes" (IV, Vorr. 4), der „größeste Bote und Gesandte Gottes aber, und das größeste Geschenk und die stärkste Hand Gottes, die uns zu Gott führen soll, ist Jesus Christus, Gottes Sohn" (IV, Vorr. 7). Als Symbol hat die Natur zwei Bezüge und Bedeutungen, sie ist „Symbol der göttlichen Wirklichkeit und zugleich Symbol der Innerlichkeit" (Zeller, Luth. Lebenszeugen 183; ders. Luthertum 45 ff). Wenn man bedenkt, wie weitgehend die Eschatologie bei Arndt zurücktritt - kein einziges Kapitel seines Wahren Christentums handelt vom Tod - dann erscheint es folgerichtig, daß die Amdtausgaben etwa ab 1679 (Rigaer Ausgabe) P. —»Gerhardts „Geh aus, mein Herz, und suche Freud" mit abdrucken (hinter IV,3) — als Zeugnis für die Schönheit der Welt. Sie ist zwar nicht schön „an sich", sondern als Abbild der Ewigkeit, dennoch führt von hier aus eine Linie zur Naturfrömmigkeit der Aufklärung.

Am Ende seines umfangreichen Werkes betont Arndt, daß das wahre Christentum als Fundament den Glauben an Christus hat (Beschluß 1). Die Liebe zu Gott ist eine Frucht des heiligen Geistes. Dennoch rechnet der Autor damit, wir könnten neben dem Wort Gottes in der Heiligen Schrift auch aus dem Buch der Natur und aus dem Licht der Natur von unsrer Pflicht überzeugt werden, Gott zu lieben wegen seiner Liebe, die uns in allen Kreaturen begegnet. „Und solch Argument aus der Natur überzeugt alle Menschen, er sei Heide oder Christ, gläubig oder ungläubig (Beschluß 3). Dieser Universalismus in einer Zeit ängstlicher konfessionalistischer Selbstverteidigung ist erstaunlich. Über—»Raimund von Sabunde ist Arndt offenbar angeweht vom Geist des R. —»Lullus, der auf gnadenhafte Weise eine Methode zur religiösen Diskussion mit den Arabern empfangen zu haben glaubt. Auch an —»Nikolaus von Kues und seine für möglich gehaltene glaubensmäßige Einigung zwischen Christentum und Islam ist zu erinnern (Cribratio Alkorart). Nicht um Mission geht es Arndt, er betont ausdrücklich, daß er nicht für Heiden, sondern für Christen geschrieben habe (Be-

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Schluß 2), aber es taucht doch die Vorstellung einer Menschheit auf, die aufgrund einer Erkenntnis der Natur etwas Gemeinsames bezüglich ihrer Pflichten gegen Gott entdecken kann. Hier sind Elemente angedeutet und vorgebildet, die eine zentrale Überzeugung der —•Aufklärung wurden (vgl. —»Lessings Ringparabel). J. —•Gerhard schrieb im Alter von 22 Jahren als ein vom Tod Angerührter seine Meditationes sacrae. Der Titel (—»Meditation) weckt die Erinnerung an große Vorbilder. In derDedicatio nennt Gerhard selbst Augustin, Bernhard, Anselm, Tauler und andere, „quorum dicta huic enchiridio aliquoties inspergo, nuspiam tarnen ... auctorum nomitia addo, sicut nec scripturae loca annoto verebar enim, ne legentium meditatio turbaretur". Wenn man von Arndts dickleibigem, mit Bibelzitaten überladenen Werk herkommt, wirken die Meditationen Gerhards unkompliziert, erfrischend und — trotz des Lateins — volkstümlich. Hier redet kein frommer Gelehrter, sondern ein gelehrter Frommer, der sich an einefidelis anima (21) oderdevota anima (46) wendet, zunächst offenbar immer an die eigene Seele. Die Meditationen sind ein einziger Lobpreis der sola gratia geschehenen Rechtfertigung. Die Betrachtung der Passion Christi hat stets den von Luther geforderten existentiellen Bezug. Das „für uns" steht in der Mitte von Gerhards Reflexion und Anbetung, die Soteriologie ist die Mitte seiner Christologie und Theologie (vgl. 21). Diesem theologischen Zentrum entspricht ein sehr starkes Sündenbewußtsein, die Freude an der Erlösung, die mit Bildern der Brautmystik (13) beschrieben wird, und als Folge ergibt sich die Ablehnung aller Lustbarkeit (32), eine Distanz zur Welt, die gefordert und gefördert wird durch die Betrachtung der Flüchtigkeit des gegenwärtigen Lebens (38), der Eitelkeit der Welt (39), die tägliche Betrachtung des Todes (43) und anderer auf Himmel und Hölle bezogener Themen. Bei den mit der—»Nachfolge (30) zusammengehörigen ethischen Orientierungen erfährt der Geiz (35) eine besonders scharfe Ablehnung, die Keuschheit (37) wird hoch gerühmt und empfohlen. Gerhard läßt es theoretisch nicht an wiederholten Hinweisen fehlen, daß zum Glauben die Liebe gehört und der Christ seinem Nächsten gegenüber große Verpflichtungen hat, aber das bleibt reichlich theoretisch, die einzige Konkretion ist die Erwähnung des Almosens. Das eigentliche Interesse des Autors gilt nicht der Außenwelt, sondern der eigenen Seele. Sie ist die Quelle des Glücks und des Elends (33). Das Faszinierendste an diesen Andachten sind die knappen, bildhaften, lebendigen Formulierungen, die man beinahe auf jeder Seite antrifft, z. B.: „Was ist so tödlich, daß es nicht weggeschafft werden könnte durch den Tod des Sohnes Gottes?" (19). „Eine treue Mutter reicht ihrem zarten Kindlein beide Brüste dar, und unser Gott sendet uns armen Menschen beide, den Sohn und den Heiligen Geist" (22). „Ist der Mensch, der dir von Gott ans Herz gelegt ist, deiner Liebe würdig, dann liebe ihn, weil er's wert ist, daß du ihn lieb hast. Ist er aber nicht würdig, dann liebe ihn, weil Gott es wert ist, daß du ihm gehorchst" (36). „Wenn die Welt uns bitter geworden ist, dann wird Christus uns süß" (41).

Ein würdiger Fortsetzer dieser Tradition ist Joachim Lütkemann (1608—1655) mit seinem Werk Der Vorschmack göttlicher Güte. Der Titel „Vorschmack" (zum Begriff des Schmeckens vgl. Arndt 1,36) ist einerseits identisch mit „Schmack" im Sinne von Geschmack, innerlicher Erkenntnis bzw. Empfindung, z.B. in der Kapitelüberschrift I, 12: „Wie durch den Schmack göttlicher Güte die Welt bei uns verschmähet werde" oder in der Wendung „Schmack der Andacht" (579; Zitate nach der Erstausg.), andererseits ist aber auch durchaus gedacht an „einen Vorschmack des ewigen Lebens" (4; 776). Güte erklärt der Verfasser folgendermaßen: „Gütigkeit ist ein geneigter Wille immerdar Gutes zu thun nach äußerstem Vermögen/von Hertzensgrund/mit freudigem Gemüth/auch ohn einige vorhergehende Verschuldung" (9). In diesem Sinn läßt Gott seine Güte unser ganzes Leben lang über uns ausgebreitet sein. — Sie hört auch nicht auf, wenn Gott unser Gebet nicht nach unserem Willen erhört (1,16). Sie ist besser als Leben (Ps 63,4; 221). Zum Hinweis auf die Fülle der Wohltaten wird das alte Schema Natur und Gnade verwendet: „Uns stehet ein zweyfacher Garten offen; der eine Theil heißt Libanon/der andere Theil Zion; In dem einen stehen mannigerley Blumen und Bäume, welche die Natur hervorgebracht: In dem andern stehen die Kräuter/die der Geist und die Gnade JEsu Christi hervorbringt." Es sei ein sehr guter Rat, nicht unabhängig voneinander an Gottes

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Güte und unsere Unwürdigkeit zu denken. „So wir auf unsere Nichtigkeit allein sehen/werden wir traurig und zaghaftig; sehen wir auf die Güter alleine/damit wir begäbet seyn/werden wir stolz und vermessen" (58). Wenn etwas Gutes in dem Buch sei, gebühre Gott und dem lieben Kreuz dafür Dank. Der Autor will sich an die wenden, die die Güte Gottes schon erkannt und ihr Herz von der Welt abgewandt haben. Lütkemann zitiert Arndts Informatorium biblicum ausdrücklich (Erstausg. 772). In dem zitierten Abschnitt kommt der Begriff der Verschreibung vor, aber es ist nicht wie bei Tersteegen (Mohr, Tersteegens Werk 1 9 9 - 2 2 5 , Text des Blutbriefes 210f) eine Verschreibung an Gott gemeint, sondern umgekehrt eine Verschreibung Gottes dem Menschen gegenüber. Reiler hat an einigen Beispielen deutlich gemacht, daß Lütkemann von Arndt beeinflußt ist. Dort wird Lütkemann nicht nur als Erbauungsschriftsteller, sondern aufgrund seiner Regentenpredigt (Auszug ed. Holbom, Wallmann: Herzog August Anm. 1) zugleich als nicht unpolitischer, sondern sozialkritischer Hofprediger charakterisiert. Wallmann (ZThK 74) verweist in diesem Zusammenhang auf den Gegensatz Lütkemanns zur Helmstedter Theologie. Ein Symptom für die Wirkung Lütkemanns ist die Tatsache, daß sein „Vorschmack" in den frühen collegiis pietalis Speners in Frankfurt gelesen wurde (Martens 172; H. Lütkemann 139). Motivgeschichtlich interessant sind die Ausführungen über die Schönheit der gläubigen Seele (11,16), wovon bereits —»Hugo von St. Victor geredet hat. In De Imitatione Christi 111,1 entspricht die gläubige Seele der schönen (vgl. Arndt 11,39). Arndt spricht von der Gleichförmigkeit der menschlichen Seele mit Gott (1,1,1). Ein Nachklang der pietistischen Vorstellung von der Seelenschönheit liegt vor in den „Bekenntnissen einer schönen Seele" (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 6. Buch). Lütkemann greift zur Hervorhebung des Adels der menschlichen Natur außer dem biblischen Begriff der Ebenbildlichkeit (—»Bild Gottes; Arndt 1,1) die Analogie Makrokosmos-Mikrokosmos in Verbindung mit dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht auf (601) und folgert aus der Schönheit der Felder und Wälder, der Gärten, Wiesen und Brunnen nicht wie Paul Gerhardt in seinem ebenfalls 1653 entstandenen Lied „Geh aus mein Herz" die Schönheit von „Christi Garten" oder wie das Lied „Schönster Herr Jesu" (vgl. Bonaventura, Soliloquium 46) die größere Schönheit Jesu im Vergleich mit der Natur, sondern die Schönheit der von Gott erschaffenen Seele. Die im —»Barock sehr symbolträchtigen Farben weiß und rot (Mohr, Der unverhoffte Tod 1 6 0 - 1 6 6 ) werden von Lütkemann auf die Unschuld und Schamhaftigkeit (Demut) der Seele bezogen (609). Ihre Schönheit ist nicht die Ursache der Liebe Gottes, sondern umgekehrt: die Liebe Gottes ist die Ursache für die Schönheit der Seele. Die Schwärze der Seele wird von Lütkemann nicht wie bei Heinrich Müller (Geistliche Erquickstunden, 196. Andacht) mit der Erbsünde, sondern mit dem Kreuz in Verbindung gebracht. Die Seele eines Gläubigen ist schöner als die Adams, weil Christus in seiner Demut und seinem Gehorsam Gott angenehmer ist (613; vgl. M. Schmidt, Teilnahme). Noch einmal wird weitschweifigife Farbe rot allegorisch auf Christus bezogen. Er ist das arme Blutwürmlein, aus dem die Purpurfarbe gepreßt wird (620; zum Keltermotiv s. Mohr, Der unverhoffte Tod 163).

Die Lieder Lütkemanns, von denen sich einige lange in Gesangbüchern gehalten haben, finden sich zusammen mit Psalmenauslegungen in seiner Harpffe von Zehen Seyten. Das Werk verdiente eine traditions- und auslegungsgeschichtliche Untersuchung, besonders im Blick auf mögliche mystische Motive und auf die Verwendung der allegorischen und typologischen Methode. Die Stichworte weiß und rot begegnen uns auch hier wieder. Im Hof Gottes wachsen weiße und rote Blumen durcheinander. Mit den einen krönt er die Märtyrer, mit den andern diejenigen, die sich mit der weißen Seide der Unschuld (Apk 20,4) bekleidet haben (710). Wie Lütkemann, so hat auch sein Schüler Heinrich Müller (1631-1675) in einem ebenfalls zweigeteilten Erbauungsbuch eine Eigenschaft Gottes als das Entscheidende herausgestellt. Bei Lütkemann ist es die Güte, bei Müller die Liebe Gottes. „Daß aber heute alles so Weltlich ist/kömpt daher/weil Gott mit seiner Liebe nicht besser ins Hertz gepredigt/und also von ihnen nicht recht erkant noch gefasset wird" (Himmlischer Liebes-Kuß, 1659; Seitenzahlen nach der 3. Aufl.). Gelegentlich wird in der Absicht, diese Liebe Gottes mit Bildern großer Herzlichkeit und Zärtlichkeit zu beschreiben, Gott nicht nur anthropomorph, sondern sogar feminin vorgestellt. Auf S. 7 sind die Brüste Gottes erwähnt. Taylor gebraucht dieses Bild für die Kirche, die ihre Kinder mit ihren zwei Brüsten, dem Alten und Neuen Testament, ernährt (Schmidt, Die,Geistliche Bad-Cur' 35 f). Auf S. 8 findet sich das Bild der Gluckhenne, das man aus Paul Gerhardts im Jahre 1647 entstandenem Abendlied

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„Nun ruhen alle Wälder" (EKG 361,8; Cranach Sichart: 38,8) kennt. (Gerhardt kommt also, falls eine Abhängigkeit gegeben ist, die Priorität zu.) Gegen Ende des Buches kehrt das Bild von den Brüsten noch einmal wieder, aber nun werden diese Jesus von dem Glaubenden gereicht. „Der Glaube küsset JEsum . . . Der Glaube reichet dem Heyland die süsse Liebes-Brüste/aber mit reiner und lauter Milch, daran sauget er wie ein Kind an der Mutter Brüsten" (909).

Man darf aus solchen Stellen nicht den Schluß ziehen, der Ton des ganzen Werkes sei schwülstig erotisch. Es weht hier vielmehr ständig nordisch rauhe protestantische Luft. Gott liebt den Menschen, „weil er [Gott] sich selbst liebet/und sich selbst im Menschen/als ein Bilde im Spiegel schauet" (9). Damit unsere Liebe gegen Gott entzündet werde, ist er ein Kind geworden; denn Kindlein will jedermann gern auf den Händen tragen, herzen und küssen. Die Erleuchtung des Menschen geschieht nicht durch das natürliche, sondern durch das Gnadenlicht (vgl. Paracelsus), d.h. durch Gottes Wort. „Ohne Wort wollen erleuchtet seyn/ist ohne Brot wollen satt/und ohne Wasser rein werden. Und daher kömpts/daß wenig erleuchtet werden/weil bei wenigen das Wort GOttes Krafft hat/denn der Buchstab erleuchtet nicht/sondern die Krafft. Was kan die Sonn darzu/daß man ihr Licht und Wärme nicht empfindet/wenn man die Augen zuhält?" (138). Müller wendet sich gegen das Argument, man könne zuhause genug lesen. Zum Wort Gottes gehört die lebendige Stimme der Verkündigung. In ihr ist nach Mk 10,20 der Heilige Geist (147). Eine gesunde Seele hat Hunger nach dem Wort. Aber nur äußerliches Hören macht Heuchler, man muß innerlich hören durch die Kraft des Geistes. Innerliches Hören bedeutet: die Weltgedanken aus dem Herzen vertreiben. Manche Christen bringen sich um die Erbauung, weil sie zu viel auf die Person des Predigers sehen. „Wer das Wort im Glauben annimmbt/der hat die lebendige Erfahrung und fühlet Gott also in seinem Hertzen" (154). Wie Lütkemann von der Schönheit der gläubigen Seele handelt (Vorschmack 11,16), so Müller im Himmlischen Liebes-Kuß von ihrem Adel (11,7). Er übernimmt (903) auch dessen Bild von der Seele als einem Spiegel (Lütkemann 631). Wie die Zunge keine Süßigkeit der Speise schmecken kann, wenn sie vorher mit Wermut und Galle bitter gemacht wurde, „so wenig mag auch das Welthertz etwas schmäcken von der süssen Krafft des Wortes" (907). Im Zusammenhang mit dem Geistlichsein des Christen und der Weltabkehr spielt das Thema Tod bei Müller im Gegensatz zu Arndt wieder eine beträchtliche Rolle. Jinis cinis: das Ende Asche" (721). „Wir leben nicht darumb/daß wir alt werden/der Zweck unserer Jahre ist Weisheit/und ein heilig Leben" (726). „Leben ist nichts anders/als Sterben/und je länger wir leben/je mehr sterben wir" wie ein Licht, das sich brennend verzehrt (737). S. 748 ff gibt Müller Regeln für die heilige Lebenskunst, die zu einem seligen Tod bereitet: „je weniger Fleisch/je süsser Todt Ein Mensch/der irdisch gesinnet ist/gehet schwerlich aus dieser Welt" (750). „Die Heiligen haben das Leben nur geduldet/den Tod gewünschet" (751). „Der Geburts-Tag ist ein Anfang/der Todes-Tag ein Ende alles Jammers" (754). Diese ganze Abwertung des Lebens geschieht in dem Bestreben, das Herz für das Wort Gottes aufnahmefähig zu machen. „Christus spricht: Meine Worte sind Geist und Leben/daher muß das Hertz nicht weltlich/nicht fleischlich/sondern geistlich seyn" (906). Das Buch, dem es gelungen ist, Arndts Wahres Christentum stellenweise zu verdrängen und zu ersetzen, ist des hessischen Pietisten Johann Friedrich Starcks (1680-1736) Tägliches Handbuch in guten und bösen Tagen (Erstausg. Leipzig/Magdeburg 1612; zu den weiteren Ausgaben s. Große 3 4 0 - 3 5 8 , zu dem Buch selbst neustens Dienst). Um noch auf eine besondere Form des Erbauungsbuches aufmerksam zu machen, eine Mischung aus Verteidigungsschrift, Tagebuch und Autobiographie mit der Tendenz, die göttliche Führung nachzuzeichnen, pietistische Verhaltensweisen und das eigene Leben und das Sterben der Ehefrau als „Exempel" - so bezeichnet Reitz seine Lebensbilder in der „Historie" — des Wiedergeborenseins darzustellen, sei auf Ägidius Günther Hellmunds (1678-1749) Wetzlarisches Andencken (Conradi; Steitz 2 1 2 - 2 1 7 und die Aufsätze von Mohr zu Hellmund) hingewiesen. Geht man von der Erbauungsliteratur aus oder von der Selbstkritik der lutherischen Orthodoxie (Schleiff) oder den Reformideen (Leube), so wird, wie Wallmann (Pietismus u. Or-

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thodoxie) mit Recht hervorgehoben hat, für die Pietismusforschung die Frage dringlich, worin denn nun eigentlich das entscheidend Neue dieser Richtung zu sehen ist. 4. Bedeutende Vertreter reformierter

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An erster Stelle ist hier der in seiner Bedeutung mit Spener vergleichbare Th. -*Undereyck zu nennen, dessen der Landgräfing Hedwig Sophie von Hessen gewidmete Braut Christi in erster Auflage 1670 in Hanau und die zweite 1697 in Kassel erschien. Der Titel bezieht sich, wie die Widmung hervorhebt, auf Cant 2,2: „Wie eine Rose unter Dornen/so ist meine Freundin unter den Töchtern." Wie Christus während seines Erdenlebens unter Dornen versetzt war, so heißt es auch für jemand, der in sein Reich als Glied seiner Braut—die Braut ist also die Gemeinde—„übergesetzt" ist: Hora lucis, hora crucis. Undereyck klagt, auch in seinem irdischen Vaterlande fänden sich Prediger und Zuhörer, die zu Spöttern eines heiligen Wandels geworden seien und die Verkündigung eines geistlichen Lebens und die wahre Kraft der Gottseligkeit für eine neue Schwärmerei hielten und diejenigen, die einem himmlischen Wandel zugetan seien, für eine Sekte erklärten. Dies habe ihn vor zwei oder mehr Jahren veranlaßt, auf Mittel zu sinnen, wie das die Ehre Christi kränkende Geschwätz zum Verstummen gebracht werden könne. Seine „wenige Arbeit", sein bescheidenes Werk, sei ein geringes Zeugnis seiner hohen Verpflichtung. Was schon im Titel angedeutet ist, sagt der „Vorbericht An den Christliebenden Leser" noch einmal ganz klar: Die Schrift hat apologetischen Charakter, und die meisten verhandelten Themen sind verursacht worden „durch eine hönische Lästerung von der Christscheinenden Welt". Undereyck stützt seine Ausführungen durch Auszüge aus anerkannten Autoritäten. An erster Stelle führt er Verse aus Kirchenliedern an (EKG 48,4; 76,6; 97,2; 99,3; 46,3). Sie stammen alle von Lutheranern: eins von Philipp Nicolai, drei von Luther und eins von Elisabeth Cr(e)utziger. Natürlich sind die Reformierten auch reichlich vertreten. Für den Historiker liegt der Wert von Undereycks Werk hauptsächlich in der Quellendarbietung bzw. in der Vermittlung vor allem niederländischer und puritanischer Erbauungsliteratur an den deutschen Leser.

Der Verfasser eines zweiten wichtigen reformierten Erbauungsbuches ist Wilhelm Dietrich , latinisert Dieterici. Er war von 1671-1674 Hofprediger bei der Äbtissin Elisabeth von der Pfalz in Herford. Sein Nachfolger wurde der Labadist Reiner Copper. Graf Simon Heinrich zur Lippe holte Dieterici 1674 als Stadtprediger nach Detmold. Hier scheiterte er aber schnell wegen seines pietistischen Drängens, und die Gemeinde war froh, daß er schon 1675 einem Ruf nach Lippstadt folgte. In Detmold entstand Der wahre Inwendige und Auswendige Christ (Butterweck 367). Die Vorrede seines Erbauungsbuches hat Dieterici am 23. Juni 1680 unterzeichnet. Die Märkische Synode approbierte dieses Buch schon 1677, die Generalsynode 1680 (Rosenkranz, Generalsynodalbuch 1,187, § 38). Weitere Auflagen erschienen 1698, 1710 und 1739. Die beiden Teile des sehr umfangreichen Werkes von Dieterici enthalten gewissermaßen eine pietistische Dogmatik und Ethik. Teil I beginnt mit dem herrlichen Zustand der ersten Menschen vor dem Sündenfall und kommt danach auf das zu sprechen, was nach dem Fall noch von der Gottesebenbildlichkeit übrig ist, aber nicht zur Seligkeit ausreicht. Der zweite Teil beginnt mit der Definition, was der auswendige Christ sei bzw. mit der Feststellung, welche vornehmen äußeren Pflichten er gegen Gott, gegen sich selbst - das ist ja auch ein beliebtes Kapitel in den Aufklärungsgesangbüchern—und gegen seinen Nächsten hat. Auswendig, so wird betont, soll natürlich nicht heißen, daß diese Pflichten ohne inwendige Kraft und die seligmachende Gnade verrichtet werden könnten oder heuchlerisch nur äußerlich ohne Beteiligung des Herzens getan werden sollten. Es folgt ein Abschnitt, der darlegt, warum sich ein wahrer Christ notwendig auch in den auswendigen Stücken vor Gott aufrichtig, heilig, eifrig und unsträflich erweisen müsse. Dann werden die Pflichten im einzelnen behandelt, nämlich: 1. Das Hören des göttlichen Wortes; 2. der Gebrauch der heiligen Sakramente; 3. das öffentliche und private Gebet; 4. der Beruf und die täglichen Beschäftigungen; 5. Gespräche; 6. Essen und Trinken; 7. Ergötzungen und Erlustigungen (eine böse Ergötzung ist z.B. das Karten- oder Brettspiel); 8. Kleidung; 9. Umgang mit den Gottlosen; 10. Umgang mit den Frommen. Sieht man diese Liste darauf hin an, wie sich die Pflichten gegen Gott, sich selbst und den Nächsten verteilen, so bleiben für den Nächsten nur zwei Punkte übrig: der Umgang mit Gottlosen und Frommen.

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Der Nachdruck liegt wohl auf den Pflichten gegenüber sich selbst, allerdings nicht in der Weise, daß dargestellt wird, was einem zustehe und man sich gönnen dürfe, sondern so, daß gerade hier immer Verzicht und Selbstverleugnung gefordert werden.

Daß alle Lebensbilder und Modelle eines verinnerlichten Christentums bei G. —*Tersteegens Auserlesenen Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen (1733—1753) aus dem katholischen Bereich genommen sind, spricht wieder für die ökumenische Weite und die konfessionelle Grenzen aufhebende Einstellung des Pietismus. In der Vorrede des 2. Bandes sagt der Verfasser ausdrücklich, daß seine Lebensbeschreibungen zur Auferbauung der Gemeinde bestimmt sind. Auf Argumente der Kritiker einzugehen, erscheint Tersteegen nicht sinnvoll. Oft steht „die Atheistische Vernunfft dahinter/welche einen heimlichen Widerwillen/gegen alles/was etwa ein sonderbares Merckmal eines Unsichtbaren/Gegenwärtigen/Allmächtigen/Allweisen/AUgütigen Wesens von sich strahlen lasset... da hilfft kein disputiren" (3^. Für den Fall, daß er selbst keine Gelegenheit mehr haben sollte, von seinem Werk einen geplanten dritten Band herauszubringen, nennt Tersteegen einige Namen, deren sich dann ein Fortsetzer annehmen könnte, an erster Stelle Madame Guyon (1648—1717). Ihr „ist auch dem inwendigen Leben/durch ihre Schrifften, ein grosses Licht und Gewicht gegeben worden" (4V). Er selbst, schreibt Tersteegen, habe das Vergnügen, „mit Freunden in Bekanntschaft zu stehen/so mit ihr selbst correspondiret haben" (5 r ). Er hat auch später ein Andenken aus ihrem Besitz bekommen (Kostbarkeiten 243 f) und einen Teil ihrer Schriften in deutscher Übersetzung bekannt gemacht. Ein Ausspruch der Margarete von Beaune, auf die Tersteegen ebenfalls in der Vorrede des 2. Bandes hinweist, kennzeichnet treffend die geistige Haltung aller dieser „Heiligen" und zugleich das, was sie für Tersteegen anziehend machte und sie ihm geeignet erscheinen ließen, als Vorbild für andere präsentiert zu werden: „Sie nahm Staub zwischen den Fingern/und sagte: Wir sind nichts als dieses; aber wenn die Gnade gegenwärtig ist/so sind alle unsere Schwierigkeiten nichts als Staub" (unpaginierte vorletzte Seite Vorr. II). Tersteegen hat nichts geschrieben, was nicht zur Erbauung bestimmt war, aber im besonderen Sinn haben als Erbauungsbücher zu gelten die Reden, die er in Erbauungsversammlungen hielt und die nachgeschrieben wurden (Geistliche Reden) und seine Dichtungen, vereint im Geistlichen Blumengärtlein und Der Frommen Lotterie. 5. Katholische

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Ein bedeutsames Werk erbaulicher Literatur der Gegenreformation ist Aegidius Albertinus' Hirnschleiffer, von dem 1618 gleich drei Ausgaben erschienen (v. Gemert). Literarischen Rang darf auch J. —»Schefflers Angelus Silesius wegen seiner Geistreichen Sinn- und Schlußreime (1657) = Der cherubinische Wandersmann (1690), seiner Liedersammlung Heilige Seelenlust oder Geistliche Hirtenlieder der in ihren Jesum verliebten Psyche (1657 2 1668) und der Sinnlichen Beschreibung der vier letzten Dinge (1675) beanspruchen. Wie weit seine Rolle als zum Katholizismus konvertierter Apologet und Polemiker seine (mystische) Dichtung beeinflußt hat, ist eine offene Frage. Die einflußreichste Erbauungsschrift romanischer Herkunft im Katholizismus sind zweifellos die Geistlichen Übungen (—»Exerzitien) von Ignatius v. —»Loyola (—»Jesuiten). 6. Aufklärung „Sprich unverzagt, wie's kommt ins Maul/von Wind und Wetter, Karr'n und Gaul,/von Brache, Mist, Ochs, Eselein,/von Hühnern, Gänsen, Kuh und Schwein/von Frohnen, Kirchweih* und dergleichen,/vo Flegelei und dummen Streichen/von Branntweinsaufen, Prozessieren,/von Blatternimpfen und Klistieren/auch mische drunter, hier und dort, ein wenig was aus Gottes Wort/mach vorn und hinten und mitten hinein/ä la Hans Sachs ein Reimelein/zitier aus's Hilfsbüchlein die Kreuz und die Quer,/so hast gepredigt populär" (1794 in Beyers Predigtmagazin, zit. bei Krause 139 f). Wer sich überzeugt, daß nach dieser Anweisung tatsächlich gepredigt worden ist, daß das Wort Gottes dazu mißbraucht wurde, nur alltägliche und absolut weltliche Themen zu liefern (Graff 11,124; Niebergall 310), der

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wundert sich, daß es überhaupt innerhalb dieser Geistesströmung, bei der man freilich zwischen Physikotheologie, Supranaturalismus, Neologie und Rationalismus unterscheiden muß, so etwas wie Frömmigkeit und Erbauung geben kann. Aber an Erbauungsbüchern herrscht kein Mangel (Beck, Volkslitteratur 2 5 4 - 2 8 3 ; Große 5 8 0 - 5 9 9 ; Niebergall 311; TRE 4 , 6 0 0 , 2 1 - 2 6 ; 603,1-5), und sie übernehmen die Predigteigenart der Aufklärung, wie z. B. Christian Samuel Ulber in Der rechtschaffene Naturalist mit seinem christlichen Auge und Herzen bey natürlichen und weltlichen Dingen (Basel 3 1807; Beck, Volkslitteratur 620). Da es der Aufklärung nicht nur um das —» Licht—die Bedeutung der Lichtsymbolik hat besonders Philipp hervorgehoben — für den Verstand ging, sondern auch für das Herz und Gemüt, wird aus der Erbauung nun oft eine Erbaulichkeit im Sinne der Sentimentalität und des kitschig „Weihevollen". Aussagen über die Sünde, den Zorn Gottes, den Glauben oder die Trinität wird man vergeblich suchen, dagegen kommt der erste Artikel des Glaubensbekenntnisses zu Ehren und werden die Probleme „Glauben und Verstehen" und „Glaube und Naturwissenschaft" in der Form einer Synthese behandelt. Bezeichnend sind die zahlreichen Theologien, die alle bei einer Naturgegebenheit wie den Sternen, der Erdkugel, dem Feuer, dem Wasser, Vögeln, Schalentieren, Insekten, Steinen, Heuschrecken usw. ihren Ausgangspunkt nehmen und beweisen wollen, daß Gott existiert, und zwar als „ein allergütigstes, allweises und allmächtiges Wesen" (Beck, Volkslitteratur 257). Diese Werke führen klangvolle Namen wie Astro-, Physiko-, Pyro-, Hydro-, Petrino-, Testaceo-, Insecto-, Litho-, Akrido-Theologie (Beispiele bei Beck, Volkslitteratur 274 f; Philipp, Zeitalter LXI, und die Auszüge aus Friedrich Christian Lessers Litho- und Testaceotheologie ebd. 8 0 - 9 4 ) . Im 8. Band von Barthold Heinrich Brockes' Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten (Tübingen 1750; zu Brockes: Wodtke; Wolff; Philipp, Werden bes. 157-161, Werkverz. ebd. 189) findet sich am Schluß in Prosa Eine Lehr-reiche Geschichte, die in nuce alles enthält, was in der Aufklärung unter Erbauung verstanden wird. Zum Verständnis des Wortes Vergnügen im Titel ist wichtig, daß das entsprechende Wort (ebd. 561) synonym gebraucht wird mit „uns täglich damit beschäftigen" (vgl. auch Benjamin Schmolcks Gebetbuch Himmlisches Vergnügen in Gott, spätere Ausg. Reutlingen 1872, Basel 1897). Der deutsche Edelmann Mirander gelangt nach einem Schiffbruch auf eine Insel, die offenbar nur von einer Familie, einem Elternpaar mit einem etwa achtjährigen Sohn (das Robinsonmotiv und Anklang an —»Rousseaus Erziehungsideale im Emile) bewohnt wird. Der Mann, ein ehrwürdiger Greis (vgl. die Gestalt des Einsiedlers, des Grafen von Hohenzollern, in —»Novalis' Heinrich von Ofterdingen), hat reiche Welterfahrung und Kenntnis der verschiedenen Religionen. Die Quintessenz seines Denkens, die zugleich sein Glaubensbekenntnis ausmacht, besteht in dem berühmten Dreiklang: Gott, Tugend und Unsterblichkeit. Erbauung, die „Ausübung unserer Christen-Pflichten" (562), „Andacht" (563) oder Gottesdienst (569) bedeuten auf dieser Grundlage immer „auf Bewunderung, Ehrfurcht und Andacht abzielende, Vorstellungen" (563) zu haben, auf bestimmte Wahrnehmungen „einige Pflichtgemäße Gedanken zu wenden" (569) und auch die „ A r b e i t . . . mit angenehmen Gedanken zu versüssen" (571). Die dankbaren Gedanken wenden sich nach der von Brockes empfohlenen „Einrichtung und Ordnung unserer täglichen Beschäftigung" (562) „auf den Schlaf, als ein Wunder der Natur und Gabe des uns liebenden Schöpfers" (562) und auf den Aufgang der Sonne als einen herrlichen Spiegel der Gottheit; bei der Mittagsmahlzeit „ermangeln wir nicht, auf die zu solcher Lust uns auf eine so bewundernswerthe Art zugerichteten Werkzeuge der Zunge, des Gaumens etc. nicht weniger der den Speisen beygelegten Nahrungs-Kraft, einige Pflichtgemäße Gedanken zu wenden" (569). — Als Erbauungshilfe bei der Morgenfeier dient gelegentlich „des unvergleichlichen Miltons Morgen-Gebet unserer ersten Eltern bey Erblickung der aufgehenden Sonne" (563).

Damit ist auf eine sehr folgenreiche Entwicklung hingewiesen: In Zukunft wird in zunehmendem Maße Dichtung an die Stelle der Erbauungsliteratur treten. Als solche las man außer Miltons Das verlorene Paradies (1667, erw. 1674, dt. 1682), das —»Klopstock zu seinem Messias anregte, auch Oliver Goldsmith's The Vicar of Wakefield (1766, dt. 1841), ein Buch, das kaum ein Pfarrerroman genannt werden kann und im wesentlichen von den Plagen eines Vaters heiratsfähiger Kinder handelt.

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Für einen von dem Geistlichen Dr. Primrose als Schwiegersohn abgelehnten —»Freidenker macht der sechzehnjährige Pfarrersohn geltend, der Himmel werde einem nicht das zur Last legen, was einer denke, sondern was er tue (vgl. De imitatione 1,3, 24). Die Aufklärung schließt auch die Heiden nicht von der Seligkeit aus (TRE 4,606, 1 3 - 1 6 ) . Die Pfarrfrau vertritt den Standpunkt, auch Freidenker könnten erfahrungsgemäß gute Ehemänner abgeben und könnten außerdem bekehrt werden. Die meisten dramatischen Ereignisse: Entführung einer Tochter, das Eingehen einer Scheinehe, ein Brand, ein Duell, Gefängnisaufenthalt und zu erwartende Todesstrafe führen überraschend zu einem happy end, die Tragik wandelt sich wie in der im 8. Kapitel eingefügten Ballade zur Idylle (zu Vorstellungen vom idyllischen Pfarrhaus s. Mohr, Pfarrhaus). Das Buch enthält en passant gescheite Bemerkungen: über die Monarchie, die Wirkung des Strafvollzugs, das erbärmliche Los der Lehrer, über Erfolgsautoren oder über die Nachteile für den Schwächeren bei ungleichen Verbindungen zwischen Armen und Reichen - alles Lebensklugheiten und Ratschläge, wie die Aufklärung sie schätzte. Die entscheidende Grundüberzeugung aber ist, daß die Guten zuletzt die Glücklichen, die Bösen aber die eigentlich Unglücklichen sind (dt. Ausg. 2 4 3 . 2 7 1 ) , was auch mit Ps 3 7 , 2 5 gesagt werden kann (26 f). Der Landpfarrer als Vertreter dieses optimistischen Glaubens verkörpert die dazu passenden Tugenden der Demut, Bescheidenheit, Ergebung in das Schicksal, Vergebungsbereitschaft und die Hoffnung auf ein besseres Jenseits. Was das 18. Jh. an diesem Werk geschätzt hat, ist zu ersehen aus dem Urteil Goethes, der den „Landpriester von Wakefield" schon im Werther (I, 16. Juni) erwähnte. In Dichtung und Wahrheit (11,10) heißt es, daß sei einer der besten Romane, „die je geschrieben wurden, der noch überdies den großen Vorzug hat, daß er ganz sittlich, ja im reinen Sinne christlich ist, die Belohnung des guten Willens, das Beharren bei dem Rechten darstellt, das unbedingte Zutrauen auf Gott bestätigt und den endlichen Triumpf des Guten über das Böse beglaubigt, und dies alles ohne eine Spur von Frömmelei oder Pedantismus. Vor beiden hatte den Verfasser der hohe Sinn bewahrt, der sich hier durchgängig als Ironie zeigt, wodurch dieses Werkchen uns ebenso weise als liebenswürdig entgegenkommen muß. Der Verfasser, Doktor Goldsmith, hat ohne Frage große Einsicht in die moralische Welt, in ihren Wert und ihre Gebrechen". Es finden sich in Goldsmith's R o m a n gerade jene Züge eines Reformwillens und eines auf Praxis und Menschenbesserung gerichteten praktischen Christentums, das seine Parallele oder Wurzel im Pietismus hat (Laag), die Scholder als Wesensmerkmale eines eigentümlichen Charakters und Lebensgefühls der deutschen Aufklärung gegenüber einer theoretischen und dogmenkritischen Bewegung in Westeuropa ansieht. So gewiß es richtig ist, zwischen einer in und mit der Kirche sich vollziehenden und einer gegen sie gerichteten Aufklärung zu unterscheiden, so problematisch erweist sich eine Trennung nach Ländern. Bei diesem freilich nicht entbehrlichen Schema gilt es, die von Philipp so stark hervorgehobenen geistigen Beziehungen zwischen England und Deutschland zu beachten, wogegen sich die antiklerikale Emphase eines Voltaire ( M ö n c h ) stark abhebt. 7. Dichtung

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A. Schöne (Säkularisation 2 3 f, Anm. 4 6 ) hat darauf aufmerksam gemacht, daß eine Äußerung Speners über die Kraft, die er aus dem Lesen von Gryphius' Trauerspiel Catharina von Georgien zog, nicht bedeutet, dieses Stück weltlicher Literatur sei bei ihm an die Stelle von Bibel und Erbauungsliteratur getreten, sondern, daß er das D r a m a „im Sinne geistlicher Erbauung las". Die Kategorie des Erbaulichen muß nach Schöne als Bindeglied zwischen den für die Hausandacht bestimmten frühprotestantischen Büchern und der Erzählkunst der Moderne angesehen w e r d e n ( 1 2 f ) . Dabei spielt das Phänomen der—»Säkularisation eine bedeutende Rolle, und zwar im Sinne einer „ Ü b e r t r a g u n g " : „die Verwandlungen ursprünglich religiöser Vorstellungen und Einsichten in solche der v o m Glauben unabhängigen, allgemein menschlichen, säkularen Vernunft" ( 2 2 ) . Schließlich wird daraus jene Entkirchlichung und der Ersatz christlicher Glaubensinhalte durch innerweltliche Werte, die den W e g zu dem Ersatzglauben des 19. J h . (Ullmann) kennzeichnen und die teilweise charakteristisch sind für die Religion des deutschen Idealismus (Lütgert). Z u nennen sind hier das Genie und sein Kult (Müller-Armack), Liebe, N a t u r und Kunst (Hirsch; Troeltsch; Eiert; Leese). Der Vorgang, daß Erbauungselemente säkularisiert werden und der Entstehung einer von christlicher Funktion, Sinndeutung und M o r a l emanzipierten —»Literatur dienen, ist literaturgeschichtlich die Umkehrung der Verwendung einer scheinbar rein immanenten rea-

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listischen und unterhaltenden Erzählweise ohne fromme Absichten im Dienste der Erbauung, was nach der überzeugenden Deutung von T a r o t a m W e r k Grimmelshausens zu beobachten ist. Als Beispiel eines Werkes, in dem christlich geprägte Sprache, Denkformen und Inhalte fremden weltlichen Absichten dienstbar gemacht sind, kann —»Goethes Die Leiden des jungen Werther (erste Fassung F e b r u a r bis M a i 1 7 7 4 ; die Umarbeitung von 1 7 8 2 bis 1 7 8 6 , gedruckt 1 7 8 7 , bleibt hier unberücksichtigt) gelten. Schöffler k o m m t das Verdienst zu, sich nicht mit Gründen, die in der Ästhetik oder in einer allgemeinen Zeitstimmung liegen, als Erklärung für die vielfach bezeugte ganz außerordentliche Wirkung dieses Frühwerkes Goethes zufriedengegeben zu haben. Dieser Literaturhistoriker sucht vielmehr den Zugang zu dem W e r k und damit auch die Erklärung für seine begeisterte Aufnahme von einem zentralen Problem des 1 8 . Jh. aus, das sich genötigt sah, sein Verhältnis zu Gott neu zu bestimmen. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich Werther als „ein Erbauungsbuch in einem völlig neuen Sinn", dessen Titel Assoziationen zur Passionsgeschichte hervorrufen wollen; „ d a ß es wie ein Leiden, eine Passio, gelesen werden will, sagen die einleitenden W o r t e selbst: ,Und du, gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe T r o s t aus seinem Leiden und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen näheren finden k a n n s t ' " (Schöffler 1 7 9 ) . Schon auf der ersten Seite findet sich mit „Was ist der Mensch" eine wörtliche Entlehnung aus Ps 8, 5, und Bibelzitate oder -anklänge (Fischer-Lamberg) sind häufig im Werther und später bei Goethe (Herrmann). Der Dichter hatte Verbindungen zu pietistischen Kreisen, wovon die „Bekenntnisse einer schönen Seele" in Wilhelm Meisters Lehrjahre (6. Buch) Zeugnis ablegen, aber der Gottesbegriff im Werther ist nicht orthodox-pietistisch, noch aufklärerisch. In der Natur, im „Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen" ist „die Gegenwart des Allmächtigen, der uns alle nach seinem Bilde schuf" (Gen 1,27) zu fühlen; die Welt und der Himmel ruhen in der Seele Werthers „wie die Gestalt einer Geliebten", seine „Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes", und dieser künstlerische geniale (26. Mai), ganz seinem Gefühl lebende Mensch möchte, daß er etwas malen oder zeichnen könnte, was wieder der Spiegel seiner Seele wäre (10. Mai). In diesem Naturgefühl und künstlerischen Wollen äußert sich Pantheistisches wie später in den Ossian-Ubersetzungen, aber auch eine Erinnerung an das alte Beziehungsdenken zwischen Makro- und Mikrokosmos. Die geringen Leute des Ortes und vor allem die Kinder — sie, besonders die Geschwister Lottes, werden noch sehr häufig erwähnt—, die Werther lieben (15. Mai), können als ein erster Hinweis genommen werden auf die Analogie und Parallelität zwischen Werther und Jesus, der seine Anhänger im Volk hatte und befahl, die Kinder nicht von ihm fernzuhalten. Bei der eigentlichen „Passion" Werthers, der Vorbereitung seines Sterbens, wird diese beabsichtigte Entsprechung zwischen den zwei so ungleichen Personen durch Anklänge an die biblische Passionsgeschichte offensichtlich. Werthers Abkehr vom dogmatisch-kirchlichen Glauben ist ganz eindeutig.Vom Gottesdienstbesuch ist nie die Rede. Die einzige Erwähnung einer „Betstunde" (27. Mai) hat nur die Funktion einer Zeitangabe. Das Paradies ist kein Glaubensgegenstand, sondern eine ganz immanente Größe, ein Ausdruck menschlichen Gefühls, die Gegend, aus der Werther berichtet, ist „paradiesisch" (4. Mai), das häusliche Leben Lottes „kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit" (16. Juni). Zwar wiederholt Weither (29. Juni) immer wieder „die goldenen Worte des Lehrers der Menschen: Wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen" (Mt 18,3); aber indem die Kinder als „unverdorben" charakterisiert werden, zeigt sich, daß dieses Jesuswort nicht in dem Sinne des biblischen Menschenbildes von dem auf Gott angewiesenen Sünder verstanden wird, sondern gemäß Rousseaus Emile oder Über die Erziehung und seiner Uberzeugung von der Vorbildhaftigkeit der natürlichen unverdorbenen Kinder für die Erwachsenen. Für die Kindertaufe hat Werther dann auch kein Verständnis (6. Juli), man soll die Kinder gewähren lassen, so wie Gott die Menschen angeblich gewähren läßt. Gott ist der Alliebende, der „Vater", den ich nicht kenne". Das ist ein deutlicher Unterschied zum johanneischen Christus, der oft betont, daß er den Vater kennt (7,29; 8,55; 10,15). Indem Werther aber von seiner dürstenden Seele spricht, setzt er sich wieder mit diesem johanneischen Christus gleich (19,28). Beide wollen zum Vater. Mit diesem letzten Stichwort assoziiert Werther das Gleichnis vom verlorenen Sohn und entnimmt ihm die Gewißheit, daß der himmlische Vater seinen Sohn, der die Wanderschaft abbricht, nicht abweisen werde. In diesen Sätzen geschieht nichts Geringeres, als daß die Vorstellung von Gott als dem alliebenden und gütigen Vater aufgeboten wird zur Rechtfertigung des Selbstmordes. Die nächsten Briefe (4. Dezember, 8. Dezember) bekunden die Bereitschaft Werthers zu sterben. Goethe läßt Werther am Heiligen Abend begraben werden, der im Jahr 1772 auf einen Don-

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nerstag fiel. Gerade dieser Wochentag aber ruft Gedankenverbindungen zum Gründonnerstag und zum Tod Jesu hervor. Werther um den Karfreitag sterben zu lassen, hätte wohl doch als zu blasphemisch gelten müssen. Darum wird das Oster- durch das Weihnachtsfest ersetzt bzw. verschleiert, die Parallelen zum Leiden Christi vor seinem Tod sind aber offensichtlich. Christus starb „ f ü r unsere Sünden" (I Kor IS,3), „die Strafe liegt auf ihm" (Jes 53,5). Werther versteht seinen eigenen Tod auch als Strafe für eine Sünde, die allerdings seiner Meinung nach nur in den Augen der Welt Sünde ist. Aber er beugt sich diesem Urteil: „das wäre denn für diese W e l t . . . Sünde, daß ich dich liebe, daß ich dich aus seinem [Alberts, des Ehemannes] Armen in die meinigen reißen möchte? Sünde? Gut! und ich strafe mich davor: Ich habe sie in ihrer ganzen Himmelswonne geschmeckt, diese Sünde, habe Lebensbalsam und Kraft in mein Herz gesaugt, du bist in dem Augenblicke mein! Mein, o Lotte. Ich gehe voran! Geh zu meinem Vater, zu deinem V a t e r . . . wir werden uns wiedersehen". Das sind ziemlich genau die Worte des Auferstandenen in Joh 20,17: „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater", und die Auskunft des Engels an die Frauen am Grabe, daß seine Jünger ihn wiedersehen werden (Mt 28,7.10). Das Provokative solcher Redeweise, was sie zu einem Manifest moderner Diesseitigkeit und Weltlichkeit macht, besteht darin, daß sich hier der Worte Christi ein Dichter bedient, der sich in leidenschaftlicher Weise über alles hinwegsetzt, was bisher als Ausweis der Nachfolger Christi und des Glaubens an ihn galt: einer asketischen, die Gebote einhaltenden und die Sünde meidenden Lebensweise. Hier wird die Sünde als Süßigkeit, ja als Lebenselixier gepriesen und gleichzeitig eine gewissermaßen bevorzugte Stellung beim „Vater" beansprucht. Er ist zwar im traditionellen Sinn nicht mehr ernstgenommen, das Zum-Vater-Gehen bezeichnet eigentlich nur die Freiheit des Menschen, sein Leben nach eigenem Gutdünken zu beenden, aber das hartnäckig festgehaltene Wiedersehen nach dem Tod bedeutet doch, daß auf eine Transzendenz nicht verzichtet wird. Der neue „Glaubensinhalt" und Kultgegenstand, die Liebe zwischen Mann und Frau, hat Ewigkeitsqualität.

Der Werther — ein Erbauungsbuch, d.h. daß in ihm das Lebensgefühl und die Überzeugungen von Abertausenden zum Ausdruck kommen, die sich im 18. Jh. von konfessioneller Bindung lösen (Schöffler 173; vgl. auch Heymacher; Blanke; Graefe). Die ungeheuer begeisterte Zustimmung, die dieses neuartige Erbauungsbuch fand, erklärt zugleich, daß nun das Ende der bisher üblichen Erbauungsliteratur erreicht war. Die weitere Entwicklung des neuen Literaturgenus kann hier nicht verfolgt werden. Es sei aber noch auf eine frappierende Formulierung hingewiesen, die zeigt, wie bald nach dem Werther die totale Säkularisierung des Begriffes Passion erreicht war. In Jean Pauls 1795 in erster Auflage erschienenem Roman Siebenkäs werden in der Uberschrift zum 5. Kapitel „Besen und Borstwisch als Passionswerkzeuge" genannt, und zwar der Ehe. Indem die Frau diese Werkzeuge handhabt, stört sie des Helden Geistesflug und seine Bemühungen als Dichter. Die Folge davon ist, daß er mittels seines vorgetäuschten Todes den Qualen dieser trivialen, in Alltäglichkeit erstickenden Ehe zu entgehen versucht, um das Glück bei einer geistig adäquaten Partnerin zu finden. So erklärt sich auch die eigentlich unmögliche Reihenfolge der Stadien seines Lebenslaufes, die der Titel aneinanderreiht. —»Klopstocks Messias und seine Geistlichen Oden sind noch wirklich als Erbauungsbücher gelesen worden; bald aber machte sich die Säkularisierung auch in der befremdlichen Verwendung von literarischen Gattungsbezeichnungen bemerkbar, es gab Goethe- und ScbiWerpredigten, Breviere statt mit geistlichen Texten mit Dichterworten, z.B. das Goethebrevier von K. Heinemann, das Stunden-Buch Rilkes, das weder nach der Form (Lyrik) noch in bezug auf den Inhalt mehr etwas mit der geistlichen Literaturgattung der Stundenbücher zu tun hat. Die schlimmste Persiflage erlaubte sich Bert Brecht mit der Wahl des Titels Hauspostille 1927. Auch Leszek Kolakowski mit seinen Erbaulichen Geschichten ist hier zu nennen. Auch diese Erscheinung des Zeitgeistes hat wieder ihre Rückwirkung auf die religiöse Schriftstellerei, die nun ihrerseits wieder Breviere mit Texten von Theologen herausbringt, z. B. die Barth-Worte, die wie auf einem Abreißkalender gedruckt sind, oder ein Ferienbrevier von A.-L. Gräfin Vitzthum, die mit ihrer Reihe Stundenbücher diese Gattung wieder für geistliche Themen rekrutierte. Es hat in der Erweckungsbewegung Versuche gegeben, sich den neuen Trend zu nutze zu machen und Erbau- und Erweckliches im Gewände der Erzählung und Dichtung vorzutragen. Bemerkenswerte Leistungen sind in dieser Hinsicht —»Jung-Stilling gelungen mit seiner

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Lebensgeschichte, dem Roman Heimweh und der Kirchengeschichte in Romanform Theobald oder die Schwärmer. Einige Etagen tiefer, aber doch auch irgendwie innerhalb einer solchen Tradition ist dann Christoph (von) Schmid (1768-1854) mit seinen für Kinder und Jugendliche bestimmten gemüthaften und moralisierenden Erzählungen angesiedelt, die eine große Leserschaft fanden und auch in Form bebilderter Traktätchen — auf der Rückseite jeweils ein Engel — (einige Beispiele im Quellenverzeichnis) vertrieben wurden, ferner Nataly von Eschstruth (1860-1939), Hedwig von Redem (geb. 1866 in Berlin, [1930] 1768), Käthe Dorn und die bewußt erwecklich schreibende M.v.O. 8.

Erweckungsbewegung

Nach dem Verlauf der bisherigen Entwicklung ist nicht zu erwarten, daß die —»Erwekkungsbewegung mit einer bedeutenden eigenständigen Erbauungsliteratur gewirkt hätte. Das volksmissionarische und diakonische Wollen der zahlreichen Persönlichkeiten mit einer besonderen Ausstrahlungskraft für bestimmte Landschaften erfolgte vornehmlich durch Predigten, die oft auch durch den Druck weite Verbreitung erfuhren. Ein offensichtlicher Anklang an J. —»Bunyans Pilgerreise liegt vor, wenn der Hermannsburger Pastor Theodor Harms (1819-1855) ein Buch herausbringt mit dem Titel Des Christen Himmelsreise, aber es handelt sich dabei bezeichnenderweise um „Fünf Predigten, gehalten in den Betstunden vor Pfingsten". In der Gruppe der Erweckungsbewegung, bei der die neue Frömmigkeit des Erlebens und des Gefühls bestimmend wirken, ist J. A. G. —»Tholuck als Erbauungsschriftsteller mit Stunden christlicher Andacht (1839, 8 1870) vertreten. Die Sprache wirkt nach heutigem Geschmack oft überschwenglich, so wenn es unter der Überschrift „Der Tod des Christen" (88. Andacht) heißt: „Im Schmelzofen der Trübsal geläuterte Seele, du bist nun bei G o t t . . . Seliger Geist, du sollst unter uns bleiben . . . Heilige, verklärte Seele, wir werden dich wiederschauen — wir werden dich wiederfinden." Dem Zeitgeschmack (Gerok; —»Spitta) entsprechend, fehlt es auch nicht an poetischen Ergüssen (z.B. am Geburtstag, 81. Andacht). Charakteristisch für die Traditionsgebundenheit und die Repristinationsversuche ist die Wiederaufnahme der Form eines Zwiegespräches zwischen der Seele und der himmlischen Weisheit (36. Andacht; vgl. außer Bonaventura und Seuse auch J. Quirsfeld[ 1624-1686]). Typisch ist, was von der deutschen Christentumsgesellschaft (—»Basel, Christentumsgesellschaft) gesagt werden muß, sie „war in geistig-geistlicher Hinsicht retrospektiv orientiert und lebte vom Rückgriff auf das ältere pietistische Erbe". Benrath hat dieses Urteil verifiziert am Bestand der von d'Annone den Brüdern vermachten Bibliothek, die neben Werken aus der Tradition der älteren reformierten Orthodoxie und des Spiritualismus auch manches gewichtige Werk der Erbauungsliteratur enthält (auch in Neuauflagen), aber alle wurden vor der Aufklärung verfaßt. Im weitesten Sinne könnte man unter die Erbauungsliteratur das den Zielsetzungen der Gesellschaft entsprechende und ihrer Stärkung dienende Werk von Johannes Meyer, Hauptsache und Kraft der Religion (1787) rechnen. Wenn das Erbauungsbuch vom 18. Jh. an immer seltener wird, heißt das noch nicht, daß auch die Erbauungsliteratur verschwindet. Zumindest einen Teil ihres Anliegens kann sie noch eine Zeitlang auf ein modernes Medium transponieren: in Zeitungen und—»Zeitschriften. Aus dem Bereich der Christentumsgesellschaft wären hier — allerdings im Grunde nur für einen internen Gebrauch bestimmt — die Sammlungen für Liebhaber christlicher Wahrheit und Gottseligkeit zu nennen (Benrath; Kirchner I, 365), die eine erweckliche Zielsetzung in einer Vielfalt der kleinen literarischen Form verfolgen (Benrath). Mit den zahlreichen Lebensläufen Erweckter und den Schilderungen eines seligen Endes erweisen sich die „Sammlungen" als späte Fortsetzung des traditionsbildenden Musters der barockpietistischen Sammelbiographien, das G. —»Arnold und vor allem Johann Henrich Reitz in seiner Historie geboten hatten — aus der Gattungsgeschichte werden bei Schräder im „Nachwort" als Verfasser genannt: Kanne, (von) Schubert, Tersteegen, Oetinger, Christian Gerber, Fürchtegott Thuerecht Weber, Heinrich Daniel Müller, Johannes Meyer, Jakob Friedrich Feddersen - und der Sammelthanatographien von (wieder nach Schräder) Erdmann Heinrich Graf Henckel, Johann Jacob Moser unter dem Pseudonym

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Christoph Gottlieb Erdmann, Christoph Burkmann oder Birkmann, Johann Jacob Moser, Johann Adam Brehmen und Ernst Gottlieb Woltersdorf mit ihren Vorläufern bei Georg Major, Hieronymus Weller, Bruno Quinos, Martin Mylius, Christoph Sommer und Gottfried Feinler. Von den seit der Erweckungsbewegung erschienenen Sammalbiographien nennt Schräder noch die Sonntags-bibliothek und Werke von Johann Hübner, Ferdinand Piper, Albrecht Saathoff, Ferdinand Laun, Jörg Erb (weitere Titel bei A. u. W. Brückner 576 f)- Hinzuzufügen wären die- nicht ausschließlich erbaulich ausgerichteten — Märtyrerbücher von Otto Michaelis und Oskar Schaben. Erwin Paehl publizierte schließlich eine Sammlung von Lebensberichten moderner Menschen, die von Jesus „beschlagnahmt" wurden. Sie stammen aus allen Schichten und Generationen; für Personen aus der DDR wurde ein Pseudonym gewählt. Einen entfernten Nachklang dieser Art Literatur stellen auch die von Hanns Lilje herausgegebenen Begegnungen dar und die von Gerhard Rein publizierten persönlichen Berichte von Heinrich Albertz bis Thaddäus Troll unter dem Titel Warum ich mich geändert habe. Wenn die Baseler Traktatgesellschaft als ein eigener Zweig der Christentumsgesellschaft in ihre Produktion Der kleine Gottlieb, ein Beispiel für Kinder aufnahm (Benrath 81), dann knüpft auch diese Bemühung an eine bereits bestehende Tradition an, aus der Schräder den anonymen Traktat Lob Gottes im Munde der jungen Kinder nennt und als Verfasser von Exempelbücher für Kinder: Jacob Jannewey, Johann J a c o b Rambach und Conrad Daniel Kleinknecht. Daß wir entgegen einer weit verbreiteten Meinung bereits vor dem 18. J h . eine reiche Jugendliteratur vorfinden, hatte schon I. Dyhrenfurth bewiesen; die Tatsache ist noch einmal nachhaltig zur Geltung gebracht von C. N. Moore, die Anna Hoyers' Gespräch eines Kindes mit seiner Mutter als ein hervorragendes Beispiel barocker Erbauungsliteratur und im faszinierenden Kontext mit einer leider zu sehr in Vergessenheit geratenen Erbauungsliteratur für Kinder behandelt. Eins der vielen Desiderate zur Erforschung der Erweckungsbewegung besteht in der Durchsicht der Zeitschriften auf Beiträge, die sozusagen Kleinformen der Erbauungsliteratur darstellen. Im Gegensatz zu denSatnmlungen der Christentumsgesellschaft, die ganz auf das Religiöse konzentriert sind, wollen andere Publikationen schon im Sinne des Theaterdirektors im Faust (I, 97) verfahren: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen" und heben das auch ausdrücklich im Titel hervor; z. B. Emblematische Vermischte Gedanken (s. Exercitationes), ein Werk, das deutlich den Übergang vom Buch zur Zeitung markiert, indem es wie eine solche erscheint: wöchentlich ein Bogen oder zwei, und darum sich des Mittels der Fortsetzung bedienen muß, zumal wenn die kleineren Lettern wegen anderer im Satz befindlicher Materialien nicht die Stoffmasse auf dem begrenzten Raum unterbringen helfen können (Vorr. 3); der Inhalt selbst ist noch nicht vorwiegend auf Zeitereignisse bezogen, sondern Büchern entnommen, allerdings vielfach ausländischen, „die gar selten bey uns zu finden". — Alles andere als einseitig ist ja auch Matthias Claudius' Wandsbeker Bote. Von den eigentlich theologischen Zeitschriften als Quelle für Erbauliches muß an erster Stelle das von 1 7 3 0 - 1 7 3 6 erscheinende Organ des reformierten Pietismus genannt werden, die von Dr. med. Carl begründete Geistliche Fama, die unbeachtete zeitgeschichtliche Ereignisse in ihrer geheimnisvollen Bedeutsamkeit erkennen lehren wollte (Zeller, Geschichtsverständnis 152). Weitere vergleichbare Blätter nennt Schräder (Nachwort). Berücksichtigt werden muß aber auch, nicht zuletzt der negativen Kritiken pietistischer Bücherproduktion wegen, die aus dem gegnerischen Lager der Orthodoxie hervorgegangene, von V . E . —»Löscher begründete Zeitschrift Altes und Neues aus dem Schatz theologischer Wissenschaften (1701), seit 1 7 0 2 führte sie den Titel Unschuldige Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen. Sie bestand mit wechselnden Titeln und mehreren Nachträgen bis 1 7 6 1 (K.G. Steck: R G G 3 6, 1885). —»Jung-Stilling, der in Baden im Sinne der Erweckungsbewegung gewirkt hat, ließ von 1 7 9 5 - 1 8 0 1 eine erbauliche-volkstümliche Zeitschrift mit dem Titel Der Graue Mann erscheinen. Diese Titelgestalt kommt auch in seinem Roman Das Heimweh vor und steht für Uriel von Ostenheim, ein endzeitlicher messianischer Führer, der im Osten, wo ein ewiger Frühlingsmorgen herrscht, zu Hause ist, Heimweh für diesen Bereich wecken und dorthin führen will (Benz 3 8 f ) .

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E. Beyreuther, der in seiner Darstellung der Erweckungsbewegung stark die Notwendigkeit zur Beachtung internationaler Zusammenhänge hervorhebt, weist für England darauf hin, daß dieSociety for Promoting Christian Knowledge (1695) für eine Massenverbreitung an Erbauungsliteratur sorgte (R 5) und für Skandinavien, daß die alte „läsare", die Leserei, zu Beginn des 19. Jh. durch den Vertrieb englischer und amerikanischer Erbauungsliteratur neuen Auftrieb erhielt (R 45). Auch auf die Bedeutung der Zeitschrift der Erweckungsbewegung Der Pietist (seit 1841) wird (ebd.) aufmerksam gemacht. Eine präzise Erfassung, welche Erbauungsliteratur genau in England und Skandinavien in welchem Umfang verbreitet wurde, steht noch aus. Was auch immer da noch zu Tage gefördert werden mag: die schöpferische Epoche der Erbauungsliteratur ist im 19. Jh. vorüber. 9. Repristinationsversuche

und Nachklänge bis in die

Gegenwart

Das Aufkommen dieser neuen Art von „Erbauungsliteratur" in Form der Dichtung bzw. die Säkulasierung von Motiven der alten bedeutete im Grunde ihr Ende. Das 18. Jh. erweist sich als deutliche Grenze. Bis dahin hatte die Erbauungsliteratur unbeschadet ihrer klaren religiösen und theologischen Absicht eine gewaltige kulturelle Bedeutung für die Entwicklung des Neuhochdeutschen zwischen Luther und Gottsched. Die Erbauungsbücher waren für die Protestanten neben —»Bibel, —»Katechismus und —> Kirchenlied das Mittel zur literarischen Aneignung und Übung der deutschen Muttersprache (Merkel). Als dann ein breites Lesepublikum herangebildet war, konnte es nicht ausbleiben, daß es auch und immer stärker auf dem Weg über die Lektüre zur Aufnahme neuer Ideen bereit war, die nur noch in loser und oft künstlich anmutender Verbindung zu den ehemals starken geistlichen Wurzeln der Leser und Schriftsteller standen. Das bedeutet aber: die große Zeit der protestantischen Erbauungsliteratur ist eindeutig das 17. Jh. Nach ihm scheint die schöpferische Kraft auf diesem Gebiet zu erlahmen und die Wirksamkeit dieser Literatur zurückzugehen. Die Tatsache, daß das 19. Jh. eine Fülle von Neuauflagen „klassischer" protestantischer Erbauungsbücher hervorgebracht hat (Zeller, Theol. u. Frömmigkeit 219 ff; Höpfner) widerlegt diese Erkenntnis nicht, sondern bestätigt sie eher. Allerdings bleibt es höchst bemerkenswert, daß sich unter den Verfassern von Andachtsbüchern auch so namhafte Kirchenhistoriker befinden wie A.v.—»Harnack und Heinrich Heppe. Unter den religiösen Schriftstellern des 19. Jh. nimmt M. —»Hahn wegen seiner außerordentlichen Kenntnis der Erbauungsliteratur einen besonderen Platz ein (Trautwein). Unter den veränderten Gegenwartsverhältnissen und -bedürfnissen (s. u. Abschn. IV) ist bei den z. Zt. im Buchhandel noch erhältlichen Andachts- und Gebetbüchern eine Reihe solcher vertreten, deren Verfasser bereits der Geschichte angehören, wie z.B. H. —»Bezzel, J.Chr. —» Blumhardt, J. —>Gossner, A. —»Schlatter, Ch.H. —» Spurgeon. Es wird auch der Versuch unternommen, ein für die alten Erbauungsbücher nicht unwesentliches Merkmal, nämlich ihre Bebilderung (Tiemann; Müller-Mees; Peil), das theologischerseits noch viel zu wenig Beachtung gefunden hat, erneut und isoliert zur Geltung zu bringen, indem alte (Gordan, Es ist der Herr) oder neue Bilder (Wedeil; Unverzagt) zum Ausgangspunkt der Betrachtung gemacht werden. Eine neue Art der Andachtsliteratur liegt vor in den Büchern, die das Nachlesen dessen erlauben, was im Rundfunk (Gordan, kath.; Kuhn; Mattenmüller) oder im Fernsehen (Quaas) als religiöse Ansprache gesagt wurde. Wesentlich auf seiner Popularität als Fernsehpfarrer beruht das Interesse an Andachten von Adolf Sommerauer. Andere Andachtsbücher verdanken ihre Entstehung der relativ jungen liturgischen Entwicklung von Wochensprüchen (Angermeyer; Stoll) oder neuer Reihen der Perikopenordnung (z.B. Essinger und Schmidt). Im Gegensatz zu solchen Sammelbänden mit sehr unterschiedlichen Beiträgen vertreten einzelne Autoren von Andachtsbüchern eindeutig die theologische Richtung des —»Fundamentalismus (Bergmann; Deitenbeck). Unverkennbar geprägt von der Jugendarbeit Wilhelm Weigles (W. Busch: Lilje, Begegnungen), die sich stark abgrenzte gegen die idealistische

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—»Jugendbewegung, und mit einem Gespür für Methoden der—• Evangelisation geschrieben sind die Täglichen Andachten von Wilhelm Busch. Von dem Charakter der Erbauungsbücher, die sich in ihrer Blütezeit als Standesschriften an Bauern, Bergleute, Fischer, Seeleute, Soldaten wandten oder an die verschiedenen Lebensalter und Zustände (z. B. Schwangerschaft, Geburt, Krankheit, Sterben), sind eigentlich nur zwei „Stände" übriggeblieben, die eine besondere Berücksichtigung erfahren: Kinder bzw. Jugendliche (Witte; Hammerschmidt" vgl. auch Rabus) und Alte, für die ein Großdruck (z.B. Knebels) gewählt wird. Lüthi wandte sich in seinen jahreszeitlich geordneten Werktagspredigten vornehmlich an eine bäuerliche Bevölkerung. Kein modernes Erbauungs- bzw. Andachtsbuch reicht im Umfang und in der ausführlichen Heranziehung von Bibelstellen an die alten heran. Am ehesten können noch Predigtbände ungefähr dem gerecht werden, was die früheren Leser von Erbauungsbüchern verlangten. Sind sie doch oft selbst aus Predigten hervorgegangen. Wenige Namen aus der Gegenwart seien stellvertretend genannt. Albrecht Goes, der als Theologe und Schriftsteller (Goes über sich selbst: K. H. Kramberg, Vorletzte Worte. Schriftsteller schreiben ihren eigenen Nachruf, Frankfurt 1 9 7 0 , 7 6 - 8 1 ) die dem Literarhistoriker an der Erbauungsliteratur so bedeutsam erscheinende Pflege der deutschen Sprache als sein besonderes Anliegen ansieht und fordert: „Wer die Befugnis hat, öffentlich in einer Sprache zu reden, die so reich ist an Mitteln, das Geistige lebensfarbig, das Beiläufige mit einem leichten Ernst zu sagen, wie es in unserer Sprache möglich ist, der soll diese Befugnis als Auszeichnung werten und sich danach richten" (Der Knecht macht keinen Lärm. Dreißig Predigten, Hamburg 1968, 166). Um einen Brückenschlag zwischen Predigt und Dichtung bemühte sich in anregendster Weise Hartmut Sierig (Don Quixote und der Menschensohn, Hamburg 1970). Thielicke (H.J. Quest, Helmut Thielicke: H.J. Schultz (Hg;), Tendenzen derTheol. im 20. Jh., Stuttg a r t / O l t e n , 2 1 9 6 7 , 5 4 9 - 5 5 5 ) schließlich hat auf seine gehaltenen und dann veröffentlichten Predigten wohl deshalb so viel Anklang gefunden, weil hier theologische Sachinformation, seelsorgerliche Sensibilität und ein stets waches Interesse für ethische Fragen verbunden sind. 10. Forschungsaufgaben

und

Beurteilungskriterien

Bei wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Literaturgattung der Erbauungsliteratur ist vor allen Dingen eine Erhellung des Phänomens der—»Frömmigkeit zu erwarten. Frömmigkeit umfaßt gleichermaßen das Moment der Spiritualität, des originell Subjektiv-Individuellen, und der Mentalität, der (von sozioökonomischen, politischen, schichtenspezifisch-kulturellen und anderen Faktoren mitbestimmten) Denk- und Gefühlslage von Bevölkerungsgruppen, also kollektiver Frömmigkeitshaltungen (Volksfrömmigkeit und Brauchtum), denen sich eine quantifizierende Forschungsmethode zuwendet. Darüber darf nicht vergessen werden, daß auch die Frömmigkeit als innere Praxis, als innerseelischer Vorgang, die Audmerksamkeit der Forschung verdient. Die Geschichtswissenschaft sollte nicht mehr mit der Psychological History hinter die Ebene des Bewußten und explizit Geäußerten zurückfragen, sie braucht sich aber auch andererseits nicht die Beschränkung aufzuerlegen, nur das fromme Verhalten zu registrieren und zu verneinen, daß die Quellen für die äußere Praxis auch gewisse Schlüsse auf die innere zulassen. Ohne Rückschlüsse von frömmigkeitstheoretischen Texten auf Erfahrungen und Haltungen des Autors kommt kein Biograph aus. Die Erbauungsliteratur gehört zu jenen Quellen, die auch der Theologiehistoriker in Anbetracht einer zu berücksichtigenden Transformierung der systematischen Hochtheologie in Frömmigkeitstheologie, also eine seelsorgerlich orientierte und auf Frömmigkeit zielende halbakademische Ethik, Moral, Pastoral-asketische oder geistliche Theologie, bei seiner an der Theoriebildung interessierten Arbeit nicht außer acht lassen darf. Methodisch bedeutet das: Theologiegeschichte wirklich als Geschichte betreiben, nicht nur die Zeitumstände bei ihrer Entstehung berücksichtigen, sondern vor allem auch ihre Rezeptions- und Wirkungsgeschichte mit allen dabei zu erwartenden Bedeutungsverlagerungen im Zuge einer Popularisierung. Bei der Erforschung dieses Prozesses kann man an der Erbauungsliteratur nicht

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länger vorübergehen. Wenn man weiter beobachtet, daß in der Erbauungsliteratur durchaus von einer vorausgesetzten — allerdings vielleicht nur sehr mittelbar zum Ausdruck kommenden - Frömmigkeitstheorie aus eine innerliche Frömmigkeitspraxis angestrebt wird, die aber auch kollektive Formen der Frömmigkeit sucht oder sich gegen andere, bereits bestehende wendet, so werden in dieser Literaturgattung auch Hoffnungen, Ängste, Zweifel, Überzeugungen, Einstellungen, Meinungen, Wert- und Wahnvorstellungen vernehmbar. Das bedeutet für die Forschung die Notwendigkeit, Individuum und Gruppe nicht als unabhängig voneinander existierend zu betrachten, sondern die hier bestehenden Wechselwirkungen zwischen beiden zu berücksichtigen. In methodischer Hinsicht dürfen textorientiert-hermeneutische und quantifizierende und an schichtspezifisch verwertbaren Untersuchungsergebnissen interessierte Arbeitsweisen nicht verabsolutiert und als sich gegenseitig ausschließende Alternativen angesehen werden. Die Erbauungsliteratur, die sich einmal als eine ebenso ergiebige, vielseitig auswertbare Quelle der Geschichtswissenschaft im weitesten Sinn erweisen wird, wie es die —»Leichenpredigten inzwischen sind, bedarf in hohem Maße einer interdisziplinären und die Fakultäten übergreifenden Behandlung. Hier sind noch vielversprechende Ergebnisse zu erwarten vom Zusammenwirken von Forschern aus den Gebieten der Theologie - und Kirchen-, besonders der Frömmigkeitsgeschichte, der Profan-, der allgemeinen Geistes-, wie der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der Soziologie, Volkskunde und Psychologie, speziell der Religionspsychologie, und der Literaturwissenschaft, des Bibliothekswesens und privater Bibliophiler (Daum), um nur einige Beispiele zu nennen.

Bei dem augenblicklichen Forschungsstand kommen für den mit der Erbauungsliteratur beschäftigten Theologen die meisten Anregungen und Hilfen aus dem Bereich der Germanistik, worauf mit der Wiederholung der Namen Schöne und Schräder noch einmal ausdrücklich hingewiesen sei. Höchst bedeutsam ist auch Tarots Interpretation Grimmelshausens als eines Erbauungsschriftstellers und besonders des Simplicissimus als Beispiel für die Umformung der moralischen Tradition des 16. Jh., die ihre moralischen Mahnungen und Lehren „durch allegorische Personifikationen vermittelte" (117). Grimmelshausens erfolgreichstes Werk erscheint in dieser Sicht als „das Meisterwerk erbaulicher Literatur" (121). Eine von Tarot gesehene Forschungsaufgabe, die auch theologischerseits unbedingt in Angriff genommen werden sollte, besteht darin, die Kalenderliteratur zwischen 1555 und 1648 bzw. 1688 auf ihre erbaulichen Absichten zu untersuchen (97 Anm. 9; zu diesem Thema s. auch Brückner). Bei der Wirkungsgeschichte sind auch Negativwirkungen nicht auszulassen, wie sie z.B. in dem psychologischen Roman Anton Reiser von Karl Philipp Moritz (s. Minder; Schrimpf) sichtbar werden (s. TRE 4 , 7 8 3 , 2 5 ff). In dieser weitgehend autobiographischen Darstellung eines aus armseligen Lebensbedingungen stammenden, nur 36 Jahre alt gewordenen Autors, bezeichnet dieser, der es zum Akademieprofessor gebracht hat und den Vorzug besaß, die führenden Geister seiner Zeit zu kennen und ihre Anerkennung zu genießen, den dreizehnjährigen Anton als einen, der „jeden Augenblick lebend starb". Zu den trüben Erinnerungen an früh erlittene bittere Demütigungen und die nie verschmerzte Lächerlichkeit seiner Gewandung, zu den seelischen Schäden, die seine Lungentuberkulose verstärkten, gehört auch die deprimierende Atmosphäre des entscheidend von Erbauungsliteratur, vor allem den Schriften der Madame Guyon, geprägten Elternhauses. Wer Anton Reiser gelesen hat, wird der Erbauungsliteratur und einer entsprechenden Lebensweise mit verhaltener Skepsis und nicht mit uneingeschränkter Begeisterung gegenüberstehen, allerdings wird er sich auch der Überlegung nicht verschließen, daß sich Philipp Moritz hinsichtlich der Bedeutung dieser Literatur für sich selbst und seine zahlreichen Leidensgenossen, deren Leben in einer kaum mehr vorstellbaren materiellen Bedürftigkeit verlief, auch getäuscht haben könnte, weil ihnen nämlich in Wirklichkeit die Erbauungsliteratur einen unentbehrlichen Halt bot. Max v. Brück äußert in einem Nachwort zum Anton Reiser eine Auffassung, die das Gegenteil der skeptisch-kritischen ist, aber ebenfalls ein Wahrheitselement enthält: „Ohne die pietistische Frömmigkeit hätte der Verfasser des,Anton Reiser* schwerlich die Schwelle des Mannesalters erreicht. Er wäre schon vorher von den

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Fußtritten des Schicksals zerstört worden." So ambivalent ist Erbauungsliteratur, daß sie Lebenden das Gefühl gibt, Sterbende zu sein, und in tödlichen Gefahren zum Leben hilft. In dem (frommer Tradition entsprechend) anonymen Vorbericht der von den Evangelischen Gebetsvereinen Westdeutschlands 1955 herausgegebenen Sechs Bücher(n) des wahren Christentums Arndts nebst seinem Paradies-Gärtlein finden sich auch Wundergeschichten von der Errettung dieser Werke, die auf der Linie dessen liegen, was an historischen Beispielen über die Bewahrung der Heiligen Schrift in Verfolgungszeiten bekannt ist. Auch vom Manuskript der Predigtsammlung Lütkemanns Apostolische Aufmunterung wird berichtet, daß es von Gott in einer Feuersbrunst zu Rostock unversehrt erhalten wurde (H. Lütkemann 128). Der Skopos solcher Überlieferungen ist die Anwendung und Ausdehnung des Glaubenssatzes, daß Gottes Wort in Ewigkeit bleibt, auch auf die Erbauungsliteratur. Darin besteht, theologisch gesehen, ihre Würde und ihre Schönheit, daß sie wie die Theologie selber ancilla verbi divini sein soll, und ihre Gefahr, daß sie die in der sacra scriptura vorhandene Fülle verkürzt, verengt, vereinfacht und einseitig vertritt. Aber da Einseitig- und Einsilbigkeiten nicht immer das Werk der zu fürchtenden Vereinfacher sind, sondern unter Umständen auch vom Mut zum Verzicht zeugen und von einer Konzentration auf das Wesentliche, so war dieser Methode nicht selten ein erstaunlicher und berechtigter Erfolg beschieden. Das Wollen und Wirken dieser Literaturgattung ist jedenfalls eine beachtliche Anstrengung, deren genauere Beschreibung und Erklärung als eine gemeinsame Aufgabe der Kirchen-, Literatur-, Geistes-, Sozial- und Kulturgeschichte erkannt werden muß. Quellen Aegidius Albertinus, Hirnschleiffer, hg. von Lawrence S. Larscn, 1977 (BLVS 299. - Johan Valentin Andreae, Theophilus. Lat. u. Dt., eingel. u. hg. v. R. v. 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Erbauungsliteratur III

79

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80

Erbauungsliteratur IV

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Rudolf Mohr IV. Die Erbauungsliteratur in der Gegenwart 1. Formen

2. Funktion

(Literatur S. 83)

1. Formen 1.1. Das Erbauungsbuch, altertümliche Bezeichnungen „Postille", „Hauskanzel", „Troester", enthält größere Ausführungen zu zentralen Punkten des christlichen Glaubens und Lebens. Vom Leser wird nicht erwartet, daß er es wie eine Monographie vom Anfang bis zum Ende durchliest, sondern daß er sich über längere Zeit mit ihm intensiv befaßt, jeden Tag ein Stück liest. Dahinter steht die Hoffnung, auf das geistlich Wichtige unmittelbar zu stoßen. Das Erbauungsbuch soll zu einem persönlichen Freund werden, mit dem der Leser Zwiesprache hält und das er im Laufe der Zeit in- und auswendig kennenlernt. Diese Literatur ist in der Gegenwart relativ schwach vertreten. Ihrer Entfaltung steht auf der einen Seite das theologische Sachbuch entgegen, zu dem hier auch die Erwachsenenkatechismen und allgemeinverständlichen Bibelauslegungen gezählt werden können. Sie bieten Informationen, überzeugen durch objektive Argumentation. Ihr Stil ist nüchtern, sie wollen nicht den Leser direkt ansprechen. Von der vertrauensvollen Atmosphäre der Erbauungsbücher haben sie nichts übernommen. Auf der anderen Seite stehen die dezidiert subjektiven Publikationen wie Predigtbände, Bibelarbeiten und persönliche Stellungnahmen zu aktuellen Problemen. Bei ihnen hängt alles vom Autor ab, d.h., seine Art zu predigen, die Bibel auszulegen und die aktuellen Probleme zu lösen, ist interessant. Von der Erbauungsliteratur unterscheiden sie sich durch die Distanz zum Leser. Aufs Ganze gesehen ist das Feld für die Erbauungsliteratur schmal geworden. 1.2. Die auf den Tag bezogene Erbauungsliteratur, Kalender, Bibellesen, Losungen bietet dem Leser für jeden Tag einen kurzen Text und verzichtet dabei auch wieder auf einen großen systematischen Zusammenhang. Da die Form festgelegt ist, stört es nicht, daß ein Jahreskalender oft mehr als hundert Autoren hat. Vom Leser wird kein sachliches Interesse am Fortgang eines Gedankens verlangt, sondern die Bereitschaft, jeden Tag möglichst zur selben Zeit das betreffende Blatt zu lesen. Lesen wird hier als eine Art geistiger Pflicht oder Treueübung verstanden. Wie bei kaum einer anderen Literatur können Herausgeber und Autoren sicher sein, daß ihre Texte gelesen werden. Die Verbreitungszahlen sind imponierend. Im deutschen Sprachraum, also einschließlich der DDR, kann man mit 1,5 Mill. Kalendern jährlich rechnen. Führend ist der Neukirchener Kalender. Vertrieben werden die Kalender meist über den Buchhandel. Dabei ist positiv zu bemerken, daß auch Geschäfte, die sich in der Regel nicht mit konfessionellen Titeln abgeben, sich mit dieser Literatur dennoch gern befassen. Hier kommt also die Erbauungsliteratur, gelöst von den Kanälen der kirchlichen Institutionen, direkt zu ihren

Erbauungsliteratur IV

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Lesern. Die ausgedruckten Herrnhuter Losungen erreichen eine Auflage von ca. 1 Mill. Hinzuzuzählen ist noch die nicht zu schätzende Zahl der Verweisungen auf Losung und Lehrtext durch die Stellenangaben. Insgesamt lassen die Zahlen erkennen, daß die Erbauungsliteratur in der Sparte der Kalender, Bibellesen und Losungen über einen festen Stamm von Lesern verfügt. In diese Rubrik gehören auch die „Stundenbücher" als Sammlung von Tagzeitgebeten- bzw. Texten. Ihre Verwendung beschränkt sich heute auf kleine Gruppen, Schwesternschaften, evangelische Orden, die ein gemeinsames Leben praktizieren. 1.3. Traktate, Spruchkarten und ähnliches stellen die geringsten Anforderungen an den Leser. Wenn das Buch die Fähigkeit des Lesers, einen großen geistigen Zusammenhang zu erfassen, voraussetzt, der Kalender, die Bibellesen und Losungen die Verpflichtung zur täglichen Lektüre verlangen, genügt beim Traktat ein spontanes Lesen. Es versucht, seinen Inhalt als für den Leser unmittelbar interessant hinzustellen. Stil und Aufmachung sind so gehalten, daß es sich möglichst angenehm liest. Der Umfang beträgt in der Regel 2 bis 16 Seiten in einem bequemen Taschenformat, also eine Lesedauer von zwei Minuten bis zu einer halben Stunde. Bei der Spruchkarte ist das Leserbemühen buchstäblich auf einen Augenblick reduziert. Das Wort soll sich möglichst leicht einprägen, daß es unabhängig vom Blatt bedacht werden kann. Die geringen Ansprüche, die Traktat und Spruchkarte stellen, machen sie besonders geeignet für Menschen, denen die geistige Konzentration schwerfällt, z.B. Kranke oder von Arbeit belastete, d.h. gestreßte Menschen. Obwohl Traktate und Spruchkarten angesichts der Belastungen des modernen Lebens für eine schriftliche Verkündigung besonders günstig erscheinen, steht es z. Zt. um ihre Verbreitung schlecht. Die Schwierigkeiten liegen nicht bei dem potentiellen Empfänger, sondern beim Vertriebsweg. Früher wurde mit Traktaten und Spruchkarten kommerziell gehandelt. Sie wurden von Ladengeschäften geführt oder von Haus zu Haus durch Kolporteure angeboten. Das ist heute aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht mehr möglich. Die minimale Verdienstspanne deckt die Unkosten bei weitem nicht mehr. Wo diese Artikel noch im Detail angeboten werden, wird an ihnen zugesetzt. Darum wird die Chance, die das Traktat heute hat, nur offenbar, wenn auf den gewerbsmäßigen Handel verzichtet wird. Zwei Beispiele: der Freundesbrief, z. B. der Bethel-Bote. Ansprechendes Titelbild, Umfang 16 Seiten, bequemes Format, einfache Ausstattung. Bei seinen Empfängern knüpft er an ihr Interesse für Bethel an. Sein Ziel ist jedoch eine volksmissionarisch-diakonische Erbauung. Verbreitet wird er durch die Post aufgrund der umfangreichen Adressenkartei der Anstalt. Finanziert wird er aus Geldern der Anstalt. Allerdings ist das durch ihn bewirkte Spendenaufkommen erheblich höher als die Unkosten für Druck, Porto und Versand. Dennoch kann sich der Bethel-Bote niemals selber finanzieren, denn die Spenden sind stets für Bethel bestimmt. Eine Literatur eigener Art bieten die Briefe der „Evangelischen Buchhilfe" („Glaubensbriefe", „Katechismusbriefe", „Bekenntnisbriefe") insgesamt 16 Mill. Exemplare (1979). Auch hier ein den Empfänger interessierendes Thema, eine missionarische Absicht, ein auf 16 Briefe begrenzter Umfang, bequemes Format und der Verzicht auf den Handel. Der Empfänger bekommt die Briefe ins Haus geschickt oder von einem Multiplikator überreicht, und wenn sie ihn ansprechen, hat er die Möglichkeit, mit einer Spende zu reagieren. Eingebettet ist die Aktion in ein missionarisch-diakonisch geartetes Unternehmen, nämlich die „Evangelische Buchhilfe".

1.4. Mittelbare Erbauungsliteratur sind die Beiträge in den kirchlichen Wochenblättern. Bei der Gründung der Zeitschriften war dieser Teil oft ihr Herzstück. Sie wollten Erbauungsblätter mit einem unterhaltenden, aktuellen Anhang sein. Heute ist das Verhältnis umgekehrt. Dabei finden die Andachten, Bibelauslegungen und Gebete eine kontroverse Beachtung. Viele Empfänger sehen in ihnen ein „kirchliches Relikt", von dem sie für sich nichts erwarten und das sie darum grundsätzlich nicht lesen. Andere denken entgegengesetzt und wollen diesen Teil unter keinen Umständen missen. Wenn eine Redaktion den Versuch macht, die Erbauungsbeiträge zu verändern oder gar zu kürzen, gibt es energische Proteste. Das Engagement für die erbaulichen Beiträge darf in Anbetracht einer ebenfalls vorhandenen Gleichgültigkeit nicht unterschätzt werden.

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Erbauungsliteratur IV 2. Die Funktion der Erbauungsliteratur

in der

Gegenwart

Die Herstellung und Verbreitung der Erbauungsliteratur bereitet — abgesehen von den speziellen Problemen einzelner Sparten — z.Zt. keine übermäßigen Schwierigkeiten. Aber wie steht es mit der Aufnahme? Wird sie gelesen? Und von wem? Siegfried Meurer hat die Bibel einen „Bestseller ohne Leser" genannt. Trifft das auch auf die biblische Erbauungsliteratur zu? Diese Frage, die heute Autoren und Verleger intensiv beschäftigt, hätte schon 1945, besser noch davor, gestellt werden müssen. Die Schwierigkeiten, die der —»Nationalsozialismus der Erbauungsliteratur bereitete, verdeckten den Blick für die eigene literarische, theologische Problematik. Als nach dem Krieg die politischen Restriktionen fielen, auch Papier wieder zur Verfügung stand, fuhr man in Aufmachung, Stil und Inhalt so fort, wie man es bis 1933 gewohnt war. Damit wurde aber nur die mittlerweile zwölf Jahre älter gewordene Leserschaft von damals angesprochen. An eine neue, jüngere, kam man nicht genügend heran. Bei den Absatzzahlen machte sich dieser Mangel nicht bemerkbar. Der kriegsbedingte Nachholbedarf, die positive Aufnahme alles Gedruckten und auch große Käufe durch Kirchen ermöglichten einen zügigen Absatz. Allmählich ist aber die Situation bedrängend geworden. Die Erbauungsliteratur ist zum Teil an die Generation der ganz Alten gebunden und wird darum von den Jüngeren als weit- und lebensfern abqualifiziert. Die vielfältigen Erörterungen der Funktionen, die der Erbauungsliteratur in der Gegenwart zufallen, sollen eine Änderung bewirken, die sie wieder aktuell erscheinen läßt. 2.1. Die Erbauungsliteratur hat sich immera/s Korrektiv der mündlichen Verkündigung verstanden, d . h . die der Pfarrer in den Gemeinden. Christen, denen diese Verkündigung zu einseitig, lückenhaft oder nicht ausreichend erschien, griffen zum Buch bzw. zum Kleinschrifttum. Meist wurden die gedruckten Texte als dem Leben näherstehend empfunden, sie waren gefühlsbetonter. Vor allem brachten sie Geschichten aus dem Alltag, mit denen man sich identifizieren konnte. Die Kanzelverkündigung war dagegen mehr dogmatisch, amtsbetont, ihr Stil neigte zum Abstrakten und Akademischen. Heute ist die Situation anders, denn neben der gemeindlichen Verkündigung steht die des —•Hörfunks. Hier ist die größere Aktualität, schon aus dem Hörerlebnis heraus: nach den Nachrichten die Andacht. Der Erbauungsliteratur fällt dadurch mehr die Funktion der Vertiefung zu. Wer einen unmittelbaren Eindruck, sozusagen einen christlichen Impuls, haben will, schaltet den Sender ein. Wer jedoch konzentriert nachdenken will, die intensive Auseinandersetzung sucht, greift zum gedruckten Wort. Das verlangt von der Erbauungsliteratur der Gegenwart eine erhebliche Umstellung. Früher war die Stärke der Erbauungsliteratur ihre Einfachheit. Das Kalenderblatt konnte noch einer lesen, für den das Verstehen einer Predigt intellektuell zuviel war. Ein gelegentlicher Trend zum Flachen, bei den Beispielsgeschichten zum Kitschigen, Trivialen, wurde durchaus akzeptiert. Heute muß dagegen die Erbauungsliteratur Texte bieten, die Tiefe haben und den nachdenkenden Menschen zufriedenstellen. 2.2. Ursprünglich war die Erbauungsliteratur für ein gemeinsames Lesen konzipiert, z. B. für die tägliche Hausandacht der Familie. Der Text bot so etwas wie einen geistigen Kristallisationspunkt. Doch heute erlauben die modernen Arbeitsbedingungen nur noch selten eine gemeinsame Andacht. Für die Texte folgt daraus, daß weniger an ein gemeinschaftliches, sondern mehr an ein individuelles Lesen zu denken ist. Auch ist weithin das laute Vorlesen einer stillen Lektüre gewichen. 2.3. Ursprünglich war ihre Absicht, Menschen geistig so zuzurüsten, daß die Gemeinde bzw. der fromme Kreis an ihnen einen besonderen Halt hätte. Dies hat sich heute in drei Richtungen differenziert: Da sind die Menschen, die in Kirche und Gemeinde Verantwortung tragen und dafür eine laufende Vorbereitung haben wollen. Doch ihre Erwartung ist weniger erbaulich oder auf die persönliche Frömmigkeit bezogen, sondern nur sachlich-informatorisch geartet. Als nächstes fragen nach Erbauungsliteratur Menschen, die zu Ge-

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meinde und Kirche ein distanziertes bzw. gestörtes Verhältnis haben. Sie suchen eine christliche Verkündigung außerhalb einer christlichen Gemeinschaft. Als drittes ist festzustellen, daß zwischen Erbauung und Andacht nicht mehr funktional unterschieden wird. Erbauungsliteratur wird weithin als Andachtsliteratur benutzt und umgekehrt. Die Ziele sind aber andere, denn „andächtig werden" bezeichnet einen religiösen Vorgang, in dem ein Mensch sich in ein Bild, einen Satz oder einen Gedanken so versenkt, daß er das Empfinden hat, mit dem Andachtsgegenstand eins zu werden (—»Meditation). Die Distanz zwischen ihm, dem Subjekt, und dem Bild als Objekt löst sich auf. Der Andächtige vergißt sich selbst. Ursprünglich waren es die —»Bilder in den Kirchen, die zur Andacht verhalfen. V o r Gutenberg fertigte man einfache Stempel an, mit denen man religiöse Motive auf Papier druckte. Diese Produkte waren relativ billig und ermöglichten ihren Besitzern außerhalb der Kirche, wo immer sie wollten, ihre Andacht zu halten. Durch den Buchdruck wurden die Bilder allmählich von Texten abgelöst. Andachtsliteratur entstand. In ihr wurde die Bibel so ausgelegt, daß sie vergegenwärtigt wurde. Der Leser erlebte die unmittelbare Begegnung. Oft war damit eine Lösung von der Welt, d. h. vom Alltagsleben, verbunden. Der Andächtige fühlte sich von allem erlöst. In diesem Gefühl wurde das Andachtsbuch auch „Tröster" genannt. Die Entwicklung von der—»Erbauung zur Andacht wird gefördert durch das Verlangen der Menschen nach einer abgeschirmten und vor allem stillen Welt. Das Christentum versteht sich als Buchreligion. Das Buch konserviert die Offenbarung, und dementsprechend ist vorrangig Lesen die Methode, es zu erschließen. Durch Lesen wird der tote Buchstabe lebendig. Dieses Lesen muß aber gelernt und geübt werden, denn es ist ein erheblicher Unterschied, ob ein Fachbuch, ein Roman, ein Gedicht oder die Bibel gelesen wird. Nicht zuletzt ist es auch eine Funktion der Erbauungsliteratur, den modernen Menschen beim religiösen Lesen anzuleiten. Ihr Ziel ist der mündige Bibelleser. Auch hier eine neue Funktion für die Erbauungsliteratur. Literatur Friedrich Bartsch, Das Amt des Buches in der Gemeinde, Berlin 1961. —Klaus Bockmühl, Bücher — wozu?, Gießen/Basel 1976. - Christ u. Buch. Ein Hb. für die Dienste mit dem gedruckten Wort, hg. v. Oskar Schnetter, 2 Bde., Wuppertal 1970/72. - Ludwig Muth, Gott braucht Leser: StZ 181 (1968) 3 7 3 - 3 8 6 . — Gregor Siefer, Typen des rel. Buches u. seine Funktion in der Gesellschaft, Sonderdruck der „Vereinigung Ev. Buchhändler", o . J .

Hans Wulf Erbsünde —»Sünde Eremiten —»Askese, —»Mönchtum Erfahrung I. Religionsgeschichtlich II. Philosophisch III. Theologiegeschichtlich III/1. Mittelalter und Reformationszeit III/2. Neuzeit IV. Systematisch-theologisch V . Religionspädagogisch

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I. Religionsgeschichtlich 1. Die Verschiedenartigkeit der Menschen und die mit ihr gegebene „Vielfalt religiöser Erfahrung" 2. Das Verhältnis von religiöser Erfahrung und der außerhalb religiöser Zusammenhänge erfahrbaren Realität 3. Stellenwert und Bedeutung der religiösen Erfahrung (Anmerkung/Literatur S. 88)

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meinde und Kirche ein distanziertes bzw. gestörtes Verhältnis haben. Sie suchen eine christliche Verkündigung außerhalb einer christlichen Gemeinschaft. Als drittes ist festzustellen, daß zwischen Erbauung und Andacht nicht mehr funktional unterschieden wird. Erbauungsliteratur wird weithin als Andachtsliteratur benutzt und umgekehrt. Die Ziele sind aber andere, denn „andächtig werden" bezeichnet einen religiösen Vorgang, in dem ein Mensch sich in ein Bild, einen Satz oder einen Gedanken so versenkt, daß er das Empfinden hat, mit dem Andachtsgegenstand eins zu werden (—»Meditation). Die Distanz zwischen ihm, dem Subjekt, und dem Bild als Objekt löst sich auf. Der Andächtige vergißt sich selbst. Ursprünglich waren es die —»Bilder in den Kirchen, die zur Andacht verhalfen. V o r Gutenberg fertigte man einfache Stempel an, mit denen man religiöse Motive auf Papier druckte. Diese Produkte waren relativ billig und ermöglichten ihren Besitzern außerhalb der Kirche, wo immer sie wollten, ihre Andacht zu halten. Durch den Buchdruck wurden die Bilder allmählich von Texten abgelöst. Andachtsliteratur entstand. In ihr wurde die Bibel so ausgelegt, daß sie vergegenwärtigt wurde. Der Leser erlebte die unmittelbare Begegnung. Oft war damit eine Lösung von der Welt, d. h. vom Alltagsleben, verbunden. Der Andächtige fühlte sich von allem erlöst. In diesem Gefühl wurde das Andachtsbuch auch „Tröster" genannt. Die Entwicklung von der—»Erbauung zur Andacht wird gefördert durch das Verlangen der Menschen nach einer abgeschirmten und vor allem stillen Welt. Das Christentum versteht sich als Buchreligion. Das Buch konserviert die Offenbarung, und dementsprechend ist vorrangig Lesen die Methode, es zu erschließen. Durch Lesen wird der tote Buchstabe lebendig. Dieses Lesen muß aber gelernt und geübt werden, denn es ist ein erheblicher Unterschied, ob ein Fachbuch, ein Roman, ein Gedicht oder die Bibel gelesen wird. Nicht zuletzt ist es auch eine Funktion der Erbauungsliteratur, den modernen Menschen beim religiösen Lesen anzuleiten. Ihr Ziel ist der mündige Bibelleser. Auch hier eine neue Funktion für die Erbauungsliteratur. Literatur Friedrich Bartsch, Das Amt des Buches in der Gemeinde, Berlin 1961. —Klaus Bockmühl, Bücher — wozu?, Gießen/Basel 1976. - Christ u. Buch. Ein Hb. für die Dienste mit dem gedruckten Wort, hg. v. Oskar Schnetter, 2 Bde., Wuppertal 1970/72. - Ludwig Muth, Gott braucht Leser: StZ 181 (1968) 3 7 3 - 3 8 6 . — Gregor Siefer, Typen des rel. Buches u. seine Funktion in der Gesellschaft, Sonderdruck der „Vereinigung Ev. Buchhändler", o . J .

Hans Wulf Erbsünde —»Sünde Eremiten —»Askese, —»Mönchtum Erfahrung I. Religionsgeschichtlich II. Philosophisch III. Theologiegeschichtlich III/1. Mittelalter und Reformationszeit III/2. Neuzeit IV. Systematisch-theologisch V . Religionspädagogisch

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I. Religionsgeschichtlich 1. Die Verschiedenartigkeit der Menschen und die mit ihr gegebene „Vielfalt religiöser Erfahrung" 2. Das Verhältnis von religiöser Erfahrung und der außerhalb religiöser Zusammenhänge erfahrbaren Realität 3. Stellenwert und Bedeutung der religiösen Erfahrung (Anmerkung/Literatur S. 88)

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Erfahrung ist im allgemeinen Sprachgebrauch zunächst eine Summe praktischer Kenntnisse, auf die sich nicht nur eine erworbene Fertigkeit, sondern eine Art Lebensklugheit gründet (zum Begriff s.u. Abschn. II. 1). Ein Mensch mit Erfahrung ist jemand, der einem anderen ohne Erfahrung etwas Ganzes voraushat, das als Totalität nicht durch Einzelwissen, einzelne Fertigkeiten, einzelne Kenntnisse infragegestellt werden kann oder — autoritativ, wohl auch mitunter autoritär gewendet - infragegestellt werden darf. In dieser Bedeutung ist Erfahrung im Deutschen kaum im Plural zu verwenden, jedenfalls nicht in bezug auf ein und dieselbe Person. In einer weiteren Bedeutung kann Erfahrung ein einzelnes Erlebnis bezeichnen, das das Wissen jemandes bereichert und - obwohl wiederholbar und viele unterschiedliche Erlebnisse bezeichnend (daher auch im Plural gebraucht) — einen ähnlichen Bezug zur Wahrheit aufweist wie die erste Bedeutung. Denn auch in dieser Bedeutung wird in einem Dialog über die Wahrheit die Erfahrung insofern zum Argument, als dem Bestreiter einer ausgesagten Wahrheit die Wirklichkeit einer Erfahrung entgegengehalten werden kann. Diese in groben Zügen beschriebenen Beobachtungen lassen sich sicher wenigstens durch drei Folgerungen ergänzen: Erfahrung ist auf Erkenntnis bezogen; sie bewirkt eine Bereicherung des Menschen; diese bereichernde Erkenntnis ist, im Unterschied zu anderen, begrenzter wirksamen Ergebnissen von Wahrnehmung, Speicherung und nützlicher Verarbeitung (z.B. Kenntnissen, Fertigkeiten, Wissen), für denjenigen, der Erfahrung macht oder hat, unverlierbar. Denn sie ist ihm nicht nur etwa gleichsam als ein Abbild einer objektiven Realität eingeprägt, sondern prägt vielmehr ihrerseits seinen Umgang mit der ihm begegnenden Realität, prägt damit auch die Erwartungen, mit denen jemand sich auf die Realität und auf die mit ihr verbundenen künftigen Erfahrungen einläßt. Der Grund, warum in einem Dialog über die Wahrheit einer Sache der Hinweis auf die eigene Erfahrung einen abschließenden Charakter als Argument erhalten kann, liegt sicher an ihrer bleibenden Verankerung im Subjekt, an der „Subjekthaftigkeit", die die Erfahrung kennzeichnet. Sie ist es auch, die dem Dialogpartner die kritische Untersuchung des Inhalts einer Erfahrung erschwert oder unmöglich macht. In der Rolle dieses Dialogpartners ist auch derjenige, der sich mitreligiösen Erfahrungen auseinanderzusetzen hat. Er ist Dialog partner, insofern Inhalte von Erfahrungen nicht beobachtet, sondern nur berichtet werden können und insofern ihm diese Inhalte in irgendeiner Weise zugänglich, wenn nicht nachvollziehbar sein müssen und insofern somit eine Auseinandersetzung mit diesen Berichten — im Unterschied zu der Beschäftigung mit beobachtbaren Fakten — eine Auseinandersetzung mit Menschen, die Erfahrungen machen oder eine Erfahrung haben, bedeutet. Für eine kritische Auseinandersetzung mit religiöser Erfahrung und mit den sie beschreibenden Berichten ergeben sich damit drei Schwerpunkte, die zugleich als hauptsächliche Probleme religionspsychologische Fragen angesichts religiöser Erfahrung begrenzen: 1. Die Verschiedenartigkeit Erfahrung"1

der Menschen und die mit ihr gegebene „Vielfalt

religiöser

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, der doppelten Mannigfaltigkeit menschlicher Möglichkeiten, zu existieren und Erfahrungen zu machen oder Erfahrung zu haben, mit Hilfe von ordnenden Begriffen oder durch Systematisierungen Herr zu werden. Denn es scheint plausibel, daß nicht jeder Mensch - völlig unabhängig von seiner charakterlichen Eigenart, unabhängig auch von seiner Biographie und den Lebensumständen, innerhalb derer er die Wirklichkeit wahrnimmt und verarbeitet—zu jeder beliebigen und möglichen Erfahrung fähig ist, sondern daß vielmehr die Eigenart der Erfahrung, die er macht und hat, in irgendeiner Weise von dem abhängt, wie er ist. So hat W. James eine globale Einteilung zwischen zwei Typen von Menschen und den diesen Typen zugeordneten Typen religiöser Erfahrung vorgenommen, indem er den Typ des „Einmalgeborenen" von dem des „Zweimalgeborenen" schied. Auf der Grundlage seines religionsgeschichtlichen Materials, das vor allem aus dem neuzeitlichen angelsächsisch-amerikanischen Raum stammte, unterschied er Menschen mit „robuster Geistesart",

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solche also, denen primär ihre nicht weiter problematisierte Glückseligkeit am Herzen liege, von denen mit einer tendentiell „kranken Seele", die erst durch Leid und innere Not durch eine Art innerer Wiedergeburt zum Ganzsein gelangten. Während die robusteren Menschen auch im Bereich der Religion eher solchen optimistischen, auf physisch-psychische Ganzheit ausgerichteten Heilungsbewegungen zuneigten, etwa der —»Christian Science, geht der Bekehrung, der Wiedergeburt der aus diesem Grunde „Zweimalgeborene" genannten Menschen eine tiefe Verzweiflung über die Sinnlosigkeit der Welt, über die eigene, alles durchdringende Todgeweihtheit und die damit verbundene Unfähigkeit, Glück zu empfinden, voraus. Das Buch von James bietet eine Fülle von Beschreibungen dieser unterschiedlichen Prozesse, mit denen Menschen zur Erfahrung des Heils gelangen. Aufgrund von Beobachtungen aus einem gänzlich anderen kulturellen und religiösen Bereich, nämlich dem der sogenannten primitiven Völker, kommt P. Radin zu einer sehr ähnlichen Unterscheidung von den auf praktische Lebensbewältigung ausgerichteten „Alltagsmenschen", ferner den psychisch labilen Menschen sowie den Denkern, den Philosophen, denjenigen, die auf der Suche sind nach Begründungs- und Bedingungszusammenhängen, die hinter der sichtbaren Wirklichkeit verborgen sind. Diese Unterscheidung gerade bei primitiven Völkern treffen zu k ö n n e n , überrascht insofern, als es einem gängigen Vorurteil entspricht, die Herausbildung des Individuums, das im Bewußtsein seiner Subjekthaftigkeit lebt, als historischen Prozeß zu betrachten, der den „Kollektivismus" der Stammesgesellschaften hinter sich gelassen hat. Diese überzeugend vorgetragene Unterscheidung zwischen den skizzierten Typen von Individuen ist aber auch insofern noch hilfreich, als sie beispielsweise die auch in primitiven Gesellschaften zu beobachtende Pluralität von Glaubensvorstellungen, so die des Glaubens an einen H o c h g o t t neben den vielen direkt in der Welt wirksamen Göttern und Geistern, die einem modernen B e o b a c h t e r vom logischen Standpunkt aus Schwierigkeiten bereitet, verständlich macht (vgl. zu dieser Art „ T y p e n l e h r e " auch T o r Andrae, Die Frage der rel. Anlage, Uppsala 1 9 3 2 ) .

Die „Denker", die sich von den „Alltagsmenschen" unterscheiden, sind es, die die unterschiedlichen Formen des Andersseins, aus denen sich ein „Typus religiöser Autorität" (Joachim Wach, Religionssoziologie, Tübingen 1951, 375 ff) herausbilden kann, repräsentieren. Diese Typologie ist im Hinblick auf das Verständnis für das Thema Erfahrung insofern bedeutsam, als der jeweilige Typus religiöser Autorität von einer jeweils besonderen religiösen Erfahrung geprägt ist, die ihn zu dem werden ließ, was er für die anderen Menschen darstellt. So ist ein Prophet nichts ohne eine bestimmte Erfahrung im Umgang mit dem Göttlichen, das ihn und alle, denen gegenüber er Autorität besitzt, von einer—»Berufung sprechen läßt; der Schamane bezieht seine besonderen Fähigkeiten für die Erfüllung der Aufgaben, die ihm von seiner Gesellschaft gestellt werden, aus einem Verkehr mit göttlichen Mächten, die ihm Wissen, Kenntnisse und Erfahrung, insbes. medizinische, vermitteln (—»Schamanismus) ; der Mystiker wiederum ist erfüllt von seiner Erfahrung, daß die Getrenntheit von göttlicher und menschlicher Sphäre im Menschen selbst als aufhebbar oder als nur scheinbar erlebt werden kann( —»Mystik). (Zu diesen und den anderen so genannten Typen religiöser Autorität vgl. die Zusammenfassung bei Günter Lanczkowski, Einf. in die Religionsphänomenologie, Darmstadt 1978, 8 4 - 1 0 5 ) . Einen Schritt weiter auf das hin, was die religiöse Erfahrung ihrem Wesen nach ist oder sein kann, bedeutet eine Analyse in der Beschreibung typischer Grundzüge der einzelnen Elemente der religiösen Erfahrung und der sie konstituierenden einzelnen Erfahrungen. R. -•Otto hat in seinem Werk Das Heilige ('1917) diesen Versuch unternommen. Er stützt sich dabei auf die schon von N. —»Söderblom formulierte Erkenntnis, daß „Heiligkeit das bestimmende Wort in der Religion" sei, das „noch wesentlicher als der Begriff Gott" sei (Art. Holiness: ERE 6 [1913] 7 3 1 - 7 4 1 ; dt.: Colpe). Indem Otto das „Numinose", das „Heilige minus seines sittlichen Moments" (-•Heilige) faßte, schuf er einen begrifflichen Apparat, der auch heute noch zur Charakterisierung spezifisch religiöser Erfahrung herangezogen werden muß. Die Grundlage für derlei Erfahrungen bildet das „Kreaturgefühl", ein Begriff, mit dem Otto den Schleiermacherschen Begriff von einem Gefühl der „schlechthinnigen Abhängigkeit" neu zu fassen versucht. Der Erlebnischarakter des Numinosen wird von Otto

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zum einen dadurch betont, daß es ein Geschehen ist, das nicht von außen beobachtet, sondern nur als Reflex im einzelnen Menschen erkannt werden kann, zum anderen dadurch, daß dessen Beschreibung nicht die Form einer Definition annehmen kann (das Numinose ist X), sondern nur die Form: „Unser X ist dieses nicht, ist aber diesem verwandt, jenem entgegengesetzt. Wird es dir nunnicht selber einfallen?" (7; Hervorhebung v. Otto). Immer mit diesem Hinweis auf die nur durch Introspektive zu gewinnende Erkenntnis dieser eigentümlichen religiösen Erfahrung des Numinosen qualifiziert Otto ihr Wesen zum einen als den im Menschen entstehenden Reflex auf das Mysterium tremendum, auf das schauervolle Geheimnis, das über die Furcht vor konkreten Bedrohungen hinausgeht und in diesem überschießenden, nicht mit dem Wort -»„Furcht" in Deckung zu bringenden Rest das Religiöse sei. Die Komplexität dieser Erfahrung komme aber nicht nur durch diese spezifisch religiöse Ausprägung des Schreckens, des Schauders, der Furcht zustande, sondern auch dadurch, daß mit ihr untrennbar verbunden sei die Erfahrung des Fascinans, „offenbar zugleich etwas eigentümlich Anziehendes, Bestrickendes, Faszinierendes, das nun mit dem abdrängenden Momente des tremendum in eine seltsame Kontrast-harmonie tritt" (43). Anders gewendet: „So grauenvoll-furchtbar das Dämonisch-Göttliche dem Gemüte erscheinen mag, so lokkend-reizvoll ist es gleichzeitig" (ebd.). Das vielfach in jüngster Zeit auch methodologisch geprägte Unbehagen an der Vagheit solcher Begriffskonstruktionen, wie sie von Otto vorgetragen wurden (vgl. z. B. Gerhard Neuf, Religionswiss. aus der Sicht der Analytischen Phil.: Gunther Stephenson (Hg.), Der Religionswandel unserer Zeit im Spiegel der Religionswiss., Darmstadt 1 9 7 6 , 3 3 9 - 3 5 3 ) , übersieht den Grundansatz Ottos, religiöse Erfahrung nicht definieren zu wollen, sondern dort Verständigungsmöglichkeiten in Begriffen zu schaffen, wo Begriffe und Wörter seiner Meinung nach prinzipiell versagen.

Zu vergleichbaren Einteilungen kam P. Radin bei der Beschäftigung mit den Religionen der Indianer Nordamerikas. Die Empfindung, die Otto als gefühlsmäßigen Reflex auf das Numinose (mit den kontrastierenden Empfindungen destremors und des fascinans) begrifflich zu isolieren versucht hat, erkennt Radin hinter dem Wort Xop der Winnebago (mit gleicher Bedeutung und gleicher Wurzel in allen Siouxsprachen verbreitet), die von Handlungen begleitet sein kann, die bis zur Besessenheit reichen. Der Xop-Erfahrung gegenüber stellt Radin die Erfahrung des Wakan, eine eher passiv bestimmte Einstellung dem Heiligen gegenüber, dem „Kreaturgefühl" in der Ottoschen Terminologie vergleichbar. Bemerkenswert ist nun die Zuordnung zu der jeweils einen oder anderen Kategorie von Menschen: „Es ist klar, daß wir es hier mit Äußerungen der zwei Spielarten unserer spezifisch religiösen Veranlagungstypen zu tun haben . . . Wer das Xoperlebnis sucht oder sich eine Gottheit wählt, die dieses vermittelt, und wer dies ausschließlich oder vorwiegend tut, gehört dem Typus an, den wir durch mehr oder weniger stetige Störungen des seelischen Gleichgewichts charakterisiert haben; wer dagegen das Xop-Wakan-Erlebnis oder das Wakanerlebnis sucht, gehört zum zweiten, zum philosophisch-religiösen Typus" (Radin 82).

Wenn nun aber diese Empfindungen, die die religiöse Erfahrung charakterisieren, in einer so eindeutigen Weise mit dem spezifischen Charakter von Menschen verbunden sind, stellt sich die Frage, ob nicht etwa nur dieser Reflex auf das Göttliche oder Heilige von der jeweiligen Eigenart des Menschen abhängt, sondern vielmehr die religiöse Wahrnehmung überhaupt, gleich in welcher Form ausgeprägt. Oder, anders gewendet: Wenn Otto die Richtigkeit seiner Distinktionen von ähnlich empfindenden Menschen akzeptiert weiß und sich die Wahrheit dessen, was er als Grundmomente der religiösen Erfahrung beschreibt, letztlich nur an ihrer Akzeptanz erweist, die sie bei anderen Menschen mit ähnlicher Erfahrung hat, dann ist damit ein Grundproblem der religiösen Erfahrung überhaupt in den Blick gerückt, nämlich das des Verhältnisses von religiöser Erfahrung und Realität. 2. Das Verhältnis von religiöser Erfahrung und der außerhalb hänge erfahrbaren Realität.

religiöser

Zusammen-

Die von R. Otto durchgeführte Qualifizierung der religiösen Erfahrung als Reflex auf das Heilige oder Numinose ist erheblicher Kritik unterzogen worden. Zum einen deshalb,

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weil die gänzliche Verschiedenheit von Erleben überhaupt vom „numinosen Gefühl", die Otto betont, schon aus dem Grunde nicht aufrechterhalten werden kann, weil es ja doch menschliche Gefühle sind und bleiben, seien sie auf die religiöse Sphäre bezogen oder nicht (vgl. Friedrich Karl Feigel, Das Heilige. Krit. Abh. über Rudolf Ottos gleichnamiges Buch, Tübingen 2 1948; Auszüge: Colpe 3 8 0 - 4 0 5 ) . So bleibt unentschieden, ob das numinose Gefühl ein Gefühl für das Numinose sei oder ob eine bestimmte Numinosität des Gefühls gemeint sei (vgl. Walter Baetke, Das Heilige im Germanischen, Tübingen 1942, Auszüge: Colpe 337—379). Zum anderen richtete sich die Kritik auch gegen Ottos Ineinssetzung von der Existenz eines numinosen Gefühls und der Existenz dieses Numinosen selbst, als sei das erstere ein Existenzbeweis für das letztere: „Uber Dasein und Wesen des objektiv Heiligen, der,Macht' oder des Göttlichen, geben uns die religiösen Gefühle keinen Aufschluß" (Baetke, a . a . O . 356). Andererseits kann genausowenig bewiesen werden, daß es außerhalb der Erfahrungssphäre des Menschen, seiner Gefühle und Empfindungen kein Heiliges gebe. Berichte über religiöse Erfahrungen würden wohl heutzutage außerhalb eines spezifisch religiösen Referenzrahmens in den allermeisten Fällen als „Einbildung" abgetan werden, oder sie würden als Ausdruck einer persönlichen Neurose oder Psychose, sicher aber nicht als Einwirkung des Göttlichen auf einen bestimmten Menschen, angesehen. Dies bedeutet zum einen, daß in heutigen, mitteleuropäischen Alltagssituationen die Wirklichkeit einer religiösen Gegenstandswelt eine geringere Akzeptanz besitzen dürfte als beispielsweise im europäischen Mittelalter. Zum anderen verweist der - auch abschätzig gemeinte - Gebrauch des Wortes „Einbildung" auf den keineswegs passiven, sondern in hohem Maße aktiven Charakter der Wahrnehmung selbst. Hjalmar Sunden hat in seinem höchst aufschlußreichen Kapitel „Wie ein Erlebnis zustande kommt" (Sunden, Religion 3 - 7 ) ausgeführt, in welcher Weise die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit die Wirklichkeit insgesamt nicht etwa nur registriere, sondern aktiv und mit Hilfe von Projektionen verarbeite. Dabei ist der von ihm in die Diskussion um das Phänomen religiöser Erfahrung eingeführte Rollen begriff wichtig: die religiöse Bildersprache innerhalb der Tradition, in der jemand aufwächst, ist nicht nur ein passives Repertoire von vorbildhaften Geschehnissen, sondern auch ein Referenzrahmen, mit dessen Hilfe sich jemand selbst angesichts religiöser Phänomene begreift. Er übernimmt bestimmte Rollen,indem er ein konkretes Geschehen von jemand anders aus, beispielsweise von Gott aus, betrachtet und damit dessen „Verhalten" antizipiert. Sich selbst z. B. als Sünder zu verstehen, einzelne Handlungen oder sein ganzes Leben als Sünde zu begreifen, heißt, sich in Gott hineinzuversetzen, wie er dieses Leben sehen würde, heißt damit die Übernahme der Rolle Gottes (vgl. Sunden, ebd. 106). Damit ist die Möglichkeit angesprochen, daß etwas für einen bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation eine religiöse Erfahrung bedeuten kann, die für einen anderen Menschen als Erfahrung alltäglicher, nicht religiöser Wirklichkeit verarbeitet werden würde. So erhält der religiöse Referenzrahmen, innerhalb dessen jemand lebt, eine überragende Bedeutung; die logische Konsequenz wäre, daß außerhalb eines solchen Referenzrahmens auch das, was Otto das „numinose Gefühl" nannte, kaum entstehen könnte, wovon Sunden auch ausgeht (Sunden, ebd. 86). Diese These wird letztlich z.B. auch durch die Ergebnisss des berühmten Karfreitagsexperiments (—»Ekstase) bestätigt, insofern unter der Einwirkung bewußtseinsverändernder Drogen die Teilnehmer an jenem Versuch zwar von religiösen Erfahrungen, insbesondere solchen mystischer Prägung, zu berichten wußten, daß sich aber die Erlehmsinhalte selbst durchaus in dem Referenzrahmen bewegten, der auch vor dem Drogenexperiment das Leben der Versuchspersonen bestimmte. Noch in einer anderen Richtung ist die Frage nach dem Verhältnis von religiöser Erfahrung und Wirklichkeit von Bedeutung, nämlich in der Richtung des Verdachts oder der These, religiöse Erfahrungen seien Ausdruck neurotischer bzw. psychotischer Desorganisation und Deformation des menschlichen Wahrnehmungsapparats oder des Bewußtseins (vgl. u.a. Erich Fromm, Psychoanalyse u. Religion, Zürich 1966, 38ff). Schon James hatte eine Fülle von Belegen angeführt, aus denen hervorgeht, daß „Religiöse oft neurotisch sind" (18). Gleichwohl sieht er in dieser Affinität von religiösem Erleben und neurotischer Persönlich-

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keit nichts, womit Religion als ganze und das in ihr stattfindende und mögliche Erleben abqualifiziert werden könnte, da nicht der Ursprung solcher Erfahrungen und der Erfahrung überhaupt entscheidend sei, sondern dies, wie sich diese Erfahrung letztlich, „aufs Ganze gesehen", auswirkt: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren Wurzeln. Dabei muß hier die Frage außer acht gelassen werden, ob nicht gerade die Berichte über religiöse Erfahrungen und die sich auf sie gründende Erfahrung dann ein für den Psychiater durchaus bedeutsames Material darstellen können, wenn sie ohne Betrachtung der Relevanz für Zeitgenossen und Spätere, wenn sie als irgendwie besondere Art der Verarbeitung von Wirklichkeit ohne ein Interesse an deren Früchten analysiert werden würde. 3. Stellenwert und Bedeutung der religiösen

Erfahrung

Für den Religionswissenschaftler aber ist die Untersuchung des Inhalts insofern untrennbar mit diesen Früchten verbunden, als sie letztlich die Geschichtsmächtigkeit und damit auch den objektiven Gehalt von religiösen Erfahrungen darstellen. Dies ist am deutlichsten sichtbar in jenen Gestalten der Religionsgeschichte, die als Religionsstifter auftraten. Denn bei jedem von ihnen stand eine kontingente Erfahrung am Anfang ihrer öffentlichen Wirksamkeit, die zur Grundlage des religiösen Referenzrahmens ihrer Anhänger wurde, die diese kontingente Erfahrung in der Form einer autoritativen Überlieferung kennenlernten. Die Offenbarungen, die Mohammed in Visionen und Auditionen empfing, sind zweifellos religiöse Erfahrungen. Daß sie zum Ausgangsdatum einer Weltreligion wurden (—»Islam), liegt mit Sicherheit zunächst daran, daß sie als der Ausdruck von Gottes Willen und Forderung nicht nur von Mohammed, sondern auch von seinen Anhängern aufgefaßt wurden. Andererseits kennt die Religionsgeschichte viele Fälle, in denen die persönliche religiöse Erfahrung in einen so strikten Gegensatz zur offiziellen Lehre und Tradition geriet, daß nicht wenige, die ihrer Erfahrung mehr trauten als der Orthodoxie, zu Märtyrern wurden. Man denke etwa an den bekannten frühislamischen Mystiker al-Halläg, der 922 hingerichtet wurde, weil er seine Einigungserfahrungen mit Gott in einer Weise öffentlich vertreten hatte, die als Bruch mit dem Islam aufgefaßt wurden (vgl. Annemarie Schimmel, Al-Halladsch. Märtyrer der Gottesliebe, Köln 1968; Tor Andrae, Islamische Mystiker, Stuttgart 1960). Als eine weitere Möglichkeit des Zusammenhangs von religiöser Erfahrung und Geschichtsmächtigkeit forderte der frühe —»Buddhismus das praktische Nachvollziehen der von dem Stifter Gautama, dem Buddha, erlangten Erkenntnis, die ausdrücklich als eine Erleuchtung, als religiöse Erfahrung also, die mehr ist als eine intellektuelle Einsicht, beschrieben wird: Der Inhalt dieser religiösen Erfahrung, die vier edlen Wahrheiten, kann nicht durch einen rein intellektuell-affirmativen Akt von dem Jünger Buddhas erfaßt werden, sondern nur durch eine Art Imitatio, durch den edlen achtteiligen Pfad. Dieser fordert die Ausrichtung des ganzen Lebens auf die Ausschaltung der Ursachen des Leidens, um das Nachvollziehen der ursprünglichen Erfahrung des Stifters zu ermöglichen, die erleuchtende Erkenntnis, daß alles Leiden ist und überwunden werden kann und muß. Diese Erfahrung muß also jeder selbst machen: „Es ist schwierig, aus großer Entfernung einen Pfeil nach dem anderen durch ein enges Schlüsselloch zu schießen, ohne ein einziges Mal zu fehlen. Es ist schwieriger, mit der Spitze eines hundertfach gespaltenen Haares ein ebenso oft gespaltenes Haar zu treffen und zu durchbohren. Es ist noch schwieriger zu der Erkenntnis der Tatsache durchzudringen, daß alles hier Leiden ist" (zit. nach Edward Conze, Der Buddhismus, Stuttgart 1962, 42). Anmerkung 1

Dies ist der übersetzte Titel des religionspsychologischen „Klassikers"von James(engl.0rig.:1902). Literatur

Walter Bernet, Inhalt u. Grenze der rel. Erfahrung, Bern/Stuttgart 1955. - Hubert Cancik (Hg.), Rausch - Ekstase - Mystik. Grenzformen rel. Erfahrung, Düsseldorf 1978. - Carsten Colpe (Hg.), Die Diskussion um das Heilige, Darmstadt 1977. - William James, Die Vielfalt rel. Erfahrung, Olten/Freiburg i. Br. 1979. - Wilhelm Poll, Das rel. Erlebnis u. seine Strukturen, München 1974. - Paul Radin, Die

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rel. Erfahrung der Naturvölker, Zürich 1951. - Ninian Smart, The Religious Experience of Mankind, New York 1969. - Hjalmar Sunden, Die Religion u. die Rollen. Eine psychologische Unters, der Frömmigkeit, Berlin 1966. - Ders., Gott erfahren. Das Rollenangebot der Religionen, Gütersloh 1975. Hans Wißmann II. Philosophisch 1. Aristoteles 2. Francis Bacon 3. Von Locke bis zum nachkantianischen Idealismus Diskussion seit dem nachkantianischen Idealismus (Quellen/Literatur S. 105)

4. Die

Zur Bezeichnung der erkennbaren Wirklichkeit überhaupt gebraucht, besitzt der Ausdruck „Erfahrung" in der gegenwärtigen Umgangs- und Bildungssprache eine Komplexität der Bedeutung, die Zweifel an seiner Univozität aufkommen läßt. Es wird vorgeschlagen, den Ausdruck nicht mehr als Symbol eines Begriffs, sondern verschiedener regionaler Erfahrungsbegriffe" zu verwenden (Mieth). Hier soll gezeigt werden, daß die Behauptung der Univozität des Ausdrucks, die Komplexität seiner Bedeutung nicht zu verleugnen zwingt; und zwar durch eine Besinnung auf seine Geschichte. 1.

Aristoteles

In der aristotelischen Fassung des Erfahrungsbegriffs sind bereits alle Bedeutungsdimensionen versammelt, die in der neuzeitlichen Debatte systematisch ausgearbeitet worden sind: e/xneigia (lat. experierttia, nhdt. Erfahrung) bezeichnet den qualifizierenden Grund einer bestimmten Handlungsfähigkeit des Menschen, derzExvt]: Die durch eftJieigia begründete Wirkfähigkeit des Menschen unterscheidet sich von der TVX>] dadurch, daß ihr überhaupt ein Xöyog (eine ßovXevaig) zugrundeliegt; von d e r d r e ^ v i a dadurch, daß sie sich auf einen Xoyog aXtjdrjg und nicht yiEVÖrfg ( 1 1 4 0 a 2 ff) stützt, ¿¡.uiEigia qualifiziert die menschliche Wirkfähigkeit durch Begründung von Sachverstand, indem sie aus vielen Wahrnehmungen eine „generelle" Annahme über „ähnliche Fälle" aufbaut (vgl. 981 a 5 - 7 ) . - W a s ist aufgrund dieser Funktion von £ f u t E i g i a hinsichtlich ihres Inhalts, ihrer Konstitution, ihrer Form, und ihrer Einschätzung zu sagen? Ihr Inhalt sind jigäyfxara, einzelne Fälle des menschlichen Umgangs mit Dingen ,-aioOrjoig, wodurch die iftjieigia konstituiert wird, bezeichnet das dem Menschen mit allen Tieren gemeinsame Wahrnehmungsvermögen (980a27ff),ixvrjfit] den dem Menschen nur mit wenigen Tieren gemeinsamen Grund seiner Erkenntnisfähigkeit ( 9 8 0 a 28 f f ) ; sie ist also der spezifische Grund der ißTceigia ( 9 8 0 b 28 f). Daraus folgt analytisch die Einsicht: viog d' E/aietgog ovx ecmv jiXfjßog yäg xgovov noiei rfjv Efui£igiav( 1142 a 15f). Es gilt also: Erfahrung ist erinnerte Praxis. — Ihrer Form nach ist die so gedachte tfineigia unterschieden sowohl von T¿%vrj als auch von inicnr^ir]. Hat diese es mit den immer gleichen, ewigen, unvergänglichen Sachverhalten zu tun, die nicht anders sein können und so unserem Handeln entzogen sind ( 1 1 3 9 b 2 2 f f ) , so richten r e / v t ] und epnEigia sich auf dasjenige, was anders sein kann, veränderlich und insofern Gegenstand unseres Schaffens ist ( 1 1 4 0 a 12f). Die der XEXVT) undefiJieigia zukommendevjröXrjipig ist fallibel ( 1 1 3 9 b l 7 f ) . I n ihrer schlechthinnigen Allgemeinheit und Unveränderlichkeit ist imortj/zr] lehrbar ( 1 1 3 9 b 2 5 f ; 1 1 4 2 a 11 ff), r¿xvi] und e^jieigia hingegen nicht in gleicherweise (vgl. 1 1 4 2 a l 7 f f ) . Im Unterschied zur TEXVT], die alle möglichen gleichartigen Fälle zu erfassen sucht, beschränkt sich dieE]uiEigia strikt auf Einzelfälle (981 a 15 f). Dieses „Besondere" (xaQ' exaoTov) ist dem unveränderlich Allgemeinen entgegengesetzt. Es wird aber nicht als das „Einzelne" unter Ausschluß von Allgemeinheit, sondern als das Allgemeinheit einschließende Individuelle gedacht. Das zeigt sich an drei Eigentümlichkeiten: a) Auch diei/jJiEigia ist schon ein eine Erinnerungsmannigfaltigkeit zusammenfassendes Allgemeines; b) das ihr bekannte Individuelle kann mit anderem Individuellen als gleichartig zusammengefaßt werden, so daß schon efuiEtgia allein einen erfolgreichen Umgang mit dem Individuellen ermöglicht (981 a 12ff); c) die empirische Erkenntnis des Individuellen ist selber Ausgangspunkt für die allgemeinen Einsichten nicht nur deiTEXvt], sondern auch derETttarrjfiT} (981 a 2 ff). - Zusammenfassend kontrastiert Aristoteles die ifuieigia der x¿xvi] und Emortjur] als ein Wissen-daß dem Wissen-warum

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( 9 8 1 a 2 8 - 3 0 ) . Darin steckt eine höhere Wertschätzung derri%vr] und émarrifir¡ gegenüber der bloß dem Gedächtnis folgenden éfvteiQÍa und der durch sie begründeten Handlungsgewohnheit (981 b 5). Das beruht aber nicht auf einer kraft Kenntnis von ahiai höheren Effektivität der réxvrj oder imaTr¡fir¡\ denn die hier innegehabten Gründe sind nur zum Teil Wirkursachen, vielmehr vor allem Zwecke. 2. Francis Bacon Es ist diese Geringschätzung von praktischer Effektivität, die das Erfahrungsthema bei Aristoteles wie in der gesamten antiken und mittelalterlichen Kultur im Hintergrund bleiben läßt. Umgekehrt läßt die Hochschätzung von Effektivität in der Neuzeit das Erfahrungsthema ins Zentrum der Aufmerksamkeit treten. Francis Bacons (1561-1626) Novum Organoti zeigt, daß und wie dieser Wandel sich vollzieht. Fundamental ist der Blick auf die Zielsicherheit menschlichen Könnens (1,2.3; „Macht": 11,3.4). Diese besteht in der Fähigkeit, die natürlichen Körper so zu arrangieren, daß aufgrund dieser Konstellation die Kräfte der Natur in der gewünschten Weise zu wirken beginnen (1,4). Entsprechend verändert sich der Begriff der „wahren Wissenschaft" (1,11): Zum „Nutzen für das Leben" trägt nur solches Wissen etwas bei, welches „die Natur durch die T a t " zu „unterwerfen" erlaubt (1,20), gesetzmäßiges Ursachenwissen also (11,2,6). Der Weg zu solcher Naturerkenntnis ist die experientia als experientia ordinata (1,82): Wie die bisher im Wissenschaftsbetrieb herrschende experientia vaga (vgl. 1,25.70) hat sie ihr Fundament in der sinnlichen Wahrnehmung („Beobachtung": 1,1.15) der Einzeldinge, besteht aber im Unterschied zu jener in einer methodisch kontrollierten Hinführung der Menschen „zu den Einzeldingen selbst (a) und zu ihren Folgen (b) und Ordnungen (c)" (1,36). Gcsamtresultat: a) Die aristotelische Grundbedeutung von „Erfahrung" als „erinnerte Praxis" bleibt erhalten, wird allerdings auf die Praxis der Experimente und ihrer Erinnerung in einer „Experimentalgeschichte" (11,10) zugespitzt, b) In dieser methodischen Zuspitzung wird „Erfahrung" zum Fundament „wahrer Wissenschaft" als einer solchen Erkenntnis, die ihrerseits produktives Handeln ermöglicht. So tritt ein spezifischer ethischer Sinn von Erfahrung als Fundament einer solchen Erkenntnispraxis hervor, die ihrerseits Handeln zielsicher macht. - Damit sind die drei großen Problemdimensionen - „Erfahrung" als Fundament allen wahren Wissens, „Erfahrung" damit als Fundament einer Erkenntnispraxis die die Lebenspraxis orientiert und schließlich die Problematik des Verhältnisses zwischen erinnerter Lebenspraxis und (erfahrungs) wissenschaftlicher Praxis - angesprochen, in denen sich die neuzeitliche Entwicklung des Erfahrungsbegriffs bewegt. Diese verläuft in einer von Locke bis zum nachkantianischen Idealismus reichenden Fundierungsphase (Abschn. 3) und einer deren Ergebnisse in Frage stellenden, aber de facto nur entweder hinter sie zurückfallenden oder sie präzisierend bestätigenden Revisionsphase (Abschn. 4), an der verschiedene philosophische Schulen beteiligt sind.

3. Von Locke bis zum nachkantianischen

Idealismus

John Locke ( 1 6 3 2 - 1 7 0 4 ) führt den Erfahrungsbegriff in die schon von —»Descartes eröffnete neuzeitliche Debatte um die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen ein. Hatte sich Descartes auf die Frage nach der Gewißheit von Wissen konzentriert, so fragt Locke nach der Gegebenheitsweise der Gegenstände allen möglichen Wissens. Dabei bezeichnet der Ausdruck „Wissen" („knowledge") die satzförmige Auffassung der zwischen Bewußtseinsinhalten („ideas") bestehenden Verbindungen („connections") und Übereinstimmungen („agreements") einerseits, ihrer Abstoßungen („repugnancies") und Widersprüche („disagreements") andererseits. Wahrheit meint dann nichts anderesals„thejoiningorseparating of Signs, as the Things signified by them do agree or disagree one with another" (4,1,2). In dieser Formulierung ist vorausgesetzt, daß nicht nur die sprachlichen Symbole der „ideas" Zeichen sind, sondern auch die „ideas" selber (3,3,11; 4,1,2): Sie sind Zeichen der unabhängig von und vor ihrem Gewußtwerden bestehenden Realität. Mit Lockes Theorie der „ideas" ist die Frage nach den Objekten des Erkennens als Frage nach dessen Umfang im Prinzip beantwortet, und zwar in einem durchaus traditionellen, auch Descartes bestätigenden Sinne: unser direktes Wissen erstreckt sich auf das Selbst, die äußere Körperweit und

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Gott (4,9-11). Aber er beschreibt nicht nur das Gegebense/« der Objekte möglicher Erkenntnis in Gestalt der „ideas", sondern fragt weiter nach der Weise ihres Gegebenwerdens. Locke hat in der Geschichte des Erfahrungsbegriffs dadurch Epoche gemacht, daß er zur Beschreibung der Konstitution der Wissensgegenstände eben diesen Begriff aufgreift: Wie kommt es zu den „ideas" jeder Art?: Durch „EXPERIENCE" (2,1,2). Die Bedeutung von „Erfahrung" wird also auf einen Punkt des traditionellen Begriffsgehaltes konzentriert: die aiaOrjaig der Gegenstände möglichen Handelns. Das scheint zunächst eine semantische Engführung des Erfahrungsbegriffs zu sein. Tatsächlich aber stellt die terminologische Entscheidung Lockes nur einen systematischen Zusammenhang zwischen den seit Bacon offenkundigen Dimensionen des Erfahrungsproblems her: An der Bestimmung von „Erfahrung" als Fundament allen wahren Wissens entscheidet sich, wie Erfahrung als Fundament der die Lebenspraxis orientierenden Erkenntnispraxis zu denken und das Verhältnis jener zu dieser zu bestimmen ist. Für den Gang der Debatte war entscheidend, daß Lockes eigene Bestimmung von „Erfahrung" als Begriff der Konstitution von Wissensgegenständen (3.2) ungelöste Fragen einschloß, die seine Weiterentwicklung in unterschiedliche Richtungen - eine (unterschiedlich interpretierte) sensualistische (3.3) und schließlich eine kritisch-transzendentalphilosophische (3.4) — mit unterschiedlichen Konsequenzen für die drei grundlegenden Problemdimensionen auslöste. Erst in der den kritischen Ansatz vollendenden Form des Erfahrungsbegriffs im nachkanrianischen Idealismus (3.5) wird Erfahrung als Fundament des Wissens so bestimmt, daß von da aus die drei wesentlichen Problem- und Bedeutungsdimensionen des Begriffs einen kohärenten Zusammenhang gewinnen (3.6) und die Weite des antiken Erfahrungsbegriffs in präzisierter und konkretisierter Form wiederkehrt (3.7). Der Ubersicht über diese Problemgeschichte geht eine systematische Skizze der Anforderungen voraus, die an eine Lösung des von Locke exponierten Problems zu stellen sind (3.1).

3.1. Der Begriff der Konstitution von Gegenständen möglichen Wissens, der der von Locke skizzierten Konzeption von Wissen gerecht wird, müßte besagen: das Erschlossensein-/iiHume verfolgt den Ansatz Berkeleys in seine skeptischen Konsequenzen hinein. Erstens: Hume wendet Berkeleys Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Existierenden von seinem Gegebensein in der Erfahrung. Dies geschieht gegen Berkeley selber durch den Nachweis, daß auch das erkennende Ich und seine Aktivität keine „perception"

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und insofern kein Wissensgegenstand ist. — Zweitens: Dementsprechend kann Hume auch die von Locke getroffene Unterscheidung zwischen „ideas of sensation" und „ideas of reflection" nicht mehr, wie noch Berkeley, als Differenz zwischen Edahtungsinhalten (passives materielles und aktives geistiges Sein) denken. Er bestimmt sie vielmehr strikt als Funktionsdifferenz: Alle „perceptions" zerfallen in „impressions" (alles, was als gegenwärtig gefühlt wird) und „ideas" (die „Abbilder" der Impressionen, in denen diese zum Bewußtsein kommen). Dabei sind die „ideas" eine Teilklasse aller „impressions". Dies besagt nicht nur, daß sie selber auch als Impressionen an der Lebendigkeit und Wirksamkeit der Impressionen teilhaben, sondern vor allem, daß sie auch an der Fähigkeit aller Impressionen teilhaben, ihrerseits wiederum in Ideen kopiert zu werden (also eine Reflexionsgestalt anzunehmen). Die Unmittelbarkeit der Impressionen wird von Hume also als dasjenige in Anschlag gebracht, was deren Selbstreflexion in den „ideas" ermöglicht und damit alle Reflexionsgestalten so umschließt, daß keine sich von ihr emanzipieren kann. — Drittens: Von den drei Merkmalen, die Berkeley zufolge die realen Eindrücke von den phantasierten unterscheiden und damit die Gewißheit des Wissens ermöglichen - Unwillkürlichkeit, Lebhaftigkeit, Geordnet- und Geregeltsein - kann Hume nur die beiden ersten Merkmale festhalten. Humes Bestreitung von selbständig wirkenden Vernunftwesen als perzipierbar gegebener Realität hat zunächst zur Folge, daß alle rationale Gewißheit nicht nur hinsichtlich des vernünftigen „Ich", sondern damit zugleich auch hinsichtlich Gottes als vernünftigen Welturhebers, hinsichtlich eines berechenbaren Wirkungszusammenhangs zwischen den Weltereignissen und damit auch hinsichtlich der Anforderungen an die eigene Lebensführung der Menschen hinfällt. Hält man sich an das perzipierbar Gegebene, so kommt als Grund der Regelmäßigkeit im Geschehen selber und damit als Grund der Wahrheit unserer Vorstellungen („ideas") über sie eben nur sie selber, also die faktische kontingente Kontinuität des Perzeptionenstromes, in Betracht. - Viertens: Unbeschadet dieser Kritik des Berkeleyschen Rationalismus bleibt Hume aber dem „neuen Prinzip" Berkeleys treu, die Verfassung der erkennbaren Realität aus der Weise ihres Gegebenseins (Erfahrung) zu bestimmen. Für Berkeley hatte die Gegebenheitsweise von Gegenständen möglichen Wissens symbolische Struktur und dementsprechend interpretierte er die Verfassung der erfahrbaren Realität als allumfassendes Zeichensystem. Für Hume ist die Gegebenheitsweise von Gegenständen möglichen Wissens der Zusammenhang von „impressions" und „ideas", und dieser bildet für Hume auch die Grundstruktur der menschlichen Lebenswirklichkeit. Sie wird in dieser ihrer Verfassung für Hume der zentrale und allumfassende Gegenstand des Wissens, der „science". Fünftens: Humes Beispiel zeigt freilich, daß es für eine befriedigende Lösung des von Locke hinterlassenen Problems der Wahrheitsfähigkeit von Erfahrungswissen nicht genügt, bei der Auflösung der Differenz zwischen Gegebenheitsweise und Verfassung der Gegenstände möglichen Wissens nur die selbstwidersprüchliche materialistische Reduktion der Gegebenheitsweise zu vermeiden. Humes Auffassung läßt vielmehr offen, ob im Erfahrungswissen nicht ein Automatismus passiver Ideation (und damit auch Handlungsmotivation) herrscht, der wie die materialistische Auffassung das Problem der Wahrheitsfähigkeit von Wissen mit der Leugnung von Wissen als fallibler Tätigkeit überhaupt zum Verschwinden bringt. Diese Frage ließe sich nur durch eine Untersuchung des zwischen „impressions" und „ideas" bestehenden Abbildungsverhältnisses entscheiden. M u ß dieses als ein Mechanismus oder muß es als wahrheitsfähige (also fallible) Tätigkeit eines erkennenden Subjektes gedacht werden? Humes Theorie wird so zum Anlaß fiir einen weiteren Gesprächsgang, der sich jetzt auf die Probleme des Verhältnisses zwischen Impression und Reflexion einerseits, Gewißheit andererseits konzentriert.

3.4. Auch für I. —»Kant verweist der Begriff der Erfahrung auf das Problem der Konstitution von Gegenständen möglichen Wissens. Kant sieht sich vor der Aufgabe, Aposteriorismus und Apriorismus in der Konstitution von Gegenständen möglichen Wissens so zu verbinden, daß in der Einheit des realen Wissens, der Erfahrungserkenntnis, zugleich unveränderliche, universale Sachverhalte und veränderliche Einzelsachverhalte erfaßt werden kön-

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nen. Kants Problemlösung besteht in d e m Versuch, die traditionell nur mit einer Quelle (Konstitutionsschicht) rechnende Theorie v o n der rein passiven Konstitution der Gegenstände m ö g l i c h e n Wissens u n d dessen ausschließlicher Aposteriorität zu einer mit zwei Konstitutionsschichten rechnenden Theorie fortzuentwickeln u n d diese im ganzen als apriorisches Wissen vorzutragen. Diese Einordnung des Aposteriorismus in den A p h o r i s m u s des Wissens ist aber mit strukturellen Problemen belastet. 3.4.1. Erstens: Kant setzt seine Theorie der Gegenstandskonstitution als transzendentalphilosophische Untersuchung der Bedingungen allen möglichen realen Wissens auf dem Allgemeinheitsniveau der formalen Logik an. Dadurch ist sie von jedem Einzelbereich realen Wissens, auch der Psychologie, unterschieden. — Zweitens: In der von Berkeley und Hume bereits eindeutig verneinten Frage nach der Unterscheidbarkeit von Existenz und Verfassung der Gegenstände möglichen Wissens von ihrer Gegebenheitsweise schwankt Kant. Neben der auf der Linie Lockes liegenden Rede von die Empfindungen verursachenden „Dingen an sich" finden sich Passagen, die die Ununterscheidbarkeit von Gewußtem und Wirklichem voraussetzen. Kants Nachfolgerhaben gezeigt, daß seine Theorie durchgehend in dem zuletzt genannten Sinne interpretierbar ist. - Drittens: Der Schwerpunkt der Kantschen Theorie liegt aber auf der Interpretation des Verhältnisses zwischen Rezeptivität und Aktivität des Geistes in der Perzeption von Gegenständen. Anders als Hume interpretiert Kant den Vorgang der Vorstellungsbildung nicht als automatisch und nach den Regeln der Assoziation verlaufenden passiven Prozeß, sondern als spontane Synthesis eines zunächst ganz diffusen Mannigfaltigen unter Anschauungsformen und Begriffen zur Einheit einer Gegenstandsauffassung. Das entscheidende Moment aktiver begrifflicher Synthesis kann in der Gegenstandskonstitution nur unter der Bedingung auftreten, daß das wissende Ich in ihr nicht nur — wie bei Hume — als aus ihr resultierende, rein rezeptive Instanz vorkommt, sondern als Instanz, die in der Einheit ihres Selbstbewußtseinsso mit sich identisch ist, daß sie in diesetselbstbewußten Identität der Ursprung der gegenstandskonstitutiven Begriffe und zugleich das Subjekt von deren freier Anwendung in der Gegenstandssynthese ist. Für die Einheit des Konstitutionsprozesses der Erfahrungserkenntnis ist darüber hinaus der „Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" grundlegend. Er stellt die Anwendbarkeit der Verstandesbegriffe auf Erscheinungen sicher. — Viertens: Diese Theorie räumt zwar den reinen Verstandesbegriffen eine notwendige Funktion in der Konstitution von Gegenständen möglichen Wissens ein, bindet sie aber in dieser Funktion ebenso notwendig an die empirische Anschauung, mithin an die Möglichkeit empirischer Erkenntnis, die .Erfahrung' heißt. Damit aber fallen die traditionellen Themasachverhalte der Metaphysik - Seele, Welt, Gott - als Gegenstände metaphysischen (apriorischen) Wissens aus; es bleiben als derartige Gegenstände nur die Gegenstände der Mathematik und der reinen Naturwissenschaft. 3.4.2. Diese als Apriorismus konzipierte Theorie der Erfahrung bietet inhaltliche und formale Probleme, die eine Revision oder zumindest Präzisierung des Verhältnisses zwischen Passivität und Aktivität und entsprechend von Aposteriorität und Apriorität im Wissen verlangen. — Die inhaltlichen Fragen betreffen erstens das Verhältnis zwischen Existenzverfassung und Gegebenheitsweise der Gegenstände möglichen Wissens (Ding an sich und Erscheinung), zweitens die Verfassung des selbstbewußt freien Subjekts des Wissens und seiner Stellung im Prozeß der Gegenstandskonstitution. Wie verhalten sich die für die Verfassung von Selbstbewußtsein selbst schon konstitutiven Momente der Passivität und Aktivität zueinander sowie diese ursprüngliche Passivität zur Rezeptivität der Sinnlichkeit? — Die beiden formalen Fragen betreffen den Status der Theorie als solcher: Erstens: Ist die vorgetragene Theorie der Erfahrungserkenntnis ihrerseits einer reflexiven Thematisierung zugänglich? Zweitens: Ist nach einer von hier aus in Betracht kommenden Korrektur der rein apriorische und rein formale Status der Theorie noch zu vertreten? 3.5. D i e bisher skizzierten Beiträge zur Theorie v o n Erfahrung k ö n n e n sämtlich als Versuche gelesen werden, die im Lockeschen Entwurf enthaltenen Widersprüche und Probleme (s.o. Abschn. 3.1) z u beseitigen. Die skizzierten Lösungsversuche mündeten schließlich bei Kant in das Problem des nicht auf Sensationen zurückführbaren, aber für alle Erfahrungserkenntnis grundlegenden ursprünglichen Selbstbewußtseins. So wird die Theorie des Selbstbewußtseins z u m Grundthema aller Vertreter des nachkantischen —>Idealismus. Das geschieht zunächst mit der Absicht einer Überwindung der inhaltlichen und formalen Inkonsistenzen der Kantischen Theorie von Erfahrung ( 3 . 5 . 1 - 3 ) , stellt aber de facto die Erfüllung des Lockeschen Programms dar (3.6); in ihr konkretisiert sich der Begriff von Erfahrung als Gegebenheitsweise von Gegenständen möglicher Gewißheit so, daß er wiederum zum Begriff von Erfahrung als erinnerter

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Praxis wird, die die von Bacon programmatisch beschriebene experimentelle Praxis der Wissensproduktion einschließt (3.7).

3.5.1. Grundeinsicht der nachkantianischen Theorie des Selbstbewußtseins ist, daß dessen Verfassung Möglichkeit^r««cf aller Akte einer selbstbewußten Instanz und deshalb nicht aktiv durch sie (etwa durch ihre Reflexionen), sondern passiv für sie konstituiert ist. J.G. —»Fichte hat seine Einsicht in die Konstituiertheit von Selbstbewußtsein vor jeder selbstbewußten Tätigkeit schließlich in die metaphorische Beschreibung dieser Tätigkeit als einer solchen gefaßt, der das „sich selber klare" Auge der Urania „eingesetzt ist" (vgl. Henrich 206ff). F. W. J. —»Schelling begreift die passive Konstituiertheit des selbstbewußten Ich aus der Freiheit der Indifferenz von Subjekt und Objekt, die nicht die Freiheit des Ich selber, sondern des Absoluten ist. G. W. F. —»Hegel hat als die Sphäre, in der das Selbstbewußtsein wird, ebenfalls die Einheit von Sein und Wissen, von Allgemeinem und Besonderem in der „Erscheinung" in Anschlag gebracht (Phänomenologie 39,25 ff; Logik 11,101 ff; vgl. Heidegger). Und F. D. E. —»Schleiermacher hatte das „unmittelbare Selbstbewußtsein" als „Gefühl des Seins" begriffen, in welchem das individuelle Selbst sich selber als es selber erschlossen und insofern zugleich dessen „unmittelbarer Begriff" ist (vgl. Herms 138.180—183). Diese Auffassungen von der Vorgegebenheit des Selbstbewußtseins für alle Akte der selbstbewußten Instanz beseitigen nicht nur die Selbstwiderspriichlichkeit der Annahme einer Konstitution des Selbstbewußtseins durch die Reflexionsakte der selbstbewußten Instanz. Sie stellen vielmehr auch die durch Kants Lehre von der Sinnenunabhängigkeit des Ich gefährdete Einheitlichkeit von Erfahrung als Konstitutionsweise von Gegenständen möglicher Gewißheit sicher: Die Verfassung von Selbstbewußtsein erweist sich als der Möglichkeitsgrund des Zusammenwirkens von sinnlicher Rezeptivität und Spontaneität des Intellekts: Erstens ist es jetzt möglich, die Passivität der Konstitution des Selbstbewußtseins von der Rezeptivität der Sinne zu unterscheiden. Zweitens wird auch der Zusammenhang von Anschauung und Begriff sowie der Schematismus aus der Verfassung des Selbstbewußtseins selber begreifbar. 3.5.2. Die Einsicht der Nachkantianer, daß die Theorie des Selbstbewußtseins inhaltlich grundlegend und umfassend ist für die Theorie von Erfahrung,beseitigt auch die beiden formalen Mängel, die der Theorie in ihrer Kantischen Fassung anhängen: Zunächst werden erst durch die Vorgegebenheit von Selbstbewußtsein für die selbstbewußt handelnden Individuen diejenigen reflektierenden Erkenntnisakte verständlich, denen sich die Theorie der Erfahrung selber verdankt. — Das kommt einerseits in Aussagen zum Ausdruck, die dieselbe erfahrungsmäßige Gegebenheitsweise, die für alle Einzelgegenstände besteht, auch für diese Gegebenheitsweise selber in Anspruch nehmen, insbesondere im Konzept der „intellektuellen Anschauung" bei Fichte und Schelling, zeitweilig auch Schleiermacher. Hegel hat den grundlegenden und schlechthin umfassenden Charakter des sich selbst Gegebenseins von individuellem Bewußtsein in der Erscheinung dadurch unmißverständlich zum Ausdruck zu bringen gesucht, daß er den Ausdruck „Erfahrung" auf diese eine Gegebenheitsweise - der Gegebenheitsweise von Gegenständen in der Erscheinung — bezieht (vgl. Heideggers pointierte Interpretation: „Das Wesen des Erscheinens ist die Erfahrung", 167); „Erfahrung" ist die Weise, in der die erscheinende Wirklichkeit als sie selber bewußt ist (Enzyklopädie § 6); zugleich ist Erfahrung damit die Weise der Wahrnehmung der Differenz zwischen den erscheinenden Weisen des Erscheinens und diesem selber. In der dialektischen Bewegung der „Vereinigung" der erscheinenden Weisen des Erscheinens (Gestalten des Bewußtseins) mit dem seiner selbst gewissen Erscheinen entspringt je ein neuer „wahrer" (= mit dem Erscheinen übereinstimmender) Gegenstand (vgl. Enzyklopädie § 7 Anm.). Schließlich tritt die Erscheinung derjenigen Gestalt des Bewußtseins hervor, welche als Denken des Denkens restlose Übereinstimmung von Erscheinendem und Erscheinen und insofern absolute Wahrheit ist. Aber diese Konzentration des Ausdrucks „Erfahrung" auf das Innesein von erscheinenden Weisen des Erscheinens und schließlich auf die völlige Entsprechung von Inhalt (erscheinender Weise des Erscheinens) und Form (Erscheinen dieses Erscheinenden) hat drei

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Nachteile: Erstens rückt sie die interne Struktur aller in der Erscheinung für sich selbst erschlossenen Gestalten des Bewußtseins, Resultate von synthetischen Konstruktionsakten eines selbstbewußten Individuums zu sein, in den Hintergrund der theoretischen Aufmerksamkeit. Zweitens erklärt sie die Evidenz des Verhältnisses zwischen erscheinender Weise des Erscheinens (Gestalt des Bewußtseins) und ihrem Erscheinen nicht nur zur notwendigen, sondern zur hinreichenden Bedingung der eine neue - und zwar wahrere — Gestalt des Bewußtseins „entspringen" lassenden „Erfahrung". Auch hier wird der konstitutiven und konstruktiven Tätigkeit des endlichen Subjekts nicht Rechnung getragen. Damit provoziert sie — drittens — selber das Mißverständnis, diesen Prozeß der Negation nicht als Prozeß zunehmender Konkretisierung, sondern zunehmender Ablösung (vgl. Heidegger 125) der Selbsterfahrung von Welterfahrung anzusehen. Der durch die so gedachte Erfahrung gegebene Sachverhalt des Erscheinens von Erscheinendem tritt nicht als Grund der Möglichkeit und Verbindlichkeit bestimmter Formen falliblen Wissens von Erscheinendem auf, sondern als Grund von dessen möglicher Vergleichgültigung zugunsten der infalliblen Tautologie des Erscheinens im Denken des Denkens. Diese drei Bedenken lassen sich in das eine zusammenfassen, daß Hegels Begriff von Erfahrung diese nicht wesentlich auch als konstruktive Aktivität der endlichen Subjekte denkt. Der Sachverhalt, daß kraft Selbstbewußtheit der erfahrungmachenden Individuen das Erfahren selber ein Gegenstand möglicher Gewißheit ist, wird durch Fichtes metaphorische Rede vom „in-sich"-Klarsein des Auges der Urania als Grund seines Welterblickens und dann in Schleiermachers Theorie vom unmittelbaren Selbstbewußtsein („Gefühl") als Ermöglichungs- und Verpflichtungsgrund allen durch aktive Vermittlungsleistungen der selbstbewußten Individuen konstituierten realen Wissens (von der „Anschauung" bis zum „spekulativen" Begriff) erfaßt. Diese Theorie hält vor allem fest, daß auch die für alle vermittelte Gegenstandserkenntnis grundlegende Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins nur im Medium der Reflexion und damit der - Fallibilität ermöglichenden - Differenz zwischen Wissen und Gewußtem erfaßt und gedacht werden kann. Weil die Wahrheit realen Wissens nie tautologisch ist, ist sie nie infallibel; Gewißheit bleibt unter dem Vorbehalt besserer Einsicht. Indem die Theorie der allen Reflexionsakten vorausliegenden Selbstbewußtheit von Individuen erklärt, daß die Erfahrung selbst Wissensgegenstand ist, erklärt sie auch, wie sie dies ist und beseitigt damit auch das zweite formale Rätsel der Kantischen Theorie, nämlich das Verhältnis der transzendentalen Theorie von der allgemeinen Struktur aller möglichen Erfahrung zur Erscheinung, zur Besonderheit jeder einzelnen wirklichen Erfahrung: Die vorgängige Selbstbewußtheit der individuellen Subjekte muß als Erschlossensein von Individuellem für es selber als durch es selbst bestimmbar gedacht werden. Darin ist das individuelle, auf Umwelt bezogene Selbst sich zugleich als besonderes im Lichte von Allgemeinheit, das besondere selbsthafte Individuum sich in seiner selbsthaften Individualität erschlossen. Fichte scheint diese Konsequenz aus der Theorie der Selbstbewußtheit der erfahrungmachenden Instanz nicht klar gezogen zu haben (vgl. Henrich 230f). Ebenso ist Schelling zunächst vor allem am Unterschied des empirisch Besonderen und des vernünftig Allgemeinen interessiert und bestimmt auf der zuletzt genannten Ebene die Indifferenz von Subjekt und Objekt eher im Sinne der Indifferenz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit als im Sinne der Gleichursprünglichkeit und Vermitteltheit von Besonderem und Allgemeinem. Hegel hat hingegen mit Kant (KdU) gegen Kant (KdrV) geltend gemacht, daß eben in der Erscheinung Besonderes und Allgemeines gleichursprünglich sind, Besonderes als bestimmt durch das Allgemeine und nur dadurch als es selber, also als Element aus der Klasse des gleichartigen Möglichen erscheint (Enzyklopädie § 5 5 - 5 9 ) . Schleiermacher hat von Anfang an das unmittelbare Selbstbewußtsein als unmittelbaren Begriff des leibhaften Individuums, am sich selber unmittelbar erschlossenen Individuum die Kategorie der Individualität und ihre Implikationen erschlossen gesehen (vgl. Herms: ZThK 73,138.186.196ff). Expliziter und ausdrücklicher — auch als Hegel (gegen Liebrucks) — hat Schleiermacher darauf hingewiesen, daß in der im unmittelbaren Selbstbewußtsein begründeten Einheit von Natur und Vernunft der individuelle Organismus Symbol und das Bewußtsein sprachlich (symbolisie-

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rende Tätigkeit) ist. Er bestätigt damit den Gesichtspunkt der älteren Kantkritik J . G . —•Hamanns und J . G . —>Herders, die behauptet hatten, daß Kants Theorie des transzendentalen Subjekts von der Nichtbeachtung der Sprachlichkeit des Wissens lebe. 3.S.3. Die nachkantianischen Entwürfe einer Theorie des Selbstbewußtseins als Möglichkeitsgrund von Erfahrung resultieren alle in der Korrektur des Grundfehlers schon der Lockeschen Erfahrungstheorie, der Annahme einer Differenz zwischen Gegebenheitsweise von Gegenständen möglichen Wissens und ihrer Verfassung in der Konzeption des „Dinges an sich" hinter seiner Erscheinung. Alle nachkantianischen Positionen insistieren darauf, daß in der selbst wißbaren Struktur von Erfahrung als Konstitutionsweise allen möglichen realen Wissens (wißbaren Realen) die Struktur von welthafter Realität selber, das Sein des welthaft Seienden erfaßt wird. Kants Nachfolger stoßen zu einer Metaphysik der Erfahrung vor, die die Themen der traditionellen Metaphysik — Selbst, Welt, Gott - wieder soweit in sich schließt, wie sie Implikationen jenes einheitlichen Sachverhalts der „Erfahrung" ( = Verfassung der Gegenstände möglichen Wissens) sind. 3.6. Kant und seine Nachfolger greifen das Lockesche Projekt einer Theorie von Erfahrung als Konstitutionsweise der Gegenstände möglichen Wissens an dem Punkte auf, an dem es das Grundanliegen —»Descartes in sich integriert: am Gewißheitsproblem, und d.h. am Problem des Selbstbewußtseins. Führte die Arbeit an einer solchen Theorie von Erfahrung zunächst bei Hume zur Reduktion des Selbstbewußtseins auf ein Resultat des durch „die Natur" geregelten Aufstufungsprozesses von sinnlicher Unmittelbarkeit und gegenständlichem Vorstellen im Medium jener Unmittelbarkeit, damit aber auch zur Auflösung von Gewißheit, und wies Kant demgegenüber nach, daß Erfahrung nur dann Konstitution von Gegenständen möglicher Gewißheit sein könne, wenn Selbstbewußtsein als unabhängiger Faktor in den Konstitutionsprozeß eingeht, so stellten Kants Nachfolger die damit gefährdete Einheitlichkeit des Konstitutionsprozesses dadurch her, daß sie Selbstbewußtsein statt als Resultat der Aufstufung von sinnlicher Empfindung und gegenständlicher Vorstellung nun vielmehr als dasjenige Medium begriffen, in dem jene Aufstufung sich vollzieht. Dies geschieht dadurch, daß die Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins von der sinnlichen Empfindungsunmittelbarkeit unterschieden und als Grund der Möglichkeit der aktiv selbstbewußten Umsetzung dieser Unmittelbarkeit in gegenständliches Wissen erkannt wird. Damit aber wird die Theorie der Erfahrung zur Theorie des durch unmittelbare Selbsterschlossenheit zur aktiven Selbstbestimmung und damit zum Machen von Erfahrung befähigten Subjekts. Diese Theorie des Subjekts wird zur Theorie der Einheit eines zweischichtigen Konstitutionsprozesses. Dessen Ursprungsschicht ist das kontinuierliche ihm selbst Gegenwärtigsein-lassen von Individuellem als je einem Inbegriff von eigenen Möglichkeiten welthaften Seins. Die Gegebenheitsweise von Gegenständen möglicher Gewißheit ist selbst deren Verfassung. Damit verifiziert die Erfahrungstheorie des nachkantianischen Idealismus die erste der grundlegenden Intentionen Berkeleys; und sofern sie den vernünftig-selbstbewußten Charakter dieses Konstitutionsgeschehens begreift, auch seine zweite. Mit der Konvergenz in diesen Punkten bringt die nachkantische Theoriebildung die von Locke ausgelöste Debatte um eine Theorie von Erfahrung als Gegebenheitsweise von Gegenständen möglicher Gewißheit zum Abschluß. 3.7. Dieser aus der Debatte von Locke bis zu den Nachkantianern resultierende Begriff von Erfahrung steht nun aber in einem signifikanten Verhältnis der Korrektur und Bestätigung zum Erfahrungsbegriff der Antike: Korrektur: Erfahrung selber ist der Weg zum Wissen, zur Imorrjftr]; wirkliches Wissen ist nur auf dem Weg von Erfahrung zu erlangen. Es ergibt sich aus der Erfassung der Erscheinungen als einheitlicher Zusammenhang des Wissens vom Einzelnen, von der Klasse, zu der es gehört, und von den überdauernden Zügen seines Seins als erkennbar Seiendes. Weil das erkennbar Seiende aber mehr ist als das Ding, nämlich der in Erfahrung resultierende vernünftige Umgang mit ihm, deshalb kommt als Begriff des Seins des Seienden auch nicht mehr ein Begriff von der Verfassung des Dinges als substanzhafter Einheit von Form und Materie in Betracht, sondern nur noch der Begriff von der Verfassung jenes Um-

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gangs mit ihm als selbstbewußte - ihrer selbst inne seiende, ihr selbst er-innerte - gestaltende und symbolisierende Praxis. Bestätigung: Was damit an Stelle des Substanzbegriffs zum ontologischeit Grundbegriff wird, ist also nichts anderes als der bei Aristoteles selbst herrschende Begriff von Erfahrung als erinnerte Praxis. In seiner nachkantianischen Fassung schließt die in diesem Begriff erfaßte Struktur auch die Experimentierpraxis ein, die Bacon erstmals beschrieben hat, und die, in der Praxis der neuzeitlichen Erfahrungswissenschaft zur Virtuosität ausgebildet, zu denjenigen Erinnerungen an experimentelles Handeln geführt hat, an denen sich die Praxis der technischen Weltgestaltung orientiert und den Grund ihrer Zielsicherheit besitzt. Diese Bestätigung freilich kommt nur zum Zuge im Rahmen jener Korrektur, die fundamentaler ist. Sie besteht in der Einsicht, daß der Gegenstand aller iintnrjfxi) erinnerte Praxis ist; daß alle ¿morijfir) selbst eine Praxis (des Symbolisierens) und insofern „Kunst" ist; daß eine Kunst um so höher zu schätzen ist, je mehr sie zur Bewältigung der Notdurft des Lebens beiträgt; daß für solche Meisterung der Herausforderungen des Lebens nicht nur die kunstmäßige Fixierung der Erinnerung an Probe handeln und seine Wirkungen, sondern vor allem an die unwiderrufliche und unwiderholbare Praxis der Lebensführung selber und ihre Folgen erforderlich ist — nicht nur Belehrung durch die kunstmäßig fixierten Erfahrungen der Wissenschaftspraxis, sondern vor allem auch durch die (jene Erfahrungen einschließende) Selbsterfahrung von Subjekten in ihrer gesellschaftlichen Praxis; und daß es schließlich erinnerte Lebenspraxis, Lebenserfahrung von Gesellschaften, Gruppen und Einzelnen ist, die allein die Kriterien bereitstellt für die noch geforderte Lebensführung und auch für die in ihrem Rahmen weiterhin erforderliche Wissenschaftspraxis.

4. Die Diskussion seit dem nachkantianischen

Idealismus

Alle nachfolgenden Debatten um den Erfahrungsbegriff sind auf Einzelaspekte des skizzierten, in sich eine systematische Einheit bildenden Problemfeldes bezogen und können in ihm zusammengeschaut werden. Ausgelöst wurden diese Debatten durch die dominante Stellung, die mit den Erfolgen der —»Naturwissenschaft auch die für sie grundlegende sensualistische Interpretation von Erfahrung erhielt. Dieses Erfahrungsverständnis wurde von Auguste Comte (1798-1857) und Herbert Spencer (1820-1903) programmatisch, durch Ch. —»Darwins empirische Theorie der biologischen Evolution de facto zum Fundament aller Welt- und Selbsterkenntnis des Menschen gemacht. Bezugnehmend auf dieses in den Naturwissenschaften leitende Erfahrungsverständnis entwickelten sich drei Diskussionszusammenhänge, die teils auf eine Selbstverständigung der naturwissenschaftlichen Praxis hinsichtlich ihres Erfahrungsfundamentes gerichtet sind (4.1), teils der Abwehr von Totalansprüchen des in den Naturwissenschaften herrschenden sensualistischen Erfahrungsbegriffs dienen (4.2), teils schließlich erneut den Versuch einer Metaphysik (Ontologie, Kosmologie und Ethik) der Erfahrung unternehmen. 4.1. Die der Selbstverständigung der Naturwissenschaften dienende wissenschaftstheoretische Debatte hat ihren Ausgangspunkt in den methodologischen Problemen der Induktion (Whewell; Mill) und den dafür grundlegenden Fragen nach der Verfassung ihres Fußpunktes, der „Tatsachen der Erfahrung" (Helmholtz). Folgenreich wurde hier die den Sensualismus des 18. Jh. in präzisierter Form wiederholende „antimetaphysische" Lehre Ernst Machs (1838-1916), daß der Inbegriff des wissenschaftlich zu erforschenden Tatsachenmaterials in den positiven Gegebenheiten der Sinneswahrnehmung, also den einzelnen „Sinnesempfindungen" bestehe. In dem sich um seinen Nachfolger Moritz Schlick ( 1 8 8 2 - 1 9 3 6 ) seit 1922 sammelnden sog. „Wiener Kreis" wurde diese Lehre vor allem von Rudolf Carnap (1891—1970) dahingehend abgewandelt, daß als das für alles mögliche Wissen „Gegebene" ausschließlich die durch „Ähnlichkeitserinnerung" kontinuierlich aufeinander bezogenen und miteinander verbundenen „Elementarerlebnisse" in Betracht kommen. Dementsprechend müßten alle Aussagen, die sich nicht auf Aussagen über derart Gegebenes zurückführen und aus ihnen ableiten lassen als Artikulation lediglich von Pseudowissen beurteilt werden (neben Carnap so zunächst Ayer). Nun hat aber schon früh Karl Raimund Popper (geb. 1902) nachgewiesen, daß das so Gegebene und in Protokollsätzen Beschreibbare jedenfalls nicht als Fußpunkt einer zu theoretischen Allsätzen und Gesetzesaussagen führenden Induktion in Betracht kommen kann (vgl. auch Stegmüller 1954; 1969; 1971). Popper selbst hat aus dieser Einsicht die Konsequenz gezogen, die Übereinstimmung der aus einer Theorie de-

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duzierten singulären Aussagen mit den wahrnehmbaren Gegebenheiten nicht mehr als Verifikations-, sondern nur noch als Falsifikationskriterium einer Theorie gelten zu lassen. Aber diese Lehre setzt genauso wie die von ihr kritisierte die Subsimierbarkeit der einzelnen Gegebenheiten unter Klassenbegriffe, also das Gegebensein von etwas als Element einer bestimmten Klasse, und damit einen Sachverhalt voraus, der in der (neo)positivistischen Lehre von den Sinnesdaten bzw. Elementarerlebnissen gerade nicht in Anschlag gebracht war. Aufgrund dieses Mangels bleibt diese Interpretation von Erfahrung hinter den Anforderungen an einen Begriff der Gegebenheitsweise von Gegenständen möglichen Wissens zurück. Diesen Anforderungen wird „Erfahrung" erst gerecht, wenn die durch sie gegebenen Gegenstände bereits als Synthese von Besonderem und Allgemeinem verfaßt sind; Erfahrung konstituiert Gegenstände möglichen Wissens nur dann, wenn sie (gegen Hume, mit Kant) als „begriffliche" Prägung von Besonderem gedacht wird. Dementsprechend ist Erfahrung in der Erlanger Schule um Wilhelm Kamiah (1905-1976) und Paul Lorenzen (geb. 1915) als Prozeß „elementarer Prädikation" beschrieben worden, der auf den Rückgriff auf umgangssprachlich vorgegebene Begriffsinstrumente angewiesen (Kambartel; Mittelstraß) und dementsprechend sozio-historisch bedingt ist. Schon die Konstitution von Gegenständen erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis geschieht in Abhängigkeit von den Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens (Vente) und der es bestimmenden Fundamentalinteressen (Jürgen Habermas). Aber soweit die Auffassung von Erfahrung als prädikative Konstitution von Gegenständen möglichen Wissens sozial interagierende Personen als Subjekte des Konstitutionsprozesses in Anschlag bringt, macht auch sie noch von einer unaufgeklärten Voraussetzung Gebrauch, die der kantischen Voraussetzung des Schematismus analog ist: Sie setzt das Gegebensein von Individuellem voraus, das prädikabeI ist. Als Konstitution von Gegenständen möglichen Wissens ist aber Erfahrung nur begriffen, wenn auch diese vorprädikativen Voraussetzungen der prädikativen Gegenstandskonstitution in ihrer logischen Struktur (Goodman) und Konstitutionsweise (Strawson) begriffen sind. — Diesem Thema ist die Lebensarbeit E. —»Husserls gewidmet. Zu klären ist das in der formalen Logik ungeklärt vorausgesetzte Individuelle hinsichtlich seiner Konstitution. Diese unter dem Begriff „Erfahrung" thematisierte Konstitutionsweise individueller Gegenstände wird von Husserl zunächst als Einheit von Auffasungsinhalt und Auffassungsakt gedacht, bis Husserl in den Analysen des inneren Zeitbewußtseins auf eine elementarere Konstitutionsweise stößt: auf eben die die „Evidenz", „Selbstgegebenheit" individueller Gegenstände begründende, für das prädizierende Subjekt passive Synthesis, die das innere Zeitbewußtsein leistet (vgl. Husserliana X ; XI; Erfahrung u. Urteil 21.75.181 — 194). Erfahrung als Evidenz von prädikablen individuellen Gegenständen ist aber ipso facto die Konstitution von zur Prädikation und zur Gegenstandskonstitution fähigem Bewußtsein (vgl. Ideen § 3 ff). Obwohl Husserl sich der Frage nach der Gegebenheitsweise von Konstitutionsprozessen und Bewußtsein selber gestellt und sie mit seiner Theorie der transzendentalen Erfahrung" beantwortet hat, hat er die Selbstbewußtseins struktur gegenstandskonstitutiven Bewußtseins nicht explizit herausgearbeitet. 4.2. Die Entschlossenheit zur Bestreitung des Alleingeltungsanspruchs des naturwissenschaftlichsensualistischen Erfahrungsbegriffs war es, die einen zweiten Diskussionszusammenhang leitet. Hier wird auf den bis zu den Nachfolgern Kants entwickelten Begriff von Erfahrung zurückgegriffen und innerhalb seiner entweder nur das Recht einer anderen Rede von Erfahrung neben der die Naturwissenschaften leitenden betont oder gar umgekehrt für sie ein Vorrang beansprucht oder schließlich drittens die Unverzichtbarkeit des gleichzeitigen Festhaltens beider Bedeutungsrichtungen des Erfahrungsbegriffs betont.

4.2.1. Das Argumentationsmodell entwickelt zu Beginn der Debatte W. —»Dilthey: Der im Nachkantianismus entwickelte „erkenntnistheoretische" Erfahrungsbegriff wird unter dem Titel „innere Erfahrung" in Anspruch genommen, die in den Bedingungen und Tatsachen unseres Bewußtseins, in dem „Ganzen unserer Natur" und unseres Lebens den „ursprünglichen Zusammenhang" „aller Erfahrung" erfaßt (GS I, S. XVIIff). „Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft" (ebd.). Als solche richtet sie sich aber auf zwei Arten von

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Erfahrung („Tatsachenkreise"): „Sinneserfahrung über die N a t u r " und das „Gesamter/e£>nis der geistigen Welt" (GS 1,9.15). Beide sind der Art nach so „unvergleichbar", daß keine der anderen eingeordnet werden kann: in der Natur das „Spiel der wirkenden Ursachen im Kausalzusammenhang", in der geistigen Welt die Beziehung zwischen „Motiven", „Zwekken", also „Finalursachen" (GS V, 63 f), so daß „Erklärung" dort, „Beschreibung" hier am Platze ist (I, 32f; V, 139ff). Demgegenüber hält Heinrich Rickert ( 1 8 6 3 - 1 9 3 6 ) ausdrücklich an dem Grundsatz fest: „Die Erfahrungswelt selbst, die bekannteste Realität, die man sich denken kann, ist also der Art des Seins nach das einheitliche Reale und auch das Wirkliche in des Wortes verwegenster Bedeutung, denn die einheitliche Erfahrungswirklichkeit wäre als die von allen einander ausschließenden Gegensätzen freie zugleich das ,Ding an sich'" (System der Phil. 201). Die Gegenstände der Erfahrungswissenschaften der Natur und Kultur sind nur durch „individualisierende" bzw. „generalisierende" Betrachtungsweise konstituierte „Phänomene" (Kulturwiss. 55). 4.2.2. An die dualistischen Züge bei Dilthey kann sich dann eine Rezeption des Erfahrungsbegriffs anschließen, die diesen ausdrücklich zur Abstoßung seines sensualistischen Bedeutungselementes verwendet. Das deutlichste Beispiel ist M . —»Heideggers Interpretation des Hegeischen Begriffs von Erfahrung als „Absolvenz" aller Gestalten des „natürlichen" Wissens durch das „reale", als bloß negierendes Festhalten von diesem an jenem (125.140), wie es sich bei Heidegger selbst zur programmatischen Geringschätzung von Erfahrungswissenschaft und Technik zuspitzt. Im Gefolge dieser Heideggerschen Hegelrezeption entwickelt sich ein Begriff von „ursprünglicher" (Weischedel), „ontologischer" oder „transzendentaler" Erfahrung (Fink), der nachdrücklich deren Geschichtlichkeit betont (Müller). Er tendiert dazu, Erfahrung statt als erinnerte Praxis eher als erinnertes Leben zu denken und verengt sich dann u.U. durch explizite Ausklammerung von „Forschung" auf einen Begriff von „Lebenserfahrung" mit strikt passiv-widerfarnisartigem und negativem („enttäuschendem", „gefährlichem") Charakter (Bollnow). Wo diese Engführung vermieden wird, begreift die Theorie transzendentaler Erfahrung dem Hegel-Heideggerschen Vorbilde entsprechend einen nicht zur Gegenstandserfahrung hinzutretenden, sondern als deren Ermöglichungsgrund sich in ihr „athematisch" mitvollziehenden „transzendentalen Rückgang", der mittels der begleitenden Reflexion zum Mit-erfahren des Selbst und, darin eingeschlossen, zum Mit-erfahren des Seins vordringt" (Lötz). 4.2.3. Demgegenüber versucht Helmuth Plessner (geb. 1892), die Einheit von Diltheys Erfahrungsbegriff gegen dessen dualistische Tendenzen zum Zuge zu bringen, indem er ihn als Begriff von hermeneutischer Erfahrung faßt, der es erlaube, „den Menschen als geistigsittliche und als natürliche Existenz aufgrund einer Erfahrungsstellung zu begreifen" (14). Aber offenkundig ist damit Natur nur als Erfahrenes in den Blick gefaßt, der leitende Begriff des Erfahrens aber noch nicht wieder in der klassischen Bedeutungsfülle von erinnerter Praxis genommen. Dahin stoßen erst wieder einerseits Maurice Merleau-Ponty ( 1 9 0 8 - 1 9 6 1 ) vor, der in Anknüpfung an Husserls Konstitutionsanalysen Erfahrung als Vollzug und Resultat von leibhaftem Sich-Verhalten beschreibt, und andererseits Arnold Gehlen (geb. 1904), für den Erfahren als Sammlung von Lebenserfahrung der Weg der Ausbildung körperlicher und geistiger Institutionen und damit einer Reaktionsfähigkeit, einer Könnerschaft im Umgang mit den Dingen ist. Sie schließt wesentlich gebildetes Bewußtsein (32 ff), „Erfahrungssymbole", ein, und zwar sowohl erfahrungsivissenschaftlicher (nämlich geistes- und vor allem naturwissenschaftlicher) als auch weltanschaulich-religiöser Art (39). Neuere Arbeiten aus dem angelsächsischen Bereich (Goffmann; Laing) zeigen, daß Gehlen sich mit dieser Konzeption von Erfahrung als im Leben erbrachte „Leistung für das Leben" (32) zurecht dem „Pragmatismus" (43) verbunden weiß. 4.3. Auch der Pragmatismus ist Reaktion auf die kulturelle Dominanz der Naturwissenschaft und ihres Erfahrungsdenkens; aber nicht Abwehr, sondern Aufbietung der komplexen Bedeutung von „Erfahrung" als „erinnerte Praxis" für ein nicht reduktionistisches Ver-

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ständnis der Lebenswirklichkeit als Einheit der „Erfahrungs"welt und einer funktionalen Einordnung der wissenschaftlichen Erfahrung in sie. 4.3.1. Daß Gegenstände möglichen Wissens nur durch Erfahrung gegeben und insofern als erinnerte Praxis zugleich Grund praktischer Erwartungen sind, bringt Charles Sanders Peirce (1839-1914) in seinem „principle of pragmatism" zum Ausdruck: „Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then our conception of these effects is the whole of our conception of the object" (V, 402). In Anlehnung an Elemente der Kantischen und nachkantianischen Erfahrungstheorie hat Peirce die Struktur der erfahrungsmäßigen Gegebenheitsweise solcher durch ihre Wirkungen definierten Objekte als die Struktur von Zeichenprozessen beschrieben (II, 303.274). Die Zeichenkonstitution geschieht wie die Erfahrungskonstitution durch das Zusammenspiel von Rezeptivität und Spontaneität einer Reize auslegenden Instanz, die selbst nur in dieser vermittelnden Tätigkeit besteht. Die Peircesche Gleichsetzung der Struktur von Erfahrung mit der Struktur des Zeichenprozesses, verstanden als Interpretationsprozeß, greift dann J. —>Royce auf und entwickelt sie zu einer Auffassung der realen Welt im ganzen als des unendlichen Systems von je gegenwärtig Vergangenes der Zukunft vermittelnden Interpretationsprozessen (288 f. 340 ff) und insofern schließlich selbst als ein einziges „Zeichen" (347f). Die Einsicht des nachkantischen Idealismus in das nicht durch sich selbst Bestehen, sondern passive, transzendente Konstituiertsein von individuellem Selbstbewußtsein wird von Royce zur Behauptung von dessen unselbständigen Existenz als bloßes Element in der als absolutes Subjekt gedachter Gemeinschaft aller Individuen radikalisiert (Herms: ThZ 36, 361 f.). 4.3.2. W. —»James versucht den deterministischen Konsequenzen des sensualistischen Erfahrungsbegriffs dadurch zu entgehen, daß er im Gefolge Berkeleys und Humes auf dem die materiale Außenwelt und die mentale Innensphäre in einer unlöslichen Einheit präsentierenden „phänomenalen" Charakter von primärer, noch nicht begrifflich bearbeiteter Erfahrung insistiert (Herms, Empiricism 102). Diese Ontologie der Erfahrung ist für James „radical empiricism" (ebd. 112ff), weil sie Erfahrung nur als einen Inbegriff von Gegebenem, aber nicht dessen Gegebenheitsweise in Betracht zieht. Infolgedessen können aber James' Aussagen über Erfahrung nicht nur formal keine Auskunft über ihren eigenen Gegenstandsbezug geben, sondern auch inhaltlich alle die Leistungen nicht mehr erbringen, die im Rahmen des klassischen Erfahrungsbegriffs die Inanspruchnahme des unmittelbaren Selbstbewußtseins erbracht hatte: Handeln als selbstbewußt freie Wahl zwischen eigenen Möglichkeiten, Gewißheit, Einheit der Gegenstandswelt. Die Ereignisse in der sozialen Welt vollziehen sich ebenso wie die in der physischen und biotischen durch Zufallswahl innerhalb des Spielraums, der von der über den neuralen Reflexbogen wirksamen Größe „Systemerhaltung" offengelassen ist. Zu einer Kosmologie, die zwar nicht die Einheit, aber wenigstens einen durchgehenden Zusammenhang der Erfahrungswelt begreift, gelangt James nur, indem er—nach langem Ringen doch über das in Erfahrung Gegebene hinausgehend und Bergsonschen Anregungen folgend — die kleinsten Bausteine des Universums, die Erfahrungselemente, als „Lebens"elemente mit unbegrenzter gegenseitiger Verbindungs- und Durchdringungsfähigkeit auffaßt (Herms, ebd. 229ff. 151 ff. 191 ff). Auch John Dewey (1859—1952) strebt Versöhnung von „modern science" and „old believes" an durch Ausarbeitung eines Begriffs von „Natur"als „Kontinuität" zwischen materieller und mentaler Welt. Das Medium der „progressiven Selbsterschließung" der so gedachten Natur ist: Erfahrung. Sowohl als (in der modernen Physik) methodisch gewonnene und als naive Alltagserfahrung lehrt sie, nicht Substanzen, sondern „events" als letzte Bausteine des Universums anzusehen. Innerlich als „immediately feit qualities of things" (XII) verfaßt, verbinden sie sich zu Ereignisketten („histories"), die als individuelle Wandlungskontinuitäten sich jeweils von ihrem „Anfang" an nach ihrer spezifischen „Erfüllung" strecken, somit „Wertung" („valuation") einschließen und dadurch rekurrente Abläufe, also Dauer und Regelmäßigkeit erzeugen. Dabei klammert Dewey die Bewußtseinsdimen-

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sion nicht wie James aus der Verfassung von „Erfahrung" aus, denkt sie aber statt als fundamentales Konstitutionsmedium von Erfahrung ihrerseits als durch vorbewußte Ereigniskonstellationen konstituiert: diese sind dazu fähig kraft ihres „feeling"-Charakters und der für sie wesentlichen Kontinuität von „matter" und „mind". In Aufnahme von Intentionen und begrifflichen Mitteln von Bergson, James und Dewey hat A.N. —»Whitehead eine Kosmologie entwickelt, welche die „spekulative" begriffliche Rekonstruktion der die Einheit von materieller und mentaler Welt enthaltenden Verfassung von „unmittelbarer Erfahrung" versucht. Voraussetzung ist, daß „consciousness" als spätes Oberflächenphänomen durch seine Selektivität „obscures the external totality from which it originates and which it embodies" (19); „the elucidation of immediate experience is the sole justification for any thought; and the starting point for thought is the analytic Observation (!) of components of the (sc. immediate!) experience" (7.193). In dieser (von James übernommenen) methodischen Einstellung versucht er, das (ebenfalls Jamessche) Programm des Begriffs einer sich durch Selbstkomplizierung ihrer Elementarteilchen aufbauenden „world of pure experience" so zu entwickeln, daß er für die Theorie des Aufbaus der Elementarteilchen und ihrer Verbindungsfähigkeit die Deweysche Idee der Gefühlsverfassung und Zielstrebigkeit von „events" aufgreift und präzisierend abwandelt: Alle „actual occasions" bestehen aus „prehensión" (vgl. Husserls Terminus „Griff"). Jede „prehensión" ist Ubergang von „Objektivität" (reiner Potentialität) zur Subjektivität (Aktualität), der sich als wählende „Aneignung" vollzieht. Jede „prehensión" ist zugleich auch „feeling", das aufgrund seiner synthetischen Konstitution auf das in dieser gesteckte Ziel hinstrebt: den „feeler", dasjenige Ereignis, in dem sich der Prozeß vollendet. Das von Objektivität zu Subjektivität übergehende Wählen hat keinen Grund, kein Subjekt, dem es zuzuschreiben wäre; es ist selbst das Absolute: „creative advance", der seine eigenen Bedingungen setzt. Jedes aktuelle Ereignis hat zwar aufgrund der Verfassung seiner Elementarteile („prehensión") einen physischen und mentalen Pol, aber es ist deswegen weder Geist noch Bewußtsein: „The consciousness is what arises in some process of synthesis of physical and (ihrerseits nicht bewußter!) mental operation" (283). In seinen Konstruktionen beruft Whitehead sich ausdrücklich auf den in der klassischen Theorie von Erfahrung als Konstitution von Gegenständen möglichen Wissens erörterten Sachverhalt des Bewußtseins. Doch kritisiert er die dort als unhintergehbar vorausgesetzte Subjekt/Objekt-Relation (182ff). Wie James versucht Whitehead eine Welt zu denken, für die Bewußtsein nicht konstitutiv, sondern in der es nur als konstituiertes ist - aus unbewußten Elementen. Dieser Rückgriff hinter Erfahrung als Gegebensein von Erkennbarem ais solchem gelingt nur so, daß in dem emphatisch aufgegriffenen sog. „subjektivistischen Prinzip" des klassischen Erfahrungsbegriffs („that apart from the experience of subjects there is nothing, nothing, nothing, bare nothingness", 194) „experience" zur Bezeichnung eines Sachverhaltes dient, dem das „Gegebensein a l s . . . " noch nicht eignet. Rede über derartiges kann nun aber ipso facto auch nicht mehr Rede über als es selbst symbolisierbar Gegebenes sein; ihr semantischer Status ist der eines spekulativen Entwurfes, rein designativ, nicht denotativ. Dementsprechend entscheidet über ihren Wert nicht das semantische Kriterium, ob sie „wahr", sondern das pragmatische Kriterium, ob sie „interessant" ist (303 Z. 4 ff). Interessant ist an Whiteheads Versuch tatsächlich vor allem die syntaktische Struktur: seine Theorie der Konstitution von Bewußtsein sowie der Differenz von wissendem Subjekt und gewußtem Objekt aus einem Zustand unbewußter Ereigniselemente ohne diese Differenz nimmt für ihren Begriff dieses Konstitutionsprozesses selber „Identität" (188,16ff) und „Selbstbewußtsein" (189,13 ff) in Anspruch. Die pragmatistische Kosmologie der Erfahrung versteht sich selbst als Symptom einer „neuen Welt" (Dewey X); wegen ihrer Einschätzung von individuellem Selbstbewußtsein nicht als Konstituens von Welt, sondern als in ihr und durch sie Konstituiertem wird sie als Vertreterin einer „neuen Theoriegeneration" begrüßt (Welker). Solches Pathos der Novität erweist sich als eitel, wo eingesehen ist, daß schon die klassische Theorie von Erfahrung Selbstbewußtsein nur so als Konstituens von Erfahrung dachte, daß sie es selbst als nicht

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durch sich selbst Konstituiertes in den Blick n a h m ; konstituiert freilich nicht durch wie auch immer bestimmte Weltelemente, sondern durch den Grund allen es selber einschließenden Weltseins. Als klassisch kann diese Konstitutionstheorie von Selbstbewußtsein deshalb noch immer gelten, weil durch keine Entwicklung in der neuern Diskussion des Erfahrungsbegriffs die Überflüssigkeit einer solchen Theorie an den T a g oder eine ihr an Wahrheitsfähigkeit und Kohärenz überlegene Theoriegestalt hervor getreten ist. Quellen Richard Avenarius, Kritik der reinen Erfahrung, 2 Bde., Leipzig 1888/90. - Ders., Phil, als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung, Leipzig 1876. - Alfred Jules Ayer, Language, Truth and Logic, London 1936 2 1946. - Ders., The Foundations of Empirical Knowledge, London 1940. - The Works of Francis Bacon, ed. J. 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1. Vorbemerkungen zum Begriff 2. Inhaltliche Voraussetzungen 4. Reformation (Luther) (Literatur S. 115) 1. Vorbemerkungen

zum

3. Abendländisches Mittelal-

Begriff

Erfahrung ist kein religiöser oder theologischer terminus technicus, sondern ein Begriff des täglichen Lebens, der auf religiöse Phänomene angewandt wird, ohne dadurch seine Funktion und Bedeutung in der Sprache von Alltag und allgemeiner Wissenschaft einzubüßen. Durch die Vielfalt seiner Verwendungen sind Überschneidungen und Unklarheiten im Sprachgebrauch unvermeidlich. Das Grundproblem—Wie verhält sich der religiös-theologische z u m allgemeinen Erfahrungsbegriff? — ist bis heute weder systematisch befriedigend gelöst noch historisch hinreichend aufgearbeitet. Eine Geschichte des Erfahrungsbegriffs und des Erfahrungsverständnisses läßt sich noch nicht schreiben. Im folgenden können nur einige Punkte aus dieser Geschichte dargestellt werden. Das Reden über Erfahrung verfügt über ein reiches Vokabular. Im Mittelpunkt steht eine spezifische Wortfamilie, deren Bedeutungsgehalte sich allerdings in den einzelnen Sprachen nicht einfach dekken. Griech.jrripâaOai (mit Subst. jrsfpa) bedeutet primär „versuchen", sekundär auch „erfahren" als Ergebnis des Versuchs, während im Adj. êfuieiçoç und im davon abgeleiteten Subst. èfuieigia die ursprüngliche Bedeutung zugunsten des Ergebnisses zurücktritt. Lat. experiri (mit den Subst. experientia, experimentum) hat von Anfang an beide Grundbedeutungen „versuchen" und „erfahren". Seit dem 1. Jh. n. Chr. verliert experientia die ursprüngliche Bedeutung „Versuch" weitgehend, während experimentum beide Bedeutungen behält. Stammverwandt sind das weniger bestimmtecomperire [Kenntnis erlangen] und peritus [erfahren, kundig] mit Subst. peritia. Die ältesten deutschen Zeugnisse besitzen wir in den Übersetzungsversuchen althochdeutscher Glossen, die ihren Neubildungen verschiedene Verben zugrunde legen, wie u.a. suohhan (ursuoch, arsuahnissa u.a.), findan ifindunga, bifuntannissi u.a.) oder faran (irvarunga) (vgl: W. Betz, Dt. u. Lat., Bonn J 1 9 6 5 ) . In allen Vokabeln ist die aktive Komponente noch deutlich faßbar. Im Mittelhochdeutschen werden zunächst v. a. bevinden, bevindung und empfinden, empfindung gebraucht; erst im Spätmittelalter scheint sich ervarn (bis ins 16. Jh. „durchfahren, durch Fahren einholen") durchgesetzt zu haben, das dann in der Neuzeit vornehmlich das Ergebnis solcher Aktivität bezeichnet (obwohl dafür auch noch empfinden und das analog zu erfahren gebildete erleben gebraucht werden) (vgl. J . u. W. Grimm, Dt. Wb., Leipzig, III 1862, Art. „erfahren"). Das Verhältnis von aktiver und passiver Komponente macht ein bleibendes Problem im Verständnis des Erfahrungsbegriffs aus. Darüber hinaus wird das Erfahrungsphänomen durch eine Vielzahl anderer Vokabeln bezeichnet, die durch überschießende Bedeutungsmomente bereits eine bestimmte Interpretation mit einschließen; so v. a.itâoxeiv, jiâdoçpati, affici (affectus) ; aia0âvea6ai,aXadr]aiçsentire, wahrnehmen und fühlen; probare;usus ; ferner speziellere Vokabeln für einzelne Sinneswahrnehmungen. Bereits diese begriffsge-

110

Erfahrung III/l

schichtlichen Andeutungen zeigen die Fülle der mit dem Erfahrungsbegriff verbundenen Gesichtspunkte und Probleme an. Die Theologie hat das aus der Sprache des Alltags und der Wissenschaft übernommene Vokabular nicht um weitere Bedeutungsnuancen bereichert. Deshalb ist die Wortgeschichte im engeren Sinne für den vorliegenden Zusammenhang ohne Interesse; wichtig ist nur die Geschichte des Gebrauchs der Begriffe.

2. Inhaltliche

Voraussetzungen

Mit dem griechischen und lateinischen Vokabular übernimmt das christliche Reden über Erfahrung auch gewisse Bedeutungsgehalte. So weist —»Aristoteles der Erfahrung eine wichtige Funktion im Erkenntnisprozeß zu, und zwar einerseits in der Gewinnung von Einzelerfahrungen, auf denen Wissenschaft (imorf^r)) und Kunst (rexvt]) beruhen: 'Ex fiiv ovv aioQrjoewf yivexai fivtjfit]..., ex de fivtjfdtjg xokXäxiq rov amoxi yivoftevrjg ißneigia (an. post. 100a 3 ff; dazu metaph. 981 a 1 ff. 12ff), andererseits beim Erwerb von Erfahrenheit durch Zeit und Alter (z. B. eth. Nie. 1142 a 14 ff). — Auch im allgemeinen wissenschaftlichen Bewußtsein spielt Erfahrung eine bedeutende Rolle; am stärksten in der Medizin, wo sich eine dogmatische und eine empirische Richtung gegenüberstehen. Hier hat der Begriff einer Naturerfahrung durch die äußeren Sinne (neiga, ifuteigia als avroipia; loxogia usw.) einen festen Ort (vgl. K. Deichgräber, Diegriech. Empirikerschule, Berlin 1930). Auch im vorchristlichen Latein wird der Alltagsbegriff der Erfahrung in der Fachliteratur verwendet (z.B. von Varro). — Eine religiöse Komponente findet sich nur vereinzelt: etwa in dem alten Satz, daß der Mensch durch n ä d o g [Leiden = Erfahrung] lerne (vgl. H. Dörrie, Leid u. Erfahrung, 1956 [AAWLM.G 1956/5]). Die biblische Sprache enthält keinen prägnanten Erfahrungsbegriff, wohl aber bieten Vetus Latina und Vulgata einige Stellen, an die spätere Reflexion auf religiöse Erfahrung anknüpfen konnte (z.B. H e b r 2 , 1 8 [VL]; Ps 33, 9; II Kor 13,3; Hebr 5,8 [jeweils Vg.]).-Erfahrung spielt dort eine Rolle, wo das religiöse Subjekt ins Spiel gebracht und in seiner Funktion betrachtet wird. Einen ausdrücklichen Erfahrungsbezug kann man bei Autoren erwarten, die autobiographisch die eigene religiöse Entwicklung bedenken. So berichtet —»Augustin in den Confessiones laufend über eigene Erfahrungen, ohne jedoch einen prägnanten Erfahrungsbegriff zu gebrauchen und auf die Voraussetzungen seines Erfahrungsbezugs zu reflektieren. Den entscheidenden Beitrag zur Gewinnung eines theologischen Erfahrungsverständnisses hat das —»Mönchtum geleistet. Im monastischen Leben hat Erfahrung von Anfang an eine mehrfache Funktion: 1.) Der Mönch wird zur Selbstbeobachtung (d. h. zur Abwendung von der ihn umgebenden äußeren Welt und zur Konzentration auf das eigene, v. a. innere, Leben) angehalten (vgl. z. B. Apophthegmata Patrum, Antonius 2). Das Mönchsleben bietet aber auch durch die Klausur (Abschluß von der Außenwelt, Zwang zur Konzentration) beste Voraussetzungen für die Beobachtung eigener Erfahrung. So fällt die (religiös zu verstehende) delphische Forderung yvwOt oavrov gerade im Mönchtum auf fruchtbaren Boden (vgl. P. Courcelle, Connais-toi toi-meme de Socrate ä St. Bernard, Paris, 11974). Die Ausbildung der —»Beichte fördert diese Tendenz. —2.) Zur Interpretation seiner eigenen Erfahrung bedarf der Mensch der Anleitung — nicht durch bloß theoretische Anweisung, sondern auch durch fremde Erfahrung. Deshalb wird er auf den Erfahrenen verwiesen - auf den Mönchsvater (vgl. z. B. Athanasius, v. Ant. 16.39) oder auf die Heilige Schrift (vgl. z. B. Cassianus, Coli. 1 3 , 8 , 3 ) . - 3 . ) Vor allem im intensiven Umgang mit der Schrift als einem Schatz gespeicherter Erfahrungen entdeckt das Mönchtum die grundlegende Bedeutung der Erfahrung (als Quelle von Einfühlungsvermögen durch Gleichgestimmtheit) für das Verstehen (z.B. Cassianus, Coli. 10, 11, 5f). — Das zur Kontemplation neigende griechische Mönchtum räumt der inneren Erfahrung eine hervorragende Rolle ein, und die byzantinischen Mönchstheologen führen die Linie fort, die von den altkirchlichen Vätern eingeschlagen wurde. Die später in der Philokalia versammelten Autoren beschreiben das ganze geistliche Leben - nicht nur seine Höhepunkte - durch den Erfahrungsbegriff ipielga, atodrjoig, nkrjQ0q>0Qia usw.). Das griechische Mönchtum hat auch besonders intensiv über Möglich-

Erfahrung 10/1

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keit, Wesen und Erlangung religiöser Erfahrung nachgedacht. Während die —»Messalianer eine Verbindung mit Gott durch die Einwohnung des Heiligen —»Geistes in der Seele geradezu in der Erfahrung der äußeren Sinne (v. a. in der Schau eines Lichtes) ersehnen, nimmt ihr Gegenspieler —»Diadochus von Photice für die Wahrnehmung des religiösen Erlebnisses ein geistiges Organ in Anspruch: die aloOrjoig voegä (auch aloOrjoig voog, nvev/xarog, xagöiag, rrjg fvxrjg, Jieiga alaO^OEmg-, s. M. Viller/K. Rahner, Aszese u. Mystik in der Väterzeit, Freiburg i. Br. 1939, 223 Anm. 39). Ob durch äußere oder innere Sinne vermittelt, die religiöse Erfahrung spielt in der —»Mystik des griechischen Mönchtums eine zentrale Rolle. Der—»Hesychasmus erwartet die Gotteserfahrung in Gestalt von Lichtphänomenen (vgl. z.B. PG 147, 945 A: 'Itjaov XQIOZOV deixf) q>A)Toq>äveta [die göttliche Lichterscheinung Jesu Christi], ja, er erstrebt sie geradezu durch methodisches Vorgehen (Jesusgebet mit entsprechender Körperhaltung und Atemtechnik). Eine ausführliche Rechtfertigung dieser hesychastischen Mystik hat —»Gregorios Palamas vorgetragen. 3. Abendländisches

Mittelalter

Das abendländische Mönchtum hat nach dem Traditionsbruch zwischen Antike und Mittelalter Jahrhunderte gebraucht, um die Sensibilität für die eigene Erfahrung und die Reflexions- und Ausdrucksfähigkeit wiederzugewinnen, die etwa —»Cassianus erreicht hatte. Erst im 12. Jh. begegnen wir intensiven Überlegungen über die Rolle des religiösen Subjekts vor allem in der Zisterziensertheologie und in ihrem Umkreis. In der 1. Hälfte des Jahrhunderts hat —»Bernhard von Clairvaux einen religiösen Erfahrungsbegriff von bisher unbekannter Klarheit und Prägnanz herausgearbeitet (ausführliche Belege bei Köpf, Erfahrung). Die Besonderheit seines Erfahrungsbegriffs liegt darin, daß er ihn kaum auf die Wahrnehmungen der äußeren Sinne (Welt-, Dingerfahrung), sondern fast ausschließlich auf ungegenständliche zwischenmenschliche und vor allem religiöse Erfahrungen anwendet. Er gewinnt seine Vorstellung von Erfahrung vor allem in den spezifisch monastischen Situationen (—»Anfechtung, Versagen, Bewährung) und durch Unheils- wie Heilserfahrungen im geistlichen Leben bis hin zum Erlebnis mystischer Vereinigung. Religiöse Erfahrung ist innerlich (im Gegensatz zum äußeren Wort, Handeln usw.). Sie spricht die—»Affekte an und wird von den inneren Sinnen wahrgenommen, von denen Bernhard (unter Aufnahme der ganzen Tradition) eine breite Metaphorik entwirft: Die unanschauliche religiöse Erfahrung läßt sich v.a. durch Bilder der Nahrungsaufnahme und -Verarbeitung beschreiben (wichtigstes Organ: der Geschmacksinn [gustarc, sapere]; Empfindungsqualität: Süße [dulcedo]). Im Vorgang des Erfahrens ist das religiöse Subjekt passiv: Erfahrung ist ein Geschenk Gottes, dessen Gnade aller menschlichen Aktivität zuvorkommt. Allerdings setzt religiöse Erfahrung selbst wieder stärkste Aktivitäten frei: Reden über Erfahrenes und Verlangen nach wiederholter bzw. gesteigerter Erfahrung. So wird sie in umfassender Weise zum Quell religiösen Lebens. Sie schafft Relevanz und Gewißheit und leitet zum Verstehen der Heiligen Schrift wie fremder Erfahrung überhaupt an. Umgekehrt erhält eigene Erfahrung durch fremde Erfahrung nicht nur Anregung, sondern auch unentbehrliche Interpretationshilfe. Bernhards Erfahrungsverständnis hat vielfältige Wirkungen ausgestrahlt. Zeitgenossen (wie —»Wilhelm von St. Thierry) und Nachfolger im Zisterzienserorden (wie Gilbert von Hoyland) knüpfen daran an. Aber als Ganzes hat es sich nicht durchsetzen können. Zu stark war der Einfluß des allgemein wissenschaftlichen Erfahrungsbegriffs, der ein rein religiöses Verständnis zurückdrängte. Wirkungsmächtige auctoritates liefern unterschiedliche, z.T. entgegengesetzte Argumente. Experimentum fallax [die Erfahrung ist trügerisch] — dieser Teil des berühmten, auch im Mittelalter viel zitierten Aphorismus des Corpus Hippocraticum (1/1) kann die Überzeugungskraft der Erfahrung gegenüber dem Glauben (so z.B. Bernhard von Clairvaux, SC 28, 8) oder der Vernunft (so z.B. Hugo von St. Victor, Didasc. 2,17) herabsetzen. Als Durchgangsstufe zur Erkenntnis steht Erfahrung hinter der ratio zurück (so z.B. —»Anselm von Canterbury, der die in De incarn.verbi 1 im religiös-theologischen Erkenntnisgang eingeordnete experientia in seinem Argumentieren ganz hinter der sola ratio und den rationes necessariae zurücktreten läßt). Aber auch dort, wo man das ra-

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Erfahrung III/l

tionale Element im Erfahrungsvorgang betont, liegt ein Argument gegen den Wert der Erfahrung bereit: die unendlich oft zitierte Aussage —»Gregors d.Gr., der Glaube habe kein Verdienst, wenn er sich durch die Vernunft Gründe liefern lasse (fides nott habet meritum, cui humatta ratio praebet experimentum, Horn. 26 in Ev.: PL 7 6 , 1 1 9 7 C ) . Hier ist experimentum als Funktion der humana ratio aufgefaßt. Selbst Bernhard führt das Zitat, das einen ihm sonst fremden Erfahrungsbegriff enthält, ins Feld — gegen —> Abaelard, der den Glauben als bloße Meinung über nicht Wahrnehmbares gegenüber der Erfahrung als Erkenntnis der Sachen selbst abwertet (Theol. scholar, 2 , 3 : PL 1 7 8 , 1 0 5 1 D ) . Wo die Erfahrung als Mittel oder Funktion der Vernunft angesehen wird, wie in der im Mittelalter Augustin zugeschriebenen Schrift De spiritu et anima (c. 37: PL 40, 808; Verfasser: Aicher von Clairvaux): (ratio) per experimenta rerum investigat naturam, quod est Physicae, da ist oft der Weg zu einer angemessenen Sicht religiöser Erfahrung verstellt. Wesentlich beeinträchtigt wird das Verständnis spezifisch religiöser Erfahrung auch durch das Bekanntwerden des aristotelischen Erfahrungsbegriffs. Die einprägsamen Formulierungen des Philosophen werden immer wieder zitiert: Ex sensu fit memoria, ex multis autem memoriis unum experimentum (so z. B. Thomas von Aquin, Qu. disp. de malo, q. 16, a. 7, arg. 12). Dieser Satz hat so suggestiven Klang, daß er die umfassende Konzeption einer innerlichen, ungegenständlichen Erfahrung verdrängt. — Zudem wird im 13. Jh. die Idee einer Welterkenntnis aus der äußeren Sinneserfahrung, durch Beobachtung und Experiment, immer deutlicher formuliert (z.B. Albertus Magnus, De vegetabilibus [ed. P. Jammy] V, 430a), wenn auch innerhalb des offiziellen Wissenschaftsbetriebs kaum verwirklicht. Vor allem englische Gelehrte (—»Franziskaner und ihnen Nahestehende) fördern und erproben die neue Idee (Robert —»Grosseteste, Roger Bacon u.a.). Am weitesten scheint aber ein Laie vorzustoßen: Kaiser—»Friedrich II. in seinem Buch über die Falkenjagd. — Daß das aristotelische Erfahrungsverständnis auch im —»Nominalismus fest verankert ist, versteht sich bei dessen Ausgang von einzelnen Sinnesdaten von selbst. Freilich wird auch hier eine innere Erfahrung anerkannt, die Willensregungen, Affekte u.ä. wahrnimmt (vgl. Wilhelm von Ockham, Sent. 1, Prol. q. 1). Trotz aller hemmenden Einflüsse spielt religiöse Erfahrung auch in den Diskussionen scholastischer Theologen eine Rolle; allerdings mehr als Problemanzeige denn als Mittel zur Problemlösung. Einige Punkte sollen hervorgehoben werden: Im Rahmen einer weit in die Alte Kirche zurückreichenden Diskussion über das Wissen Christi wird im Anschluß an Hebr 5 , 8 vor allem seit dem 12. Jh. immer wieder die Frage nach dem Erfahrungswissen des Heilands gestellt (vgl. A.M. Landgraf, DG der Frühscholastik, Regensburg, II/2 1954, 1 1 3 - 1 1 7 ) . Wie verhält sich das im Leben durch Erfahrung erworbene Wissen zu dem göttlichen Wissen Christi? Besonders originell löst Bernhard das Problem durch Verweis auf die hermeneutische Funktion der Erfahrung: Was Jesus von Ewigkeit her ohnehin wußte, das hat er im irdischen Leben durch Erfahrung in einer Weise gelernt, die ihn befähigte, die Menschen besser zu verstehen und ihnen auch affektiv näher zu kommen (SC 56, 1; Grad. hum. 8f. 12). — Seit dem 12. Jh. wird die Frage nach der Erkenntnis der göttlichen Gnaden Wirkungen und des eigenen Gnadenstandes mit den Mitteln der werdenden —»Scholastik erörtert. Die Theologen der Frühscholastik gehen von der Erfahrung eigenen Unvermögens aus und sprechen zuversichtlich von der Erfahrbarkeit der göttlichen Gnade im Herzen oder —»Gewissen. Aus der Erfahrung der inneren Sinne läßt sich durch Vermutung oder Schlußfolgerung der eigene Gnadenstand erkennen (Landgraf, a . a . O . 1/1 1952, 5 1 - 1 4 0 ; 1/2 1953, 5 7 - 7 4 ) . Im 13. Jh. wird die Erfahrbarkeit der eigenen Begnadung von der Summa Alexandri (—»Alexander Halesius) entschieden bejaht (ed. Quaracchi IV, n. 639), von—»Bonaventura eingeschränkt (Sent. 2, d. 2 6 a . un.,q. 2 crp.), von—»Thomas von Aquin in ihrer Bedeutung weiter relativiert (S. th. II/I, q. 112, a. 5 crp.). - In dieser Diskussion spielt das Gewißheitsproblem eine wichtige Rolle, das auch an anderen Stellen der scholastischen Dogmatik abgehandelt wird, vor allem in der theologischen Einleitungslehre (vgl. U. Köpf, Die Anfänge der theol. Wiss.theorie im 13. Jh., 1974 [BHTh 49]). Wir finden die Unterscheidung zweier Haupttypen von Gewißheit: aus der Erkenntnis und aus der Erfahrung, die im Affekt und durch die inneren Sinne gewirkt wird (z.B. Summa Alexandri,

Erfahrung m / 1

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a . a . O . I, n. 5: certitudo speculationis, secundum intellectum; certitudo experientiae, quoad affectum, quae est per modum gustus). Gerade die frühe franziskanische Theologie, die Anregungen Bernhards aufnimmt, betont besonders stark das affektive Moment wie überhaupt die Rolle der Erfahrung im religiösen Leben und Erkennen. Erfahrung ist eine Quelle von Gotteserkenntnis. Die Aufgliederung verschiedener Wege zu solcher Erkenntnis wirkt sich aber hinderlich auf die Ausarbeitung eines umfassenden religiösen Erfahrungsbegriffs aus: neben Gotteserkenntnis aus Schöpfung und Vernunft (ratio) oder aus Offenbarung (revelatio) verliert die cognitio Dei experimetitalis viel von der universalen Weite als religiös-theologische Erkenntnisquelle, die sie im älteren Mönchtum und bei Bernhard besessen hatte. Sie wird nun weitgehend auf die mystische Erfahrung beschränkt und hat ihren Ort in den systematischen Werken meist bei der Behandlung der Weisheit (sapientia) im Kreise der sieben Gaben des Heiligen Geistes (Sent. 3, d. 3 4 - 3 5 ) (vgl. K. Boeckl, Die sieben Gaben des Hl. Geistes, Freiburg i.B. 1931). So kann Bonaventura die sapientia geradezu als cognitio Dei experimetitalis definieren (Sent. 3, d. 35, a. un., q. 1 crp.), als eine Erkenntnisweise, die den inneren Geschmack anspricht (q.3, ad 1) und die höchste Form der Gotteserkenntnis überhaupt darstellt (q. 1, ad 5; vgl. q. 3, ad 3). - Die mystische Literatur bietet eine Fülle konkreter Darstellungen von Erfahrungsvorgängen und -inhalten, sie faßt sie aber kaum unter einen allgemeinen Erfahrungsbegriff und reflektiert selten auf das Erfahrungsphänomen. Bei den deutschsprachigen Schriften hat dieser Mangel wohl auch darin seinen Grund, daß das deutsche Vokabular des Erfahrungsbegriffs (wie sich an mittelalterlichen Übersetzungen zeigen ließe) dem lateinischen an Klarheit und Prägnanz nachsteht. Bewußte Reflexion auf den Vorgang mystischer Erfahrung finden wir eher bei Schultheologen (z. B. bei dem Franziskaner Matthaeus von Aquasparta (Quaestiones disputatae de fide et de cognitione, Quaracchi 2 1957 [BFSMA 1], z. B. q. 9 de cognitione über den mystischen raptus). — Die ersten zusammenfassenden Darlegungen großen Stils über religiöse (insbesondere mystische) Erfahrung scheint Johannes—»Gerson zu geben: Mystik ist eben jene Gestalt von Theologie, die sich auf die inneren Erfahrungen des religiösen Subjekts stützt (Theol. myst. spec. 2,1), auf Kontemplation, Ekstase, raptus, liquefactio usw. (2, 5). Gerson definiert die Theologia mystica als cognitio experimentalis habita de Deo per amoris unitivi complexum (Erfahrungserkenntnis von Gott vermittels der einigend umfangenden Liebe: 2 8 , 6 ; vgl. auch 4 3 , 2 ) . Diese Theologie kann auch affektiv (Magnif., [ed. Glorieux] VIII, 201) oder intuitiv (VIII, 255) genannt werden. All unsere Erkenntnis gründet in Erfahrung und findet ihre Vollendung in Erfahrung—omnis cognitio nostra ortum habet ab aliqua experientia; omnis praeterea cognitio, si perfid debeat, in experientiam terminatur (VIII, 305). 4. Reformation

(Luther)

In der frühen Neuzeit hat nicht nur die Berufung auf Erfahrung, sondern auch die Anwendung empirischer Methoden (insbesondere des Experiments) auf weiten Gebieten das Gesicht der Wissenschaften verändert, ohne daß freilich die mit dem Erfahrungsbegriff gegebenen Probleme gelöst oder auch nur klar erfaßt worden wären. Die Forderung nach einer konsequent von der äußeren Erfahrung ausgehenden und das Experiment verwendenden Weltbetrachtung (gipfelnd in Francis Bacons Novum Organon 1620) und die neuen Regungen einer empirischen Sicht der —»Geschichte (vgl. A. Seifert, Cognitio historica, Berlin 1976) können hier ebensowenig dargestellt werden wie die Nachwirkungen spätmittelalterlicher Religiosität im Erfahrungsverständnis des gegen- und nachreformatorischen Katholizismus, etwa in der spanischen Mystik (Ignatius von —»Loyola, —»Teresa von Avila, —»Johannes vom Kreuz). Wir müssen uns weitgehend auf —»Luther konzentrieren. Luther hat unablässig und umfassend den Erfahrungsbezug der Theologie bedacht und dabei nicht nur die Anregungen der Tradition aufgenommen, sondern auch die Fülle seiner persönlichen Erfahrungen sehr unmittelbar eingebracht. Durch seine Zweisprachigkeit ist Luthers Sprachgebrauch besonders aufschlußreich: In ihm ist die ganze Breite der bisherigen Formen und Bedeutungen gegenwärtig. So kann erfaren noch die ursprüng-

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liehe, aktive Bedeutung haben (z.B. WA 12,635,6 = erforschen; 3 0 / 3 , 2 2 9 , 3 3 neben erforschen). Luther verwendet noch die alte Vokabel befinden (z.B. 10/3,244,10.27) und redet nicht nur von empfinden (z.B. 1 0 / 1 / 2 , 7 5 , 2 5 . 3 4 ) , sondern auch von der empfindlichen Süßigkeit [Gottes] ( 7 , 5 5 0 , 1 7 f ; vgl. Seuses Leben 1, 6 enpfintlich kundsami [22, 21 f Bihlmeyer]). Aber diese älteren Formen bleiben am Rande; Luther hat der Wortfamilie „erfahren usw." endgültig Heimatrecht im religiös-theologischen Sprachgebrauch verschafft.

Ihm kommt auch das Verdienst zu, das Verständnis religiöser Erfahrung aus seiner spätmittelalterlichen Engführung gelöst zu haben. Wenn sich bei Gerson der Begriff weitgehend auf die mystische Erfahrung konzentrierte, so hat Luther die Weite zurückgewonnen, die er bei Bernhard von Clairvaux einst erreicht hatte. Schon in der 1. Psalmenvorlesung stellte er weitgespannte Überlegungen über die Funktion der Erfahrung an, und noch als Mönch hat er sein Erfahrungsverständnis über die monastische Ebene hinaus auf die Existenz des Menschen überhaupt ausgedehnt. Er hat dadurch die monastischen Anregungen für das allgemeine Erfahrungsverständnis fruchtbar gemacht. Unter den zahlreichen Äußerungen Luthers finden sich auch immer wieder negative Wertungen der Erfahrung. So kann er die Schrift hoch über alle Erfahrung erheben (z. B. WA 1 0 / 2 , 2 9 9 , 9 ff. 15 ff); vor allem aber stellt er gerne den Glauben über oder gar gegen die Erfahrung (z.B. 3 , 5 5 3 , 1 ff). Bei näherem Zusehen stoßen wir hier auf die Problematik des ungeklärten Erfahrungsbegriffs; die Polemik richtet sich oft gegen einen weiteren Begriff äußerer, nicht spezifisch religiöser Erfahrung (z. B. 9,629,7). Aber auch innere, lebensmäßige Erfahrung kann abgewertet werden gegenüber geistgewirkter Gewißheit (z.B. 18, 605, 33f: assertiones ipsa vita et omni experientia certiores et firmiores), einem Glauben an den jeder Erfahrung entzogenen (z.B. 5 6 , 3 0 7 , 4 i ( : mexperimentalis) oder unter entgegengesetzter Erfahrung verborgenen Gott (18, 633, 7ff). Neben solchen Aussagen überwiegen aber bei weitem die positiven Bewertungen. Luther hat einen prägnanten Begriff religiöser Erfahrung, der den Gegensatz zu bloß äußerem Reden (verba, z.B. WA 1, 373, 36) oder Hören (z.B. 1, 83, 7f) und ebenso zur Vernunfttätigkeit (cogitatio, z.B. 2, 499, 21 f; speculatio, z.B. 5, 497, 31 f) betont. Religiöses Erfahren vollzieht sich im Affekt (z.B. 40/1, 209, 19); es spricht die inneren Sinne an: erfahren heißt spüren (z.B. 10/3, 427, 25) und fühlen (z.B. 10/1/1, 115, 5). Bei der Auslegung des biblischen Wortes „erkennen" betont Luther diesen affektiven Charakter: Erkenntnis (cognoscere) der eigenen Sünde etwa (Ps 50 [51], 5) bedeutet nicht rationales Begreifen, sondern Erfahren im Gefühl (z. B. 40/2, 360, 1 f: Non est simpliciter ,cognoscere', sed er erferts, fults; 42, 179,19: sentio et experior). Die üppige Sinnesmetaphorik der Tradition reduziert Luther auf einige im biblischen Sprachgebrauch (z. B. Ps 33,9 Vg.) verankerte Formulierungen: erfahren heißt schmecken (z.B. 12,634,7 (\schmack und erfarung: 9 , 6 1 0 , 3 1 f); dieelementarste Empfindungsqualität ist die Süße [Gottes] (z.B. 8, 12, 16; 9, 519, 20ff). —•Glaube und Erfahrung stehen nicht - wie es auf den ersten Blick scheinen könnte - einfach in Gegensatz zueinander, sondern hängen innerlich vielfältig zusammen. So kann Erfahrung zur Voraussetzung von Glauben werden (z.B. WA 8, 528, 13); wer nicht glauben kann oder will, der muß Erfahrungen machen (z.B. 19, 364, 8f. 365, 2f. 366, 1 f)- Umgekehrt setzt Erfahrung die Zustimmung des Glaubens voraus (z.B. WA.TR 423); Glaube strebt zur Erfahrung hin (z. B. 4 5 , 5 9 9 , 9 ff) und findet durch sie zur Erkenntnis(z. B. 7,550) und Gewißheit (z.B. 10/3, 4 2 6 , 1 8 f f ) , wie ja überhaupt Erfahrung Gewißheit schafft (z.B. 10/1/1, 375, 20f). So kann Glaube geradezu mit Erfahrung gleichgesetzt werden (z.B. 5, 642, 7: experimentum fidei; 1 9 , 4 8 9 , 1 5 f: erfarung des glaubens). — Die gleichrangige Zusammenstellung von Glaube und Erfahrung, aber auch von Geist und Erfahrung (z. B. 45, 5 8 6 , 2 5 f), Schrift, Geist und Erfahrung (z. B. 1 0 / 2 , 9 0 , 2 8 f) oder Erfahrung, Geschichte und Schrift (z.B. 6, 353, 5f) erweckt manchmal den Eindruck, es handle sich um voneinander unabhängige Erkenntnisquellen. Genauer besehen bestehen aber innere Zusammenhänge zwischen ihnen. Es gibt zwar auch religiös bedeutsame Erfahrung ohne Mitwirkung des Geistes (z.B. 26, 87, 9f); aber im allgemeinen steht hinter der Erfahrung (wie stets hinter dem Glauben) das Wirken des Heiligen Geistes (z. B. 4 5 , 6 1 4 , 2 5 f). Die Erfahrung nimmt Gottes

Erfahrung in/1

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Wirken im Innern wahr (z.B. 7, 550,9ff). Die Schrift ist selbst Niederschlag von Erfahrungen: so redet in den Psalmen der Prophet aus Erfahrung (z.B. 5 , 4 5 9 , 4 ff), im Magnificat die Jungfrau Maria, die in der Schule des Heiligen Geistes Erfahrungen gesammelt hat (7,546, 21 ff). Deshalb hat die Erfahrung auch zentrale hermeneutische Bedeutung. Die Schrift läßt sich nicht sola cogitatione begreifen (z.B. WA 26, 55, 36); ihr Sinn ist nur dem Erfahrenen zugänglich — eine Einsicht, die Luther schon in der 1. Psalmenvorlesung im Anschluß an die monastische Tradition klar ausspricht (z.B. 3 , 5 4 9 , 30ff; vgl. 3 , 1 8 6 , 3 1 ff mit Hinweis auf Bernhard). Erfahrung ist freilich nicht nur Voraussetzung, sondern auch Mittel zum Verstehen der Schrift (z.B. 5 , 1 0 7 , 1 4 f -.experientia = vivere und sentire). Luther beschreibt nicht nur das Organ der Erfahrung (z.B. 10/1/1, 3 4 1 , 1 6 : Herz, vgl. die Nähe zum —»Gewissen ebd. 360, 7f), sondern intensiver noch die Situation des Erfahrens. V.a. in der Anfechtung (z. B. 5 0 , 6 6 0 , 1 ff), in der der Mensch und sein Glaube versucht und erprobt werden (z. B. 8, 3 7 8 , 9 f : der vorsuchte und erfarne glawbe; die aktive Komponente im Erfahrungsbegriff ist noch deutlich zu fassen, z.B. 4 5 , 5 9 8 , 20ff. 601,4ff), gewinnt er wesentliche Erfahrungen. —»Anfechtung ist für Luther keine Einzelsituation, sondern sie umfaßt im Grunde das ganze Leben und Sterben des Christen. Deshalb betont Luther auch immer wieder, daß sich Erfahrung im Lebensvollzug abspielt (z.B. 2 , 5 7 7 f ; 12,634,7f). Erfahrung und Leben können geradezu einander gleichgesetzt werden (z. B. 4 9 , 2 5 8 , 1 8 ) . — So kann Luther die Erfahrung als notwendigen Zugang zur Gotteserkenntnis (z. B. 3 3 , 6 5 1 , 3 5 ff), zur Erkenntnis Christi (z. B. 5 7 / 2 , 9 4 , 4 ff) und überhaupt zur Gewißheit religiös-theologischer Existenz erklären. Was er über die —»Rechtfertigung glaubt und lehrt, das ist ihm studio, usu et experientia, deinde magnis et crebris tentationibus gewiß geworden (40/2,135,24ff). So kann denn auch eine Aufzeichnung Veit Dietrichs von 1531, die Luthers Forderungen an den doctor bibliae enthält, mit dem lapidaren Satz schließen: Sola autem experientia facit theologum [allein die Erfahrung macht den Theologen] (WA.TR 46). Die Entdeckung der individuellen Erfahrung als Quelle und Ziel religiös-theologischer Erkenntnis ist allerdings nicht nur das Verdienst Luthers, sondern einer der Grundzüge reformatorischer Frömmigkeit überhaupt, obwohl kein Zeitgenosse Luthers das Erfahrungsphänomen so umfassend und intensiv bedenkt wie er. Unter den Schweizer Reformatoren scheint—»Calvin den Erfahrungsbegriff besonders zu schätzen (vgl. z. B. die Berufung auf die allgemeine Erfahrung der Gläubigen für das testimonium Spiritus Sancii: Inst. [1559] 1 , 7 , 5). Während Luther oder Calvin (z.B. Inst. [1559] 1 , 1 0 , 2 ) die Übereinstimmung bzw. den inneren Zusammenhang von Schrift und Erfahrung voraussetzen, betont der sog. Linke Flügel der Reformation nicht nur die Notwendigkeit persönlicher Erfahrung für die Verifikation von Schriftworten (vgl. z.B. Jörg Haug bei R. Schwarz, Die apokalyptische Theol. Thomas Müntzers u. der Taboriten, 1977 [BHTh 55] 29, Anm. 58.62), sondern auch den Wert einer Erfahrung ohne Bezug zur Schrift, und polemisiert gegen die Unerfahrenheit der zeitgenössischen Schriftgelehrten (vgl. z. B. Thomas Müntzer, Sehr. u. Briefe, hg. v. G. Franz, Gütersloh 1968,277,25 ff; 247,18 ff). Diese Kritik löst die persönliche Erfahrung aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang und übersieht, daß nicht nur alles rechte Verstehen der Schrift auf die Erfahrenheit des Interpreten, sondern auch alle aktuelle Erfahrung auf Verstehenshilfe durch überlieferte Erfahrung angewiesen ist. Literatur Paul Althaus, Die Theol. Martin Luthers, Gütersloh 1 9 6 2 5 1 9 8 0 , 5 8 - 6 5 . - Raoul Carton, L'expérience mystique de l'illumination intérieure chez Roger Bacon, Paris 1924. - Ders., L'expérience physique chez Roger Bacon, Paris 1924. - Alistair Cameron Crombie, Robert Grosseteste and the Origins of Experimental Science 1 1 0 0 - 1 7 0 0 , Oxford 1953. - Gerhard Ebeling, Die Klage über das Erfahrungsdefizit in der Theol. als Frage nach ihrer Sache: ders., Wort u. Glaube, Tübingen, III 1 9 7 5 , 3 - 2 8 . - Alois M . Haas, Die Problematik v. Sprache u. Erfahrung in der dt. Mystik: W. Beierwaltes/Hans Urs v. Balthasar/Alois M . Haas (Hg.), Grundfragen der Mystik, Einsiedeln 1974, 7 3 - 1 0 4 . - Ulrich Köpf, Rei. Erfahrung in der Theol. Bernhards v. Clairvaux, 1980 (BHTh 61). - Ders., Wesen u. Funktion rei. Erfahrung. Überlegungen im Anschluß an Bernhard v. Clairvaux: NZSTh 22 (1980) 1 5 0 - 1 6 5 . - Walther

Erfahrung III/2

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v. Loewenich, Luthers theologia crucis, München 1929 ' 1 9 6 7 . Günther Metzger, Gelebter Glaube, Göttingen 1964. — Pierre Miquel, L'appel à l'expérience chez quelques auteurs de la Philocalie: Irén. 4 0 (1967) 3 5 4 - 3 7 6 . - Ders., Les caractères de l'expérience religieuse d'après Gilbert de Hoyland: CCist 2 7 (1965) 1 5 0 - 1 5 9 . - Ders., Les caractères de l'expérience religieuse d'après Guillaume de SaintThierry: CCist 30 (1968) 3 - 1 4 . - Ders., La conscience de la grâce dans la spiritualité de Syméon le Nouveau Théologien: Irén. 4 2 (1969) 3 1 4 - 3 4 2 . — Ders., Deux témoins de l'expérience de Dieu. Saint Bernard et Pierre le Vénérable: CCist 35 (1973) 1 0 8 - 1 2 0 . - Ders., L'expérience de Dieu selon Guerric d'Igny: CCist 3 2 (1970) 3 2 5 - 3 2 8 . - Ders., L'expérience sacramentelle selon Nicolas Cabasilas: 38 (1965) 1 7 6 - 1 8 2 . - Ders., Grégoire Palamas, docteur de l'expérience: Irén. 3 7 (1964) 2 2 7 - 2 3 7 . Ders., Un homme d'expérience: Cassien: CCist 3 0 (1968) 1 3 1 - 1 4 6 . - Ders., xeîga. Contribution à l'étude du vocabulaire de l'expérience religieuse dans l'oeuvre de Maxime le Confesseur: StPatr 7 (1966) (TU 92), 3 5 5 - 3 6 1 . - Ders., La place et le rôle de l'expérience dans la théologie de S. Thomas: RThAM 3 9 (1972) 6 3 - 7 0 . - Ders., Spécifité et caractères de l'expérience spirituelle chez Aelred de Rievaulx: CCist 2 9 (1967) 3 - 1 1 . - Hans Michael Müller, Glaube u. Erfahrung bei Luther, Leipzig 1929. - Harmannus Obendiek, Die Erfahrung in ihrem Verhältnis zum Worte Gottes bei Calvin: Aus Theol. u. Gesch. der ref. Kirche. FG E.F.K. Müller-Erlangen, Neukirchen 1933, 1 8 0 - 2 1 4 . - Charles Partee, Calvin and Classical Philosophy, 1977 (SHCT 14) 29—41.-Ders., Calvin and Experience: SJTh 26 (1973) 1 6 9 - 1 8 1 .

Ulrich Köpf

III/2. Neuzeit 1. Erfahrung als Thema der Neuzeit 2. Die Entwicklung bis zur Erfahrungstheologie (16. bis 18. Jh.) 3. Erfahrungstheologische Ansätze im 19. und beginnenden 20. Jh. 4. Die Erfahrungsthematik in der gegenwärtigen Theologie (Quellen/Literatur S. 127)

1. Erfahrung als Thema der Neuzeit 1.1. Erfahrung gehört zu den Schlüsselwörtern neuzeitlicher Entwicklung. So ist ein Kennzeichen der Neuzeit die Ausrichtung auf Erfahrung als neue Erkenntnisquelle und neuen Erkenntnisweg. Unentwegt auf der Suche nach neuen Erfahrungen, Grenzen überschreitend, will sich der neuzeitliche Mensch zum Erfahrenen und Wissenden machen. Ihren Anfang nimmt diese Ausrichtung auf Erfahrung in einer doppelten Erfahrung: der Erfahrung des Brüchigwerdens überkommener Gewißheiten, Einsichten und Autoritäten und der Erfahrung, daß jenseits metaphysisch geprägter Weltsicht viel unentdecktes Land liegt (vgl. Mostert 433). An die Stelle überlieferter Autoritäten und Begriffsysteme sollen nun die eigene Erfahrung und Erfahrungssprache treten. „Erfahrung wird einerseits beschworen gegen das bloß Gedachte, also gegen alle Weisen von Illusion, Dogmatismus und Ideologie, andererseits gegen das nicht Selbstgedachte, das bloß Uberlieferte, Ungeprüfte" (Ebeling, Schrift u. Erfahrung 112). Diese Hervorhebung des Erfahrungsbezugs hat in der Neuzeit selbst eine wechselvolle Geschichte, die sich in unterschiedlicher Geltung des Erfahrungsbezugs und in spannungsvoller Bestimmung des Erfahrungsbegriffs zeigt. Dabei wird ein Zweifaches sichtbar: Die Komplexität des Erfahrungsthemas, das sich nur schwer auf den Begriff bringen läßt, und das Geschick neuzeitlichen Wirklichkeitszugangs bzw. neuzeitlichen Begründungsbemühens, das sich in der unterschiedlichen Bestimmung und Beurteilung der Erfahrungsthematik spiegelt. Beides muß hier kurz in den Blick genommen werden, um die Problematik des Erfahrungsbezugs in der Theologie besser zu verstehen. 1.2. Gegenüber traditioneller, von Aristoteles geprägter Auffassung, erhält das Erfahrungsverständnis bei F. Bacon eine neue Wendung. Erfahrung bezeichnet nicht mehr nur den Besitz erworbener menschlicher Fähigkeit, sondern den Prozeß und die Methoden der Gewinnung solchen Besitzes (vgl. Kambartel: HWP 2,61 lf). Es geht Bacon um einen neuen, vorne anfangenden Zugang zur Wirklichkeit. Solcher Zugang durch und in Erfahrung soll nicht beliebig sein, nicht von zufälligen Einsichten und Interessen bestimmt sein, sondern zuverlässig, verantwortet und geordnet geschehen (Novum Organon 1,81). So tritt zur Erfahrung die Methode und die Ausrichtung auf das Methodische. In solchem von F. Bacon eher noch unsicher tastend entfalteten Zugang kündigen sich Grundfragen an, die mit dem Erfahrungsthema, insbesondere in seiner neuzeitlichen Prägung, aufgegeben sind:

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Im Erfahrungsbezug der Neuzeit wird der Versuch gemacht, Wirklichkeit unverstellt zu erfassen und so zu einer offenen Begegnung des Subjektes mit dem Objekt zu kommen. Darin wird ein Element des Erfahrungsbegriffs, das Ausschreiten, das offene Sicheinlassen, Erleben und Erleiden, Erproben zur Geltung gebracht. Zugleich wird im methodischen Zugriff der Erfahrung sichtbar, daß Erfahren als Erleben und Wahrnehmen immer schon von einer Erfahrungsperspektive bestimmt ist und sprachlich vermittelt ist. Erleben und Wahrnehmen wird zur Erfahrung in bestimmter Interpretation. Erfahrung ist darum immer beides: theoriegeleitet und theoriekritisch. Neuzeitliche Erkenntnistheorie und Bearbeitung der Erfahrungsthematik betont in unterschiedlicher Weise diese Aspekte (—»Empirismus, —»Rationalismus) und bemüht sich in verschiedenen Ansätzen um ihre Vermittlung (z.B. —»Kant, —»Hegel), ohne über diese Spannung hinauszukommen oder eine die Spannung aufhebende Vermittlung leisten zu können. Der Erfahrung eignet ein „anarchisches" Element, das sich gegen voreiliges Einbringen von Erfahrung in Theorie wehrt. Erfahrung ist von Anfang an aber als interpretiertes Wahrnehmen theoriegeleitet und theoriebezogen. „Erfahrung erweist sich gerade deshalb als so schwer erfaßbarer philosophischer Begriff, weil sie sich einerseits gegen Theorie sträubt, andererseits so sehr mit ihr verknüpft ist, daß sie sich ihrem Zugriff nur entwinden kann, indem sie diese gegen sich selbst kehrt" (Kessler u. a. 385). Eng verbunden mit der Spannung von theoriegeleitetem und theoriekritischem Element ist die Spannung von Allgemeinem und Besonderem in der Erfahrung. Im Erfahrungsbegriff liegt die Ausrichtung auf die eigene Erfahrung. Durch eigene Erfahrung wird man „erfahren" und gewinnt Kompetenz. In der Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Unvertretbarkeit der eigenen Erfahrung bestimmt sich das Individuum. Im Erfahrungsbegriff liegt die Ausrichtung auf das Besondere, konkret in der Situation Begegnende. Erfahrung geschieht in der Zeit und hat ihre Zeit. Erfahrung ist Ausrichtung auf das Individuelle, Einzelne und sei es auch der einzelne Fall im naturwissenschaftlichen Experiment. Zugleich zielt Erfahrung auf ihre Vermittlung mit dem Allgemeinen. Interpretation von Erleben und Wahrnehmung als Erfahrung ist der Versuch, der Erfahrung einen Namen und einen Ort zu geben in der Vermittlung mit bisheriger Erfahrung. Erfahrung als Ereignis wird darin zu einem Element in einem Prozeß, in einem Lebensvorgang. Erfahrung ist so unwiederholbare Einzelerfahrung in derZeit und drängt doch auf ihre Vermittlung mit anderen Erfahrungen in Vergleich, Wiederholung, Regel und Zuordnung. Ebenso will sich die unvertretbar eigene Erfahrung an andere und mit den Erfahrungen anderer vermitteln. So ist Erfahrung subjektiv und auf intersubjektive Vermittlung angelegt. In der Neuzeit kommt es innerhalb dieses Spannungsfeldes zwischen subjektiver Erfahrung und ihrer intersubjektiven Vermittlung zwischen unvertretbarer Einzelerfahrung und allgemein vermittelter Erfahrung zu unterschiedlichen Akzentsetzungen (z. B. der naturwissenschaftliche Erfahrungszugang als Orientierung an intersubjektiver, prüfbarer, wiederholbarer Erfahrung im Experiment). Doch auch hier wird deutlich, daß sich die Erfahrung gegen einseitige Akzentuierung und eine spannungslose Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem als widerständig erweist. Dies wird besonders in der Grundlagendebatte der—»Naturwissenschaft und in den Überlegungen zur Gewinnung und Prüfung von Theorien in der—»Wissenschaftstheorie deutlich. Erfahrung hat darin ein passives Element, daß sich das Subjekt der Erfahrung in der Begegnung aufschließt und dem Begegnenden aussetzt (Erfahrung und Gefahr). Das Subjekt bringt sich ins Spiel und muß sich in bestimmter Weise in der Erfahrung immer aufs Spiel setzen. Erfahrung ist Widerfahrnis und schließt den Erfahrenden in den Prozeß ein, verändert ihn. So entspricht dem Außenbezug von Erfahrung in der Wahrnehmung des Gegenstandes ein Innenbezug in der Wahrnehmung der eigenen Veränderung im Erfahrungsprozeß. Das passive Element kommt aber auch darin zur Geltung, daß die Erfahrungsperspektive, die bestimmte Erfahrung ermöglicht, dem Erfahrenden vorgegeben ist und ihn in eine Erfahrungsgeschichte hineinstellt, in der eigenes Erfahrenkönnen sich der Vorgegebenheit geschichtlicher und gesellschaftlicher Erfahrung verdankt. Solche Vorgegebenheit ist jedoch nicht nur als geschichtliche gegeben. Insofern nämlich Erfahrung bestimmte Interpretation von Begegnenden ist, synthetische Struktur hat, ist die Frage nach den grundlegenden Voraussetzungen der Erfahrungsperspektive gestellt. Sie führt auf letzte Voraussetzungen der Erfahrung, wie etwa die Annahme, daß Erfahrung in der Tat als Begegnung mit der Wirklichkeit möglich ist und sinnhaft sein kann. Solche Voraussetzung muß als unverfügbar vor aller Erfahrung gegebene Möglichkeit in Anspruch genommen werden. So wird das passive Element im Erfahrungsbegriff sowohl in der Begegnung als Widerfahrnis als auch in der Vorgegebenheit und Unverfügbarkeit der grundlegenden Erfahrungsperspektive sichtbar. Dieser Passivität des Erfahrungsgeschehens korrespondiert ein aktives Element, das sich im bewußten Einlassen auf Erfahrung, in der Wahl bestimmter Erfahrungsperspektive, Erfahrungsweisen und -methoden und Gegenstände und in bestimmter Interpretation zeigt. Erfahrung und Entwurf, Erfahrung und Handeln, Erfahrung und Rationalität kommen hier aufs engste zusammen. Deutlich wird hier, daß Erfahrung nicht nur durch die Intensität der Begegnung bestimmt ist, sondern auch davon, wie etwas erfahren wird und was einer aus seinen Erfahrungen im Erfahrungsprozeß macht. Erfahrung hat ein passives und ein aktives Element. In der neuzeitlichen Bestimmung des Erfahrungsbegriffs begegnet vorherrschend die Betonung des aktiven Elementes der Erfahrung in der empirischen Wissenschaft, die stets in der Gefahr ist, sich ihrer eigenen Voraussetzungen unbewußt zu bleiben und so willkürlich zu werden.

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Erfahrung III/2

Die Eigenart des Erfahrungsbegriffs in seinen zueinander in Spannung stehenden Elementen bestimmt auch die Versuche neuzeitlicher Entwicklung, Erfahrung als das grundlegende Element im Begründungszusammenhang anzusehen. Schon früh wird in der Neuzeit die Erfahrung, auf die man ursprünglich als Ort der Erkenntnis von Wirklichkeit und Wissen, der Gewißheit und des Verstehens abzielt, selbst problematisch. Die neue Erkenntnisquelle Erfahrung läßt nämlich sichtbar werden, daß bisheriges, scheinbar sicheres Wissen und Weltbild Irrtum und Illusion war, Erfahrung trügen kann. So ist die Frage gestellt, was überhaupt für sich beanspruchen kann, gültiger Grund von Erkenntnis und Wahrheit zu sein. Der Rückgang von —>Descartes in die „innere Erfahrung" in seiner Frage nach der grundlegenden Gewißheit steht zu den immer neuen, bis ins 20. Jh. durchgeführten Versuchen in Spannung, den Prozeß von Begründung und später Bewährung von Theorien durch den Rückgang auf die äußere Erfahrung sicher zu stellen. Für beide Wege gilt jedoch, daß Erfahrung ein Element im Begründungsprozeß darstellt, aber der Rückgriff auf Erfahrung wegen des synthetischen Charakters von Erfahrung Letztbegründung nicht leisten kann. Die Geschichte des Erfahrungsbegriffs in der Neuzeit ist die Geschichte immer neuer Versuche, Erfahrung zum ausschlaggebenden Kriterium im Begründungsvorgang zu machen. Sie ist zugleich die Geschichte, in der immer deutlicher hervortritt, daß eine Letztbegründung nicht möglich ist. Die Ausrichtung auf den Erfahrungsbezug verweist so den Menschen in das Offene seiner Situation.

1.3. Gilt schon für die Philosophie, daß der Begriff der Erfahrung zu ihren „unaufgeklärtesten Begriffen" gehört (H. G. Gadamer, Wahrheit u. Methode, Tübingen 2 1965,329), gilt dies erst recht für die Theologie. Dabei ist die Erfahrungsthematik implizit und dann explizit im 19. Jh. in den Versuchen, eine Erfahrungstheologie zu konstituieren, außerordentlich virulent. Oft nicht beim Namen genannt oder in anderen Begriffszusammenhängen entfaltet (z. B. —»Bekehrung, —»Erleuchtung, —»Wiedergeburt), ist der Erfahrungsbezug des Glaubens und der Theologie eine intensiv verhandelte Frage. Neben der Verwiesenheit auf das Erfahrungsthema im Kontext der neuzeitlichen Entwicklung, tritt eine Nötigung zum Erfahrungsbezug von der eigenen Sache her. Christlicher Glaube, und vermittelt auch die Theologie, sind auf Erfahrungen bezogen, da das Evangelium nicht aus uns selbst ist, sondern in Erfahrung gebracht werden will. Gott offenbart sich im bestimmten geschichtlichen Handeln, das zur Erfahrung kommen will. Glaube an Jesus Christus hat nach christlichem Verständnis seinen entscheidenden Grund in einer Erfahrung mit dem auferstandenen Gekreuzigten. Gegenwärtiger Glaube ist unbedingtes Betroffensein durch das Evangelium. Solche Erfahrung bedeutet Unterbrechung des Selbstverständlichen, der gewohnten Erfahrung. Sie läßt alle Erfahrung, und damit das Erfahren, selbst neu werden. —»Glaube steht in der Erwartung von Erfahrung. Ihm ist verheißen, daß Gott sich in Jesus Christus durch den Heiligen Geist auch in Zukunft als gegenwärtig, wirksam und heilsam erweisen wird. Erfahrung erweist sich so als Bindeglied zwischen Tradition und Situation, zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Erfahrung ermöglicht Verstehen und kann Einverständnis eröffnen.

Solcher Verweis auf den Erfahrungsbezug des Glaubens läßt allerdings verschiedene Grundfragen aufbrechen: Inwieweit hat das Reden von der Erfahrung des Glaubens sein Recht in der Spannung der Aussage, daß Glaube als Erfahrung begriffen werden kann und zugleich wider alle Erfahrung ist? Wie ist das Verhältnis der Erfahrung des Glaubens zur Erfahrung allgemein zu bestimmen? Wie verhält sich die in Jesus Christus eröffnete Erfahrung Gottes zur religiösen Erfahrung? Darüber hinaus läßt die Entfaltung des Erfahrungsbezugs in der neuzeitlichen Theologie deutlich erkennen, daß die oben entfalteten Spannungen im Erfahrungsbegriff in spezifischer Form in der Theologie wiederkehren; als Frage nach dem Verhältnis von Heiligem Geist, Schrift und Erfahrung, als Frage nach dem Verhältnis von Erfahrung und Gemeinschaft, nach dem Verhältnis von geschichtlicher Offenbarung und gegenwärtiger Erfahrung, als Frage nach dem Widerfahrnischarakter der Glaubenserfahrung und der Beteiligung des Menschen in der Erfahrung des Glaubens, als Frage nach dem Zusammenhang von Erfahrung und Verstehen im Glauben und von Erfahrung und Gewißheit. Wie diese verschiedenen Grundfragen in unterschiedlicher Weise aufgenommen und beantwortet wurden, soll nun in der Entfaltung der verschiedenen Ansätze verfolgt werden. 2. Die Entwicklung bis zur Erfahrungstheologie

(16. bis 18. Jh.)

2.1. Der Erfahrungsthematik wird in der Reformation neue Aufmerksamkeit zuteil. In den verschiedenen, teilweise widersprüchlichen Aussagen M. —»Luthers zeichnet sich eine

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dreifache Akzentsetzung und darin Neubestimmung der Erfahrung des Glaubens ab, die sich Luthers Grundeinsicht in die Rechtfertigungslehre verdankt und in der Folgezeit wirksam wird. Erstens erweitert Luther das Erfahrungsverständnis der mystischen Tradition (—•Mystik). Erfahrung des Glaubens ist Erfahrung mitten im Lebenszusammenhang, als Erfahrung befreiender Betroffenheit durch das Evangelium, als Erfahrung der Anfechtung und ständigen Verwiesenheit auf das W o r t (tägliche Reue u n d Buße und vertrauensvolle Hinw e n d u n g zu Gott) (WA 5 0 , 6 6 0 , 1 ff; 8 , 3 7 8 , 9 f ; 1 8 , 6 8 2 , lOff). Zweitens kennzeichnet Luther Erfahrung als ein ganzheitliches Geschehen (spüren, schmecken, empfinden) (WA 1 0 / 1 / 2 , 75, 25.34; s.o. Abschn. III/1.4), das den Menschen erfaßt und ihm existentiellen Zugang zur Erkenntnis Gottes in Jesus Christus, zum Verstehen der Schrift, zur Gewißheit eröffnet. Drittens bleibt bei ihm Erfahrung gebunden an das Wort der Verheißung, durch das sie sich vermittelt und das alle Erfahrung übersteigt. Wider alle gewohnte Erfahrung ist Erfahrung des Glaubens unverfügbares Geschenk und unverfügbar bleibendes Widererfahrnis. Mit diesen Bestimmungen bezieht Luther Front gegen verfügende Engführung von Erfahrung in der mystischen Tradition, gegen ein Verständnis der Erfahrung als unmittelbarer Erkenntnisquelle von Glaube und Theologie, in Gestalt des Rückgriffs auf die durch die katholische Amtskirche geprägte und geordnete Tradition und in Gestalt einer die Verwiesenheit auf das verbum externum überspielenden Z u o r d n u n g von Heiligem Geist und Erfahrung im linken Flügel der Reformation. 2.2. Die lutherische Dogmatik hat in den Auseinandersetzungen bis zum Abschluß der —»Konkordienformel und in der Orthodoxie (—»Orthodoxie, Altlutherische) versucht, Luthers Grundeinsichten zum Erfahrungsbezug des Glaubens zu bewahren. Doch vollziehen sich hier schon einige Veränderungen, die gleichermaßen ihren Grund in offenen und ungeklärten Fragen bei Luther wie im wachsenden Einfluß der Subjektivitätsproblematik der Neuzeit haben. Gegenüber Luthers lebendiger Zuordnung von Erfahrung und Verstehen der Schrift k o m m t es zu einer starken Betonung der Autorität, Inspiration und Verständlichkeit der Schrift. Der Erfahrung wird nur ein eingeschränkter Ort im Rahmen der Aussagen über das testimonium Spiritus saneti internum zugewiesen (Joh. Gerhard, Loci Theologici I, 36, 52; D. Hollaz, Examen theolog. acroamaticum Prol. III, Q 24,27—31). Wird hier der Erfahrungsbezug in der Auseinandersetzung um das sola scriptura reduziert, so erhält er eine Betonung im Zusammenhang zweier anderer Fragestellungen, der Frage nach dem Anfang des Glaubens —»(Bekehrung) und der Frage nach der Veränderung des Menschen durch die zugesprochene und zugeeignete Gerechtigkeit Christi in der individuellen Heilsaneignung. Ph. —»Melanchthon hat gegenüber Luthers theologisch begründeter Betonung der Passivität des Menschen beim Vorgang der Bekehrung den Blick auf die psychische Seite dieses Vorgangs gelenkt. (CR 21,371.658; —»Wille/Willensfreiheit). In den daraufhin folgenden Debatten, dem synergistischen Streit, wird deutlich, daß die Frage nach der Beteiligung des Menschen aus der Selbsterfahrung unumgänglich erwächst (passives und aktives Element der Erfahrung) und aus pädagogisch-seelsorgerlichem Interesse gegenüber einer falschen Entschuldung und Beruhigung in der Sünde gestellt wird. Die Debatte zeigt jedoch auch die Gefährdung solcher Betonung des Erfahrungsbezugs. Wo im Bekehrungsvorgang dem der Erfahrung zugänglichen menschlichen Willensmoment besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, besteht eine Tendenz, die Bekehrung letztlich von menschlicher Entscheidung abhängig zu machen und so gerade den Gewissenstrost zu verlieren, den Luthers Hervorhebung des alleinigen Handelns Gottes eröffnet hat. Die -»Konkordienformel sucht einen Ausgleich zwischen den Positionen, indem sie dem Menschen grundsätzlich die psychische Fähigkeit zur Bekehrung zugesteht und gleichwohl den Glauben allein in Gottes gnädigem Handeln gegründet sein läßt (SD 11,9.19.26.32.53). Solcher Ausgleich versucht die lutherische Tradition zu bewahren, bleibt aber weithin äußerlich. Zu einer intensiven Bestimmung des Verhältnisses von —»Rechtfertigung und Erfahrung kommt es nicht. Einschneidender noch ist die Zuwendung zur Erfahrungsthematik im Zusammenhang der Frage nach der Veränderung, die Rechtfertigung im Leben des Menschen bewirkt (-»Heiligung). Diese Frage wird in der altprotestantischen Orthodoxie in einem eigenen Lehrstück de gratia Spiritus saneti applicatrice verhandelt (Quenstedt) und später in der Entfaltung des ordo salutis ins Zentrum gerückt. Das Werden des Glaubens wird als eine Reihe zusammengehörender, aber zu unterscheidender Einzelerfahrungen dargestellt (Berufung, Erleuchtung, Bekehrung, Wiedergeburt...) (J. A. Quenstedt, Theologia didacto-polemica... III, 461 ff).

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Erfahrung III/2

Auffällig ist der enge Bezug von Wirken des Heiligen Geistes und innerer Erfahrung. So gewiß auf die Vermittlung durch die media salutis verwiesen wird, werden doch unmittelbare Wirksamkeit des Heiligen Geistes und innere Wahrnehmung zusammengedacht. Dieses Abheben auf die innere Erfahrung betont die Individualität und Subjektivität des Glaubens. Offen bleibt freilich das Verhältnis dieser inneren Erfahrung zur Erfahrung allgemein. Der enge Zusammenhang von Wirksamkeit des Heiligen Geistes und Erfahrung des Glaubens läßt die Frage nach der Unterscheidbarkeit beider aufkommen.

2.3. Im linken Flügel der Reformation spielt die Erfahrungsthematik weniger dem Begriffe, wohl aber der Sache nach eine gewichtige Rolle. Die Grundfrage, die hier gestellt wird, ist die Frage nach dem Gewißwerden Gottes, nach der Erfahrung des Wortes Gottes als einer unmittelbar betreffenden und veränderten Wirklichkeit. Th. —»Müntzer gerät von dieser Fragestellung her in Konflikt mit den Reformatoren. Gegenüber der Bindung der Erfahrung des Glaubens an das äußere Wort bei Luther geht Müntzer davon aus, daß der Heilige Geist unmittelbar am und im Menschen wirkt und es so erst zu einer wirklichen Glaubenserfahrung kommt, von der her sich auch die Schrift aufschließt (Schriften u. Briefe. Krit. GA, hg. v. G. Franz, Gütersloh 1968, 492,11 ff). Ohne solche Glaubenserfahrung hat die Schrift nur die Funktion des Gesetzes. Der Weg zum Glauben aber führt über das „Christusgleichwerden", die Erfahrung des Kreuzes an sich selbst (ebd. 218,6 ff). Diese Hervorhebung des verändernden Charakters der Gottesbegegnung und des Rechtfertigungsgeschehens verbindet Müntzer mit den —»Täufern, den —»Spiritualisten und den englischen —»Separatisten, die ihrerseits die verändernde Erfahrung des Glaubens und das daraus erwachsende neue Leben des Menschen in der Heiligung zum Kriterium wahren Glaubens erheben. Während bei den Reformatoren Erfahrung in den Zusammenhang von Rechtfertigung und Glaube, Wort und Sakrament gestellt wird, kommt es hier zu einer Verselbständigung des Erfahrungsbezuges. In der unmittelbaren Bezugnahme auf das Wirken des Heiligen Geistes wird deutlich die fromme Subjektivität zum Kriterium gemacht. Das theoriegeleitete Element von Erfahrung, das zugunsten solcher unmittelbarer Erfahrung aufgelöst werden soll, verschafft sich jedoch so wieder Geltung, daß es zu einer unhinterfragten Auslegung der Glaubenserfahrung kommt. Insofern solche Auslegung nicht vom Evangelium bestimmt ist, wird sie faktisch gesetzlich. 2.4. Der -*Pietismus unternimmt den Versuch — soweit es erlaubt ist, ein Grundanliegen dieser vielgestaltigen Erscheinung typisierend herauszuarbeiten — gegenüber einer intellektualisierten Lehre, angesichts vermuteten Erfahrungsdefizits überkommener Glaubensformen und fehlender deutlicher Gestalt des Christseins, abseits von institutionellen Instanzen und uninteressiert an konfessionellen Differenzen zu einer Erneuerung des Glaubens, der Frömmigkeit und des kirchlichen Lebens zu kommen. Er versteht sich darin als Erbe der Reformation, deren Anliegen und offene Fragen er gerade im Blick auf die Erfahrungs- und Freiheitsthematik neu aufgreift. Die in der Schrift erzählten und eröffneten Erfahrungen sollen so wieder zur Geltung gebracht werden, daß sie die eigene Glaubens- und Lebenswirklichkeit bestimmen. In der eigenen Erfahrung gilt es, die Gewißheit des zugesprochenen Heils zu gewinnen und zu bewähren. Solche Erfahrung hat ihren Grund im Wort der (ganzen) Schrift und dessen Predigt. Sie ist nicht verfügbar und schließt doch das eigene Ja des Menschen ein. Die Neuwerdung aber wird sichtbar im gewandelten äußeren Verhalten. Die —»Wiedergeburt ist der Anfang eines Prozesses der Erneuerung, in dem der Wiedergeborene in die Gemeinschaft der Bekehrten gestellt wird, in dem einepraxis pietatis gepflegt sein will und sich der Glaube in Werken der Liebe und missionarischer Aktivität zu bewähren hat (Ph. J. —»Spener, Pia desideria, 3 1964 [KIT 170]). Die besondere Zuspitzung erfährt diese Hervorhebung des Erfahrungsbezugs in der Beschreibung von —»Bekehrung und Wiedergeburt als einmaligen und lebensveränderten Ereignis (s. TRE 5 , 4 6 4 - 4 6 7 ) . In der Analyse des Bußkampfes zerlegt A. H. —»Francke diese Grunderfahrung in verschiedene Einzelerfahrungen: Die Erfahrung, daß sich der Sünder dem Ruf Gottes entziehen will und hin und her gerissen ist zwischen Gottes- und Weltliebe und sich immer mehr in Schuld verstrickt. Die Erfahrung einer letzten Verlorenheit und Entscheidungssituation, in die der Mensch geführt und in der er in seiner Sündenangst zum anhaltenden Gebet getrieben wird. In dieser Situation kann es zum Durchbruch und zur Bekehrung kommen, wobei diese Bekehrungserfahrung zugleich als Erfahrung der Krisis bisheriger Existenz und als beglückende Erfahrung von Wiedergeburt erlebt wird, die nun neues

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Gottesverhältnis, Gewißheit u n d Freiheit e r ö f f n e t (vgl. F. Blanke, Franckes Bekehrung: Der Kirchenf r e u n d 6 6 [ 1 9 3 3 ] 122 ff).

Teilt der Pietismus mit dieser Hinwendung zur Erfahrung die neuzeitliche Ausrichtung auf das Individuum (—•Individualismus/Individualität), auf die wahrnehmende, in der Erfahrung und im Handeln Gewißheit gewinnende und sich verantwortende Subjektivität, so steht die inhaltliche Bestimmung der Glaubenserfahrung in deutlicher Abgrenzung zum neuzeitlichen Selbstverständnis. Die Hervorhebung des Sündenbewußtseins, die Absage an die Welt, die Betonung der Autorität der Schrift widersprechen dem Zeitgeist und machen den Pietismus zum umstrittenen Phänomen in der Moderne. Die geistige und geistliche Kraft und die Lebendigkeit des Pietismus und aller verwandten Bewegungen liegt in der Ausrichtung auf die Erfahrung, in der das Wort zum Leben kommt und in der Ausrichtung auf die Gemeinschaft und die deutliche christliche Existenz. Doch steht der Versuch, die Wirklichkeit der Glaubenserfahrung zu betonen, in der Gefahr, sich an ihrer Unverfügbarkeit zu vergreifen und die Intersubjektivität der Erfahrung statt im vorgegebenen Wort der Verheißung in einer Regelung des Erfahrungsvorgangs und der Bewährung der Erfahrung im Leben zu suchen. 2.5. Eine besondere Gestalt n i m m t die Erfahrungsthematik bei S.A. —•Kierkegaard an. In seiner Auseinandersetzung mit Hegel betont Kierkegaard, d a ß die W a h r h e i t nicht in der denkerischen Reflexion des Objektiven, sondern allein in der „ A n e i g n u n g der leidenschaftlichen Innerlichkeit" (345) gew o n n e n werden k a n n , in der Entscheidung des Subjekts zu seiner Existenz u n d f ü r seine Existenz. Im ethisch-religiösen Erkennen, im vor G o t t Gestelltsein der Existenz gewinnt der einzelne seine unvertretb a r e Individualität u n d Wahrheit in der —»Entscheidung. Solche Entscheidung verdankt sich d e m „ S p r u n g " , indem sich der Mensch in seiner Angst u n d Verzweiflung dem absoluten P a r a d o x anvertraut, d a ß G o t t in Jesus Christus in die Zeit g e k o m m e n ist u n d sie erfüllt h a t . Der G l a u b e wird darin selbst z u m P a r a d o x , d a ß er in einem für den Nichtglaubenden a b s u r d erscheinenden Verhältnis z u m Absoluten steht. In solchem P a r a d o x wird keine Bestätigung in jemandes E r f a h r u n g gesucht, sondern „jede Erfahr u n g bestätigt" (vgl. H . Gcrdes, Sören Kierkegaard, Berlin 1966, 61t). Wichtig f ü r die Erfahrungsthematik ist, d a ß hier eine Denkfigur begegnet, in der die G l a u b e n s e r f a h r u n g als innere E r f a h r u n g in ihrer Individualität, Unmittelbarkeit zu G o t t u n d Christus (Gleichzeitigkeit, qualitativer Augenblick) in ihrem Entscheidungsmoment u n d ihrer Unvertretbarkeit in extremer Form herausgearbeitet wird. Z u gleich betont Kierkegaard ebenso intensiv die Unverfügbarkeit der G l a u b e n s e r f a h r u n g . Dies wird nicht zuletzt in seiner A b w e h r des Versuchs, die eigene wiedergeborene Existenz als W a h r h e i t für andere verpflichtend zu machen, deutlich. Die so bestimmte E r f a h r u n g des G l a u b e n s setzt sich allerdings in radikalen Gegensatz zur allgemeinen E r f a h r u n g . Die geschichtliche H e r k u n f t dieser E r f a h r u n g des Glaubens aus der Botschaft des Evangeliums wird in der Erfahrung selbst transzendiert.

3. Erfahrungstheologische

Ansätze im 19. und beginnenden

20.Jh.

3.1. Im weitesten Sinn ist alle Theologie Erfahrungstheologie (Althaus). Im engeren Sinn ist jedoch von Erfahrungstheologie dort zu sprechen, wo die in der Erfahrung gewonnene Gewißheit zum entscheidenden Konstitutionsmerkmal des Glaubens wird. Dies findet bei F. D. E. —>Schleiermacher seine explizite Gestalt, der Glaube in der Erfahrung gegründet sieht und die Glaubenslehre als Reflexion solcher Erfahrung versteht. Schleiermachers Deutung der Glaubenserfahrung ist von seiner Absicht geprägt, die Anfragen der Moderne mit den Einsichten christlicher Tradition zu vermitteln. Solche Vermittlung mit der Zeit ist zugleich eine innertheologische Vermittlung zwischen unterschiedlich in der Zeit stehenden und zur Zeit stehenden theologischen Konzeptionen. So nimmt Schleiermacher im Blick auf die Erfahrungsthematik die vorliegende Tradition auf und prägt sie eigenständig um. O r t und Eigenart der Erfahrung des Glaubens werden von Schleiermacher in einem dreifachen Aspekt dargestellt: 3.1.1. Ort und Eigenart der Glaubenserfahrung werden im Rahmen seiner Ausführungen zur —»Religion entfaltet. Religion ist in den Reden als „Anschauen des Universums" und später in der Glaubenslehre als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" verstanden. Ihr Wesen—und darin ist sie eigenständig gegenüber Metaphysik und Moral—ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl, Erfahrung unmittelbaren Ergriffenseins und Einswerden mit dem Universum (Über die Religion 74). Solches Gestimmtsein gehört zu

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Erfahrung III/2

den Grunderfahrungen des Menschseins und bestimmt seinerseits, obwohl von anderer Erfahrung unterschieden, alle Erfahrung, den ganzen Lebensbezug. Damit gibt Schleiermacher der Erfahrung des Glaubens in der allgemeinen Erfahrung ihren eigenständigen und auf die allgemeine Erfahrung bezogenen und in ihr vermittelten Ort. 3.1.2. Religion ist ein allgemeiner Begriff. Gelebte Religion und Erfahrung sind konkret. So kann die allgemeine Bestimmung der Erfahrung des Glaubens nur als reflektierende und abstrahierende Analyse dessen verstanden werden, was in der geschichtlich-konkreten Ausbildung des frommen Bewußtseins immer mitschwingt. Das konkrete geschichtlich-bestimmte Frömmigkeitsbewußtsein ist von einer doppelten Erfahrung geprägt. Zunächst durch die Erfahrung des Gegensatzes von „Lust und Unlust" (Der christl. Glaube § 62, Leitsatz). Der Mensch verspürt Widerstand in sich gegen jenes schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl und wendet sich in diesem Widerstand seiner Selbstbehauptung und relativen Freiheit zu. Solcher individuelle Widerstand ist wechselseitig eingebettet in eine Geschichte des Widerstands, das Gesamtleben der Sünde, in dem das Gottesbewußtsein nicht mehr zum sinnlichen Bewußtsein hinzutritt.. 3.1.3. Soll es zur Überwindung der Hemmung des Gottesbewußtseins kommen, bedarf es einer geschichtlichen Kraft und Wirkung. Diese Kraft ist in vollkommender Form in —»Jesus Christus gegeben. In der stetigen Kraft seines Gottesbewußtseins regt er die religiöse Empfänglichkeit des Menschen an und überwindet die Hemmung. Mit ihm hebt ein Gesamtleben an, in dem sich Erlösung realisiert und in dessen Erfahrung der Christ gelangen kann. Vermittelt wird die erlösende und versöhnende Tätigkeit Christi durch das Christus vergegenwärtigende Wort, das uns durch die Kirche in ihrer Geschichte erreicht. Jesus Christus ist hier durch den Heiligen Geist und die geschichtliche Vermittlung der Kirche wirksam. Im Ergiffenwerden, im erfahrenden Innewerden Jesu Christi ist der Mensch passiv Betroffener und zugleich in Freiheit Beteiligter, zur Freiheit Gerufener. Das neue Leben nimmt seinen Anfang in einer Sinnesänderung, die durch Reue und Glaube als Abstoßen des alten und Annehmen des neuen Lebens gekennzeichnet ist. Es kommt zum Gefühl der freien Gotteskindschaft und zur Herausbildung der frommen Persönlichkeit, die in die Gemeinschaft der Kirche und in den Prozeß der Bewahrung und Vertiefung des Gottesbewußtseins gestellt ist. In dieser Konzeption Schleiermachers sind alle Elemente des neuzeitlichen Erfahrungsbegriffs, aber auch all die in der theologischen Tradition aufgeworfenen Fragen zur Erfahrungsthematik einer Antwort zugeführt (so etwa die Frage nach Handeln Gottes und Beteiligung des Menschen, nach dem Verhältnis von Wort und Erfahrung, der geschichtlichen Vermittlung von Erfahrung, dem Zusammenhang von Erfahrung und Veränderung, dem Verhältnis von Erfahrung des Glaubens und allgemeiner Erfahrung). Die weitere Bearbeitung der Erfahrungsthematik orientiert sich an diesen Zuordnungen Schleiermachers unter einer doppelten Frage, inwieweit die einzelnen Zuordnungen jeweils gelungen sind und inwieweit Theologie in der Tat ihren Ausgang von den Wirkungen, den Erfahrungen als konstituierenden Elementen her nehmen kann, inwieweit Erfahrung als entscheidendes Kriterium von Glaube und Theologie trägt. 3.2. In der Erlanger Schule (—»Erlangen) wird in Aufnahme von Einsichten Schleiermachers, auch —»Hegels, sowie der—»Romantik und Erweckungstheologie (—»Erweckung) ein erfahrungstheologischer Ansatz ausgebildet, in dem die Ausrichtung auf Erfahrung in Verbindung mit einer immer deutlicher werdenden Orientierung am lutherischen Bekenntnis tritt. A. v. -»Harleß hat, Gedanken —»Tholucks aufnehmend, dem er seine Bekehrung verdankt, wohl als erster die These aufgestellt, daß von der Erfahrung der Wiedergeburt her die lutherische Lehre angeeignet werden kann. In origineller Weise vertieft wird dieser Gedanke bei J. Chr. K. v. —»Hofmann und systematisch durchgeführt bei F. H. R. —»Frank. Hofmann und Frank bestimmt ein dreifaches gemeinsames Anliegen. Beide gehen erstens Schleiermacher folgend davon aus, daß gelebter christlicher Glaube sich einer Erfahrung verdankt und Theologie die reflektierte Selbstaussage solchen aus der Erfahrung kommenden Glaubens zu

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sein hat. Die Erfahrung des Glaubens ist Erfahrung eines „gegenwärtigen Tatbestandes", der den Menschen unmittelbar betrifft. Zweitens legen beide Wert auf die Einsicht, daß christlicher Glaube nicht eine Summe einzelner, für wahr zu haltender Lehraussagen ist, sondern von der Erfahrung des Glaubens her das Ganze der Lehre in seiner inneren Einheit erschlossen werden kann. So in Erfahrung gegründeter Glaube ist kein formaler Autoritätsglaube, sondern Verstehen eröffnende Einsicht und Erneuerung. Drittens erfolgt der Rückbezug auf die Erfahrung des Glaubens nicht in apologetischer Absicht, die Erfahrung des Glaubens als notwendiges Element allgemeiner Erfahrung entfalten will. Die Erfahrung des Glaubens ist eine spezifische, geistliche Erfahrung. Der Christ hat einen Erweis der Wahrheit und des Anspruchs seiner eigenen Erfahrung im Rahmen allgemeiner Erfahrung nicht nötig. Ein apologetisches Moment ist bei beiden nur in ihrem Interesse gegeben, den Glauben als eine in eigener Erfahrung gewonnene Gewißheit zu erfassen. Theologie ist von daher zu verstehen als die Explikation des in der Erfahrung Begegnenden. Aus der Wirkung wird auf den in der Erfahrung gegenwärtigen und sie übersteigenden Grund verwiesen. So kommt es bei Hofmann zur bekannten Formulierung „ich der Christ bin mir dem Theologen eigenster Stoff meiner Wissenschaft (später: . . . Gegenstand des Erkennens)" (Hofmann 10,22). Hier liegen dann freilich auch die Unterschiede zwischen Frank und Hofmann. Für Hofmann ist der gegenwärtige Tatbestand, der zur Erfahrung kommt, die „in Jesu Christi vermittelte persönliche Gemeinschaft Gottes und der Menschheit". Es handelt sich also in der Rede von der Erfahrung des Glaubens nicht um eine Aussage des frommen Bewußtseins über sich selbst, sondern um eine von Schriftbekenntnis und Verkündigung angeleitete Erfahrung. Aufgabe der Theologie ist es gerade, diesen Grund und die Vermittlung der Erfahrung kritisch und gegenüber der eigenen Erfahrung auch selbstkritisch zu entfalten. Frank hingegen will zeigen, daß sich die unmittelbare Gewißheit der Erfahrung auf das Widerfahrnis von Wiedergeburt, Bekehrung und Erneuerung bezieht. Es handelt sich um eine Selbstaussage des „christlichen Subjekts" (Frank § 13—17; vgl. auch § 4f). Von daher entwickelt er seine Lehre von den immanenten, transzendenten und transeunten Glaubensobjekten: die immanenten im menschlichen Selbstbewußtsein gegebenen Glaubensobjekte sind Sünde, Gerechtigkeit, Gewißheit der Vollendung. Die transzendenten Glaubensobjekte, in denen Wiedergeburt begründet ist, sind Gott und Person und Werk Christi. Die transeunten Glaubensobjekte, durch die Glaube und Wiedergeburt vermittelt werden, sind Kirche, Gnadenmittel, Offenbarung und Inspiration. Dieser Ansatz wird von G. —»Thomasius aufgenommen und bei R. —»Seeberg fortgeführt. L. —»Ihmels verläßt den erfahrungstheologischen Ansatz der Erlanger Schule, insofern er vor allem von der Offenbarungswirklichkeit her argumentiert, die Erfahrung ermöglicht. Trotz wichtiger Einsichten über den Zusammenhang von Schrift, Bekenntnis, Verkündigung und Erfahrung sowie zur Eigenständigkeit der Erfahrung des Glaubens bleiben in der Erlanger Schule einige wesentliche Grundfragen offen. Wie verhalten sich in diesem Zusammenhang in der Erfahrung des Glaubens theoriegeleitetes und theoriekritisches Element, was ist dabei das ausschlaggebende Kriterium? Wie kommt es zur Erfahrung des Glaubens, sind dafür Bedingungen und Gelegenheiten anzugeben? Wie kann die Eigenständigkeit der Erfahrung des Glaubens im Kontext der allgemeinen Erfahrung näher bestimmt über die bloße Behauptung ihrer Selbständigkeit und die gegenüber Illusionsverdacht ungeschützte Behauptung ihrer Wirklichkeit hinaus? 3.3. Die Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben in der Neuzeit ist durch die Infragestellung dogmatischer und biblischer Einsichten im Rahmen der historisch-kritischen Forschung und durch religionskritische Anfragen gekennzeichnet. Im Rahmen dieser Anfragen wird wiederholt die allgemeine, „wissenschaftliche" Erfahrung gegen die Erfahrung des Glaubens und die Rede von der Erfahrung Gottes ausgespielt. Dies nötigt die Theologie im 19. Jh., immer wieder, die Gegenwärtigkeit, die Relevanz und Eigenart der Glaubenserfahrung im Kontext der allgemeinen Erfahrung zu entfalten. Obwohl A. —»Ritsehl die Frage nach der Entstehung des individuellen Glaubens ablehnt, kommt bei ihm die Erfahrungsthematik dort ins Spiel, wo er den christlichen Glauben als ein „selbständiges Wertur-

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teil" und das sittlich-religiöse Erkennen als ein Gefühl und neues Bewußtsein, als eine Erfahrung neuer Kraft entfaltet, die aus der Begegnung mit Jesus erwächst, in die Gemeinschaft des Reiches Gottes eingliedert und so auch dem „modernen Menschen" wahres Menschsein eröffnet. Stärker wird das Erfahrungselement bei W. —»Herrmann hervorgehoben. In Abgrenzung gegenüber Metaphysik und Wissenschaft, auch der historisch-kritischen Frage, zeigt Herrmann, daß der christliche Glaube Gewißheit in der Begegnung mit dem „inneren Leben Jesu" gewinnt, das uns als eine überwältigende und jeden Zweifel ausschließende Wirklichkeit entgegentritt (Ethik, Tübingen 3 1904, 42.130). Die sittlichen Gedanken Jesu überwinden uns und eröffnen uns den Weg zur Ausbildung der sittlichen Persönlichkeit. Relevanz und Gegenwärtigkeit der christlichen Botschaft ist also in einer eigenständigen Erfahrung des Glaubens gegeben. Wird bei Ritsehl und in seiner Schule Erfahrung des Glaubens als eigenständiges Erleben im Rahmen religiös-sittlichen Erkennens gekennzeichnet und darin auch gegen die allgemeine Erfahrung abgehoben, zielen andere Versuche im 19. Jh. auf eine Charakterisierung der religiösen Erfahrung als einer unumgänglichen Bedingung allgemeiner Erfahrung. Schleiermachers Motiv, daß die Erfahrung des Glaubens eine alle andere Erfahrung bestimmende und zugleich eigenständige Erfahrung darstellt, wird hier aufgenommen. So bei E. —»Troeltsch, der die religiöse Dimension aller Erfahrung im Zusammenhang seiner These vom „religiösen Apriorie" entfaltet (GS, II 1913, 745 ff). Troeltsch wird kritisch aufgenommen bei C. —»Stange und A. —»Nygren, die in unterschiedlicher Akzentsetzung in der gleichen Struktur argumentieren. In all diesen Untersuchungen werden Grundgedanken Schleiermachers aufgenommen, in einzelnen Untersuchungen differenziert, aber im Blick auf die schon bei Schleiermacher gegebenen Grundfragen kommt es zu keiner überzeugenden weiterführenden Antwort. 3.4. Auf katholischer Seite erhält die Erfahrungsthematik eine Neuakzentuierung im Modernismus, der sich den Anfragen des neuzeitlichen Erfahrungsbegriffs stellen will und zugleich Gedanken der mystischen Tradition (bes. —»Teresa von Avila) einbringt. A. —»Loisy, G. Tyrell, F. v. —»Hügel versuchen in unterschiedlichen Ansätzen der religiösen Erfahrung als eigenständigem Element Geltung zu verschaffen. Ihr Interesse geht dahin, gegenwärtige Erfahrung und Erfahrung des Glaubens in Beziehung zu setzen und dabei die traditionskritische, eigenständige Gewißheit eröffnende Bedeutung der religiösen Erfahrung aufzuzeigen. Bei Loisy dient die Hervorhebung des Erfahrungsbezugs dem Ernstnehmen der historisch-kritischen Erfahrung. Er will allen Versuchen wehren, die Grunderfahrungen des Evangeliums als zeitlos zu verinnerlichende oder dogmatisch festzulegende Erfahrungen zu bestimmen. Sie haben geschichtlichen Charakter. Mitten in ihrer Geschichtlichkeit, die nicht überspielt werden darf, eröffnen sie einen unmittelbaren Zugang zur Erfahrung der Geistoffenbarung. Bei Tyrell spielt die Erfahrungsthematik eine Rolle im Rahmen der Frage nach der Authentizität und der unvertretbaren Eigenverantwortung des Menschen im Glauben. Die konkrete Sprache der Offenbarung eröffnet jedermann Erfahrung und Verstehen. Dogma und Theologie können die unvertretbar eigene Erfahrung nicht vermitteln. Ihre Aufgabe besteht nur in der Frage nach den rechten Kriterien der Interpretation solcher Erfahrung. F. v. Hügel definiert Erfahrung von ihrer praktischen Zielrichtung her. Die Wahrheit einer Erfahrung erweist sich in ihrer Fruchtbarkeit zur Personwerdung. Durch Erfahrung wird Person (vgl. R. Eucken (Mystical Element). Religiöse Erfahrung bestimmt Hügel als Erfahrung mit und unter der Welterfahrung. Mitten in der Welterfahrung erwächst das Gespür für das Unendliche. Die Frage nach dem Unendlichen wird als wesensnotwendiges Element aller Erfahrung sichtbar (Essays and Addresses). Religiöse Erfahrung ist unmittelbare Begegnung mit dem Unendlichen, mit dem Geist, der unseren Geist durchwirkt. Solche mystische Erfahrung ist, so sagt Hügel W. James folgend, ein unverzichtbares Element jeder Religion, zu dem die beiden anderen Elemente der Religion, das institutionelle Element (Vermittlung) und das wissenschaftliche Element (Prüfung der Historizität, rationale Argumentation) hinzutreten müssen. In diesen Ansätzen werden die unterschiedlichen Elemente des

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Erfahrungsbegriffs in Zuspitzung auf die Erfahrung des Glaubens zur Sprache gebracht. Eine Vermittlung der in Spannung zueinander stehenden Elemente des Erfahrungsbegriffs gelingt jedoch nur bedingt. 4. Die Erfahrungsthematik

in der gegenwärtigen

Theologie

4.1. K. —>Barth wehrt in seiner in Kontrast zu Schleiermacher vollzogenen Neubegründung der Theologie im unverfügbar zugesprochenen Wort Gottes jeden Verweis auf Erfahrung als Kriterium der Gewißheit und jeden Erweis von religiöser Erfahrung in ihrer Notwendigkeit im Rahmen der allgemeinen Erfahrung ab. Erfahrung des Glaubens wird von Barth als Erfahrung des Wortes Gottes, als Bestimmung der Existenz des Menschen durch das Wort Gottes entfaltet (KD 1/1, § 6,3). Solche Bestimmtheit darf nicht verwechselt werden mit irgendeiner Bestimmtheit, die sich der Mensch selbst geben kann, sondern ist Bestimmtsein durch Gott. Der Mensch ist gerufen, sich diese Bestimmung widerfahren zu lassen und ihr in seiner Selbstbestimmung zu entsprechen, in der Anerkennung seines Bestimmtseins durch Gottes Person. Darum ist auch nicht nach einem außerhalb dieser Erfahrung gelegenen Aufweis solcher Erfahrung zu suchen. Erkenntnis Gottes ist allein durch das in der Erfahrung begegnende Wort Gottes bestimmt. Die Gewißheit solcher Erfahrung ist die Gewißheit, daß der Mensch seiner selbst nicht sicher sein kann, aber dieses ihm zugesprochenen Wortes sicher sein darf. So führt die Erfahrung des Glaubens dazu, daß der Mensch darin neu wird, daß er sich als Angesprochener und Hörender versteht und erweist, der die Gnade und Zuwendung Gottes vernimmt. In der Erfahrung des Glaubens stehen heißt so gerade die eigene Angewiesenheit auf das Wort der Verheißung entdecken als den Grund und die Zukunft der je eigenen Erfahrung des Glaubens. In diesen Ausführungen hat Karl Barth die strenge Relation von Wort und Erfahrung bei Luther aufgenommen, freilich in einer unerhörten Zuspitzung gegen Elemente des neuzeitlichen Erfahrungsbegriffs und alle Versuche einer theologischen Vermittlung von Erfahrung des Glaubens und allgemeiner Erfahrung in der Neuzeit. 4.2. Gegenüber Barths Bestimmungen erhebt sich von Anfang an und dann vor allem seit der Mitte der 50er Jahre deutlicher Widerspruch, gerade auch auf dem Feld der Erfahrungsthematik. Hier wird die Frage des Verhältnisses von Erfahrung des Glaubens und allgemeiner Erfahrung und die Frage nach der Bedeutung der Erfahrung im Prozeß des Zum-Glauben-Kommens und des Verstehens der Offenbarung neu aufgegriffen. Grob typisierend können hier folgende Richtungen skizziert werden. 4.2.1. Die Erfahrungsthematik wird im Zusammenhang der Frage nach der Vermittlung der Einsichten des Glaubens mit der Welterfahrung, der Anknüpfungsproblematik und der Bewährung von Glaubensaussagen aufgenommen. Die Beziehung zwischen religiöser Erfahrung und allgemeiner Erfahrung wird der Argumentationsstruktur bei Schleiermacher folgend so aufgezeigt, daß die religiöse Dimension aller Erfahrung und aller Wirklichkeitserkenntnis als implizit in aller Erfahrung vorausgesetzter und sie bestimmender Weltsicht entfaltet wird. In dieser Denkfigur argumentieren P. —»'Tillich (Erfahrung der Endlichkeit und —»Entfremdung als Grund der Frage nach Gott), W. —»Eiert und P. —»Althaus (Erfahrung in der menschlichen Situation als Situation unter dem Gericht und bei Althaus als Situation des schöpfungsgegebenen Beansprucht- und Gehaltenseins durch Gott), bei K. —»Rahner (die transzendentale Erfahrung als Grund und Einheit aller Erfahrung und als Anknüpfungspunkt für alle konkrete religiöse Erfahrung), bei G. Ebeling (Erfahrung der menschlichen Grundsituation und ihrer Angewiesenheit auf das Wort Gott und das Wort Gottes; vgl. Existenz; Gott u. Wort), bei W. Pannenberg (die Erfahrung der Offenheit der Geschichte und der Sinnthematik des Ganzen und die darin gelegene Nötigung zur Gottesfrage), bei E. Herms (die Transzendenzverwiesenheit aller Erfahrung). In solchen Überlegungen soll der Ort der religiösen Erfahrung und die Notwendigkeit der Gottesfrage aufgewiesen werden. Die Erfahrung des Glaubens als bestimmte christliche Erfahrung ist als sinngebende und le-

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benseröffnende Antwort und darin den Glauben zur Bewährung bringende Antwort im Kontext dieser Fragestellungen zu entfalten. 4.2.2. In der analytischen —»Religionsphilosophie wird vom sprachkritischen Standpunkt aus nach dem Ort und der Eigenständigkeit religiöser Erfahrung sowie nach der Möglichkeit, religiöse Erfahrung als Bewährungsinstanz von Glaubensaussagen zu erfassen, gefragt. In einer ersten Phase der Diskussion wird die religiöse Erfahrung von Buber und Brunner her als Begegnungserfahrung charakterisiert (H.H. Farmer; J. Baillie). In der zweiten Phase kommt es zu einer vertieften Charakterisierung der religiösen Erfahrung als „eigenständiges Sprachspiel". I.T. Ramsey kennzeichnet die religiöse Erfahrung als Widerfahrnis und als persönliche Erschließungserfahrung, in der eine neue Sicht der Wirklichkeit und des eigenen Selbst eröffnet wird. Die Interpretation solcher Erfahrung als Begegnung mit Gott ist von der Tradition angeleitet (models) und in dem Charakter der religiösen Erfahrung als personalem, unverfügbarem Widerfahrnis gegründet. J. Hick hebt besonders das notwendige Moment der Interpretation solcher Erfahrung hervor. W. Hordeern zeigt auf, inwiefern die christliche Glaubenserfahrung immer christologisch vermittelte und interpretierte Erfahrung ist. 4.2.3. Eine andere Ausrichtung auf den Erfahrungsbezug zielt auf die Funktion der Erfahrung im Prozeß des Zum-Glauben-Kommens. Glaube wird hier als unbedingte Betroffenheit entfaltet, die uns mitten in aller Erfahrung erfaßt, als erschreckendes und zugleich befreiendes Erlebnis, das unser Leben bestimmt. Solche Erfahrung des Glaubens begegnet uns mitten in der Welterfahrung, besonders aber in Grenzsituationen. Mitten in einer Zeit, in der Erfahrung Gottes heimatlos und ortslos zu werden scheint (Gott-ist-tot-Theologie), können wir entdecken, daß uns Gott unmittelbar begegnen will (Tillich [1,18 ff] und Solle in Aufnahme von Laing). 4.2.4. In Aufnahme und Fortführung der Einsichten von Luther und Barth, aber auch der neueren Diskussion seit Schleiermacher, versucht eine Reihe von Theologen den Zusammenhang von Offenbarung und Erfahrung näher zu bestimmen. Die Erfahrung des Glaubens wird als Erfahrung mit der Erfahrung näher charakterisiert (Ebeling, Klage 22; Jüngel 40). Die Verwiesenheit der Erfahrung des Glaubens auf die Offenbarung, die bestimmte Erfahrung erzählt und eröffnet (Schillebeeckx; Mieth; Jüngel, 40f.225 f.466.517f; Dalferth) und uns in die Erwartung neuer Erfahrung stellt (Sauter, Erwartung; Überlegungen), wird deutlich hervorgehoben. Zu solcher Erfahrung kommt es in bestimmten Situationen menschlicher Existenz und menschlichen Handelns, in denen die Offenbarung sprechend wird, die im Lichte der jüdisch-christlichen Tradition neu qualifiziert werden (Metz: Durch Erzählung und kritische Erinnerung der biblischen Tradition eröffnete Erfahrung in geschichtlicher Praxis, Peukert: Grundsituationen kommunikativen Handelns als Situationen der Glaubenserfahrung, Track: Gemeinsame interpretierte Praxis als Ort der Gotteserfahrung und ihrer Bewährung. 4.2.5. Wieder in andere Richtung geht die Hervorhebung des Erfahrungsbezugs im Blick auf die Vermittlung von Einsichten der Theologie und Einsichten der empirischen Wissenschaft im Rahmen der Frage nach dem Praxisbezug und der Praxisrelevanz der Theologie. Sowohl die Notwendigkeit solchen Bezugs auf die Erfahrungswissenschaften wie auch die Warnung vor einer unkritischen Verhältnisbestimmung werden hier laut. Gegenüber allen kurzschlüssigen bloßen Ergänzungsmodellen von Theologie und empirischen Wissenschaften oder Ersetzungsmodellen ist auf eine die jeweiligen theoretischen Ansätze und Voraussetzungen kritisch reflektierende Vermittlung abzuzielen (Sauter, Methodenstreit; Herms 62 ff). 4.3. Der Durchgang durch die Geschichte der Erfahrungsthematik in der neuzeitlichen Theologie bestätigt die eingangs vorgelegte These, daß die Spannungen im Erfahrungsbegriff in der Theologie wiederkehren und dort in spezifischer Form aufgrund der Unverfügbarkeit, der Glaubenserfahrung und ihrer Verwiesenheit auf das Wort gegeben sind. Von

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daher erfährt auch die notwendige Inbeziehungssetzung v o n Erfahrung des Glaubens und allgemeiner Erfahrung ihre Grenze. Z w a r kann die Unumgänglichkeit der in der Erfahrung des Glaubens angesprochenen Grundfragen aufgewiesen werden, aber die Notwendigkeit einer religiösen oder christlichen Beantwortung kann nicht erwiesen werden. Erfahrung als Begründungsinstanz von Theologie im Außen- und Innenverhältnis kann nur als ein M o ment zur Geltung gebracht werden. Sie ist jedoch kein selbständiges Kriterium, sondern M o m e n t des Glaubens, das in seiner Interpretation auch je offen und auf das Wort der Verheißung angewiesen ist. Leistet so der Erfahrungsbezug in der Theologie vielfach nicht, w a s v o n ihm gefordert wird, so ist doch die N ö t i g u n g zum Erfahrungsbezug unübersehbar. Das Wort der Offenbarung will zur lebendigen Erfahrung k o m m e n , in ihr ausgelegt und bewährt sein. 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Joachim Track IV. Systematisch-theologisch 1. Thomas von Aquino 2. MartinLuther 3. Der neuzeitliche Erfahrungsbegriff in der Systematischen Theologie 4 . Der Erfahrungsbegriff in der katholischen Theologie (Literatur S. 135)

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Von Erfahrung redet die christliche Theologie im Zusammenhang ihrer Lehre vom Offenbarsein des Gnadenstandes in der Selbstwahrnehmung des einzelnen Menschen. Insofern bringt die Theologie unter dem Titel » Erfahrung« notwendig die Selbsterfahrung des Glaubenden in seiner persönlichen Verfassung während eines bestimmten Stadiums seines Lebens in der Welt, Gesellschaft und Kirche zur Sprache. Die reformatorische Theologie hat diesem Teil der Gnadenlehre eine solche Fassung gegeben, daß mit dem Begriff der Erfahrung zugleich mit der Selbstwahrnehmung des Glaubenden die Wahrnehmung der Wirklichkeit von Offenbarung und mit dieser der Verfassung der geschöpflichen Welt als solcher in den Blick kommt. Für die reformatorische Theologie und für die diese Wendung nicht mitvollziehende römische Theologie bestehen daher unterschiedliche Möglichkeiten für die Verwendung und Aneignung des neuzeitlichen Erfahrungsbegriffs 1. —*Thomas von Aquirto Für Thomas (zum folgenden vgl. S.th. II/I, q. 112, a.5) ist das Offenbarsein des Gnadenstandes in der Selbstwahrnehmung des Menschen nur eine unter den drei überhaupt möglichen Weisen solchen Offenbarseins. Außer in der Selbstwahrnehmung des Glaubenden könnte es bestehen: in der Offenbarung seines Gnadenstandes an ihn oder in beweisbarem Wissen über seiner Gnadenstand aus Prinzipien. Auf diese zuletzt genannte Weise wäre dem einzelnen sein Gnadenstand certitudinaliter offenbar. Sie ist aber de facto ausgeschlossen, weil der Gnadenstand aus Gott, dem Prinzip derGnade,bewiesen werden müßte, a b e r - wegen der excellentia Gottes - nicht kann. Das Offenbarsein seines Gnadenstandes für den einzelnen kraft spezieller Offenbarung an ihn bringt zwar securitas mit sich, geschieht aber nur in seltenen Ausnahmefällen (Beispiel: Paulus, entsprechend der Zusage II Kor 12,9). Regelmäßig anzutreffen ist nur das — allerdings imperfekte, bloß konjekturale — Offenbarsein des Gnadenstandes des einzelnen aufgrund eines Rückschlusses von den Anzeichen (signa) der Gnade auf diese selbst: in quantum scilicet pereipit se delectari in Deo et contemnere res mundanas; et in quantum homo non est conscius sibi alieuius peccati mortalis; den Grund für die Möglichkeit eines solchen Rückschlusses nennt Apk 2,17: Vincenti dabo manna absconditum, quodnemo novit nisi aeeipit: quia scilicet ille qui aeeipit, per quandam experientiam dulcedinis novit, quam non experitur ille qui non aeeipit. — Praktisch bedeutsam wird diese Theorie für den Vollzug des Bußsakramentes (—>Buße): Aus dem eigenen Handeln des Menschen auf dem Boden dergratia gratis data (in der Taufe oder dem Bußsakrament) resultiert in ihm derjenige Habitus übernatürlicher Tugenden — anfangend mit dem Glauben und sich vollendend in der vollkommenen Liebe zu Gott und dem Nächsten —, der den natürlichen Tugenden ihre schöpfungsmäßige Kraft zurückerstattet und dem Menschen so die Möglichkeit eröffnet, durch ein Leben im Einsatz aller seiner Kräfte in den Zustand der gratia gratum faciens zu gelangen, in dem er würdig ist, Vergebung der Sünden und ewiges Leben zu empfangen. Jener aus dem Vollzug der Buße resultierende innere Zustand vollkommener Liebe zu Gott und den Menschen ist es, dessen Dasein pereipi potest. Wird nicht er, sondern eine andere innere Verfassung wahrgenommen, so ist dies Anlaß zur Buße, als deren Resultat jene Vollkommenheit zu erwarten ist. Die Enttäuschung dieser Erwartung ist Grund einer Intensivierung der Bußpraxis oder in hartnäckigen Fällen anfechtender Angst um das eigene Seelenheil. 2. M. —*Luther Die innere Entwicklung Luthers und seine aus ihr resultierende theologische Grundposition hat sich unter Anleitung dieses im Rahmen der Bußpraxis wirksamen Begriffs von Erfahrung als Offenbarsein des eigenen Gnadenstandes in der Selbstwahrnehmung ergeben: Zunächst hat ihn Erfahrung — das der Selbstwahrnehmung offenbare Fehlen vollkommener Liebe zu Gott und den Menschen zugleich mit dem Innewerden der Nähe des Todes— zum Eintritt ins Kloster veranlaßt. — Hier hat ihn dann wiederum Erfahrung — die in der Selbstwahrnehmung offenbare Unvollkommenheit seiner inneren Verfassung auch nach der bis zur Erschöpfung betriebenen Buße — zum verzweifelten Rückschluß auf sein Verworfen-

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sein veranlaßt. - Aus dieser Situation hat ihn erst eine spezifische Veränderung seiner Auffassung über das Offenbarsein des eigenen Gnadenstandes in der Selbstwahrnehmung—also des Begriffs von Erfahrung der Wirkungen des Geistes - befreit, die sich in zwei Schritten vollzog: 2.1. Von Johannes v. —»Staupitz wurde die Einsicht angeregt, daß die als Zeichen der gratia gratum faciens wahrnehmbare transmutatio mentis et affectus nicht als Resultat der Buße an deren Ende steht, sondern als deren Prinzip an ihrem Anfang (WA.B 1,525 f). 2.2. Die von Luther klar in den Blick gefaßten und akzeptierten Konsequenzen dieser Umstellung sind die folgenden: a) Die nicht am Ende, sondern am Beginn der Buße stehende entscheidende transmutatio mentis et affectus bleibt zwar wahrnehmbar, kann aber — eben wegen ihres Anfangscharakters - der Sache nach nicht mehr als die erst aus der Lebenspraxis der Buße resultierende Vollkommenheit habitueller Liebe gegen Gott und die Menschen gedacht werden. — b) Vielmehr muß es sich um eine solche transmutatio mentis et affectus handeln, die einerseits noch das wahrnehmbare Vorhandensein negativer Regungen zuläßt, aber andererseits gleichzeitig und unbeschadet dieser verbleibenden Ambivalenz doch als wirkliche, und zwar entschieden heilsame Veränderung wahrnehmbar sein muß. Diese zweite Bedingung kann zugleich mit der ersten nur so erfüllt werden, daß die in Frage stehende transmutatio mentis et affectus gedacht wird als Befähigung des Menschen, die erkannte und anerkannte Ambivalenz des eigenen Zustandes unverstellt zu ertragen und sich auf einen lebenslangen Bußweg einzulassen ohne Irritation durch die Frage, ob und wie weit es dieser Lebensbuße wirklich gelingen wird, an die Stelle der Regungen der Konkupiszenz, Verzagtheit oder Trauer eitel Liebe und Freude treten zu lassen. - c) Diese die lebenslange Buße begründende wahrnehmbar wirkliche transmutatio des inneren Menschen hat Luther dann als die Wirksamkeit des—»Wortes Gottes bestimmt: Dem sich an das in der Kirche begegnende äußere Wort haltenden Menschen erschließt der Geist Gottes wann und wo er will das Verständnis des biblischen Zeugnisses von der die Sünde verurteilenden und den Sünder annehmenden Gnade Gottes in Jesus Christus und zugleich das Bewußtsein des Wahrseins dieses Zeugnisses (also: Gewißheit; vgl. WA 7, 96ff; 10/2,90). Diese Veränderung in der Auffassung über das für die Selbstwahrnehmung offenbare Stehen in der Gnade spiegelt sich präzise in Luthers Verwendung des Ausdrucks „Erfahrung" und seiner Äquivalente: Einerseits finden sich eine Fülle von negativen Verwendungen des Wortes (Belege bei Brunner 191.259 u.ö.). Sie alle drücken die Einsicht aus, daß an den - sich aus dem Verlauf des menschlichen Lebens, Handelns und Behandeltwerdens ergebenden - wahrnehmbaren Gemengelagen positiver und negativer Affekte der Gnadenstand des einzelnen nicht ablesbar ist. Andererseits finden sich ebenso viele Fälle von positiven Bezugnahmen auf Erfahrung (vgl. Müller 4). Sie alle sprechen die Wahrnehmung derjenigen realen Veränderung an, an der das Stehen des Menschen in der Gnade Gottes tatsächlich offenbar ist: Nämlich das den Menschen prägende, ermutigende und kräftigende Verstehen seiner eigenen noch von Sünde gekennzeichneten irdischen („fleischlichen") Lebenssituation im Lichte der verstandenen und als wahr gewußten biblischen Botschaft von Gottes Gnade in Jesus Christus, an der ausschließlich der Glaube Anteil gewinnt. Die an diesem sehr speziellen Punkt entspringende Neufassung des Begriffs der Erfahrung des Geistes hat nun deshalb fundamentaltheologische Bedeutung, weil er eine solche Neufassung des Offenbarungsbegriffs einschließt, die ihrerseits ein neues Verständnis von der Verfassung der geschöpflichen Wirklichkeit als solcher einschließt: a) Luther baut die traditionelle Lehre vom Offenbarsein des Gnadenstandes in der Selbstwahrnehmung des Glaubenden, also den dritten Weg des Thomas, so um, daß er dem ersten Weg - dem Offenbarsein des Gnadenstandes durch Offenbarung — seine Selbständigkeit nimmt: Das für die Selbstwahmehmung zugängliche Offenbarsein des Gnadenstandes besteht nicht mehr in einem eindeutig positiv qualifizierten Seelenzustand als Signum der Gnade, das den Rückschluß auf diese selber ermöglicht, sondern in der das Leben des einzelnen treffenden und prägenden Offenbarung der Gnade Gottes in seinem Wort selber. Das Betroffensein durch

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die Selbstoffenbarung Gottes in seinem Wort wird damit aus einem Privileg weniger zur Existenzbasis aller Glaubenden. Das vom Menschen als ein bestimmtes Geschehen in der Welt erinnerbare Geisthandeln Gottes, durch das er sich selbst in Jesus Christus offenbart, wird zu dem die Gegenwart der Welt des Menschen — und damit seine Erinnerung—aus den Banden der Sünde befreienden und sie damit verwandelnden Selbsterweis des Schöpfers in seinem Wort. Das Geisthandeln Gottes durch das äußere Wort trifft die Lebensgegenwart so, daß es sie in das Handeln des dreieinigen Gottes selber einbezieht, das als solches Selbstoffenbarung des Schöpfers unter dem Gegenteil ist.—b) Daß Gottes Geisthandeln als Selbsterweis des Schöpfers die Gegenwart von Welt überhaupt qualifiziert, heißt aber, daß auch das diese Gegenwart sein-lassende Schöpferhandeln selber als Offenbarungshandeln zu verstehen ist. Das Geschehen des Wortes Gottes kann nur so Gegenwart sein, daß Gegenwart— und d. h.: die geschöpfliche Existenz schlechthin - sich darin als geschehendes Schöpferwort enthüllt. So schließt Luthers Verständnis von Offenbarung als Gegenwart des Wirkens Gottes einen Begriff von gegenwärtiger Wirklichkeit, also eine Ontologie ein, welche diese gegenwärtige Wirklichkeit nicht mehr unter der Kategorie der Substanz, sondern eben der des Schöpferwortes zu denken verlangt. Dieser Konsequenz hat Luther in der sein wissenschaftliches Lebenswerk krönenden Genesisauslegung Ausdruck verschafft. Diese unterschiedlichen Fassungen dfcs theologischen Begriffs von Erfahrung des Geistes eröffnen unterschiedliche Spielräume für die Verwendung und Aneignung des neuzeitlichen Begriffs von Erfahrung, der diese formal als die in der Erinnerung des unmittelbaren Selbstbewußtseins fundierte Gegebenheit von Gegenständen möglichen Wissens überhaupt und inhaltlich als erinnerte - und so gegenwärtige - Praxis bestimmt. 3. Der neuzeitliche Erfahrungsbegriff in der Systematischen Theologie 3.1. Die reformatorische Fassung des Begriffs von Erfahrung des Geistes erlaubt es, sowohl zur Explikation des Inhalts solcher Erfahrung — des Bewußtseins vom Wahrsein des biblischen Christuszeugnisses, des Konstituiertseins dieses Wahrheitsbewußtseins durch das schöpferische Wirken Gottes des Heiligen Geistes und der ontologischen Implikationen dieses Offenbarungsverständnisses — als auch zur Explikation der Form jener Erfahrung als Selbstwahrnehmung des Glaubenden den neuzeitlichen Erfahrungsbegriff uneingeschränkt zu verwenden. Die Verwendung des Begriffes ist dabei als solche genauso problematisch und legitim zugleich wie die Verwendung des antiken Substanzbegriffes für die Artikulation des altkirchlichen Dogmas und seine scholastische Entfaltung. Dieses für die Probleme der theologischen Rezeption des neuzeitlichen Erfahrungsbegriffs ganz unspezifische Problem des Verhältnisses von Glaube und Denken, das als Denken nur im allgemeinen Begriffs- und Sprachmedium einer Zeit existieren kann, bleibt deshalb hier im Hintergrund. 3.1.1. Explikation der Gewißheit des Glaubens durch den neuzeitlichen Erfahrungsbegriff. Die neuzeitliche Philosophie denkt Erfahrung insofern als Gegebenheitsweise von Gegenständen möglicher Gewißheit, als sie sich im Medium des unmittelbaren Selbstbewußtseins vollzieht. In diesem als dem Unmittelbaren-Erschlossensein - von - Individuellem - f ü r sich - selber - als - durch - sich - selber - bestimmbarem - und - bestimmten ist jeweils ein dreifaches Erscheinen in Gleichursprünglichkeit enthalten: a) das Erscheinen (evident Gegebensein) von individueller (und als solcher ipso facto welthafter: nämlich umweltbezogener) Realität für sich selber als kraft solchen Erscheinens durch sich selbst bestimmbarer (gestaltbarer und deutbarer) und immer schon bestimmter (gestalteter und gedeuteter); b) das Erscheinen (evident Gegebensein) von Bestimmungsakten, durch die das Individuum selber die ihm unter den verschiedenen Aspekten ihres Erscheinens bestimmbar erscheinende Welt hinsichtlich je eines dieser möglichen Aspekte — als besondere Einzelerscheinung, als Element einer Klasse gleichartiger Erscheinungen oder als Erscheinung schlechthin — bestimmt hat; c) das Erscheinen der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen dem als bestimmbar Erscheinenden und dem auf es gerichteten Bestimmungsakt. Gewißheit, Wahrheitsbewußtsein, heißt in diesem Rahmen: Bestimmtsein eines Individuums durch die Evi-

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denz der Übereinstimmung der evidenten Bedeutung (Designat) eines eigenen oder fremden, aber verstehend angeeigneten Bestimmungsaktes mit der von ihm intendierten (denotierten) evidenten welthaften Realität des Selbst. Oder: Im Rahmen des Erfahrungsbegriffs der neuzeitlichen Philosophie können genau und nur die Inhalte als wahr gewußt werden, die der Wissende „mit der Gewißheit seiner selbst in Einigkeit und vereinigt finde(t)" (Hegel, Enzykl. § 7). Für das Bewußtsein von der Wahrheit des biblischen Christuszeugnisses heißt das: Es besteht im Bestimmtsein eines Individuums durch die Evidenz der Übereinstimmung des ihm selber evidenten Gehaltes des biblischen Christuszeugnisses mit seiner eigenen ihm selber evidenten Lebenswirklichkeit. Das aber ist genau diejenige Struktur von Gewißheit, die Luther dem Glauben ermöglichenden Wahrheitsbewußtsein zugesprochen hatte: Einleuchten des hinsichtlich seines Gehaltes (Sinnes) verstandenen Christuszeugnisses der Schrift als wahre - d. h. mit ihr selber übereinstimmende — Beschreibung der geschöpflichen Gegenwart von Welt. 3.1.2. Explikation des Offenbarungscharakters des Glauben ermöglichenden Wahrheitsbewußtseins. Das Bewußtsein von der Wahrheit des biblischen Christuszeugnisses und des in ihm implizierten Zeugnisses vom Menschen als Geschöpf, das seine Freiheit zur Sünde mißbraucht hat, und Gott als dem seine sich gegen ihn auflehnende Schöpfung begnadigenden, die Sünde richtenden und den Sünder annehmenden Schöpfer, schließt ein, daß diese Offenbarung der göttlichen Gnade selbst ihr Vollzug, das Glauben ermöglichende Bewußtsein von der Wahrheit der Gnadenbotschaft (des Evangeliums) also nicht Werk des Menschen, sondern Werk Gottes selber ist. Die damit in den Blick tretende schlechthinige Passivität der Konstitution des Wahrheitsbewußtseins ist deshalb im Rahmen des Erfahrungsbegriffs des neuzeitlichen Denkens aussagbar, weil für ihn die schlechthinige — also nicht auf Welt, sondern ihren Grund bezogene—Passivität der Konstitution des unmittelbaren Selbstbewußtseins und aller seiner Bestimmungen wesentlich ist. (Hier konvergieren Schleiermachers Bestimmung des Wahrheitsbewußtseins als „Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins", also als Frömmigkeit, und Hegels Bestimmung von Wahrheit als gefundener Übereinstimmung einer erscheinenden Gestalt des Bewußtseins mit ihrem ursprünglichen Erscheinen selber. Über diese Konvergenz täuscht Hegels Polemik gegen Schleiermacher zu Unrecht hinweg.) Die Inanspruchnahme des Erfahrungsbegriffs zur Explikation der geistlichen Konstitution des Glauben ermöglichenden Bewußtseins von der Wahrheit des Evangeliums —etwa in der Formel: „Erfahrung mit Erfahrung" (vgl. o. Abschn. III/2) — ist also theologisch legitim und präzise, sofern sie sich am komplexen Gehalt des in der neuzeitlichen Philosophie entwickelten Begriffs von Erfahrung als Gegebenheitsweise aller Gegenstände möglicher Gewißheit im Medium des unmittelbaren Selbstbewußtseins bewegt. Sie definiert das Geschehen von Offenbarung an den Ort gegenwärtiger Erinnerung einer den Offenbarungsempfänger — und d.h. jeden Glaubenden — selbst einschließenden kommunikativen (nicht nur symbolisierenden, deutenden, sondern ebenso organisierenden, gestaltenden) Praxis. Damit ist auch der Rahmen abgesteckt, in dem für die Konstitution des christlichen Glaubens ,/eligiöse Erfahrung" in Anspruch genommen werden kann: Nicht im Sinne einer besonderen Art von Erfahrung jenseits des einheitlichen Konstitutionsgeschehens, das der neuzeitliche Erfahrungsbegriff zu denken gibt; auch nicht im Sinne einer kontextlosen Erschließung unbekannter und „tieferer" Wirklichkeits- und Persönlichkeitsschichten für eine Person (William James). In Betracht kommt vielmehr nur das - allerdings stets das Ganze der Selbsterfahrung einer Person einschließende, ihre Selbsterkenntnis verändernde und vertiefende - Erschließungsgeschehen des Sinnes und der Wahrheit von Symbolen der christlichen Überlieferung im Zusammenhang von informeller und formeller (institutionalisierter) Interaktion. Dieses Evidenzgeschehen vollzieht sich stets als Spezifikation der allgemeinen religiös-weltanschaulichen Dimension, die jeder personalen Interaktion als solcher eignet. Insofern erschließt, verändert und vertieft es auch stets die Einsicht in die Bedeutung anderer Gestalten des religiösen Wahrheitsbewußtseins als der eigenen.

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3.1.3. Explikation der ontologischen Implikationen des reformatorischen Offenbarungsbegriffs durch den neuzeitlichen Erfahrungsbegriff. Auch die in Luthers Begriff von Offenbarung als Existenzgrund der Gegenwart des (Glauben ermöglichenden) Wahrheitsbewußtseins beschlossene Erfassung der erscheinenden Gegenwart selber als Selbstwort des Schöpfers ist insofern durch den Erfahrungsbegriff der neuzeitlichen Philosophie aussagbar, als dieser das Erscheinen, Erschlossensein von welthaft Seiendem nicht in irgendeinem derart Seienden (wie etwa der materialistische Sensualismus), sondern in seinem von allem Erscheinenden unterschiedenen Grund gegründet sieht. Die ontologischen und kosmologischen Entwürfe von —»Berkeley, —»Schleiermacher, —»Hegel, Peirce (s. TRE 9,237ff), —>Royce können sämtlich als — jeweils auf ihre Sachgemäßheit hin kritisch zu überprüfende — Versuche einer begrifflichen Explikation des reformatorischen Verständnisses von Welt als Selbstwort ihres Schöpfers gelesen werden. Ein Kriterium ihrer Sachgemäßheit ist dabei, ob und wie sie die als auf ihren schöpferischen Grund verweisende weltweite Wirklichkeit als Praxissituation fallibler endlicher Freiheit denken oder zu denken erlauben. 3.2. Erfahrung des Geistes im reformatorischen Sinne ist auch hinsichtlich ihrer Form als Selbstwahrnehmung der transmutatio mentis et affectus, in der die Gegenwart des Glauben ermöglichenden Wahrheitsbewußtseins besteht, durch den neuzeitlichen Erfahrungsbegriff auslegbar. Dieser ist als Begriff der Gegebenheitsweise aller Gegenstände möglicher Gewißheit ein Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins als Grund der Möglichkeit und Notwendigkeit von gegenständlichem Selbstbewußtsein. Im Rahmen seiner komplexen Bedeutung ist also die Selbstwahrnehmung des eine Person bestimmenden Wahrheitsbewußtseins durch diese Person selber in einem doppelten Sinne denkbar: Als unmittelbare und vermittelte. Erstere fällt mit dem Wahrheitsbewußtsein selber direkt zusammen. Letztere wird überall dort vollzogen, wo jene Unmittelbarkeit des Glauben ermöglichenden Wahrheitsbewußtseins selber Gegenstand einer reflektierenden Besinnung wird: Zunächst in der Selbstbesinnung des einzelnen Glaubenden, dann aber auch in allen Formen der theologischen Theoriebildung. Diese vermittelte, reflektierende Weise der Wahrnehmung des unmittelbaren Wahrheitsbewußtseins ist dabei diesem gegenüber nicht akzidentell, sondern ist als durch es selbst ermöglichte auch durch es verbindlich gemacht. Erst die vermittelte, reflektierende, darin aber auch vergegenständlichende Selbstwahrnehmung des Glaubens entspricht dem Werk des Geistes als geschöpflicher Realität. Verweigerung der vergegenständlichenden Selbstwahrnehmung des Glaubens ist Verweigerung der Übernahme seiner welthaften, fleischlichen, leibhaften Existenz. Wo diese Verweigerung aufgegeben, das geistliche Geschehen des Wortes und der sich auf es richtende Glaube also als in die Welt gesetztes und insofern in ihr Seiendes anerkannt werden, muß dann auch die Wirklichkeit des Glaubens in all den Hinsichten theoretisch bearbeitet werden, in denen in der Welt Seiendes überhaupt theoretisch erfaßt werden muß: Also auch als ein bestimmten Regelmäßigkeiten unterliegender Bereich von Einzelphänomenen. Der Inhalt des christlichen Wahrheitsbewußtseins definiert es - und zwar als den ausgezeichneten Fall von Selbstbewußtsein — in die im Medium des unmittelbaren Selbstbewußtseins erkennbar gegenwärtige Welt hinein. 4. Der Erfahrungsbegriff

der katholischen

Theologie

Die Explikation des reformatorischen Begriffs von Erfahrung des Geistes durch den Erfahrungsbegriff der neuzeitlichen Philosophie ist deshalb so weitgehend möglich, weil dieser reformatorische Begriff eine Weise der Selbstwahrnehmung denkt, die sich nicht auf eine spezifisch qualifizierte Fassung des menschlichen Trieb- und Willenslebens, sondern grundlegender auf das Glauben ermöglichende Wahrheitsbewußtsein richtet, dessen Konstitution es mit dem Offenbarungsgeschehen selber identifiziert. Diese Identifikation des Begriffs von Offenbarung mit dem Begriff der Konstitution des Glauben ermöglichenden Wahrheitsbewußtseins schlechthin ermöglicht es der reformatorischen Theologie, sich diejenige formale Pointe des Erfahrungsbegriffs der neuzeitlichen Theologie zu eigen zu machen, die darin besteht, eine Theorie der Gegebenheitsweise aller Gegenstände möglicher Gewißheit zu lie-

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fern. Aus diesem einheitlichen Geschehen der Konstitution menschlichen Wahrheitsbewußtseins nimmt reformatorische Theologie das Geschehen von Offenbarung nicht aus, begreift vielmehr dieses als den Grund von jenem, das deshalb auch an ihm — also dem Wahrheitsbewußtsein der Glaubenden—sein Kriterium hat. Weil das Offenbarungsgeschehen das den Christusglauben ermöglichende Wahrheitsbewußtsein konstituiert, kommt als Inhalt von Offenbarung nur in Betracht, was Inhalt dieses Wahrheitsbewußtseins ist. Gegenüber dieser Konsequenz der reformatorischen Fassung des Begriffs von Erfahrung des Geistes hat die katholische Theologie in den einschlägigen Aussagen des —»Tridentinum, des —* Vatikanum I und II ausdrücklich die Unabhängigkeit von Offenbarung, ihres Geschehens und ihres Inhaltes, von dem Wahrheitsbewußtsein der Glaubenden fixiert. Deshalb muß sie der im neuzeitlichen Erfahrungsbegriff implizierten Idee einer einheitlichen Gegebenheitsweise aller Gegenstände möglicher Gewißheit ablehnend gegenüberstehen. Sie besitzt drei Grundmöglichkeiten der Bezugnahme auf Erfahrung: 4.1. Sie kann in fundamentaler Treue zu Thomas versuchen, den theologisch legitimen Begriff von Erfahrung auf den Bereich des dritten Weges der Gnadenerkenntnis, also auf Erfahrung des Geistes im Sinne einer Wahrnehmung seiner Zeichen in der Affekt- und Willenssphäre zu konzentrieren. Die darüber hinausgehenden Intentionen und Ansprüche des neuzeitlichen Erfahrungsbegriffs — das Vereinigtsein mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein als Kriterium jedes Wahrheitsanspruchs sowie die durch das unmittelbare Selbstbewußtsein selber verbindlich gemachte Vergegenständlichung des unmittelbaren im gegenständlichen Selbstbewußtsein — werden als illegitim zurückgewiesen (vgl. Scheffczyk). 4.2. Man kann versuchen, den neuzeitlichen Erfahrungsbegriff jedenfalls als Begriff der Gegebenheitsweise aller Gegenstände möglicher Gewißheit der natürlichen Einsicht in Abhebung von der durch Offenbarung geschenkten und deshalb zwar nicht für jedermann einsichtigen, aber von jedermann willentlich akzeptierbaren und verehrbaren übernatürlichen Einsicht anzuerkennen. Im Rahmen einer solchen Konzeption kann einerseits mit Nachdruck unterstrichen werden, daß die Lebendigkeit des Gottesglaubens durch ein bewußtes Erfassen der Konkordanz von natürlicher und übernatürlicher Einsicht gewinnt, und zugleich andererseits die Unabhängigkeit der Offenbarungswahrheit vom Wahrheitsbewußtsein der Gläubigen festgehalten werden. Es kann sogar der Versuch unternommen werden, umgekehrt das Angesprochensein des Menschen durch die Offenbarungswahrheit zur Möglichkeitsbedingung aller Welterfahrung zu erklären (K. —»Rahner, Walter Kasper). Aber die dabei stets zugrundeliegende Annahme der Unabhängigkeit der Offenbarungswahrheit vom Wahrheitsbewußtsein der Glaubenden verbleibt in einem kontradiktorischen Widerspruch zu dem Anspruch des neuzeitlichen Erfahrungsbegriff, die einheitliche Gegebenheitsweise aller Gegenstände möglicher Gewißheit zu erfassen. 4.3. Es scheint deshalb die bei weitem konsequenteste und effektivste Weise der Bezugnahme auf Erfahrung in der katholischen Theologie zu sein, daß man die Komplexität des neuzeitlichen Erfahrungsbegriffs, wie sie sich in der umgangssprachlichen Vieldeutigkeit des Ausdrucks „Erfahrung" niederschlägt, zum Anlaß der programmatischen Bestreitug der Einheitlichkeit des Begriffs zu nehmen (z.B. Mieth). Damit wird genau derjenige Zug des neuzeitlichen Erfahrungsbegriffs aus dem Blick gerückt, der dem Grunddogma des römischen Kirchentums als solchem — von der Unabhängigkeit der Offenbarungswahrheit gegenüber dem Wahrheitsbewußtsein der Gläubigen - widerspricht, und eine sehr flüssige Verwendung umgangssprachlicher Gebrauchsweisen von „Erfahrung" in theologischen Texten ermöglicht. Ob diese Erleichterung von Dauer ist oder ob die im neuzeitlichen Erfahrungsbegriff beschriebene — und mit dem reformatorischen Begriff von Offenbarung konkordierende — Einheitlichkeit der Gegebenheitsweise aller Gegenstände möglicher Gewißheit, also die wirkliche Einheit der erkennbaren Welt und des sie erkennenden Bewußtseins nicht jenes Dogma immer wieder falsifizieren wird, bleibt abzuwarten.

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Eilert Herms

V. Religionspädagogisch 1. Vorstufen der Diskussion über Erfahrung 2. Präzisierungen des Erfahrungsbegriffs rung als religionspädagogisches Lernziel (Literatur S. 139)

1. Vorstufen der Diskussion über

3. Erfah-

Erfahrung

In der religionspädagogischen Diskussion (-»Religionspädagogik) standen bis 1967 überwiegend Fragen der Textauslegung im Vordergrund, damit auch die Frage nach dem Verhältnis von Verkündigung und Unterricht, von Glaubenserfahrung und Welterfahrung

Erfahrung V

137

usw. Schon dabei wurde erkannt, daß die undistanzierte und „unreflektierte Erfahrung" als „Weise kindlicher Weltbegegnung" zur methodisch durchdachten Reflexion gebracht werden muß (Otto 35). Die „originale Begegnung" (H. Roth) wurde als methodisches Prinzip begriffen: Durch Verobjektivierung (Distanzierung) soll eine reflektierte Welterfahrung ermöglicht werden, die eine neue Nähe und Begegnung beinhaltet. Das positivistische Mißverständnis von Erfahrung als Rückgang zur „Sache selbst" wird ausdrücklich benannt (Otto 85). Dieser integrale Erfahrungsbegriff sieht letztlich Welt- und Selbsterfahrung in einer ursprünglichen und letztgültigen Einheit. Die Hinwendung zu unterrichtsmethodischen Fragen warf neue didaktische Probleme auf: Bewertung von Erfahrungen außerhalb von Traditionen christlichen Glaubens usw. Die „Erfahrungswelt der Schüler" wird zum Ansatzpunkt religionspädagogischer Erörterungen über die alte Frage nach dem Verhältnis von Glaubenserfahrung und Welterfahrung. Die Auseinandersetzung über den bibelorientierten und problemorientierten —•Religionsunterricht spiegelt diese Frage: Der Rückgriff der bibelorientierten Konzeption auf die „Erfahrungswelt der Schüler" hilft, biblische Überlieferung zu verstehen und bietet Anwendungsmöglichkeiten für Glaubensentscheidungen. Die Grundlage des Religionsunterrichts besteht aber „in der die Geschichte Israels und der Kirche bestimmenden Erfahrung des Angeredetseins durch Gott" (Baldermann 205). Das Konzept des problemorientierten Religionsunterrichts bemüht sich ebenso um den „Wirklichkeitsbezug der Theologie", gibt jedoch der Erfahrungswelt einen anderen Stellenwert: Sie ist Fragepotential hinsichtlich des christlichen Glaubens (Kaufmann, M u ß die Bibel 26), in ihrer Tiefe Ausdruck der religiösen Frage nach letztem Sinn (Vierzig 1 2 - 1 6 ) , als Lebenserfahrung Kontext (im dialogischen Sinn) zur Glaubenserfahrung (Nipkow, Religionsunterricht 265 ff) usw. Die Scheu vor „natürlicher Theologie" artikuliert sich in den meisten Ansätzen, wenn auch die religionspädagogische Diskussion über den Religionsbegriff manche starren Fronten auflöste. Dabei stand jedoch der Erfahrungsbegriff kaum im Vordergrund des Interesses. Erfahrungen sollen im Unterricht reflexiv aufgearbeitet werden (Vierzig), aber ihre Ermöglichung und Konsolidierung wurden nicht direkt zum Unterrichtsziel erklärt. „Vorwissenschaftliche Erfahrungen" (Nipkow, Grundfragen I, 98) galten fast nur als Anknüpfungspunkt, als Voraussetzung für Erkenntnis. Daneben fungierte Erfahrung in der Forderung nach Realitätskontrolle des Religionsunterrichts als methodisches Instrumentarium (Wegenast, Wendung), wobei allerdings die dialektische Zuordnung von Empirie und —•Hermeneutik nicht genügend artikuliert wurde (vgl. dazu Zilleßen, Religionsunterricht 499). Erst die Debatte über—»Emanzipation als Ziel des Religionsunterrichts hat dazu geführt, daß seit etwa 1973 der Begriff der Erfahrung in den Vordergrund gerückt wurde und Erfahrungsorientierung als eine neue religionspädagogische Zielkategorie ins Gespräch kam (Eggers, Religionsunterricht u. Erfahrung; Esser, Erschließung; Biehl/Kaufmann; 164ff; Feifei 89; Zilleßen, a.a.O.). 2. Präzisierungen des

Erfahrungsbegriffs

Die Kritik am pädagogischen und religionspädagogischen Emanzipationsbegriff hat Erfahrung gegen Emanzipation gesetzt, um sich gegen technokratische, rationalistische, egozentrische und kollektivistische Tendenzen zu wehren (s. TRE 9 , 5 4 8 f): Erfahrung ist Ausdruck des Vernehmens von Sinn, ermöglicht Ehrfurcht vor dem tragenden Grund aller geschichtlichen Erfahrung (Cillien 132) und bestimmt die Liebe zur Beziehungskategorie im Hinblick auf Dinge, Menschen und Wahrheit (G. Kittel). So sehr hier im einzelnen Gegenkritik erforderlich ist (Schröer: EvErz 25 [ 1973]; Kaufmann: EvErz 26 [ 1974]; Zilleßen, Abschied 57ff), es ist doch erkennbar, daß die weitere Erörterung sowohl zu Präzisierungen des Emanzipationsbegriffs wie des Erfahrungsbegriffs geführt hat (Biehl/Kaufmann 161 ff). Der Rückgriff auf den integralen Erfahrungsbegriff bringt in der Folgezeit wesentliche Begriffselemente von Erfahrung zum Vorschein: Das reduktionistische Verständnis von Erfahrung wurde stärker kritisiert (Eggers, a. a. 0 . 1 3 2 ; vgl. auch Stoodt 150), Erfahrung wird von Erlebnis unterschieden (Feifei 93; Stoodt 150), ist zugleich „Widerspiegelung und Entwurf" (Zilleßen, Glaube 181), ein „Modell, Wirklichkeit zu verstehen" (Feifei 88). Stufen von Er-

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Erfahrung V

fahrung werden „nach Dimensionen von unterschiedlicher Erfahrungsqualität" unterschieden (Eggers, a . a . O . 157). Erfahrung enthält stets ein Moment der „Anerkenntnis" von Wirklichkeit in ihrer Eigenständigkeit, obwohl die geschichtlich-gesellschaftliche Dimension die „Ambivalenz der Erfahrung" bedingt (Feifei). Erfahrung ist geprägt von der selektiven Tätigkeit des Subjekts aus Vorverständnis und Interpretation (Göpfert). Sie widerspricht einer Wirklichkeitsauffassung nach dem Subjekt-Objekt-Schema und kann in der Erfahrung des anderen als anderer oder anderes gerade zu personaler Betroffenheit führen (vgl. schon Halbfas, Fundamentalkatechetik), auch wenn bei aller Fremderfahrung eine prinzipielle Zweifelhaftigkeit bestehen bleibt (vgl. Schütz). In keinem Fall ist Erfahrung unkritische Wahrheitserkenntnis, da sie stets auch entfremdete und verkümmerte Erfahrung ist (Zilleßen: EvErz 27 [1975] 255 mit Bezug auf R.D. Laing). Die gesellschaftliche Basis aller Erfahrung ist in ihrer normativen Bestimmtheit ausgedrückt (Feifei; Stoodt; Zilleßen, Orientierung). Darum wird Erfahrung grundsätzlich offen bleiben müssen für Neuordnungen und Veränderungen (Feifei; Biehl/Kaufmann; Eggers, a. a. O.), so sehr sie auch durch ihren Evidenzausdruck eine Beharrungstendenz hat. Da Erfahrung wesenhaft auf Kommunikation basiert, weil sie nur in der Sprache (im weitesten Sinn) möglich ist, sind die Verzerrungen, Störungen und Entfremdungen des Kommunikationsprozesses Gefährdungen jeder integralen Erfahrung. Uber die Herstellung sinnvoller Kommunikationsmöglichkeiten (Abbau von Beziehungsängsten und überflüssigen sozialen Zwängen) wird daher auch ursprüngliche Erfahrung neu gelernt werden können, wie umgekehrt durch partielle Heilserfahrungen solche Kommunikation gelernt werden kann. Dabei wird sich der „Streit" darüber, „was wirklich Erfahrung genannt werden kann", nicht vermeiden lassen (Biehl/Kaufmann 166). Er ist als konsensfähiger dialogischer Prozeß auf Orientierungsangebote bezogen (Dienst, Erziehung; Zilleßen: EvErz 27 [1975] 252f). Untersuchungen zum Kommunikationsprozeß (z.B. Baacke; Wunderlich; Searle), zu Erfahrung und Selbsterfahrung (z.B. Laing; Lorenzer), zur Alltagserfahrung (z.B. Garfinkel; Matthes/Schütze), zur Sprachbildung, Entwicklung der Intelligenz und sozialen Erfahrung (z.B. Stachel mit Bezug auf Piaget; Kohlberg; Aronfreed) usw. sind unverzichtbare Voraussetzungen, um die Struktur dieses Prozesses erfassen zu können und Lernvorgänge zu initiieren. Die Qualität integraler Erfahrung ergibt sich aus der dialektischen Vermittlung von Erfahrungsprozeß und seinem Ergebnis: Unverfälschte Erfahrung als grundlegende anthropologische Möglichkeit der Menschwerdung (Humanisierung) steht unter den Bedingungen nicht entfremdeter Kommunikation und deren normativem Ziel universaler Humanität. Dabei können partielle Erfahrungen im Vor-schein dieser Humanität ebenso den Kommunikationsprozeß in Gang setzen, wie umgekehrt in einer solchen partiell möglichen Kommunikation diese Erfahrungen möglich werden. Die Einheit ursprünglicher und letztgültiger Erfahrung ist ihr humaner Sinn. 3. Erfahrung als religionspädagogisches

Lernziel

Unter religionspädagogischer Perspektive kommt die integrale Erfahrung als religiöse/christliche Erfahrung in den Blick. Wenn der Religionsunterricht darauf zielt, „dem Schüler neue Erfahrungen mit der Erfahrung zu ermöglichen" (Biehl/Kaufmann 167), so ist damit wohl das Lernziel ins Auge gefaßt, sich zugleich „ansprechen" zu lassen und „anzusprechen" in der Dialektik von Befreitwerden und Befreien, von Vergebung und Emanzipation. Die religionspädagogische Erörterung von Sinn und Stellenwert religiöser/christlicher Erfahrung hat unterschiedliche Konzepte erbracht: a.) Erfahrung als Zugang zum „apriorischen Raum" des Glaubens (Grom, Botschaft); b.) Glaubenserfahrung als geschichtlich vermittelte Begegnung. Glaube wird im Religionsunterricht unter den Bedingungen von „Erfahrung, Reflexion und Handeln" befragt (Niggemeyer, Glaubenskatechese 204 f); c.) Gotteserfahrung als Sinnerfahrung und Grund aller anderen Sinn-Erfahrung (Eggers, a . a . O . 158); d.) religiöse Erfahrung als Sinn- und damit Wahrheitserfahrung (Feifei 95). Glaubenserfahrung innerhalb der religiösen Erfahrung verweist die Immanenz auf die Transzendenz (Feifei 94: „Hinordnung auf Gott"); e.) Religiöse Erfahrung bedarf der unter-

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richtlichen „Erschließungssituation". Glaubenserfahrung wird im R a u m kirchlicher Praxis erschlossen (Baudler, Religionsunterricht 16; ders.: KatBl 98); f.) Glaubenserfahrung ist der „ M u t , der trotz widersprechender Erfahrungen bei der Erfahrung der Liebe bleibt und sich als erfahrungsverändernd erweist" (Biehl/Kaufmann 167) usw. Ist auch die Verhältnisbestimmung von religiöser Erfahrung und christlicher Erfahrung („Glaubenserfahrung") weiter strittig (vgl. dazu Dienst, Glaube 95 ff), so k o m m t doch in vielen Konzepten mehr oder weniger stark der Verheißungsaspekt christlicher Erfahrung zum Ausdruck: Erfahrung zielt auf ihre Z u k u n f t als unzerstörte Humanität, Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe. Erfahrungen von Mißtrauen und Liebesentzug stehen dem entgegen. D a r u m geht es auch stets um das „Transzendieren alltäglicher Erfahrungen" (Halbfas, Revision 30) von Endlichkeit, Entfremdung, Scheitern, Leiden (vgl. Zilleßen, Orientierung 116). Die Rekonstruktion ursprünglicher und letztgültiger Erfahrung durch Lernprozesse ist ein kommunikativer Prozeß, der in sich selbst diese Erfahrungen und ihre Transzendierung bereits artikuliert. Die theologische Perspektive ist hier eine pneumatologische. Diese ursprüngliche und letztgültige Erfahrungswirklichkeit wird in der theologischen Rede von Schöpfung und Erlösung begriffen und eröffnet. Ist das die Basis, so kann der Lernprozeß in der Dialektik von Orientierung und Ablösung, von Annahme (Anlehnung) und Selbstbefreiung durchaus als emanzipatorisch bezeichnet werden (—»Emanzipation). Damit ist Erfahrung gerade keine vorreflexive Kategorie. Diesen Eindruck erweckt die religionspädagogische Diskussion, wenn sie Erfahrungsorientierung vorrangig im Hinblick auf den Religionsunterricht in der Primarstufe erörtert (Burk; Betz; Eggers; Göpfert; Grosch; Lange; Niggemeyer u.v.a.). Erfahrung als Lernziel des Religionsunterrichts und Erfahrungsorientierung als seine Grundlage beziehen sich auf alle religionsdidaktischen Bemühungen. Der Lernprozeß m u ß auf alle Modalitäten der Erfahrung zielen, also kreative, meditative und kontemplative Unterrichtsphasen ebenso initiieren wie offene Kommunikation und H a n d lungsorientierung (z.B. handlungsorientierte Curricula) intendieren. Die Bedeutung reflexiver Prozesse f ü r einen solchen erfahrungsorientierten Religionsunterricht ist im Hinblick auf die Orientierung an religiöser/christlicher Tradition (Erinnerung von Erfahrungen) offensichtlich. Als zukünftige Aufgabe stellt sich, das Verhältnis von Erfahrung und Emanzipation unter den angedeuteten Perspektiven weiter zu klären. Literatur Dieter Baacke, Kommunikation u. Kompetenz, München 1973. - Ders., Kompetenz u. Kommunikation. Gedanken zur Heilung gestörter Kommunikation: Zum Verhältnis v. Emanzipation u. Tradition. Elemente einer religionspädagogischen Theorie. 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Erfurt

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hältnis v. Emanzipation u. Tradition (s.o.) 1 5 0 - 1 5 6 . - Hans Stock, Problembezogener u. erfahrungsbedingter Bibelunterricht: Problem- oder bibelorientierter Religionsunterricht. Hg. v. Bernhard Albers/Reinhard Kiefer, Aachen 1 9 7 8 , 1 0 1 - 1 1 2 . - S i e g f r i e d Vierzig, Lernziele des Religionsunterrichts: informationen zum religions-unterricht 2 (1970) H. 1/2, 5 - 1 6 . - Klaus Wegenast, Die empirische Wendung in der Religionspädagogik: EvErz 2 0 (1969) 111 - 1 2 5 . - Ders., Rel. Erziehung zw. Uberlieferung: ders., Orientierungsrahmen Religion. Beitr. zur rel. Erziehung in Schule u. Kirche, 1979 (GTB 320) 9 - 2 5 . - Josef Wohlmuth, Rel. Erfahrung u. christl. Sprache: KatBI 100 (1975) 3 7 - 4 5 . - Dieter Wunderlich, Zur Konventionalität v. Sprechhandlungen. Linguistische Pragmatik. Hg. v. dems., Frankfurt 1972. - Dietrich Zilleßen, Abschied vom emanzipatorischen Religionsunterricht. Eine Bilanz: Religionspädagogische Beitr. 1979, H. 3 , 3 7 - 7 5 . - Ders., Glaube u. Erfahrung: Religionspädagogisches Werkbuch. Hg. v. dems., Frankfurt 1 9 7 2 , 1 7 9 - 1 8 3 . - D e r s . , Orientierung an Jesus v. Nazaret im Religionsunterricht: Inhalte rel. Lernens. Hg. v. Günter Stachel, 1 9 7 7 ( S P T 1 4 ) 1 1 2 - 1 2 4 . - Ders., Religion u. Transzendenz im Religionsunterricht: Prakt. Theol. heute (s.o.) 4 8 6 - 4 9 9 . - Hans Zirker, Die Erschließung des Glaubens in seinem Erfahrungsbezug: Religionsdidaktik (s.o.) 8 7 - 1 2 1 .

Dietrich Zilleßen Erfurt, Universität 1. Gründung und

Einrichtungen

Seit dem 13. Jh. entwickelte das aufblühende Erfurt eine bürgerliche Selbstverwaltung gegenüber dem Erzstift —»Mainz, die im ausgehenden 14. Jh. die Gründung einer Universität betrieb. Unter Ausnutzung des großen abendländischen —»Schismas erwarb der Rat 1 3 7 9 eine Errichtungsurkunde von Clemens VII., doch erst aufgrund der Urkunde von Urban VI. (1389) konnte er die Universität zwischen dem 29. April und 4. Mai 1392 einschließlich einer Theologischen Fakultät eröffnen. Das Amt des Kanzlers erhielt 1396 der Erzbischof von Mainz, bei dem es bis 1632 blieb. Mit diesen Geschäften beauftragte er einen Vizekanzler. Die Universität als Korporation von Lehrenden und Lernenden gliederte sich nicht in Nationen, sondern in Fakultäten. Zum Schutz der Privilegien der Universität und ihrer Glieder gab es seit 1390 Konservatoren. Martin V. verband diese Aufgaben 1427 mit der Abtswürde des Schottenklosters, die 1561 erloschen ist. Die Stadt Erfurt hatte als Patron das Präsentationsrecht für die acht von ihr begründeten Kollegiatensteilen der Philosophischen Fakultät und Einfluß auf die Besetzung bestimmter Stellen in den drei übrigen Fakultäten.

Die Lehrstühle der Theologischen Fakultät erhielten drei Ordensangehörige (ein Augustinereremit, ein Dominikaner und ein Franziskaner) und drei Weltpriester (zwei der Stiftskirche Beatae Mariae und einer der Stiftskirche St. Severi). Die drei genannten Orden inkorporierten ihr Theologiestudium der Universität, während sie die philosophische Ausbildung ihrer Mitglieder in ihren Klöstern vornahmen. Für die Philosophische Fakultät wurde das Collegium maius errichtet, der Theologischen ein an der Südseite des Domes angebauter Raum — später Auditorium coelicum genannt - zur Verfügung gestellt. 1412 stiftete der Mediziner Amplonius Ratingk aus Bercka (gest. 1435) ein Collegium, dem er auch seine wertvolle, 635 Bände (etwa 4 0 0 0 Werke) umfassende Bibliothek übergab, die zum größten Teil in der Wissenschaftlichen Bibliothek der Stadt Erfurt erhalten ist. 2. Die Scholastik Die ersten Lehrkräfte brachten aus —»Prag die moderne bzw. terministische —»Logik mit. Der Kampf gegen die Hussiten verstärkte die Ablehnung des Universalienrealismus (—»Universalienstreit), den diese von J. —»Wyclif übernommen hatten. Trotzdem fühlte man sich nicht an bestimmte Scholastiker gebunden, sondern schöpfte aus einem breiten Traditionsstrom. Erst als nach der Mitte des 15. Jh. die Schulbildungen hervortraten, wandten sich die Erfurter mehr der via moderna zu, bis schließlich Jodocus Trutfetter (um 1 4 6 0 - 1 5 1 9 ) und Bartholomäus Amoldi aus Usingen (um 1 4 6 5 - 1 5 3 2 ) sich 1 4 9 7 auf die ockhamistische Universalienlehre festlegten und entsprechende Lehrbücher folgen ließen. Parallel dazu verlief die Entwicklung in der Theologischen Fakultät. Exemplarisch war der Tractatus de paralogismis consuetis fieri in materia Trinitatis benedicte et eorum solutionibus des Hermann Lurtz (gest. 1399), in dem Aussagen verschiedener Richtungen zur

Erfurt

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hältnis v. Emanzipation u. Tradition (s.o.) 1 5 0 - 1 5 6 . - Hans Stock, Problembezogener u. erfahrungsbedingter Bibelunterricht: Problem- oder bibelorientierter Religionsunterricht. Hg. v. Bernhard Albers/Reinhard Kiefer, Aachen 1 9 7 8 , 1 0 1 - 1 1 2 . - S i e g f r i e d Vierzig, Lernziele des Religionsunterrichts: informationen zum religions-unterricht 2 (1970) H. 1/2, 5 - 1 6 . - Klaus Wegenast, Die empirische Wendung in der Religionspädagogik: EvErz 2 0 (1969) 111 - 1 2 5 . - Ders., Rel. Erziehung zw. Uberlieferung: ders., Orientierungsrahmen Religion. Beitr. zur rel. Erziehung in Schule u. Kirche, 1979 (GTB 320) 9 - 2 5 . - Josef Wohlmuth, Rel. Erfahrung u. christl. Sprache: KatBI 100 (1975) 3 7 - 4 5 . - Dieter Wunderlich, Zur Konventionalität v. Sprechhandlungen. Linguistische Pragmatik. Hg. v. dems., Frankfurt 1972. - Dietrich Zilleßen, Abschied vom emanzipatorischen Religionsunterricht. Eine Bilanz: Religionspädagogische Beitr. 1979, H. 3 , 3 7 - 7 5 . - Ders., Glaube u. Erfahrung: Religionspädagogisches Werkbuch. Hg. v. dems., Frankfurt 1 9 7 2 , 1 7 9 - 1 8 3 . - D e r s . , Orientierung an Jesus v. Nazaret im Religionsunterricht: Inhalte rel. Lernens. Hg. v. Günter Stachel, 1 9 7 7 ( S P T 1 4 ) 1 1 2 - 1 2 4 . - Ders., Religion u. Transzendenz im Religionsunterricht: Prakt. Theol. heute (s.o.) 4 8 6 - 4 9 9 . - Hans Zirker, Die Erschließung des Glaubens in seinem Erfahrungsbezug: Religionsdidaktik (s.o.) 8 7 - 1 2 1 .

Dietrich Zilleßen Erfurt, Universität 1. Gründung und

Einrichtungen

Seit dem 13. Jh. entwickelte das aufblühende Erfurt eine bürgerliche Selbstverwaltung gegenüber dem Erzstift —»Mainz, die im ausgehenden 14. Jh. die Gründung einer Universität betrieb. Unter Ausnutzung des großen abendländischen —»Schismas erwarb der Rat 1 3 7 9 eine Errichtungsurkunde von Clemens VII., doch erst aufgrund der Urkunde von Urban VI. (1389) konnte er die Universität zwischen dem 29. April und 4. Mai 1392 einschließlich einer Theologischen Fakultät eröffnen. Das Amt des Kanzlers erhielt 1396 der Erzbischof von Mainz, bei dem es bis 1632 blieb. Mit diesen Geschäften beauftragte er einen Vizekanzler. Die Universität als Korporation von Lehrenden und Lernenden gliederte sich nicht in Nationen, sondern in Fakultäten. Zum Schutz der Privilegien der Universität und ihrer Glieder gab es seit 1390 Konservatoren. Martin V. verband diese Aufgaben 1427 mit der Abtswürde des Schottenklosters, die 1561 erloschen ist. Die Stadt Erfurt hatte als Patron das Präsentationsrecht für die acht von ihr begründeten Kollegiatensteilen der Philosophischen Fakultät und Einfluß auf die Besetzung bestimmter Stellen in den drei übrigen Fakultäten.

Die Lehrstühle der Theologischen Fakultät erhielten drei Ordensangehörige (ein Augustinereremit, ein Dominikaner und ein Franziskaner) und drei Weltpriester (zwei der Stiftskirche Beatae Mariae und einer der Stiftskirche St. Severi). Die drei genannten Orden inkorporierten ihr Theologiestudium der Universität, während sie die philosophische Ausbildung ihrer Mitglieder in ihren Klöstern vornahmen. Für die Philosophische Fakultät wurde das Collegium maius errichtet, der Theologischen ein an der Südseite des Domes angebauter Raum — später Auditorium coelicum genannt - zur Verfügung gestellt. 1412 stiftete der Mediziner Amplonius Ratingk aus Bercka (gest. 1435) ein Collegium, dem er auch seine wertvolle, 635 Bände (etwa 4 0 0 0 Werke) umfassende Bibliothek übergab, die zum größten Teil in der Wissenschaftlichen Bibliothek der Stadt Erfurt erhalten ist. 2. Die Scholastik Die ersten Lehrkräfte brachten aus —»Prag die moderne bzw. terministische —»Logik mit. Der Kampf gegen die Hussiten verstärkte die Ablehnung des Universalienrealismus (—»Universalienstreit), den diese von J. —»Wyclif übernommen hatten. Trotzdem fühlte man sich nicht an bestimmte Scholastiker gebunden, sondern schöpfte aus einem breiten Traditionsstrom. Erst als nach der Mitte des 15. Jh. die Schulbildungen hervortraten, wandten sich die Erfurter mehr der via moderna zu, bis schließlich Jodocus Trutfetter (um 1 4 6 0 - 1 5 1 9 ) und Bartholomäus Amoldi aus Usingen (um 1 4 6 5 - 1 5 3 2 ) sich 1 4 9 7 auf die ockhamistische Universalienlehre festlegten und entsprechende Lehrbücher folgen ließen. Parallel dazu verlief die Entwicklung in der Theologischen Fakultät. Exemplarisch war der Tractatus de paralogismis consuetis fieri in materia Trinitatis benedicte et eorum solutionibus des Hermann Lurtz (gest. 1399), in dem Aussagen verschiedener Richtungen zur

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Erfurt

Trinität mittels moderner Logik verarbeitet wurden. Diese Wissenschaftsmethode drang selbst in die Exegese ein, indem die aufgrund des auszulegenden Textes formulierten quaestiones von der Logik geprägte Antworten erhielten. Anfangs wurden —»Ägidius von Rom und Thomas von Straßburg (gest. 1357) bevorzugt, —»Ockham und —»Duns Scotus fanden erst seit der Mitte des 15. Jh. Beachtung, Ockham im steigenden Maße, bis seit der Jahrhundertwende die Werke von G. —»Biel seine Theologie vermittelten. Als Johannes Jeusser aus Paltz OESA (gest. 1511) 1493 ausschied, hörte das Veröffentlichen theologischer Arbeiten auf. Auf den Konzilien war die Erfurter Universität seit 1409 vertreten. Sie verfocht entschieden den —»Konziliarismus, übte Kritik an den Mißständen in der Kirche und drängte auf Reformen, wobei —•Johannes Ruchrat von Wesel besonders weit ging. In Konstanz überführte Johannes Zachariä OESA (gest. 1428) J. —»Hus einer „Irrlehre", wofür er das Epitheton „Hussomastix" erhielt. Seit 1440 bekämpften Erfurter Professoren die —•Wallfahrt zu den „Hostien mit Blutstropfen" in Wilsnack. Aber —•Nikolaus V. sprach sich 1453 für ihre Duldung aus. Danach wandten sich noch Johannes Bauer aus Dorsten OESA (gest. 1481) und sein Schüler Jeusser dagegen. Die mittelalterliche Universität erlebte ihre Blüte von 1450 bis 1460, mit 539 Immatrikulationen 1455 ihren höchsten Zugang. Trotzdem blieb die Zahl der Hörer in der Theologischen Fakultät gering, da sie nicht Priester, sondern wissenschaftliche Theologen ausbildete; sie umfaßte im selben Jahr etwa 40.

3. Der Humanismus Der frühe —»Humanismus gelangte bereits während der Universitätsgriindung aus Prag nach Erfurt. Eine große Anzahl von Juristen und Medizinern geriet während des Studiums in Bologna und Padua unter humanistischen Einfluß, ehe sie in Erfurt lehrten. Von 1460 bis 1486 boten wandernde Humanisten Vorlesungen an, von denen Peter Luder (gest. nach 1474) der erste und Konrad Celtis (1459-1508) der letzte und berühmteste war. Die humanistischen Studien richteten sich auf Rhetorik, Poetik, klassisches Latein, einen eleganten Briefstil sowie auf antike und humanistische Autoren. Erfurt wurde eine gute Sprachausbildung nachgerühmt und war der Studienort einer beachtlichen Zahl deutscher Humanisten. Um 1500 lag die Leitung der Bursen in den Händen von Förderern des Humanismus. Während der Frühhumanismus sich als Ergänzung der Scholastik verstand, wurde der Hochhumanismus sich seiner — Menschen formend gedachten — Bildung und seiner - historisch-philologischen - Wissenschaftsmethode bewußt und bekämpfte die Scholastik. In Erfurt eröffnete diesen Kampf 1500 Nikolaus Marschalk (gest. 1525), indem er das Latein der Scholastiker verspottete. Die Humanisten forderten neue Lehrbücher, also eine Universitätsreform. Marschalk förderte den Humanismus durch seine Druckerei. Er brachte den Druck des Griechischen und des Hebräischen und damit die Beschäftigung mit diesen Sprachen nach Erfurt. Daraus erwuchs die Forderung an die Theologen, die Ursprachen der Heiligen Schrift zu erlernen, wodurch Erfurt in die bibelhumanistische Bewegung geriet. Zu Marschalks Schülern im engeren Kreise gehörten G. —»Spalatin, Johannes Crotus Rubianus (gest. um 1545) und Johann Lang (1487?-1548), zu denen des weiteren Kreises auch M. —»Luther, obgleich er sich von 1501 bis 1505 die ockhamistische Philosophie aneignete. Er verdankte dem Marschalkkreis die Hinwendung zur Sprache — einschließlich des Hebräischen und des Griechischen - und zur Heiligen Schrift sowie eine philologische Wissenschaftsmethode, die sich fortschreitend gegen die Anwendung der Logik bei den Scholastikern kehrte. Kirchenkritik vermittelte ihm auch der wandernde Humanist H. —» Emser 1504. Nach 1505 sammelte Conradus Mutianus Rufus (gest. 1526) von Gotha aus einen Humanistenkreis. Seit 1511 entstand eine neue Gemeinschaft von Humanisten, in der ab 1513 Helius Eobanus Hessus (1488—1540) die Führung übernahm, was die Poesie förderte. Die Erfurter Humanisten ergriffen für J.—»Reuchlin die Feder, begeisterten sich für den nationalen Humanismus eines U. von —»Hutten und wallfahrten zu —»Erasmus von Rotterdam. An der Universität drängten sie auf Reformen, so daß Trutfetter 1516 —»Aristoteles anhand des Humanisten Johannes Argyropulos (gest. 1487) erläutern mußte und Eobanus 1517 die

143

Erfurt

neubegründete Vorlesung über Dichtkunst und humanistische Stoffe übertragen bekam. Ihr Einfluß erreichte von 1519 bis 1521 seinen H ö h e p u n k t . Nachdem 1518 i n - » W i t t e n b e r g eine Universitätsreform für das humanistische Sprachstudium Raum geschaffen und scholastische Fächer verdrängt hatte, führten die Humanisten 1519 in Erfurt eine Universitätsreform durch, die der humanistischen Sprachwissenschaft eine Bevorzugung brachte, ohne aber scholastische Fächer zu beseitigen. Neu begründet wurde—wie in W i t t e n b e r g - e i n Lektorat f ü r Griechisch, das Luthers Freund und Ordensbruder Lang erhielt, während — im Gegensatz zu Wittenberg - f ü r Hebräisch keine Stelle errichtet wurde. 4. Reformation,

Gegenreformation,

Restitution,

Außebung

Obgleich Trutfetter und Arnoldi seit 1518 sich von Luther trennten, begeisterten sich viele an der Erfurter Universität f ü r den Reformator, so d a ß sie ihn im April 1521 im Triumphzug einholten. Doch die nachfolgende Wittenberger Bewegung stieß Vertreter einer erasmischen Reform ab, so daß die Theologische Fakultät sich seit 1522 der Reformation versagte und gegen Luther kämpfte, obgleich die Stadt Erfurt evangelisch wurde. Nach dem —»Augsburger Religionsfrieden von 1555 nutzte der Rat der Stadt konsequent sein Präsentationsrecht in der Philosophischen Fakultät f ü r Evangelische. 1566 wurden eine theologische Professur f ü r das —»Augsburger Bekenntnis - die dem Rektor direkt unterstand - und eine für Hebräisch gestiftet. So wurde Erfurt die erste deutsche Universität, an der beide Konfessionen vertreten waren. Seit 1580 stärkten die Mainzer Erzbischöfe die gegenreformatorischen Kräfte, zum Teil unter Hinzuziehung von —»Jesuiten, die 1611 eine Schule eröffnen konnten. Doch der —»Dreißigjährige Krieg machte diese Anstrengungen zunichte. Am 4. Oktober 1631 erhielt Erfurt den Schwedenkönig Gustav Adolf ( 1 6 1 1 - 1 6 3 2 ) zum Landesherrn und dadurch 1632 eine evangelische Universität. An der nun evangelischen Theologischen Fakultät wirkte der vorpietistische Reformer Johannes M a t t h ä u s Meyfart (1590—1642). 1649 restituierte eine kaiserliche Kommission die Universität und damit die altgläubige Theologische Fakultät, die seit 1672 besonders mit dem Benediktinerkloster auf dem Petersberg verbunden war. Seit 1649 erhielt der Professor für die Theologie des Augsburger Bekenntnisses das Seniorenamt des Evangelischen Ministeriums in Erfurt. Seit 1650 übten die Erzbischöfe von Mainz wieder die Jurisdiktion über Erfurt aus. Sie errichteten 1756 eine zweite Professorenstelle für evangelische Theologie und 1767 das Coüegium Professorum Augustanae Confessionis mit fünf Stellen, aber ohne Fakultätsrechte. Nachdem Erfurt 1802 preußisch geworden war, bestimmte Friedrich Wilhelm III. ( 1 7 9 7 - 1 8 4 0 ) die Universität zum Aussterben und hob sie nach der Herrschaft Napoleons I. (—»Napoleonische Epoche) von 1804 bis 1814 am 24. September 1816 endgültig auf. Die Spannungen zwischen den altgläubigen Erzbischöfen als Landesherrn und der evangelischen Bevölkerung sowie Mängel in der Ausstattung ließen die Erfurter Universität trotz aufklärerischer—»Toleranz und Reformversuchen seit 1521 zu keiner Blüte mehr gelangen. Am 7. September 1954 w u r d e auf Beschluß des Ministerrates der D D R von 1953 in Erfurt die Medizinische Akademie als Nachfolger der alten Universität eröffnet. Das 1952 von der Römisch-katholischen Kirche gegründete Philosophisch-Theologische Studium bildet den Priesternachwuchs in der D D R aus und setzt die Tradition der alten Erfurter Theologischen Fakultät fort. Quellen Zu Archivalien: Meta Kohnke, Quellen zur Gesch. der Univ. Erfurt im Dt. Zentralarchiv Merseburg: Beitr. zur Gesch. der Univ. Erfurt (1392-1816) 7 (1960) 13 - 1 8 . - Fritz Wiegand, Das Schrifttum der ehemaligen Univ. Erfurt in Archiven v. Magdeburg u. Erfurt: ebd. 2 (1957) 5 - 2 7 . Arten der Erfurter Univ. I. Päpstliche Stiftungsbullen, Statuten v. 1447, Allg. Studentenmatrikel, 1. Hälfte (1392-1492). Hg. v. J.C. Hermann Weissenborn, 1881; II. Allg. u. Fak.-statuten v. 1 3 9 0 - 1 6 3 6 , Allg. Studentenmatrikel, 2. Hälfte 1 4 9 2 - 1 6 3 6 , 1 8 8 4 ; III. Reg. zur Allg. Studentenmatrikel (1392-1636). Ho. v. J.C. Hermann Weissenborn, fortgef. v. Adalbert Hortzschansky, 1899 (Gesch.quellen der Provinz Sachsen u. angrenzender Gebiete 8). - Die Statuten der theol. Fak. der Univ.

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Erkenntnis/Erkenntnistheorie

Erfurt. Hg. v. Ludger Meier: BPAA 7 (1951) 7 9 - 1 3 0 (krit. Ausg.). - Fritz Wiegand, Übersicht über die Rektoren der ehemaligen Univ. Erfurt v. 1637bis 1816: Beitr. zur Gesch. der Univ. Erfurt (1392-1816) 8 (1961) 83—96. — Ders., Namensverzeichnis zur Allg. Studentenmatrikel der ehemaligen Univ. Erfurt für die Zeit v. 1637 bis 1816: ebd. 9 (1962) 9 - 1 6 1 ; 10 (1963) 1 3 - 1 6 5 .

Literatur Horst Rudolf Abe, Der gegenwärtige Stand der wiss. Vorarbeiten zu einer Gesamtgesch. der Univ. Erfurt. Ein bibliogr. Abriß: Beitr. zur Gesch. der Univ. Erfurt (1392-1816) 3 (1957) 1 9 - 3 3 . - Carl Beyer, Gesch. der Stadt Erfurt v. der ältesten bis auf die neueste Zeit. Fortges. v. Johannes Biereye. I. Bis zum Jahre 1664, 1935. - Bibliogr. der dt. Univ. Bearb. v. Wilhelm Erman/Ewald Horn, 11/1904, 1 3 0 - 1 5 1 . - H.A. Erhard, Art. Erfurt: AEWK 1/35 (1841) 4 4 7 - 4 7 6 , bes. 4 6 2 - 4 7 6 . - Karlheinz Goldmann: Verz. der Hochschulen, 1 9 6 7 , 1 1 2 - 1 1 4 . - Harry Güthert/Horst Rudolf Abe, Zur Vor- u. Gründungsgesch. der Medizinischen Akademie Erfurt: Beitr. zur Gesch. der Univ. Erfurt (1392-1816) 18 (1975-1978) 2 0 7 - 2 2 4 . - Erich Kleineidam, Universitas studii Erfordensis. Uberblick über die Univ. Erfurt im Mittelalter. 1 . 1 3 9 2 - 1 4 6 0 , 1 9 6 4 (EThSt 14); II. 1 4 6 0 - 1 5 2 1 , 1 9 6 9 (EThSt 22); III. Die Zeit der Reformation u. Gegenreformation 1521 - 1 6 3 2 , 1 9 8 0 (EThSt 42) (Lit. einschließlich der Veröff. der Erfurter Professoren). - Alfred Overmann, Die letzten Schicksale u. die Aufhebung der Univ. Erfurt: Thüringisch-sächsische Zs. für Gesch. u. Kunst 9 (1919) 7 7 - 1 0 3 .

Helmar Junghans Erhöhung Christi —»Auferstehung, —»Himmelfahrt Christi Erkenntnis/Erkenntnistheorie 1. Programm und Kritik der Erkenntnistheorie 2. Theorie des Erkennens auf Grund der Wesensontologie 3. Veränderte Auffassung der Erkenntnissituation 4. Empirismus und Positivismus 5. Theorationalismus 6. Kritischer Rationalismus 7. Der transzendentalphilosophische Ansatz Kants 8. Philosophische Erkenntnis (Anmerkungen/Literatur S. 159)

1. Programm

und Kritik der

Erkenntnistheorie

Das Unternehmen, diejenige Leistung theoretisch zu begreifen, die man Erkennen nennt, setzt voraus und gründet sich darauf, daß schon immer Erkenntnishandlungen vollzogen worden sind, die Gegenstand philosophischer Fragen und Antworten sein können. Die Theorie des Erkennens bzw. die „Erkenntnistheorie" hat zu ihrem „Gegenstande" einen zweifachen Bezug. Zunächst ist sie selbst Erkenntnis: eine Erkenntnis des Erkennens; und zum andern verschafft sie einem zu ihr gehörenden Erkenntniswillen bzw. einem Erkenntnistypus eigentümlicher Art, der geschichtliche Gestalt gewonnen hat, ein Selbstbewußtsein u n d setzt zugleich diesem Willen entsprechende Maßstäbe für weiteres Fortschreiten. Erkenntnistheorie hat zugleich erkenntnisnormierende Funktion. Das soll an dem erkenntnistheoretischen Programm erkennbar gemacht werden, das mit dem im 19. Jh. entstandenen N a m e n „Erkenntnistheorie" verknüpft ist. Es wird sich zeigen, daß dieser N a m e einen speziellen Typus von Erkennen bzw. Erkenntnis repräsentiert und daß er, in dieser engeren Bedeutung gebraucht, nicht das ganze Feld der Fragen deckt, welche in einer Theorie des Erkennens überhaupt u n d jedes Erkenntnistypus im allgemeinen gestellt werden können. Daß das mit dem programmatischen N a m e n „Erkenntnistheorie" verbundene Seinsverständnis nicht nur Beschreibung der Ursprünge, Quellen, Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis, sondern auch deren Normierung einschließt, wird in der Erklärung E. Zellers deutlich: „ D a die Ergebnisse jeder Untersuchung wesentlich durch das Verfahren bedingt sind, dessen man sich bei derselben bedient, so ist es unmöglich, die Erforschung des Wirklichen mit wissenschaftlicher Sicherheit in Angriff zu nehmen, wenn nicht zuvor die Bedingungen und Formen des wissenschaftlichen Verfahrens festgestellt sind". 1 In diesen Sätzen wird die für das neuzeitliche Erkenntnistheorieprogramm maßgebende methodische Absicht deutlich, den Erkenntnisfortschritt durch eine Regelung der Denkschritte zu verbürgen. Dabei wird die Cartesische Devise (—»Descartes) der Beseitigung aller Vor-urteile und des Beginns der Erkenntnis bei einer absolut anfänglichen Situation maßgebend, die dadurch hergestellt wird, d a ß alle unkontrollierten Geltungsansprüche außer Kraft gesetzt u n d nur diejenigen

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Erkenntnis/Erkenntnistheorie

Erfurt. Hg. v. Ludger Meier: BPAA 7 (1951) 7 9 - 1 3 0 (krit. Ausg.). - Fritz Wiegand, Übersicht über die Rektoren der ehemaligen Univ. Erfurt v. 1637bis 1816: Beitr. zur Gesch. der Univ. Erfurt (1392-1816) 8 (1961) 83—96. — Ders., Namensverzeichnis zur Allg. Studentenmatrikel der ehemaligen Univ. Erfurt für die Zeit v. 1637 bis 1816: ebd. 9 (1962) 9 - 1 6 1 ; 10 (1963) 1 3 - 1 6 5 .

Literatur Horst Rudolf Abe, Der gegenwärtige Stand der wiss. Vorarbeiten zu einer Gesamtgesch. der Univ. Erfurt. Ein bibliogr. Abriß: Beitr. zur Gesch. der Univ. Erfurt (1392-1816) 3 (1957) 1 9 - 3 3 . - Carl Beyer, Gesch. der Stadt Erfurt v. der ältesten bis auf die neueste Zeit. Fortges. v. Johannes Biereye. I. Bis zum Jahre 1664, 1935. - Bibliogr. der dt. Univ. Bearb. v. Wilhelm Erman/Ewald Horn, 11/1904, 1 3 0 - 1 5 1 . - H.A. Erhard, Art. Erfurt: AEWK 1/35 (1841) 4 4 7 - 4 7 6 , bes. 4 6 2 - 4 7 6 . - Karlheinz Goldmann: Verz. der Hochschulen, 1 9 6 7 , 1 1 2 - 1 1 4 . - Harry Güthert/Horst Rudolf Abe, Zur Vor- u. Gründungsgesch. der Medizinischen Akademie Erfurt: Beitr. zur Gesch. der Univ. Erfurt (1392-1816) 18 (1975-1978) 2 0 7 - 2 2 4 . - Erich Kleineidam, Universitas studii Erfordensis. Uberblick über die Univ. Erfurt im Mittelalter. 1 . 1 3 9 2 - 1 4 6 0 , 1 9 6 4 (EThSt 14); II. 1 4 6 0 - 1 5 2 1 , 1 9 6 9 (EThSt 22); III. Die Zeit der Reformation u. Gegenreformation 1521 - 1 6 3 2 , 1 9 8 0 (EThSt 42) (Lit. einschließlich der Veröff. der Erfurter Professoren). - Alfred Overmann, Die letzten Schicksale u. die Aufhebung der Univ. Erfurt: Thüringisch-sächsische Zs. für Gesch. u. Kunst 9 (1919) 7 7 - 1 0 3 .

Helmar Junghans Erhöhung Christi —»Auferstehung, —»Himmelfahrt Christi Erkenntnis/Erkenntnistheorie 1. Programm und Kritik der Erkenntnistheorie 2. Theorie des Erkennens auf Grund der Wesensontologie 3. Veränderte Auffassung der Erkenntnissituation 4. Empirismus und Positivismus 5. Theorationalismus 6. Kritischer Rationalismus 7. Der transzendentalphilosophische Ansatz Kants 8. Philosophische Erkenntnis (Anmerkungen/Literatur S. 159)

1. Programm

und Kritik der

Erkenntnistheorie

Das Unternehmen, diejenige Leistung theoretisch zu begreifen, die man Erkennen nennt, setzt voraus und gründet sich darauf, daß schon immer Erkenntnishandlungen vollzogen worden sind, die Gegenstand philosophischer Fragen und Antworten sein können. Die Theorie des Erkennens bzw. die „Erkenntnistheorie" hat zu ihrem „Gegenstande" einen zweifachen Bezug. Zunächst ist sie selbst Erkenntnis: eine Erkenntnis des Erkennens; und zum andern verschafft sie einem zu ihr gehörenden Erkenntniswillen bzw. einem Erkenntnistypus eigentümlicher Art, der geschichtliche Gestalt gewonnen hat, ein Selbstbewußtsein u n d setzt zugleich diesem Willen entsprechende Maßstäbe für weiteres Fortschreiten. Erkenntnistheorie hat zugleich erkenntnisnormierende Funktion. Das soll an dem erkenntnistheoretischen Programm erkennbar gemacht werden, das mit dem im 19. Jh. entstandenen N a m e n „Erkenntnistheorie" verknüpft ist. Es wird sich zeigen, daß dieser N a m e einen speziellen Typus von Erkennen bzw. Erkenntnis repräsentiert und daß er, in dieser engeren Bedeutung gebraucht, nicht das ganze Feld der Fragen deckt, welche in einer Theorie des Erkennens überhaupt u n d jedes Erkenntnistypus im allgemeinen gestellt werden können. Daß das mit dem programmatischen N a m e n „Erkenntnistheorie" verbundene Seinsverständnis nicht nur Beschreibung der Ursprünge, Quellen, Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis, sondern auch deren Normierung einschließt, wird in der Erklärung E. Zellers deutlich: „ D a die Ergebnisse jeder Untersuchung wesentlich durch das Verfahren bedingt sind, dessen man sich bei derselben bedient, so ist es unmöglich, die Erforschung des Wirklichen mit wissenschaftlicher Sicherheit in Angriff zu nehmen, wenn nicht zuvor die Bedingungen und Formen des wissenschaftlichen Verfahrens festgestellt sind". 1 In diesen Sätzen wird die für das neuzeitliche Erkenntnistheorieprogramm maßgebende methodische Absicht deutlich, den Erkenntnisfortschritt durch eine Regelung der Denkschritte zu verbürgen. Dabei wird die Cartesische Devise (—»Descartes) der Beseitigung aller Vor-urteile und des Beginns der Erkenntnis bei einer absolut anfänglichen Situation maßgebend, die dadurch hergestellt wird, d a ß alle unkontrollierten Geltungsansprüche außer Kraft gesetzt u n d nur diejenigen

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Aussagen anerkannt werden, welche ihre kritische Prüfung durch Messung an den vom neuzeitlichen Erkenntniswillen normierten Maßstäben bestanden haben. Unter dieser Voraussetzung hat Erkenntnistheorie auch die Gestalt der „Erkenntniskritik" angenommen, sofern sie es sich auch zur Aufgabe macht, die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer überhaupt „Erkenntnis" gewonnen werden kann. Der methodische Kanon für einzelwissenschaftliche Erkenntnis wie diejenige in Mathematik und Physik ist in der Cartesischen Methodenlehre formuliert worden (Descartes, Discours de la méthode: Oeuvre, ed. A. Tannery, Paris 1897ff, VI, 17ff). Als maßgebend für die dem neuzeitlichen Erkenntnistypus zugrunde liegende, „ontologische" Auffassung gegenständlichen Seins überhaupt wirkte sich die Programmatik der Galileischen Physik aus (—»Galilei, G.), die den Erkenntnistypus in der—» Naturwissenschaft und - indirekt auch in den Humanwissenschaften - bestimmt hat. Der im Galileischen Erkenntnisprogramm leitende, bis zur Gegenwart immer wieder von Naturforschern bekräftigte Grundsatz kann so formuliert werden: Wir, die Gesellschaft der für den Fortschritt der Wissenschaft arbeitenden Erkennenden wollen das Sein unserer Gegenstände nicht im Sinne des „Wesens" (Aristoteles) interpretieren, das wir im Rahmen der Erkenntniszwecke, die wir wählen, nicht einsehen können und wollen. 2 Zweck unseres Erkennens soll sein, die Natur auf die Sprache der—»Mathematik zu bringen und sie dadurch berechenbar, überschaubar und auch beherrschbar zu machen. Wir wollen nicht dem „ W a s " , sondern dem „Wie", d.h. meßbaren Eigenschaften und ihren Relationen die Rolle gegenständlichen Seins zuerkennen. Die die Erkenntnisarbeit begründende Ontologie prägt auch den Erkenntnistypus, der auf ihr gründet. Zu diesem gehört nach der Charakterisierung Kants, daß das erkennende Subjekt die Stellung des Gesetzgebers der Natur im Hinblick auf deren „allgemeine" Gesetze, d.h. auf ihre das Sein der Gegenstände betreffende Grundstrukturen übernimmt. Dieser Stellung des Subjekts entspricht eine das Erkennen und dessen Erkenntnistheorie begründende —»Ontologie. Deren Grundsatz kann so formuliert werden: Gegenständliches Sein ist nicht im „Wesen" zu suchen, sondern ist als ein vom subjektiven Verstand gefaßter Inbegriff von gesetzlichen Beziehungen zu verstehen, die der erkennende Verstand zwischen den Erscheinungen herstellt. Dieser Erkenntnistypus und die zu ihm gehörige Erkenntnistheorie haben sich in der Erkenntnispraxis wie auch in den erkenntnistheoretischen Reflexionen der Neuzeit gegen diejenige Gestalt durchgesetzt, in welcher Erkenntnis des „Wesens" in der Antike und im Mittelalter aufgetreten ist. Gleichwohl ist in der Geschichte neuzeitlicher Erkenntnispraxie und ihrer Theorie eine Auseinandersetzung zwischen den ontologischen Auffassungen, von denen die eine sich am „Wesen", die andere am Natur-„gesetz" orientiert, zu beobachten (vgl. F. Kaulbach, Einf. in die Metaphysik, Darmstadt, 2 1 9 7 8 , 117ff). In Opposition gegen den neuzeitlichen Erkenntnis- und Wissenschaftsbegriff und die von ihm inspirierte Erkenntnistheorie erklärt—»Hegel mit einem Seitenblick auf Kant, daß das erkenntnistheoretische bzw. erkenntniskritische Programm auf der falschen Voraussetzung aufbaue, als ob wir erkenntnistheoretische Einsichten gewinnen könnten, bevor wir Handlungen geleistet haben, die sich als „Erkenntnisse" schon vor der erkenntniskritischen Prüfung bewährt haben. Hegels freilich primär an der Theorie philosophischen Erkennens orientierte Kritik an Kant, die eigentlich als Metakritik anzusprechen ist, stellt fest, daß in diesem Ansatz der Maßstab, an welchem zwischen wahr und unwahr entschieden werden soll, vom Subjekt gesetzt werde. Dieses Subjekt versteht sich als sich von allen geschichtlichen und natürlichen Bindungen freisetzend und als gesetzgebend für das Sein der Naturgegenstände. Daher baut es Erkenntnis und Wissen auf einem apriorischen, von allem Vorwissen gereinigten Fundament auf. Erkenntniskritik will erst das Werkzeug und das Mittel, mit Hilfe dessen man den Gegenstand erkennt, auf seine Leistungsfähigkeit hin erkennen. Sie basiert auf der Meinung, daß man verschiedene „Arten der Erkenntnis" zur Verfügung habe, zwischen denen man die für den Gegenstand beste auswählen müsse. Man argumentiert auf Grund der irrtümlichen Auffassung, daß man die subjektiven Werkzeuge des Erkennens (Erkenntnisvermögen") dadurch für sich isoliert betrachten könne, daß man ihr Wirken von dem Ergebnis sachlicher Erkenntnis abzieht. Dieses Verfahren soll der falsch

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konzipierten Absicht dienen, den Gebrauch der Erkenntnisvermögen in methodisch kontrollierter Weise einem normierten Aufbau der Erkenntnis der Gegenstände dienstbar machen zu können. Aber wie kann, so fragt Hegel, das Subjekt seine Zutaten zur gegenständlichen Erkenntnis aus dieser herausziehen, wenn es den Gegenstand nicht schon immer erkannt hat und daher weiß, was zu ihm selbst gehört und was man als subjektive Leistung von ihm abzuziehen hat? Damit macht er die ontologisch-erkenntnistheoretische Voraussetzung des neuzeitlichen Erkenntnistypus fragwürdig, dergemäß das Subjekt von sich aus Formen des Erkennens an den Gegenstand herantragen würde. Wie das Sehen eines Lichtstrahls durch ein brechendes Medium nicht ein Bewußtsein voraussetzt, welches das Gesetz der Brechung kennt, so geschieht Erkennen nicht durch Anwendung der erkenntnistheoretischen Einsichten. Es sei ein „Mißtrauen gegenüber dem Mißtrauen" an der Fähigkeit zur Geltung zu bringen, Erkennen auch vor aller erkenntnistheoretischen Einsicht zu leisten, und nicht so zu tun, als ob man erst die Werkzeuge und das Medium, durch das erkannt werde, betrachten müsse, um erkennen zu können (Phänomenologie des Geistes, Einl.; ebenso Enzyklopädie, Einl. § 10). Hegels Überlegungen laufen darauf hinaus, daß die Philosophie das erkenntnistheoretische Programm als Symptom eines Erkenntnistypus zu verstehen habe, welcher auf dem Boden der neuzeitlichen Naturwissenschaft heimisch und auf diesen zu beziehen ist, statt den Anspruch auf Erkenntnis überhaupt stellen zu dürfen. So ergibt sich, daß derjenige, der Aussagen über das Wesen der Erkenntnistheorie zu machen beabsichtigt, nicht unreflektiert deren auf den cartesisch-galileischen Erkenntnistypus beschränktes Theorieprogramm als absolut gültig voraussetzen darf. Vielmehr muß er die Aspekte des Systematischen und des Geschichtlichen miteinander verbinden, um sich in den Stand zu setzen, in den typischen Gestalten des erkennenden und des dazugehörigen erkenntnistheoretischen Bewußtseins Positionen zu sehen, deren dialektische Auseinandersetzung durch die Geschichte zu verfolgen ist. Zuerst ist dabei das Programm der Erkenntnis des „Wesens" in den Blick zu fassen. 2. Theorie des Erkennens auf Grund der

Wesensontologie

Nach —»Plato sind zwei Ansichten des Seienden zu unterscheiden: die eine präsentiert sich dem leiblichen Auge, während die andere, die das „Sein selbst" im Seienden darstellt, nur dem Denken erkennbar ist. Der eigentliche Gegenstand des Erkennens ist in diesem selbständigen Sein bzw. in der Sache selbst zu suchen. Die Sache selbst, das eldog bzw. die Idee, ist nicht, wie es für die Erscheinungen zutrifft, wandelbar, dem Entstehen und Vergehen überantwortet, einmal das, das andere Mal jenes Aussehen zeigend. Sie ist als „Idee" beständig, identisch mit sich selbst, ungeworden und unvergänglich, selbst-ständig. In der Perspektive des reinen Denkens zeigen sich die Ideen, welche zugleich die Funktion des Ur-bildes und Vor-bildes für die sinnlichen Erscheinungen übernehmen, die ihrerseits der Perspektive des sinnlichen Wahrnehmens (aiaOrjaig) entsprechen. Ein auf Sand oder auf Papier gezeichnetes Dreieck ist als Abbild des Urbildes: Dreieck selbst, bzw. der Idee „des" Dreieckes zu verstehen. Das Dreieck selbst bzw. die Idee des Dreiecks ist zwar in jedem materiell verwirklichten Dreieck gegenwärtig, existiert aber unabhängig von dieser Verbindung mit dem Materiellen. Sie ist dessen eigentliches Sein und der Grund dafür, daß ein materielles Abbild den Namen „eines" Dreiecks verdient. Daß in einer körperlichen Figur ein Hinweis auf die in ihr gegenwärtige „Idee" geschehen kann, verdankt sie dem Umstand, daß sie an dieser Idee „teilhat". Die erscheinenden Gestalten sind nur auf Grund dieser Teilhabe an der Idee im Bereich des Seienden überhaupt seiend. Sinnliches Wahrnehmen ergibt noch nicht eigentliches Erkennen und Wissen, sondern hat nur „Meinen" (/atg), des Vorstellens durch Einbildungskraft ((pavraaia) und die des eigentlichen Begreifens durch den Verstand (vovg), verschiedene Momente des Ganzen einer einzigen Erkenntnishandlung. Dabei befaßt sich die Physik mit Bewegungen, die in Raum und Zeit geschehen und eine materielle Grundlage haben. Aber auch die —•Mathematik hat ursprünglich den Inbegriff sinnlich wahrnehmbarer, physischer Dinge zum Gegenstand. Nur betrachtet sie diese auf ihr Zahl-, Figur- und Beziehungsein hin und löst diese Strukturen durch „Abstraktion" aus ihrer Grundlage, die sie in den sinnlich wahrnehmbaren Wesen haben, heraus. Der Gedanke, daß „Allgemeines" als Seinsbestimmung anzusehen ist, die im Vollzug des jeweiligen Erkennens im Verstände zu aktualisieren ist, ist für den mittelalterlichen „Realismus" maßgebend, der z. B. von —»Thomas von Aquin vertreten wird. Seiner These von der „Realität" der untversalta treten Vertreter des —»Nominalismus entgegen, die, wie etwa Johannes—»Duns Scotus und Wilhelm von—»Ockham, das Universale als Fiktum, als ein Gebilde des Intellekts bestimmen und Realität nur den Einzeldingen zubilligen. Von dem im —»Universalienstreit auftretenden „Realismus" ist diejenige Position grundlegend zu unterscheiden, der man im 19. Jh. den Namen des erkenntnistheoretischen Realismus gab. Letzterer steht insbesondere als „kritischer" Realismus in nominalistischer Tradition. Dessen These beinhaltet, daß sich unsere Begriffe und die im Dienste des Erkennens gebildeten Vorstellungen wohl auf Reales im Sinne an sich seiender Dinge beziehen, dieses aber in einer unserer Subjektivität gemäßen Form auffassen. Allgemeine Inhalte wie die der Mathematik sind dann nicht als realia anzusprechen, sondern als Produkte unseres Verstandes (M. Grabmann, Die Gesch. der scholastischen Methode, Berlin, 1/2 2 1956). 3. Veränderte Auffassung

der

Erkenntnissituation

Die Wendung zum neuzeitlichen, das „Gesetz" statt des „Wesens" als maßgebendem Erkenntnis- und Seinsprinzip zugrundelegenden Erkenntnistypus war mit der Herstellung einer neuen Erkenntnissituation verbunden. In dieser gibt sich der Erkennende die Stellung eines Sub-jekts, welches sich dem Erkenntnisgegenstand als dem Ob-jekt gegenüberstellt. Damit ist nicht die Abweisung einer ontologischen Begründung des Erkennens überhaupt verbunden, sondern ein anderes ontologisches Konzept, eine Wendung in der Auffassung vom Sein des Gegenstandes und in der dazugehörigen Stellung des Erkennenden, der die Rolle des Subjektes übernimmt. Durch diese Wendung wird das die neuzeitliche Erkenntnistheorie bestimmende Subjekt-Objektmodell begründet. Es repräsentiert das Erkenntnisprogramm, demzufolge das Subjekt den Anspruch erhebt, die Maßstäbe für gültig und nicht gültig, Realität und Nichtrealität, wahr und nicht wahr, selbst zu setzen, das Sein des Gegenstandes, seine „Gegenständlichkeit" von sich aus zu bestimmen und das Wesen aufzulösen. Das Subjekt unternimmt es, den Dingen auf eigene Faust ihre Einheit zu verleihen und sie mit anderen Dingen in Beziehung zu setzen. Was die Wendung in der Bedeutung des Wortes „Subjekt" angeht, welches jetzt den Selbständigkeitsanspruch des Erkennenden gegenüber dem Sein des Gegenstandes, nicht mehr das gegenständliche Wesen ausdrückt, so ist zu bemerken, daß die philosophisch bewußte Verwendung dieses Wortes in der neuen Bedeutung konsequent von Kant an festzustellen ist, während es gelegentlich auch schon früher gebraucht wird, so wenn etwa —»Leibniz vom „Subjectum ou Pame" spricht (Op. philosophica, ed. J.E. Erdmann, Berlin 1840, 645). Dadurch schafft sich das Subjekt eine neue Erkenntnissituation, in der es die Selbständigkeit des „Wesens" nicht mehr anerkennt und die Kontrolle über das Sein des Gegenstandes und dessen Einheit selbst übernimmt. Auf diese Weise vermag es den Anspruch der Herrschaft über dieses Sein zu verwirklichen. In der so geschaffenen Erkenntnissituation wird der Anspruch des Subjekts, die Welt und das Sein des Gegenstandes nach den Prinzipien des eigenen Verstandes aufzubauen, maßgebend. Wenn beim Erkennen nicht mehr an der Wesensform Maß genommen werden soll,

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sondern es darum geht, durch selbständige Arbeit des Verstandes den Gegenstand und die Erkenntnis von ihm methodisch durch Z u s a m m e n s e t z u n g aufzubauen, dann müssen die dabei zu verwendenden „Elemente" in wahrnehmenden, handanlegenden, Einwirkungen erleidenden und reagierenden Handlungen des Subjekts gewonnen worden sein. Dieses will selbst unmittelbar dabei sein, wenn ihm Wahrnehmungsinhalte gegeben werden, da es sich den Zweck setzt, die Aufgaben arbeitend zu bewältigen, die durch die Wirklichkeit gestellt werden, wenn frei gewählte menschliche Zwecke verwirklicht werden sollen. Von dieser Mentalität wird die „empiristische" Erkenntnistheorie bestimmt, welche das erfahrende Selbst-dabei-sein für den Aufbau der Erkenntnis maßgebend sein läßt. Das Ziel der begrifflichen und technischen Beherrschung der Wirklichkeit verfolgt auch der sogenannte —»„Rationalismus", den ich als „Theorationalismus" bezeichnen werde. Aber er beruft sich auf ein in eine entgegengesetzte Richtung weisendes Motiv: dasjenige der reinen, vorgängigen (apriorischen) Vernunft, welche die Prinzipien vor allem der Mathematik begründet. Diese Wissenschaft hat die begrifflichen und sprachlichen Mittel zu liefern, mit deren Hilfe der Verstand Souveränität über Erfahrungsgehalte zu gewinnen vermag, die, vom Standpunkt des Rationalisten aus gesehen, f ü r das Subjekt die Gefahr in sich schließen, es in der Vielheit der auf es einstürmenden Erfahrungsgehalte befangen zu machen. 4. Empirismus

und

Positivismus

Zunächst mag der empiristische Ansatz skizziert werden, für den Locke als W o r t f ü h r e r auftreten soll (—»Empirismus). Dabei kann auf dessen Rede von der „Tabula rasa" hingewiesen werden, welche im Sinne der neuzeitlichen Erkenntnistheorie den Anfangszustand der Leerheit des Bewußtseins repräsentiert, auf dessen „ T a f e l " die Erfahrung, verbunden mit der Arbeit des Denkens, ihre Worte und Sätze zu schreiben hat. Das erkenntnistheoretische Denken Lockes zeigt, daß es sich naturwissenschaftlicher Modelle bedient, um den Aufbau des Erkennens begreifen zu können. Es ist hier die Rede von „Elementen", aus deren Zusammensetzung gedankliche Komplexe und Zusammenhänge erklärt werden sollen. Keine an sich bestehende Wesenheit verdient Anerkennung; vielmehr sind gegenständliche Einheiten Ergebnis des die Vielheit der gegebenen einfachen Wahrnehmungsideen zusammenfassenden Verstandes. Dieser baut das Gebäude der Wissenschaft durch Komplexion von „Ideen" (reflexiort) auf, wobei die Wahrnehmungsideen zugrunde liegen. Locke spricht vom „ g r o u n d w o r k " , dem Fundament, welches gelegt werden muß, damit das Gebäude des Wissens darauf aufgerichtet werden kann. Nach diesem Modell ist das Programm zu begreifen, welches Locke der Erkenntnistheorie setzt, nämlich „den Ursprung, die Gewißheit und den Umfang der menschlichen Erkenntnis" zu untersuchen. Es erfordere „Anstrengung und Fleiß, unsere Begriffe zu untersuchen, bis sie in die klaren und bestimmten einfachen Ideen aufgelöst sind, aus denen sie zusammengesetzt sind, und zu sehen, welche unter diesen einfachen Ideen eine notwendige Verknüpfung und Abhängigkeit voneinander haben, welche nicht" (Works, London, I 1812,2,23,28). Locke bekräftigt die in der naturwissenschaftlichen Ontologie seit Galilei hergestellte Erkenntnissituation, dergemäß das gegenständliche Sein nicht im Wesen, sondern in Produkten gesucht wird, die der Verstand, dessen Arbeit in der Zusammensetzung besteht, aus gegebenen Inhalten der „sensation" gewinnt. Dem Verstand sind relativ „einfache Ideen" wie z.B. Sinnesdaten „ ä u ß e r e r " und „innerer" H e r k u n f t gegeben. Durch Herstellung von Relationen zwischen ihnen vermag er gegenständliches Sein als Einheit herzustellen. So kann er das Zustandekommen der „zusammengesetzten Ideen" aus den einfachen unter Berufung auf die Verbindungsarbeit des Verstandes erklären. Locke stellt sich auf einer frühen Stufe des Empirismus eine Aufgabe, die später Carnap unter dem Namen der „Konstitutionslehre" der Begriffe zu erfüllen versucht hat. So wird z. B. die Idee des Raumes aus der Idee des Abstandes, der Entfernung, Erstreckung und den Modifikationen dieser Idee, der Wiederholung, Verbindung und Entwicklung rekonstruiert (ebd. Kap. 15). Dieser Ansatz führt konsequentermaßen zur Kritik an der „Substanz" im aristotelischen Sinne, die nicht als selbständiges Wesen Anerkennung finden darf, da alle Einheiten und Verbindungen auf der Arbeit des Verstandes beruhen. Analog hat—»Hume an

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Erkenntnis/Erkenntnistheorie

der auf dem aristotelischen Substanzgedanken beruhenden Deutung der Kausalität Kritik geübt, die nicht mehr als ein „Hervorbringen" Geltung beanspruchen sollte. Die dem neuen Erkenntnistypus entsprechende Situation des Erkennens gibt dem Erkenntnistheoretiker seitdem ein Problem auf, welches immer wieder unter neuen Voraussetzungen zu beantworten ist, dasjenige nämlich der „Realität". Es kann als Frage so formuliert werden: Worin ist die Bürgschaft für die Realitätsgeltung unserer Begriffe und Aussagen gegeben, wenn wir darauf verzichten, sie im „Wesen" zu sehen? Sofern der Empirist den Realitätsbezug nur auf der Stufe der Gewinnung einfacher Empfindungsideen annimmt, aber schon die Verbindung zu Dingbegriffen als Leistung des Verstandes deutet, gewinnt für ihn das Realitätsproblem besondere Brisanz. So ist es schon problematisch, wenn Locke es sich zumutet, zwischen den primären und den sekundären Qualitäten in dem Sinne zu unterscheiden, daß erstere in der „Sache selbst" zu finden seien, während letztere durch die besondere Organisation des menschlichen Wahrnehmungssystems bedingt sind. Es ist andererseits konsequent, wenn Locke Erkenntnis nicht als Einsicht in objektive Zusammenhänge, sondern als Wahrnehmung des Zusammenstimmens verschiedener Ideen deklariert. Als Typen dieses Zusammenstimmens werden Identität, Verschiedenheit, Relation, Koexistenz und schließlich notwendiges Beisammensein genannt. Koexistenz z. B. wird zwischen einzelnen Tatsachen wie etwa Handschrift und Charakter als Faktum feststellbar. Es gibt abstrakte Ideen von der Art der mathematischen, welche Gegenstand von Sätzen sind, bei denen die (notwendige) Übereinstimmung des Prädikats mit dem Subjekt durch ein Beweisverfahren geprüft werden soll. Läßt Locke für die naturwissenschaftliche Erkenntnis die induktive Methode und das ihr gemäße Verfahren der Abstraktion maßgebend sein, so sieht er in der Mathematik die Deduktion als das geeignete Verfahren an. Hier ist das Denken nicht an realitätsfundierte Ideen gebunden, sondern bringt seine Vorstellungen in freien Entwürfen hervor. Da es die Auffassung Lockes von Erkenntniskritik nicht erlaubt, einen vorgängigen (apriorischen) Bezug zwischen Denken und Realität zugrunde zu legen, wird für ihn die Beantwortung des Anwendungsproblems, d.h. der Frage schwierig, wie die Anwendung mathematischer Begriffe auf die Wirklichkeit erklärbar sei. Von universalen Sätzen etwa von der Art der mathematischen kann Locke daher nur sagen, daß sie sich nicht auf existente Dinge beziehen sowie „alle besonderen Behauptungen . . . nur existente Dinge betreffen; sie sagen nur etwa über die zufällige Verbindung oder Trennung von Ideen in existierenden Dingen aus, die keine notwendige Verbindung oder Unverträglichkeit aufweisen (Works I [s. o.], 4,9). Von Locke aus gesehen kann der Anspruch —»Newtons, mathematische Prinzipien der Naturphilosophie darzustellen, nicht durch einen notwendigen Bezug zwischen Denken und Realität begründet werden.

Auf eine moderne empiristische Version, die des sogenannten logischen Empirismus mag hingewiesen werden. In diesem Programm wird nicht der Aufbau der Erkenntnis aus Grundbausteinen, die miteinander verbunden werden, zum Thema, sondern die Abhängigkeit der Begriffe und Sätze der schon gewonnenen modernen naturwissenschaftlichen Theorie. Dabei liegt der Akzent nicht auf der Aufgabe, den Aufbau der Erkenntnis zu erklären, sondern auf derjenigen, eine systematisch-logische Theorie für den Aufbau eines Systems der Sätze und Begriffe der Erfahrungswissenschaft zu leisten, also die Ergebnisse der bisherigen Erkenntnisarbeit der Wissenschaftler zu systematisieren. Dieser Ansatz ist als „positivistisch" (—• Positivismus) in dem Sinne zu bezeichnen, daß hier nur die durch Naturwissenschaft im exakten Sinne der Physik gewonnenen Aussagen über Wirklichkeit gelten, während „metaphysische" Begriffe und Aussagen, deren Thema das gegenständliche Sein als solches ist, als sinnlos erklärt werden. Schon die Rede von einer „außerhalb der Wahrnehmungen existierenden Wirklichkeit" wird im ,Wiener Kreis', von dem Carnap ausgegangen ist, verpönt (Ph. Frank: Erkenntnis 2 [1931] 186). Auch bei Carnap wurde der „Sinn" der Aussagen nur in „Umformungen des Erlebnisgegebenen" gesehen. Dagegen hat M . Schlick den Bezug unserer Aussagen auf „reale" Gegenstände im Rahmen des empiristischen Denkens zu retten versucht (Positivismus u. Realismus: ebd. 3 [1932/1933] 1 ff; vgl. auch V. Kraft, Der Wiener Kreis, Wien 1950,163). Der Realitätsbezug unserer Begriffe und Aussagen sei durch das Erlebnisgegebene, welches in „gesetzmäßigen Zusammenhängen" steht, verbürgt. Man darf z. B. auf Grund der psychologischen Wissenschaft aus der Wahrnehmung von Ausdrucksphänomenen auf seelische Zustände schließen. Die Redewendung, daß eine Sache „unabhängig von uns existiert", habe einen klaren

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und prüfbaren Sinn und die in ihr enthaltene Behauptung sei zu bejahen. Das „Reale" wird hier nicht, wie es etwa bei Locke der Fall ist, in der Form einzelner isolierter Sensationsinhalte gegeben und begründet, sondern als Exponent physikalischer Theoriezusammenhänge; es wird hier ein szientifischer Realitätsbegriff vertreten. Auf diese Weise geht der Positivist einer „metaphysischen" Begründung der Realität aus dem Wege. Es wird die positivistische Intention deutlich, Erkenntnis, Erfahrung, Wissenschaft und Realitätsverständnis auf die RealitätsfM«H«ttg der modernen Wissenschaft zu begründen. Von hier aus ist nur ein kleiner Schritt zu dem szientifischen Realitätsbegriff der „kritisch-realistischen" Erkenntnismetaphysik Nicolai Hartmanns, in welcher unsere Begriffe und Aussagen als fundiert auf „an sich Seiendes" deklariert werden, wobei dem realistischen Programm entsprechend die philosophische Rede vom „An-sich-sein" nicht immanental umgedeutet, sondern in ihrer Seinsbedeutung stehengelassen wird. Carnap stellt sich im Sinne des Aufbaus eines „Konstitutionssystems" der Begriffe die Aufgabe, die in den exakten Wissenschaften gebrauchten Namen und Begriffe auf die Form eines architektonischen Systems zu bringen, in dem jedem Begriff seine Stelle zukommt. Er versteht unter der Konstitution eines Begriffes dessen Definition durch Sätze, die aus anderen Begriffen bestehen. Das Gebäude des definitorischen Aufbaus der Begriffe ruht auf „Grund-begriffen", welche als erste und undefinierbare Bausteine anzusehen sind. Gemeint sind die Bedeutungsinhalte, die nur in Erlebnissen aufweisbar sind. R. Carnap charakterisiert seinen Standpunkt als den eines „methodischen Solipsismus" und will damit sagen, daß jeweils „ich" immer nur selbst das Gegebene zu erleben vermag (Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928, 139ff). Dabei wird der Versuch gemacht, die Bedeutung des Wortes „Ich" auf dem Umweg über die Psychologie einzulösen. Es ist charakteristisch für die szientifische Befangenheit Carnaps, daß z. B. der Physiker, wenn er eine Messung als „seine" Wahrnehmung bezeichnet, dieser Rede erst auf Umwegen über das Wissenschaftssystem Bedeutung geben kann, zu dem auch die —»Psychologie gehört, in der das „Ich" angeblich studiert wird. Das Gegebene ist „ursprünglich" nicht Gegenstand „meines" Erlebnisses, sondern im Grund ergibt es sich aus dem wissenschaftlichen Begriffssystem. Carnaps Methode unterscheidet sich von der atomistisch-zusammensetzenden Lokkes darin, daß er erkennt, daß ein Empfindungsatom nicht als konkret reale Verankerung der Erkenntnis gelten kann, sondern selbst als Abstraktionsprodukt angesehen werden muß. Er beginnt daher bei allgemeinen Klassen und versucht durch zunehmende Komplizierung der Beziehungen am Ende die Begriffe zu gewinnen, die den Elementarempfindungen entsprechen. Daß auf diesem Wege nur ein vom allgemeinen System her bestimmtes besonderes, aber nicht ein individuelles Erlebnis rekonstruiert werden kann, ist unter anderem hiergegen einzuwenden. So wird z. B. mein Leib als Tast-Seh-Ding aus diesem System zu rekonstruieren versucht. Unter positivistischer Voraussetzung wird die Frage des Realitätsbezuges, die von einer Auslegung des gegenständlichen Seins Gebrauch macht, durch diejenige nach dem Sinnkriterium von Sätzen ersetzt. Diese fragt nach einem Maßstab dafür, welcher Satz als wissenschaftlich „sinnvoll" angesehen werden kann. Hierzu hat z. B. L. Wittgenstein mit der These Stellung genommen, daß die Bedeutung eines Satzes in der Methode seiner „Verifikation" bestehe (vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphil., Stuttgart 3 1965, 381 ff). Carnap deutet diese These dahin, daß sie nicht besage, jedes Wort in einem Satz müsse eine durch Konfrontation mit Sinneswahrnehmungen aufweisbare Bedeutung haben, aber der Satz als ganzer muß als Ausdruck eines Sinneserlebnisses deutbar sein. Ein Satz, der nicht zugleich auch als Methode seiner Verifikation aufgefaßt werden kann, muß als „Scheinsatz" erklärt werden, wie es z. B. alle metaphysischen Aussagen sind (vgl. Kaulbach, Einf. [s.o.] 226). Zu erwähnen sind noch gegenwärtige empiristische Ansätze in der Erkenntnistheorie, in denen von kybernetischen Modellen Gebrauch gemacht wird; in anderen wieder bedienen sich Erkenntnistheoretiker der Kategorien der Informatik (vgl. F. Kaulbach, Phil. u. informationstheoretische Erkenntnistheorie: Zur Phil, der mathematischen Erkenntnis, hg. v. B. Barnozcki/F. Kaulbach, 1981).

152 5.

Erkenntnis/Erkenntnistheorie Theorationalismus

Gegen den Empirismus bringen Denker wie Descartes, Malebranche, Spinoza, Leibniz u.a. zur Geltung, daß er es nicht vermöge, den Anspruch der exakten —»Naturwissenschaft z.B. im Bereich der Mechanik auf notwendige und allgemeingültige Aussagen zu erklären; daß er es ebensowenig vermag, die Frage der Möglichkeit der Anwendung der—»Mathematik auf erfahrene Wirklichkeit befriedigend zu beantworten; auch daß er die Frage des Realitätsbezuges der vom erkennenden Subjekt gebildeten Begriffe und Urteile nicht zu beantworten und solchen Kategorien wie Substanz und Kausalität keinen objektiven Sinn zu geben vermag. —»Leibniz, der als Kronzeuge gegen Locke angehört werden soll, zumal er in seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk ausdrücklich die Rolle des Opponenten gegen diesen Denker übernimmt (Nouveaux Essais sur l'entendement humain hg. u. übers, v. W. v. Engelhardt/H.H. Holz, 2 Bde., Frankfurt 1961), moniert an der empiristischen Begründung des Erkennens, daß sie den Erkennenden vom Gegebenen abhängig mache und ihn zur Passivität verurteile. Das Subjekt kann aus reinem Verstand (a priori) Aussagen über das Seiende als solches machen. Es kann ontologische Erkenntnisse gewinnen, wie etwa die, daß nichts ohne zureichenden Grund geschieht, oder die, daß die Identität einer Sache im individuellen Sinne aufzufassen sei und absolute Unvergleichlichkeit und unbedingtes Einssein bedeutet, welches dann schon nicht mehr gegeben ist, wenn auch nur bei sonstiger totaler Ununterschiedenheit eine Differenz in einem einzigen möglicherweise uns verborgenen Punkte gegeben ist. Um die Möglichkeit, apriorische Aussagen über Seiendes machen zu können, zu erklären, wird von den Denkern dieser Gruppe eine metaphysische Hypothese gebraucht, in welcher Gott als Repräsentant der Vernunft und als Weltschöpfer zugleich die Kluft zwischen der Vernunft des Menschen und dem Sein überbrückt. In ihr wird angenommen, daß er in der menschlichen Vernunft „eingeborene" Ideen angelegt habe, die im Seienden eine pünktliche Entsprechung finden. Der für diesen Ansatz charakteristische Rekurs auf Gott ist der Grund für dessen Benennung als „Theorationalismus".3 Locke hatte gegen die „eingeborenen Ideen" einen Reichtum von Gegenargumeten vorgebracht. Sein prinzipieller Einwand stützte sich auf den methodischen Gedanken, daß vorhandene, in unserem Geiste vorgefundene und die Erkenntnis als solche produzierende Ideen nicht anerkannt werden dürfen; vielmehr muß jede Idee, die Geltung beanspruchen kann, durch die selbständige Arbeit des Subjekts, bei der zugleich auch Geltungskontrolle ausgeübt wird, hervorgebracht und dadurch auch legitimiert sein. Leibniz aber wendet gegen die Tabula-rasa-Vorstellungen Lockes ein, daß der menschliche Verstand schon immer ein Wissen vom Sein haben müsse, wenn er Erfahrungserkenntnisse gewinnen wolle. Daher darf der Verstand nicht als leer und gegenüber allen möglichen Inhalten, die von „draußen" in unser Bewußtsein angeblich eintreten sollen, als indifferent angenommen werden. Er muß vielmehr als in sich von vornherein (a priori) organisiert und mit Ideen begabt aufgefaßt werden. Dabei muß man den von Locke in seiner Polemik gegen die eingeborenen Ideen nicht beachteten Unterschied bedenken, daß solche Ideen, von denen der Erkennende Gebrauch machen muß, ihm deshalb als Voraussetzungen des Erkennens nicht bewußt sein müssen; jeder vermeidet den Widerspruch, aber wenige philosophisch Geschulte kennen den S a n vom Widerspruch. Die vom Empiristen in Anspruch genommene Aktivität des erkennenden Subjekts fordert gerade, über den Empirismus hinauszugehen und sich über die einzelnen, besonderen Erfahrungsinhalte in der Weise überlegen zu zeigen, daß man Zugang zum Notwendigen und Allgemeinen auf dem Wege der eingeborenen Ideen sucht. Nicht die Erfahrung des Einzelnen, sondern die Verfügung über das Prinzipielle ermöglicht Aktivität des Subjekts. Während Locke davon gesprochen hatte, daß das Subjekt zu abstrakten Ideen „disponiert" sei, die es aber durch gedankliche Arbeit erst gewinnen müsse, prägen nach Leibniz die Ideen a priori unser Denken. Er erhebt den Anspruch, dem von Locke in die Debatte geworfenen Gedanken des An-eignens unserer Ideen durch Arbeit nicht etwa durch die Annahme von schon immer eingeborenen Ideen zu widersprechen, sondern, im Gegenteil, die Berufung auf Aktivität noch zu betonen. Wenn man, wie der Empirist, die Leistung des Denkens nur im Sinne eines Vergleichens und Beziehens gegebener empirischer Inhalte interpretiert, dann gibt man ihm eine geringere Möglichkeit selbst-ständigen Handelns beim Erkennen, als in dem Falle, in welchem man Denken als Aktivieren und Handhaben eigener Ideeninhalte begreift und es nicht davon abhängig macht, ob ihm „von außen" her Inhalte gegeben werden. Gegen das Lockesche Bild vom Bewußtsein als einer Tabula rasa bringt Leibniz das Gegen-bild vom Marmor zur Geltung, der in sich schon Adern hat. Als Ideen solcher A n sind Zahl, Raum, Ausdehnung, Zeit, Welt usw. anzusehen

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(Nouveaux Essais [s.o.] 1,1,26). Auch die Idee des Seins gehört dazu: „Und ich möchte wohl wissen, wir die Idee des Seins haben könnten, wenn wir nicht selbst Seiendes wären und so das Sein in uns fanden" (ebd. 23). Die allgemeinen Prinzipien des Seienden, die sich auf der Seite unseres Erkennens als apriorische Ideen erweisen, gehen „in unser Denken ein und bilden dessen Seele und Zusammenhalt. Sie sind hierfür so notwendig, wie es die Muskeln und Sehnen zum Gehen sind, wenn man auch nicht daran denkt." Wir haben Vieles in unserem Besitz, ohne es zu wissen (ebd. 20). Im Grunde genommen bringt unser Denken alles, auch die sogenannten empirischen Begriffe und Urteile aus sich hervor, da es keine Beziehung zwischen außen und innen sowie keinen Einfluß von Seiten sinnlich wahrnehmbarer, physischer Gegenstände auf unser Bewußtsein gibt. Dieses ist als monadisches Bewußtsein vollkommen autark; es hat keine Fenster, durch die es nach „draußen" sehen würde und durch die von dort Inhalte in das Bewußtsein eindringen würden und bedarf ihrer auch nicht. Um aber gleichwohl eine Entsprechung zwischen unserem Denken und der Realität erklären zu können, legt Leibniz die berühmte Hypothese der prästabilierten Harmonie zugrunde, deren erkenntnistheoretische Bedeutung darin besteht, unser Denken und die Realität aufeinander abzustimmen. In dieser Hypothese versucht Leibniz seiner These von der Aktivität der die Vorstellungen produzierenden Seele, die nach seiner Auffassung mit einer passiven Tafel nicht verglichen werden darf, eine entscheidende Stütze zu geben. Danach vermag die Seele in „immerwährender Tätigkeit, ohne jemals zur Ruhe zu kommen", Gedanken zu produzieren und darf sich dessen gleichwohl sicher sein, daß diese eine Entsprechung in der Realität finden. Sie können in der Form der „petites perceptions" ein kaum merkbares Leben in unserem Geiste führen. Auf jeden Fall ist gewiß, daß jeder Gedanke immer dem korrespondiert, was in demselben Augenblick im Bereich leiblicher Empfindungen geschieht und sich zugleich in der Realität ereignet. Von dieser Voraussetzung her kann Leibniz der Vorstellung des atomistischen Aufbaues der Erkenntnis aus einfachen Vorstellungselementen ein Modell entgegensetzen, in welchem das Ganze zugrunde gelegt wird, das nicht als aus einfachen Teilen bestehend (Aggregat) gedacht wird, sondern als unteilbar zu verstehen ist; es vergegenwärtigt sich als Ganzes in jedem „Teil". Nicht einzelne Sinneseindrücke, die angeblich in der Form einfacher Ideen im Bewußtsein auftreten, werden zusammengesetzt, um komplizierte Beziehungen zu ergeben, sondern das Ganze aller Weltbeziehungen wird in jedem einzelnen Eindruck repräsentiert. Leibniz weist dem empiristischen Denken einen Platz in dem Bereich an, den er den der „vérités de fait" nennt, denen keine Notwendigkeit eignet; im Unterschied zu den „vérités de raison", die ewig gültig und notwendig sind. Der Unterschied zwischen beiden Formen der Wahrheit gilt allerdings nur für unseren endlichen „point de vue", der es uns nicht erlaubt, die absolute Notwendigkeit, die vollkommen nur der göttliche Verstand durchschaut, an die Stelle des Zufalls zu setzen. Aber auch für unseren endlichen Verstand muß es als Devise gelten, nirgends bei einer Feststellung des Zufalls stehen zu bleiben und überall auch dort wenigstens prinzipiell den notwendigen Zusammenhang vorauszusetzen, wo wir ihn noch nicht erkannt haben. Wir müssen die unserer endlichen Erkenntnisperspektive eigentümliche Situation gelegentlicher Unsicherheit und Ungewißheit selbst wieder rationalisieren und in den Griff bekommen, wie das z.B. im Falle der Wahrscheinlichkeitsrechnung geschieht. Hier wird der Zufall einer Berechnung zugänglich gemacht. Auch die Erfahrung mit ihren Zufälligkeiten selbst, welche die Domäne des Empiristen darstellt, ist unter diesem Gesichtspunkt als Aufgabenfeld zu betrachten, in welchem Ungewißheiten dadurch unter dem Aspekt letzter, uns nur prinzipiell, aber nicht im Einzelnen einlösbarer Notwendigkeit beurteilt werden, daß wir uns in den Stand eines vollkommenen Verstandes versetzen. D i e Frage ist, o b es eine rationalistische Begründung der Erfahrungswissenschaft gibt, die aber gleichwohl als auf d e m Boden der Kritik stehend, v o n der theorationalistischen O n tologie der Identität zwischen D e n k e n u n d Sein keinen Gebrauch macht. Als rationalistische Auffassung müßte eine solche Erkenntnistheorie die Quelle unserer Erkenntnis im subjektiven Verstände suchen, der in apriorischen Entwürfen das System der Wissenschaft o h n e Verwendung v o n Wahrnehmungsinhalten aufzubauen hätte. V o n diesen Entwürfen k ö n n t e man dann freilich nicht v o n vornherein annehmen, daß sie einen ursprünglichen u n d notwendigen Bezug zur Wirklichkeit haben. D a h e r müßte der Rationalismus dieser Art ein Kriterium bereitstellen, n a c h w e l c h e m die Bedeutsamkeit v o n Sätzen für Erfahrung festgestellt werden kann. D a s ist der Fall des kritischen Rationalismus Poppers. 6. Kritischer

—»Rationalismus

Z w e i Eigenschaften müssen sich Popper z u f o l g e an einem Satzsystem finden, w e n n es erfahrungswissenschaftliche Relevanz beanspruchen will. Erstens ist Prüfbarkeit im Sinne der „Falsifizierbarkeit" zu verlangen, und zweitens m u ß feststehen, d a ß wirkliches Falsifiziertsein bisher ausgeblieben ist. Kurz: Gültigkeit einer Theorie setzt fehlende Widerlegung bei

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Erkenntnis/Erkenntnistheorie

vorhandener maximaler Widerlegbarkeit voraus. Da der Ansatz des kritischen Rationalismus die Gültigkeit einer Theorie im Interesse der Ontologiefreiheit nicht auf positive Übereinstimmung a priori zwischen Denken und Sein begründet, muß er sie auf Nicht-nichtübereinstimmung zurückführen. Dabei muß die Möglichkeit des Nachweises der Nichtübereinstimmung, also die Falsiflzierbarkeit gegeben sein, wenn es sich jeweils um sinnvolle wissenschaftliche Sätze handeln soll. Der rationalistische Anspruch in dieser Theorie bedingt es, daß nicht Verifizierbarkeit, sondern Falsiflzierbarkeit für die Empirie-gültigkeit von Sätzen gefordert wird. Die Gültigkeit allgemein gültiger und notwendiger Aussagen ist nicht durch Bestätigung in einem einzelnen Fall (Verifizierung), sondern nur dann prüfbar, wenn die Aussagen in der Form eines Verbotes auftreten, für welches im Prinzip ein Gegenbeispiel möglich sein muß. Alle sogenannten metaphysischen Aussagen, also etwa die der ewigen Wiederkunft alles Gleichen, haben die Eigenschaft der Nichtfalsifizierbarkeit und scheiden daher als mögliche wissenschaftliche Sätze von vornherein aus. In diesem Zusammenhang spricht Popper von einem Abgrenzungskriterium der wissenschaftlichen Sätze gegenüber denen eines anderen, etwa des metaphysischen Typus. Wissenschaftliche Sätze, die zwar falsifizierbar sind, für die aber die Falsifizierung bisher ausgeblieben ist, werden von ihm als „bewährt" bezeichnet.

Die Gültigkeit einer Theorie, die beansprucht, Darstellung eines Systems von Erkenntnissen zu sein, wird an der „Realität" geprüft, indem aus ihr Singularsätze abgeleitet werden, die mit „Beobachtungssätzen" konfrontiert werden. Zeigt sich Übereinstimmung, so darf man von Bewährung der Theorie sprechen. Im andern Falle hat sich Falsifikation ereignet und der Theorie muß, so will es der reine „Falsifikationismus" Poppers, die Anerkennung entzogen werden. Was die „Beobachtungssätze" angeht, so sind sie selbst wieder von Theorien abhängig, die ihrerseits einer Prüfung bedürfen und so ins Endlose. Um den Regressus abzuschneiden, muß eine konventionelle Entscheidung für die Gültigkeit der sie tragenden Theorie getroffen werden. Im Anschluß an die von Popper im Sinne des Falsifikationismus getroffene Antwort auf die Frage nach der Überzeugungsmotiviertheit einer Theorie ist in der Schule Poppers eine Kontroverse in Gang gekommen, in welcher die Thesen des kritischen Rationalismus weitgehend relativiert werden (vgl. den Sammelband Kritik u. Erkenntnisfortschritt, hg. v. J. Lakatos/A. Musgrave, Braunschweig 1967). Vor allem wurde das Problem der Überzeugungsmotivation für eine Theorie neu gestellt, nachdem die Falsifikation und die ihr korrespondierende Bewährung als nicht ausschließlich motivierend für die Verwerfung bzw. die Anerkennung einer Theorie erkannt worden war. Die Hauptschwäche des kritischen Rationalismus kann darin gesehen werden, daß er einerseits Realitätskontakt, den der Empirismus auf dem Wege der Empfindung und Wahrnehmung sucht, vermeidet, andererseits aber von keinem apriorischen Bezug Gebrauch macht, der das Denken mit dem Sein des Gegenstandes verbinden würde und so eine notwendige Beziehung zwischen den Entwürfen des Verstandes und dem gegenständlichen Sein erklären könnte. Ein solcher Bezug beruht für den kritischen Rationalismus letztlich auf reinem Zufall. Es ist als Stärke des transzendentalen Ansatzes der Erkenntnistheorie zu verstehen, daß er einerseits einen deus ex machina im Sinne des Theorationalismus vermeidet, andererseits aber doch von einem ontologischen Bezug zwischen Denken und gegenständlichem Sein Gebrauch macht. 7. Der transzendentalphilosophische

Ansatz

Kants

Kants Erkenntnistheorie versteht sich als „ontologisch", insofern sie den für alles besondere Erkennen (Erfahren) grund-legenden und ermöglichenden Bezug zwischen den reinen Verstandeshandlungen des Subjekts und dem gegenständlichen Sein als solchem zum Thema macht. Die transzendentale Methode-»Kants besteht darin, das System derjenigen, alle Erfahrung ermöglichenden und für sie grundlegenden apriorischen Handlungen des reinen Verstandes darzustellen, durch welche nicht einzelne Gegenstände oder eine Klasse von Gegenständen erkannt werden, sondern das gegenständliche Sein als solches bestimmt wird. Diese Handlungen, die aller wirklichen Erkenntnis apriorischer und aposteriorischer Art zugrunde liegen und diese ermöglichen, sind nicht am Sein der Gegenstände, sondern an dem

Erkenntnis/Erkenntnistheorie

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ihres gegenständlichen Charakters, ihrer Gegenständlichkeit als solcher ablesbar. Sie sind selbst „Gegenstand" einer transzendentalphilosophischen „Ontologie", die Kant von der alten Ontologie dadurch unterscheidet, daß er sie auf „Erscheinungen", nicht auf „Dinge an sich" bezieht. Kant macht den Anspruch der neuzeitlichen Naturwissenschaft auf Erfahrung nicht weniger, sondern in prinzipiellerer und ernsthafterer Weise zu seiner Sache als dies bei den Empiristen, Positivisten und kritischen Rationalisten geschieht. Er fragt nicht, durch welches Vorgehen des Subjekts „wirkliche" Erfahrung bewerkstelligt wird, sondern nach den ursprünglichen subjektiven Handlungen des Anschauens und Begreifens, auf Grund deren ein gegenständliches Sein zustande kommen kann, welches möglicherweise Objekt wirklicher Erfahrung werden kann. Kurz: er fragt nach den Strukturen und „allgemeinen" Gesetzen möglicher Erfahrung, welche den Boden für wirkliche Erfahrung darstellen. Das erkennende Subjekt erweist sich als Gesetzgeber der „allgemeinen" Gesetze des Bereiches möglicher Erfahrung. Durch diese Gesetzgebung wird das gegenständliche Sein der Gegenständen priori bestimmt (F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Phil. Kants, Berlin 1978). Die vom Subjekt erlassenen allgemeinen Gesetze der Natur dienen dazu, über das Sein der Gegenstände das Netz der Notwendigkeit zu werfen und dadurch die Natur in die Hand zu bekommen. Damit ist die Ontologie des Gesetzes gegenüber derjenigen des Wesens zur Herrschaft gebracht. Die „Copernicanische Wendung" kann auch als diejenige vom Wesen zum Gesetz interpretiert werden. In ihr wird eine Erkenntnissituation hergestellt, in welcher das Subjekt dadurch seine „Freiheit" behauptet, daß es die Natur, d. h. den Bereich zu erkennender Gegenstände durch den Erlaß einer allgemeinen Gesetzgebung vernotwendigt. Zu den durch die allgemeine Gesetzlichkeit dem Sein der Gegenstände verliehenen Zügen gehört z. B. die—»Kausalität, die Substanzialität, quantitative Bestimmtheit; auch eine bestimmte Modalität im Gewißheitsgrad der Aussagen. Durch diese Gesetzgebung wird den Gegenständen eine bestimmte Verfassung ihres gegenständlichen Seins gegeben. Analog wie eine politisch-rechtliche Verfassung, das Grundgesetz, einer Gesellschaft das Fundament und den Rahmen für mögliche einzelne Gesetze gibt, so ergeben sich die einzelnen Naturgesetze auf dem Boden der allgemeinen, der Natur gegebenen „Verfassung". Erfahrung und Erkenntnis der einzelnen Naturgesetze vollziehen sich auf dem Fundament dieser möglichen Erfahrung. Der Anspruch des Subjekts, der Natur als dem Bereich möglicher empirischer Erkenntnisgegenstände diese Verfassung vorzuschreiben, bestimmt auch die Methode, nach welcher die Naturgegenstände bei der Gewinnung von Erkenntnissen behandelt werden. Durch Experimentieren z. B. werden Fragen von der Art an die Natur gestellt, wie sie der Richter an die Zeugen richtet. Diese werden genötigt, Antworten auf Fragen zu geben, die in einem planvollen Zusammenhang bedeutungsvoll sind. Außerdem erscheinen sie nicht zufällig vor dem Richter, sondern werden vor ihn zitiert: So wird die Natur durch experimentelle Maßnahmen „genötigt", auf an sie gestellte Fragen zu antworten. Dieser methodische Aspekt ergänzt den ontologischen, durch den die allgemeinen Züge der Gegenständlichkeit der Naturgegenstände vom Verstände vorgeschrieben werden. Im Hinblick auf beide Aspekte möge hier von der „gefesselten N a t u r " gesprochen werden, die sich von der „freien N a t u r " im Sinne der aristotelischen Physis unterscheidet, die sich als Bereich von „Wesen" darstellt. Demgemäß ist für Kant Natur der Inbegriff von daseienden „Erscheinungen" unter Gesetzen. In dieser Bestimmung ist zugleich der Anspruch des Subjekts zur Sprache gebracht, eine „freie" Stellung den zu erkennenden Gegenständen gegenüber dadurch zu behaupten, daß es sie zu Erscheinungen macht, über die es das Netz der Notwendigkeit wirft. Wenn Kant sagt, daß wir nur Erscheinungen, aber nicht Dinge an sich zu erkennen vermögen, so bringt er damit diesen Anspruch des Subjekts zum Ausdruck und gibt dem erwähnten Satz auch die Bedeutung, daß das Subjekt nicht nur außerstande ist, Dinge an sich zu erkennen, sondern daß es Dinge an sich als Erkenntnisgegenstände nicht anerkennen will (Kaulbach, Phil, der Beschreibung 109ff). Unsere spezifisch menschliche Erkenntnissituation ist von der Art, daß uns in sinnlicher Anschauung die Inhalte „gegeben", während sie durch den Verstand „gedacht" werden. Durch empirische Anschauung werden Erscheinungen wahrgenommen. Durch reine Anschauung wird ihre räumlich-zeitli-

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Erkenntnis/Erkenntnistheorie

che Ordnung erkannt. Während sich die Anschauung rezeptiv verhält, zeigt sich der Verstand bzw. die Vernunft als spontan, als aktiv verbindend. „Reiner", d. i. durch Erfahrung unvermischter und von sich selbst anfangender, die freie Stellung des Erkenntnissubjekts repräsentierender Verstand vollzieht Synthesen a priori. Der Erkenntnischarakter eines Urteils über eine Sache beruht auf dessen Leistung des Verbindens. Im Urteil wird diese Verbindung durch die Copula repräsentiert, die den prädikativen Inhalt mit demjenigen des Subjekts vereinigt. Der Umstand, daß auf Grund der reinen Anschauung apriorische „Elemente" gegeben werden können, die einer Verbindung durch den reinen Verstand bedürfen, fordert das Auftreten des „synthetischen Urteils a priori" heraus, wofür das mathematische Urteil repräsentativ ist. Im Grunde ist alles Verbinden auf die apriorische Handlung des „Ich denke" zurückzuführen (transzendentale Apperzeption). Jede Erkenntnis ist das Produkt einer Handlung des Einigens, an welchem die Tätigkeit des ursprünglich verbindenden „Ich denke" ablesbar ist. Dadurch wird der Anspruch des neuzeitlichen Erkenntnissubjekts erfüllt, selbst Prinzip des Aufbaus der Erkenntnis und zugleich des Seins der Gegenständlichkeit zu sein.

Wenn die Natur ein System von Ding- und Bewegungsgestalten ist, so sind uns diese nicht „gegeben", sondern mit Hilfe unserer Einbildungskraft, in welcher „Ich denke" in ursprünglicher Produktionsbewegung die Gestalten a priori vorzeichnet, entworfen worden. Die Erkenntnisbegriffe der Naturwissenschaft sind anschaulichen Charakters. Ihre Bedeutung besteht in der in ihnen enthaltenen Aufforderung, die Natur als Inbegriff von RaumZeitgestalten zu „konstruieren". Jeder einzelne Gegenstand ist als Konstrukt zu begreifen und durch „bestimmende" Urteilskraft allgemeinen, gesetzlichen Begriffen der Theorie zu „subsumieren". Deutet das Adjektiv „bestimmend" den über das einzelne Anschauliche herrschenden Charakter der allgemeinen Begriffe des Verstandes an, so entspricht das dem Programm der gefesselten Natur. Die Tätigkeit der „bestimmenden" Urteilskraft besteht darin, das „Besondere" der anschaulich gegebenen Inhalte unter das in den diktierenden Begriffen der „Theorie" gegebene Allgemeine zu „subsumieren". Kant überschreitet dieses Programm in dem Bereich, in welchem es um Erkenntnis der lebendigen Natur geht. Hier sieht er für die Urteilskraft die Aufgabe, die einzelnen Erscheinungen nicht als unter dem Diktat des Verstandes stehend zu begreifen, sondern sie als lebendige Erscheinungen wenigstens so zu „beurteilen", als ob sie selbständige, im Sinne freier Natur aufzufassende „Wesen" wären, die eine innere Zweckmäßigkeit zeigen. Kant sieht wenigstens im Bereich des Erkennens der lebendigen Natur ein philosophisches Motiv dafür, dem Programm der Physis als der freien Natur einen Geltungsbereich zu verschaffen. Hier ergibt sich für die „reflektierende Urteilskraft" die Aufgabe, der freien Erscheinung Raum dadurch zu geben, daß für sie das ihr gemäße Allgemeine gesucht wird, unter dem sie „beurteilt" wird. Damit ist das Stichwort für die Betrachtung solcher erkenntnistheoretischer Konzepte gefallen, denen die Aufgabe gestellt wird, gegen die Alleinherrschaft der neuzeitlichen Ontotogie der gefesselten Natur das Prinzip der freien Natur zur Geltung zu bringen. Da ist z. B. an Leibniz zu erinnern, der es wenigstens auf der Ebene des metaphysischen Erkennens als Aufgabe bezeichnet hat, dem individuellen Wesen gerecht zu werden. Als Physiker sei er Mechanist, als Metaphysiker Anhänger des Entelechie- bzw. Substanzgedankens. Wenn die Physiker davon sprechen, daß ein in Bewegung befindlicher Körper einem andern durch Stoß einen Bewegungsimpuls mitzuteilen vermag, dann korrigiert er diese Aussage als Metaphysiker dahin, daß „eigentlich" der angestoßene Körper den neuen Bewegungszustand aus sich selbst heraus hervorbringt. Die Forderung an das Subjekt, sich dem „Gegenstand" gegenüber eine Stellung zu geben, in der dieser selbst als zur Subjektivität zugehörig verstanden und behandelt wird, ergibt sich z. B. aus —»Goethes Verständnis vom Sein des Phänomens etwa in dem Programm, die „Taten und Leiden" des Lichts zu beschreiben, statt dieses, wie es bei Newton geschieht, unter den Zwang des Experimentes der neuzeitlichen Physik zu setzen (Kaulbach, Phil, der Beschreibung 332). In analoger Weise wird in dem „geisteswissenschaftlichen" bzw. hermeneutischen Erkenntnisprogramm etwa bei —»Dilthey dem erkennenden Subjekt die Forderung gestellt, den „Gegenstand", d. h. das menschliche Individuum und seine Taten in ihrer Freiheit, Selbständigkeit und Individualität anzuerkennen. Hier wird nicht„ErkIären", sondern „Verstehen" zur methodischen Devise. Auch in der „phänomenologischen" Erkenntnistheorie —»Husserls wird gefordert, dem als selbständig

Erkenntnis/Erkenntnistheorie

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und frei aufgefaßten Phänomen selbst die Gelegenheit zu geben, das „Wesen" zu zeigen, welches es zur Erscheinung bringt. Nicht die in der wissenschaftlichen Ein-stellung, welche sich nach dem Subjekt-Objektmodell versteht, hergestellte Gegebenheit, sondern die Selbst-gegebenheit des Phänomens ist jetzt maßgebend. Husserls Denken geht seit der Wendung zur „transzendentalen" —»Phänomenologie den Weg zu einem Standpunkt, von dem aus er dem Subjekt die Aufgabe stellt, sich in einem transzendentalen Akt in eine „Welt" (Lebenswelt) hineinzuversetzen. Unreflektiert bleibt hier freilich, daß die diese Welt entwerfende und sie beschreibende subjektive Vernunft sich selbst in einer philosophischen Besinnung als einen Standpunkt in der Geschichte der Vernunft überhaupt einnehmend zu begreifen hat. Von da aus gesehen sind folgende aktuelle Aufgaben vor allem für das Studium der Situation des Erkennens zu nennen. Das Subjekt ist als einen Stand in der Geschichte des Erkennens behauptend zu begreifen. Seine transzendentale Stellung ist dadurch zu berücksichtigen, daß es als in einer von ihm im Entwurf reproduzierten Welt lebend und sich in ihr orientierend verstanden wird. In dieser begreift es sich als in sozialen, rechtlichen und persönlichen Bezügen zu Mitsubjekten stehend und mit Sachen umgehend. Das sich Einrichten in dieser Welt ist als Leistung apriorischer Vernunft theoretischen und praktischen Charakters zu erkennen, welche die Möglichkeit wissenschaftlichen Erkennens fundiert und die „Realit ä t " jedes möglichen Erkenntnisbezuges verbürgt (Kaulbach, Einf. [s. o.] 151 ff). 8. Philosophische

Erkenntnis

Dem am Subjekt-Objektmodell orientierten neuzeitlichen Erkenntnistypus entspricht es, wenn die auf ihn sich beziehende Erkenntnistheorie nicht, wie es der großen Tradition seit Plato und Aristoteles entsprach, primär philosophisches, sondern einzelwissenschaftliches Erkennen als Thema wählt. In diesem Zusammenhang sei hier angedeutet, daß Plato die Theorie des philosophischen Erkennens des „Guten" als des ewig Seienden auf die „Dialektik" stützte und damit das Stichwort für die Ausbildung einer Tradition gegeben hat, zu der in der Neuzeit die Dialektikphilosophie Kants, Schleiermachers (s. dazu F. Kaulbach, Schleiermachers Idee der Dialektik: NZSTh 10[1968] 225 f) und Hegels gehört. Nach Plato muß der Mensch zu einer Verfassung des Denkens und Handelns herangebildet werden, die von der „Vernunft" bestimmt ist, um von dem dadurch erreichten Stande aus die Sachen selbst, die Wesensgestalten sehen und in philosophischer Erkenntnis das „Gute", d. i. Beständige und Dauerhafte an ihnen einsehen zu können. Im „Höhlengleichnis" wird der Weg bildhaft beschrieben, der nach „aufwärts" zurückgelegt werden muß, damit am Ende der dem philosophischen Erkennen gemäße Stand erreicht wird (Resp. 510a; vgl. Kaulbach, Einf. [s. o.] 30f). Mit dem Gedanken des zurückzulegenden Weges und dem Ziel eines Standes, von dessen Perspektive aus überlegene Einsichten gewonnen werden können, wird die Tradition einer philosophischen Erkenntnistheorie eröffnet, auf deren Linie in der weiteren Geschichte des philosophischen Denkens die Idee der Geschichte der Seele (—»Augustin), des Itinerarium ad Deum (—»Bonaventura), der neuzeitlichen Dialektik von Kant bis Hegel und schließlich auch —»Nietzsches Gedanke vom Hinausgehen über sich selbst liegen. Erkenntnistheoretische Kategorien, wie: Bewegung zu immer neuen, überlegenen Standpunkten hin und Verfügung über die dadurch gewonnenen Weltperspektiven sind für diese Tradition bestimmend. Das philosophische Wissen vom „Guten" setzt seine eigenen Maßstäbe und zugleich diejenigen der Wissensformen, deren Gegenstand nicht das Gute selbst, sondern das Bedingte und Relative ist. Der „Logos selbst" ist die Instanz, welche sich und zugleich auch alle anderen Formen und Weisen des Erkennens — auch diejenige des sinnlichen Wahrnehmens - rechtfertigt und trägt — Plato nennt seine philosophische Erkenntnistheorie „dialektisch". Auch in der Neuzeit wird, z. B. in Kants transzendentaler Dialektik, philosophisches Erkennen unter diesem Titel begründet. Für Kant ist „Erkenntnis" des Un-bedingten wie z. B. der Welt im Ganzen zugleich Ergebnis methodisch begründeter Entscheidung zwischen miteinander streitenden philosophischen Erkenntnispositionen, z. B. derjenigen des Deter-

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Erkenntnis/Erkenntnistheorie

minismus und der Position der Freiheit. Transzendentale Dialektik ist als Logik der Entscheidung in einem „Gerichtsverfahren" zu verstehen, bei welchem widerstreitende Vertreter von philosophischen Weltperspektiven ihre „Interessen" zur Geltung bringen. Philosophische Vernunft macht von ihrem „Richterstuhl" aus zum Zwecke der Vermittlung und der Befriedigung der widerstreitenden Interessen von der Idee der distributiven Gerechtigkeit Gebrauch, derzufolge jeder Position innerhalb ihrer Legitimitätsgrenzen das Ihre zugesprochen werden muß. Um die Streitsituation zwischen gegeneinander opponierenden Vertretern von Weltperspektiven gerecht entscheiden zu können, muß Richterin Vernunft zugleich eine legislative Funktion übernehmen und eine Gesetzgebung („Nomothetik") schaffen, mit der die in sich widersprüchliche Rechtsverfassung (Antinomie) der vorkantischen Metaphysik überwunden, dadurch jeder mögliche Konflikt zwischen Weltperspektiven durch ein gerechtes Urteil beigelegt und immer wieder Einheit und ein Friedenszustand in der Geschichte der Vernunft herstellbar wird, der freilich nicht Konfliktfreiheit bedeutet. Vielmehr ist es die Eigenart dieses Zustandes, daß seine „gute" Gesetzgebung jederzeit ein gerechtes Urteil in jedem Konflikt ermöglicht. Wiederherstellung der Einheit der Vernunft aus dem Zustand ihrer absoluten „Zerrissenheit" (Hegel) auf immer wieder neuen Stufen und Stationen ihrer Geschichte ist das große Thema der Dialektik von Kant bis Hegel und Marx. Sie ist das Prinzip auch der Theorie philosophischen Erkennens. —• Schleiermacher interpretiert philosophisches Erkennen dabei mit Berufung auf den Dialog (—»Dialogik), den er freilich nicht wie Kant, in rechts-prozessualer Weise vereteht (Kaulbach, Prinzip [s. o.] l l O f ) . Schleiermacher sieht es als für die Dialogsituation typisch an, daß am Anfang der Streit und an dem durch Kunst des Dialogfuhrens erreichten Ende die Übereinkunft und zugleich das Wissen steht. Im Verlaufe der Geschichte des Dialogs wandeln sich die Standpunkte und Perspektiven: Am Anfang befinden sich die beteiligten Partner notwendig im Zustand der Privatheit des Meinens und des Befangenseins in der eigenen einzelnen Bewußtseinssphäre. Aus dieser heraus vollzieht sich jeweils ein „Übergang" in einen höheren und über einen umfassenden Horizont verfügenden Stand der Reflexion, der zugleich „von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit des Denkens" führt. Die Subjekte sollen auf dem Wege, der ihnen im richtig geführten Dialog zu gehen zugemutet wird, im Vollzug des Miteinandersprechens zu einer „Identität des Prozesses" kommen. Dazu ist die Gewinnung jeweils eines überlegenen Standpunktes der Dialogführenden Voraussetzung, denn jeder Mensch bringe nur dasjenige gedankliche System zustande, wozu er „nach seinem Standpunkt aufgelegt ist." Für das philosophische Erkennen gehört der Weg, der zum Ergebnis führt, zu diesem selbst. Die gedankliche Bewegung und der Denkcharakter der miteinander den Dialog führenden Partner wird am Ergebnis ablesbar. „Wenn in der Konstruktion eines Denkens alle auf dieselbe Weise verfahren, so ist alsdann auch eine Allgemeingültigkeit des Resultats anerkannt, weil dies mit der Konstruktion aufs innigste zusammenhängt" (Dialektik, hg. v. Odebrecht, Leipzig 1942 = Darmstadt 1976; hierzu Kaulbach: NZSTh 10[1968] 225f). Der letzte und unbedingte Horizont der Gemeinsamkeit des Dialogs und zugleich des „vollkommenen" Wissens ist die Idee der Gottheit.

Fichte, Schelling und Hegel sehen in der Erkenntnis des „Absoluten" den Prototyp des Erkennens und des Wissens überhaupt. Hegel versteht den Stand, den er selbst einnimmt, um von ihm aus die philosophische Erkenntnis des absoluten Geistes leisten zu können, als Ergebnis der Geschichte einer in einer notwendigen Folge sich entfaltenden Erscheinungen des Geistes. Die Geschichte der philosophischen Erkenntnis folgt einer dialektischen Logik, in welcher das Denken jeweils von einem behaupteten Stande und dessen Weltperspektive aus einen Übergang zu dem ihm gegenüber „höheren" Stande leistet. Hegel versteht sich selbst als Sprecher einer „Gestalt" des Geistes, die der Weltgeist in der „langen Ausdehnung der Zeit" und der „ungeheuren Arbeit der Weltgeschichte" zustande gebracht hat. In dieser Geschichte treten verschiedene Welt-perspektiven einander im Streit gegenüber und heben sich jeweils in souveräneren und weiter gespannten Horizonten auf. Dabei geschieht ein Aufsteigen auf der „Leiter" der Standpunkte. Hegel versteht seinen eigenen Stand-punkt als Produkt der Entwicklung des „Ganzen" der Geschichte des Geistes: er nimmt von seinem Stande aus Stellung zu dieser Entwicklung selbst und ihrer Weiterführung in die Zukunft. Die Substanz des Weltgeistes erkennt sich selbst, indem sie sich zugleich als Subjekt verhält.

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Erlangen

Die Rolle der Subjektivität übernimmt der Philosoph des absoluten Wissens, der das Ansich-sein zum An-und-für-sich-Sein bringt. Die dialektische Geschichte des Bewußtseins wird durch dessen „Erfahrung", die dieses mit sich in jedem Augenblick dieser Geschichte macht, in Gang gehalten. In jedem Schritt dieser Geschichte macht das Bewußtsein die Erfahrung, daß es in zwei widerstreitende Standpunkte zerfällt, die in einer überlegenen Synthese zur Einheit zu bringen sind. Die Reihe seiner Gestaltungen, die das Bewußtsein auf dem Wege der Erfahrungen seiner selbst durchläuft, ist die „ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft", welch letztere von Hegel als Inbegriff philosophischer Erkenntnisse verstanden wird. In der gegenwärtigen Theorie philosophischen Erkennens geht es vor allem um die kritische Methode der Deutung derjenigen Aussagen, in denen eine philosophische Beschreibung der Welt geleistet wird, in der wir denken und handeln. Eine Weltinterpretation, die Ergebnis philosophischer „Erkenntnis" zu sein beansprucht, darf demnach nicht als objektivtheoretische Kosmologie mißverstanden, sondern muß als der Horizont begriffen werden, in welchem wir uns für Denken und Handeln zu orientieren vermögen und durch den uns eine Sinnmotivarion gegeben wird. So ist z. B. auch der Satz Nietzsches von der ewigen Wiederkehr des Gleichen nicht physikalisch-kosmologisch gemeint und bedeutsam; vielmehr ist er als Ausdruck einer Perspektive zu verstehen, durch welche sich das Denken in einen orientierenden und sinn-motivierenden Zusammenhang versetzt. 1

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Anmerkungen E. Zeller, Uber Bedeutung u. Aufgabe der Erkenntnistheorie: ders., Vortr. u. Abh., Leipzig 1877, 481 ff. Zeller hat als erster den Namen „Erkenntnistheorie", der gelegentlich schon vorher gebraucht worden ist, in programmatischer Absicht als Bezeichnung für eine philosophische Disziplin verwendet, der er damit eine selbständige Stellung innerhalb der Philosophie verschafft hat. Galilei, Terza l e t t e r a . . . delle macchie del sole: Le opere di Galileo Galilei. Nuova ristampa della edizione nazionale, Florenz, V 1965, 187; vgl. auch Kaulbach, Phil, der Beschreibung 140 ff) Der Name wird bei Kaulbach, Phil, der Beschreibung 162 eingeführt. Literatur

Alfred J. Ayer, Language, Truth and Logic, London 1 6 1964. — Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Phil. u. Wiss. der Neuzeit, 3 Bde., Berlin 1922, Erg. bd. Stuttgart 1957. - Theodor Haering, Phil, des Verstehens. Versuch einer syst.-erkenntnis-theoretischen Grundlegung allen Erkennens, Tübingen 1963. - Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin 4 1949. - Martin Heidegger, Die Kategorien u. Bedeutungslehre des Duns Scotus, Tübingen 1916. — Hermann v. Helmholtz, Vortr. u. Reden, 2 Bde., Braunschweig 1896. - Richard Hönigswald, Gesch. der Erkenntnistheorie, Halle 1933. - Klaus Holzkamp, Sinnliche Erkenntnis. Hist. Ursprung u. gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung, Frankfurt, M. 1973. - Friedrich Kambartel, Theorie u. Begründung. Stud. zum Phil.- u. Wiss.Verständnis, Frankfurt, M. 1976. - Friedrich Kaulbach, Phil, der Beschreibung, Köln/Graz 1968. - Viktor Kraft, Erkenntnislehre, Berlin i 9 6 0 . - Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. - Arthur Pap, Analytische Erkenntnistheorie, Wien 1955. - Karl Popper, Logik der Forschung, Wien 1935. - Gerold Prauss, Einf. in die Erkenntnistheorie, Darmstadt 1979. - M a x Scheler, Die transzendentale u. die psychologische Methode, Leipzig 1900. - Moritz Schlick, Allg. Erkenntnislehre, Berlin 2 1925. - Manfred Wetzel, Erkenntnistheorie, München 1978.

Friedrich Kaulbach

Erlangen, Universität 1. Uberblick zur Universitätsgeschichte

1. Überblick zur

2. Die Theologische Fakultät

(Literatur S. 163)

Universitätsgeschichte

Der Gedanke, im Fürstentum -^Brandenburg-Ansbach/Bayreuth eine Universität zu errichten, war bereits 1529 von Luther ausgesprochen worden, der auf eine Anfrage Markgraf Georgs hin die Anregung gab, eine hohe Schule mit umfassendem Bildungsauftrag aus den Mitteln der noch bestehenden Klöster und Stifte zu gründen ( W A . B 5 , 1 1 9 - 1 2 1 , Nr. 1452).

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Die Rolle der Subjektivität übernimmt der Philosoph des absoluten Wissens, der das Ansich-sein zum An-und-für-sich-Sein bringt. Die dialektische Geschichte des Bewußtseins wird durch dessen „Erfahrung", die dieses mit sich in jedem Augenblick dieser Geschichte macht, in Gang gehalten. In jedem Schritt dieser Geschichte macht das Bewußtsein die Erfahrung, daß es in zwei widerstreitende Standpunkte zerfällt, die in einer überlegenen Synthese zur Einheit zu bringen sind. Die Reihe seiner Gestaltungen, die das Bewußtsein auf dem Wege der Erfahrungen seiner selbst durchläuft, ist die „ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft", welch letztere von Hegel als Inbegriff philosophischer Erkenntnisse verstanden wird. In der gegenwärtigen Theorie philosophischen Erkennens geht es vor allem um die kritische Methode der Deutung derjenigen Aussagen, in denen eine philosophische Beschreibung der Welt geleistet wird, in der wir denken und handeln. Eine Weltinterpretation, die Ergebnis philosophischer „Erkenntnis" zu sein beansprucht, darf demnach nicht als objektivtheoretische Kosmologie mißverstanden, sondern muß als der Horizont begriffen werden, in welchem wir uns für Denken und Handeln zu orientieren vermögen und durch den uns eine Sinnmotivarion gegeben wird. So ist z. B. auch der Satz Nietzsches von der ewigen Wiederkehr des Gleichen nicht physikalisch-kosmologisch gemeint und bedeutsam; vielmehr ist er als Ausdruck einer Perspektive zu verstehen, durch welche sich das Denken in einen orientierenden und sinn-motivierenden Zusammenhang versetzt. 1

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Anmerkungen E. Zeller, Uber Bedeutung u. Aufgabe der Erkenntnistheorie: ders., Vortr. u. Abh., Leipzig 1877, 481 ff. Zeller hat als erster den Namen „Erkenntnistheorie", der gelegentlich schon vorher gebraucht worden ist, in programmatischer Absicht als Bezeichnung für eine philosophische Disziplin verwendet, der er damit eine selbständige Stellung innerhalb der Philosophie verschafft hat. Galilei, Terza l e t t e r a . . . delle macchie del sole: Le opere di Galileo Galilei. Nuova ristampa della edizione nazionale, Florenz, V 1965, 187; vgl. auch Kaulbach, Phil, der Beschreibung 140 ff) Der Name wird bei Kaulbach, Phil, der Beschreibung 162 eingeführt. Literatur

Alfred J. Ayer, Language, Truth and Logic, London 1 6 1964. — Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Phil. u. Wiss. der Neuzeit, 3 Bde., Berlin 1922, Erg. bd. Stuttgart 1957. - Theodor Haering, Phil, des Verstehens. Versuch einer syst.-erkenntnis-theoretischen Grundlegung allen Erkennens, Tübingen 1963. - Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin 4 1949. - Martin Heidegger, Die Kategorien u. Bedeutungslehre des Duns Scotus, Tübingen 1916. — Hermann v. Helmholtz, Vortr. u. Reden, 2 Bde., Braunschweig 1896. - Richard Hönigswald, Gesch. der Erkenntnistheorie, Halle 1933. - Klaus Holzkamp, Sinnliche Erkenntnis. Hist. Ursprung u. gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung, Frankfurt, M. 1973. - Friedrich Kambartel, Theorie u. Begründung. Stud. zum Phil.- u. Wiss.Verständnis, Frankfurt, M. 1976. - Friedrich Kaulbach, Phil, der Beschreibung, Köln/Graz 1968. - Viktor Kraft, Erkenntnislehre, Berlin i 9 6 0 . - Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. - Arthur Pap, Analytische Erkenntnistheorie, Wien 1955. - Karl Popper, Logik der Forschung, Wien 1935. - Gerold Prauss, Einf. in die Erkenntnistheorie, Darmstadt 1979. - M a x Scheler, Die transzendentale u. die psychologische Methode, Leipzig 1900. - Moritz Schlick, Allg. Erkenntnislehre, Berlin 2 1925. - Manfred Wetzel, Erkenntnistheorie, München 1978.

Friedrich Kaulbach

Erlangen, Universität 1. Uberblick zur Universitätsgeschichte

1. Überblick zur

2. Die Theologische Fakultät

(Literatur S. 163)

Universitätsgeschichte

Der Gedanke, im Fürstentum -^Brandenburg-Ansbach/Bayreuth eine Universität zu errichten, war bereits 1529 von Luther ausgesprochen worden, der auf eine Anfrage Markgraf Georgs hin die Anregung gab, eine hohe Schule mit umfassendem Bildungsauftrag aus den Mitteln der noch bestehenden Klöster und Stifte zu gründen ( W A . B 5 , 1 1 9 - 1 2 1 , Nr. 1452).

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Die ehrgeizigen Planungen zur Durchführung dieses Vorhabens scheiterten aber an der unzureichenden finanziellen Ausstattung. Auch als die Reichsstadt—»Nürnberg 1578 auf ihrem Territorium in —»Altdorf eine Akademie installierte, die 1622 zur Universität erhoben wurde, lebte die Vorstellung von einer eigenen markgräflichen Universität weiter. Wesentliche Schritte zu diesem Ziel waren 1701 die Einweihung einer Ritterakademie in der 1686 von hugenottischen Flüchtlingen erbauten Erlanger Neustadt sowie 1742 die durch Markgraf Friedrich von Brandenburg-Bayreuth vollzogene, aber von seiner Gattin Wilhelmine, einer Schwester Friedrichs d. Gr., und deren Leibarzt Daniel de Superville betriebene Gründung einer Akademie in Bayreuth, für die Kaiser Karl VII. am 21.2.1743 die Privilegien bewilligte. Die Wahl des Ortes erwies sich indes als ungünstig. Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Offizieren der Garnison im April 1743 veranlaßten die Schließung der Bayreuther Hochschule und ihre Verlegung nach Erlangen, wo sie mit den verbliebenen Einrichtungen der dortigen Ritterakademie zur neuen Friedrichs-Universität vereinigt wurde, deren Einweihung am 4.11.1743 erfolgte. Obwohl die letzte protestantische Universitätsgründung des konfessionellen Zeitalters, war der Charakter der neuen Hochschule entscheidend durch den Geist der —»Aufklärung bestimmt. In Programmatik wie Verfassung suchte man sie den Vorbildern in —> Halle und —»Göttingen anzugleichen, die anstelle des aristotelischen einen auf die Empirie gegründeten Wissenschaftsbegriff einführten. Zudem wurde die Philosophische Fakultät — anders als die früheren Artistenfakultäten — von Anfang an als gleichberechtigt angesehen. Den anspruchsvollen Zielen vermochte die Universität jedoch schon aus Geldmangel nicht zu genügen. Mit dem Sturz des ersten Kanzlers de Superville im Jahr 1748 und dem Tod Friedrichs 1763 trat ein zunehmender Verfall ein. Erst als Markgraf Alexander von Ansbach 1769 das Fürstentum Bayreuth in Personalunion übernahm und die Erlanger Hochschule zur Landesuniversität für Ansbach-Bayreuth ausgestaltete, war ihre drohende Auflösung abgewendet. Den Versuchen, die seit 1769 in Friderico-Alexandrina umbenannte Universität aus ihrer Enge zu führen, war im ganzen wenig Erfolg beschieden. Noch im gleichen Jahr lehnt I. Kant das Anerbieten einer Professur ab. Als Alexander 1791 freiwillig zurücktrat, fielen seine Länder der Kurlinie Preußen zu, womit auch die Universität Erlangen unter preußische Aufsicht kam. Während dieser Ära, die schon 1806 durch die Niederlage Preußens gegen Frankreich beendet wurde, geriet die Universität aufgrund der Berliner Berufungspolitik in Bewegung. J.G. —»Fichte lehrte während des Sommersemesters 1805 in Erlangen und legte 1806 als Reformprogramm seine Ideen für die innere Organisation der Universität Erlangen (Nachgelassene Werke, hg.v. I.H. Fichte, Bonn, III 1835 = Fichtes Werke, Berlin, X I 1 9 7 1 , 275 ff) vor, die ihre Auswirkungen bei der Gründung der Universität in—•Berlin zeigten. Infolge der französischen Okkupation ( 1 8 0 6 - 1 8 1 0 ) drohte der universitäre Lehrbetrieb völlig zum Erliegen zu kommen. 1810 übernahm —*Bayern das ehemalige Fürstentum Bayreuth. Obwohl ein königlicher Erlaß vom 25.11.1810 bestimmte, daß die Erlanger Universität als einzige bayerische protestantische Landesuniversität weiterbestehen solle, hielten sich noch in den folgenden Jahren Gerüchte über eine bevorstehende Zusammenlegung mit der Landshuter Universität oder eine Degradierung zur theologischen Fachschule. Inzwischen jedoch begann sich die Universität zu konsolidieren. Nach der Aufhebung der Altdorfer Hochschule 1809 hatte sie deren Bibliothek übernommen. Der an der Berliner Universität inaugurierte Gedanke von Forschung und Lehre führte auch in Erlangen zur Vermehrung der Seminare und Kliniken. Allmählich entwickelte sich die Universität zu einem geistigen Mittelpunkt. Der Naturforscher und Philosoph Gotthilf Heinrich Schubert (1818-1827), sein Nachfolger Karl von Raumer (1827-1865), beide überbietend aber Fr. W. -»Schelling, der von 1820 bis 1827 in Erlangen lebte, begründeten das neue Ansehen, das auf künstlerischem Gebiet durch den Orientalisten Friedrich Rückert (1826—1841) und den Dichter August Graf von Platen ergänzt wurde. Zur gleichen Zeit gelang es der Erlanger Theologie, für ein halbes Jahrhundert weit über den begrenzten Rahmen der Universität hinaus Wirkung zu erzielen. Medizin und Naturwissenschaften hatten ebenfalls Anteil an dem Aufschwung. Das Erlanger Programm, das

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der Mathematiker Felix Klein 1872 bei seiner Berufung vorlegte und das die begriffliche Synthese bis dahin getrennter geometrischer Disziplinen darstellte, war dafür nur ein Indiz. Auch die 1928 erfolgte Trennung der Naturwissenschaftlichen von der Philosophischen Fakultät zeigte deren zunehmende Bedeutung. Die Zahl der Studenten, die 1873 noch 408 betrug, stieg bis 1927 bereits auf 1527. Da Erlangen im 2. Weltkrieg nicht zerstört wurde, blieben die Bauten und Bücherbestände der Universität unversehrt erhalten. Seit 1945 bestimmte neben dem schnellen Anwachsen der Immatrikulationen (1980/81: 19225 Studierende) vor allem der Ausbau der Universität ihre Geschichte. 1961 wurde die 1919 gegründete Nürnberger Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaft als 6. Fakultät der Universität eingegliedert (seither Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg). Im Herbst 1966 nahm die Technische Fakultät ihren Lehrbetrieb als 7. Fakultät auf - eine Besonderheit in der westdeutschen Universitätsstruktur, da bisher Technische Hochschulen diesen Lehrauftrag wahrnahmen. Bemühungen zur Errichtung einer entsprechenden Ausbildungsstätte in Nordbayern hatte es bereits um die Jahrhundertwende gegeben, doch erst die Ansiedlung eines elektrotechnischen Großkonzerns nach dem Krieg in Erlangen führte 1957 zu dem Plan, im Sinne der Technik als angewandter Naturwissenschaft an der Universität eine eigene entsprechende Fakultät zu errichten. Schließlich wurde 1972 auch die Pädagogische Hochschule in Nürnberg als Erziehungswissenschaftliche Fakultät in die Universität integriert. Zwangsläufig änderte sich durch diese Erweiterungen das Bild der Erlanger Universität, zugleich aber gelang es ihr damit, ihren lange Zeit provinziellen Zuschnitt zu überwinden. 2. Die Theologische

Fakultät

Die am 4.11.1743 erlassenen Statuten der Theologischen Fakultät verpflichteten deren Mitglieder auf die lutherischen —»Bekenntnisschriften und zugleich zur Abwehr pietistischseparatistischer Strömungen. Beiden Bedingungen suchten die ersten Ordinarien, die alle in —•Jena studiert hatten, theologisch in der Gestalt einer Orthodoxie gerecht zu werden, die bereits um Vermittlung mit den Gedanken der Aufklärung bemüht war. Vor allem Caspar Jakob Huth (gest. 1760), zugleich erster Universitätsprediger, widmete sich in seinen dogmatischen, weniger noch in seinen liturgischen Arbeiten diesem Anliegen. Der Übergang der Fakultät zu einer moderaten Aufklärungstheologie im Sinne der Neologie vollzog sich offenkundig durch die Berufung von Georg Friedrich Seiler ( 1 7 7 0 - 1 8 0 7 ) , der mit dem apologetischen Programm einer Harmonie von Vernunft und Offenbarung für das ausgehende 18. Jh. in Erlangen bestimmend wurde und mit seinen von pädagogischem Interesse geleiteten liturgischen Reformplänen weit in den Raum der Kirche hineinwirkte. Seit dem Beginn der preußischen Ära der Universität verstärkte sich daneben der Einfluß des —»Rationalismus. Sein bedeutendster Repräsentant wurde Fr. Chr. von —»Ammon. Vor allem während seiner zweiten Lehrtätigkeit in Erlangen (nach 1 7 9 2 - 1 7 9 4 erneut 1 8 0 4 - 1 8 1 3 ) vertrat er eine Position, die die Akkommodation der biblischen Hauptlehren an die Bedürfnisse der Zeit anstrebte und die er selbst als historischen Offenbarungsrationalismus charakterisierte. Da zudem der aus Altdorf berufene und dort von J.Ph. —»Gabler beeinflußte Johann Siegmund Vogel (1808-1834) und der gelehrte Leonhard Bertholdt ( 1 8 0 8 - 1 8 2 2 ) einem farblosen Rationalismus zuneigten, blieb das Erbe der Aufklärung lange bewahrt. Die Faktoren, die allgemein zu seiner Überwindung führten (die Gedanken des deutschen —»Idealismus, die Wiederentdeckung des Geschichtsbewußtseins in —»Romantik und Historischer Schule sowie — damit verbunden — das Aufkommen der —»Erweckungsbewegungen), gewannen auch an der Fakultät an Einfluß, was sich zunächst in einer wissenschaftlichen Erneuerung niederschlug. Veit Engelhardt ( 1 8 2 1 - 1 8 5 5 ) , der erste bedeutende Erlanger Kirchenhistoriker, und der durch seine Sprachforschungen bemerkenswerte Georg Benedikt Winer ( 1 8 2 3 - 1 8 3 2 ) begannen als erste mit wissenschaftlichen Übungen und erreichten, daß 1826 ihre freien Sozietäten unter dem Namen Wissenschaftlich-theologisches Seminar zu einer öffentlichen Anstalt (mit exegetischer und kirchengeschichtlicher Abteilung) erklärt wurden. An die Stelle rationalistischer Willkür sollte überprüfbare Methodik

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treten. Gerade diese Position verhinderte aber auch, daß sie sich der Erweckung zuwandten. Beide markierten erst eine Übergangstheologie. Die Erweckungsfrömmigkeit vermittelte in Erlangen der reformierte Pfarrer Christian Krafft (1818—1845 zugleich Extraordinarius an der Fakultät). Der Eindruck seiner Persönlichkeit war weitreichend und überwog den Mangel an wissenschaftlichem Profil. In den von ihm inspirierten Kreisen der Erweckten sammelte sich das gebildete Bürgertum (Schubert, von Raumer, zeitweilig auch Schelling). Hier erhielten die späteren Vertreter der Erlanger Theologie wesentliche geistliche Impulse. Das Jahr 1833 bedeutete für die Geschichte der Fakultät insofern einen Einschnitt, als mit A.—»Harleß (1833—1845) und —auf Betreiben des Münchner Oberkonsistoriums, aber gegen den Willen der F a k u l t ä t - mit Johann Wilhelm Friedrich Höfling ( 1 8 3 3 - 1 8 5 2 ) zwei Theologen berufen wurden, die während ihrer Studienzeit mit der Erweckungsbewegung in Berührung gestanden hatten, aber nach der Erkenntnis, daß der Inhalt ihrer eigenen Heilserfahrung mit dem der lutherischen Bekenntnisschriften identisch sei, nun eine theologische wie kirchliche Konsolidierung der von der Erweckung vermittelten Anstöße anstrebten. Sein Sprachrohr fand dieses Anliegen in der 1838 von Harleß gegründeten Zeitschrift für Protestantismus und Kirche, die bis 1876 das weithin beachtete Organ des Erlanger Luthertums bildete. Die Rückbesinnung auf das Wesen der lutherischen Kirche und ihr Bekenntnis und die damit verbundene Konfessionalisierung der Theologie wurde seither für die Fakultät trotz personellen Wandels bestimmend. G. —»Thomasius (1842—1875), J.Chr.K. —»Hofmann ( 1 8 4 1 - 1 8 4 2 ; 1 8 4 5 - 1 8 7 7 ) und Heinrich Schmid ( 1 8 4 8 - 1 8 8 5 ) wahrten bei allen Eigenheiten eine Kontinuität, in die sich die zeitweilig in Erlangen lehrenden Theologen F. —•Delitzsch (1850-1867) und Th. — Harnack (1853-1866) einfügten und die F . H . R . —•Frank (1857-1894) und G. von—»Zezschwitz (1866-1886) in zweiter Generation fortsetzten. Obwohl z.B. beim Streit um Hofmanns Fassung der Lehre von der—»Versöhnung (1856—1859) unter den Erlangern selbst unterschiedliche Auffassungen zutage traten, bot die Fakultät rund fünfzig Jahre ein Bild bemerkenswerter Geschlossenheit, die in dem charakteristischen theologischen Ansatz begründet lag: Um der Selbständigkeit der Theologie willen wählte man ihn - methodisch sich an —» Schleiermacher anlehnend - bei der Heilserfahrung des christlichen Subjekts als dem unmittelbar Gegebenen (—»Heilsgewißheit), suchte diese af>er in Beziehung zur Schrift als dem Zeugnis der göttlichen Heilsgeschichte und zum Bekenntnis der lutherischen Kirche als dem Ausdruck des christlichen Gemeinglaubens zu setzen. In der Übereinstimmung aller drei Momente war für die Erlanger zugleich deren Wahrheit erwiesen. Theologie wurde somit zum umfassenden Verifikationsverfahren, demgegenüber bloße Repristination des lutherischen Bekenntnisses als vermeintlich unanfechtbarer Ausgangspunkt nicht genügen konnte. Die Sonderstellung, die die Erlanger Theologie damit innerhalb des lutherischen Konfessionalismus einnahm, zeigte sich auch in der seit 1848 geführten Debatte um Amt und Verfassung der Kirche. Höflings Grundsätze evangelisch-lutherischer Kirchenverfassung (1850), die gegenüber hochkirchlichen Tendenzen (W. - • L ö h e , A.Fr. Chr. —»Vilmar, Fr.J. —»Stahl) besonders den Gemeindegedanken betonten, fanden bei anderen Erlangern weitgehende Zustimmung, wenn auch Harleß — seit 1852 Oberkonsistorialpräsident in München — und Harnack eine stärker vermittelnde Position bezogen. Auch in organisatorischen Veränderungen wurde der strikt lutherische Charakter der Fakultät deutlich: Als nach dem Tod Kraffts 1845 die unierte Kirche der (damals bayerischen) —»Pfalz die Errichtung eines Lehrstuhls für unierte Theologie in Erlangen forderte, der die Bedürfnisse der pfälzischen Theologiestudenten berücksichtigen sollte, sperrte sich die Fakultät diesem Ansinnen mit der Begründung, daß es ihren bekenntnismäßigen Status verletze und zudem einer Einführung der Union im rechtsrheinischen Bayern Vorschub leisten könne. Am Ende der zwei Jahre dauernden Auseinandersetzungen stand das eigentümliche Ergebnis, daß am 14.7.1847 für die Belange der «werfe« Studenten eine „ordentliche Professur extra facultatem reformierten Bekenntnisses" geschaffen wurde, die als erster Johann Heinrich August Ebrard (1847—1853) übernahm. Mit dem systematischen Gesamtentwurf Franks erlebte die Erlanger Theologie im

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19. Jh. nicht nur ihre gedankliche Krönung, sondern zugleich auch ihren Abschluß. Ihre Impulse nahmen zwar R. -»Seeberg ( 1 8 8 9 - 1 8 9 8 ) und L. -»Ihmels ( 1 8 9 8 - 1 9 0 2 ) als Schüler Franks auf, doch entwickelten sie sie in eigenständiger Weise und an anderer Wirkungsstätte weiter. In Erlangen selbst fühlte sich vor allem der Neutestamentier und Patristiker Th. - » Z a h n ( 1 8 7 8 - 1 8 8 8 ; 1892-1909) dem Erbe der Fakultät verpflichtet, ohne jedoch jene theologische Gestaltungskraft zu erreichen. Trotz bemerkenswerter Einzelforschungen, die neben ihm besonders die Kirchenhistoriker A. —»Hauck ( 1 8 7 8 - 1 8 8 9 ) und Theodor Kolde ( 1 8 8 1 - 1 9 1 3 ) sowie W. Caspari (1885 - 1 9 1 8 ) als Praktischer Theologe betrieben, wurde bis Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jh. für Erlangen ein apologetisch bestimmter Konservativismus kennzeichnend. Der erneute Aufschwung, den die Fakultät nahm, bleibt mit den Namen W. —»Eiert ( 1 9 2 3 - 1 9 5 4 ) und P.-»Althaus (1925-1956) verbunden, die ihre betont lutherische Theologie — stärker als noch die „alten" Erlanger—auf Luther selbst zurückzuführen suchten. Ihr beherrschender Einfluß, hinter dem auch ein bedeutender Fachgelehrter wie der Alttestamentler Otto Procksch (1925-1939) zurücktrat, zeigt sich nicht nur in dem bis dahin ungekannten Zustrom von Theologiestudenten (1933/34: 661), sondern auch in der umstrittenen Haltung, die die Fakultät zu Beginn der nationalsozialistischen Zeit einnahm. Das Theologische Gutachten über die Zulassung von Christen jüdischer Herkunft zu den Ämtern der deutschen Evangelischen Kirche vom 25.9.1933 (ThBl 12 [1933] 3 2 1 - 3 2 4 u.ö.), von Eiert und Althaus verfaßt, und der als lutherisches Korrektiv zur Banner Theologischen Erklärung erarbeitete Ansbacher Ratschlag vom 11.6.1934 (Die Bekenntnisse u. grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, hg. v. K.D. Schmidt, Göttingen, II 1 9 3 5 , 1 0 2 - 1 0 4 ) , an dem sie mitbeteiligt waren, mußten wegen ihrer kurzschlüssigen Identifizierung von Volksnomos und Gesetz Gottes dem Ansehen der Fakultät schaden, obwohl der Neutestamentier Hermann Strathmann (1918-1948) als damaliger Dekan zum genannten Gutachten eine abweichende und modifizierende Stellungnahme veröffentlichte und obwohl keiner der Ordinarien innerhalb der Fakultät Mitglied der NSDAP war. Seit Kriegsende wandelte sich das Bild der Fakultät in mehrfacher Hinsicht: Trotz fortwährender Beschäftigung mit Aspekten lutherischer Theologie hat sie ihre streng konfessionelle Ausrichtung verloren. Dazu trugen auch die Errichtung neuer Lehrstühle (Christliche Archäologie und Kunstgeschichte, Geschichte und Theologie des christlichen Ostens, Missions- und Religionswissenschaft) sowie die am 1.1.1970 erfolgte Eingliederung des Lehrstuhls für reformierte Theologie bei, der unter E. F. Karl Müller (1892-1935) seine Blütezeit erlebt hatte. Nach schrittweisem Rückgang seit den fünfziger Jahren partizipierte auch die Erlanger Fakultät an dem neuerlichen allgemeinen Zuwachs der Zahl der Theologiestudent(inn)en, die 1980/81 wieder 620 (einschließlich Religionspädagogik: 826) betrug. Literatur Zu 1.: Georg Bergler, Gesch. der Hochschule für Wirtschafts- u. Sozialwiss. Nürnberg 1 9 1 9 - 1 9 6 1 , 2 Bde., Nürnberg 1963/69. - Ernst Deuerlein, Gesch. der Univ. Erlangen in zeitlicher Übersicht, Erlangen 1927. - Werner Elen, Bayerische Friedrich-Alexanders-Univ. Erlangen: Das akademische Deutschland, Berlin, 1 1 9 3 0 , 1 1 1 - 1 2 0 . - Johann Georg Veit Engelhardt, Die Univ. Erlangen v. 1743 bis 1843, Erlangen 1843. - Georg Wolfgang Augustin Fikenscher, Gesch. der Königlich Preussischen Friederich-Alexanders-Univ. zu Erlangen v. ihrem Ursprung bis auf gegenwärtige Zeiten, Coburg 1795. - Ders., Vollst. Akademische Gelehrten-Gesch. der königlich preussischen Friederich-Alexanders-Univ. zu Erlangen v. ihrer Stiftung bis auf gegenwärtige Zeit, 3 Bde., Nürnberg 1806. - Manfred Franze, Die Erlanger Studentenschaft 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , Würzburg 1972 (Veröff. der Gesellschaft f ü r fränkische Gesch. 9/30). - Hermann Jordan, Reformation u. gelehrte Bildung in der Markgrafschaft Ansbach-Bäyreuth. Eine Vorgesch. der Univ. Erlangen, 11917, II (hg. v. Christian Bürckstümmer) 1922 (QFBKG 1). - T h e o d o r Kolde, Die Univ. Erlangen unter dem Hause Wittelsbach 1 8 1 0 - 1 9 1 0 , Erlangen/Leipzig 1910 (Lit.). - Hans Liermann, Die Friedrich-Alexander-Univ. Erlangen 1 9 1 0 - 1 9 2 0 , Neustadt a. d. A. 1977 (Sehr, des Zentralinstituts für fränkische Landeskunde u. allg. Regionalforschung an der Univ. Erlangen-Nürnberg 16) (Lit.). - Gerhard Pfeiffer, Gründung u. Gründer der Univ. Erlangen: FS Hans Liermann, 1 9 6 4 , 1 6 0 - 1 7 6 (ErF 16). - James C. Rutherford, Interaction of the Social Forces Dominant in the Establishment of the Friedrichs Univ. 1743, Diss. Norman (Oklahoma, USA) 1970. —

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Hans Joachim Schoeps, Das war Christian-Erlang. Berichte zur Geisresgesch. der Univ. Erlangen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens, Erlangen 1950. — Emil Sehling, Daniel de Superville. Das Kanzleramt an der Univ. Erlangen, Leipzig 1893. - Helmut Volz, Die Techn. Fak. der Univ. Erlangen-Nürnberg — ein neuer Schritt im dt. Universitätsleben: Bayerland 67(1965) 1 4 5 - 1 4 8 . - K a r l Wagner, Reg. zur Matrikel der Univ. Erlangen 1 7 4 3 - 1 8 4 3 , München/Leipzig 1918 = Nendeln 1980 (Veröff. der Gesellschaft für fränkische Geschichte 4/4). — Alfred Wendehorst, Aus der Gesch. der Friedrich-AlexanderUniv., 1979 J 1980 (EUR 3/4) (Lit.). - Hermann Zeltner, Die Friedrich-Alexander-Univ. in Erlangen: Neue Dt. Hefte 4 (1957/58) 233 - 242. - Zweihundert Jahre Univ. Erlangen: Deutschlands Erneuerung 27 (1943) 1 8 9 - 2 5 6 . Zu 2.: Philipp Bachmann, Stellung u. Eigenart der sog. Erlanger Theol.: Festgabe für Theodor Zahn, Leipzig 1 9 2 8 , 1 - 1 7 . - Holsten Fagerberg, Bekenntnis, Kirche u. Amt in der dt. konfessionellen Theol. des 19. Jh., 1952 (UUA 9). - Richard H. Grützmacher, Der ethische Typus der Erlanger Theol.: N K Z 28 (1917) 4 3 5 - 4 5 6 . - Karl Eduard Haas, Der Lehrstuhl für ref. Theol. zu Erlangen, München 1961. - Robert Jelke, Die Eigenart der Erlanger Theol.: N K Z 4 1 (1930) 1 9 - 6 3 . - Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Die Erlanger Theol. Grundlinien ihrer Entwicklung im Rahmen der Gesch. der Theol. Fak. 1 7 4 3 - 1 8 7 7 , München 1960. - Max Keller-Hüschemenger, Das Problem der Heilsgewißheit in der Erlanger Theol. im 19. u. 20. Jh., 1963 (AGTL10). - Hans Kreßel, Die Liturgik der Erlanger Theol., Göttingen 1946 2 1948. - Walther v. Loewenich, Die Erlanger Theol. Fak. 1 9 2 2 - 1 9 7 2 : JFLF 34/35 (1975) 6 3 5 - 6 5 8 . - D e r s . , Erlebte Theol., München 1 9 7 9 , 1 0 5 - 1 4 1 . 1 5 9 - 1 8 4 . - H a n s Pöhlmann, Die Erlanger Theol.: ThStKr 80 (1907) 3 9 0 - 4 3 3 . 5 3 5 - 5 6 3 . - Matthias Simon, Die innere Erneuerung der theol. Fak. Erlangen im Jahre 1833: ZBKG 30 (1961) 5 1 - 6 9 .

Martin Hein Erleuchtung 1. Erleuchtung und Licht 2. Erleuchtung durch Wort und/oder Geist 3. Erleuchtung und ordo salutis 4. Erleuchtung und Evidenz 5. Zur systematisch-theologischen Rekonstruierbarkeit der Erleuchtung (Quellen/Literatur S. 173)

1. Erleuchtung und —»Licht Licht gilt der frühgriechischen und hebräischen Anschauung als Symbol für Leben und Heil; im Unterschied zu altorientalischen Kulturen erkennen Griechen und Hebräer dem Licht und seinen Repräsentanten keinen unmittelbar numinosen Charakter zu. Verschieden wird aber die Bedeutung von Sehen und Hören, von Auge und Ohr bewertet. Für die alttestamentliche Überlieferung ist das Heil schaffende Licht primär an das göttliche Wort gebunden. Diese Sicht wird im Christentum aufgenommen, aber mit der Modifizierung, daß in „Harmonisierung mit der griechischen Oemgia" (Blumenberg, Licht 442) das auf die Autorität des Wortes verpflichtete Hören das eschatologisch qualifizierte Sehen bloß antizipiert. Im griechischen Denken wird das Sehen gegenüber dem zur bloßen Doxa führenden Hören ausgezeichnet. Gewißheit gründet in Sichtbarkeit, so daß Sehen, Wissen, Erkennen und Wesen eng zusammengehören. Dieser Zusammenhang bestimmt auch die von —»Plato ausgehende Erleuchtungslehre. 1.1. Erleuchtung und Erkenntnis. Der ontologisch fundierten Erleuchtung schreibt Plato eine konstitutive Bedeutung für den Vorgang der—»Erkenntnis zu. Die nicht unvermitteltunmittelbar statthabende Erleuchtung ist durch einen fünfgliedrigen Stufengang diskursiver Erkenntnisschritte bedingt: Auf die Angabe des Namens, der begrifflich umschreibenden Definition und der bildlichen Darstellung folgt die Erkenntnis selbst, durch die aber noch nicht das Sein des Zuerkennenden erfaßt wird (Ep. 7,342a, 7 ff). Einsicht in die .Sache selbst' gewährt vielmehr die plötzliche Erleuchtung: „Aus lange währendem Umgang mit der Sache und dem Zusammenleben (mit ihr und ihren Kennern) entsteht plötzlich in der Seele, wie von einem springenden Funken entzündet, ein Licht, das nun sich bereits selbst nähren k a n n " (341c,6-d2; vgl. Stenzel 154). Dieser Erleuchtung wird der Erkennende zwar plötzlich, unvermutet und unmittelbar gewahr. Gleichwohl ist sie dadurch von einem mystischen Erlebnis unterschieden, daß sie durch die Diskursivität des fünfstufigen Erkenntnisprozesses vorbereitet wird. Mit der Erleuchtung gewahrt der Erkennende kein vom Diesseits abgelöstes Jenseits, sondern die Transzendenz des Lichts läßt den Ursprung und Grund des Diesseits erkennen (vgl. 5 0 8 d - 5 1 1 e ) .

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Hans Joachim Schoeps, Das war Christian-Erlang. Berichte zur Geisresgesch. der Univ. Erlangen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens, Erlangen 1950. — Emil Sehling, Daniel de Superville. Das Kanzleramt an der Univ. Erlangen, Leipzig 1893. - Helmut Volz, Die Techn. Fak. der Univ. Erlangen-Nürnberg — ein neuer Schritt im dt. Universitätsleben: Bayerland 67(1965) 1 4 5 - 1 4 8 . - K a r l Wagner, Reg. zur Matrikel der Univ. Erlangen 1 7 4 3 - 1 8 4 3 , München/Leipzig 1918 = Nendeln 1980 (Veröff. der Gesellschaft für fränkische Geschichte 4/4). — Alfred Wendehorst, Aus der Gesch. der Friedrich-AlexanderUniv., 1979 J 1980 (EUR 3/4) (Lit.). - Hermann Zeltner, Die Friedrich-Alexander-Univ. in Erlangen: Neue Dt. Hefte 4 (1957/58) 233 - 242. - Zweihundert Jahre Univ. Erlangen: Deutschlands Erneuerung 27 (1943) 1 8 9 - 2 5 6 . Zu 2.: Philipp Bachmann, Stellung u. Eigenart der sog. Erlanger Theol.: Festgabe für Theodor Zahn, Leipzig 1 9 2 8 , 1 - 1 7 . - Holsten Fagerberg, Bekenntnis, Kirche u. Amt in der dt. konfessionellen Theol. des 19. Jh., 1952 (UUA 9). - Richard H. Grützmacher, Der ethische Typus der Erlanger Theol.: N K Z 28 (1917) 4 3 5 - 4 5 6 . - Karl Eduard Haas, Der Lehrstuhl für ref. Theol. zu Erlangen, München 1961. - Robert Jelke, Die Eigenart der Erlanger Theol.: N K Z 4 1 (1930) 1 9 - 6 3 . - Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Die Erlanger Theol. Grundlinien ihrer Entwicklung im Rahmen der Gesch. der Theol. Fak. 1 7 4 3 - 1 8 7 7 , München 1960. - Max Keller-Hüschemenger, Das Problem der Heilsgewißheit in der Erlanger Theol. im 19. u. 20. Jh., 1963 (AGTL10). - Hans Kreßel, Die Liturgik der Erlanger Theol., Göttingen 1946 2 1948. - Walther v. Loewenich, Die Erlanger Theol. Fak. 1 9 2 2 - 1 9 7 2 : JFLF 34/35 (1975) 6 3 5 - 6 5 8 . - D e r s . , Erlebte Theol., München 1 9 7 9 , 1 0 5 - 1 4 1 . 1 5 9 - 1 8 4 . - H a n s Pöhlmann, Die Erlanger Theol.: ThStKr 80 (1907) 3 9 0 - 4 3 3 . 5 3 5 - 5 6 3 . - Matthias Simon, Die innere Erneuerung der theol. Fak. Erlangen im Jahre 1833: ZBKG 30 (1961) 5 1 - 6 9 .

Martin Hein Erleuchtung 1. Erleuchtung und Licht 2. Erleuchtung durch Wort und/oder Geist 3. Erleuchtung und ordo salutis 4. Erleuchtung und Evidenz 5. Zur systematisch-theologischen Rekonstruierbarkeit der Erleuchtung (Quellen/Literatur S. 173)

1. Erleuchtung und —»Licht Licht gilt der frühgriechischen und hebräischen Anschauung als Symbol für Leben und Heil; im Unterschied zu altorientalischen Kulturen erkennen Griechen und Hebräer dem Licht und seinen Repräsentanten keinen unmittelbar numinosen Charakter zu. Verschieden wird aber die Bedeutung von Sehen und Hören, von Auge und Ohr bewertet. Für die alttestamentliche Überlieferung ist das Heil schaffende Licht primär an das göttliche Wort gebunden. Diese Sicht wird im Christentum aufgenommen, aber mit der Modifizierung, daß in „Harmonisierung mit der griechischen Oemgia" (Blumenberg, Licht 442) das auf die Autorität des Wortes verpflichtete Hören das eschatologisch qualifizierte Sehen bloß antizipiert. Im griechischen Denken wird das Sehen gegenüber dem zur bloßen Doxa führenden Hören ausgezeichnet. Gewißheit gründet in Sichtbarkeit, so daß Sehen, Wissen, Erkennen und Wesen eng zusammengehören. Dieser Zusammenhang bestimmt auch die von —»Plato ausgehende Erleuchtungslehre. 1.1. Erleuchtung und Erkenntnis. Der ontologisch fundierten Erleuchtung schreibt Plato eine konstitutive Bedeutung für den Vorgang der—»Erkenntnis zu. Die nicht unvermitteltunmittelbar statthabende Erleuchtung ist durch einen fünfgliedrigen Stufengang diskursiver Erkenntnisschritte bedingt: Auf die Angabe des Namens, der begrifflich umschreibenden Definition und der bildlichen Darstellung folgt die Erkenntnis selbst, durch die aber noch nicht das Sein des Zuerkennenden erfaßt wird (Ep. 7,342a, 7 ff). Einsicht in die .Sache selbst' gewährt vielmehr die plötzliche Erleuchtung: „Aus lange währendem Umgang mit der Sache und dem Zusammenleben (mit ihr und ihren Kennern) entsteht plötzlich in der Seele, wie von einem springenden Funken entzündet, ein Licht, das nun sich bereits selbst nähren k a n n " (341c,6-d2; vgl. Stenzel 154). Dieser Erleuchtung wird der Erkennende zwar plötzlich, unvermutet und unmittelbar gewahr. Gleichwohl ist sie dadurch von einem mystischen Erlebnis unterschieden, daß sie durch die Diskursivität des fünfstufigen Erkenntnisprozesses vorbereitet wird. Mit der Erleuchtung gewahrt der Erkennende kein vom Diesseits abgelöstes Jenseits, sondern die Transzendenz des Lichts läßt den Ursprung und Grund des Diesseits erkennen (vgl. 5 0 8 d - 5 1 1 e ) .

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1.2. Religiös-mystische Erleuchtung. Mit dem Wandel der griechischen Kosmos-Anschauung in hellenistischer Zeit verändert sich auch die Bedeutung von Licht und Erleuchtung; mitbedingt durch den Zusammenbruch der griechischen Polis wird die Welt zunehmend als Fremde erfahren. So verblaßt die Bedeutung des Lichts als Daseinserhellung. Licht wird zur allererst Heil gewährenden und Leben schaffenden Kraftsubstanz. Entsprechend werden durch die Erleuchtung Kraft zum Leben und Unsterblichkeit verliehen. In der Mysterienfrömmigkeit (—»Mysterien) wird den Mysten in der Schau des Lichts eine Erleuchtung zuteil, die Vergottung und Unsterblichkeit wirkt. Die gnostische Lichtmetaphysik, besonders iranischer Provenienz, die Licht und Finsternis radikal dualistisch faßt, macht die Erleuchtung zur Voraussetzung einer Erkenntnis, durch die der Gnostiker seinen Ursprung im Licht und den Weg der Rückkehr zu ihm aus Finsternis, Zerstreuung und Entfremdung begreift (—»Gnosis/Gnostizismus). Die Bedeutung von Erlösung und Heil gewinnt die Erleuchtung auch bei —»Philo von Alexandrien. Der göttliche —»Logos ist nicht bloß die erleuchtende Kraft der Bekehrung, sondern auch das Offenbarungslicht, durch das den Menschen in Ersetzung des menschlichen vovg durch das göttlichenvev^ia die Schau des Heil schaffenden transzendenten Lichts zuteil wird. In den neutestamentlichen Schriften, in denen eine explizite Lehre von der Erleuchtung nicht vorliegt, wird neben alttestamentlich-jüdischen Elementen auch das aus der gnostischen und Mysterienfrömmigkeit bekannte Erleuchtungsverständnis aufgenommen. Wie die Erkenntnis Gottes in Christus durch eine Erleuchtung vermittelt ist (II Kor 4,6), so bereitet die Erleuchtung der „Augen des Herzens" auch den Existenzwandel der Christen vor (Eph 1,18; vgl. 5,8). Die Erleuchtung durch das wahre Licht „ermöglicht das Erkennen der Finsternis" (Conzelmann 344 zu Joh 1,9). Die auf den Anfang des Christseins bezogene Erleuchtung verweist im —»Hebräerbrief offensichtlich auf die—»Taufe (6,4; 10,32); jedoch wird der Begriff der Erleuchtung in Umformung hellenistischer Mysterienterminologie erst bei —»Justin (Apol. 61),—»Clemens von Alexandrien (paed. 1,6,26) u. a. als technischer Ausdruck für die Taufe gebraucht. Vollends im Neuplatonismus (—»Plato/Platonismus) dient der Begriff der Erleuchtung zur Beschreibung einer mystisch-ekstatischen Lichtschau. Erleuchtung hebt bei —»Plotin mit einer fortschreitenden Selbstdurchleuchtung des Denkens an, die mit der Abwendung von Zu- und Sinnenfälligem Hand in Hand geht. Indem sich das Denken auf sich selbst zurückwendet, denkt es zugleich das Licht des Einen als seinen Grund und Ursprung. Denken des Denkens und Denken des eigenen Ursprungs als Voraussetzung der mystischen Einigung mit dem Einen werden zu einem identischen Akt, in dem Erleuchtendes und Erleuchtetes zusammenfallen (vgl. Enn. VI,7,36). Im Augenblick der plötzlich eintretenden ekstatischüberrationalen Erleuchtung denkt der Geist, der alles dem Denken Begreifbare im Denken durchlaufen hat, nicht; er überläßt sich vielmehr dem nicht-denkenden Licht des Einen, „das er immer schon in der Rückwendung auf sich selbst als gegenwärtig vorfindet" (Beierwaltes, Metaphysik 359). Erleuchtung zielt also nicht wie bei Plato auf die diskursiv vorbereitete wahre Erkenntnis des Gegenstandes, sondern auf die ekstatische Einigung mit dem Licht, durch die der Erleuchtete dem Denken und seinen gegenständlich-welthaften Bezügen entsagt. Die schrittweise Selbsterhellung des Denkens, die nach —»Produs durch Reinigung, Einkehr, dialektischen Aufstieg, Einfachwerden und Angleichung an den Ursprung erfolgt, bereitet eine Erleuchtung vor, durch die aufgrund der Vereinigung des Lichts der Seele mit dem Licht des transzendenten Einen der Selbst- und Weltbezug negiert werden. Erleuchtung als Widerfahrnis des Einswerdens mit dem unsagbaren Licht läßt Denken und Gedachtes in dem indifferenten Einen verschwinden. Durch die neuplatonische Erleuchtungslehre vermittelt, wird der Aufstieg zur mystischen Einigung bei —»Dionysius Areopagita zu einer Trias ausgebaut, bei der auf Reinigung oder Läuterung die Erleuchtung und auf diese die Einigung oder Vollendung folgen. Diese drei Stufen gründen im göttlichen Licht, das jedoch nur als „göttliches Dunkel", „Finsternis" oder „göttliche Nacht" (—»Gregor v. Nyssa) erfahren werden kann. Aufgrund der ontologisch-hierarchischen Ordnung der Schöpfung kann die Erleuchtung nur von einer höheren

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auf die jeweils niedere Stufe übergehen. Innerhalb der Trias von Reinigung, Erleuchtung und Einigung verbindet sich mit der Erleuchtung der Gewinn geistig-göttlicher Klarheit. In Anknüpfung an den Neuplatonismus, an Dionysius, Gregor v. Nyssa, Maximus Confessor, Augustin u. a. wird der in purgatio, illuminatio und perfectio differenzierte dreistufige Weg ein fester Bestandteil der mittelalterlichen —»Mystik. Der Weg der Erleuchtung (via tlluminativa) ist auf die denkende Vorbereitung der gnadenhaft-ekstatisch zuteil werdenden unio mystica abgestellt. Insbesondere bei —»Bonaventura wird die via illuminativa zur imitatio Christi ausgeweitet. In den Zusammenhang mystischer Erleuchtung gehört offensichtlich auch das besonders im ZenBuddhismus ausgebildete Erlebnis der Erleuchtung (Satori), das durch Meditation und Versenkung erstrebt wird, dessen Eintreten jedoch unberechenbar ist. Die Erleuchtung als mögliches Mittel zur Erlösung wird als plötzlicher ekstatischer Zustand erlebt, der freilich nur der inneren Erfahrung zugänglich ist. Diese „natürliche Mystik" (Dumoulin) des Zen-Erlösungsweges ist im Bodhisattva-Ideal des Mahayana-Buddhismus vorbereitet, durch das der Gläubige aufgrund rechten Verhaltens höchste Erkenntnis vermittelnde Erleuchtung (Bodhi) erstrebt. Im Zen-Buddhismus liegt aber der Akzent auf den meditativen Praktiken des Erleuchtungsweges (—»Buddhismus).

1.3. Erkenntnismetaphysische llluminationslehren. Die Erleuchtungslehre Piatos wird bei —»Augustin zu einer metaphysisch-ontologisch fundierten Illuminationslehre erweitert. Der Mensch als zeitlich-wandelbares Wesen bedarf zur geistigen Erkenntnis der ewig-unwandelbaren Wahrheit der Erleuchtung durch Gott als reines intelligibles Licht. Er wird aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit, die die Teilhabe am mundus intelligibilis ermöglicht, von dem göttlichen Licht so erleuchtet, daß er die Dinge der oberen Welt, d. h. die Gesetze, Regeln und Normen zur Beurteilung bestimmter Inhalte schauen kann. Diese Schau ähnelt der Erleuchtung der sinnlichen Anschauung durch das irdische Licht (vgl. De trinit. XII,15,24). Die Erleuchtung wird anders als die platonische ävänvqatq als das verinnerlichte Bewußtsein verstanden, durch das der Mensch der Gegenwart Gottes innewird. Der Erleuchtung, die nicht wie in der dem Neuplatonismus folgenden Mystik einen ekstatischen Akt darstellt, muß freilich der als —»Berufung und —»Bekehrung sich manifestierende Gnadenakt vorhergehen. Erst dadurch kann der Mensch in Befreiung von den Fesseln der Zeitlichkeit an der Schau des göttlichen Lichts partizipieren. Während —»Johannes Scotus Eriugena die Erleuchtungslehre des Dionysius Areopagita so ausweitet, daß er alle Manifestationen Gottes in Schöpfung und Offenbarung als Erleuchtung faßt („Alles, was ist, ist Licht"), knüpfen die—»Franziskaner in ihrer Illuminationslehre an den neuplatonischen Augustinismus an. Das gilt für die Erleuchtung durch Weisheit, die zur Selbsterkenntnis führt, bei —»Hugo von St. Viktor, für die physikalisch-mathematisch orientierte Lichtmetaphysik des Oxforder Robert —»Grosseteste und seinen Schüler Roger Bacon. Ihren Höhepunkt gewinnt die theologisch-metaphysische Illuminationstheorie bei —»Bonaventura. Für ihn repräsentiert das Licht die Grundverfassung des Seienden. Besonders für die geschaffene menschliche Seele gilt, daß sie aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit durch das ewige ungeschaffene Licht Gottes erleuchtet ist. Diese innere Erleuchtung geht nicht bloß jeder bestimmten Gegenstandserkenntnis voraus, sondern sie ist auch schon für die reflexive Selbsterkenntnis konstitutiv, so daß das erkennende Subjekt immer schon als innerlich erleuchtet sich gegeben ist. Die Erleuchtung, die nicht auf die Mitteilung besonderer Erkenntnisinhalte, sondern auf die Erkenntnisgewißheit zielt, verweist so „auf eine radikale Einheit des Geistes jenseits der psychologischen Vielfalt seiner .Vermögen'" (Blumenberg, Licht 444). Es führte zwar auf erkenntnisphilosophische Abwege, wollte man das so erleuchtete Bewußtsein unmittelbar mit der transzendentalen Apperzeption —»Kants vergleichen (gegen Fellermeier 303f; Ratzinger 376); die Differenz zwischen transzendenter Bestimmtheit und transzendentaler Selbstkonstitution steht diesem Vergleich im Wege. Gleichwohl signalisiert der Vergleich ein Problem, das angesichts des Anbruchs einer neuen Epoche für das Verhältnis von Erleuchtung und Erkenntnis entsteht: Auf die vom transzendenten Licht erleuchtete menschliche Vernunft ist so viel Licht übergegangen, daß sie „selbstleuchtend" wird; der genus objectivus im Ausdruck lumen rationis wird zum genus

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subjectivus. Der vernünftig denkende Mensch kann so selbst als naturalis lux verstanden werden (vgl. Blumenberg, Licht 445). Die Aufklärer als Akteure des Lichts werden diesen Epochenwandel ratifizieren (s.u. Abschn. 4). 2. Erleuchtung durch Wort und/oder

Geist

Der in Altem und Neuem Testament betonte Sachverhalt, daß die Erleuchtung aus dem Hören des göttlichen Wortes resultiert (s. o. Abschn. 1), wird in derreformatorischen Theologie aktualisiert. Die Näherbestimmung der Erleuchtung ergibt sich dabei aus der Zuordnung von Wort und Geist. So unterstreicht—»Luther in seinen Katechismen, daß der Heilige —•Geist mit der ganzen Christenheit auch den Einzelnen durch das Evangelium beruft und mit seinen Gaben erleuchtet (BSLK 512.655). Der Begriff der Erleuchtung wird von Luther und den Reformatoren unspezifisch verwendet; er stellt einen Ausdruck für die Konstitution des Christseins dar und unterscheidet sich so kaum von Begriffen wie Bekehrung, Wiedergeburt, Erneuerung (vgl. FC SD 11,24; XI,29.34.40). Die Erleuchtung durch den Heiligen Geist ist so durch das Wort vermittelt, daß Wort und Geist eine Wirkeinheit darstellen. Demzufolge wenden sich die lutherischen —»Bekenntnisschriften gegen eine enthusiastischschwärmerische Auffassung der Erleuchtung, „daß Gott ohne Mittel, ohne Gehör Gottes W o r t s . . . die Menschen zu sich ziehe, erleuchte, gerecht und selig mache" (FC Ep 11,13; vgl. SD 11,80). Ebenso nimmt —»Calvin, der zwar die Erleuchtung durch den Geist stets hervorhebt (vgl. Inst. 11,2,20; 111,2,33; 24,2), gegen „die aufgeblasenen Schwärmer" Stellung, „die allein das für die einzige erhabene Erleuchtung halten, was sie schnarchend erträumt und mit keckem Dünkel aufgegriffen haben, nachdem sie in ihrer Selbstsicherheit Gottes Wort übergangen und ihm Valet gesagt haben" (1,9,3). Das Zueinander von Wort und Geist im Vorgang der Erleuchtung wird im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit den Thesen des Danziger Pfarrers Hermann Rahtmann (1585-1628) problematisiert. Rahtmann zufolge haben die Autoren der Heiligen Schrift diese aufgrund einer Geisteserleuchtung verfaßt, jedoch so, daß auf die Schrift selbst die Wirksamkeit des Geistes nicht unmittelbar übergegangen ist. Damit reduziert Rahtmann die Inspiration der Schrift auf eine Inspiration der Schriftsteller. Besonders durch —»Schleiermacher (vgl. § 130) und R. —»Rothe (Zur Dogmatik 234 ff) hat diese Sicht späte Anerkennung erfahren: Nicht die Schriften sind direkt inspiriert, sondern die Schriftsteller sind persönlich erleuchtet. „Erleuchtung der Personen und Inspiration (Eingebung) der Schriften sind sehr verschiedene Dinge" (Rothe 246). Als nur mittelbares Produkt des Geistes läßt Rahtmann die Schrift allein als äußerliches Wort Gottes gelten; ihr eignet nur ein lumen historicum. Insofern unterscheidet sich die mögliche Wirksamkeit der Heiligen Schrift nicht wesentlich von der Wirksamkeit anderer Bücher. Folglich gewinnt die Schrift den Charakter eines die Belehrung befördernden Gnadenmittels nur dadurch, daß ihr die erleuchtende Tätigkeit des Geistes vorausgeht. Objekt der Geisteserleuchtung ist nicht allein der Leser oder Hörer der Schrift, sondern ebenso die Schrift selbst. „Denn ohne diese Erleuchtung wird die Schrift nicht erkandt zum Leben, daß nemlich, was sie eusserlich zeuget in der Seele des Menschen innerlich möge empfunden werden" (Rahtmann, Jesu Christi . . . Gnadenreich, zit. nach Grützmacher235). In Abwehr dieser Auffassung bauen die Dogmatiker der altlutherischen Orthodoxie die Lehre von der efficacia scripturae sacrae aus. Danach ist die Erleuchtungskraft des Geistes mit dem Schriftwort so vereint, daß der Schrift nicht nur während ihres Gebrauchs (in usu), sondern auch außerhalb desselben (extra usum) die Wirksamkeit des Geistes zukommt. Gleichwohl ist damit der Streit, ob für das Wirksamwerden der Schrift eine besondere Erleuchtung durch den Geist vorauszusetzen sei, nicht endgültig beigelegt. So zieht der weder in den reformatorischen Schriften noch in der frühen dogmatischen Arbeit der altprotestantischen Orthodoxie akzentuierte Begriff der Erleuchtung ein besonderes Interesse in den Strömungen des mystischen Spiritualismus auf sich, das durch den —»Pietismus noch verstärkt wird. Dabei werden auch Züge des mystischen Erleuchtungsverständnisses (s. o.

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Abschn. 1.2) neu belebt. Schon Johann —»Arndt läßt die Erleuchtung durch die in Bekehrung und Buße sich vollziehende Einkehr in sich selbst und Abkehr von der Welt bedingt sein: „Niemand" kann „ohne wahre Buße und heiliges Leben" „mit dem Licht der Wahrheit erleuchtet werden" (1,39; vgl. 1,37; 111,1.2.11). Dieses Verständnis wird in modifizierter Weise von Ph. J. —»Spener aufgenommen. Die Erleuchtung durch den Geist kann zwar nicht vom Wort als Gnadenmittel getrennt werden. Gleichwohl verbindet Spener wie Arndt die Erleuchtung so mit Bekehrung, Buße und Wiedergeburt, daß die Erleuchtung durch den Geist nur zusammen mit der Abwendung von der Sünde und der Hinwendung zu Gott wirklich wirksam wird; die Erleuchtung des Intellekts soll die willentliche Umkehr einschließen. Dieses mit—»Buße und Bekehrung zusammengezogene Verständnis der Erleuchtung wird zum Gegenstand des Streites zwischen —»Orthodoxie und Pietismus; er erreicht einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung V. E. —»Löschers mit dem Halleschen Pietismus. Beide Parteien stimmen darin überein, daß die Frage der Erleuchtung in das Zentrum der Theologie gehört. Für Löscher und die Orthodoxie ist die Erleuchtung aber vollständig an die den Intellekt bestimmende Wirksamkeit des Wortes Gottes gebunden, das die Behauptung einer illumiiiatio orthodoxi impii einschließt. Demgegenüber wird für den Pietismus mit der Favorisierung des Willens gegenüber dem Intellekt die durch Bekehrung und Wiedergeburt repräsentierte Frömmigkeit zur Grundlage der vom Wort Gottes bewirkten Erleuchtung. Die Reflexion auf die in Bekehrung und Wiedergeburt Gestalt gewinnende Frömmigkeit bestimmt den Halleschen Pietismus dazu, die Erleuchtung „nicht mehr zu den Voraussetzungen, sondern zu den Konsequenzen des Heils" (Greschat 277) zu rechnen. Damit wird die in der mystischen Illuminationslehre übliche Reihenfolge von Reinigung und Erleuchtung bestätigt. 3. Erleuchtung und ordo salutis 3.1. In Reaktion auf die pietistische Bindung der Erleuchtung an Bekehrung und Wiedergeburt, so daß die primär den Willen bewegende Erleuchtung auch als Voraussetzung der intellektuellen Wirkung des Schriftwortes gilt, leiten die Dogmatiker der lutherischen Spätorthodoxie dieSpezifizierung von Begriff und Bedeutung der Erleuchtung ein. Das geschieht dadurch, daß die Erleuchtung als fester Bestandteil in die Lehre de gratia spiritus sancti applicatrice aufgenommen wird, was sich zuerst an David Hollaz' Examen theologicum acroamaticum von 1707 nachweisen läßt. Bei den altreformierten Dogmatikern erhält der Begriff der Erleuchtung keine eigenständige Bedeutung für die Lehre von der Heilsaneignung. Die illuminatio folgt im Aufbau des ordo salutis auf die —»Berufung und geht der—»Bekehrung und —»Wiedergeburt voraus. Die durch die Predigt des Wortes Gottes vermittelte Berufung bliebe angesichts der Unwissenheit und Irrtumsfähigkeit des natürlich-sündhaften Menschen folgenlos, wenn nicht der Mensch durch die Wirkung des Heiligen Geistes die Bedeutung des Evangeliums voll erfaßte. Die Uberwindung der natürlichen Befangenheit des Menschen durch Vorurteil und Irrtum soll durch die Erleuchtung so bewerkstelligt werden, daß der Mensch nicht nur zur äußerlich-historischen Kenntnis des christlichen Heils, sondern mehr noch zur inneren Erkenntnis und Aneignung des Evangeliums gelangt. „Die Erleuchtung ist ein Akt der zueignenden Gnade, durch den der hl. Geist den Mensch als Sünder, der zur Kirche berufen ist, durch das Amt des Wortes unterrichtet und infolge aufrichtigen Verlangens mehr und mehr belehrt, daß ihm die Kenntnis des Wortes Gottes in Abwehr der aus Unwissenheit und Irrtum resultierenden Finsternis zuteil wird, und ihm so die Erkenntnis eingießt, die aus dem Gesetz durch das Wissen um die Sünde und aus dem Evangelium aufgrund der im Verdienst Christi begründeten Barmherzigkeit folgt" (D. Hollaz, Examen theologiae acroamaticae [1707], ed. Teller, 1750, 819; zit. nach Schmid 288). Die Erleuchtung wird also durch eine Wirkung des sich des Wortes Gottes bedienenden Geistes auf das Erkenntnisvermögen des Menschen hervorgerufen, freilich so, daß damit in Aufnahme und Begrenzung des pietistischen Erleuchtungsverständnisses eine mittelbare Änderung des Willens nicht ausgeschlossen wird. Die Erleuchtung kann nicht wie die Inspiration unmittelbar dem Tun des Geistes zugerechnet werden; sie ist vielmehr als mittelbar zu bezeichnen, weil die Wirkung des Geistes durch das Wort Gottes vermittelt ist. Folglich kann

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aufgrund der Unterscheidung des Wortes Gottes in —•Gesetz und Evangelium eine durch das Gesetz bedingte von einer durch das Evangelium bewirkten Erleuchtung abgehoben werden (illuminatio legalis et evangelica). Mit der aus dem Gesetz herrührenden Erleuchtung wird der auf die menschliche Sünde folgende Zorn Gottes sichtbar, durch den der Mensch in Schrecken versetzt wird. Die im Evangelium begründete Erleuchtung bewirkt aufgrund der Offenbarung von Gottes Gnade beim Menschen Trost. Aus dieser Unterscheidung wird die Stellung der Erleuchtung zwischen Berufung, Wiedergeburt und Bekehrung ersichtlich: Während mit der Berufung alle Menschen zur Annahme des Heils eingeladen sind, richtet sich die Erleuchtung unmittelbar an den Intellekt und mittelbar an den Willen der schon Berufenen, um diese auf die primär den Willen angehende Negation des alten und Konstitution des neuen Menschseins vorzubereiten, die als mortificatio und vivificatio, Reue und Glaube den Inbegriff von Bekehrung und Buße ausmachen. Die Erkenntnis, die dem Menschen durch die Erleuchtung zuteil wird, führt zu einer sukzessiven Aneignung des Heilswortes durch den Intellekt, so daß wie der Umfang der Erleuchtung so auch der Grad der Klarheit fortlaufend zunehmen können. Insofern kann eine illuminatio literalis et paedagogica von einer illuminatio spiritualis et complété salutaris unterschieden werden. Jene bereitet als äußere, d.h. primär den Intellekt bestimmende Erkenntnis die vollständige Erleuchtung (illuminatio perfecta) vor, die als innere Erkenntnis auch den Willen beeinflußt. Da aber auch die äußerlich-vorbereitende und so unvollständige Erleuchtung durch den Heiligen Geist bewirkt ist, kann sie nicht mit einer natürlichen Erleuchtung (illuminatio naturalis) identifiziert werden. Vorbereitende und vollständige Erleuchtung sind, insofern sie sich der Wirkung des Heiligen Geistes verdanken, übernatürlich (illuminatio supernaturalis). Die auf dem lumen naturae fußende natürliche Erleuchtung, durch die jeder Mensch mittels alltäglicher oder wissenschaftlicher Einsicht die biblischen Schriften verstehen kann, muß der übernatürlichen Erleuchtung allerdings nicht entgegenstehen; jene kann vielmehr als Vorbereitung dieser gelten, ohne daß damit die Unterscheidung zwischen natürlicher und übernatürlicher Erleuchtung zu einem festen Einteilungsprinzip wird. Wie die Berufung so erfolgt auch die Erleuchtung in ernsthafter (seria) und wirksamer (efficax) Absicht, so daß ihrer allgemeinen Geltung (uttiversalis) des menschlichen Widerstandes (resistibilis) zum Trotz nichts in den Weg gelegt werden kann (inevitabilis). 3.2. Die Spezifizierung des Erleuchtungsbegriffs, die mit seiner Integration in den ordo salutis einhergeht, hat die Reduktion des Umfangs seines Inhalts zur Folge. Die durch das Wort vermittelte Erleuchtung kann nicht länger „mit der unmittelbaren Eingebung und Offenbarung göttlicher Wahrheiten . . . verwechselt werden" (Baumgarten 721 ). Ebensowenig kann die Erleuchtung, wie etwa in pietistischen Kreisen üblich (s.o. Absch. 2), zur Voraussetzung der philologischen und historischen Auslegung der biblischen Schriften erklärt werden. Die auf die Vermittlung des Heils eingeschränkte Erleuchtung zielt demnach „auf die Erweckung des wirklichen Beifalls und die begierige Annahme" des erkannten Schriftinhalts; sie betrifft jedoch nicht das Problem, „ob ein Inhalt, eine Auslegung, Erklärung der Schrift mit dem Erkenntnisgrunde in dem gehörigen Verhältnis stehe" (Semler, Vorbereitung zur theol. Hermeneutik, I, Vorr., zit. nach Schmittner 17; vgl. Baumgarten 726 Anm. 58), insofern dieses Problem allein durch Anwendung hermeneutischer Regeln gelöst werden kann (vgl. Semler, Versuch 530). 3.3. Obwohl in die Erleuchtung des Intellekts mittelbar die Änderung des Willens eingeschlossen sein soll, wird in der weiteren dogmatischen Arbeit der Akzent doch primär auf die intellektuelle Erleuchtung gelegt. Das gilt schon teilweise für die pietistische Dogmatik (Freylinghausen 166), aber erst recht für die Dogmatik des Ubergangs zum —» Neuprotestantismus (Baumgarten 7 1 2 - 7 4 8 , bes. 720; Töllner 2 1 4 - 2 2 0 , bes. 216). Gleichwohl verschafft sich schon in der Dogmatik des Übergangs und unübersehbar in der der Neologie die Verbindung von Intellekt und Wille in der Weise erneut Geltung, daß die Erleuchtung der Motivation der praktischen Vernunft dient. Die Erleuchtung ist zwar „ein Ausdruck eines klaren, überzeugenden und kräftigen Unterrichts und einer daraus entstehenden klaren,

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überzeugenden und kräftigen Erkenntniß" (Teller 333). Aber die Erleuchtung des Verstandes involviert die „moralische Ausbesserung der Menschen" (Michaelis 571), um diese „mit sich selbst, mit ihrer eigenen moralischen Geschichte bekanntzumachen" (Semler, Versuch 530). Erleuchtung wird so zum Synonym Kit-*Aufklärung (Tieftrunk 201; vgl. Bretschneider, Hb. der Dogmatik 529), durch die der Mensch „richtige Begriffe von der Erhabenheit menschlicher Bestimmung und der Würde eines in der moralischen O r d n u n g . . . handelnden Wesens" (ebd.) bildet. In der dogmatischen Arbeit des 19. und 20. Jh. verblaßt die Bedeutung des Erleuchtungsbegriffs zusehends, was, wo er überhaupt noch Verwendung findet, an drei verschiedenen Weisen, ihn dazustellen, sichtbar wird. Bei einer Mehrzahl von Dogmatikem herrscht die Tendenz vor, den Begriff der Erleuchtung auf Erkenntnisvollzüge der kognitiven Vernunft (vgl. Tillich 1,153) zu reduzieren, so daß mit der „Belehrung des Verstandes" (Bretschneider, Syst. Entwicklung 675) und dem „Unterricht in der christlichen Religion" (ders., Hb. der Dogmatik 535) der Mensch zur „Erkenntnis der heilsamen Lehre" (Tzschirner 349) oder zur „heilsamen Erkenntniß der göttlichen . . . Wahrheiten" (Knapp 236) gelangt. Die damit ausgesagte „Wandelung der menschlichen Erkenntniss" (Frank, Wahrheit 311) schließt, subjektivitätstheoretisch gewendet, die „erweckende Gnadenwirkung auf das Selbstbewußtsein des Menschen" (Rothe, Ethik 307), die „intellektuelle Selbstvergewisserung" (Frank, Gewißheit 1,17) bzw. die „Reinigung und Mehrung unseres Sehvermögens" (Schlatter 471), ein. Wird von diesen Dogmatikern der Versuch unternommen, den Begriff der Erleuchtung unter subjektivitäts-theoretischen Bedingungen fortzuschreiben, so herrscht in anderen Dogmatiken die Tendenz vor, das spätorthodoxe Schema explizit (vgl. Pfleiderer 229 f; Nitzsch 555 f; 576; Kähler 425 f; Kaftan 63 l f ; Wacker 4 1 - 5 8 ; Eiert, Glaube § 81) oder implizit (vgl. Dorner 727; Vilmar 30 f) zu reproduzieren. Schließlich kann der Erleuchtungsbegriff auch so despezifiziert werden, daß er entweder mit Ausdrücken wie —»Bekehrung und Erneuerung gleichgestellt (Schleiermacher § 107,2 Anm. 1; vgl. Tillich 111,254) oder als „Doublette" (Seeberg: RE 3 5,459) bzw. „sachliche Näherbestimmung" (ders. Christi. Dogmatik 497; vgl. 480) der —•Berufung behandelt wird. Angesichts des weitgehenden Schweigens der gegenwärtigen Dogmatik scheint sich das Urteil zu bestätigen: „Der Begriff der Erleuchtung ist von der Berufung (resp. Wiedergeburt) weder sachlich zu unterscheiden, noch entstammt seine Einführung sachlichen Gründen; es sollte nur der mystische Begriff der Erleuchtung unschädlich gemacht werden" (Seeberg: RE 3 7,598). Dieses Urteil wird insofern auch von K. —»Barth geteilt, als durch den Begriff der Erleuchtung, „von einer besonderen Seite gesehen, das Eine, Ganze der Berufung" (584,587) erfaßt werden soll. Gleichwohl modifiziert Barth den Erleuchtungsbegriff dadurch, daß er ihn durch den des Einleuchtens überlagert. „Daß Gottes Offenbarung ihn (sc. den Menschen) erleuchtet, ihm einleuchtet, geschieht so, daß er das, was ihm in ihr gesagt wird, hört, vernimmt, versteht, begreift, sich zu eigen macht" (ebd. 585), wodurch sich der Mensch zu „tätiger Erkenntnis" (586) bestimmt weiß. Wenn auch Barth aufgrund der unbedingten Priorität göttlicher Souveränität das menschliche Vermögen der Erleuchtung zur Leihgabe göttlicher Offenbarung erklärt (585), so bringt er doch ein Moment in den dogmatisch-theologischen Erleuchtungsbegriff ein, durch das dieser dem Bewußtsein der Moderne nicht bloß obsolet erscheinen muß: Erleuchtung geschieht weniger durch passives Bestimmtwerden von Erkenntnis und Existenz denn durch selbsttätig-aktiven Gewinn von Evidenz, d.h. durch eine Erkenntnis, die einleuchtet (s.o. Abschn. 1.3). 4. Erleuchtung und

Evidenz

Im Neuprotestantismus und seiner theologischen Dogmatik unter der Bedingung des Bewußtseins der Moderne tritt, so hatte sich gezeigt (Abschn. 3.3), der Begriff der Erleuchtung in den Hintergrund. Wo er festgehalten wird, steht die theoretische wie praktische Vernunfttätigkeit im Vordergrund, die durch Begreifen und Aneignung des biblischen Wortes so erleuchtet wird, daß seine Bedeutung einleuchtet. Kommt die Erleuchtung aber so nicht

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Erleuchtung

mehr durch den Einfluß eines transzendent-göttlichen Lichts auf das passiv bestimmte menschliche Erkenntnisvermögen zustande, sondern verdankt sie sich dem Licht der Vernunft, so wird es schwierig, dem Erleuchtungsbegriff eine affirmative Bedeutung für die Konstitution der Erkenntnis abzugewinnen. Ist die menschliche Erkenntnis, vorab die more geometrico betriebene, „der göttlichen kommensurabel", so bedarf sie „keiner Rechtfertigung, sie rechtfertigt sich selbst, sie verdankt sich nicht Gott, hat nichts mehr von Erleuchtung und gnädigem Teilhabenlassen, sondern ruht in ihrer eigenen Evidenz, der sich Gott und Mensch nicht entziehen können" (Blumenberg, Legitimität 395). Unter dieser Bedingung gerät eine Berufung auf göttliche Erleuchtung, erkenntnistheoretisch beurteilt, ins Abseits der Reaktion. Wer sich im Besitze einer „Verstandeserleuchtung in Ansehung des Übernatürlichen" wähnt, macht sich des „Illuminatismus, Adeptenwahn(s)" (Kant 58) schuldig. Eine auf göttliche Erleuchtung oder „Eingebung" zurückgeführte Erkenntnis „läßt sich nicht denken; denn es kann uns gar nicht inhärieren, weil die Natur unseres Verstandes dessen unfähig ist" (ebd. 162 Anm.). In J. G. —»Fichtes Wissenschaftslehren nach 1800 wird die Substitution passiver Erleuchtung durch das aktive Einleuchten als selbstgetätigter Evidenz konsequent durchgeführt. So wird die Vernunft nicht vom Absoluten erleuchtet. Vielmehr gilt umgekehrt, daß das Absolute nur in Vernichtung des begrifflichen Denkens als Unbegreifliches einleuchtet. Auch die Aussage über die Unbegreiflichkeit des Absoluten ist von Gnaden des im Angesicht des Absoluten sich negierenden Begriffes, so daß das Absolute, an sich selbst betrachtet, sein „reines Bestehen für sich" (PhB 284,36) ist. Nur dieses Sein des Absoluten ;si, außerhalb des Absoluten ist — nichts, aber nichts, das sich als dieses weiß, sich als Bild seiner selbst erfaßt. So wird die faktische Evidenz des Sich-Wissens als Bild in die genetische aufgehoben: Im Zuge der Selbstbildung des sich als Bild wissenden Bildes erfaßt sich dieses als absolute Vernunft. Die vom Absoluten erleuchtete Vernunft wird durch den sich selbst erleuchtenden, weil sich selbst konstituierenden Begriff ersetzt; als sich selbst erleuchtende leuchtet die Vernunft sich selbst ein, gelangt zur absolut-genetischen Evidenz. Die Ablösung passiven Erleuchtetwerdens durch die sich selbst erleuchtende Vernunft wird auch an Bestrebungen politisch-sozialer und religiöser Art sichtbar. Der in Bayern im ausgehenden 18. Jh. gegründete Illuminatenorden (—»Illuminaten) versteht sich als eine im Geheimen agierende „Bildungsgesellschaft entschiedener Aufklärer" (v. Dülmen 133), deren Ziel es ist, die Menschen nicht bloß vom geistlichen und weltlichen Despotismus zu befreien, sondern für sie ebenso ein Reich der Aufklärung und Tugend zu schaffen. Ein halbes Jh. später, in der Zeit des deutschen Vormärz, sind es auf katholischer Seite die —* Deutschkatholiken, auf evangelischer die —»Lichtfreunde, die das Licht der aufgeklärten Vernunft beanspruchen, um „aus dem Zustande des Dunkels, der Unklarheit, des mangelnden Begriffs zur Klarheit der Erkenntnis" (R. Blum, Art. Belehrung: Volksthümliches Hb. der Staatswissenwissenschaften u. Politik, Leipzig 1847, zit. nach F.W. Graf 212) zu führen. Erscheinen solche Bestrebungen auch der Gegenwart als weitgehend eingelöst, so bleibt doch strittig, inwieweit die den Prozeß der Aufklärung initiierende Vernunft über sich selbst schon genügend aufgeklärt ist. Sitzt sie einer „Dialektik der Aufklärung" (Horkheimer/Adorno) auf, aufgrund deren sie nur noch als Instrument von Herrschaft fungiert, durch das wie sie selbst so auch Kultur und Gesellschaft dem Zwang selbst-los gewordener Selbsterhaltung unterworfen sind? Daß so gefragt werden kann, zeigt allerdings, daß der „Umschlag des Lichts in die Finsternis" (Horkheimer 126) nicht total genannt werden kann; auch er leuchtet nur im Lichte der Vernunft ein. 5. Zur systematisch-theologischen

Rekonstruierbarkeit

der

Erleuchtung

Unter der Bedingung der Moderne, der theoretisch selbsttätigen und praktisch selbstbestimmenden Vernunft ist einer Illuminationsvorstellung keine Plausibilität abzugewinnen, durch die der Erkenntnisakt als ein durch ein transzendentes Licht gewirkter Vorgang beschrieben werden kann (s. o. Abschn. 1.3 u. 5). Die Erleuchtung kann nicht als ein Geschehen vorgestellt werden, das zwischen einer erleuchtenden Instanz und einem erleuchteten

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Erleuchtung

Adressaten statthat. Der Begriff der Erleuchtung ist unter der allgemeinen erkenntnisphilosophischen Bedingung des Wissen-Könnens nur dann rekonstruierbar, wenn nicht nur ein Zustand unmittelbaren Erleuchtetwerdens, sondern auch ein dem erleuchteten Subjekt vorausgesetztes Subjekt des Erleuchtens ausgeschlossen wird. Erleuchtung kann so nur als die metaphorische Beschreibung eines Erkenntnisaktes angesehen werden, durch den die selbsttätige Aneignung eines Sachverhalts durch ein erkennendes Subjekt ausgesagt wird. Das Subjekt ist erleuchtet, insofern ihm der in Rede stehende Sachverhalt einleuchtet, ihm evident ist. Diese Relation zwischen Subjekt und Sachverhalt ist nicht umkehrbar. Ein Subjekt kann nicht direkt von oder durch einen Sachverhalt erleuchtet werden. Der Sachverhalt ist nämlich nur und wird allein dadurch gewußt, daß er unter der Bedingung der Aneignungfähigkeit des Subjekts steht; er ist nicht zunächst ,da', um dann angeeignet zu werden. So ist das Subjekt auch nur im Hinblick auf (aber nicht durch) den Sachverhalt erleuchtet, insofern ihm dieser einleuchtet, was allemal voraussetzt, daß das Subjekt seine aneignende und im Blick auf den Sachverhalt erleuchtende Tätigkeit schon investiert hat. Das Subjekt des Erkennens ist sowohl im Blick auf den Sachverhalt erleuchtet als auch die den Sachverhalt erleuchtende, weil ihn durchdringend-aneignende Instanz. Eine vom Subjekt des Erkennens abgelöste absolute Instanz der Erleuchtung ist innerhalb des Erleuchtungsvorganges nicht lozierbar. Diese erkenntnistheoretische Überlegung zur Struktur der Erleuchtung ist auch dann zu berücksichtigen, wenn der Begriff der Erleuchtung durch die gegenwärtige systematische Theologie so rekonstruiert werden soll, daß mittels seiner auf ein Moment der christlichen Heilszu- und -aneignung abgehoben werden soll. Ob man dabei die Integration des Erleuchtungsbegriffs in eine in sich gestufte Heilsordnung (s.o. Absch. 3.1) voraussetzt oder nicht, in jedem Fall kann der Prozeß der Heilszu- und -aneignung nicht unmittelbar mit der Erleuchtung beginnen. Für sie ist vielmehr schon die Bekanntschaft mit dem Sachverhalt vorausgesetzt, der als Grund und Quelle des Heils ausgesagt wird. So legt es sich nahe, in Rezeption und Bestätigung der Reihenfolge des traditionellen ordo salutis die Darstellung der Erleuchtung an die der—»Berufung (und —»Erwählung) anzuschließen. Denn durch die Berufung werden alle Menschen als mögliche Christen aufgefordert, das heilschaffende und so das Christsein konstitutierende Evangelium anzunehmen und sich anzueignen. Gleichwohl liegt bei der Berufung der Akzent nicht auf dem Vollzug der Aneignung. Genau darin besteht aber die Bedeutung der Erleuchtung für die Konstitution des Christseins. Durch die Erleuchtung wird der Vorgang der kognitiven Aneignung des Evangeliums durch das menschliche Subjekt namhaft gemacht, der als solcher durchaus von der willentlich vollzogenen Existenzänderung unterschieden werden kann, die des näheren durch die Begriffe Bekehrung, Buße, Erneuerung und Wiedergeburt dargestellt wird. Damit wird die Erleuchtung nicht auf den Gewinn einer einseitig kognitiven Einsicht fixiert. Denn für jeden wirklichen Erkenntnisgewinn gilt, daß er für die praktische Vernunft und ihre Handlungsfolgen zumindest offen ist. Es dient der begrifflichen Rekonstruktion eines Sachverhalts freilich nicht, wenn man alles zugleich haben will. So ist es für die Erhellung des Sachverhalts der Erleuchtung förderlich, wenn aufgrund begrifflicher Rekonstruktion deutlich wird, wodurch sich die Erleuchtung von anderen Momenten der Heilsaneignung unterscheidet. Ein Mensch ist erleuchtet, wenn ihm die Heilszusage des Evangeliums einleuchtet. Die Erleuchtung geht aber weder unmittelbar vom Evangelium aus noch kommt sie durch ein sekundäres Hinzutreten des Geistes zum Evangelium zustande. Vielmehr vollzieht sich die Erleuchtung eines Menschen dadurch, daß er sich das Evangelium so aneignet, daß es ihm als evident erscheint. Dieses Evidenzbewußtsein schließt den Existenzwandel—die Konstitution des Christseins—des sich erleuchtet wissenden Menschen ein. Wem das Evangelium einleuchtet, dem ist bewußt geworden, daß er aufgrund der in Inkarnation, Tod und Auferstehung sichtbar gewordenen Versöhnungstat des'trinitarischen, d.h. fiir das Anderssein des Menschen aufgeschlossenen Gottes als freies Subjekt anerkannt ist; und er weiß zugleich, daß diese Freiheit nur in liebender Selbstüberschreitung Gestalt annimmt. Wo das Evangelium dem Menschen so einleuchtet, bedarf es nicht einer zusätzlichen Aussage über das Er-

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leuchtungswirken des Heiligen Geistes. Denn im als evident erfahrenen Evangelium, in seiner Aneignung und Gestaltwerdung verwirklicht sich der Geist selbst; in der Aneignung und Gestaltung des Evangeliums ist der Geist gegenwärtig, der sich als Geist Christi der Versöhnungstat des trinitarischen Gottes verdankt. Damit erweist sich schließlich auch die in der katholischen Dogmatik geübte Rede von einer besonderen Erleuchtungsgnade als inadäquat. Diese Erleuchtungsgnade mag als „helfende Gnade" ausgesagt werden, durch die Gott die Menschen „zur gläubigen Annahme der Offenbarung" (Auer 1015) bewegt, oder als „heiligmachende Gnade" verstanden werden, durch die der Mensch Anteil am neuen Leben gewinnt. Angesichts der Tatsache, daß der Mensch allein dadurch erleuchtet ist, daß ihm das Evangelium einleuchtet, stellt sich die Konzeption, die die Erleuchtung an eine spezielle „Tatgnade" (Schmaus 2 4 5 - 2 5 1 ) Gottes delegiert, nicht nur als überflüssig, sondern auch in ihrem Supernaturalismus als nicht nachvollziehbar dar. Denn soll der menschliche Geist durch eine besondere Tatgnade erleuchtet werden, so wird dem Evangelium die Kraft entzogen, alleiniger Ort göttlicher Gnadenmanifestation zu sein. Ist die göttliche Selbstoffenbarung allein im und als Evangelium manifest, so ist der Mensch, dem dieses einleuchtet, auch schon durch die göttliche Gnade erleuchtet. In dem Sachverhalt, daß der Mensch erleuchtet ist, weil und insofern ihm das Evangelium einleuchtet, ist allerdings eine Bedingung impliziert, die einer andeutungsweisen Explikation bedarf. Unter welcher Bedingung kann dem Menschen das Evangelium einleuchten? Diese Frage kann nicht dadurch beantwortet werden, daß auf den Inhalt des Evangeliums wiederholend hingewiesen wird. Vielmehr ist diese Frage nur im Rahmen einer Theorie des Verstehens beantwortbar, durch die mit dem Problem der Darstellbarkeit des Evangeliums zugleich die Frage der Ansprech- und Vermittelbarkeit zu klären ist. Die dem Evangelium eignende Evidenz stellt sich also für den Rezipienten nur ein, wenn die Verstehensmöglichkeiten des Evangeliums mit diesem selbst zum Zuge gebracht werden. Sie müssen jedoch nicht sekundär zum Evangelium hinzutreten, sondern sind insofern ein Implikat desselben, als das Evangelium die freie Anerkennung des Menschen zu seinem zentralen Inhalt hat. Allerdings bedarf dieses Implikat der expliziten Ausarbeitung, die mit dem Tun der Theologie als permanenter Rekonstruktion des Christentums selber zusammenfällt. Der als Erleuchtung des christlich-religiösen Bewußtseins, des Glaubens, beschriebene Sachverhalt gewinnt erst im Licht theologischer Rekonstruktion gültige Evidenz. Quellen Johann Arndt, Vier Bücher vom wahren Christenthum (1606), Berlin/New Yorko. J. —Karl Barth, I V / 3 / 2 , 1 9 5 9 . - S i e g m u n d Jacob Baumgarten, Ev. Glaubenslehre, hg. v. J.S. Semler, Halle, II 2 1765. Karl Gottlieb Bretschneider, Hb. der Dogmatik der ev.-luth. Kirche, Leipzig, II 2 1822. - Ders., Syst. Entwicklung aller in der Dogmatik vorkommenden Begriffe, L e i p z i g 3 1 8 2 5 . - J o h a n n e s Calvin, Unterricht in der christl. Religion, Neukirchen 2 1963. - Isaak August Domer, System der christl. Glaubenslehre, Berlin, II/2 1887. - Werner Eiert, Der christl. Glaube, Berlin 2 1941. - Johann Gottlieb Fichte, Die Wissenschaftslehre. 2. Vortrag i. J. 1804, 1975 (PhB 284). - Ders., Die Wissenschaftslehre. Vorgetragen i. J. 1812: Fichtes Werke, hg. v. I. H. 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er nicht aus sich allein, oder Gott wäre für ihn nicht. Also besteht die „wahre, in sich konkrete Autonomie des menschlichen Willens in seiner Einheit mit dem göttlichen" (Vatke, a.a.O. 400; vgl. 404; vgl. Marheineke, Grundlehren 303.305; Vorl. 443). Folglich „ k a n n . . . die menschliche Freiheit in ihrer wahrhaften Gestalt dem göttlichen Willen gar nicht gegenüberstehen" (Vatke, a. a. 0 . 4 1 1 ) . Vielmehr hat die Freiheit des Menschen „ihre Wahrheit" in der Gnade, wie diese wiederum „ihre Wirklichkeit und Wirksamkeit" in der menschlichen Freiheit hat (Marheineke, Grundlehren 316). Aber um nun diese Einheit so zu denken, daß in ihr Gott und Mensch nicht „zur Einerleiheit zusammensinken, oder die Schuld des Bösen auf Gott selbst zurückgeworfen" wird, suchen sie zum anderen dem menschlichen Willen „eine relative Selbständigkeit" zuzuerkennen (Vatke, a.a.O. 412; vgl. 395.415). Denn wie der Mensch in der Selbst-verschlossenheit gegen Gott sich um seine Wahrheit bringt, so wäre Gott ohne die Gnade seiner Offenbarung als Zuwendung zum Menschen verschlossen in sich und für die Menschen gar nicht Gott. Mithin will Gott die Selbständigkeit oder Freiheit des Menschen, indem er selbst sie anerkennt. In dieser Freiheit des menschlichen Willens aber gründet der Unterschied von gut und böse (Marheineke, Grundlehren 311); und durch ihn differenziert sich die „göttliche Bestimmtheit" des Menschen: „in der Wahl des Guten seine göttliche Bestimmtheit zur Seligkeit, in der Wahl des Bösen seine göttliche Bestimmtheit zur Unseligkeit" (Marheineke, a.a.O. 289; vgl. 307). Gott in seiner Liebe zu allen Menschen, d.h. in seiner universalen Gnade, läßt also durch die Freiheit des Menschen „sich selbst... bedingen" (Marheineke, Vorl. 443; vgl. Grundlehren 286f; Vatke, a.a.O. 413), geht in die Endlichkeit ein und setzt sich selbst der Ablehnung durch Menschen aus. „Gott will das Gute nur in der Einheit seines Willens m i t . . . dem subjektiv-menschlichen Willen" (Vatke, a.a.O. 423). Anders als mit der Freiheit des Menschen ist Gottes Wirken also gar nicht zu denken: er würde nämlich sonst zwingen und nicht als Freier wirken. Bezieht aber Gott den freien Willen des Menschen in sein Wirken mit ein, dann ist—wenn auch nicht in den einzelnen Vollzügen, so doch prinzipiell — die Willkür als das Zufällige der menschlichen Freiheit von Gott selbst gewollt (vgl. Vatke 463). Und weil dies Willkürliche der menschlichen Freiheit in prinzipieller Hinsicht von Gott gewollt ist, stammt von Gott auch gleichsam die ,Rahmenbedingung' des Bösen, das in direkter Weise und als einzelne Tat auf dem menschlichen Willen basiert (vgl. Vatke, a.a.O. 357.421.495). Doch weil das Zufällige frei-gelassen ist und die einzelnen Handlungen im ,Spielraum' der Freiheit bis hin zum Bösen nicht von Gott determiniert sind, darum ist es abwegig, „einen förmlichen Ratschluß über die Verwerfung des einzelnen . . . in Gott an[zu]nehmen" (Vatke, a.a.O. 463). Selbst die Abweisung der Gnade durch einzelne macht deren Allgemeinheit nicht zunichte: sie .hängt' „dem Menschen selbst in seinfem] Verderben nach" (Marheineke, Grundlehren 288). Wenn somit das Gute nicht ohne Gottes und des Menschen Willen wirklich ist (vgl. Vatke 395; Marheineke, Grundlehren 318), so bedeutet dies doch keineswegs ein gleichförmiges Zusammenwirken von Gott und Mensch, also deren Gleichstellung. Auf der Basis der allgemeinen Gnade als des Guten, das dem Menschen immer schon zugute kommt, ist das Zutun des Menschen der sekundäre, der von der Gnade erweckte Vollzug — und doch zugleich der Vollzug, in dem sie selbst an ihr Ziel gelangt. In diesem seinem Einstimmen in die Gnade eignet der Mensch sie sich selbst an: und ist er folglich in Gott und Gott in ihm. Eben in diesem Vollzug dokumentiert sich die „relative Selbständigkeit" des menschlichen Willens. So ist der einzelne in der Gnade, indem er sich selbst aus ihr bestimmt. Seine Selbstvergewisserung als Rückbesinnung auf sich zeigt ihm eine zweifache Grundbestimmtheit, die aber auseinandertreten kann, so daß sich ihm teilt, was doch in der Gnade eins ist: sein Selbst und die Gnade. Beides ist er bei sich gewahr: „Mit dem Gottesbewußtsein ist auch das Bewußtsein der für sich seienden menschlichen Subjektivität gegeben" (Vatke, a. a. 0.419). Blickt er allein auf sich, so wird ihm die haltlose Ungewißheit über sich selbst, seine Endlichkeit als Nichtigkeit, bewußt. Blickt er auf den auch bei ihm seienden Gott, so sieht er sich selbst als

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Begnadeten und ist sich seines Heils selbst gewiß. „Von Gottes Gnade bin ich, was ich bin" (I Kor 15,10; vgl. 4,7). Wie ein Liebenderdas, was er als Liebender ist, aus der Liebe hat und es darum nicht sich selbst zuschreibt, er wäre anders nicht in der Liebe, sondern lieblos — so weiß sich derjenige, der Gott liebt, von Gott erwählt (Rom 8,28; I Joh 4,19). Wäre es anders, er erkennte Gottes Dasein nicht, sondern hielte sich selbst für Gott. Wie dem Liebenden nichts ferner liegt, als einen eigenen Anteil an der Liebe auszusondern - so auch dem, der in der Gnade ist. — Weil aber diese zweifache Sicht sich in der einen Selbstreflexion auftut, darum muß der Aspekt der Selbstverlorenheit nie allein das Bewußtsein bestimmen. Jeder kann sich vielmehr an Gottes Gnade „genügen" lassen (II Kor 12,9). In ihrem Überfluß ist man „ r e i c h . . . zu jedem guten Werk" (II Kor 9,9). 3. Karl —»Barths christologische

Konzentration

der Gnade

In seiner Erwählungslehre als einem abschließenden Teilstück der Gotteslehre selbst (KD II/2) verbindet Barth die Gedanken der Unbedingtheit und Universalität der Gnade, indem er sie im Ereignis „Jesus Christus" — in dem einmaligen Geschehen der Menschwerdung Gottes - zentriert und fundiert versteht. So lautet sein Hauptsatz, von dem er ausgeht: „Jesus Christus ist ja Gott in seiner Zuwendung zum Menschen" (5). In ihm ist gleichsam alle Gnade, alles nur erdenklich Gute Gottes, .beschlossen'. „Es geschieht Alles, was von Gott her geschieht, ,in Jesus Christus'" (7). Diese christologische Formung, die Barth selbst als „Totalrevision des Dogmas" bezeichnet (373), soll - im Gegensatz zur traditionellen Prädestinationslehre - der „Erwählungslehre" überhaupt erst den „konkreten" (vgl. bes. 55) Inhalt geben. In Jesus Christus zeigt sich nämlich Gott als der, der sich selbst zur Beziehung zum Menschen bestimmt hat (4f), so daß er „ohne diesen Menschen" Jesus von Nazareth und ohne „das von ihm repräsentierte Menschenvolk" „gar nicht Gott" wäre (6). „Es gibt keine tiefere Tiefe des Wesens und Wirkens Gottes als die, die in diesem Geschehen und also unter diesem Namen offenbar geworden ist" (57). „Es gibt keine Gottheit an sich" (123). Durch diese christologische Konzentration will Barth vor allem eindeutig klarstellen, daß Gottes Beziehung zum Menschen eine im letzten und im Grunde entschieden bejahende und nicht verneinende, eben eine heilbringend gnädige und keine verderbende ist (vgl. 12 f). Gottes Prädestination, seine Vorherbestimmung als sein ewiger Wille über den Menschen, ist ausschließlich Gnade (25 f), „Gnadenwahl" (11): ist „Erwählung" (vgl. 29) als Aufnahmein den „Bund", den er „grundlegend und richtunggebend" in Jesus Christus „zwischen sich und . . . dem Volk seiner . . . Menschen gestiftet hat, erhält und regiert" (7). „Erwählung" bezeichnet mithin den „Grund aller Beziehung zwischen Gott und dem Menschen . . . , zwischen Gott in seiner ursprünglichsten Zuwendung zum Menschen und dem Menschen in seiner ursprünglichsten Bestimmung durch diese göttliche Zuwendung" (55). Diese ewige und ewig gültige Zuwendung ist in Jesus Christus „menschlich-geschichtliches Ereignis" geworden (56). „Es geschah dies, daß Gott selbst unter jenem Namen Mensch, dieser Mensch und als solcher Repräsentant des ganzen . . . Volkes" der Menschen „geworden ist" (57). Jesus Christus ist also „der erwählende Gott und der erwählte Mensch in Einem" (1; vgl. 63.157.166).

Diese christologische Fundierung der Erwählungslehre wird selbst einer Barth gegenüber kritischen Konzeption einleuchten. Denn alles Reden von Gottes Zuwendung zum Menschen wäre letztlich leer, wenn Gott nicht selbst Mensch geworden und also nicht selbst Mensch wäre. Ist er aber ein Mensch, so ist er—in einer gewissen Hinsicht: zufälligerweise ein bestimmter Dieser: eben Jesus von Nazareth. Die mit der Bestimmtheit notwendig gegebene Zufälligkeit des „faktische(n) Ereignis(ses)" mag wohl als Gottes „Wahl" bezeichnet werden (vgl. 62). Doch das Verhältnis von Christologie und Erwählungslehre bleibt bei Barth partiell zweideutig. Zwar hebt er in einer Reihe von Stellen nachdrücklich hervor, daß Jesus Christus allein darum „Erkenntnisgrund" unserer Erwählung sein kann, weil er auch deren „Realgrund" ist (98.128.366.373; vgl. auch 191.357) - daß er „der Ratschluß Gottes in seinem Ursprung und in seiner Offenbarung" (331), „die Wirklichkeit dieses ewigen Zusammenseins von Gott und Mensch" ist (172; vgl. 99). Aber andererseits heißt es, Gottes Erwählung sei seine Selbstbestimmung, die auf die .Vollstreckung' in Jesus

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Christus „und also auf die Sendung des Sohnes Gottes" .ziele' (26.171 u. ö.); dementsprechend wird fast durchgängig die Auffassung vertreten, das im geschichtlichen Jesus Christus und also in der Zeit Geschehene stelle lediglich die Ausführung des vor- und überzeitlichen, ewigen Vorsatzes und Beschlusses dar. Dächte man jedoch die Einheit von Gott und Jesus konsequent, so wäre darzulegen, daß in dem geschichtlichen Jesus sich Gott so offenbart, wie er in seiner Absolutheit und seinem ewigen Willen immer schon ist: nicht ein Gott ohne Menschen, sondern - als Gott bei den Menschen — der wahre Gott der Menschen. „Was Gott ist, das will er auch für den Menschen sein. Was ihm gehört, das will er auch dem Menschen mitteilen. Was er vermag, das soll auch dem Menschen zu Gute kommen" (262).

Wenn nun Gottes Zuwendung zum Menschen reine Gnade ist—„gewiß . . .fürden Menschen unter allen Umständen das B e s t e . . . , was ihm überhaupt widerfahren kann" (99): das „im Einzelnen immer aufs neue widerfahrende Grundgute" (14) - wie soll dann so etwas wie eine „Verwerfung" des Menschen durch Gott seihst überhaupt gedacht werden können? Barth stellt nachdrücklich heraus, daß „die ewige göttliche Vorherbestimmung eine doppelte, eine praedestinatio gemina ist" (176), obschon er zugleich von Anfang an (15f) betont, „Erwählung" und „Verwerfung" seien keineswegs gleichgewichtige und ranggleiche Akte, vielmehr sei das Nein der Verwerfung prinzipiell dem gnädigen Ja untergeordnet (18). Barth konzipiert auch die „Verwerfung" als göttliche Negation strikt christologisch: In „der Erwählung Jesu Christi, die der ewige Wille Gottes ist, hat Gott dem Menschen das Erste, die Erwählung, die Seligkeit und das Leben, sich selbst aber das Zweite, die Verwerfung, die Verdammnis und den Tod zugedacht" (177). Gott „wählte unsere Verwerfung" (179); und weil Jesus Christus, „selber nicht verwerflich, . . . an die Stelle eines jeden Verwerflichen getreten ist und seine Verwerfung wirklich ertragen hat" (500), darum „ist des Menschen Verwerfung von Ewigkeit her, in die Ewigkeit hinein und so auch für alle Zeit die von Jesus Christus . . . ertragene und damit .verworfene' Verwerfung" (499). „Nur Einer, Jesus Christus ganz allein", ist „der Verworfene" (382); er ist „der einzig wirklich verworfene Mensch" (350; vgl. 551). „Verworfen" ist und hat sich „in seinem Sohne Gott selber", „damit wir nicht verworfen würden" (182f). Weil in Jesus Christus, dem „einen Erwählenden und Erwählten" die „Vielen erwählt sind", sind sie in ihm, dem „einen . . . Verworfenen", gerade „nicht verworfen" (357).

Doch wenn Gottes Gnade, wie im Menschen Jesus offenbar, allen Menschen gilt und wenn in ihr Gott unbedingt bei den Menschen ist, dann — und dies läßt sich m.E. an Barths Ausführungen selbst zeigen — kann die „Verwerfung", also die Vernichtung eines Menschen, kein originärer und kreativer Akt Gottes sein. Sie ist vielmehr Reflex des menschlichen Sich-verschließens gegen die Gnade, in dem Menschen sich selbst verkennen. „ W o " der „Widerstand" gegen Gottes Wille „nicht im Glauben . . . aufgehoben ist", da wird „die Erwählung . . . zur Nicht-Erwählung, zur Verwerfung" (27). So unbedingt die den Menschen bejahende, „erwählende" Gnade ist, so bedingt durch des Menschen Selbstverweigerung ist also die verneinende „Verwerfung". - Gott aber, anschaubar in Jesus, ist Mensch geworden, damit der Mensch oder Gott im Menschen den Widerstand der menschlichen Selbstverkennung gegen Gott überwinde, auf daß nichts die Erwählten von Gottes Liebe trenne (Rom 8 , 3 1 - 3 7 ) . „Gnade und Wahrheit'" als eines „ist" dem Menschen durch Jesus Christus geworden (Joh 1,17). Im Duktus der Barthschen Ausführungen liegt an sich die These, daß in Christus alle Menschen erwählt und begnadigt sind, letztlich also keiner „verworfen" sein wird (vgl. z.B. Berkouwer 9 8 - 1 0 8 ; bes. 102). Barth wehrt diese Konsequenz der „Apokatastasis" mit dem Argument ab, die Gnade wäre keine freie, sie wäre zum starren Gesetz verkehrt, wenn feststünde, daß die Gemeinde der Erwählten gleich der Gesamtheit aller Menschen sei oder einst sein werde ( 4 6 2 . 4 6 7 . 5 2 8 f u.ö.). In der Uberzeugung, daß die Zahl der Erwählten eine „offene(..) Vielzahl" (466 f; vgl. auch 3 5 3 . 3 8 5 ) ist, habe sich die Verkündigung göttlicher Erwählung an alle zu wenden ( 3 5 8 . 4 6 0 . 5 6 2 f ) . Allen hat sie „die Übermacht der Gnade und die Ohnmacht der menschlichen Bosheit" zu sagen (529).

Gerade wenn dies Letztere gilt, ist dann nicht eindeutig (gegen 3 8 5 . 3 9 0 f u.ö.) auch dies zu sagen: Gottes Gnade kommt nur im Glauben als freier Übereinstimmung des Menschen zu ihrem Ziel? Im Glauben entscheidet es sich, ob das Leben der „Erwählung entsprechend" oder ihr „zum Trotz" im Sinne „eines von Gott Verworfenen" gelebt wird (356; vgl. 353). „Im Glauben wird der Mensch das neue Subjekt, d a s . . . nur noch von Gott, mit Gott, Gott gemäß leben wollen kann" (359).

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Prädestinationslehre: TZTh 11 (1840) 1 2 0 - 1 5 6 . - Herbert D. Long, Self-Identity and Human Vocation. A Study of the Major Theological Themes in Fr. Schleiermacher's Christian Faith with particular Attention to the Significance of the Doctrine of Election for the Identity of Selves and their Vocation, Diss. Cambridge/Mass.: Harvard Divinity School 1964. - Ernst [Wilhelm Christian v.] Sartorius, Die luth. Lehre vom Unvermögen des freyen Willens zur höheren Sittlichkeit, in Briefen, nebst einem Anhange gegen Herrn D. Schleiermacher's Abh. über die Lehre v. der Erwählung, Göttingen 1821. - Friedrich D. Schleiermacher, Uber die Lehre v. der Erwählung, bes. in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen: Theol. Zs. 1 (Berlin 1819) 1 - 1 1 9 = ders., SW, Berlin, 1/2 1836, 3 9 3 - 4 8 4 . - Ders., Der christl. Glaube nach den Grundsätzen der ev. Kirche im Zusammenhang dargestellt, Berlin 2 1830 = hg. v. M. Redecker, Berlin 1960. - Johannes Schultheß, Ev. Lehre v. der freyen Gnadenwahl. Ein Beytrag zur Vereinigung der ev. Kirchen, Zürich 1818 = ders., Exegetisch-Theol. Forschungen, Leipzig/Zürich, II 1821, 1. Stück, I - L X X X u. 1 - 1 7 6 . - Friedrich Heinrich Christoph Schwarz, Rez. v. E. Sartorius, Die luth. Lehre v. dem Unvermögen des freien Willens: Heidelberger Jb. der Literatur 1/2 (1822) 1 - 1 7 . - A n o n y m u s - d - [d.i. Johann Christian Friedrich Steudel], Anzeige mehrerer seit einiger Zeit erschienenen Sehr, über die Frage v. der Gnadenwahl: Neues Archiv für die Theol. 5 (1822) 4 0 4 - 4 5 1 . 6 6 6 - 7 4 3 . - Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Uber die Lehre v. der Erwählung, in Beziehung auf Herrn Dr. Schleiermachers Abh. darüber: Theol. Zs. 2 (Berlin 1820) 8 3 - 1 3 1 . Zu 2.2.: Ferdinand Christian Baur, Vorl. über die christl. DG III. Das Dogma der neueren Zeit, hg. v. Ferdinand Fr. Baur, Leipzig 1867. - Philipp Marheinecke, Ottomar. Gespräche über des Augustinus Lehre v. der Freiheit des Willens u. der göttlichen Gnade, Berlin/Stettin 1821. - Ders., Die Grundlehren der christl. Dogmatik als Wiss., Berlin 2 1827. - Ders., Theol. Vorl. II. System der christl. Dogmatik, hg. Stephan Matthies/Wilhelm Vatke, Berlin 1847. - David Friedrich Strauß, Die christl. Glaubenslehre in ihrer gesch. Entwicklung u. im Kampf mit der modernen Wiss., Tübingen/Stuttgart, II 1841. - Wilhelm Vatke, Beitr. zur Kritik der neueren phil. Theol. [ = Rez. J. Müller, Die christl. Lehre von der Sünde]: Hallische Jb. 3 (1840) Ns.1-144.- Ders., Die menschliche Freiheit in ihrem Verhältnis zur Sünde u. zur göttlichen Gnade, wissenschaftlich dargestellt, Berlin 1841. - Ders., Religionsphil, oder Allgemeine phil. Theol., hg. v. H. G. S. Preiss, Bonn 1888. - Eduard Zeller, Über die Freiheit des menschlichen Willens, das Böse, u. die moralische Weltordnung. Eine phil. Unters.: ThJb(T) 5 (1846) 3 8 4 - 4 4 7 ; 6 (1847) 28-89.191-258. Zu 3.: Hans Urs v. Balthasar, Karl Barth. Darst. u. Deutung seiner Theol., Köln 1951. - Karl Barth,

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Gottes Gnaden wahl, 1936 (TEH 47). - Ders., KD. II. Die Lehre v. Gott, 2. Halbbd. 1942 3 1948. - Gerrit C. Berkouwer, Der Triumph der Gnade in der Theol. Karl Barths, Neukirchen 1957. - Robert Mc Afee Brown, Karl Barth on Election: CCen 86 (1969) 4 0 5 - 4 0 7 . - Emil Brunner, Dogmatik. I. Die christl. Lehre v. Gott, Zürich/Stuttgart 1946 3 1960 (bes. 3 5 3 - 3 5 7 ad Barth). - Eduard Buess, Zur Prädestinationslehre Karl Barths, 1955 (ThSt [B] 43). - Gerhard Gloege, Zur Prädestinationslehre Karl Barths: KuD 2 (1956) 1 9 3 - 2 1 7 . 2 3 3 - 2 5 5 = Ders., Heilsgeschehen u. Welt. Theol. Traktate, Göttingen, 1 1 9 6 5 , 7 7 - 1 3 2 . - Rudolf Grob, De l'élection éternelle de Dieu, Genf 1936. - Peter Henke, Erwählung u. Entwicklung. Zur Auseinandersetzung zw. Adolf v. Harnack u. Karl Barth: NZSTh 18 (1976) 1 9 4 - 2 0 8 . - Denis Inman, Die Erwählungslehre in der gegenwärtigen Theol. Eine krit. Darst., Diss. Mainz 1957 (Lit.). — Georg Kraus, Vorherbestimmung. Traditionelle Prädestinationslehre im Licht gegenwärtiger Theol., 1977 (ÖF.S 6) (Lit.). - Walter Kreck, Grundentscheidungen in Karl Barths Dogmatik. Zur Diskussion seines Verständnisses v. Offenbarung u. Erwählung, 1978 (NStB 11). - Léopold Malevez, Karl Barth. Existence chrétienne et vie éternelle: NRTh 101 (1969) 2 2 5 - 2 4 2 . - P i e r r e Maury, Erwählung und Glaube, 1940 (ThSt [B] 8). - Ernst Saxer, Vorsehung u. Verheißung. Vier theol. Modelle (Calvin, Schleiermacher, Barth, Solle) u. ein syst. Versuch, 1980 (SDGSTh 3 4 ) . - Edmund Schlink, Gesetz u. Paraklese: Antwort. FS Karl Barth, Zollikon-Zürich 1 9 5 6 , 3 2 3 - 3 3 5 . - Heinrich Vogel, Praedestinatio gemina: Theol. Aufs. Karl Barth zum 50. Geburtstag, München 1936, 2 2 2 - 2 4 2 . - Ders., Gott in Christo. Ein Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik, Berlin 1 9 5 1 , 9 3 7 - 956. Otto Weber/Walter Kreck/Emst Wolf, Die Predigt v. der Gnadenwahl. Karl Barth zum 10. Mai 1951, 1951 (TEH 28). - Otto Weber, Die Treue Gottes u. die Kontinuität der menschlichen Existenz: Ekklesia Semper reformanda. Theol. Aufs, für E. Wolf zum 50. Geburtstag, 1952 (EvTh Sonderh.) 1 3 1 - 1 4 3 . Traugott Koch

Erweckung/Erweckungsbewegungen I. Historisch II. Dogmatisch III. Praktisch-Theologisch

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I. Historisch 1. Abgrenzung 2. Angelsächsischer Protestantismus 5. Skandinavien (Quellen und Literatur S. 216)

3. Westeuropa

4. Deutschland

1. Abgrenzung Der Begriff Erweckung, im späteren Halleschen Pietismus gebräuchlich (Bogatzky), erfuhr vor allem durch Lavater (z. B.: Erweckung zur Buße zu Gott und zum Glauben an den Herrn Jesum Christum, 1772) weite Verbreitung. Ursprünglich bezeichnete er die aktuelle, beständig zu wiederholende Rührung und Ermunterung des einzelnen aus dem Zustand der religiösen Trägheit und des Sündenschlafs zum geheiligten geistlichen Leben, später trat er oftmals an die Stelle des umfassenden Begriffs —»„Bekehrung" (Erweckungs-Geschichten, oder der mächtige Gnadenzug des Vaters zu dem Sohne, 1 8 1 8 ) . Im 18. Jh. haben innerhalb des angelsächsischen Protestantismus neuartige Formen der evangelischen Verkündigung und des Gottesdienstes zur Erweckung massenhafter Hörerscharen geführt und mehrere Erweckungsbewegungen hervorgebracht, und im 19. Jh. ist hier die missionierende Predigt des Revival in den meisten protestantischen Denominationen zu einer wichtigen kirchlichen Aufgabe geworden, die in der modernen —>Evangelisation fortgeführt wird. Dasselbe gilt für die missionierenden —»Jungen Kirchen in —»Afrika und —»Asien bis heute (u.a. —»Pfingstbewegung). Auf dem europäischen Festland belebte die Erweckungsbewegung vor allem die Regionen, in welchen der —»Pietismus heimisch war. Unter Rezeption verschiedenartiger Gedankenelemente (—»Idealismus, —»Romantik, —»Neuluthertum, —» Konfessionalismus) wirkte sie hier auf die Landeskirchen ein, ohne sie jedoch völlig durchdringen und ohne den aus dem —»Rationalismus erwachsenden kirchlichen —»Liberalismus an den Rand drängen zu können. Die deutsche —»Kirchengeschichtsschreibung hat sich bisher weitgehend der Erforschung der deutschen Erweckungsbewegung des 19. Jh. zugewandt. Während sie die Herrnhuter Brüdergemeine (—»Brüderunität/Brüdergemeine), der für den Brückenschlag

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Gottes Gnaden wahl, 1936 (TEH 47). - Ders., KD. II. Die Lehre v. Gott, 2. Halbbd. 1942 3 1948. - Gerrit C. Berkouwer, Der Triumph der Gnade in der Theol. Karl Barths, Neukirchen 1957. - Robert Mc Afee Brown, Karl Barth on Election: CCen 86 (1969) 4 0 5 - 4 0 7 . - Emil Brunner, Dogmatik. I. Die christl. Lehre v. Gott, Zürich/Stuttgart 1946 3 1960 (bes. 3 5 3 - 3 5 7 ad Barth). - Eduard Buess, Zur Prädestinationslehre Karl Barths, 1955 (ThSt [B] 43). - Gerhard Gloege, Zur Prädestinationslehre Karl Barths: KuD 2 (1956) 1 9 3 - 2 1 7 . 2 3 3 - 2 5 5 = Ders., Heilsgeschehen u. Welt. Theol. Traktate, Göttingen, 1 1 9 6 5 , 7 7 - 1 3 2 . - Rudolf Grob, De l'élection éternelle de Dieu, Genf 1936. - Peter Henke, Erwählung u. Entwicklung. Zur Auseinandersetzung zw. Adolf v. Harnack u. Karl Barth: NZSTh 18 (1976) 1 9 4 - 2 0 8 . - Denis Inman, Die Erwählungslehre in der gegenwärtigen Theol. Eine krit. Darst., Diss. Mainz 1957 (Lit.). — Georg Kraus, Vorherbestimmung. Traditionelle Prädestinationslehre im Licht gegenwärtiger Theol., 1977 (ÖF.S 6) (Lit.). - Walter Kreck, Grundentscheidungen in Karl Barths Dogmatik. Zur Diskussion seines Verständnisses v. Offenbarung u. Erwählung, 1978 (NStB 11). - Léopold Malevez, Karl Barth. Existence chrétienne et vie éternelle: NRTh 101 (1969) 2 2 5 - 2 4 2 . - P i e r r e Maury, Erwählung und Glaube, 1940 (ThSt [B] 8). - Ernst Saxer, Vorsehung u. Verheißung. Vier theol. Modelle (Calvin, Schleiermacher, Barth, Solle) u. ein syst. Versuch, 1980 (SDGSTh 3 4 ) . - Edmund Schlink, Gesetz u. Paraklese: Antwort. FS Karl Barth, Zollikon-Zürich 1 9 5 6 , 3 2 3 - 3 3 5 . - Heinrich Vogel, Praedestinatio gemina: Theol. Aufs. Karl Barth zum 50. Geburtstag, München 1936, 2 2 2 - 2 4 2 . - Ders., Gott in Christo. Ein Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik, Berlin 1 9 5 1 , 9 3 7 - 956. Otto Weber/Walter Kreck/Emst Wolf, Die Predigt v. der Gnadenwahl. Karl Barth zum 10. Mai 1951, 1951 (TEH 28). - Otto Weber, Die Treue Gottes u. die Kontinuität der menschlichen Existenz: Ekklesia Semper reformanda. Theol. Aufs, für E. Wolf zum 50. Geburtstag, 1952 (EvTh Sonderh.) 1 3 1 - 1 4 3 . Traugott Koch

Erweckung/Erweckungsbewegungen I. Historisch II. Dogmatisch III. Praktisch-Theologisch

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I. Historisch 1. Abgrenzung 2. Angelsächsischer Protestantismus 5. Skandinavien (Quellen und Literatur S. 216)

3. Westeuropa

4. Deutschland

1. Abgrenzung Der Begriff Erweckung, im späteren Halleschen Pietismus gebräuchlich (Bogatzky), erfuhr vor allem durch Lavater (z. B.: Erweckung zur Buße zu Gott und zum Glauben an den Herrn Jesum Christum, 1772) weite Verbreitung. Ursprünglich bezeichnete er die aktuelle, beständig zu wiederholende Rührung und Ermunterung des einzelnen aus dem Zustand der religiösen Trägheit und des Sündenschlafs zum geheiligten geistlichen Leben, später trat er oftmals an die Stelle des umfassenden Begriffs —»„Bekehrung" (Erweckungs-Geschichten, oder der mächtige Gnadenzug des Vaters zu dem Sohne, 1 8 1 8 ) . Im 18. Jh. haben innerhalb des angelsächsischen Protestantismus neuartige Formen der evangelischen Verkündigung und des Gottesdienstes zur Erweckung massenhafter Hörerscharen geführt und mehrere Erweckungsbewegungen hervorgebracht, und im 19. Jh. ist hier die missionierende Predigt des Revival in den meisten protestantischen Denominationen zu einer wichtigen kirchlichen Aufgabe geworden, die in der modernen —>Evangelisation fortgeführt wird. Dasselbe gilt für die missionierenden —»Jungen Kirchen in —»Afrika und —»Asien bis heute (u.a. —»Pfingstbewegung). Auf dem europäischen Festland belebte die Erweckungsbewegung vor allem die Regionen, in welchen der —»Pietismus heimisch war. Unter Rezeption verschiedenartiger Gedankenelemente (—»Idealismus, —»Romantik, —»Neuluthertum, —» Konfessionalismus) wirkte sie hier auf die Landeskirchen ein, ohne sie jedoch völlig durchdringen und ohne den aus dem —»Rationalismus erwachsenden kirchlichen —»Liberalismus an den Rand drängen zu können. Die deutsche —»Kirchengeschichtsschreibung hat sich bisher weitgehend der Erforschung der deutschen Erweckungsbewegung des 19. Jh. zugewandt. Während sie die Herrnhuter Brüdergemeine (—»Brüderunität/Brüdergemeine), der für den Brückenschlag

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Erweckung/Erweckungsbewegungen I

vom älteren Pietismus her große Bedeutung zukommt, aus ihren Darstellungen gewöhnlich ausgrenzt, pflegt sie den englischen —»Methodismus unter Anerkennung seiner zeitlichen und sachlichen Priorität der Erweckungsbewegung vorzuordnen. Im Unterschied zu Bruckner und Staehelin (HistMun 7), die eine Vielzahl religiöser Erneuerungsbewegungen von der Apostelzeit über die monastischen Reformen des Mittelalters, die Reformation und die katholische Reform hinweg bis hin zum Pietismus unter den Oberbegriff Erweckungsbewegung einzureihen versuchten, wird man bei dem Bemühen um eine spezifische Begriffsbildung die Darstellung der Erweckungsbewegung einerseits mit dem Methodismus zu beginnen haben (ähnlich schon Loofs: R E 3 1 2 [1903] 750f), andererseits mit denjenigen Bestrebungen auf dem Kontinent, die sich hier seit den 1780er Jahren dem Rationalismus in Kirche, Theologie und öffentlichem Leben mit Wort und Tat entgegenstellten: (1) Der Pietismus trat der erstarrten, aber noch immer offenbarungsgläubigen Orthodoxie gegenüber, die Erweckung hingegen ist als Reaktion auf die wachsende Macht des seiner selbst gewissen vernünftigen Denkens der Aufklärung wie auch auf die wachsenden sozialen Nöte der Zeit anzusehen. (2) Der veränderten Situation suchte man durch eine neuartige evangelisierende Predigt und durch modern organisierte missionierende Kräfte zu begegnen, die über die etablierte Ordnung der Staats- und Landeskirchen bewußt hinausgriffen. (3) Die vereinfachten biblisch-evangelischen und reformatorischen Elemente der Verkündigung erlangten eine außergewöhnlich tief reichende Durchschlagskraft, die die fortdauernden Impulse der älteren Erbauungsliteratur und der herkömmlichen Heiligungspredigt des Pietismus zu übertreffen und vor allem die mittleren und unteren Bevölkerungsschichten zu mobilisieren vermochte. — Während die Traditionen des angelsächsischen Revival namentlich in den US A bis in die Gegenwart hinein als solche lebendig geblieben sind (z. B. Billy Graham), sind die Impulse der kontinentalen Erweckungsbewegung auf mannigfache Weise in die Theologie und ins kirchliche Leben eingegangen und in ihm aufgehoben; am deutlichsten wirken sie hier in der—»Gemeinschaftsbewegung (seit 1880) fort. 2. Angelsächsischer

Protestantismus

In —»England nahmen bereits die noch vom Puritanismus geprägten, unter dem reformierten Spenerschüler Anton Horneck in London (gest. 1697) an den deutschen Pietismus anknüpfenden „Religious Societies" umfassende, unkonventionelle missionarische Hilfsmaßnahmen in Angriff; sie bauten in der Großstadt London das Armenschulwesen auf und schufen in der „Society for Promoting Christian Knowledge" (S.P.C.K., 1698) und in der „Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts" (S.P.G., 1701) zwei wichtige Institutionen, die der um sich greifenden religiösen Gleichgültigkeit im Inland ebenso wie der religiösen Unkenntnis im fernen Heidentum durch Bibelverbreitung und biblisch-erweckliches Schrifttum abzuhelfen versuchten. Dem Aufruf zur Verinnerlichung, den die auf die spätmittelalterliche —»Mystik zurückgreifenden vielgelesenen Schriften von W. —»Law erneuerten (On Christian Perfection, 1726; A Serious Call to a Devout and Holy Life, 1728), folgte zunächst auch der junge anglikanische Theologe J. —»Wesley mit gleichgesinnten Studenten in Oxford („Holy Club", 1729; „Methodists"), bis er im Kreise der Brüdergemeine am 24.5.1738 in London bei der Verlesung der Vorrede Luthers zum Römerbrief seine Bekehrung erlebte. Die nunmehr erlangte persönliche Gewißheit der Sündenvergebung verband er mit-dem nach einem Besuch in Herrnhut gefestigten Vorsatz, „to beget, preserve and increase the life of God in the souls of men". Zusammen mit seinem Bruder Charles (gest. 1788), dem Schöpfer des erwecklichen englischen Kirchenliedes, und dem begabten Prediger George Whitefield (gest. 1770) begann John Wesley 1739 - „I look upon all the world as my parish" — mit seinen lebenslangen, entbehrungsreichen Predigtfeldzügen in England, Irland (seit 1747) und Schottland (seit 1751); er sprach, meist unter freiem Himmel, mit beispiellos anhaltendem Erfolg, zumal unter den Bergleuten und bei der Landbevölkerung. Rechtfertigung durch den Glauben, Wiedergeburt und Heiligung waren die drei Hauptthemen seiner auf strenge Selbstprüfung, auf das Erleben der Erlösung und auf die tatkräftige Verwirklichung der Liebe zum Nächsten drängenden Predigt. Wider das ver-

Erweckung/Erweckungsbewegungen I

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nunftgläubige Christentum seiner Zeit betonte er die Lehre von der Erbsünde und von der Realität der biblischen Wunder. Der zupackende Aktivismus und das Vollkommenheitsstreben des Methodismus führten schon 1741 zur Entfremdung von Zinzendorf und von der Brüdergemeine, denen er die reformatorische Gnadenlehre verdankte, während die Zugehös rigkeit zur anglikanischen Staatskirche trotz schwerer Belastungsproben (Berufung von methodistischen Laienpredigern, 1744; selbständige Organisation) erst 1795 zerbrach, ohne das brüderliche Verhältnis zu ihr jemals ganz aufzuheben. Der methodistische Versuch, die christliche Heilsbotschaft den ihr entfremdeten Menschen in möglichst zeitgemäßen Formen wieder nahezubringen, gewann geradezu „prototypischen Charakter für die moderne io Kirchengeschichte" (Schmidt, John Wesley II, 409). In diesem Sinne wirkte der Methodismus auch in der anglikanischen Mutterkirche selbst weiter, wo die Evangelicals im Klerus, bes. Charles Simeon (gest. 1836), den erwecklichen Geist in die Universität —»Cambridge verpflanzten und nach dem Beispiel der methodistischen (1786) und der baptistischen Missionsgesellschaft (1792) die noch heute weltweit tätige „Church Missionary Society" u (C.M.S., 1799) begründeten. Vermögende Laien unter den Evangelicals um John Newton (gest. 1807) und John Venn (gest. 1813) in Clapham („Clapham Sect") verbanden ihre fromme, kirchentreue Lebensführung mit selbstlosem Dienst an den Notleidenden und vermochten auf die staatliche Politik und Gesetzgebung Einfluß zu nehmen („Saints in Politics"), voran W. —> Wilberforce, der erfolgreiche Kämpfergegen den Sklavenhandel (—»Skla20 verei). Erweckliche Motive führten auch zur interkonfessionellen Zusammenarbeit in der „London Missionary Society" (1795), in der „Religious Tract Society" (1799) und in der „British and Foreign Bible Society" (1804). Das ganze Jahrhundert hindurch erneuerten hervorragende Erweckungsprediger verschiedener Denominationen in allen Teilen Englands einschließlich Wales (1859; dort zuletzt Evan Roberts 1 9 0 4 - 1 9 0 6 ) und in Irland den 25 evangelistischcn Ruf zur persönlich ergriffenen Erlösung und Heiligung und zur Wahrnehmungder missionarischen undsozialenAufgaben,so vorallemderAnglikaner F.W. Robertson (gest. 1853), der Baptist Ch. H. —»Spurgeon (The Saint and his Saviour, 1857) und der Methodist H.P. Hughes (gest. 1902). Unterdessen verstärkte sich jedoch das konfessionelle Bewußtsein von neuem. Im Gegensatz zum liberalen Staat besannen sich die Anglikaner auf 30 die Besonderheiten ihrer Kirche: Tradition, geistliches Amt, Kirchenordnung und Liturgie, so daß die von den Theologen John Keble (gest. 1866), E. —»Pusey und ursprünglich auch von J . H . —»Newman durch ihre Schriften (Tractarianism) entfachte erweckliche anglokatholische Oxford-Bewegung ( 1 8 3 3 - 1 8 4 5 ) zur Wiederbelebung hochkirchlicher Frömmigkeit unter den Gebildeten führte (—»Anglokatholizismus). Auf der anderen Seite trug die von 35 den Laienpredigern William Booth (gest. 1912) und Catherine Booth organisierte —» Heilsarmee (1865) ohne Rücksicht auf Ritus und Sakrament die Botschaft von der Erlösung und die Tat der leiblichen und sozialen Rettung (—»Armenfürsorge, Trinkerheilung, Waisenerziehung) auf ihre drastisch-populäre, opfermutige Weise in die vom Großstadtelend bedrängten Schichten hinein. 40 In —>Schottland setzten die bekehrten Laien Robert Haidane (gest. 1842) und James Haidane (gest. 1851) den liberalen, „gemäßigten" Vertretern („Moderates") der presbyterianischen Staatskirche die erweckliche Verkündigung der Versöhnung entgegen. Nach methodistischem Vorbild sammelten sie auf Reisepredigten und durch Verteilung erbaulicher Schriften eigene Gemeinden in eigenen Versammlungshäusern (tabernacles"). Mit ihrer 45 Hinneigung zur Glaubens- und Erwachsenentaufe näherten sie sich den Baptisten. Der in mehreren Wissenszweigen (Mathematik, Naturwissenschaften, Volkswirtschaft) durchgebildete Theologieprofessor Th. —»Chalmers in —»Edinburgh, der spätere Mitbegründer der —»Evangelischen Allianz „against Popery and Puseyism" (1846), verjüngte die traditionelle christliche —»Apologetik durch modernere Argumente und ergänzte sie durch sein eigenes, so seit der Bekehrung (1810) festgefügtes evangelisches Zeugnis. Ein Mann tätigen Christentums, appellierte er gleichzeitig an die christliche Verantwortung des ganzen Volkes zur Durchsetzung umgreifender kirchlicher und sozialer Reformen, um die negativen Auswirkungen der-»Industrialisierung zu mildern. Die nach der Lösung von der Staatskirche (Dis-

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ruption 1843) von ihm geleitete „Free Church of Scotland" (—»Freikirchen) setzte seine volksmissionarischen und christlich-sozialen Leitgedanken ohne staatliche Hilfe in die Tat um („The gospel in action".) In noch höherem Maße als das britische, wurde das neuentstehende nordamerikanische Kirchentum (—»Vereinigte Staaten von Amerika) im 18. und 19. Jh. durch die Erweckung geprägt, ja z. T. erst eigentlich begründet; sie ergriff hier über die Grenzen der Denominationen hinweg den gesamten Protestantismus und wurde zum wichtigsten Faktor der „Americanization of Christianity" (Sweet). Nach einzelnen regionalen Erweckungen unter den Reformierten (Frelinghuysen) und Presbyterianern (Vater und Brüder Tennent) in New Jersey (seit 1726) führte die Erweckung unter den Kongregationalisten in Massachusetts, die der gelehrte Puritaner J. —»Edwards seit 1734 auslöste und genau beschrieb, zusammen mit mehreren erfolgreichen Predigtreisen G. —»Whitefields zu der ersten Großen Erweckung („First Great Awakening"), die schließlich sämtliche Kolonien erfaßte (1734-1744). Auf die calvinische Prädestinationslehre zurückgreifend, stellte Edwards in seinen Predigten über die Rechtfertigung das bis dahin geduldete und sogar (mit Gen 17,7) theologisch legitimierte Gewohnheitschristentum des „Half-Way Covenant" bloß und forderte das offene Bekenntnis persönlicher Glaubens- und Heilsgewißheit. Während Edwards gegenüber aufwallenden Emotionen skeptisch gestimmt war, zielte Whitefield mit seiner Rednergabe („electrifying eloquence") gerade auf sie ab; einig waren beide in der Lehre von der Erwählung und von der Notwendigkeit lebendigen Glaubens („experimental religion") (—»Erfahrung). In ausgesprochenem Gegensatz gegen die wachsende Macht rationalistischen und liberalen Denkens entfaltete sich dann die zweite Große Erweckung („Second Great Awakening") zunächst in Connecticut, geführt von Timothy Dwight (gest. 1817) am Yale College, und danach, von Kentucky und Ohio ausgehend, unter den nach Westen vorrückenden Siedlern (1797-1805). Die erwecklich verkündigte Botschaft begleitete sie an der beweglichen Grenze zur Wildnis („frontier") entlang, um sie für Christentum und Kirche zurückzugewinnen: „Revivalism as the Religion of the Frontier" (Burr). In den formlosen, ja liturgiefeindlichen, spontanen und gefühlsbetonten Gottesdienstfeiern der „camp meetings" kam das einfache Zeugnis der Laienprediger und die Gemeinschaft im Gebet und Gesang unter freiem Himmel zur Wirkung: „Amazing grace! How sweet the sound/that saved a wretch like me. I once was lost, but now am found/was blind, but now I see" (John Newton, bei Lorenz 127). Im Unterschied zu der lockeren Organisation der „camp meetings" achtete Ch. G. —> Finney bei seinen Predigtkampagnen auf die nachfolgende seelsorgerliche Betreuung seiner Hörer durch freiwillige Mitarbeiter. Finney lenkte in die Städte zurück („Urban Revivalism"). Er wurde zum berühmtesten amerikanischen Evangelisten seiner Zeit. 1821 unter dem Erlebnis einer Geistestaufe bekehrt und zum presbyterianischen Prediger geschult, wirkte er vor allem im Osten der USA und später in England. Den Emotionen abhold, entwickelte er als Professor am Oberlin College (Ohio) eine Theorie der Evangelisation (Lectures on Revivals of Religion, 1835). In seiner perfektionistischen Heiligungslehre rief er zur Buße, zum Gehorsam und zu einem Gott verantwortlichen Gebrauch des Besitzes („stewardship") auf (Views on Sanctification, 1840). Während der wirtschaftlichen Depression („Panic of 1857") erlangten die von Laien geleiteten mittäglichen Gebetsversammlungen in den Großstädten des Ostens mächtigen Zuspruch; sie beschränkten sich auf Ermahnung, persönliche Fürbitte und Gesang. Dem Einsatz der erweckten Laien für die Verchristlichung des öffentlichen Lebens durch Sonntagsheiligung, Unterweisung der Jugend (—»Sonntagsschule) und Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs (Temperanzbewegung), den der Prediger Henry War Beecher (gest. 1887), der Bruder der Harriet Beecher Stowe (Uncle Tom's Cabin, 1852), wirkungsvoll unterstützte, gelang schließlich auch die Abschaffung der —»Sklaverei (1864). Zum erfolgreichsten Erweckungsprediger de „New Revivalism" wurde indessen im letzten Viertel des Jahrhunderts der Kaufmann Dwight L. Moody (gest. 1899), der Leiter der (1844 in London begründeten) „Young Men's Christian Association" (YMCA/CVJM) in Chicago und Stifter des „Chicago Bible Institute" (1889), der sich auf seinen Predigtreisen durch die USA und Kanada von dem Sänger und Organisten Ira D. Sankey begleiten ließ und

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in England von dem Naturwissenschaftler Henry Drummond (gest. 1879) unterstützt wurde, dem Verfasser von Natural Law and Spiritual Law (1883) und The Greatest Thing in the World (1889) und Initiator der Studentenmission. Abgesehen von der planvollen äußeren und inneren Vor- und Nacharbeit auf breiter interkonfessioneller Grundlage, beruhte der Erfolg Moodys auf seiner schlichten, eindringlich vergewissernden Verkündigung der Erlösung des einzelnen durch die Liebe Christi, wobei er ungelehrt und unvermittelt die gesamte Heilige Schrift unterschiedslos auf das persönliche Glaubensleben hin auslegte und die geistliche Erfahrung mit anekdotenhaften Beispielen aus dem Alltag illustrierte. In seinen weitverbreiteten Liedern ergänzte Sankey die Einladung zur Umkehr durch den Appell zum Dienst und Kampf in der —»Nachfolge Jesu. Obwohl die in der kirchlichen Diskussion zunehmend umstrittenen „revivais" nach 1900 ihren bevorzugten Rang allmählich einbüßten, trugen sie zu dem erstaunlichen Wachstum der Kirchenmitgliedschaft in den USA wesentlich bei (nach Scharpff 204: i. J. 1870 17% der Bevölkerung; 1930: 47,6%). Darüber hinaus erfaßten sie, von so verschiedenartigen Evangelisten wie R. A. Torrey, H. Wilbur Chapman, Billy Sunday (gest. 1935) und Gipsy Smith im Geist und Stil Moodys fortgesetzt, den angelsächsischen Protestantismus in aller Welt einschließlich —»Australien und —»Neuseeland (—•Evangelisation). Durch den Methodisten J.R. —»Mott, den Sekretär des Christlichen Studentenweltbundes und Verfasser der Programmschrift The Evangelisation ofthe World in this Generation (1900), gelangten die Impulse des Revivalism bis in die—»Ökumene hinein. 3.

Westeuropa

Im Unterschied zu den Freiräumen im englischen und amerikanischen Protestantismus sahen sich die Vertreter der Erweckung auf dem europäischen Festland der beherrschenden Monopolstellung des Staatskirchentums (—»Staatskirche) gegenüber. In der französischen —»Schweiz wurde die Kirchenkritik, die seit 1810 ein kleiner Kreis von Erweckten unter Ami Bost (gest. 1874), von den Brüdern Haidane bestärkt, an der reformierten Landeskirche Genfs übte, von der vom Rationalismus durchdrungenen Pfarrerschaft als Rückfall in die längst überholte altreforinierte —»Orthodoxie mit publizistischen und juristischen Mitteln jahrelang bekämpft. Nur unter großen Opfern konnte sich der Réveil teils durch Bildung freier Gemeinden (Bourg-de-Four, Oratoire) und Errichtung der „Église libre" (1849), teils innerhalb der Landeskirche durch Begründung der „Société évangelique de Genève" (1831) und Eröffnung einer eigenen theologischen Schule (1832; —»Genf) allmählich das Daseinsrecht sichern. Von hier wurde die Erweckung über das eigene Land hinausgetragen, so von César Malan (gest. 1864), dem Verfasser zahlreicher Traktate und erwecklicher Lieder (Chants de Sion), bis nach Belgien, Holland und England, vor allem aber auch von Felix Neff (gest. 1829), den die „Société évangelique de France" (1833) unterstützte, in die reformierten Gemeinden Südfrankreichs hinein, wo John Bost (gest. 1874), der „französische Bodelschwingh" in La Force (Dordogne) eine Anstalt der Diakonie ins Leben rief (1847). Anregungen aus dem Réveil waren es auch, die Henri Dunant zur Begründung des Internationalen Roten Kreuzes (1863) führten (Winkler 1 4 4 - 1 5 2 ) . Zum wichtigsten Theologen der Genfer Erweckung wurde der Kirchenhistoriker Jean Henri Merle d'Aubigné (gest. 1872), der in seiner bis heute vor allem in englischer Sprache verbreiteteten Histoire da la Réformation (5 Bde., 1835-1853) die Reformation mit dem Urchristentum verglich, vom Réveil her verstand und erbaulich-apologetisch zur Darstellung brachte: „Leur oeuvre est une conversion en grand. C'est de la transformation operée dans l'individu que doit résulter la transformation dans le monde" (1,583). Um eine Versöhnung von Glauben und Wissenschaft und um Toleranz bemüht, beklagte er die Verurteilung M. Servets durch Calvin. Er hielt aber andererseits an der Inspirationslehre fest, und unter dem Eindruck der Revolution von 1830 berechnete er das Weltende auf die Zeit zwischen 1850 und 1900. Im benachbarten Waadtland führte das Ringen um den Réveil gleichfalls zur Begründung einer „Église libre" und zur Eröffnung einer eigenen theologischen Schule in —»Lausanne (1847). Bei aller Sympathie für erweckliches Christentum vollzog aber A. —»Vinet keine Rückkehr zu altorthodoxen Leh-

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ren: „Ce n'est pas au christianisme, c'est à Jésus-Christ que nous devons aller" (Astié 1,33). In Neuchâtel kam es angesichts des vordringenden Liberalismus noch 1873 zur Bildung einer vom Staat unabhängigen Kirche (bis 1943). Auch in —»Frankreich, wo die Einflüsse des Genfer Réveil mit Impulsen des englischen Methodismus zusammentrafen, traten Separationen ein. Nach dem Vorbild von London und Basel wurden in Paris die Bibelgesellschaft (1818), die Traktatgesellschaft und die Mission sgesellschaft (1822) begründet; 1841 trat die Diakonissenanstalt hinzu. Als der junge Erweckungsprediger Adolphe Monod (gest. 1856) in Lyon auf die altreformierte Kirchenzucht zurücklenkte (Qui doit communier ?, 1832) und daraufhin abgesetzt wurde, sammelte er zunächst eine freie Gemeinde, die sich der Evangelisation und Diakonie in der werdenden Großstadt verpflichtete. Mit psychologischer und rhetorischer Kunst eher als mit evangelistischen Argumenten und mehr auf den allmählichen Gesinnungswandel als auf plötzliche Bekehrung dringend, gelang es ihm als gefeiertem Kanzelredner in Paris (seit 1847), weitere Kreise der Nationalkirche („église établie") für die Gedanken des Réveil zu gewinnen, während eben jetzt sein Bruder Frédéric Monod (gest. 1863), weil er ein klares Bekenntnis an ihr vermißte, aus ihr austrat und die evangelische Freikirche („église évangelique") in Frankreich begründete (1849). Auf die Dauer jedoch ließen sich liberale Tendenzen ebenso wenig von dieser fernhalten, wie in jener die Erweckung den Sieg errang; im letzten Drittel des 19. Jh. begannen sich die verschiedenartigen Elemente miteinander zu verbinden. In den —»•Niederlanden, wo sich die Anstöße aus England und aus dem Genfer Réveil ebenfalls kreuzten, entstanden zunächst, nach britischem Vorbild von erweckten Laien getragen, die niederländische Missionsgesellschaft ( 1797) und die niederländische Bibelgesellschaft (1814). Zur spürbaren Kraftentfaltung gelangten diese Anstöße jedoch erst nach dem —•Napoleonischen Zeitalter im Zeichen der —»Romantik und der nationalen —»Restauration, deren Grundsätze der gelehrte Dichter Willem Bilderdijk (gest. 1831) in seinen Vorlesungen über die vaterländische Geschichte in Leiden (1817) verbreitete. Sein Wirken führte zur Bekehrung seiner jüdischen Schüler Isaac Da Costa (gest. 1860) und Abraham Capadose und zur Bildung eines wachsenden Freundeskreises von Erweckten. In aufsehenerregenden Flugschriften rief Da Costa alsbald das ganze Volk zur Umkehr zum gläubigen Christentum auf (Aan alle Christenen, 1822; Bezwaren tegen den geest der oeuw [Anklage wider den Geist der Zeit], 1823), während ein weiterer Schüler Bilderdijks, der konservative Historiker Guillaume Groen van Prinsterer (gest. 1876), von Merle d Aubigné in Brüssel für den Réveil und die Traditionen des Calvinismus begeistert, das weithin vom Liberalismus bestimmte Volksleben auf die neue religiöse Bahn zu lenken versuchte. Dem reformierten Pfarrer Otto G. Heldring (gest. 1876), der als erwecklicher Volksschriftsteller hervortrat, gelang es schließlich, in Korrespondenz mit J. H. —»Wiehern die Freunde des Réveil zur aktiven Behebung sozialer Nöte zu gewinnen (Steenbeck, 1848). Unter manchen Theologen, denen der mittlere Kurs der „Hervormde Kerk" und die —»Vermittlungstheologie der Groninger Schule (seit 1830; -»Groningen) ungenügend erschien, verband sich die Erweckung mit der Hinwendung zu den alten —»Bekenntnisschriften, worüber sich einige „gereformeerde" Gemeinden („Afscheiding van 1834") absonderten und zur Errichtung einer eigenen Hochschule schritten (Kampen 1834). Bei den Vertretern der sog. Ethischen Theologie, wie z.B. bei Daniel de la Saussaye d.Ä. (gest. 1874), der im Gegensatz zum Konfessionalismus die Gewissenstheologie Vinets weiterbildete, und bei Nicolaas Beets (gest. 1903), dem Verfasser der vielgelesenen Stichtelijke Uren [Erbauliche Stunden] ( 1 8 4 8 - 1 8 8 3 ) , wurden die Elemente der Erweckung in neuartige Zusammenhänge gebracht. So wurde der Réveil in den verschiedenen Richtungen unterschiedlich aufgehoben. 4. Deutschland In Deutschland gab es im letzten Viertel des 18. Jh., abgesehen vor allem von Württemberg, wo Pfarrer und Gemeinden weithin in der Tradition des älteren Pietismus verharrten, eine Anzahl von verschiedenartigen Einzelgestalten (—»La va ter, —»Oberlin, F. H. -»Jacobi, M. Claudius,—»Novalis) und Kreisen (z.B. den Kreis von Münster um die Fürstin von Gal-

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litzen; J. G. —»Hamann, J. B. Overberg), die sich von der starken Anziehungskraft der frommen Aufklärung nicht hatten überwinden lassen. Vor allem blieb die Herrnhuter Brüdergemeine mit ihrer weiten Diaspora —»Zinzendorf und seinem Widerspruch gegen das Zeitalter der Vernunft treu, desgleichen die Anhänger —»Tersteegens (z. B. J. G. Hasenkamp, S. —»Collenbusch), der einst am Deismus Friedrichs d.Gr. Kritik geübt hatte; aber die Kräfte dieser „Stillen im Lande" (Ps 35,20) taugten nur zum Widerstand, nicht zum missionarischen Angriff. Die Neugründung der Christentumsgesellschaft (1780) (—»Basel, Christentumsgesellschaft) diente zunächst dem Ziel, die altgläubigen Evangelischen im deutschen Sprachgebiet gegen die Neologie zusammenzuschließen und ohne Unterschied der Konfession, der Kirchenzugehörigkeit und der gesellschaftlichen Stellung untereinander und mit dem Basler Zentrum in brieflichen Gedankenaustausch zu bringen. Nach Jahren wagte sie sich dann mit dem Vertrieb von Erbauungsschriften („Traktatgesellschaft", 1802) über die ihr gleichgesinnnten Kreise hinaus. Schließlich aber tat sie mit der Begründung der „Basier Missionsgesellschaft" (1815) einen für die Kirchengeschichte des Jahrhunderts folgenreichen Schritt in die Welt: Sie fand ihr fruchtbarstes Aufgabengebiet - fern vom Gegensatz zum europäischen Rationalismus — in der Heidenmission (—»Mission). So wurde die Erweckung zur Erwekkungsbewegung daheim und draußen. Indessen mehrten sich unter dem Eindruck der —•Französischen Revolution, die als Folge und Höhepunkt der gottlosen Aufklärung bewertet wurde, die Stimmen, die zur individuellen Bekehrung und zur Rückkehr zur altevangelischen Rechtgläubigkeit aufriefen, so vor allem der Nationalökonom und reformierte Laientheologe und Volksschriftsteller J.H. -»Jung-Stilling in Marburg und Karlsruhe, der „Patriarch der Erweckung", der die politischen Wirren seit 1792 als Zeichen des nahenden Weltendes deutete und seinen christlichen Lesern einen irdischen Bergungsort im Osten Europas prophezeite, — eine Prophezeiung, deren Erfüllung ihm dann seit der Proklamation der Heiligen Allianz durch Zar Alexander I. (1815) verbürgt erschien, war doch dessen Frömmigkeit, angeregt u.a. durch Juliane von —»Krüdener, ganz vom Geist der Erweckung bestimmt. Unabhängig davon fanden im Allgäu in den 1790er Jahren die katholischen Priester Martin Boos (gest. 1825), Michael Feneberg (gest. 1812), J.E. —»Goßner und Ignaz Lindl (gest. 1845), von der Christozentrik J.M. —»Sailers angeleitet, zum persönlich ergriffenen biblischen Rechtfertigungsglauben, dessen sachliche Übereinstimmung mit dem Kern der Reformation ihnen bewußt wurde: „Christus für uns! Er starb für uns am Kreuz. Christus in uns! Es lebt in uns sein Geist". Ihre unerschrockene Verkündigung löste die katholische Erweckungsbewegung im Allgäu und in Oberösterreich (—»Österreich) aus (Gallneukirchen, 1806), zog aber auch die kirchenamtliche Verfolgung nach sich, vor der Boos schließlich ins Rheinland auswich, aber katholisch blieb, während Lindl (1824) und Goßner übertraten und die Erweckung in die evangelische Kirche hineintrugen. Der Durchbruch in ganz Deutschland, den die Frommen von dem religiösen Aufschwung der Befreiungskriege erhofften, trat zwar nicht ein. Aber immer neue Kreise wurden in den folgenden Jahren und Jahrzehnten von ihr erfaßt und durchdrungen. In Berlin (—»Brandenburg) begründete Johannes Jänicke (gest. 1827), Prediger der Brüdergemeine, nach englischem Muster eine Missionsschule (1800), deren Absolventen er ausländischen Missionsgesellschaften zur Verfügung stellte. Goßner, sein Nachfolger (1829), verknüpfte die erbauliche Predigt und Schriftstellerei (Das Herz des Menschen, ein Tempel Gottes oder eine Werkstatt des Satans, \%2\-,Lieder von der erlösenden Liebe, 3 1825) mitder —»Diakonie (Krankenverein, Kindergarten, Elisabeth-Krankenhaus 1837) und der äußeren Mission („Goßnersche Missionsgesellschaft", 1842). Vom Erlebnis der Niederlage und des Wiederaufstiegs Preußens geprägt, wandte sich unterdessen eine Anzahl junger Patrioten, voran Adolf von Thadden und August Moritz von Bethmann Hollweg, der Erweckungsbewegung zu. Ihnen schlössen sich die drei Brüder von Gerlach, die Brüder von Senfft-Pilsach, Carl von Rappard und andere Adelige an, die später teils als Kirchenpatrone auf ihren Gütern in —»Pommern (Konferenzen der erweckten Pfarrer in Trieglaff, seit 1829), teils als Regierungsbeamte das erweckliche Christentum zur Geltung brachten; auch Friedrich Wilhelm III. öffnete sich ihm. Bei ihnen allen verband es sich mit der fortschreitenden —*Restau-

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ration in Kirche, Politik und im öffentlichen Leben Preußens. Mittelpunkt für die Brüder auch aus den unteren sozialen Schichten, „die du geweckt vom Sündenschlafe, gezählt hast unter deine Schafe" (vgl. Kantzenbach [ 1963] 192), war und blieb in Berlin der fromme Baron E. v. —»Kottwitz, dem „Sünde und Gnade und Christus allein" sein Alles war und der sein Leben in Liebestätigkeit aufgehen ließ. Ähnlich selbstlos lebte und lehrte hier der Kirchenhistoriker A. —»Neander, für den ein platonisierender Idealismus die Brücke vom angestammten Judentum zum erwecklichen Christentum geschlagen hatte (1806); seine gefühlsbetonte Pektoraltheologie (,pectus est qttod facit theologum" [das Herz macht den Theologen]) veranschaulichte er an dem gottinnigen Wandel christlicher Persönlichkeiten aller Jahrhunderte. Den romantischen Organismusgedanken mit biblischen Kategorien verknüpfend (Gleichnis vom Senfkorn und vom Sauerteig), begriff er die Geschichte des Christentums als den Prozeß der allmählichen Durchdringung der Welt mit dem guten Gottesgeist. Neander vertrat die ursprünglich irenische Weitherzigkeit der Erweckung und lehnte ihre wachsende Hinneigung zum verengenden —»Konfessionalismus ab. Seinen Intentionen blieb sein Schüler A. —»Tholuck in Halle treu, der die wichtigste Monographie der deutschen Erweckungstheologie verfaßte (Die Lehre von der Sünde und dem Versöhner, oder die ivahre Weihe des Zweiflers, 1823 9 1871) und seinen akademischen Unterricht mit großem Erfolg zu „Eroberungen für den Herrn" zu gestalten wußte, desgleichen auch dessen Gesinnungsfreud J. —»Müller (Die christliche Lehre von der Sünde, 2. Bde., 1838-1844), während in Berlin E.W. —»Hengstenberg und die Brüder Gerlach (Evangelische Kirchenzeitung, seit 1827) in ihrem schroffen Kampf für das Luthertum gegen Rationalismus und Liberalismus die freieren erwecklichen Momente ihrer Anfänge immer mehr zurücktreten ließen. Eine rein konfessionell geprägte Erweckung förderte seit 1828 in —»Sachsen Andreas Gottlob Rudelbach, Superintendent in Glauchau (gest. 1862), nach seinem Selbstzeugnis „ein geborener Lutheraner" (Zs. Der Pilger aus Sachsen, seit 1835). Den Theologen Joh. Gottfried Scheibel (gest. 1843) und den Philosophen Henrik Steffens (gest. 1845) in -»Breslau (—»Schlesien) trieb ihr erwecklich vertieftes konfessionelles Luthertum sogar in die Separation und zur Begründung der lutherischen „Leipziger Missionsgesellschaft" (1836); schließlich führte es zur Bildung der altlutherischen Kirche in Preußen (1845) (—»Neuluthertum). Um im Streit um Union, Agende und Bekenntnis einigende Kräfte zu entfalten, erwies sich die Erweckung, von der die Neubesinnung ausgegangen war, als zu schwach. So trennten sich auch die Wege in Pommern: Die Brüder Below verschrieben sich einem kirchenkritischen Spiritualismus, und Adolf von Thadden, in dessen Haus Bismarck von der Erweckung berührt wurde (1846/47), trat den Altlutheranern bei, während die Pfarrer Gustav Knak (gest. 1878; „Laßt mich gehn, laßt mich gehn, daß ich Jesum möge sehn") und Moritz Görcke die Erweckungsbewegung innerhalb der Landeskirche führten. Innerhalb —>Bayerns scharte sich um den Dichterpfarrer Johann Gottfried Schöner (gest. 1818) und den Kaufmann und tatkräftigen Förderer der evangelischen Gemeinden in Österreich Joh. Tobias Kießling (gest. 1823) ein besonders aktiver Kreis von Freunden der Basler Christentumsgesellschaft, unter ihnen der Sprachgelehrte Johann Arnold Kanne (gest. 1824) und der Naturforscher Gotthilf Heinrich von Schubert (gest. 1860). Vom Denken der Romantik zu umfassender Spekulation angeregt, erschlossen sie ihren Schülern ein erweckliches Christentum von weitem Horizont - Kanne im Zeugnis von den Führungen Gottes im Menschenleben (Sammlungen wahrer und erwecklicher Geschichten aus dem Reiche Christi und für dasselbe, 1 8 1 7 - 1 8 2 2 3 1842), Schubert im Verweis auf die Spuren Gottes in der Natur und in der menschlichen Seele (Die Geschichte der Seele, 1830 5 1878). In dieselbe Richtung wirkten auch der Geologe Karl von Raumer (gest. 1856) und der Theologe Friedrich Heinrich Ranke (gest. 1876) in Erlangen. Hier wurde der reformierte Theologe Christian Krafft (gest. 1845) zum Haupt einer Erweckung unter Studenten und zum geistlichen Vater der Väter der lutherischen Erlanger Theologie (—»Erlangen), die er auf die Heilige Schrift und die reformatorischen Bekenntnisse verwies. Nach 1830 ging aber auch hier die Erweckung ein Bündnis mit dem Konfessionalismus ein. Ursprünglich von Tholuck gewonnen, vermittelte A. v. —»Harleß das so entstehende —»Neuluthertum von Erlangen

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nach —»Leipzig (seit 1845). Auf der anderen Seite gelang es ihm, von der bayerischen Landeskirche die Gefahr der Spaltung abzuwenden, die ihr von W. -»Löhe in Neuendettelsau und seinem erwecklich-hochkirchlichen, amtsbewußten, zur Unabhängigkeit vom Staat drängenden Luthertum drohte. In der lutherischen Kirche —» Württembergs stand dem Rationalismus die Tradition eines selbständigen biblisch-heilsgeschichtlichen und spekulativen Pietismus (J. A. —»Bengel; Fr. Chr. —»ötinger; Ph.M. - • H a h n ; Christian Adam Dann) entgegen. Die Erweckungsbewegung löste ihn hier nicht ab, sondern belebte ihn, indem sie ihn von seiner Selbsterbauung auf die rastlose Reich-Gottes-Arbeit in der Welt hinleitete. Seit 1790 gewann der auf der Theosophie J. —»Boehmes aufbauende, die Wiederbringung aller Dinge lehrende Laie M.—»Hahn mit seiner strengen Büß- und Heiligungspredigt wachsenden Anhang (Gründung von —»Korntal 1819, G. —»Hoffmann; Wilhelmsdorf 1824). Gleichzeitig breitete sich das ganz andersartige „Freudenchristentum" des Pfarrers Christian Gottlob Pregizer (gest. 1824) aus, der die Seligkeit der Erlösung und der Taufgnade hervorhob und die Johannesapokalypse aktualisierte: „für die heiige Reichgsgemein soll sie Reichs-Kalender sein" (Gotthold Müller 410). Die enge personelle Verbindung zwischen den Frommen Württembergs und der Basler Christentumsgesellschaft (an leitender Stelle C.F.A. Steinkopf, Chr. Gottlob Barth, Chr. Gottlieb Blumhardt [gest. 1838], Chr. Fr. Spittler, Chr. Hch. Zeller) mit ihren zahlreichen missionarischen und diakonischen Werken weckte jahrzehntelang immer neue Kräfte auf beiden Seiten („Württembergische Bibelgesellschaft", 1812, „Calwer Verlagsverein", 1833,22 Rettungsanstalten bis 1845). Nachhaltige Wirkung ging von der erneuerten lutherischen Botschaft von —»Gesetz und Evangelium durch L. —»Hofacker (gest. 1828) aus, der nach seinem eigenen Zeugnis gegen die Neologen „treiberisch", „keilförmig" und mehr erwecklich als erbaulich predigte (Predigten 18 2 8 4 6 1 906). Seine Freunde, voran der Theologe und Dichter Albert Knapp (gest. 1864; Evangelischer Liederschatz, 1837), verbreiteten die Erweckung im Volk (Christoterpe, Christenbote seit 1832), während Prälat Sixt Karl Karpff (gest. 1879) und Hofprediger Karl Gerok in Stuttgart (gest. 1890; Palmblätter 1857 111 1902) im Kampf gegen den Liberalismus den erneuerten Pietismus ohne Hang zum Konfessionalismus im Kirchenregiment zur Geltung brachten. In Distanz zur Kirche übertrug Gustav Werner (gest. 1887) seine erwecklichen Anstöße auf das soziale Gebiet (Wemersche Anstalten seit 1840): „Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert." Unabhängig von der Kirche vermittelte ihn Joh. Chr. —»Blumhardt nach der aufsehenerregenden Erweckung in Möttlingen (1843) einem internationalen Freundeskreis in Bad Boll (1852). Im Gegensatz zur Kirche („Babylon!") rief Chr. —»Hoffmann die „Jerusalemsfreunde" zur Verwirklichung seiner christlichen Ideale in Palästina auf („Tempelgesellschaft", 1861). So unterschiedlich diese Kräfte auch waren und wirkten, vermochten sie doch den erwecklichen Pietismus zur aktiven, allgemein beachteten Macht im öffentlichen Leben zu erheben. Im benachbarten —»Baden, das keine pietistische Tradition kannte, führten Anregungen aus Korntal den katholischen Priester Aloys Henhöfer (gest. 1862) auf den paulinisch-reformatorischen Heilsweg („Erst selig, dann heilig"); er wurde zum Haupt der Erweckung in den mittelbadischen Landgemeinden und zum Anführer einer kleinen, aber tatkräftigen neupietistischen Minderheit unter der Pfarrerschaft, während der Fabrikant Carl Mez in Freiburg (gest. 1877) als „christlicher Sozialist" in seinen Betrieben musterhaft fortschrittliche Sozialeinrichtungen mit erwecklicher Zielsetzung schuf. Innerhalb der gleichfalls weithin vom Liberalismus bestimmten Landeskirche —»Hessens wirkte der ehemalige Priester Franz Josef Helferich (gest. 1881) in Rheinhessen für die Erweckung. In Nieder- und Oberhessen setzte sich A. —»Vilmar in - » M a r b u r g (gest. 1868), „von Gott umgewendet", zusammen mit seinem Bruder Wilhelm und einem Kreis kampfbereiter Pfarrer und Lehrer für Kirche, Sakramente, Bekenntnis, Kirchenzucht und geistliches —»Amt ein. Er forderte, die Predigt des Theologen, der „Erfahrung im christlichen Leben" besitzen und „nicht sinnen und speculieren, sondern Seelen selig machen soll", müsse ein „durch Gebet vermitteltes Zeugnis sein" (Theologie der Thatsachen wider die Theologie der Rhetorik, 1856 [17.67.96]). Im Siegerland gewann unterdessen der Schuhmacher Heinrich

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Weisgerber (gest. 1868), der Begründer einer klösterlichen Hausgemeinschaft in Eisern (1834-1854), zahlreiche neue Anhänger für das Heiligungsstreben Tersteegens („Ohne Reinigung keine Vereinigung", I Joh 3,3), während sich die Erweckung im Einklang mit der Landeskirche jahrzehntelang dank der eifrigen Vereinsarbeit mehrerer Glieder der Familie Siebel verbreitete, so vor allem durch den Gerber Tilman Siebel in Freudenberg (gest. 1875), den „Erwecker des Siegerlandes" (Verein für Reisepredigt, 1853; Vereinshaus Hammerhütte in Siegen", 1880), der mit Goßner und Blumhardt korrespondierte, mit Weisgerber aber zeitweise (1834-1843) in Konflikt stand. Zum Mittelpunkt des neuen geistlichen Lebens wurde jedoch das aufstrebende Wuppertal, „nächst Basel der fruchtbarste Ort und Gegend im Reiche Gottes in Deutschland" (Krummacher 127), wo die Kirchen beider evangelischen Konfessionen, vom Pietismus geprägt, mit den bestehenden Gemeinschaften harmonierten. Hier arbeiteten zur gleichen Zeit und im gleichen Sinn die reformierten Prediger Gottfried Daniel Krummacher in Elberfeld (gest. 1837), der den erwecklichen Subjektivismus durch den Rückgriff auf Luther und auf Calvins Prädestinationslehre vertiefte, und sein Neffe Friedrich Wilhelm Krummacher in Gemarke (gest. 1868 als Hofprediger in Berlin), der nach eigenem Auspruch „daf Biblisch-Massive" liebte und verkündigte, sowie die lutherischen Pfarrer Carl August Döring in Elberfeld (gest. 1844), der sich als Traktatschriftsteller und Begründer der ersten Jünglingsvereine (—»Vereinswesen) hervortrat, und Immanuel Friedrich Sander in Wichlinghausen (gest. 1859), der Nachfolger von Wilhelm Heubner, der das Predigerseminar in Wittenberg seit 1817 im erwecklichen Geist geleitet hatte. H. —»Kohlbrügge in Elberfeld (gest. 1875) wandte sich hingegen von der Offenheit des Reveil, aus dem er ursprünglich kam, ab und einer strengen reformierten Rechtgläubigkeit zu. Ähnlich wie in Württemberg konnte es im —»Rheinland lange Zeit hindurch scheinen, als wäre der auf Gemeinschafts- und Vereinsbasis organisierte, weitgehend von den Laien getragene erweckliche Pietismus mit seiner intensiven Seelsorge und Diakonie (Graf Adalbert von der Recke-Volmerstein; Düsseltaler Anstalten, 1822) in der Lage, im Ringen mit der Entchristlichung und mit den aus der —»Industrialisierung entstehenden sozialen Nöten den Sieg davonzutragen und wohl gar ein Stück Reich Gottes in der Welt zu verwirklichen. Die nachhaltige Erweckung der bäuerlichen Bevölkerung in Minden-Ravensberg geht auf den lutherischen Pfarrer Johann Heinrich Volkening in Jöllenbeck (gest. 1877), den Förderer der Jugendarbeit, der Posaunenchöre und des Chorgesangs (Herausgeber der Missionsharfe, 1853 8 2 1925), zurück, der sich mit seinen Amtsbrüdern auf die volkstümlich gepredigte lutherische Botschaft von Gesetz und Evangelium konzentrierte. Ebenso große Wirkung erzielte die „Bauernmission" des heimatverbundenen lutherischen Pfarrers L. —»Harms in Hermannsburg, dessen einfache, aber eindringliche Bekehrungspredigt, regelmäßige Sonntagsgespräche und Seelsorge in den Dorfgemeinden der Lüneburger Heide strikte Sonntagsheiligung erreichte und den Opferwillen für die Werke der Liebe („Hermannsburger Mission", 1849) wachrief. Den lutherischen Stadtpfarrer Adolf Petri in —»Hannover (gest. 1873) und seine Freunde, unter ihnen den Liederdichter Ph. Spitta (Psalter und Harfe, 1 8 3 3 - 1 8 4 3 5 5 1884) und den Juristen A. v. -»Arnswaldt, führte die Erwekkung alsbald in den kirchenpolitischen Kampf für Agende, Katechismus und innere und äußere Mission im Geist eines unionsfeindlichen konfessionellen Luthertums. So entstanden auch in der Landeskirche Hannovers mehrere Zentren einer bekenntnistreuen Erweckung, die dem Liberalismus entgegenwirkte. In —*Bremen bereitete der reformierte Pfarrer G. —»Menken, der einst, wie Jung-Stilling, Aufklärung und Revolution als sündhaften Abfall von Gott gegeißelt hatte, der Erwekkungsbewegung den Boden, indem er von neuem die erbarmende Menschenliebe Gottes und die Notwendigkeit der Heiligung predigte und die biblische Heilsgeschichte und den Reich-Gottes-Gedanken in den Blick rückte. Friedrich Adolf Krummacher (gest. 1845) und Friedrich Ludwig Mallet (gest. 1865) verschafften ihr Eingang unter den Gebildeten, während Georg Gottfried Treviranus (gest. 1858) ihre Kräfte im —»Vereinswesen organisierte („Jünglingsverein", 1834, „Bremer Missionsgesellschaft", 1836). Doch der Kampf mit dem Rationalismus führte nicht zum Sieg.

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Auch in —»Hamburg suchten die Vertreter verschiedener Stände, die z. T. zu den Erweckten in —»Schleswig-Holstein (den Grafen Reventlow in Emkendorf sowie Aug. Twesten und C. —»Harms in Kiel) Verbindung pflegten, im Geist der Erweckung den äußeren und inneren Nöten der wachsenden Großstadt zu steuern, voran Amalie Sieveking, die Gründerin des ersten Vereins für Armen- und Krankenpflege (1832) und Pastor Johann Wilhelm Rautenberg (gest. 1865), der an St. Georg eine —»Sonntagsschule (1825) und einen diakonischen Besuchskreis ins Leben rief, unterstützt von Joh. Georg Oncken (gest. 1881), dem Begründer der ersten Baptistengemeinde in Deutschland, und J . H . —»Wichern, dem ersten Hausvater des Rauhen Hauses (1833). Während auch hier die — politisch fortschrittlichen - Kräfte der Erweckungsbewegung (F. Perthes, F. Beneke, M . H . Hudtwalcker u.a.) in der Minderheit blieben, gelang es Wiehern auf dem —»Kirchentag in Wittenberg (1848), den deutschen Kirchen insgesamt das Gewissen zu schärfen „zum großen Werk der Errettung des Volkes aus Sünde und Elend durch Christi Kraft und Herrlichkeit" (—»Innere Mission) und in Preußen (seit 1853) Unterstützung zu gewinnen (Waisenhausarbeit, Gefängnisseclsorge, Felddiakoni e). S. Skandinavien In —»Dänemark hielt die herrnhutische Reisepredigt von Christiansfeld aus (1773) den älteren Pietismus am Leben, bis seit 1832 die große erweckliche Reformbewegung N. F. S. —> Grundtvigs die Breite der lutherischen Volkskirche erfaßte. Grundtvig erlebte den Durchbruch von einer romantisch getönten ästhetisch-poetischen Religiosität zu einem neuartigen freien Luthertum, das die Heilige Schrift mit ihren Heilstatsachen als schöpferisch lebendige Offenbarung und die Sakramente, unter Betonung des —»Apostolischen Glaubensbekenntnisses, als Leben spendende Christushandlungen der Kirche nicht nur für den einzelnen, sondern für die Gesamtheit des Volkes begriff. Die kirchliche Reform schloß für ihn daher eine umfassende, an Geschichte und Volkstum Dänemarks orientierte Bildungsreform (—•Volksbildungswesen) sowie die Reform des Gottesdienstes samt Kirchengesang und die freie Gemeindcbildung ohne Bekenntniszwang ein; es war eine erlösungsfrohe, weltoffene, kulturfreudige lutherische Erweckung. Noch in ihrer Blütezeit trat ihr, mit engerer Zielsetzung, der „Kirchliche Verein für Innere Mission" (1861) des Pfarrers Vilhelm Beck in Slagelse (gest. 1901) zur Seite, dem —»Kierkegaards Qjeblikket zur „Erweckungspredigt" geworden war (vgl. Hirsch V, 446.469). Zum „Erwecker -^Norwegens" wurde der Laie Hans Nielsen Hauge (gest. 1824), der nach seiner Bekehrung (1796) die Predigt von Gesetz und Gnade und den Aufruf zur Tat der Liebe und zum strengen, selbstlosen Lebenswandel in Wort und Schrift verbreitete und während siebenjähriger Haft als Bekenner volkstümlich wurde. Trotz Verfolgung blieb er mit seinen Anhängern der Staatskirche verbunden, die die Laienpredigt schließlich freigab (1842). Die von Hauge geweckten Kräfte wirkten z.T. auf den auch nach Norwegen übergreifenden Grundtvigianismus (W. A. Wexels), z.T. auf das Neuluthertum der Theologen Gisle Johnson (gest. 1894; „Lutherstiftelse", 1868) und Carl PaulCaspari (gest. 1892), z.T. auf die evangelistische und diakonische Arbeit der Vereine der Inneren Mission ein. In —»Schweden, wo in Norrland die Erbauungsstunden der auf der Brüdergemeine fußenden Leser („Läsariet") verbreitet waren, gelangte die angelsächsische Erweckungsbewegung zu stärkerem Einfluß, so unter George Scott in Stockholm die Evangelisation der Methodisten (seit 1826), die zur Bildung der methodistischen Kirche führte (1876), und die Baptistenmission unter Anders Wiberg. Vor allem aber rief Carl Olof Rosenius in Stockholm (gest. 1868) eine große innerkirchlich-lutherische neuevangelische Erweckung ins Leben, wobei er die objektive Tatsache und den Zuspruch der Erlösung in Christus betonte, während sein Nachfolger Paul Peter Waldenström die gläubige Annahme der Erlösung und die subjektive Heiligung forderte. Hierüber kam es zur Separation (Svenska Missionsförbundet, 1878), doch wirkte der Neuevangelismus in der Staatskirche nachhaltig fort. Ähnlich stark wie in Norwegen wurde die lutherische Kirche in —*Finnland im 19. Jh. von verschiedenen Erweckungen erfaßt und geprägt: einerseits durch die langjährige Wan-

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derpredigt des bäuerlichen „Propheten der Wildnis" Paavo Ruotsalainen (gest. 1 8 5 2 ) , der sich mit eindringlichem Bußernst gegen die religiöse Selbstsicherheit wandte und unter Volk und Pfarrerschaft (Jonas Lagus, N . G . Malmberg, L. Stenbäck, C . G . von Essen) weiten Anklang fand („heränneitä", Erweckte), sowie durch die Beterbewegung des Pfarrers und Erbaungsschriftstellers Henrik Renqvist (gest. 1 8 6 6 ) , der seine Anhänger zum täglich mehrfach zu wiederholenden kniefälligen Gebet anhielt, auf der anderen Seite aber durch die „Evangelische Richtung" des Pfarrers Fredrik Gabriel Hedberg (gest. 1 8 9 3 ) , der das Erbe Luthers im Sinne des schwedischen Neuevangelismus aktualisierte, während die Heiligungsbewegung, die der schwedische Pfarrer Lars Levi Laestadius (gest. 1 8 6 1 ) in Nordschweden und Nordfinnland wachrief, vor allem die Privatbeichte vor Pfarrern oder Laien von neuem belebt hat. Quellen und

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Erweckuiig/Erweckungsbewegungen II

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II. Dogmatisch 1. Vorerwägungen 2. Entfaltung und Differenzierung des Begriffs 3. Erweckung und Individuation 4. Erweckung und Mission 5. Kritische Würdigung 6. Erweckung in nachchristlicher Philosophie und Psychologie (Literatur S. 224) 1.

Vorerwägungen

In der dogmatischen Überlieferung der evangelischen Kirchen gehört der Begriff,Erweckung' nicht zur traditionellen Begrifflichkeit. Er ist auch streng genommen kein biblischer Begriff. Wohl begegnet das Verbum .erwecken' gelegentlich in der Lutherbibel, aber zumeist in einem anderen Zusammenhang als in der heutigen kirchlichen Sprache. Luther dient es zur Wiedergabe von hebräisch qüm (hifil) bzw. griechisch eyeigeiv, das zum Ausdruck bringt, daß Gott in der Geschichte eine Rettergcstalt auftreten läßt (Dtn 18,15; II Sam 7,12; Jes 45,13; Jer 23,5 u.a.). Im Neuen Testament bezeichnet lycigtiv dann die Auferweckung aus dem Tod im buchstäblichen Sinn (Joh 12,9; Rom 6,9). Der Sache, die mit dem Begriff,Erweckung' gemeint ist, kommt allerdings Eph 5,14 sehr nahe: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten" (vgl. auch Rom 13,11). Danach ist es verständlich, daß die altprotestantische Dogmatik nicht mit dem Begriff,Erweckung' arbeitet. In der Lehre vom ordo salutis entwickelt die lutherische —»Orthodoxie explizit wohl die —»Berufung (vocatio), die —»Erleuchtung (iUuminatio) und die —»Bekehrung (conversio) bzw. —»Wiedergeburt (regeneratio) des Menschen, der zum Glauben kommt, wobei das Thema .Erleuchtung' erst bei den jüngeren Vertretern der lutherischen Orthodoxie an Gewicht gewinnt (Hollaz), offensichtlich bereits eine Reaktion auf die Bedeutung, die der aufkommende —»Pietismus diesem Terminus beimaß. Auch die meisten neueren Darstellungen der Dogmatik aus dem evangelischen Bereich (z. B. O. Weber, P. —»Althaus, P.—»Tillich) weisen in ihren Registern aus, daß .Erweckung' für gewöhnlich nicht als dogmatisches Thema gilt. Lediglich das kirchengeschichtliche Phänomen der Erweckungsbewegungen des 19. und 20. Jh. (s.o. Abschn. I) wird - besonders in theologiegeschichtlichen Exkursen - gelegentlich erwähnt und kritisch beurteilt. Dem entspricht auch die Praxis der theologischen Lexika (RGG 2 , RGG 3 , EKL). Doch gibt es zwei bemerkenswerte Ausnahmen: E. —»Wacker hat im Jahre 1898 in seiner Darstellung der Heilsordnung nach der Lehre der lutherischen Kirche in der Entfaltung der Berufung dem Begriff ,Erweckung' besondere Aufmerksamkeit geschenkt (19 ff). Er unterscheidet bei der Bekehrung eines Menschen zu Christus zwischen einer „aktiven Seite" („das Werk des Heiligen Geistes") und einer „passiven Seite" („die Erfahrung dieses Werkes im Personleben des Menschen") (14). So hat für ihn auch die Berufung eine aktive und eine passive Seite, die er nacheinander entfaltet. Dabei dient der Begriff .Erweckung' als Schlüsselbegriff für die Beschreibung des passiven Aspekts der vocatio (30 ff), was freilich dem Phänomen der Erweckung als einem von außen kommenden Geschehnis nur bedingt gerecht wird. - Ganz ausführlich hat dann 1955 K. -»Barth (KD IV/2,626 ff) den Begriff behandelt. Im Rahmen seiner Versöhnungslehre entfaltet Barth auch die Heiligung des Menschen (§ 66, S. 565 ff) und läßt hier auf die Darstellung des „Rufes in die Nachfolge" ein sehr ausführliches Kapitel über die „Erweckung zur Umkehr" folgen. Ähnlich wie bei Wacker führt auch bei Barth die Erörterung des Begriffs

Erweckung/Erweckungsbewegungen II

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,Erweckung' zur Behandlung des Themas „Bekehrung". Doch kämpft Barth konsequenter als Wacker um eine Fassung des Begriffs, die ihn gegen jedes subjektivistische Mißverstehen in Schutz nimmt.

Das weitgehende Fehlen des Begriffs ,Erweckung' in der dogmatischen Literatur entspricht der Tatsache, daß der Begriff ,Erweckung' in seinem spezifischen Gehalt sehr stark an das Phänomen der neuzeitlichen Erweckungsbewegungen gebunden ist. Eine systematische Erörterung des Begriffs wird allerdings über die kirchengeschichtliche Beschreibung hinausgehen müssen und seine Einordnung in größere Zusammenhänge sowie eine kritische Würdigung anstreben. Dabei ist von vornherein in Rechnung zu stellen, daß die mit dem Begriff ,Erweckung' ausgesprochene Sache in engster Verbindung mit den Grundanliegen der reformatorischen Theologie steht, handelt es sich doch bei den neuzeitlichen Erweckungsbewegungen um ein ausgesprochen protestantisches Phänomen, das erst in allerneuester Zeit im (charismatischen) Katholizismus ein gewisses Analogon bekommt; dabei ist jedoch bezeichnend, daß diese katholische Parallelerscheinung ihre Entstehung sehr stark dem Einfluß moderner protestantischer Strömungen verdankt. 2. Entfaltung

und Differenzierung

des Begriffs

Die Entfaltung des Begriffs ,Erweckung' wird den Bildgehalt des Wortes nicht vernachlässigen dürfen. Er hat zwei Aspekte, die in dem schon zitierten Wort Eph 5,14 miteinander verknüpft erscheinen: Wachwerden vom Schlaf und Erweckung aus dem Tod. (Engl. ,revival' und franz. ,reveil' enthalten nur die Komponente der Wiederbelebung.) Die Kontamination der beiden Elemente ergibt sich mit Leichtigkeit aus der Nähe, die Schlaf und Tod vom Phänomen her zueinander haben. Der Schlafende wie der Tote nehmen nicht wahr, was um sie herum vorgeht. Sie sind der Wirklichkeit gegenüber verschlossen und wissen nichts von ihrer tatsächlichen Lage.,Erweckung' meint die zumeist urplötzliche, oft geradezu blitzartige Aufhebung dieses Zustandes. Dabei ist ,Erweckung' zunächst ein streng von außen kommender Vorgang. Niemand kann sich selbst wecken. Und doch korrespondiert dem von außen kommenden Anstoß ein inneres, durch eben diesen Anstoß bewirktes Wach-Werden. ,Erweckung' ist also als ein Vorgang zu beschreiben, der in einem ganz strengen Sinne Ursprung und Ursache außerhalb des Betroffenen hat. Hier ist, schon von der Bildseite her, das reformatorische Anliegen des extra nos festzuhalten. Doch wirkt dieser Anstoß nicht mechanisch, nicht entpersönlichend, sondern als Ruf, der den Menschen als Person trifft und ihn zu einer verantwortlichen Bewußtheit auffordert. Dabei ist die bildhafte Redeweise nicht sinnliche Einkleidung eines zutiefst abstrakten Gedankens.,Erweckung' meint ein Wachwerden in einem höchst realen Sinn, das den Menschen in seiner Ganzheit betrifft. Denn der, der da schläft, ist der ganze Mensch. Auch wenn wir mit gutem Recht davon sprechen, daß es gerade das schlafende —»Gewissen ist, das da erweckt wird, so heißt das doch nicht, daß mit,Gewissen' ein Teil des Menschen gemeint wäre, sondern der ganze Mensch, insofern er unter dem warnenden und richtenden Wort des lebendigen Gottes steht. Der Schlaf, in dem der noch nicht erweckte Mensch lebt, ist ein „Sündenschlaf", d.h. eine Haltung, der jedes tiefere Gespür für den Ernst der Sünde und für die abgrundtiefe Verlorenheit des Sünders fehlt. Dabei ist weniger an ein Leben in offenkundigem und bewußtem Widerspruch zum Willen Gottes zu denken. Vielmehr geht es oft gerade um die Haltung des selbstgerechten Menschen, der in bürgerlich-christlicher Rechtschaffenheit dahinlebt, dem jedoch die Wahrnehmung der eigentlichen Sünde, der tief in ihm verwurzelten Feindschaft gegen Gott fehlt. Ihm fehlt darum auch jedes ernstere Erschrecken vor dem Gericht Gottes. Das zu Tode erschrockene Gewissen, die conscientia perterrefacta, mag ihm als theologischer Begriff vertraut sein, als erlebtes Widerfahrnis kennt er sie nicht. Erweckung ist ein Wahrnehmen der tödlichen Gefahr, in der der Mensch schwebt, solange er sich über den vollen Ernst der Sünde hinwegtäuscht. Das den Menschen erweckende Wort ist allerdings zugleich richtendes Wort (Gesetz) und tröstendes Wort (Evangelium) und offenbart so mit der Gefährdung auch die Errettung aus der Gefahr. In diesem Sinne ist die .Erweckung' als ein Phänomen zu beschreiben, das zunächst ein-

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Erweckung/Erweckungsbewegungen II

mal eine innerchristliche Erfahrung ausspricht: den Übergang von einem durch tote Gewohnheit bestimmten Christentum zu einem lebendigen Christusglauben, von einer letztlich nur gedanklichen Beziehung zu Christus zu einer Begegnung, die den Menschen in viel tieferen Schichten trifft und auf eine ganz andere Weise mit seinem Herrn verbindet. In diesem Sinne ist der Begriff ,Erweckung' dann auch von der Heidenbekehrung zu unterscheiden (vgl. Freytag 629). 3. Erweckung

und

Individuation

Obwohl der Begriff,Erweckung' sich im allgemeinen mit dem Phänomen großer, viele Menschen ergreifender Bewegungen verbindet, ist daran festzuhalten, daß Erweckung primär gerade die Erweckung des einzelnen meint und insofern vielfach ein wesentlicher Meilenstein in der Persönlichkeitsentwicklung, also der Individuation ist (—»Individualismus). ,Erweckung' meint ja gerade auch den Bruch mit dem Gewohnheitschristentum einer fraglos christlichen Familie oder Gesellschaft. Sie bedeutet das Ende der fragwürdigen Selbstgenügsamkeit, die sich mit dem, was üblicherweise als christlich gilt, zufrieden gibt. Oft ist mit der Erweckung die Erneuerung einer Grunderfahrung der Jüngerschaft Jesu gegeben, die Jesus selbst bereits ausgesprochen hat (Mt 10,34): An der Entscheidung für ihn zerbricht die Solidarität der Familie, und zwar gerade auch ihre religiöse Solidarität.,Erweckung' beendet die Illusion, als könne der Mensch dem über seinem Leben stehenden Anspruch Gottes schon dadurch gerecht werden, daß er so ist und so lebt, wie es in seiner Umgebung und den ihn tragenden und bergenden Gemeinschaften üblich ist. Dem entspricht die Tatsache, daß,Erweckung' immer mit einem doppelten Widerstand zu kämpfen hat. Auf der einen Seite steht ihr ein innerer Widerstand entgegen: die ablehnende Haltung des „alten Adam", der in der Bequemlichkeit und Verantwortungslosigkeit des Schlafzustandes verharren will. Auf der anderen Seite erheben die vorgegebenen Gemeinschaftsformen, die (Volks-)kirche oftmals eingeschlossen, ihren Widerspruch. Der Wachgewordene aber findet in der Uberwindung dieser Widerstände neue Möglichkeiten der Erfahrung und Verwirklichung von Gemeinschaft, indem er sich nun mit allen eins weiß, denen er durch das gleiche Widerfahrnis verbunden ist. 4. Erweckung

und —*Mission

.Erweckung' kann nicht ohne Frucht bleiben. Wer aus dem Todesschlaf und damit aus tödlicher Gefahr herausgerissen ist, kann nichts anders: Er muß sich in den Dienst des warnenden Wortes stellen, das ihn selbst getroffen hat. Daß alle Erweckungsbewegungen immer zugleich Missionsbewegungen gewesen sind und daß die neuere protestantische Missionsbewegung ein Kind der Erweckung ist und von diesem ihrem Ursprung auch nicht gut abgelöst werden kann, ist notwendige Folge dieses Zusammenhangs. So erwuchs denn auch geschichtlich aus der Erweckungsbewegung eine starke Betonung des Dienstgedankens, der sonst, wie A. —»Schlatter oft betont hat, der schwache Punkt des evangelischen Christentums ist. So zieht Erweckung oftmals die Berufung zum vollzeitlichen Verkündigungsdienst als Missionar oder Pfarrer nach sich, fordert vor allem aber auch die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Dienst in der Gemeinde heraus und stärkt so das Laienelement in der Kirche (—•Laie). 5. Kritische

Würdigung

S.l. Eine systematische Erörterung des Begriffs,Erweckung' schließt notwendigerweise den Aufweis möglicher Gefahren und die Kritik tatsächlicher Fehlentwicklungen in sich. Solche Kritik wird freilich nur dann gerecht sein, wenn sie von der grundsätzlichen Bereitschaft ausgeht, in dem, was wir,Erweckung' nennen, ein Werk des dreieinigen Gottes und in Sonderheit ein Wirken des Heiligen Geistes zu erkennen und anzuerkennen. Sie wird auch ein grundsätzliches Ja zu den Erweckungsbewegungen der Neuzeit sprechen und sie als eine von Gott geschenkte Erneuerung der Kirche begreifen. Erweckung gibt der Christenheit etwas von ihrem ursprünglichen Charakter als Glaube einer kleinen Minderheit zurück, in-

Erweckung/Erweckungsbewegungen II

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dem sie inmitten erstarrter volkskirchlicher Strukturen neues Leben schafft. Dabei sind im einzelnen folgende Gesichtspunkte zu betonen: 5.1.1. Insofern Erweckung ein den ganzen Menschen betreffendes Widerfahrnis ist, schützt sie den christlichen Glauben vor der Gefahr der Auszehrung durch eine einseitig intellektuelle Orientierung. Sie ist wirksames Bollwerk gegen die Versuchung, die Theologie ihrer eigentlichen Aufgabe zu entfremden, so daß sie nicht mehr kritische Reflexion gelebten Glaubens, sondern intellektuelle Kompensation fehlenden Glaubens ist. 5.1.2. Tiefgreifende Erfahrungen tragen den Keim zu neuer, intensiver Gemeinschaftsbildung in sich. In einer Zeit der allgemeinen Auflösung traditioneller Gemeinschaftsformen, in der die volkskirchliche Kirchengemeinde oft kaum noch die Kraft zu wirklicher religiöser Gemeinschaftsbildung hat (—»Volkskirche), entstehen auf der Grundlage von Erwekkung neue Gemeinschaften von hoher Binde- und Prägekraft: Lebendige Gemeindekerne, Missionswerke, Gemeinschaftswerke, —»Bruderschaften, Schwesternschaften, Orden und Kommunitäten, Basisgemeinden sowie informelle Zellen und Aktionsgruppen. 5.1.3. In den sogenannten —»Jungen Kirchen haben Erweckungen oft eine zusätzliche Bedeutung. Oftmals sind sie gleichbedeutend mit einem kräftigen Schritt in Richtung auf eine zunehmende Einheimischwerdung („Indigenization") des Evangeliums. Sie überwinden die Gefahr eines tiefgreifenden Substanzverlustes, der oft den Gemeinden der zweiten und dritten Generation droht, und bewirken eine wesentliche Vertiefung des Glaubens. Gleichzeitig ist Erweckung in den Jungen Kirchen vielfach Ausdruck einer fortschreitenden Individuation der Gläubigen (vgl. dazu Freytag 631). 5.2. Jeder Erscheinung inhärieren ganz bestimmte Gefährdungen. Eine ausgeprägte Erweckungsfrömmigkeit wird vor allem mit folgenden Bedrohungen zu rechnen haben: 5.2.1. Erweckungsbewegungen können zu einer Massenbewegung mit rauschhaften Zügen entarten. Die der Erweckung eigentlich eigene persönlich-individuelle Komponente droht zu verschwinden, wenn ein Zwang zur Nachahmung wirksam ist. Im allgemeinen scheiden sich bereits nach kurzer Zeit diejenigen, die nur einer Mode gefolgt sind, von den wirklich Erweckten (vgl. Wacker 32ff). 5.2.2. Der persönliche Charakter von Erweckung führt leicht zu einer Vernachlässigung der Bedeutung, die die —»Kirche und die in ihr geschehende —»Predigt und die in ihr wirksamen —»Sakramente haben. Der Glaube löst sich aus dem Zusammenhang der communio sanctorum und verachtet die Begründung seiner selbst im vorauslaufenden Handeln Gottes. Der subjektive Aspekt von Erweckung, das persönliche Wachwerden, verdrängt den vorgängigen objektiven Aspekt der in unverfügbarer Weise von außen kommenden Predigt des erweckenden Wortes. Erweckung muß geschützt sein gegen den Vorwurf P. —»Tillichs, daß es sich doch nur um eine „emotionale Form der Selbsterlösung" handelt (11,95). So wichtig gerade das erfahrene Widerfahrnis ist, so darf doch der Gesichtspunkt der Erfahrung nicht über das Moment des aller Erfahrung vorauslaufenden und alle Erfahrung sprengenden Heilswillens Gottes dominieren. Andernfalls würde der Glaube nur zu leicht auf einem kindlichen Stadium stehen bleiben und sich der Bereitschaft, über das Erfahrene hinauszugehen, verweigern. So darf denn auch das Erwecktsein nicht zum Habitus werden. Erweckung ist vielmehr eine Grunderfahrung des Glaubens, die im Sinne von Luthers erster These zu einer das ganze Leben der Gläubigen bestimmenden Macht werden soll (bes. betont von K. Barth, KD IV/2, 627). Erweckung impliziert eine Glaubensethik, in der das Motiv der Nüchternheit und Glaubenswachsamkeit zur alles bestimmenden Grundforderung wird. Sie verlangt nach einer wachstümlichen Entfaltung dessen, was im Geschehen der Erweckung als Einsicht in die wirkliche Lage des Menschen vor Gott erstmals aufgeblitzt ist. 5.2.3. Der Widerfahrnischarakter von Erweckung bringt eine kritische Einstellung gegenüber jeder Form von „scholastischer" Theologie mit sich. Dieser Gegensatz ist der Erweckungsfrömmigkeit wesenseigen. Er darf jedoch nicht unter der Hand zu einer allgemeinen Theologiefeindschaft führen. Insbesondere ist darauf zu achten, daß nicht unter dem

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Erweckung/Erweckungsbewegungen III

Deckmantel solcher Theologiekritik Denkfaulheit und Denkfeindschaft Einzug halten. Erweckungsfrömmigkeit ohne kritische Theologie (die gerade auch selbstkritische Theologie zu sein hat) ist den möglichen Gefährdungen und Entartungen hilflos preisgegeben. 6. Erweckung in nachchristlicher Philosophie und

Psychologie

Abschließend soll an zwei Beispielen aus neuerer Zeit gezeigt werden, wie das Anliegen von ,Erweckung' über den engeren Bereich der Christenheit hinausschreitet und zu einem Thema nachchristlicher (religiöser) Philosophie und Psychologie werden kann. 6.1. K. —»Jaspers hat seine im Jahre 1931 erschienene Darstellung der Geistigen Situation der Zeit so angelegt, daß sie in eine „Erweckende Prognose" (208) einmündet. Am Ende seiner Analyse steht nicht ein objektivierender Ausblick auf mögliche Zukunftsdntwicklungen, sondern der Aufruf an den Menschen, die Verantwortung für seine Zukunft zu übernehmen. Jaspers drängt zu einer Sicht der „echten Kampffronten" im Unterschied zu längst überholten Schein-Fronten und sieht in der Sicht der tatsächlichen Frontstellungen die Möglichkeit, daß der Mensch dahin geht, wohin er gehört (209). Er warnt vor der Hingabe an einen neuerlichen Schlafzustand, in dem der Mensch im Unterschied zu jenem früheren Schlafzustand, in dem er reines Naturwesen war, „technisches Dasein" wird (210). Seine „erweckende Prognose" wirbt nicht für ein bestimmtes Programm der Weltverbesserung, sondern erneuert die aus der griechischen Antike überlieferte Urforderung des nosce te ipsum. Sie erinnert den Menschen nicht an etwas, sondern an sich selbst. 6.2. Ein säkulares Weiterwirken des ursprünglich christlichen Motivs der Erweckung wird man auch in der Betonung von „awareness" in der Gestaltpsychologie von F. S. Perls und im Programm der „sensory awareness" von Ch. V. W. Brooks zu sehen haben. Hier geht es um die Erweckung einer Grundhaltung der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, die gerade die Sinne weit öffnet zur Wahrnehmung von Wirklichkeit und so das Verharren des Menschen im Zustand herabgesetzten Bewußtseins überwinden möchte. Dabei wird der ursprüngliche religiöse Charakter in der therapeutischen Praxis von F.S. Perls und in den Übungen von Ch. V. W. Brooks daran sichtbar, daß Wachheit nicht machbar ist, sich vielmehr jedem bemächtigenden Zugriff sofort entzieht. Wachheit gibt es nur da, wo der Mensch sich wecken läßt und die ihm nun im Wachzustand gegenwärtige Wirklichkeit zuläßt. Literatur Karl Barth, KD IV/2, 1955, bes. 626 ff. - Ingetraut Birkenstock, Eiserne Türen zerbrechen. Erwekkung unter den Zulus mit Erlo Stegen, Wetzlar 1979. - Werner de Boor, Theol. u. Erweckung: Freude im Dienst. Ein Wort zum Pietismus heute, hg.V.H.Bruns, Marburg 1961, 2 7 - 3 0 . - Charles V.W. Brooks, Erleben durch die Sinne, Paderborn 1979. - Reinhard Deichgräber, Erweckung u. Mission: Jb. des Ev.-Luth. Missionswerks in Niedersachsen 1 9 8 1 , 7 6 - 8 1 . - Walter Freytag, Art. Erweckung II.Erweckungen in der Mission: RGG 3 2(1958) 6 2 9 - 6 3 1 . - Gerhard Günther, Erweckung in Afrika. Vom Aufbruch junger Kirchen im östlichen Afrika, Stuttgart 1959. - Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, 1931 5 1932 (SG 1000). - Josiah Kibira, Aus einer afrikanischen Kirche, Bethel-Bielefeld 1960. Friedrich S. Perls, Gestalt-Therapie in Aktion, Stuttgart 3 1979. - Otto Riecker, Erweckung heute u. ihre Botschaft an uns, Wuppertal 1958. - Heinrich Schmid, Die Dogmatik der Ev.-Luth. Kirche darg. u. aus den Quellen belegt, Gütersloh ' 1 8 9 3 . - Martin Schmidt, Wort Gottes u. Fremdlingschaft, Erlangen/Rothenburg o . d . T . 1953, 103 ff. - Otto Schmitz (Hg.), Pietismus u. Theol. Beitr. zu ihrer Verständigung, Neukirchen 1956. - Paul Tillich, Syst. Theol., 3 Bde., Stuttgart 3 1 9 5 6 - 1 9 6 6 . - Emil Wacker, O r d o Salutis. Die Heilsordnung, Gütersloh 1898, neu hg. v. M.Pörksen, Breklum 1960, bes. 1 9 f f . - O t t o Weber, Grundlagen der Dogmatik, 2 Bde., Neukirchen 1977.

Reinhard Deichgräber III. Praktisch-Theologisch Man kann die 70er Jahre des 20. Jh. als Erweckungszeit bezeichnen. Evangelistische Lieder, sozialkritische christliche Songs, lateinamerikanische Messen, afrikanische Liturgien und Balladen, Musicals über Jesus von Nazareth, klassische Kirchenmusik und altehr-

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würdige orthodoxe eucharistische Gesänge finden - in ihrer Gesamtheit betrachtet — heute mehr aufmerksame und aufnahmebereite Zuhörer denn je. Bibelarbeiten, Bibelseminare, Hausbibelkreise, Hausgemeinden, Radiopredigten, Tagungen in evangelischen und katholischen Akademien und religiöse Bücher jeder Art erreichen mehr Menschen als je zuvor in der Geschichte der Kirche. —»Bruderschaften, Retraiten in —»Taize und in katholischen Klöstern, evangelische Meditationstagungen und „stille Besinnungen" in Stadtkirchen (—»Meditation) lassen viele Menschen die Erfahrung von —»Gemeinschaft und —»Gebet machen. Diese Tatsachen werden kaum bestritten. Trotzdem fühlt sich der durchschnittliche kirchliche Praktiker im Abseits. Erweckungen in der Art von charismatischen Erneuerungsgruppen, spontanen Jugendgottesdiensten oder interkonfessionellen Abendmahlsfeiern werden als Störungen der kirchlichen Arbeit empfunden. Der Grund dürfte darin liegen, daß offenbar nur die Erweckungen, zu denen wir eine historische oder geographische Distanz haben, sachgemäß zu beschreiben und zu analysieren sind. Bei Erweckungen, die die eigene Gefühls- und Interessenlage berühren, fällt uns dies schwerer. Daraus ergibt sich wahrscheinlich die praktisch-theologische Notwendigkeit, das Studium unserer Erweckungen von Beobachtern mit geographischer und kultureller Distanz aufnehmen zu lassen. Schließlich haben europäische Religions- und Missionswissenschaftler den Kirchen der Dritten Welt im Umgang mit ihren Erweckungsbewegungen (Zionisten und äthiopische Kirchen in Südafrika [Kamphausen]; Aladura- und Seraphim- und Cherubimkirchen in Westafrika; Jamaabewegung in Zaire [Fabian; de Craemer] usw.) entscheidende Hilfe geleistet. Es wäre eine Konsequenz praktischer Ökumene, nun auch unsererseits diese Hilfe in Anspruch zu nehmen. Was kann die Praktische Theologie darüber hinaus zur Beurteilung und Analyse der vor unserer Tür geschehenden Erweckungen leisten? Sie kann erstens in die verschiedenen europäischen und überseeischen Erscheinungsformen einführen. Um hilfreich zu sein, soll sie dies nicht nur historisch und literarisch tun (dies auch!), sondern ebenso durch teilnehmende, sympathisch-kritische Beobachtung. Sie kann zweitens die Erfahrungstatsache, daß nicht alle Erweckungen in bestehende Kirchen integrierbar sind, intellektuell verständlich und emotional annehmbar machen. Europäische Theologen sind von ihrer Geschichtskenntnis her bestens geeignet für diese Arbeit, wie leicht am Beispiel der —»Reformation, des —»Methodismus, der —»Heilsarmee, der Kimbanguistenkirche (Ustorf) und der Bekennenden Kirche (—»Kirchenkampf, vgl. dazu D. Bonhoeffer, Rundbrief von 12. 7.1936: dcrs., GS II, 494) gezeigt werden kann. Vor allem ist aufzuweisen, daß auch die nicht integrierbaren Typen eine wichtige Funktion im Rahmen der Ökumene haben. Sie kann drittens die integrierbaren Typen auf ihre spezifische Funktion im Rahmen der Kirchengemeinde, einer —»Freikirche, einer Landeskirche befragen. Kriterium für die Integrierbarkeit ist, ob das, was für den betreffenden Typ spezifisch ist, im Rahmen einer Kirche angemessen Raum finden kann. Sie muß viertens emotional und analytisch mit der Beobachtung fertig werden, daß es immer Erscheinungen gab und gibt, die mit genuinen Erweckungen verwechselt werden können, die sich aber im Laufe ihrer Geschichte zu —»Sekten oder nichtchristlichen Weltanschauungsgemeinschaften entwickelten. Eine Integrierung solcher Erweckungen ist weder wünschbar noch möglich. Welches Instrumentarium muß die Theologie zur Durchführung dieses Programms entwickeln? Neben den lexikographischen und literarischen Hilfsmitteln ist auch die sog. Kleinliteratur der zu studierenden Erweckungen wenigstens in einigen Specimen in der Bibliothek greifbar zu haben. Je mehr wir wissen von der Sprach- und Frömmigkeitsform, von der kulturellen und sozialen Geschichte und Ausprägung des betreffenden Typs, um so besser können wir ihn verstehen und einordnen. Die Studierenden sind zu Seminararbeiten und Dissertationen von Erweckungstypen lokalen Charakters zu ermutigen und dies nicht nur unter rein historischen und soziologischen, sondern unter praktisch-theologischen und ökumenewissenschaftlichen Gesichtspunkten (Vorbereitung auf die Praxis!), auch dann, wenn eine Entwicklung in Richtung auf Nichtintegrierbarkeit in die herrschende Kirchlichkeit vorauszusehen ist. Mögliche Brückenköpfe für ökumenische Zusammenarbeit in der

226

Erweckung/Erweckungsbewegungen III

Zukunft sind schon heute personell und sachlich bereitzustellen. Studierende und Lehrende haben sich im interkulturellen, intersozialen und interspirituellen Gespräch mit ihnen fremden Erweckungsfrömmigkeiten zu üben. Ein Beispiel dafür gibt Karl —»Barth. Er beschreibt in seinem Briefwechsel mit —»Thurneysen den Vortrag eines Heilsarmeeoffiziers (Karl von May) in der Kirche von Safenwil. Dieser war ein Schulkamerad Barths, aus bernischem Aristokratenhaus, Dr. phil., Nietzsche- und Schopenhauerverehrer. Barth war beeindruckt von der raffinierten Naivität, mit der der Heilsarmeefreund alle Probleme der Schriftauslegung, der Kirche und der Heilsarmee hinter sich ließ, weil er wichtigeres zu tun habe, als Probleme zu studieren: nämlich sich zu freuen und anderen zu helfen (Barth, GA V / 1 , 1 0 6 f). Die mutige, fröhliche und friedliche Art der Heilsarmee, das Evangelium zu sagen und zu singen, hat Barth noch am Ende seines Lebens beschäftigt, erwähnt er sie doch noch in KD I V / 3 , 1 0 0 2 : „Aber das Evangelium muß es sein, nicht etwas anderes. Daß sie nur nicht auf Erfolge bedacht, die keine sind, aus der Verkündigung der Freiheit in die Propaganda eines Gesetzes, aus der Verheißung des Lebens ( . . . ) ins Drohen mit den Höllenschrecken, aus der Kundgabe des ewig Unverdienten in die Anleitung zu rühmlich moralischer Aufrüstung, aus der wehrlosen Anzeige der Wahrheit in irgendeine schlaue oder reißerische Apologetik sich verirre!" Ein Beispiel der letzteren Art fand Barth in der Verkündigung des Zeltevangelisten Jakob Vetter. Darin spielten der Teufel und das miserable Menschenherz die größte Rolle. Trotz aller Heilswerke der Erlösten bleibt der Höllenrachen beständig offen; „und über allem eine bange Schiffsuntergangsstimmung, wo für die meisten sowieso keine Rettungsschifflein zu haben ist, obwohl die Musik aus Leibeskräften ,Näher mein Gott zu dir' spielt" (GA V/1, 20. 11. 1916). Systematisch verwendet Barth den Begriff der Erweckung in seiner Heiligungslehre und redet von der Erweckung des Menschen durch Gott (KD I V / 2 , 6 2 7 . 6 5 3 ) . Anders erscheint die Erweckung in den Dokumenten des ö k u m e n i s c h e n Rates. Hier wird nicht von der Erweckung des Menschen, sondern von Erweckung und Erneuerung der Kirchen gesprochen (vgl. dazu Marguli, Reg.; Günther; Visser't Hooft). V o n besonderer Bedeutung ist hierfür die Sektion II (Erneuerung in der Mission) der Vollversammlung von Uppsala ( 1 9 6 8 ) , in der die Kirche und ihre Institutionen selbst zum Missionsfeld, d. h. für erweckungs- und erneuerungsbedürftig erklärt werden (J. Müller). Solche Erneuerung geschieht normalerweise an den Grenzen zwischen Kirche und Welt. „ M i t dem Christwerden beginnt sofort die Gewinnung des a n d e r n " (Bonhoeffer im Dez. 1 9 4 0 : ders., GS VI, 4 9 7 ) . Dabei entstehen neue Weisen christlicher Spiritualität und Gemeindebildung. Erweckungen (oder, wie die Amerikaner sagen, „revivals") werden weder von den Pfarrern, den volksmissionarischen Ämtern, den „Secretaries for Evangelism", noch von der Praktischen Theologie geschaffen. Es ist zweifelhaft, ob wir die Bedingungen ihres Auftretens kennen. Vermutlich ist es weder möglich noch wünschenswert, diese hervorzubringen. Aber wenn Erweckungen auftreten, ist es Aufgabe der kirchlichen und theologischen Fachleute, sie nicht zu ignorieren oder zu belächeln, sondern zu erkennen und richtig einzuordnen. Literatur Wichtig sind zwei Serien: World Studies in Mission, 13 Bde., London 1 9 5 8 - 1 9 7 0 (und die ökumenewissenschaftlich interessante, theologisch aber zu wenig tiefgreifende Zusammenfassung des ö k u menischen Rates: Can Churches Be Comparedf, hg. v. St. G. Mackie, Genf/New York 1970 [Research Pamphlet 17]; dt. unter dem falschen Titel Die Entdeckung der jüngeren Kirchen, Stuttgart 1970 [Weltmission heute 39/40]). - Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums, Frankfurt/Bern/Las Vegas, 1975 ff (bis 1979 23 Bde.), darunter besonders Werner Ustorf, Afrikanische Initiative. Das aktive Leiden des Propheten Simon Kimbangu, V 1975. - Erhard Kamphausen, Anfänge der kirchl. Unabhängigkeitsbewegung in Südafrika. Gesch. u. Theol. der äthiopischen Bewegung 1 8 8 0 - 1 9 1 0 , VI 1976. - Jörg Müller, Uppsala II. Erneuerung in der Mission. Eine redaktionsgesch. Studie u. Dokumentation zu Sektion II der 4. Vollversammlung des Ö R K , Uppsala 1968, X 1977. Wemer Hoerschelmann, Christi. Gurus. Darst. v. Selbstverständnis u. Funktion indigenen Christseins durch unabhängige charismatisch geführte Gruppen in Südindien, XII 1977. - Arnold Bittlinger, Papst u. Pfingstler. Der röm.-kath.-pfingstliche Dialog u. seine ökum. Relevanz, XVI 1978. - Mary Hall, A Quest for the Liberated Christian. Examined on the basis of a mission, a man and a movement as agents of liberation, X I X 1978. - Ferner: Willy de Craemer, The Jamaa and the Church. A Bantu Catholic Movement in Zaire, Oxford 1977. - Johannes Fabian, Jamaa. A Charismatic Movement in Katanga, Evanston 1 9 7 1 . - F o r u m Abendmahl, hg. v. G. Kugler, 1979 (GTB 346).-Gemeinde in diakonischer u.

Erzählung

in

missionarischer Verantwortung. FS H . H . Ulrich, Stuttgart 1979. - W. Günther, Erneuerung der Kirche: Ökumene in Schule u. Gemeinde, hg. v. F. Hasselhoff/H. Krüger, Stuttgart 1 9 7 1 , 1 8 1 - 1 9 6 . - H b . Rel. Gemeinschaften, Gütersloh 1978. - Walter J. Hollenweger, Die Kirche für andere - ein Mythos: EvTh 37 (1977) 4 2 5 - 4 4 3 . - Zur Sendung der Kirche. Material der ökum. Bewegung, hg. v. H. J. Marguli, 1963 (TB 18). - Willem A. Visser't Hooft, The Renewal of the Church, London 1956.

Walter J. Hollenweger Erzählung 1. Begriff, Probleme, Bedeutung heute (Literatur S. 231)

1. Begriff, Probleme,

2. Erzähltradition und Kirche

3. Theologie und Erzählung

Bedeutung

Erzählung ist nicht nur ein fundamentales anthropologisches Phänomen, sondern auch eine Grundform der Überlieferung des Evangeliums. Vergleichbare Grundformen sind —»Gebet und —»Gebot, Spruch und -»Gespräch, Lob und Bekenntnis. Die Überlieferungsgeschichte der —»Bibel, Jesu Verkündigung (Gleichnisse), die Herausbildung der Gattung Evangelium, die Tradierung biblischer Geschichten, all dies ist an Erzählung als Vorgang und literarische Form gebunden, wenn auch nicht allein darauf angewiesen. Diese fundamentale theologische Bedeutung hat trotz unterschiedlicher Einschätzung und Praxis in der Kirchengeschichte immer bestanden, ist aber erst neuerdings - katechetisch schon immer erwogen - Gegenstand fundamentaltheologischer Erörterung geworden. Das beweist die Ausbildung des Begriffs „narrative Theologie" (seit 1973, s. Weinrich) - eine gute erste Analyse gibt Wacker — ebenso wie das Fehlen des Stichworts in theologischen Nachschlagewerken vor dieser Zeit. Das komplexe Phänomen Erzählung als mündliche Äußerung oder als schriftlich fixierter Text bietet viele Aspekte, die Erzählforschung zu einer interdisziplinären Aufgabe machen. —»Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft (—»Sprache/Sprachwissenschaft) mit Lingustik und —»Rhetorik sind ebenso beteiligt wie Geschichtswissenschaft mit —»Volkskunde und Soziologie als auch Handlungswissenschaften wie—»Psychologie knd—»Pädagogik und nicht zuletzt auch Religionswissenschaft und —»Theologie. Das zeigt, daß Sprache, —»Geschichte und Praxis Grundelemenoe der Erzählung als eines realenzyklopädischen Phänomens sind, weswegen auch alle theologischen Disziplinen hier anzusprechen sind. Dennoch ist Erzählung kein Universalphänomen, denn sie läßt eine Tendenz gegen Systembildung erkennen. Erzählung ist an Geschichten, nicht Geschichte interessiert (zur Diskussion über diesen Komplex vgl. Dantos Diktum „History teils stories" [dt. Ausg. 184], Wakker [88—93] mit Hinweis auf Baumgartner und den Sammelband: Geschichte — Ereignis und Erzählung [s. Kosellek/Stempel]). Außerdem ist Erzählung ein Sprechakt und insofern gegen Fakten und andere Handlungen absetzbar, woraus sich schließlich auch Einschränkungen für den Zukunftsbezug (Erzählung als Zukunft ist nur als Utopie realisierbar) im Vergleich mit Programmen, Plänen und Prognosen ergeben. Erzählung kann allerdings in Dienst anderer Grundformen des Mitteilens treten, z.B. kann sie Lehre verdeutlichen, man denke an Fabeln und Parabeln, z.B. die Ringparabel in —»Lessings Nathan der Weise oder die vielgebrauchte Wendung: „und die Moral von der Geschieht". Benjamin hat diese Zusammenhänge besonders deutlich im Blick auf den kulturellen Wandel analysiert „in jedem Fall ist der Erzähler ein Mann, der dem Hörer Rat weiß" (388). - „Rat in den Stoff gelebten Lebens eingewebt, ist Weisheit. Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt (ebd.). Man kann versuchen, Gebrauchsformen der Rede prinzipiell zu unterscheiden, z.B. zwischen berichtender Sprache (reporting language) und Anredesprache (address language) (Ritsehl 13), als Hauptform des ersten Typus erscheint dann die story. Solche stories vermitteln Nachrichten und bilden zugleich Identität, wie zuerst besonders die phänomenologische Analyse von Schapp herausgearbeitet hat, die ihre Entsprechungen in Theorie lebensweltlicher Interaktion (Schütz; Mead), aber auch der analytischen —»Sprachphilosophie hat. Lite-

Erzählung

in

missionarischer Verantwortung. FS H . H . Ulrich, Stuttgart 1979. - W. Günther, Erneuerung der Kirche: Ökumene in Schule u. Gemeinde, hg. v. F. Hasselhoff/H. Krüger, Stuttgart 1 9 7 1 , 1 8 1 - 1 9 6 . - H b . Rel. Gemeinschaften, Gütersloh 1978. - Walter J. Hollenweger, Die Kirche für andere - ein Mythos: EvTh 37 (1977) 4 2 5 - 4 4 3 . - Zur Sendung der Kirche. Material der ökum. Bewegung, hg. v. H. J. Marguli, 1963 (TB 18). - Willem A. Visser't Hooft, The Renewal of the Church, London 1956.

Walter J. Hollenweger Erzählung 1. Begriff, Probleme, Bedeutung heute (Literatur S. 231)

1. Begriff, Probleme,

2. Erzähltradition und Kirche

3. Theologie und Erzählung

Bedeutung

Erzählung ist nicht nur ein fundamentales anthropologisches Phänomen, sondern auch eine Grundform der Überlieferung des Evangeliums. Vergleichbare Grundformen sind —»Gebet und —»Gebot, Spruch und -»Gespräch, Lob und Bekenntnis. Die Überlieferungsgeschichte der —»Bibel, Jesu Verkündigung (Gleichnisse), die Herausbildung der Gattung Evangelium, die Tradierung biblischer Geschichten, all dies ist an Erzählung als Vorgang und literarische Form gebunden, wenn auch nicht allein darauf angewiesen. Diese fundamentale theologische Bedeutung hat trotz unterschiedlicher Einschätzung und Praxis in der Kirchengeschichte immer bestanden, ist aber erst neuerdings - katechetisch schon immer erwogen - Gegenstand fundamentaltheologischer Erörterung geworden. Das beweist die Ausbildung des Begriffs „narrative Theologie" (seit 1973, s. Weinrich) - eine gute erste Analyse gibt Wacker — ebenso wie das Fehlen des Stichworts in theologischen Nachschlagewerken vor dieser Zeit. Das komplexe Phänomen Erzählung als mündliche Äußerung oder als schriftlich fixierter Text bietet viele Aspekte, die Erzählforschung zu einer interdisziplinären Aufgabe machen. —»Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft (—»Sprache/Sprachwissenschaft) mit Lingustik und —»Rhetorik sind ebenso beteiligt wie Geschichtswissenschaft mit —»Volkskunde und Soziologie als auch Handlungswissenschaften wie—»Psychologie knd—»Pädagogik und nicht zuletzt auch Religionswissenschaft und —»Theologie. Das zeigt, daß Sprache, —»Geschichte und Praxis Grundelemenoe der Erzählung als eines realenzyklopädischen Phänomens sind, weswegen auch alle theologischen Disziplinen hier anzusprechen sind. Dennoch ist Erzählung kein Universalphänomen, denn sie läßt eine Tendenz gegen Systembildung erkennen. Erzählung ist an Geschichten, nicht Geschichte interessiert (zur Diskussion über diesen Komplex vgl. Dantos Diktum „History teils stories" [dt. Ausg. 184], Wakker [88—93] mit Hinweis auf Baumgartner und den Sammelband: Geschichte — Ereignis und Erzählung [s. Kosellek/Stempel]). Außerdem ist Erzählung ein Sprechakt und insofern gegen Fakten und andere Handlungen absetzbar, woraus sich schließlich auch Einschränkungen für den Zukunftsbezug (Erzählung als Zukunft ist nur als Utopie realisierbar) im Vergleich mit Programmen, Plänen und Prognosen ergeben. Erzählung kann allerdings in Dienst anderer Grundformen des Mitteilens treten, z.B. kann sie Lehre verdeutlichen, man denke an Fabeln und Parabeln, z.B. die Ringparabel in —»Lessings Nathan der Weise oder die vielgebrauchte Wendung: „und die Moral von der Geschieht". Benjamin hat diese Zusammenhänge besonders deutlich im Blick auf den kulturellen Wandel analysiert „in jedem Fall ist der Erzähler ein Mann, der dem Hörer Rat weiß" (388). - „Rat in den Stoff gelebten Lebens eingewebt, ist Weisheit. Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt (ebd.). Man kann versuchen, Gebrauchsformen der Rede prinzipiell zu unterscheiden, z.B. zwischen berichtender Sprache (reporting language) und Anredesprache (address language) (Ritsehl 13), als Hauptform des ersten Typus erscheint dann die story. Solche stories vermitteln Nachrichten und bilden zugleich Identität, wie zuerst besonders die phänomenologische Analyse von Schapp herausgearbeitet hat, die ihre Entsprechungen in Theorie lebensweltlicher Interaktion (Schütz; Mead), aber auch der analytischen —»Sprachphilosophie hat. Lite-

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Erzählung

raturwissenschaftlich ist die Unterscheidung von story und plot (Lämmert 25) üblich geworden: Story als „a narrative of events arranged in their timesequence" (Weston 116), während plot nicht nur eine Ereignisfolge, sondern einen Sinnzusammenhang zu erkennen gibt. Doch sind wir sicher von einer einheitlichen Theorie der Erzählung, die zumindest literarisch, linguistisch und historisch integrabel ist, noch weit entfernt. Es wird theologisch vorerst genügen, den Bezug zu Geschichten, die Unterscheidung von Erzähler und Erzähltem, die Wechselwirkung von Erzählen als Vorgang und Erzähltem als Text, Berücksichtigung der Anlässe und Funktionen (warum wird erzählt?) und die Differenz von erzählter Zeit und Erzählzeit (vgl. Lämmert 23) vor Augen zu haben und die Unterscheidung von Erzählung und Argumentation fruchtbar zu machen, wie dies z. B. Ritsehl/Jones getan haben, so daß stories „als Rohmaterial der Theologie" (dies allerdings ein weniger schöner Ausdruck!) aufgefaßt werden und somit „narrative Theologie" als „Fehlbezeichnung, hinter der sich aber ein ganz bestimmtes Anliegen verbirgt" (41), erscheint (ähnlich Wacker; Rau; Schröer). Als Hauptformen der Erzählung gelten: Märchen, Fabeln, Sagen, Anekdoten, Gleichnisse (Parabeln), Schwanke, Legenden, Witze, als spezifische Kunstformen die Novelle, der Roman, die Ballade und die Kurzgeschichte. Kulturgeschichtlich kann man sagen, daß die Erzählung zwischen —»Mythos und Logos ihren Standort hat. Es erfolgt eine gewisse Emanzipation vom Mythos, der erzählt wird, aber auch kultisch geschieht, insofern im Märchen .Extravaganz* (Ricoeur) und Funktionalität erlaubt werden und in der Sage historisiert wird (vgl. Röhrich 297). Die Grundleistung und Erzählung ist das „Vermögen, Erfahrungen auszutauschen" (Benjamin 385). Sie hält—»Erfahrung als Prozeß offen, erinnert unterhaltend, moblisiert Zeit gegen starres Sein, denn ihr Grundzug ist Umgang mit Geschehen in der Sukzession mit Verdichtungen, Umformungen, Dehnungen, Uberlagerungen usw. (vgl. Lämmert). Erzählung verweigert sich deshalb dem Versuch, auf eine logische Formel gebracht zu werden, auch wenn sie Lehre unterstützen kann, Normen erinnert und geprägte Formen bevorzugt. Deshalb ermöglicht sie im Verhältnis von Wirklichkeit und Erfahrung Spannungen kreativ auszutragen aber auch zu bewahren, wie die Spannungen von Dokumentation und Fiktion (schon früh wurde zwischen Bericht und Erzählung wie zwischen Chronik und Geschichte unterschieden), von Schrift und Rede, von Literaten und Volk, von Monolog und Dialog, von —»Heimat und Fremde, von Individualität und Gemeinschaft, von Gefühl und Reflexion. Als Brückenphänomen intendiert Erzählung anthropologisch geglückte Überlieferung von Erfahrung im Strom der Zeit angesichts der Grundambivalenz von Identität und Wandel, Innerung und Äußerung. Freilich ist in solche Einsicht der Evolutionsprozeß einzubringen. Benjamin hat wohl als erster eine postnarrative Kultur mit dem Vorherrschen von Information dignostiziert: „Die Zeit ist vorbei, in der es auf Zeit nicht ankam" (394). Ähnlich urteilte auch Adorno. Doch zeigt sich heute auch neues Zutrauen zur Kraft der Erzählung, das allerdings auch als Krisenphänomen zu deuten ist: Erzählung wird thematisiert, weil sie weitgehend verloren gegangen ist. Deshalb ist nicht nur nach heutiger Theorie, sondern auch Praxis der Erzählung zu fragen. Eine Hilfe bietet dabei sicher die Literatur durch die Bedeutsamkeit großer Erzähler für Glauben und Seelsorge. So ist mit Benjamin zu erinnern an Nikolai Leskow, F. M . -»Dostojewski und L. -»Tolstoi. Wilhelm Raabe (s. dazu Frick), Johann Peter Hebel (dazu Mayer), Theodor Fontane (dazu Hamel), Jeremias Gotthelf (s. Bohren), aber auch neuere Autoren wie Georges Bernanos, Gilbert Keith Chesterton, Charles Stuart Lewis (s. Kranz), Thomjs Mann, Bert Brecht, Wolfdietrich Schnurre, Heinrich Boll, Siegfried Lenz und Peter Bichsei sind theologisch bedeutsame Erzähler von Rang. Daß eine Geschichte so erzählt werden soll, daß sie selber Hilfe sei, hat man mit diesem Grundsatz vor allem wieder aus M. —»Bubers Chassidischen Geschichten gelernt.

2. Erzähltradition

und Kirche

Daß das Urchristentum „in narrativer Unschuld" (Weinrich 331) existiert habe, daß es nur Erzählgemeinschaft und nicht auch Argumentationsgemeinschaft gewesen sei, daß Erzählung die Basisform allen neutestamentlichen Zeugnisses sei, wird man nicht behaupten

Erzählung

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dürfen (so auch Ritsehl; Rau; Wacker; Zirker in kritischer Auseinandersetzung mit Weinrich; Wachinger; Halbfas und auch Lohfink). Neben dem Erzählgut wie den Gleichnissen steht die kerygmatische Formel, das Bekenntnis und der Spruch, neben den Evangelien finden wir die neutestamentlichen Briefe, neben dem Zeugnis das Gebet. Ritsehl willsfory und Lob als primäre Grundformen annehmen. Eine narrative Grundstruktur ergibt sich daraus, daß grundsätzlich von einerstory Gottes gesprochen werden kann, die das Hauptthema bildet (vgl. Art 2,11). Aber von diesem Geschehen kann sprachlich verschieden in gleicher Betroffenheit geredet werden. Bestimmte Erzählformen haben sich als theologisch besonderes geeignet erwiesen: An erster Stelle stehen die Gleichnisse als „Urgestein" der Verkündigung Jesu („Die Basileia kommt im Gleichnis als Gleichnis zur Sprache. Die Gleichnisse bringen die Gottesherrschaft als Gleichnis zur Sprache", E. Jüngel, Paulus u. Jesus, 3 1 9 6 7 [HUTh 2] 135). Aber auch Apophthegmata oder Paradigmen sind typisch dafür, daß der Erzähler Jesus zum „erzählten Erzähler" wurde. Dazu kommen Legenden und Wunderberichte (vgl. die Gattung der Prodigien, s.u.). Sage, Anekdote und Märchen dagegen boten sich nicht an, anders als im Alten Testament. Doch ergab sich auch immer die Aufgabe der Verdichtung (Ritsehl: Summierung) zu Thesen, Katalogen, Formeln und christologischen Titeln, der Rekurs von Geschichten zur Geschichte (vgl. —»Augustin, der die geschichtlichen Institutionen unterscheidet von derhistoria ipsa, deren Herr allein Gott ist [De doctr. ehr. II, 2 8 , 4 4 ] ) , von den Evangelien zum Evangelium.

Während narratio vorher nicht im christlichen Sprachgebrauch nachzuweisen ist, hat Augustin in De catechizandis rudibus diese Gattung als die Grundform des Erstunterrichts für Taufbewerber herausgestellt, doch bedeutet dieser Terminus hier im Anschluß an die Rhetorik nicht mehr als ein Lehrvortrag mit historischem Aufweis (vgl. Stallmann 215 f), wobei ein Abriß der Heilsgeschichte mit figuraler Zuordnung von Altem und Neuem Testament von der Schöpfung bis zur kirchlichen Gegenwart geboten wird. Das zeigen die dortigen zwei Musterkatechesen ganz deutlich: Erzählung und Lehre bleiben in Einheit. Augustin kennt den Unterschied von narratio und demonstratio, aber auch den Zusammenhang (De doctr. ehr. II, 29, 45). Im Mittelalter wird, besonders in der Predigt und in der religiösen Volkserzählung mit Heiligenlegenden, Dämonensagen und Teufclgeschichten als besonders wirksamen Ausprägungen viel Raum für episches Volksgut gelassen. Die Reformation wandte sich einerseits kritisch gegen die Gattung der „Exempel" und „Märlein", andererseits wurde die Verbindung von Evangelium und Geschichte neu entdeckt. Luthers bekanntes Diktum: „Wenn man von dem Artikel der Rechtfertigung predigt, so schläft das Volk und hustet; wenn man aber anfähet, Historien und Exempel zu sagen, da reckts beide Ohren auf, ist still und hört fleißig zu" (WA.Tr 2, Nr. 2408 b) kennzeichnet die Lage. So ist es denn, wie besonders Wolf gezeigt hat, auch immer wieder zu Kompromissen gekommen. Charakteristisch ist der kontroverstheologische Streit zwischen —>Osiander in Stuttgart und Johann Nasus (später Weihbischof in Brixen) über die Verwendung Äsopscher Fabeln in der Predigt. Das von Brückner herausgegebene Handbuch zeigt, wie sich Heiligenkalender, Martyrologien, Prodigiensammlungen (Wunderzeichen), Teufelsgeschichten und Luthersagen, dazu auch viele Exempelsammlungen herausgebildet haben. Das Promptuarium excmplorum [Vorratsbehälter] von Andreas Hondorff (Leipzig 1568) war das erste schulbildende derartige Kompendium (Zur heutigen theologischen Bedeutung vgl. Rau 2 1 - 3 7 ) .

Luthers deutlicher Rekurs auf die Schrift, den Text, genauer auf das Wort von Predigt und Absolution, führte jedoch zu Vorbehalten gegenüber solchem Predigtstoff wie dem Erzählen überhaupt, da nunmehr der —»Katechismus vor allem für den Unterricht prägend wurde. Sicher hat es auch damals gewisse Formen des biblischen Unterrichts gegeben (Hahn; Stallmann), aber dennoch stellten die berühmt gewordenen Biblische(n) Historien von Johann Hübner (Hamburg 1714) etwas Neues dar, wobei die dort gebotenen je 52 Historien aus dem Alten und Neuen Testament mit angeschlossenen Fragen zum Erlernen und Bedenken des Textes an sich dem Katechismus dienen sollten, in Wirklichkeit ihm aber bald Konkurrenz machten. Seitdem besteht das klassische katechetische Problem des Verhältnisses von biblischen Geschichten und Katechismus (vgl. dazu Stallmann; Witt; Fraas). T . Mayer hat in einer vorzüglichen Untersuchung über die maßgeblichen Bücher zum biblischen

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Erzählung

Unterricht im evangelischen Religionsunterricht in Baden (Hübner; Hebel; Bibl. Geschichten von 1858; Leutz; Erb; Vollbibel/Synopse) ein Gesetz der Entwicklung aufgewiesen, das auch für andere Regionen Gültigkeit haben dürfte: Die Entwicklung vollzieht eine Pendelbewegung zwischen der Bemühung um authentischen Bibeltext einerseits und frei interpretierender Nacherzählung ohne explizite Lernambitionen andererseits. In der Mitte stehen dann an Lemzielen der Schule orientierte Ausgaben. Diese Tendenzen haben sich natürlich auch auf die Einschätzung des Erzählens ausgewirkt, auch wenn es erst mit Herbart als „bewußt gepflegte,Lehrform'" (Klafki 233) auftaucht, wobei es noch nicht immer deutlich von Beschreibung unterschieden wird. Erst die Reformpädagogik hat mit Scharrelmann und Gansberg das Erzählen ins Zentrum gerückt und damit auch auf die Religionspädagogik maßgeblich eingewirkt (z. B. Kabisch 1 1 3 f ) . Anschaulichkeit und Selbsttätigkeit, auf das Erleben bezogen, konnten so gefördert werden und zugleich wurden methodische Prinzipien entwickelt wie Detaillieren, Motivieren, Lokalisieren, Psychologisieren, Dynamisieren, die freilich angesichts der besonderen Struktur und Zielsetzung biblischer Geschichten dann auch erhebliche Schwierigkeiten bereiteten. Vorbereitet durch die Kritik an der—»Leben-Jesu-Forschung, übten dialektische und kerygmatische Theologie Kritik am Psychologisieren, die dann auch religionspädagogisch durchschlug (Stallmann; Bochinger; Stock u . a . )

3. Theologie und Erzählung heute Auch wenn man nicht Z a h r n t s einfacher Phasenfolge der Theologie der letzten Jahrzehnte in „proklamative", appellative und nun narrative Theologie folgt, so ist doch, verbunden mit dem Stichwort —»Erfahrung, Erzählung wieder zu einem aktuellen T h e m a geworden. Zwei Grundformen, die der biblischen Sprachform weithin folgende Nacherzählung (Steinwede; Baldermann) und die freiere, vom point ofvicw des Erzählers her entwickelte Umwelt- Rahmen-, oder Verlaufsgeschichte sowie Geschichten zur literarischen Ursprungssituation sind (Neidhart u.a.) entwickelt worden. Charakteristisch ist Neidhans Forderung: „Meine Erzählung soll nicht am Glaubensverständnis der Priesterschrift oder des Lukas, sondern an meinem Glaubensverständnis orientiert sein. Sie ist darum nicht am Kriterium zu messen, ob sie die Meinung des biblischen Erzählers richtig wiedergibt. Nursias Kriterium gilt, ob ich selber verantworten kann, was durch meine Geschichte beim Hörer ausgelöst wird" (31). So wichtiges ist, kritische Theologie in das Erzählen einzubringen, so bleibt auch angesichts der Geschichten als theologischer Quelle die Frage nach der selbsteigenen Didaktik biblischer Texte berechtigt und die Wirkung auf die Rezipienten nicht eindeutig voraussagbar. Neidharts Erzähltheorie nimmt Browns Ausführungen zur Erzähltechnik im Blick auf Phasen und Themen zu Hilfe und schlägt damit auch eine Brücke zur linguistischen Erzähltextanalyse. Hier ist noch erhebliche Arbeit, z.B. über das Verhältnis von Wahrheit und Relevanz, über den Sondercharakter biblischer Überlieferung und das Eindringen von theologischer Reflexion zu leisten (Weinrich; Hollenweger; Dormeyer; Güttgemanns; Bizer u. a.). Zugleich ist aber vor allem auch zu überlegen, in welcher Weise nicht nur Christusgeschichten der Bibel, sondern auch Christengeschichten heutiger Glaubenserfahrungen ein besonderes Thema narrativer Studien bilden müssen; die Spannung von Schrift und Tradition macht sich hier geltend und darf nicht aufgehoben werden. Sicher ist, daß Psychologie und Soziologie uns religiöse Geschichten neu als Rollenangebote indirekter Art erschließen können. Christliches Erzählen als „gefährliche Erinnerung" (Metz), als Uberlieferung der „Liebesgeschichte Gottes" (Jüngel XV) mit uns als Passionsgeschichte erscheint als aktuelle Notwendigkeit. Der derzeitige kulturelle Kontext ist treffend durch Michael Endes Erzählung Die unendliche Geschichte (Stuttgart 1979) charakterisiert: die Erzählung wird so zwischen Wirklichkeit und dem Land Phantasien vermittelt, daß der Leser oder Hörer sich selbst schrittweise in der Erzählung findet und so geschehene und geschehende Zeit sich utopisch verbinden. Wichtig scheint auch der Hinweis auf die nicht zu Unrecht als „erzählende Pädagogik" bezeichnete Erziehungsweise Janusz Korczaks, was zugleich die Anstrengungen um eine theologische Anthropologie des —»Kindes in dessen Eigenwert unterstützt. —»Bonhoeffers Überlegungen zu actus directus und reflexus (137) können hier noch nicht genutzte Hilfe bieten. Auch in der—»Predigt gewinnen die Bemühungen um Erzählung wieder an Boden. Das zeigen neue Anthologien (Nitschke u . a . ) ebenso wie die Theoriebildung. Bisher fehlt eine Geschichte der Erzählweisen und -Stoffe in der Predigt, auch wenn wir in einzelne E p o c h e n , z . B . die der Reformation, reiche Einblicke (Brückner) haben. Damit ist aber das theologisch-kirchliche Wirkungsfeld von Erzählung noch keineswegs erschöpft. So wie neuerdings dem Erzählen im Alltag (vgl. Kanzog), z . B . bei Krankenge-

Erzählung

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schichten und Gerichtsverhandlungen, neu Beachtung geschenkt wird, so ist die Frage nach der seelsorgerlichen Qualität von Erzählung (vgl. dazu auch Ritsehl 3 5 ) neu zu stellen, aber ebenso auch die Aneignung im Medium des Lieds, der biblischen Ballade (Hertzsch). Hertzsch hat sogar versucht, —»Praktische Theologie als ganze und Erzählkunst in Z u sammenhang zu bringen und folgerichtig auch Erzählkurse für Theologen in das Theologiestudium aufgenommen. Versucht man eine systematische Bündelung der Probleme, so geht es nicht nur um das Verhältnis von Erzählung und Argumentation, von Glaube und Kultur, sondern vor allem auch u m narrative Grundstrukturen der Theologie selbst, besonders faßbar am Alten Testament (v. Rad), aber auch an den Problemen von Identität und Wandel im Kommen des W o r t e s Gottes. K. —»Barth (KD II/2, 2 0 6 ) hat, um das Zeugnis von der Geschichte Gottes mit uns, die Entfaltung der Tragweite des N a m e n s Jesu Christi (vgl. W a c k e r 7 3 - 7 7 ) zu wahren, Erzählen als die entscheidende Redeform herausgearbeitet. Bohren ist ihm darin homiletisch gefolgt und Jüngel hat dieses Konzept im Z u s a m m e n h a n g mit Gleichnisverständnis und Metaphertheorie weitergeführt. Freilich muß sich solche fundamentaltheologische Besinnung auch mit kulturanthropologischer Reflexion auf die Erzählsituationen und die linguistischen Strukturen verbinden. Angeraten erscheint so eine phänomenologische Grundlegung (vgl. auch Ritsehl 17), die an Schapps Erkenntnisse durchaus anknüpfen kann. Die Sichtung heutiger Erzählvorgänge in Rede und Literatur, die Aufarbeitung der Erzähltraditionen, die Prüfung und Entwicklung neuen Erzählguts müssen mit der fundamentaltheologischen Besinnung verbunden werden. Dann müßte W . Willms Diktum „narrare h u m a n u m e s t " (11) mit Recht nicht nur Programm bleiben, sondern könnte Wirklichkeit für neue Verbindungen von Erfahrung, Phantasie, Geschichte(n) und Elementarisierung werden, die die Humanität Gottes und die darin beschlossene Menschwerdung des Menschen zugleich zur Sprache bringen. Literatur Bibliographie: Wolfgang Haubrichs (Hg.), Erzählforschung. I. Theorien, Modelle u. Methoden der Narrativik. Mit einer Auswahlbibliogr. zur Erzählforschung, Göttingen 1976 (Beiheft 4 der Zs. für Literaturwiss. u. Linguistik). Theodor W. Adorno, Der Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman: ders., GS, Frankfurt, II 1 9 7 4 , 4 1 - 4 8 . - Helmut Angermeyer, Die elementare Bedeutung bibl. Erzählens: WPKG 65 (1976) 1 6 1 - 1 7 2 . - Erich Auerbach, Mimesis, Bern 1946. - Georg Baudler, Wahrer Gott als wahre Mensch. Entwürfe zu einer narrativen Christologie, München 1977. - Hans Michael Baumgartner, Kontinuität u. Gesch., Frankfurt 1972. - Walter Benjamin, Der Erzähler: ders., Illuminationen, Frankfurt 2 1 9 8 0 (Suhrkamp T B 345) 3 8 5 - 4 1 0 . - Christoph Bizer u. a., Erzählen u. Gestalten, Loccum 1978. - Rudolf Bohren, Predigt als Erzählung: Oikonomia. FS Oskar Cullmann, Hamburr 1967, 3 4 5 - 3 5 9 . - Ders., Predigtlehre, München 1 9 7 1 , 1 7 0 - 1 8 5 . - Dietrich Bonhoeffer, Akt u. Sein, München 1 9 6 4 , - W a y n e C. Booth, Die Rhetorik der Erzählkunst, 2 Bde., Heidelberg 1974 (UTB 384/385). - Jeanette Perkins Brown, The Story-Teller in Religious Education, London 1956. - Wolfgang Brückner (Hg.), Volkserzählung u. Reformation. Ein Hb. zur Tradierung u. Funktion v. Erzählstoffen u. Erzählliteratur im Protestantismus, Berlin 1974. - Paul van Buren, The Edges of Language, London 1972. - Elfriede Conrad/Klaus Deßecker/Heidi Kaiser, Erzählbuch zum Glauben. I. 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Erziehung

Rede u. Anrede: T h L Z 9 9 (1974) 8 8 1 - 8 9 0 . - Walter Hollenweger, Konflikt in Korinth/Memoiren eines alten Mannes. Zwei narrative Exegesen, München 1978. - André Jolles, Einfache Formen, Darmstadt 2 1958. - Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1977. - Richard Kabisch, Wie lehren wir Religion, Göttingen 7 1931. - Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 2 Bde., Kronberg 1977. - Klaus Kanzog, Erzählstrategie, Heidelberg 1976. - Günter Kegel, Vom Sinn oder Unsinn bibl. Geschichten zu erzählen, Gütersloh 1971. - Wolfgang Klafki, Erzählen im Unterricht: Päd. Lexikon, Stuttgart 4 1 9 6 8 , 2 3 3 - 2 3 4 (Lit.). - Janusz Korczak, Verteidigt die Kinder! Erzählende Pädagogik, Gütersloh 1978. - Reinhart Kosellek/Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Gesch. - Ereignis u. Erzählung, München 1973. — Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens., Stuttgart 1955 3 1 9 6 8 . - Gerhard Lohfink, Erzählung als Theol.: StdZ 192 (1974) 5 2 1 - 5 3 2 . - Josef Martin, Antike Rhetorik, 11974,(HAW 2/3) 7 5 - 8 9 . - T r a u g o t t Mayer, Bibl. Geschichten im ev. Religionsunterricht in Baden: Vereinigte Ev. Landeskirche in Baden 1 8 2 1 - 1 9 7 1 , Karlsruhe 1 9 7 1 , 3 9 2 - 4 7 7 . - Johann Baptist Metz, Kleine Apologie des Erzählens: Conc(D) 9 (1973) 3 3 4 - 3 4 1 . - Josef Meyer zu Schlochtern, Glaube - Sprache - Erfahrung, Bern/Frankfurt 1978. - Dietmar Mieth, Narrative Ethik: FZPhTh 2 2 (1975) 2 9 7 - 3 2 8 . - Ders., Dichtung, Glaube u. Moral. Stud. zur Begründung einer narrativen Ethik, Mainz 1976. - Elfriede Moser-Rath, Predigtmärlein der Barockzeit, Berlin 1964. - Walter Neidhart/Hans Eggenberger, Erzählbuch zur Bibel, Zürich 1975. - Horst Nitschke (Hg.), Erzählende Predigten, 2 Bde., Gütersloh 1976/81. - Heinz Piontek (Hg.), Neue dt. Erzählgedichte, München 1968. Eckard Rau, Leben-Erfahrung-Erzählen oder: Gehöre ich zu einer Erzählgemeinschaft?: WPKG 64 (1975) 3 4 3 - 3 5 5 . - Ders., Predigt und Erzählung: WPKG 68 (1979) 2 1 - 3 7 . - Lutz Röhrich, Sage u. Märchen. Erzählforschung heute, Freiburg 1976. - Ders., Erzählungen des späten MA u. ihr Weiterleben, 2 Bde., Bern/München 1962/67. - Ders., Märchen u. Wirklichkeit, Wiesbaden 1974. - Ernst Heinrich Rehermann, Die prot. Exempelsammlungen des 16. u. 17. Jh.: Brückner (s.o.) 5 7 9 - 6 4 5 . Dietrich Ritschl/Hugh O . Jones, „Story" als Rohmaterial der Theol., 1976 (TEH 192). - Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt, Wiesbaden 2 1 9 7 6 . - Heinrich Scharrelmann, Die Technik des Schilderns u. Erzählens, Braunschweig 1921. - Klaus Schilling, Narrative Theologie u. Religionsunterricht: KatBl 100 (1975) 2 5 7 - 2 6 7 . - Tim Schramm, Erzählen im Religionsunterricht: ThPr 14 (1979) 2 0 7 - 2 1 7 . - Henning Schröer, Das Problem der Vermittlung v. Tradition u. rei. Erfahrung im Erzählvorgang: EvTh 38 (1978) 1 1 3 - 1 2 5 . - U l r i c h S i m o n , Story and Faith in the Biblical Narrative, London 1975. - Martin Stallmann, Die bibl. Gesch. im Unterricht, Göttingen 1963 (bes. 2 0 3 - 2 6 6 ) . - Lothar Steiger, Erzählter Glaube, Gütersloh 1978. - Dietrich Steinwede, Zu erzählen deine Herrlichkeit, Göttingen 1 9 6 5 . - D e r s . , Was ich gesehen habe, Göttingen 1 9 7 6 . - D e r s . , Bibl. Erzählen, Göttingen 1 9 8 1 . Ders./Sabine Ruprecht, Vorlesebuch Religion, 3 Bde., Göttingen 1 9 7 1 - 7 6 . - George W. Stroup, The promise of Narrative Theology, Atlanta 1 9 8 1 . - T h T o 32 July 1975. Themaheft: Story. - Lorenz Wachinger. Erinnern u. Erzählen, München 1974. - Bernd Wacker, Narrative Theol.?, München 1977 (Lit.). - Harald Weinrich, Narrative Theol.: Conc(D) 9 (1973) 3 2 9 - 3 3 3 . - Ders., Tempus. Besprochene u. erzählte Welt, Stuttgart 1 9 6 4 , 3 1 9 7 7 (Lit.). - Wilhelm Willms, Aus der Luft gegriffen, Kevelaer 1976 (bes. 1 1 - 1 4 ) . - H a n s - H e r b e r t Wintgens, Das Erzählen im Religionsunterricht, Gütersloh 1971. - Herbert Wolf, Erzähltraditionen in homiletischen Quellen: Brückner (s.o.) 704—756. - Otto Wullschleger, Anschauliche Christologie. Empirische u. theol. Aspekte zur Erzählbarkeit der Jesusgeschichte in der Grundschule, Frankfurt 1977. — Heinz Zahrnt, Rei. Aspekte gegenwärtiger Welt- u. Lebenserfahrung: ZThK 71 (1974) 9 4 - 1 2 2 . - Ders., Mein Gott - erfahren, bedacht, erzählt, Hamburg 1979. - Lothar Zenetti, Die wunderbare Zeitvermehrung, Variationen zum Evangelium, München 1979. - Hans Zirker, Lesarten v. Gott u. Welt, Düsseldorf 1979. - Ders., „Narrative Geborgenheit in einer problematischen Welt?: KatBI 101 (1976) 7 3 1 - 7 3 5 . - Else u. Otto Zurhellen, Wie erzählen wir den Kindern die bibl. Geschichten?, Tübingen 6 1 9 2 5 .

Henning Schröer Erzbischof —»Bischof, —»Kirchenverfassung Erziehung 1. Erziehungswissenschaftlich 1.1. Definitionen 1.2. Bildungsphilosophische und emanzipatorisch-kritische Erziehungsbegriffe 1.3. Neuere anthropologische Bestimmungen von Erziehung 1.4. Sozialisation und Erziehung 1.5. Erziehung im historischen Prozeß 2. Theologisch 2.1. Erziehung als theologisches Thema 2.2. Erziehungsdenken in Spätmittelalter und früher Neuzeit 2.3. Unterscheidung und Zusammenhang von Erziehung und Evangelium bei Martin Luther 2.4. Erziehung zu Moral und Religion nach der Reformation 2.5. Gottes Erziehung und menschliche Erziehung im Zeichen von Gesetz und Evangelium 2.6. Glaube und Erziehung - drei Grundmodelle im Spiegel der neueren Entwicklung 2.7. Gesellschaft und Kirche vor neuen Bedingungen und der Reformulierung der Erziehungsfrage (Literatur S. 252)

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Erziehung

Rede u. Anrede: T h L Z 9 9 (1974) 8 8 1 - 8 9 0 . - Walter Hollenweger, Konflikt in Korinth/Memoiren eines alten Mannes. Zwei narrative Exegesen, München 1978. - André Jolles, Einfache Formen, Darmstadt 2 1958. - Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1977. - Richard Kabisch, Wie lehren wir Religion, Göttingen 7 1931. - Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 2 Bde., Kronberg 1977. - Klaus Kanzog, Erzählstrategie, Heidelberg 1976. - Günter Kegel, Vom Sinn oder Unsinn bibl. Geschichten zu erzählen, Gütersloh 1971. - Wolfgang Klafki, Erzählen im Unterricht: Päd. Lexikon, Stuttgart 4 1 9 6 8 , 2 3 3 - 2 3 4 (Lit.). - Janusz Korczak, Verteidigt die Kinder! Erzählende Pädagogik, Gütersloh 1978. - Reinhart Kosellek/Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Gesch. - Ereignis u. Erzählung, München 1973. — Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens., Stuttgart 1955 3 1 9 6 8 . - Gerhard Lohfink, Erzählung als Theol.: StdZ 192 (1974) 5 2 1 - 5 3 2 . - Josef Martin, Antike Rhetorik, 11974,(HAW 2/3) 7 5 - 8 9 . - T r a u g o t t Mayer, Bibl. Geschichten im ev. Religionsunterricht in Baden: Vereinigte Ev. Landeskirche in Baden 1 8 2 1 - 1 9 7 1 , Karlsruhe 1 9 7 1 , 3 9 2 - 4 7 7 . - Johann Baptist Metz, Kleine Apologie des Erzählens: Conc(D) 9 (1973) 3 3 4 - 3 4 1 . - Josef Meyer zu Schlochtern, Glaube - Sprache - Erfahrung, Bern/Frankfurt 1978. - Dietmar Mieth, Narrative Ethik: FZPhTh 2 2 (1975) 2 9 7 - 3 2 8 . - Ders., Dichtung, Glaube u. Moral. Stud. zur Begründung einer narrativen Ethik, Mainz 1976. - Elfriede Moser-Rath, Predigtmärlein der Barockzeit, Berlin 1964. - Walter Neidhart/Hans Eggenberger, Erzählbuch zur Bibel, Zürich 1975. - Horst Nitschke (Hg.), Erzählende Predigten, 2 Bde., Gütersloh 1976/81. - Heinz Piontek (Hg.), Neue dt. Erzählgedichte, München 1968. Eckard Rau, Leben-Erfahrung-Erzählen oder: Gehöre ich zu einer Erzählgemeinschaft?: WPKG 64 (1975) 3 4 3 - 3 5 5 . - Ders., Predigt und Erzählung: WPKG 68 (1979) 2 1 - 3 7 . - Lutz Röhrich, Sage u. Märchen. Erzählforschung heute, Freiburg 1976. - Ders., Erzählungen des späten MA u. ihr Weiterleben, 2 Bde., Bern/München 1962/67. - Ders., Märchen u. Wirklichkeit, Wiesbaden 1974. - Ernst Heinrich Rehermann, Die prot. Exempelsammlungen des 16. u. 17. Jh.: Brückner (s.o.) 5 7 9 - 6 4 5 . Dietrich Ritschl/Hugh O . Jones, „Story" als Rohmaterial der Theol., 1976 (TEH 192). - Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt, Wiesbaden 2 1 9 7 6 . - Heinrich Scharrelmann, Die Technik des Schilderns u. Erzählens, Braunschweig 1921. - Klaus Schilling, Narrative Theologie u. Religionsunterricht: KatBl 100 (1975) 2 5 7 - 2 6 7 . - Tim Schramm, Erzählen im Religionsunterricht: ThPr 14 (1979) 2 0 7 - 2 1 7 . - Henning Schröer, Das Problem der Vermittlung v. Tradition u. rei. Erfahrung im Erzählvorgang: EvTh 38 (1978) 1 1 3 - 1 2 5 . - U l r i c h S i m o n , Story and Faith in the Biblical Narrative, London 1975. - Martin Stallmann, Die bibl. Gesch. im Unterricht, Göttingen 1963 (bes. 2 0 3 - 2 6 6 ) . - Lothar Steiger, Erzählter Glaube, Gütersloh 1978. - Dietrich Steinwede, Zu erzählen deine Herrlichkeit, Göttingen 1 9 6 5 . - D e r s . , Was ich gesehen habe, Göttingen 1 9 7 6 . - D e r s . , Bibl. Erzählen, Göttingen 1 9 8 1 . Ders./Sabine Ruprecht, Vorlesebuch Religion, 3 Bde., Göttingen 1 9 7 1 - 7 6 . - George W. Stroup, The promise of Narrative Theology, Atlanta 1 9 8 1 . - T h T o 32 July 1975. Themaheft: Story. - Lorenz Wachinger. Erinnern u. Erzählen, München 1974. - Bernd Wacker, Narrative Theol.?, München 1977 (Lit.). - Harald Weinrich, Narrative Theol.: Conc(D) 9 (1973) 3 2 9 - 3 3 3 . - Ders., Tempus. Besprochene u. erzählte Welt, Stuttgart 1 9 6 4 , 3 1 9 7 7 (Lit.). - Wilhelm Willms, Aus der Luft gegriffen, Kevelaer 1976 (bes. 1 1 - 1 4 ) . - H a n s - H e r b e r t Wintgens, Das Erzählen im Religionsunterricht, Gütersloh 1971. - Herbert Wolf, Erzähltraditionen in homiletischen Quellen: Brückner (s.o.) 704—756. - Otto Wullschleger, Anschauliche Christologie. Empirische u. theol. Aspekte zur Erzählbarkeit der Jesusgeschichte in der Grundschule, Frankfurt 1977. — Heinz Zahrnt, Rei. Aspekte gegenwärtiger Welt- u. Lebenserfahrung: ZThK 71 (1974) 9 4 - 1 2 2 . - Ders., Mein Gott - erfahren, bedacht, erzählt, Hamburg 1979. - Lothar Zenetti, Die wunderbare Zeitvermehrung, Variationen zum Evangelium, München 1979. - Hans Zirker, Lesarten v. Gott u. Welt, Düsseldorf 1979. - Ders., „Narrative Geborgenheit in einer problematischen Welt?: KatBI 101 (1976) 7 3 1 - 7 3 5 . - Else u. Otto Zurhellen, Wie erzählen wir den Kindern die bibl. Geschichten?, Tübingen 6 1 9 2 5 .

Henning Schröer Erzbischof —»Bischof, —»Kirchenverfassung Erziehung 1. Erziehungswissenschaftlich 1.1. Definitionen 1.2. Bildungsphilosophische und emanzipatorisch-kritische Erziehungsbegriffe 1.3. Neuere anthropologische Bestimmungen von Erziehung 1.4. Sozialisation und Erziehung 1.5. Erziehung im historischen Prozeß 2. Theologisch 2.1. Erziehung als theologisches Thema 2.2. Erziehungsdenken in Spätmittelalter und früher Neuzeit 2.3. Unterscheidung und Zusammenhang von Erziehung und Evangelium bei Martin Luther 2.4. Erziehung zu Moral und Religion nach der Reformation 2.5. Gottes Erziehung und menschliche Erziehung im Zeichen von Gesetz und Evangelium 2.6. Glaube und Erziehung - drei Grundmodelle im Spiegel der neueren Entwicklung 2.7. Gesellschaft und Kirche vor neuen Bedingungen und der Reformulierung der Erziehungsfrage (Literatur S. 252)

Erziehung 1.

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Erziehungswissenschaftlich

1.1. Definitionen. Unter Erziehung können dem Bedeutungsumfang nach 1. in umfassendster Weise (heute dafür meist: Soziälisation) alle erziehungswirksamen Einwirkungen der Umwelt verstanden werden („das Leben erzieht"), 2. im weiteren Sinne das absichtliche pädagogische Handeln und dessen Ertrag (—»Pädagogik), 3. im engeren Sinne die ethische Erziehung und 4. im eingeschränktesten Verstände dressurähnliche Maßnahmen und ihre Folgen (Froese 305 ff). Aussagen über den Bedeutungsinhalt von Erziehung sind geschichtlich bedingt. Daher verwirren unterschiedliche „Wesens"-Definitionen über das Allgemeine von Erziehung, als gäbe es einen Himmel voller Universalien (Treml). In der Sache führen Absolutsetzungen zur Ausschließung anderer Erziehungsverständnisse, die vielleicht fruchtbarer sind. 1.2. Bildungsphilosophische und emanzipatorisch-kritische Erziehungsbegriffe. Seit dem 18. Jh. wird in der deutschen Tradition der Begriff der Erziehung weithin durch den Begriff der —»Bildung interpretiert. Die bürgerliche Bildungsschicht hat dabei ein Interesse an einem Ausgleich zwischen der „Erhaltung der Kultur" und ihrer „Fortbildung" und de „Bildung von Menschen" als einzelnen. Beides zusammengenommen gilt als das, „was E. ihrem Wesen nach ist" (Stern 307). Von der versöhnlichen Auffassung, die individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse harmonisieren zu können, hebt sich die kulturkritische reformpädagogische Bewegung Anfang unseres Jahrhunderts ab, die im Namen des Subjekts protestiert und den „radikalen Wechsel des Blickpunkts von allen objektiven Zwecken weg auf das Subjekt, seine Kräfte und sein Wachstum", als das „Wesen der Erziehung" proklamiert (Nohl 280). „Von allen Seiten wird der Mensch in Anspruch genommen . . . , alle wollen sie das Subjekt eingliedern, verlangen seine Leistung und Hingabe. Die Erziehung dreht den Spieß um und fragt, ob sie dem Subjekt helfen, zu wachsen und zu gedeihen" (281). Die relative „Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis" (Weniger, Eigenständigkeit) wird normativ unpädagogischen Ethos, der Verantwortung für „Wohl" und „Glück" des einzelnen Kindes begründet, deskriptiv im persönlichen erzieherischen Verhältnis, dem „pädagogischen Bezug" (Nohl 282 ff). Die philosophische Bedingung der Möglichkeit dieses Standpunkts verdankt sich einem idealistisch-lebensphilosophischen Vertrauen: „Der Sinn des Lebens liegt im Leben selbst", nicht in den objektiven Resultaten, sondern im Lebensprozeß, nicht in der Leistung als Produkt, sondern in der Arbeit als „frohem Tun" und der „Freude des Gelingens" (284): Erziehung und Bildung erstreben die „Lebendigkeit des Subjekts" (289). Die Blickwendung zum Subjekt beeinflußt bis heute das Selbstverständnis vieler Pädagogen. Statt von „Persönlichkeit" und „Persönlichkeitsbildung" wurde jedoch in Abkehr von überhöhten Erwartungen an menschliche Selbstverwirklichung bald von „Person" und „personaler Bildung" gesprochen (Weniger, Bildung; Flitner, Allg. Pädagogik; ders.: RGG 1 2,633; Groothoff 734) sowie seit Ende der 60er Jahre von „Identität". Das bildungsphilosophische Denkerbe erwies sich weder in den zeitbedingten ästhetischen, idealistisch-wissenschaftlichen oder gar nationalistischen Ausprägungen als tragfähiger Interpretationsrahmen noch in den entfremdenden Formen verschulter,Bildung' (Nipkow, Bildung). Wohl aber konnte der emanzipatorisch gemeinte ethische Anspruch des Bildungsbegriffs als zentrales pädagogisches Kriterium für rechte Erziehung festgehalten werden, nun allerdings, unter dem Einfluß der —»Kritischen Theorie, weniger in allgemeiner kulturkritischer als schul- und gesellschaftskritischer Stoßrichtung: „Wo immer Lernerwartungen entstehen oder an Individuen gerichtet werden, steht deren Identität zur Diskussion, d. h. die Frage, wie weit sich die in den Erwartungen zum Ausdruck kommende Perspektive in die gebildete und balancierte Identität dieses Individuums integrieren läßt. Der Grad von .Repressivität' eines Erziehungssystems oder einer Erziehungspraxis ließe sich deshalb danach bestimmen, wie weit dieses für den Bildungsprozeß von Individuen und Gruppen fundamentale Erziehungsproblem zum Thema gemacht wird" (Mollenhauer 105).

1.3. Neuere anthropologische Bestimmungen von Erziehung. Zur Veränderung des Erziehungsverständnisses haben ferner nach dem ersten Weltkrieg und erneut nach 1945 neben evangelischem Erziehungsdenken (s. u. Abschn. 2.6) Einflüsse der dialogischen Philosophie (—»Dialogik), der —»Existenzphilosophie und der Anthropobiologie beigetragen. Aus einem biblischen Denken heraus überwand M. —»Buber die Einseitigkeiten von Er-

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Erziehung

Ziehung als „schöpferischer" Selbsterziehung oder als kulturpädagogischer Prägung und zwanghaftem „Eingreifen" durch ein Modell „dialogischer" Beziehung mit den Merkmalen der „Freiheit" in „Verbundenheit" und „Vertrauen" (35ff.21ff). Erst wenn der Erzieher „von drüben aus sich selber auffängt und verspürt, ,wie das tut', wie das diesem andern Menschen tut, erkennt er die reale Grenze" (41). Soziologisch gesehen, ergibt sich eine solche „personhafte Verantwortung" für den einzelnen Erzieher erst heute „im Zerfall der überlieferten Bindungen, im kreisenden Wirbel der Freiheit" (45). Mit den Jüngeren stehen die Älteren bei der Frage nach verbindlichen Lebensmustern und Erziehungszielen in einer gemeinsamen „Not", der Erzieher „nur ein Stück Wegs tiefer in sie hinein" (47). Angesichts der „Erfahrungen" und „Forderungen" der „Gegenwart" wurde die historisierende Kulturpädagogik mit der vermeintlichen Erhabenheit und Zeitüberhobenheit ihrer wertphilosophischen Ideen fragwürdig (Grisebach). Erziehung vollzieht sich nicht nur in gesicherter historischer Kontinuität, sondern auch in geschichtlich-gesellschaftlichen und biographischen ,J(risen", in plötzlicher ,ßegegnung", in „Wagnis und Scheitern", in „unstetigen Formen" (Bollnow). Nahezu parallel zum Schwinden der Abhandlungen zu „Menschenbildern" wird die „anthropologische Frage" als Doppelfrage neu gefaßt: Was besagen anthropologische Forschungsergebnisse in Biologie, Kulturanthropologie, Medizin für die Erziehung („pädagogische Relevanz der Anthropologie") ? Welche Einsichten werden umgekehrt in der Erziehung selbst über den Menschen gewonnen („anthropologische Relevanz der Erziehung") (Froese/Kamper 104f)? Die neuen Ergebnisse zur Sonderstellung des Menschen (Portmann: „physiologische Frühgeburt", Angewiesenheit auf einen „sozialen Mutterschoß" für die zweite sozio-kulturelle Geburt, „Offenheit der Struktur des Zuwendungsapparats", „Weltoffenheit") kommentieren die alte Erkenntnis, daß der Mensch zur Menschiverdung der Erziehung bedarf: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß . . . Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht" (Kant VI, 697.699). Ebenso aber gilt: Der Mensch steht vor der Aufgabe, „was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll" (VI, 399). Besonders in den ersten Lebensjahren braucht das —»Kind persönliche Zuwendung, Liebe, Vertrauen erweckende Sozialkontakte, Sprachbeziehungen, Spielmöglichkeiten. Ihr Fehlen ist verhängnisvoll (Hospitalismusforschung; Spitz). Aber nicht nur Hilflosigkeit und Angewiesenheit charakterisieren das neugeborene Kind. Sie legitimieren oft viel zu schnell eine Erziehung in Form überbehütender Fürsorge, die zu pädagogischer Bemächtigung wird und den aktiven Explorationsdrang erstickt. Von Anfang an zeigt sich das Kind mit wachen Sinnen als aktiver Erkunder, fähig und bereit zur „erzieherischen Mitwirkung" (Froese/Kamper 79), nicht als ein „Mängelwesen" (gegen Gehlen), sondern als ein „Vorzugswesen" (94). Kinder und Jugendliche sind außerdem keine kleinen Erwachsenen, Kindsein ist ein „eigener Modus des Menschseins" (Langeveld). Menschen durchlaufen als Kinder und Jugendliche Entwicklungsstufen, in denen sich die Formen des Denkens und moralischen Urteilens, Raum-, Zeit- und Identitätskonzepte qualitativ voneinander unterscheiden (Piaget; Erikson). Um dies zu würdigen, sind Vorstellungen von bloßer Reifung oder sozialer Prägung nicht geeignet. Angemessener sind Denkmodelle vom Zusammenhang von Reifung, sozialem Lernen und aktiver Interaktion (Heckhausen 114 ff). Entsprechend müssen sich auch pädagogische Vorgaben und Freigaben dialektisch verschränken. Kinder können sich keine Welt aus der reinen Unbestimmtheit aufbauen, aber sie dürfen auch nicht eine definitive Weltdeutung vorgesetzt bekommen. Menschen — im Unterschied zu Tieren - „explorieren eine offene Welt, verlassen ihre Eltern in einer offenen Welt" (Langeveld, Studien 52). Dabei ist die in der Abhängigkeit erfahrene Sicherheit gerade eine der Voraussetzungen dafür, daß man Schritte aus ihr heraus zu tun wagt. Das Kind, das eine verläßliche Welt erleben darf und Vertrauen erworben hat, traut sich eher, sich vom Kleid der Mutter, an der es sich festhält, loszulassen, weil es weiß, daß es sofort wieder umkehren kann, wenn es brenzlig wird. Für den Mut, sich loszulassen, eigene Initiativen im Denken und Handeln zu wagen, braucht das Kind aber die ausdrückliche Ermutigung und Gelegenheit durch Eltern, Erzieher und Lehrer. Es muß bewußt erfahren, daß es „selbst suchen darf und finden kann, daß es damit auch „fehlgreifen darf" (Langeveld, Kind u. Glaube 29). Daher gab schon -»Schleiermacher der „Unterstützung" den Primat vor der „Behütung" und „Gegenwirkung" (1,78).

1.4. Sozialisation

und Erziehung. Bildungsphilosophische, erst recht dialogische und

Erziehung

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existenzphilosophische Erziehungskonzepte sehen Eigenart und Wirksamkeit von Erziehung vornehmlich in der persönlichen Beziehung begründet. Sie vernachlässigen die Wirkungen, die von gesellschaftlichen Lebensverhältnissen (Lebensstil, Massenmedien) und den pädagogischen Institutionen ausgehen. Ein Schulsystem erzieht ständig durch seinen „heimlichen Lehrplan", durch Prüfungspraxis, Zulassungs- und Ausleseprozeduren, durch Schulordnung, -leben, -klima. Erziehungswissenschaftler unterschieden zwar bereits in den 20er Jahren zwischen „funktionaler" und „intentionaler" Erziehung (Krieck). Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik holten ebenfalls weiter aus, sahen mit Schleiermacher Erziehung als, folge der Generationen" und als „umfassendes Lebensphänomen" (Flitner, Erziehung), wirksam vor allem in den „erziehenden Gemeinschaften" (Familie, Staat, Kirche, Sprachgemeinschaft, Wissenschaft, Arbeitswelt) sowie in besonders geschichtsmächtig gewordenen Lebensformen" (Mönchtum, Rittertum, humanistische Kultur) (Flitner, Lebensformen). Aber aus diesen Ansätzen erwuchs in Deutschland noch keine planmäßige empirische Erforschung der gemeinten Zusammenhänge. Der Sozialisationsforschung (—•Sozialisation) liegt die Einsicht zugrunde, daß Erziehung Mittel gesellschaftlicher Reproduktion ist, mit dem die Gesellschaft in ihren Kindern die wesentlichen Bedingungen ihrer Existenz vorbereitet" und sichert (Dürkheim 30). ,£ozialisation" meint daher den gesamten „Prozeß der Vergesellschaftung der menschlichen N a t u r " (Betonung des sozialen Aspekts) bzw. den „Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung in dialektischer Beziehung mit der gesellschaftlich vermittelten sozialen Umwelt" (Betonung des individuellen Aspekts) (Hurrelmann 16). Man will nicht mehr (bloß) Erziehungsziele und -normen aufstellen, sondern die pädagogischen und gesellschaftlichen Bedingungen, Strategien und Mittel zu ihrer optimalen Verwirklichung untersuchen („Technologie der Mündigkeit") (Fend, Konformität 13 ff). Wenn überhaupt, werden Erziehungsziele als „wünschbare Sozialisationsergebnisse" nur relativ formal beschrieben. Das Interesse a n , M ü n d i g k e i t " und Selbstbestimmung", in welchem das aufklärerische pädagogische Ethos weiterlebt (s.o. Abschn. 1.2), meint dann die Fähigkeit, eigenen verinnerlichten Normen folgen, diese durch neue Erfahrungen verändern und selbständig weiterentwickeln, Ansprüche von außen auf ihre Legitimität prüfen, über die eigenen Handlungsmaßstäbe Rechenschaft abgeben sowie Motive und Probleme anderer sensibel wahrnehmen zu können (Fend, Konformität 43 ff). Solche sinnvollen, gleichwohl blassen Formeln sind heute sehr verbreitet. Die Verlegenheit, mehr zu sagen, spiegelt die Schwäche unserer Gesellschaft, eine vernünftige Identität mit überzeugenden inhaltlichen Zukunftsperspektiven entwickeln zu können. Sie wird durch fragwürdige Abgrenzungen gefördert. Der Begriff „Erziehung" wird von den Sozialisationstheoretikern auf das absichtliche pädagogische Handeln eingegrenzt (Hurrelmann 19 f; unter dem Einfluß Brezinkas), noch dazu lediglich auf die pädagogischen „Versuche" von Seiten der Erziehenden; was tatsächlich auf Seiten des Erzogenen bewirkt worden ist, rückt aus dem Blick. Ferner soll „Erziehung" nur die Versuche „positiver" Beeinflussung bezeichnen, als gäbe es nicht auch Erziehung zum Bösen. Auf diese Weise wird das erzieherische Handeln bei Hurrelmann zu einem „Sonderkomplex der Sozialisationsforschung" reduziert (19). Statt dessen sollte umgekehrt jene lediglich ein Sonderkomplex einer umfassenderen Erziehungstheorie sein, damit diese, anstelle einer kriterienschwachen Sozialisationsforschung, als Theorie des erziehenden Handelns und der Erziehung durch Strukturen („strukturelle Erziehung", Treml), die Verantwortung für alle pädagogisch relevanten Prozesse übernehmen kann. Das schließt in sich, daß der Erziehungsbegriff auf positive und negative Einflüsse bezogen wird, also auch auf Laster, Folter, Krieg, Kriminalität, Asozialität. Sozialisationsforschung zur Rolle Act Eitern kann die gemeinten Stärken und Schwächen verdeutlichen. Untersuchungen übet elterliches Sanktionsverhalten (Hofman/Saltzstein) zeigen, daß „machtbezogene" Sanktionsmuster wie Befehlen ohne Begründung, Erwartung unbedingten Gehorsams, Lenkung durch äußerliches Strafen und Belohnen die moralische Entwicklung zu ethischer Einsicht und größerer Sensibilität für andere nicht sonderlich fördern. „Liebesorientierte" Kontrollformen durch

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„Liebesentzug" wirken zwar nicht mehr äußerlich zwanghaft, üben aber psychischen Druck aus und machen Kinder affektiv abhängig. Für „induktive" Sanktionsformen ist charakteristisch, daß Eltern ihren Kindern warme Anteilnahme entgegenbringen (binden) und zu selbständiger Einsicht verhelfen(distanzieren). Sie begründen ihre Forderungen und leiten zugleich die Kinder an, die eigenen Handlungsabsichten und -folgen im Blick auf das Wohl anderer (Empathie) abzuwägen (reasoning). Es scheint, daß diese dritte Erziehungsweise am förderlichsten ist (Fend, Konformität 49ff). Erkenntnisse dieser Art sind wichtig. Dasselbe gilt für die Untersuchungen der Piaget-Schule zur moralischen Entwicklung und Erziehung oder für die Erforschung der Gesamtentwicklung des Ichs. Aber ihre Reichweite ist begrenzt. Was sie angesichts der ethischen Herausforderungen unserer Zeit im Rahmen etwa einer Auseinandersetzung mit weltweiter Menschenverachtung, Aggressivität, Unterdrückung und Krieg für eine Erziehung zum Frieden bedeuten könnten, kann meist schon aus forschungsmethodologischen Gründen nicht thematisch werden. Nicht die Sozialisationstheorie, sondern eine Theorie der Erziehung im weiten Sinne und auf der Höhe ihrer Zeit könnte und müßte dies tun. Hinsichtlich der Ablösung der Jugendlichen von den Eltern haben psychoanalytisch orientierte Familienforscher erkannt, daß manche Eltern ihre eigenen ungelösten seelischen Konflikte mit Hilfe und auf Kosten ihrer Kinder meist unbewußt zu lösen versuchen (Richter). Manchmal stoßen sie dabei die Jugendlichen zu früh ab („Abstoßungsmodus") oder machen sie zu Bundesgenossen im ehelichen Machtkampf („Delegationsmodus"). Am häufigsten binden sie sie über die Maßen an sich („Bindungsmodus") (Stierlin). Beim Binden werden auf der affektiven Ebene die Abhängigkeitswünsche des Kindes durch Verwöhnung ausgebeutet. „Je mehr die bindende Mutter ihr Kind verwöhnt, sich um es kümmert und es verhätschelt, um so unersättlicher und monströser wird das Kind" (Stierlin 53). Nicht wenige narzißtische Jugendliche leiden heute an der Nichterfüllbarkeit ihrer alle Realität überspringenden Wünsche. Neben gesellschaftlichen Einflüssen kann eine infantilisierende Erziehungsweise daran mitwirken, daß sie einer Haltung des ständigen Uberversorgtsein-Wollens verhaftet bleiben. Auf der kognitiven Ebene binden Eltern, wenn sie dem Heranwachsenden ihre eigene Definition seiner Empfindungen, Bedürfnisse und Interpretationen aufdrängen; auf diese Weise ersetzen sie „das regulierende und wahrnehmungsfähige Ich des Kindes durch ihr eigenes" (55). Auf der moralischen Ebene binden Eltern durch Erweckung von Schuldgefühlen. Pathologische Folgen sind möglich, wenn Eltern ihre Kinder geradezu in „lebenslängliche, selbstaufopfernde Anhängsel ihrer selbst verwandeln." Mütter können dem Kind den Eindruck vermitteln, „daß sie nur für es gelebt haben . . . " und „daß sie nur durch es leben können" (63). Man kann heute nicht mehr vom „pädagogischen Bezug" und von der Familie als „erziehender Gemeinschaft" reden, ohne dies Mißlingen mitzubedenken. Eine angemessene Beurteilung verlangt jedoch auch hier einen umfassenderen geschichtlich-pädagogischen Gedankengang, um die Hintergründe - hier für die Situation der Familien in unserer Zeit - zu erkennen. 1.5. Erziehung im historischen Prozeß. Empirische Sozialforschung in der Pädagogik (s.o. Abschn. 1.4) ist in der Regel ahistorisch. Die Notwendigkeit einer „historischen Sozialisationsforschung" wird allerdings gegenwärtig deutlich empfunden (Herrmann). Die anthropobiologischen Bestimmungen (s.o. Abschn. 1 . 3 . ) sind auf universale Phänomene gerichtet und klammern den historischen Prozeß ebenfalls meist aus. Bildungsphilosophische Erziehungslehren (s.o. Abschn. 1.2). widmen ihre geistesgeschichtlichen Fragestellungen vornehmlich dem Wandel der pädagogischen Ideen, manchmal dazu noch in der Suche nach der einen pädagogischen Idee, deren „ W e s e n " sich lediglich historisch immer klarer herausarbeitet (Nohl). Eine solche Idealisierung übersieht vielerlei. In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten haben neue Formen sozialgeschichtlicher pädagogischer Geschichtsschreibung Erziehung neu zu sehen gelehrt. Die eine, vermeintlich zeitüberhobene, die W ü r d e des Individuums verteidigende pädagogische Idee verdankt sich in Wirklichkeit der europäischen —»Aufklärung und hängt u . a . damit zusammen, daß neue Wirtschaftsformen, die unternehmerische, private Initiativen voraussetzten, den Vertretern des aufgekommenen städtisch-bürgerlichen Mittelstandes" selbständiges und einsichtiges Handeln abverlangten, ö k o n o m i s c h e Faktoren, religiöse Emanzipationsprozesse und neue politische Ideen trugen zu einer veränderten Lebensauffassung bei. In diesem Umkreis formte sich unter Aufnahme älterer Naturrechts- und Bildungsgedanken die Idee lebenslanger „ S e l b s t e r z i e h u n g " und „ S e l b s t b i l d u n g d i e dann auf die Schule übertragen wurde (Roessler 2 7 8 ff). Eine solche Sicht hebt jedoch immer noch zu sehr auf das pädagogische Selbstverständnis der gebildeten bürgerlichen Schicht ab. Außerdem wird der Anteil an ideologischer

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Rechtfertigung übersehen, der in die Idee der Selbstbildung eingegangen ist. Dieser Zusammenhang zwischen dem Willen, seine einzigartige Individualität zu entwickeln, dem Recht, „von Natur aus" sich zu behaupten, und dem Eigentum an Produktionsmitteln wurde erst in historisch-materialistischen Deutungsversuchen thematisiert (Vogel). Jetzt wird die Aussage möglich, daß das Problem der Erziehung „seinen spezifischen C h a r a k t e r . . . in der bürgerlichen Gesellschaft durch die Ausrichtung auf den Bürger als autonom seine Geschäfte führendes, freies vertragsschließendes Subjekt" erhalten habe (Auernheimer 188). Die Anklage wird dabei geläufig, die frühbürgerliche Pädagogik der Aufklärung, des Neuhumanismus und des deutschen Idealismus habe ihr eigenes Selbstverständnis zur Ideologie verkommen lassen: Man habe zwar „Menschenbildung" als Recht a//er Menschen proklamiert (Rousseau) und die Geschichte als Emanzipations- und Bildungsprozeß des ganzen Menschengeschlechts rekonstruiert (Lessing; Herder; Pestalozzi; Kant), aber die Einlösung des Versprechens im 19. Jh. auf die eigene Klasse beschränkt. Die neomarxistisch eingefärbte Erziehungsdiskussion der 60er und Anfang der 70er Jahre verfiel jedoch eigenen Einseitigkeiten. Sie wendete sich unter anderem so sehr der makrosoziologischen Analyse des Ausbildungssektors zu mit oft pauschalen bildungspolitischen Gesamtbeurteilungen, daß darüber die Aufmerksamkeit auf die Erziehungsprozesse im konkreten „pädagogischen Feld" und im Kontext der alltäglichen „Lebenswelten" verlorenging. Man wird beides sehen müssen: Die öffentlichen Erziehungssysteme dienen der „Reproduktion", d.h. der Erhaltung, Rechtfertigung und Fortentwicklung der gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Ordnung und ihrer Normen. Ebenso aber wird Erziehung weiterhin als zwischenmenschliche „Interaktion" zu beschreiben sein, angewiesen auf „Kommunikation" aller Beteiligten über den Sinn der Erziehungsvorgänge und das Recht der Erziehungsziele und sozialen Normen (Mollenhauer). Analysen, die nur die Legitimationsfunktion und den Zwangscharakter moderner Erziehungssysteme betonen (Bourdieu/Passeron), haben zwar darin recht, daß z.B. in Deutschland von Anfang an neben wirtschaftlichen besonders politische Interessen eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Entstehung des öffentlichen Schulsystems in Preußen im 18.Jh. (—»Schule/Schulwesen) folgte landesherrlichen Zentralisierungsmaßnahmen zur Schaffung einer leistungfähigen Staatsordnung mit einem einheitlichen Bewußtsein der divergierenden Bevölkerungsgruppen. Sie ist daher ein Moment in der Entwicklung des modernen zentralistischen Staates (Leschinsky/Roeder 44). Uberhaupt sind bis heute die Konformitätszwänge in den Schulen besonders für Haupt- und Realschüler ziemlich stark. Schulen bergen aber auch kulturelle, geistige Überlieferungen, die Gedanken freisetzen können, sofern man Lernen auch in Form kritischer Besinnung und Auseinandersetzung zuläßt. Ferner muß in Schulen wie in allen Dienstleistungsbetrieben der Erfolg „in elementarer Interaktion von Angesicht zu Angesicht erwirkt werden. Damit sind der Zentralisierbarkeit und Bürokratisierbarkeit... unübersteigbare Schranken gesetzt" (Luhmann, nach Leschinsky/Roeder 468). Die Theorie des „pädagogischen Bezugs" (heute der pädagogischen Interaktion) behält daher insofern ihr Recht, als das persönliche Erziehungs- und Lehr- Lernverhältnis das Medium zur Durchsetzung auch der allgemeinen gesellschaftlichen Zwecke bleibt, diese damit von dem „Gelingen kommunikativer Beziehungen" risikovoll mit abhängen (Leschinsky/Roeder 469). Noch weiter ausholende historische Analysen lassen Erziehung in der europäischen Geschichte als maßgebliches Instrument des allgemeinen Zivilisierungsprozesses verstehen (Elias). Die mittelalterliche Zivilisation führte die Kinder sehr früh durch funktionale „Lehrverhältnisse" in das Leben ein, durch Zusehen und Mittun. Sie hatte keine Vorstellung vom Eigenwert einer (langen) ,JCindheit", einer darauf folgenden „Jugend' und der anthropologischen Bedeutung darauf bezogener,Erziehung" (Aries). Alles drei bildete sich erst historisch in einem vielschichtigen Prozeß heraus, bei dem im 15. Jh. zunächst vereinzelte Moralisten, Pädagogen und Kirchenmänner, die dann mit den Anhängern der Religionsreform (—»Reformation und —»Katholische Reform) verschmolzen und im 16. und 17. Jh. zahlreicher wurden (s.u. Abschn. 2 . 2 - 4 ) , die freiheitlich-anarchischen Lebensverhältnisse des

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Mittelalters durch Moralisierung und Disziplinierung der Gesellschaft zu überwinden versuchten (Aries 560). Das durchgreifende Instrument wurden die Internate und Schulen mit ihren strengen Schulordnungen (weniger den Inhalten). Dienten sie im Mittelalter Ausbildungszwecken, etwa für den Priesternachwuchs, werden sie jetzt zu Institutionen der „Erziehung" im Zeichen von „Disziplin" und „Zucht" (Aries 349 ff.462 f.509). - Die Ausdehnung der Schulzeit verlängerte dabei die Kindheit, hebt sie ins Bewußtsein und bringt sie so historisch geradezu hervor. Die moralischen Vorzüge der geordneten Schulverhältnisse überzeugen zunächst besonders die Familien der höheren Stände als Mittel ihrer Statussicherung (246). Die innere Rechtfertigung für die nun länger dauernde erziehende Einflußnahme und für die immer pathetischer vorgetragene pädagogische Verantwortung wird in den erst jetzt sich bildenden Ideen einerseits der „Gebrechlichkeit" und „Unschuld" der Kinder (als „Widerschein göttlicher Reinheit", 192 als „Täuflingsunschuld", 216) und damit Erziehungsbedürftigkeit, anderseits ihrer Vernunft- und damit Erziehungsfähigkeit gefunden (198). Erziehungsziel wird das „wohlerzogene Kind"; es muß wohlüberlegt auf den Weg zum frommen, sittsamen und vernünftigen Menschen geführt werden (456). - Allmählich hört auch die —»Familie auf, „lediglich eine privatrechtliche Institution zum Zweck der Weitergabe von Eigentum und Namen zu sein; sie bekommt eine moralische und geistige Funktion, formt den Körper und die Seele" (561). Wie die Schule wird die Familie erst hierdurch zu einer bewußt erziehenden Größe, wobei die neue Fürsorge für das Kind neue Empfindungen weckt und langsam den „modernen Familiensinn" schafft (499 ff). Was Pädagogen früher als zeitlose Idee des Erzieherischen erschienen ist, enthüllt sich als Ergebnis eines historischen Prozesses in Europa, in welchem viele Faktoren zusammengewirkt haben: ökonomische Umwälzungen, Standes- und Klasseninteressen, politische Kräfteverschiebungen, religiöse und moralische Vorstellungen sowie insgesamt der Geist der Neuzeit mit seiner schon früh sich abzeichnenden technokratischen Einstellung. Dieser Vorgang wird heute unterschiedlich beurteilt. Wird von den einen wegen der Humanisierung des Umgangs mit den Kindern von Fortschritt gesprochen (deMause), stellen andere eine in sich widersprüchliche und ambivalente Entwicklung fest (Aries; von Hentig im Vorw. zu Aries), weil die neue Aufmerksamkeit auf die Kinder und ihre Erziehung Ausdruck pädagogischer Fürsorge und Bemächtigung in einem sei und im übrigen die Zusammenhänge von Leben und Lernen aufgelöst habe. Die immer zahlreicher werdenden und immer mehr Lebenszeit beanspruchenden pädagogischen Institutionen mit ihrer professionalisierten Pädagogisierung und Psychologisierung nähern sich nicht nur den Kindern, sie entfernen sie auch von den Erwachsenen und versetzen sie in eine künstliche Welt. Die Pädagogen verstricken sich immer mehr in den historisch bedingten, „selbstkonstruierten .pädagogischen Grundwiderspruch'", einen „gelingenden Übergang" der Kinder und Jugendlichen ins Erwachsenenleben pädagogisch sichern zu müssen, nachdem diese aus pädagogischen Gründen von der Lebens- und Arbeitswelt der Erwachsenen getrennt worden sind (Herrmann 240). Der beschleunigte soziale Wandel - besonders hinsichtlich Lebensstil und moralischer Normen — verlangt an sich, daß die Generationen stärker miteinander und voneinander lernen, damit die Dialektik von geschichtlicher Kontinuität und Erneuerung nicht auseinanderfällt. Die Unsicherheit ist jedoch groß. Den Leistungs- und Konsum-, Werten' unserer Gesellschaft fehlt es angesichts der sozialen und ökologischen Überlebensprobleme der Erde und der Frage nach einem sinnerfüllten Leben an Überzeugungskraft. Die „vernünftige Identität" (Habermas) einer Gesellschaft aber, ihre Fähigkeit zu Zukunft erschließender Sinnfindung, ist eine Voraussetzung dafür, daß auch „Erziehung und Unterricht als Erschließung von Sinn" erfahren werden können (Nipkow, Kirche). In der jüngsten pädagogischen Diskussion ist diese Sinnfrage in verschiedenen Aspekten virulent geworden. Die evangelischen Kirchen haben sie als Doppelfrage nach den Erziehungs- und Lebenszielen aufgenommen (Leben und Erziehen - wozu}, EKD-Synode Bethel 1978). Sie muß von uns Erwachsenen selbstkritisch gestellt werden; denn Sinnkrisen in der Erziehung werden nicht primär durch

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Kinder und Jugendliche hervorgerufen: „Wir selbst und die von uns geschaffenen Lebensverhältnisse (sind) das Problem der Erziehung" (Nipkow, Leben 22). Diese selbstkritische Rückfrage umschließt auch die christlichen Kirchen und ihre geschichtliche Rolle. 2.

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2.1. Erziehung als theologisches Thema. Die christlichen Kirchen haben an Erziehung im historischen Prozeß seit je teilgenommen. Sie sind von den zeitgenössischen Erziehungsformen, -gedanken und -interessen beeinflußt worden und haben ihrerseits diese mitbestimmt. Zwar ging es in Jesu Verkündigung nicht um innerweltliche Erziehung, sondern um das eschatologische Ereignis des Anbruchs der Gottesherrschaft. Entsprechend stand im Mittelpunkt der Verkündigung der nachösterlichen christlichen Gemeinden nicht eine Erziehungslehre, sondern das Zeugnis, daß dieser Jesus von Nazareth selbst als der gekreuzigte und auferstandene Herr jenes eschatologische Ereignis sei. Trotzdem ist die Kirche eine Erziehungsinstitution und das Christentum eine Erziehungsmacht geworden. Erziehung wird für die Kirche nach mehreren Seiten hin unausweichlich theologisch thematisch. Erstens finden sich die christlichen Kirchen in sozialen und pädagogischen Lebenszusammenhängen vor, und sie können sich nicht dagegen wehren, von der Gesellschaft für die allgemeine Erziehung pädagogisch in Anspruch genommen zu werden. Möglich ist diese Inanspruchnahme, weil zweitens christlicher Glaube seinerseits pädagogisch folgenreiche Lebensverhältnisse hervorbringt und die christlichen Kirchen in ihrer Geschichte dies ausdrücklich gewollt haben, besonders hinsichtlich individueller Sittlichkeit und sozialer Ordnung und damit der ethischen Erziehung. Dies entsprach dem Zusammenhang von neuem Sein und neuem Leben, Glaube und Liebe, Erfahren und Handeln. Am unmittelbarsten ist die Kirche jedoch in das Thema Erziehung verwickelt, wo sie drittens seit ihren Anfängen ihrerseits direkt christlich erzieht, den Glauben lehrt und theologisch ausbildet (—»Katechetik, -»Bildung). Die theologische Grundfrage ist jeweils, wie das Verhältnis zwischen dem Handeln Gottes am Menschen und dem pädagogischen Handeln des Menschen vor Gott bestimmt werden soll. 2.2. Erziehungsdenken in Spätmittclalter und früher Neuzeit. Das Erziehungsdenken der Reformatoren wird in einer Epoche geschichtswirksam, in der bereits relativ prägnante spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Erziehungslehren einflußreich geworden sind. Sie tragen mit der programmatischen Beschwörung der geradezu heilsnotwendigen Bedeutung der Erziehung dazu bei, daß die Aufgabe der Erziehung als solche immer mehr bewußt wird. ,Jiomines... non nascuntur, sed finguntur" (Erasmus I,493B). So zieht schrittweise in Europa eine von pädagogischem Eifer beseelte Zeit herauf, die im 17. Jh. in universalen pädagogischen Utopien gipfelt und auf die durchgreifende Zivilisierung der menschlichen Natur und die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse überhaupt gerichtet ist (emendatio rerum huntanarum, —»Comenius). Die genannten säkularisierten Formen einer „Erziehung des Menschengeschlechts" im 18. Jh. und die Interpretation von Erziehung als Menschen„bildung" haben hier ihren Hintergrund. In der Sicht der spätmittelalterlichen Erziehungslehren sind der religiöse und der moralische Weg eng miteinander verbunden. Hierbei werden in beiden Hinsichten die Menschen als erziehungsbediirftig und erziehungsfähig angesehen: Die menschliche Vernunft {ratio) als Wesensmerkmal menschlicher Natur (—»Aristoteles) ist von Gott gegeben und durch die Sünde, verstanden als Auflehnung des Leibes und seiner Begierde (concupiscentia), nur verdorben, aber nicht so radikal geschädigt, daß sie nicht die sittlichen Grundsätze des Naturrechts erkennen könnte. Sie bedarf zwar der Hilfe, aber sie kann ebenso selbst mithelfen, sowohl auf dem religiösen Weg zum frommen, vollkommenen Christen wie auf dem moralischen Weg zum guten, vollkommenen Menschen. Beides fließt zusammen, denn verdienstliche, moralisch gute Werke, der eigenen vernünftigen Natur abgerungen, bereiten auf den Empfang der Gnade vor und weisen zugleich den gesitteten Menschen aus. Zu dieser Anthropologie, die den antiken dualistischen Rahmen der höheren menschlichen Vermögen im Gegenüber zu den niederen aufnimmt und von ihm her Sündenfall und

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Heilsweg uminterpretiert, tritt die Sicht von der engelsgleichen Reinheit des —>Kindes, das von der Macht der Sünde noch nicht so bedrängt und für die heilsamen Lehren empfänglicher sei und daher für die Erziehung zugleich eine besonders fruchtbare Voraussetzung wie Verpflichtung darstelle (Joh. Gerson, De parvulis: Op. omnia 111,28 l b , nach Petzold 33). In Anknüpfung an antike Erziehungserfahrung bildet sich von diesen anthropologischen Voraussetzungen her jenes Erziehungsverständnis aus, das bis heute auch in der Kirche nachwirkt, weil es so plausibel erscheint: Man müsse mit der erziehenden Prägung des Kindes früh einsetzen. Solange die Vernunft noch nicht angesprochen werden könne, müßten die Kinder beharrlich an Sitte und Ordnung gewöhnt werden, denn die Gewohnheit sei nach Aristoteles gleichsam eine zweite Natur (,,consuetudo est quasi altera natura", Aegidius v. Rom, De regimine principum 315.319, nach Petzold 17). Ist die Vernunft erwacht, können Ertnahnungen wirksam werden, während sittliche Appelle den Willen beeinflussen sollen. Nicht zuletzt erziehe das Vorbild, vor allem das „Vorbild Christi": Der in Sanftmut das schuldbeladene Kind zurechtweisende „Gesetzgeber Christus" stelle es unter ein leichtes Joch und verbinde Strenge mit Milde, wie es rechte Erziehung tun soll. Theologisch beurteilt, wird das Evangelium als Gesetz verstanden; so läßt es sich am besten pädagogisieren und mit dem epochalen Interesse an Disziplinierung und Zivilisierung verbinden. Komplementär dazu wird — pädagogisch beurteilt - die Erziehung religiös überhöht, d. h. sakralisiert; denn sie wird ein Tun mit Aussicht auf Heilsgewinn. Diese Verbindung von Erziehung und Religion macht Erziehung zu einer bedeutsamen Sache: Nicht nur wird das Erziehungshandeln der Eltern zu einem verdienstlichen Werk, sondern auch das Erziehungsgeschehen am Kind wird zu einem Vorgang immer stärker reflektierter Formung und bewußter Prägung. Die Erwachsenen nehmen sich in einer im Mittelalter zuvor so nicht zu beobachtenden Weise des Kindes an, es wird wichtig; aber es wird zugleich damit zum Gegenstand, zum Objekt der Sorge und des Anspruchs. Es soll pädagogisch so geführt werden, daß es Gehorsam und Selbstbeherrschung, Sittlichkeit und Frömmigkeit verwirklicht; denn — so meint man — es kann, wenn es nur will. 2.3. Unterscheidung und Zusammenhang von Erziehung und Evangelium bei Martin Luther. Indem M . —»Luther gerade Freiheit und Kraft des —> Willens hinsichtlich der inneren Frömmigkeit und des wahren Glaubens gegen —»Erasmus bestreitet — Erkenntnis ist noch nicht Vermögen —, löst er den Bund zwischen Erziehung und Heil an der entscheidenden Stelle auf. Zwischen Erziehung und Evangelium wird theologisch unterschieden. Mit dieser freisetzenden Unterscheidung wird Gott zurückgegeben, was nur ihm in seinem freien Gnadenhandeln zukommen kann, und entsprechend der Erziehung genommen, was ihr nicht zukommen darf. Sie ist nur ein „weltlich Ding" (WA 34/1,415,26 f) und wird gerade dadurch vor Gott recht verantwortet, daß sie nicht im Sinne der erzieherischen Ziellehren des Mittelalters ein Weg zu Gott ist. Die Unterscheidung veränderte nicht die Erziehungsformen und -praktiken, wie Luther und die Reformatoren sie vorfanden; aber sie veränderte den Ort von Erziehung im Beziehungsgefüge zu Gott und damit den Gesamtsinn. Auf der einen Seite nahm die reformatorische Bewegung die Erziehungsprogrammatik der aufkommenden, immer stärker vom pädagogischen Pathos bestimmten Epoche in sich auf — daß man Kinder von früh an üben und gewöhnen müsse (Hahn 12), daß besonders die Nachahmung (imitatio) von Vorbildern (exempla) prägend wirke (Humanismus) (Liedtke 50ff) und daß es der Kern der Erziehungskunst sei, das richtige Maß von Strenge und Milde zu finden (Asheim 55.63). Darüber hinaus bestärkte sie nachdrücklichst durch ihre eigenen religiösen Motive die neuen Ansätze: zuvörderst die wachsende Bedeutung der Erziehung selbst als einer notwendigen Aufgabe sui generis: „mörderischen Schaden" und „alle Sünde und Z o r n " bringt der auf sich, der es an ihr fehlen läßt (WA 30/1 157,3 f); ferner die moralisch-ethische Ausrichtung der Erziehung als gottgewolltes Mittel zur Verhütung von Chaos, Abwehr des Bösen und Erhaltung von Sittlichkeit, Ordnung und Frieden; weil man dies verachtet, straft auch Gott „die Welt so greulich, daß man keine Zucht, Regiment noch Frieden h a t " (ebd.). Es

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versteht sich auch, daß sich das rechte Leben, „der wellt gerechtigkeit", im Recht des Standes zu verwirklichen habe, im jeweiligen „stands recht" als dem Spiegel gottgewollter Regelungen, die der Vernunft zugänglich und seit je gültig sind (—» Naturrecht): „jdermann thue jnn seinem stände was er schuldig ist" (WA 32,319,13 ff). Da der Stand des Kindes darin besteht, das Kind dieser Eltern zu sein, ist es das „kinds recht" vor allem, „Gehorsam gegen die Eltern" zu üben (Asheim 58). Erziehung der Kinder meint entsprechend „Kinder regieren", sie in ihrer Schwäche vor bösen Exempeln schützen, ihren schlechten Neigungen wehren, kurz, „sie in Zucht und Ordnung halten" (47). Durch diese Amalgamierung mit den zeitgenössischen Erziehungsauffassungen, besonders durch die neue Berufsethik (—»Beruf) wirkte die reformatorische Bewegung gleichsinnig im historischen Gesamtprozeß mit. Auf der anderen Seite interpretierte besonders Luther das Verständnis von Erziehung insgesamt theologisch neu, weil er aufgrund seiner Glaubenserfahrung das Gesamtgefüge, das, wodurch Erziehung gerechtfertigt und ermöglicht wird (Grund) und was Erziehung leistet und erreicht (Ziel), radikal anders bestimmen mußte. In dieser Bestimmung wurden Evangelium und Erziehung neu miteinander verbunden. Erziehungsrecht, -pflicht und -würde empfangen die Eltern neben dem, was Vernunft, natürliche Liebe und Tradition begründen, letztlich aus Gottes Gebot (Petzold 69 ff). Es ermöglicht und begrenzt ihre Erziehungsautorität. Sie sind „unter Gottes Gehorsam", wenn sie ihrerseits Gehorsam fordern; sie dienen nicht sich selbst, ihrer Ehre und Anbetung, sondern sie haben ein „ A m t " (Luther, WA 30/1,156,11 ff). - Auch auf Seiten des Kindes sind der Ermöglichungsgrund nicht menschliche Kräfte, an die die Erziehung nur anzuknüpfen brauchte, um den Menschen zum Heil zu führen. Gott allein macht gerecht, und zwar allein durch die Gabe seines Wortes als Evangelium (im geistlichen Regiment). Gott ist es auch, der dem Menschen in den Ständen und in den geschichtlichen Führungen (im weltlichen Regiment) in einer „Maske" (larva dei) als helfender Gott begegnen will, dem Kinde in der „Maske" der Eltern, und zwar mit der Gabe seines an die Stände „gehängten" Wortes als—»Gebot, d. h. ah—»Gesetz, eine Gabe, die beides, das Erziehen der Eltern und das Gehorchen der Kinder, tragen und zur Quelle freudiger Dankbarkeit werden soll (—»Gesetz und Evangelium). Wenn so in der Sicht des Glaubens Gottes gute Gaben die Grundlage für Erziehen und Erzogenwerden sind, folglich das Evangelium - es steht letztlich auch hinter den Gebots- und Gesetzesforderungen im weltlichen Regiment (Surkau 119) - , können auch hinsichtlich des Ziels beide Formen der einen Erziehungsaufgabe nur als Dienst der Eltern und Erzieher an den Kindern verstanden werden, damit diese ebenfalls „Gott und der Welt dienen mögen" (WA30/1,156,27f)-' christliche Unterweisung und Erziehung i. e. S. („gezogen mit verbo dei", WA 41,408,2 f) soll geschickt machen, das Evangelium weiterzusagen, die allgemeine „ Z u c h t " geschickt machen, dem Nächsten zu nützen. Hier wie dort dient Erziehung dazu, dem Kinde Gottes Nähe und schaffende Gegenwart bcwußtzumachen und es anzuleiten, sich in seinem ganzen Leben von Gott bestimmen zu lassen (Asheim 254).

Die neue theologische Deutung beschreibt das Verhältnis von Erziehung und Heil somit in Unterscheidung und Zusammenhang. Auch als „weltlich Ding" wird Erziehung keineswegs aus der theologischen Einbindung entlassen. Diese Bindung begrenzt allerdings zugleich Erziehung. Sie soll den Erzieher von Selbstüberforderung befreien und das Kind vor der pädagogischen Bemächtigung seines Inneren durch den Erzieher bewahren. Am „inneren" Menschen zu handeln und den Glauben zu bewirken, ist Gott vorbehalten. Erziehung hat als allgemeine Erziehung („Zucht") das Kind lediglich „,äußerlich fromm', d. h. moralisch zu machen" (Asheim 263 f) und als christliche Erziehung (Einübung in den Gottesdienst) und Unterweisung (Katechismusunterricht) lediglich mit Gottes Wort vertraut zu machen, im übrigen aber nicht zu bekehren, sondern Gottes eigenem Handeln am —»Gewissen des Menschen durch sein Wort Raum zu geben. Unberührt davon bleiben die auch für Luther selbstverständlichen Sanktionen für den Fall, daß die Kinder das genaue und tägliche äußere Lernen versäumen („und ihnen nicht zu essen noch zu trinken geben, sie habens denn gesagt", WA 30/1,131, 10; dem Gesinde drohte Entlassung). 2.4. Erziehung zu Moral und Religion nach der Reformation. Im Fortgang der Geschichte von Zucht und christlicher Erziehung sind die Bestimmungen Luthers theologisch verändert worden. Außerdem mußten manche subtile Unterscheidungen in der Erziehungspraxis theoretisch bleiben.

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Zum einen war die neue theologische Deutung nur eine Interpretation, die sich an das Selbstverständnis des Erziehers als Christ richtete. Bis heute ist lutherisches Erziehungsdenken vornehmlich an der Person des Erziehers orientiert und entfaltet sich als Ethik des erzieherischen Berufs (Kittel; Hammelsbeck). Mochte nun auch der Erzieher in seinem Selbstverständnis sich der Grenze seines Erziehens hinsichtlich des inneren Menschen bewußtbleiben, so konnte doch das Kind die äußeren Einwirkungen für innere nehmen, sofem es sie an sich selbst äußerlich und innerlich erfuhr: Unterscheidungen des Bewußtseins brauchen nicht Unterscheidungen der Erfahrung zu sein. Erziehungshermeneutik deckt die Erziehungspraxis nicht vollständig auf. In der Erforschung des reformatorischen Verhältnisses von Glaube und Erziehung (s. u. Abschn. 2.6) wird einseitig der befreiende Charakter der Unterscheidung von Evangelium und Erziehung herausgestellt und der Anschluß der Reformatoren an die herkömmliche Erziehungspraxis als sekundär und selbstverständlich angesehen. Aber die Erziehungspraxis mit ihrer Beharrungskraft und Plausibilität hat ihr eigenes Gewicht und bringt relativ unabhängig vom sie begleitenden (Selbst)Verständnis ihre eigenen erziehenden Wirkungen hervor. Obwohl-zweitens — auch —»Melanchthon wie Luther davon ausging, daß der Erzieher nicht in der Lage ist, den Glauben zu wecken und die Herzen fromm zu machen, haben schon seine Überlegungen, die im Unterschied zu Luther historisch viel stärker wirksam werden sollten, zu einer modifizierten, psychologisch begründeten Freiheitslehre geführt, offensichtlich aus pädagogischen Interessen: „Um den Heranwachsenden zu disziplinieren und ihn in die Zucht nehmen zu können, muß eine innere Freiheit vorausgesetzt werden, die den Zögling befähigt, seinen Willen zu bestimmen und der jeweiligen Aufforderung nachzukommen" (Liedtke 45). Entsprechend wurden drittens die evangelischen Schulen im 16. Jh. unter dem Einfluß von Melanchthon, -»Bugenhagen, —»Bucer, —»Sturm, Trotzendorf ausgestaltet (—»Schule/Schulwesen). Sie gehörten zu dem neuen Typ von Schulen und Internaten, die bewußt Erzie/jungs institutionell sein sollten und sich in Westeuropa (Frankreich) seit dem 15. Jh. bereits deutlicher herausgebildet hatten (Aries 244 f). Auch in Deutschland sollte nun die evangelische Schulrepublik bis ins einzelne eine erzieherische Potenz darstellen, nicht nur durch die den Geist bildenden Studien (literae und artes), sondern vor allem durch die den Willen formende Disziplin (disciplina), auf dem Wege über „Vermahnungen" und über die „Vorschriften" (praecepta) der Schulordnungen, wobei die Schüler „in allem Gott vor Augen haben" sollten (Trotzendorf, Goldberger Schulordnung, übers, n. Vormbaum 1,58). Im ganzen wurde somit die christliche Religion wie gewohnt moralisch - unter átmGesetz - i n Anspruch genommen. Das spätmittelalterliche Verständnis von Erziehung als Prägung der kindlichen Natur durch Gewöhnung und als Appell an die Selbsterziehung setzte sich weiter fort, modifiziert zwar, aber insgesamt wenig verändert. Humanismus, Reformation und später Gegenreformation bilden in dieser pädagogischen Richtung eine begonnene Entwicklung gemeinsam weiter aus, verschaffen ihr geschichtliche Kraft und Verbreitung. Die Einwirkungen auf den Geist (durch eruditio) und den Willen (durch mores) streben jenes typisch werdende neuzeitliche Muster der inneren Formung und Bildung (formatio) an — der Selbstdisziplinierung und Selbstkontrolle durch verinnerlichte Normen, im Unterschied zu bloß äußerlicher Eingliederung (Elias) - , wie es bis heute das pädagogische Denken charakterisiert (s. o. Abschn. 1.5). Dasselbe pädagogische Pathos umschloß viertens wie selbstverständlich auch die Erziehung zur Frömmigkeit (pietas): „Wir wollen, daß unsere Schüler vor allen Dingen fromm sind" (Trotzendorf, übers, n. Vormbaum 1,56). Unentschuldigtes Fernbleiben von Schule und Kirche wurde mit der Rute bestraft (Sturm, n. Vormbaum 1,704). Dadurch verwandelte sich freilich auch die Gotteskindschaft selbst, das Geschenk des Glaubens: Sie scheint in einem erheblichen Maße von persönlicher Aneignung — wie von voraufgehender pädagogischer Einwirkung — abhängig zu sein. Zu dieser pädagogischen Praxis hat auf theologischer Ebene die Entwicklung zu Orthodoxie und Pietismus beigetragen. Während nach Luther das lebendige mündliche Evangelium (viva vox evangelii) als Gottes Handeln den Menschen ganzheitlich-existentiell trifft, verursachten die objektivierenden Betrachtungsweisen der —^Orthodoxie, die Vorstellungen vom objektiven Heilsfaktum und von der reinen Lehre (doctrina), daß komplementär dazu subjektivierend nach dem Subjekt des Glaubens gefragt wurde. Objektivierende Distanzierung muchtesubjektivierende Aneignung notwendig, während sich das nicht objektivierte Wort Gottes beidem entzieht. Wie unter dem geisdichen geschah Vergleichbares unter dem weltlichen Regiment: Die hier auftretenden objektivierenden Tendenzen, die Rationalisierung des —»Dekalogs, die Identifizierung des geoffenbarten Gesetzes mit der lex naturalis (vgl. schon Melanchthon), unter Einbeziehung der gesellschaftlichen Moralordnung, verlangten die Überführung der sittlichen Prinzipien in das Eigentum der Person. Nach der inneren Logik dieses Denkens mußte das Erziehen aus Glauben langsam verblassen und im —»Pietismus die „Einpflanzung" bzw. die Erziehung „zur wahren Gottseligkeit" hervortreten (Francke 21,17). Der theologische Vorbehalt, „daß hier nichts sei, der da pflanze, sondern alleine Gott, der das Gedeihen dazu gibet" (47), wird zwar ausgesprochen. Aber faktisch wird besonders im Hallischen Pietismus das Netz der pädagogischen Einwirkungen immer umfassender und dichter — Aufsicht wird „der eigentliche nervus der Erziehung" (179) - , und es betrifft auch immer gezielter den inneren

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Menschen: Erziehung wird „Gemütspflege" (cultura animi) mit ausdrücklicher, zentraler Ausrichtung auf den „ Willen" und das „Herz" (17 ff). Christliche Erziehung und Unterweisung soll von früh an die Kinder gewöhnen, „daß sie still sein" lernen und sie soll „ihren Willen brechen", auf daß „sie der Wirkung des Heiligen Geistes... Raum geben" (22). „Wann aber die Eltern mit den Kindern zärteln, sich nicht getrauen, ihren Eigenwillen zu brechen", so kann „alle gute Zucht wieder verderben" und mit ihr die „Wirkung des Heiligen Geistes" (23). Damit aber rutscht die Erziehung wieder in eine quasi-heilsnotwendige Vermittlungsrolle hinein. Gleichzeitig verstärkt sich fünftens auf dem Hintergrund der inzwischen ausgebildeten Lehre vom tertius usus legis und der Bedeutung der „Heiligung" die Verbindung von Erziehung, Religion und Moral. „Tätliches Christentum" wird von —»Francke verlangt, die beständige sittliche „Anwendung" (applicatio) des Glaubens auf das eigene Leben. Christus ist nicht nur „das vollkommene Sühnopfer für unsere Sünde", sondern auch „das vollkommene Exempei und Muster, darnach wir unser ganzes Leben einzurichten haben" (26). Wiederum fragt sich, ob die Kinder im tatsächlichen Erziehungsvollzug auseinanderhalten können, wieweit die ihnen abverlangte Sittlichkeit Furcht oder Vorleistung für das Heil ist.

Viele Pädagogen der -^Aufklärung und des 19. Jh. jedenfalls führen alle begonnenen Linien im zweiten Sinne weiter aus. Die Rechtfertigungsverkündigung wird verfälscht. Man beruft sich auf die Ohnmacht des Kindes als Grund seiner Erziehungsbedürftigkeit und auf seine positiven Anlagen und Kräfte als Grund für seine Erziehungsfähigkeit, und zwar in jeder Hinsicht: „Das Kind ist bildungs- und erlösungsfähig"; denn auch die —»'Taufe wird zu einer in „das Herz des Christenkindes" gelegten „Macht" uminterpretiert, die es „stark genug" mache, „um zu bestehen in den Kämpfen wider das Böse" (Kahle 209), mit Jesus als dem Vorbild des vollkommenen Erziehers und dem Zielbild der „sittlich-religiösen Persönlichkeit" (vgl. die Herbartianer Ziller, Rein und noch die idealistische Kulturpädagogik der 20er Jahre des 20. Jh. (Jacobs; Bloth). 2.5. Gottes Erziehung und menschliche Erziehung im Zeichen von Gesetz und Evangelium. Nicht nur Grund und Ziel, sondern auch Art und Weise der Erziehung waren von Luther neu interpretiert worden, allerdings mehr mittelbar, indem er für „Gottes wunderliches Handeln an seinen Heiligen" Analogien aus dem pädagogischen Umgang verwendet hatte, aus dem Miteinander von Strenge und Milde im Handeln der Hausväter oder aus Josephs merkwürdigem Verhalten seinen Brüdern gegenüber (WA 44, 466ff; Asheim 118ff). Wie Joseph seine Brüder Schritt für Schritt zur Buße führt und mit dem Ziel ihrer vorbehaltlosen Demütigung geradezu mit ihnen spielt, um sich zuletzt doch als ihr Bruder Joseph zu eröffnen (,,Ego sum Ioseph"), so kann Gottes Erziehung den Menschen heimsuchen und mit ihm „spielen", daß er schier verzweifelt, obwohl Gott gerade in diesem Gericht seine Gnade offenbaren will, nämlich sich selbst als den lieben Vater (,JEgo sum Dominus Deus tuus") (WA 44, 582,32). Wie es die Auferstehung nicht an Jesu Kreuzestod vorbei gibt, so die Gnade nicht am Gericht vorbei: Gott tötet, aber er tötet zum Leben; d. h., für den Osterglauben ist in aller Heimsuchung und Anfechtung durch die Ferne und den Zorn Gottes, in allem Gericht also, an dem Verheißungswort der Gnade festzuhalten, denn das Gericht muß der Gnade dienen, das Gesetz wird zu einer Gestalt des Evangeliums (vgl. auch o. Abschn. 2.3). In diesen Gedanken zur „Pädagogie Gottes" ist der tiefste theologische Beitrag Luthers zum Verhältnis von Glaube und Erziehung gesehen worden, weil mit Recht hier dem scheiternden Erzieher, dem angesichts der Frage nach seinem Erfolg und seinen Grenzen die Erziehung zur Bürde und Anfechtung wird, ein grundlegendes Trostwort gesagt wird (Asheim 88 ff). Dieser tiefste Beitrag könnte sich jedoch als der dem Mißbrauch besonders ausgesetzte Beitrag erweisen, sofern aus der pädagogischen Metaphorik im Dienste der theologischen Umschreibung des geheimnisvollen eschatologischen Wirkens Gottes am Menschen das Recht zur Benutzung dieses theologischen Geheimnisses im Dienste einer pädagogischen Methodik für weltliche Erziehungsgeschäfte abgeleitet wird. Luther selbst bezieht bereits jene Tod-Leben-Dialektik von Gesetz und Evangelium nicht nur als tröstende RechtfertigungsVerkündigung auf Anfechtung und Glaube des Erziehers, sondern als Leitlinie für die wahre christliche Eniehungsmethodik auch auf das Kind. Wie das Gotteswort aus „Drohung" und „Verheißung" besteht, soll auch die christliche Unterweisung nach Gottes Weise

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verfahren (secundum deum), mit Gott als dem strengen Richter drohen und „warnen" und mit Gott als dem lieben Vater „locken" (Asheim 291 f). Diese theologische Interpretation traf auf das zeitgenössische pädagogische Ziel- und Wegdenken zu. Auf diesem Hintergrund mußte — und muß wohl bis heute - das dem Menschen entzogene Ineinander von —»Gesetz und Evangelium zwangsläufig Gefahr laufen, in ein vom Menschen verfügtes, methodisiertes Nacheinander auseinandergelegt zu werden: Zunächst sollen die Kinder unter dem Gesetz erzogen werden und Gott fürchten lernen, um dann von der Vergebung zu erfahren und Gott lieben zu lernen, obwohl doch das Gesetz als das Gesetz Gottes erst vom Evangelium her erkennbar wird. Schon gar nicht darf es als Bedingung oder „Mittel zur Rechtfertigung" angesehen werden (Ebeling 66), dem jedoch ein Stufendenken Vorschub leistet. In der Geschichte der Erziehung ist entweder überhaupt jene Dialektik aufgelöst und nur unter dem —»Gesetz erzogen worden, oder das Evangelium ist in den Gestalten des Gesetzes pädagogisiert und vergesetzlicht worden und auf diese Weise verborgen geblieben, selbst noch in der jüngeren Vergangenheit (s.u. Abschn. 2.6). Vielfach stand lediglich der politische Brauch des Gesetzes, Erziehung als Verinnerlichung der moralischen und sozialen Normen unter politischem Interesse, isoliert im Vordergrund. Der dritte Brauch des Gesetzes gestattete jedoch ebenso eine im Effekt ähnliche Inanspruchnahme der christlichen Religion in Form gesellschaftlich nützlicher christlicher Moral. Daher reicht der Bogen von den evangelischen Schulen des 16. Jh., in denen Staat und Kirche ein Interesse daran haben, daß die Knaben erzogen werden und gehorchen lernen (Trotzendorf, 1546), über die Aufnahme der pietistischen Pädagogik in die preußische Landschulreform (Generallandschulreglement 1763) bis zu den zahllosen Zeugnissen des 19. Jh. mit seiner zusätzlichen Instrumentalisierung des christlichen Glaubens im Zeichen des —»Nationalismus. Einzig im überführenden theologischen Brauch des Gesetzes könnten demgegenüber Evangelium und Gesetz als das in allem eine Wort Gottes in Jesus Christus befreiend durchbrechen. Aber seiner wahren Blindheit gegenüber der Verheißung Gottes und darum auch gegenüber Sünde, Gesetz und Gericht kann nur Gott selbst den Menschen überführen. In diesem Zentrum muß daher eine pädagogische Methodisierung, die das Kind in den Griff nimmt, erst recht abgewiesen werden. 2.6. Glaube und Erziehung - drei Grundmodelle

im Spiegel der neueren

Entwicklung

Der Versuch einer grundlegenden theologischen Erneuerung des reformatorischen Erziehungsdenkens in unserem Jahrhundert nach dem ersten Weltkrieg fordert bis heute heraus. Er enthüllt jedoch auch den nach wie vor unzureichenden Charakter der überkommenen theologischen Denkwege. 2.6.1. Die konzentrierte theologische Diskussion in den Jahren von 1926—1933 mit Nachklängen nach 1945 war sich mit Recht darin einig, daß die unkritische Vermengung und wechselseitige Instrumentalisierung theologisch unerträglich sei. Diese kann bei dem ersten der hier umrissenen Denkwege, dem Versuch einer Deduktion in Form „integraler Ableitung" (Nipkow, Grundfragen 1,197ff), durch die Indienstnahme der Pädagogik für theologische Zwecke oder durch die Indienstnahme der Theologie für pädagogische Zwecke geschehen. Im ersten Fall, bei einem Konzept christlicher Gesamterziehung, wird der Anspruch der christlichen Wahrheit bzw. Kirche gesamtgesellschaftlich auf die Erziehung als Ganzes geltend gemacht. Um ihn durchzusetzen, müssen die allgemeinen Glaubensgrundsätze pädagogisch konkretisiert werden: dies gelingt nur durch die Aufnahme .weltlicher' pädagogischer Einsichten. Die vermeintlich rein theologischen integralen Deduktionen kommen nicht ohne pädagogische Interpretamente gleichsam ,von der Seite* aus. Ideologisch wird diese Position dann, wenn verborgen bleibt, daß nicht nur die pädagogischen Interpretamente durch die religiöse Einbindung verchristlicht werden, sondern daß sie umgekehrt auf den religiösen Rahmen zurückwirken und diesen damit in gewisser Weise verweltlichen, da sie ihn ja zeit-

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gebunden pädagogisch interpretieren und füllen. Die katholische Pädagogik als bedeutendstes Muster christlich geprägter Gesamterziehung erlaubt die Synthese seit altersher aufgrund der Vermittelbarkeit von Natur, Vernunft und Gnade. Wenn die evangelischen Pädagogen des 16. Jh. zu einem christlich-moralisch-humanistischen Gesamtkonzept übergehen, die pansophischen christlich-pädagogischen Utopien des Barock noch weiter ausgreifen oder der Pietismus auf der Schwelle zum 18. Jh. Frömmigkeitserziehung und allgemeine „Zucht" noch einmal zu einein geschlossenen Konzept zur „Ehre Gottes" zusammenschließt, liegt jedoch ein ähnliches Muster vor (s.o. Abschn. 2.4). Historisch gesehen werden die obigen Synthesen durch den komplementären Zugriff von der pädagogischen Seite aus seit dem 18. Jh. langsam abgelöst: Die säkularisierten pädagogischen Ideen als Spiegel der sich emanzipierenden Gesellschaft werden das neue Allgemeine; sie bedienen sich aber weiter der christlichen Motive und Elemente in Erziehung und Gesellschaft, besonders im Bereich der moralischen Erziehung sowie zur gefühlsmäßigen Überhöhung des bürgerlichen Selbstgefühls und zur Sicherung der politisch-nationalen Loyalitäten. Jetzt entsteht eine lediglich christlich überhöhte Erziehung; die integrale Ableitung erfolgt aus weltlichen Denkprämissen, und es werden theologische Interpretamente ,von der Seite' benutzt (christliche Rechtfertigung der Strafe, religiöse Verbrämung der schöpferischen Kräfte des Kindes u.a.). 2.6.2. Die Erneuerung des reformatorischen Erziehungsdenkens „unter dem Evangelium" nach dem Modell „freisetzender Unterscheidung" (Nipkow, Grundfragen I, 200 ff) lehnt alle diese Synthesen ab: das katholische Mißverständnis wie überhaupt jede „weltanschauliche" „Vorzeichenpädagogik" (Hammelsbeck 45.279f), folglich auch jede neuere christlich-humanistische Menschenbildpädagogik — z.B. die Erziehung zum „lutherischen Menschen" (Hupfeld, n. Koepp 194 f) — oder die pietistischen Synthesen (Doerne 22; Merz 45 ff; Hammelsbeck 41 f). Weitaus schroffer und ausführlicher werden jedoch die „Scheinsynthesen" zurückgewiesen, die von Seiten der Pädagogik ausgegangen sind und zur umgekehrten Instrumentalisierung, zur Indienstnahme des Christlichen als bloße „Rahmenbindung" oder als überhöhendes „Zusatzstockwerk" geführt haben (Doerne 26ff): Der Hauptstoß schlechthin richtet sich gegen Aufklärung und Idealismus, gegen die Verfälschung des christlichen Glaubens in einer Pädagogik des sich selbst verherrlichenden „autonomen" Menschen. Obwohl die einsetzende theologische Kritik von der „Theologie der Krise" ausgelöst worden ist und damit auch von Karl —»Barth, bedient sie sich überwiegend nicht seines theologischen Denkens, sondern der lutherischen —• Zweireichelehre, der Ständelehre, der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in dieser Reihenfolge und der Unterordnung der Erziehung unter das Gesetz (besonders Delekat; v. Tiling; Merz; Doerne; Fror). Dieser Traditionshintergrund macht u. a. die einseitige Ausrichtung der Kritik verständlich. Sie wendet sich gegen alle Erziehung, die den auf seine „Vernunft" und seinen „Intellekt" vertrauenden Menschen vor Augen hat und an die Kraft der „Theorie" glaubt („Intellektualismus") (Delekat 37ff; Schreiner 23 ff), die die Bedeutung der methodisch geplanten, „direkten", absichtlichen Erziehung überschätzt („Methodismus" und „Psychologismus") (Delekat 92; Schreiner 21), die die Selbständigkeit des einzelnen betont („Individualismus", Schreiner 17) und die in idealistischer Verkennung der Realität „Geschöpflichkeit", „Sünde", „Schuld" und „Tod" nicht wahrhaben will („Idealismus") (Delekat 62 ff; Koepp 68 ff; Doerne). Nun war in der Tat das Pathos der idealistischen Individualpädagogik „vom Kinde aus" und der metaphysisch überhöhten Kulturpädagogik (Spranger u.a.) selbst noch nach dem ersten Weltkrieg wieder aufgelebt. Faktisch aber hatte diese kritisierte aufklärerisch-idealistische, die Selbständigkeit des Kindes und die Autonomie der „Persönlichkeit" in den Mittelpunkt rückende Pädagogik Schule und Erziehung im 19. Jh. gar nicht beherrscht. Die Schule war eine harte Lernschule geworden, und die tatsächlichen Erziehungsformen in Familie, Schule, Militär, Gesellschaft waren von den Selbstbildungsidealen der pädagogischen

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Klassiker weit entfernt (Rutschky). Die christlich-bürgerlichen Synthesen in der Erziehung dienten im übrigen weniger der Selbstverherrlichung der einzelnen als der gesellschaftlichen Stabilisierung, der politischen Unterordnung und der nationalen Kraftsteigerung. Diese Seiten aber werden nicht Gegenstand der Kritik. In diesen Hintergründen werden pädagogische Mitursachen für die Kriegskatastrophe nicht aufgesucht. Das —»„Böse" wird wie Schuld und Sünde in der Regel personal interpretiert. Die These von der „objektiven Kulturschuld" veranlaßt nicht zu einer genauen Analyse der historischen Schuld, sondern wird mit dem Vertrauen auf „die stille Revolution" der inneren Liebesgesinnung beantwortet (Delekat 92). Dem entsprach genau das, was das evangelische Erziehungsdenken um 1930 in großer Einmütigkeit als neue Erziehung an die Stelle der kritisierten „Ismen" zu setzen wünschte: erstens die Priorität des „handelnden Menschen" vor dem „theoretischen" (Delekat 23 ff), zweitens die Priorität „unmittelbar" prägender „Gemeinschaftsordnungen" (Schreiner 65 ff), die besonders durch Familie, Volk und Staat „auf den ganzen Menschen" wirken sollten (Doerne 40), vor der Erziehung durch Unterricht. Dabei folgte man durchgehend der restaurativen nationalen Zeitströmung am Vorabend des Dritten Reiches mit dem sehnsüchtigen „Schrei" nach „Volksgemeinschaft" (Schreiner 78), der Kritik am westeuropäisch-demokratischen Vertragsstaatsdenken (81 f), dem hierarchisch-ständischen Bild von Gemeinschaft „als Verbundenheit Ungleicher", während „Solidarität" als „Entartung der Gemeinschaft in eine Gesellschaftsbeziehung" abgelehnt wurde (69; zu v. Tiling s. Herkenrath). Schließlich galt die Priorität von Erziehung als befreiender „Zucht" und Eingliederung in die Gemeinschaft als „Ordnung" und „überindividueller Gegebenheit" vor Selbstorientierung und Selbständigkeit (Schreiner 67); die Menschen sollen der „Vor-Geordnetheit des Daseins" „gemäß" werden: „Wer erzogen wird, der wird eingeordnet" (Koepp 9).

Wie ist dies theologische Unterscheidungsdenken mit seiner beabsichtigten neuen pädagogischen Sachlichkeit zu beurteilen ? Offenkundig handelt es sich erstens um die Unterstützung einer ganz bestimmten Pädagogik und Gesellschaftspolitik auf dem Boden einer ganz bestimmten pädagogischen und gesellschaftlichen Kritik. Zwar behauptete die lutherisch orientierte Kritik, kraft der Unterscheidung der zwei Reiche, Erziehung als „weltlich Ding" und damit endlich in ihrem ursprünglichen und „reinen Dienst-Charakter" (Doerne 43), in ihrem „Wesen" (36), in „Nüchternheit" (50), illusionsfrei und „wissenschaftlich" (v. Tiling) erkannt zu haben. Auch die vereinzelten christozentrisch orientierten Versuche wähnen im Sinne einer „rein beschreibenden Erziehungswissenschaft" das allgemeingültige Wesen der Erziehung erfaßt zu haben (Koepp 19). Tatsächlich aber schließt man sich in den weltanschaulichen und politischen Kämpfen der Weimarer Zeit durchaus parteiisch an: in der Pädagogik nicht mehr der geisteswissenschaftlich-bildungsphilosophischen Richtung und ihrem pädagogischen Ethos der Verantwortung für das individuelle Kind (s.o. Abschn. 1.2) — programmatisch wird überhaupt der reflexive Bildungsbegriff durch den Erziehungsbegriff ersetzt und dieser noch dazu durch den Begriff der „Zucht" interpretiert (Doerne 1 ff.40; Merz 44; dazu Preul) - , sondern neben E. Grisebach besonders E. Krieck und seinem ebenso weiten wie letztlich autoritären Verständnis von Erziehung als Menschenformung durch Volk und Staat (Schreiner 75; Koepp 2f. 19; Doerne 40). Krieck sollte nicht zufällig später der Erziehungsideologe des Dritten Reichs werden, eine Entwicklung, die nur von nicht dem Luthertum verpflichteten Theologen kritisch beobachtet wird (Koepp 207 ff). Die selbstsichere historische Feststellung M. Doemes, die „christlichen Kreise" hätten immer „mitgejubelt", wenn ein pädagogischer „Götze" gestürzt worden sei, ohne zu bedenken, daß dieser nur „durch einen anderen ausgetrieben" worden sei (50), wird auf die eigene Sicht nicht angewendet. Selbstkritische Ideologiekritik ist dieser evangelischen Theologie und Pädagogik fremd. Die bleibende Verflechtung der lediglich im theologischen Selbstverständnis sich vollziehenden Unterscheidung mit dem geschichtlich-gesellschaftlichen Prozeß wird nicht durchschaut. Dem Bewußtsein entzogen ist zweitens auch die strukturelle Ähnlichkeit der neuen Erziehung mit der alten idealistisch-christlichen Willenspädagogik. Das jahrhundertealte Schwergewicht des christlichen Erziehungsdenkens auf der Seite der moralischen Erziehung kehrt einschließlich des Interesses, nicht nur den äußeren, sondern auch den inneren Menschen in seinen seelischen Tiefen pädagogisch zu erreichen, wieder, nur daß jetzt der Wille

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nicht durch idealistische Appelle, sondern durch die „unmittelbar wirkende Macht" der Gemeinschaftsordnungen geformt werden soll: „Ihr innerer Gehalt dringt bis in die Tiefe des kindlichen Seelentumes, ihre Widerständigkeit fuhrt ins Leiden und weckt Willenskräfte auf und formt aus gegebener Anlage in schicksalsetzender Macht zu konkreter Individualität" (Schreiner 76). Die dritte Illusion ist die nicht durchschaute, nach wie vor sich vollziehende verchristlich ende religiöse Verbrämung der vermeintlich freigegebenen „reinen" Erziehung. Ihr unterliegen alle theologischen Richtungen. W. Koepps nicht an der Zwei-Reiche-Lehre orientierter, sondern christologisch aus dem Evangelium als der „Agape Gottes" ,abgeleiteter' Entwurf setzt das Wesen der Offenbarung und eine nicht näher begründete philosophische Schau, den „voluntaristischen Grundzug alles Lebens", einfach in eins. Sein zeitgebundenes pädagogisches Interesse, „gerade heute" die Wahrheit, daß Erziehung als „Zucht" „Willensbildung" ist, „mit besonderer Wucht" vertreten zu müssen, wird zeitlos theologisch gerechtfertigt; denn für „die Erziehung unter dem Evangelium" sei ja „der Sinn des Lebens die Erfüllung eines Willens: des Willens der Agape Gottes; also im höchsten Maße voluntaristisch" (149f). Lutherisches Denken möchte diese Identifikationen um jeden Preis vermeiden und Aussagen über Erziehung nicht aus dem Evangelium ableiten. Statt dessen werden alle pädagogischen Bestimmungen und Prioritäten indirekt religiös ,geheiligt', indem die gesellschaftlichen und politischen „Ordnungen", durch die und in die hinein der Mensch erzogen werden soll, als Gottes Schöpfungs- und Erhaltnngsordnungen im weltlichen Regiment verstanden werden, ein Tatbestand, den zu ändern „in niemandes Hand" steht (Schreiner 64): „Er beruht auf primärer schöpferischer Setzung" (65). Auch hier tritt damit zu der vermeintlich pädagogischen Allgemeingültigkeit der Aussagen die unantastbare theologische, nur auf einem Umweg. Wie wenig gerade das im Zeichen der Unterscheidung sich vollziehende Denken einer verchristlichenden Theologisierung der Erziehung entgeht, zeigt sich wiederum besonders im Zentrum, in der Dialektik von Gesetz und Evangelium (vgl. o. Abschn. 2.5). Die schöpfungstheologische Ortsbestimmung sieht Erziehung unter dem „Schöpfungsgehorsam" (Doerne 36 ff) und stellt sie bereits auf Grund der generellen Verbindung mit den genannten zeitgebundenen ordnungspädagogischen und -politischen Interpretamenten einseitig unter das Gesetz im politischen Sinn. Hinzu kommt, daß auch um 1930 der tiefste Beitrag reformatorischer Theologie dort gesehen wird, wo die Erziehung „die eigentümliche und wunderbare Umkehr nach(bildet), die dem evangelischen Erzieher als Glaubendem täglich neu widerfährt: die Umkehr aus dem Gericht in die Rechtfertigung, aus der Buße in die Zuversicht des Glaubens, aus dem Sterbenmüssen in das Lebenkönnen" (Doerne 55; ähnlich schon Delekat 70.72; Schreiner 56). Mit dieser Aufforderung an das pädagogische Handeln aber, das soteriologisch-eschatologische Heilsgeschehen abzubilden, wird dieses selbst unversehens pädagogisiert, ebenso wie eine solche Pädagogik nun auch noch von dieser Seite, neben der schöpfungstheologischen, die religiöse Weihe erhält. Auch unter diesem theologischen Sinn des Gesetzes wird „das gesamte Erziehungswerk als Gestaltwerdung des Gesetzes verstanden", zwar umgriffen gedacht vom „Werk der Verkündigung des Evangeliums", faktisch aber bleibt das Evangelium als etwas Zweites im Abstand: Erziehung ist nur .„Propädeutik' für das Evangelium" (Doerne 59), sie ist in allem Spiegelung und Ausdruck des Gesetzes und nicht gleichnis- und ausdrucksfähig für das Evangelium. In diesem einseitigen Sinne wird dann bis ins einzelne eine ganz bestimmte Seite der Erziehungswirklichkeit theologisierend legitimiert: „alle Anforderung, die der Erzieher an den Zögling stellt, aller Zwang, durch den sein natürlicher Wille im Lauf gehemmt wird, alle Mühsal, die ihm mit der (durchaus nicht immer spontan erfolgenden) Aneignung der Bildungsgüter zugemutet wird, kurz: alle Disziplin, die dem jugendlichen Leben Schranken setzt, hat, im Glauben gesehen, die Würde des Hinweises auf das göttliche Erziehungswerk am Menschen, das in seinem Verlauf eben Werk des Gesetzes ist, mit dem strengen,Erziehungsziel', daß der natürliche Mensch sterbe" (59 f).

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2 . 6 . 3 . Die Verflechtung theologischer und pädagogischer Interpretamente ist nicht nur unter dem ersten Denkmodell der „integralen Ableitung" unausweichlich - sei es im katholischen Integralismus, in christlich-humanistischen und pietistischen Synthesen oder unter dem universalen christologischen Anspruch der —»Königsherrschaft Christi sondern offensichtlich auch im zweiten Modell der „freisetzenden Unterscheidung". Daher muß sich das theologische Nachdenken über Erziehung bewußt innerhalb des geschichtlichen Zusammenhangs von Gesellschaft, Religion und Kirche ansiedeln, dem es offensichtlich selbst stets als Moment zugehörig bleibt, auch wenn es über diesen Zusammenhang Verheißung und Gericht Gottes auszusagen wagt. Die immer neuen, notwendigen Versuche, zwischen Gottes rechtfertigendem Handeln und menschlicher Erziehung zu unterscheiden, müssen mitbedenken, welchen gesellschaftlichen Verwendungszusammenhängen und pädagogischen Interessenlagen sie auch noch mit den eigenen Unterscheidungen unterworfen bleiben und oft geradezu Vorschub leisten. Zur Aufgabe wird ein dritter dialektisch-konvergenztheoretischer Denkweg, der der Jnterpretativen Vermittlung" (Nipkow, Grundfragen I , 1 7 . 1 9 7 f f ; II), der die unverlierbare Wahrheit der beiden ersten Denkwege in sich aufnimmt: die Bedeutung des Heilshandelns Gottes für alle Lebensbereiche, also auch für die Erziehung, und die Unterscheidung zwischen Erziehung und Heil. Christen müssen zum einen aus ihrem Glauben wie politisch so auch pädagogisch konkret Stellung beziehen und handeln. Dies führt notwendig zu einer theologischen Qualifizierung, zu einer theologisch mitbegründeten Ablehnung der einen bzw. Bejahung einer anderen pädagogischen Auffassung. Das „weltanschauliche", „katholische Mißverständnis" einer christlichen „Vorzeichenpädagogik" (s. o. Hammclsbcck) ist also in diesem Sinne unvermeidlich. Christen müssen zum anderen aus Glauben immer wieder zwischen Gottes Handeln und menschlichem Tun unterscheiden. Insofern beides zugleich getan werden muß, ist dieser dritte Weg in seinen Aussagen dialektisch: Er nimmt den Namen Gottes in Anspruch, zieht ihn hinein in die menschlichen pädagogischen Geschäfte und muß seinen Namen zugleich heiligen, Gott Gott sein lassen. Der Weg ist hermeneutisch, weil er geschichtlich zu verstehen sucht, warum theologisch in der einen Zeit dieses, in der anderen jenes Erziehungsverständnis abgelehnt oder befürwortet worden ist. Der Weg ist konstruktiv, indem aus Glauben ein eigenes pädagogisches Wort der Kirche und Christen gewagt wird, und zwar ohne Angst, gesetzlich zu reden, solange die dialektische theologische Selbstunterscheidung klar bleibt. Nicht zuletzt ist dieser Weg ideologiekritisch und folglich selbstkritisch: ihm liegt daran, daß zeitgebundene theologische und pädagogische „Konvergenzen" die um 1 9 3 0 oder die heute — in ihrer historischen Relativität durchschaubar bleiben. Die neuere Erziehungswissenschaft hat die Rede vom zeitlosen,Wesen' der Erziehung, durch die zeitgebundene Positionen den Anschein der Allgemeingültigkeit erschleichen, als unhaltbar erwiesen (s. o. Abschn. 1). Die Theologie um 1 9 3 0 ist dieser Wesensschau gefolgt und hat gerade dadurch bestimmte Zeitinteressen ungewollt-gewollt unterstützt. Die nach 1945 vertretenen „Konvergenzen" unterscheiden sich von denen der Weimarer Zeit. Zunächst besteht zwar weiter die Neigung, das Wesen der Erziehung, „Urmaß und Urbezug des Erzieherischen", ausfindig zu machen (Hammelsbeck 60ff). Es zeigt sich hierbei jedoch, daß man die Schöpfungslehre auch anders interpretieren kann, nicht mit dem Gefälle einer Konvergenz ordnungstheologischer, -pädagogischer und -politischer Vorstellungen, sondern unter der Bestimmung des Menschen zur „Gehilfenschaft" nach Gen 2,18 (68). Menschen müssen einander helfen und sich helfen lassen. Dies soll sich auch in der Erziehung abbilden. Erziehung als „Gehilfenschaft zur Freiheit" wird für O. Hammelsbeck die leitende Perspektive. Diese theologische Sicht entspricht dem gegenwärtig bestimmend gewordenen pädagogischen Verständnis von Erziehung als Förderung, Ermutigung und Lebenshilfe. Vor allem aber wird unter dem erst jetzt pädagogisch wirksam werdenden Einfluß Karl —»Barths stärker auch vom Evangelium her gedacht und das —»Gesetz vom Evangelium her interpretiert (vgl. zuvor nur Koepps Ausgang von der „Agape Gottes"). Lutherische Theologen folgen, wenn sie in den Strukturen der Erziehung nicht nur den „Schatten" des Gerichts Gottes, das Gesetz, sondern auch das „Licht" der Güte Gottes, das Evangelium, gespiegelt sehen (Fror, Lehre 97 ff). Erziehung wird „gleichnisfähig für die Menschlichkeit, die das Evangelium als Gottes Menschlichkeit uns zuspricht" (Nipkow, Leben 34): Gottes Selbstkundgabe als „Offenbarung einer uneingeschränkten Liebe" und Annahme jedes Menschen ermöglicht „Selbstannahme" und „Selbsthingabe" des Erziehers „ohne Angst vor

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Selbstverlust" (Schmidt 2 7 7 ) ; es entfällt auch der „ Z w a n g zum V o r b i l d " ( 2 7 8 f). „Rechtfertigung" und „ V e r g e b u n g " bilden sich entsprechend in der „ A n n a h m e " des Kindes a b (so auch schon Schreiner in Anknüpfung an —»Wichern 1 5 4 f f ) . Auch die fordernde Seite von Erziehung wird im Lichte der G a b e n G o t t e s gesehen. Autorität betrifft nicht primär das, was Erwachsene Kindern abzufordern haben, sondern was sie ihnen geben. Sie sind durch ihr gegenwärtiges Leben und M a n d e l n Miturheber der Lebensmöglichkeiten der nächsten Generationen. Wenn die so gezeigte Autorität, verstanden als „Urheberschaft und Förderung der zukünftigen Lebensbedingungen" ( N i p k o w , Leben 4 4 ) , die Jugend überzeugt, wird diese der Erwachsenengeneration neu Autorität zusprechen: Autorität kann nicht nur beansprucht, sie muß auch von der Gegenseite verliehen werden.

Den Gesamtentwürfen zur Erziehung aus evangelischer Sicht nach 1945 (Hammelsbeck, Kittel, Bohne) sind seit zwei Jahrzehnten keine neuen gefolgt. Die Diskussion hat sich auf die religionspädagogischen Themen im engeren Sinne verlagert (—»Religionsunterricht, —»Konfirmandenunterricht u.a.). Ein christliches Erziehungsdenken, das die Gesamtproblematik von Erziehung, Bildung und Unterricht umfaßt, ist von der herrschenden Erziehungswissenschaft nachweislich auch kaum noch gefragt (Nipkow, Erziehung). Wie die drei Bildungssynoden der EKD im selben Zeitraum - 1958 in Berlin-Weißensee (Flitner), 1971 in Frankfurt/M. (EKD-Kirchenkanzlei, Ev. Kirche), 1978 in Bethel (EKD-Kirchenkanzlei, Leben) sowie zwischenzeitliche Stellungnahmen zeigen (EKD-Kirchenkanzlei, Ev. Beitr.), hält jedoch die evangelische Kirche an ihrer bildungspolitischen und pädagogischen Mitverantwortung für das Ganze der Erziehung fest. Hierbei helfen Einrichtungen wie das ComeniusInstitut als einer „Evangelischen Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaft" (seit 1957), der „Bildungspolitische Ausschuß" ( 1 9 7 2 - 1 9 7 8 ) und die „Kammer für Bildung und Erziehung" der EKD (seit 1979). Nur langsam kommt allerdings in den Blick, daß die Aufgabe der Erziehung hinsichtlich der Zukunft zum Teil ganz neu bedacht werden muß. 2.7. Gesellschaft hungsfrage

und Kirche vor neuen Bedingungen und der Reformulierung

der Erzie-

2.7.1. Das erste Feld der neuen Bedingungen betrifft den Wertwandel und hierin eingeschlossen die zunehmende Diskontinuität zwischen den Generationen, weil sich der soziale Wandel immer stärker beschleunigt. Seit Mitte der 70er Jahre ist allenthalben der Ruf nach Erziehung zu hören. Gemeint ist die „ethische Erziehung", „Werterziehung" bzw. „Moralerziehung" (Nipkow, Moralerziehung). Dies ist der traditionelle Kernbereich der Erziehung (s.o. Abschn. 2.4). Anlaß ist „das Erschrecken, die Ratlosigkeit, die Angst angesichts einer Jugend, die sehr plötzlich sehr anders ist, als wir das gewohnt sind. Der Konflikt der Generationen hat eine neue Dimension und eine neue Schärfe b e k o m m e n . W i r wissen nicht nur nicht, wie wir dem Terrorismus, der Drogensucht, dem Rockertum, der steigenden Jugendkriminalität beikommen sollen, wir haben auch unsere N o t schon mit vergleichsweise harmlosen Erscheinungen: der Lernunlust und der Konsumentenhaltung, dem Auseinanderfallen von Anspruch und Leistung, der Unfähigkeit, sich Ziele zu setzen und ihr Erreichen konsequent zu betreiben, eine oft erschreckende Gefühlskälte, die Unfähigkeit, Bindungen einzug e h e n " (v. der Lieth 6 6 ) .

Die Verweigerungshaltungen der Jugendlichen (—»Jugend) sind jedoch nur Oberflächensymptome einer Orientierungsschwierigkeit und Zukunftsunsicherheit auch vieler Erwachsenen. Die traditionelle Berufs- und Leistungsethik verliert in unserer Bevölkerung allgemein an Bedeutung (Kmieciak 334ff). Die Aufopferung im Beruf wird ein immer weniger anziehendes Ideal; die individuellen Kosten erscheinen als zu hoch. Es breitet sich eine privatistisch-genußorientierte Haltung aus. Die Moral gewinnt hedonistische Züge und orientiert sich am Ausleben der gegenwärtigen Lebensmöglichkeiten. Besonders radikale Einstellungsänderungen zeigen sich im Bereich der Sexualethik (Schmidtchen 13 f; —»Sexualität). Seit altersher sind nun gerade in der Berufs- und Arbeits- sowie in der Familien- und Sexualmoral die bürgerliche Ethik und die christliche Ethik eine enge Verflechtung eingegangen. Daher berühren die Erschütterungen zugleich auch zentrale Aspekte herkömmlicher Vorstellungen eines christlichen Lebens und einer christlichen Erziehung. Noch können die meisten modernen Werte zumindest „zum Teil mit christlichen Denktraditionen in Verbindung

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gebracht werden". Für manche wichtige Werte gilt dies nicht mehr. „Partizipation im weitesten Sinn und Lebensfreude scheinen nicht durch christliche Überlieferung legitimiert werden zu können, ebenso wenig die Modernisierungstendenzen im sexuellen Bereich" (Schmidtchen 52). Alltagsethik und Religiosität fallen hier auseinander. Die Kirchen bieten noch relativ überzeugende Orientierungsmarken in der karitativ-humanitären Dimension an, aber auch hier nur in sehr generalisierter Form, nicht mehr als konkrete Verhaltenslehre. Das bedeutet, daß christliche Erzieher in vielen konkreten Lebensfragen sprachlos geworden sind. Herausgefordert werden Gesellschaft und Kirche besonders dort, wo Minderheiten meist intellektueller Jugendlicher die Grundwertedebatte nicht abstrakt führen, sondern sie praktizieren, indem sie neue Formen des Zusammenlebens erproben und „postmaterialistisehe" neue Werte entwickeln: in Wohngemeinschaften mit bewußtem Konsumverzicht, mit handwerklicher Tätigkeit von hohem expressivem Gehalt, mit Lust an selbstgemachten und an alten Dingen, mit neuer Sensibilität für die Bewahrung der Natur und für zwischenmenschliche Beziehungen. In den Wandel einbezogen ist auch die politische Ethik, wiederum einschließlich ihrer traditionellen christlichen Stützen. Nicht nur die Pflicht zu gottgefälligem Tun in den weltlichen Berufen war besonders durch die protestantische Ethik eingeschärft worden, sondern auch die Pflicht zu Gehorsam und Loyalität gegenüber dem Staat und zur Bereitschaft, sich in „gerechten Kriegen" für das Gemeinwohl zu opfern. Der qualitativ andere Charakter atomarer Vernichtungskriege macht jedoch frühere Legitimationsmuster fragwürdig. Gesellschaft und Kirche, Erziehungswissenschaft und christliches Erziehungsdenken stehen vor dem Erfordernis einer planetaren Verantwortung und Moral. Nationale Egoismen und ängstliches Ordnungsdenken - dies die herkömmlichen Denk wege (vgl. Abschn. 2.6) - werden den Fragen nach dem Überleben auf der Erde und dem Problem der Erhaltung des Weltfriedens nicht mehr gerecht. 2.7.2. Eine zweite neue Bedingung ist damit die Transzendierung nationaler Problemdefinitionen. Ihr entspricht in den Kirchen ansatzweise ein ökumenisches Lernen (Lange, ökum. Utopie). Wenn man in einem kulturellen Vergleich der protestantisch beeinflußten Ethik Westeuropas und Nordamerikas die Gestaltungen christlichen Lebens in anderen Kulturräumen, etwa den —• jungen Kirchen Afrikas und Asiens, aber auch bereits im katholisch-christlichen Mittelmeerraum gegenüberstellt, fällt sofort auf, daß die westlichen Lebens- und Erziehungsziele mit ihrem Aktivismus, Leistungsstreben, Fortschrittsglauben, mit ihrer Eigentumsmoral und ihren sozialen Umgangsformen eine ganz bestimmte christliche Ausprägung verkörpern; es könnte auch anders sein. Christliche Lebenspraxis und christliche Erziehung (auch christliche Theologie) sind durchweg kontextgebunden. Die Einsicht in die „Kontextualität", d. h. in die kulturelle Bedingtheit vermeintlich zeitlos gültiger christlicher Lebensstile und Erziehungsformen kann freimachen, über legitime christliche Alternativen nachzudenken und sich die Vielfalt der christlichen Traditionen (z. B. Armutstraditionen) neu anzueigenen, sie bewirkt jedoch auf Grund der Relativierung des Gewohnten zunächst eine weitere Verunsicherung. 2.7.3. Das in Nationalstaaten und in homogenen Kulturräumen groß gewordene christliche Erziehungsdenken wird ferner durch die Entwicklung einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft herausgefordert. Dies ist in Europa besonders in Großbritannien der Fall, wo als Folgeerscheinung der Auflösung des britischen Empires verstärkt Muslime, Sikhs und Hindus eingewandert sind. Der kulturelle Umschichtungsprozeß hat zu Adaptionen in der Systematischen Theologie geführt mit dem Interesse, dem „Universum der Glaubensformen" gerecht zu werden (Hick), und zu entsprechenden Öffnungen in der Religionspädagogik (vgl. bes. den Birmingham SyIlabus) mit der Absicht, alle lebenden Religionen möglichst fair nebeneinander zu behandeln und den erfahrungsbezogenen, existentiellen Ansatz („the existential approach") durch einen phänomenologischen im Sinne eines mehrdimensionalen religionswissenschaftlichen Vergleichs („the dimensional approach") in An-

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lehnung an die Religionsphänomenologie Ninian Smarts zu ergänzen (Grimmitt). In der Bundesrepublik stellen mehrere Millionen ausländischer Mitbürger, besonders Türken, das Erziehungssystem vor neue Bedingungen. 2.7.4. Für die (christliche) Erziehung ist schließlich relevant, wo die religiöse Sinnverge5 wisserung im engeren Sinne gesucht wird. Die in den christlichen Großkirchen institutionalisierten Wege verlieren an Bedeutung. Die sog. Säkularisierung führt nicht nur zu Entkirchlichung als Entfremdung vom Kirchenchristentum, sondern auch zu neuer Religiosität. Diese „setzt tief in den christlichen Kirchen selbst ein und reicht bis in den letzten Winkel der Alternativszene" (Mildenberger 39). Zu ihr zählen auch die religiösen Momente in den psy10 choreligiösen Bewegungen („personal growth" oder „human potential movement"). Tausende junger Menschen und Erwachsener - hier geht die Entwicklung in den USA voran (Glock/Bellah) - sind auf oft diffuse Art von seelischer und religiöser Unsicherheit ergriffen und suchen neue Verbindlichkeit. Ob nun die neue Religiosität in einer freien religiösen Szene oder in neuen religiösen Organisationen Gestalt gewinnt, ob sie das Christliche innerhalb 15 der Kirchen dynamisiert (durch charismatisch-pfingstlerische, evangelikal-pietistische, liturgische oder sozial aktive Gruppen) oder außerhalb der Kirchen (durch synkretistische Bewegungen unter asiatischem Einfluß), die bisher von den Kirchen gebundene religiöse Substanz wird freigesetzt und strahlt gleichsam außerhalb der gewohnten Ordnungen aus (Nipkow, Neue Religiosität). Damit schreitet die Differenzierung, Individualisierung und 20 Privatisierung des Religiösen fort. Statt eines angeborenen Schicksals wird Religion immer mehr zu einer Sache subjektiver Wahl. Häresie wird zu einer Zwangsläufigkeit: „Modernität schafft eine neue Situation, in der Aussuchen und Auswählen zum Imperativ wird" (Berger 41). 2.7.5. Die skizzierten neuen Bedingungen müssen zu einer Reformulierung der Erzielt hungsfrage veranlassen. Angesichts der Beschleunigung des sozialen Wandels, durch die sich die Lebensprobleme schneller verändern, als Lernprogramme nachwachsen können, und angesichts seiner Asymmetrie, durch die Jugendliche schneller Brücken abbrechen und neuen Werten folgen, als die Erwachsenen sich mitverändem, kann Erziehung nicht nur Weitergabe der Kultur an die Jugend sein oder ein undialektischer Prozeß der Sozialisation 30 als bloßer Eingliederung der Jugend. Sie wird immer mehr zu einer Aufgabe generationenübergreifenden Lernens. In Frage steht ja, ob sich Jugendliche und Erwachsene in wichtigen Dingen heute überhaupt noch verständigen können. Die Erwachsenen müssen mit den Jugendlichen zusammen weiterlernen. Wieweit aber sind unsere Industriegesellschaften und Volkskirchen lernfähig (Nipkow, 35 Grundfragen 11,38ff)? Wie lernen Mehrheiten, und wie überwinden sie das „Gegen-Lernen", das „Lernen im Dienst der Angst" (Lange, Bildung 218)? Eine erste, langsam ernstgenommene Konsequenz ist die neue Aufmerksamkeit hierzulande und in der Ökumene (dort besonders unter dem Einfluß Paolo Freires, der von 1969 bis 1980 im Bildungsbüro des Weltkirchenrats in Genf mitarbeitete) auf (Unpädagogische Arbeit mit Erwachsenen in ihren 40 Lebenssituationen und -konflikten. Die Lebenslaufforschung (Gould; Levinson u.a.) legt darüber hinaus nahe, die biographisch bedingten Wendepunkte und Entwicklungschancen der Erwachsenen von 30 bis ins Alter zu beachten und die meist verschüttete „religiöse Lebenslinie" der Erwachsenen helfend zu begleiten. Auch hierdurch werden Voraussetzungen für tingemeinsames Leben- und Glauben-Lernen geschaffen (Nipkow, Gemeinsam glauben 45 lernen). Ferner wird gegenwärtig parallel in den USA (Westerhoff III), in der ökumenischen Arbeit des Bildungsbüros des Weltkirchenrats unter Ulrich Becker seit Nairobi 1975, in den Kirchen in der DDR (Schwerin) und in unseren Landeskirchen der „Lernort Gemeinde" immer stärker hervorgehoben (Kaufmann, Halberstadt). Die neue Diskussion zur „Ge50 meindepädagogik" steht ebenfalls hiermit im Zusammenhang. Man sucht überzeugende Verbindungen von Leben, Glauben und Lernen in einem Netzwerk sozialer Bezüge. Es wird

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geprüft, wie der Gedanke des „Gesamtkatechumenats" in verwandelter Form wiederaufgenommen werden kann. Der Blick auf die christliche Gemeinde darf sich freilich nicht nur auf die Ortsgemeinde richten. Der gesellschaftliche Wertwandel, die Entwicklung neuer postmaterialistischer Werte einschließlich alternativer christlicher Lebenspraxis und die Dynamisierung der religiösen Suche jenseits der Kirchenmauern verlangen eine Kirche, die das Evangelium im ungeschützten Raum einer offenen, pluralistischen Gesellschaft zu kommunizieren versteht und unter diesem Auftrag auch zu einer uneigennützigen und umfassenden pädagogischen Hilfe für andere bereit ist. Dabei wird das gemeinsame Suchen und Lernen zwischen den Generationen - als die neue Fassung der Aufgabe der Erziehung - noch aus einem anderen zentralen Grunde notwendig. Das traditionelle Erziehungsdenken, auch gerade das christliche (s. o. Abschn. 2.6), war überwiegend ein ordnungspädagogisches und als solches von einem Autoritätskonflikt her definiert, einem vertikalen Konflikt im Gefälle der Generationen von oben und unten. Die Denkmuster der antiautoritären und emanzipatorischen Pädagogik Ende der 60er und der neuen restaurativen Ordnungspädagogik im Zeichen der Tendenzwende seit Mitte der 70er Jahre folgen noch diesem Paradigma. Die gegenwärtige Situation ist jedoch nicht mehr nur durch das Problem von Herrschaft und Herrschaftskritik zu erfassen. Sie enthüllt einen horizontalen Konflikt: Vielen Jugendlichen wird die Gesellschaft einfach gleichgültig; sie lassen sie stehen, grenzen sich aus und in eigenen Subkulturen ein. Zugrundeliegt eine tiefer reichende Krise als nur die Erfahrung von —»Entfremdung und Unfreiheit. Die Pädagogik steht heute darum vor der Erziehungsfrage, weil die Gesellschaft vor der Sinnfrage steht. Auf einen Wertekonflikt aber, der eine Sinnkrise zur Voraussetzung und eine Identitätskrise der Jugendlichen zur Folge hat, paßt nicht mehr ein Erziehungsdenken — gebe es sich autoritäts-gläubig oder antiautoritär - , das von einem Autoritätskonflikt geprägt ist. Hierauf müßte mit einer substantiellen Diskussion über die gesellschaftlichen Werte selbst und mit einer menschenfreundlichen Umgestaltung der Lebensverhältnisse und menschlichen Beziehungen geantwortet werden. Von einer ganz anderen Seite ist damit nochmals die Kirche für ihre erzieherische Mitverantwortung nach dem Verhältnis von Gesetz und Evangelium gefragt. Der theologisch angemessenste Beitrag der Kirche zur Erziehung sollte aus der Kraft theologischer Selbstunterscheidung und aus dem Geist des befreienden und versöhnenden Evangeliums erfolgen. Quellen Ägidius v. Rom, De regimine prineipum, Rom, III 1607. - Gerhard Bohne, Grundlagen der Erziehung, 2 Bde., Hamburg 1 9 5 1 - 1 9 5 3 2 1 9 5 8 - 1 9 6 0 . - Otto Friedrich Bollnow, Existenzphil. u. Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung, Stuttgart 1959. — Martin Buber, Rede über das Erzieherische, Berlin 1926. - Friedrich Delekat, Von Sinn u. Grenzen bewußter Erziehung, Leipzig 1927 = Darmstadt 2 1 9 6 7 . - Martin Doerne, Die Bildungslehre der ev. Religion, München 1932. Emile Dürkheim, Education et sociologie, Paris 1922; dt.: Erziehung u. Soziologie, Düsseldorf 1972. EKD- Kirchenkanzlei (Hg.), Dieev. Kirche u. die Bildungsplanung, Gütersloh/Heidelberg 1 9 7 2 . - D i e s . , Ev. Beitr. zur Bildungspolitik, Gütersloh 1976. - Dies., Leben u. Erziehen - wozu?, Gütersloh 1979. Desiderius Erasmus, Op. omnia, ed. Joannes Clericus, Leiden, I 1703 = Hildesheim 1961. - Andreas Flitner, Die Kirche vor den Aufgaben der Erziehung, 1958 (PF 9). - August Hermann Francke, Pädagogische Schriften, hg. v. G. Kramer, Langensalza 2 1885. - Kurt Fror, Erziehung u. Kerygma, München 1952.—Ders., Die theol. Lehre v. Gesetz u. Evangelium u. ihre Bedeutung für die Pädagogik: Glauben u. Erziehen. FG Gerhard Bohne, Neumünster 1960, 9 7 - 1 0 6 . - Johannes Gerson, Op. omnia, ed. E. du Pin, 5 Bde., Antwerpen 1706. - Eberhard Grisebach, Gegenwart. Eine krit. Ethik, Halle/S. 1928. - Oskar Hammelsbeck, Dieev. Lehre v. der Erziehung, München 1 9 5 0 2 1 9 5 8 . - H e r m a n n F. Kahle, Grundzüge derev. Volksschulerziehung, 2 Bde., Breslau 8 1 8 9 0 . - Immanuel Kant, Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, 6 Bde., Darmstadt 1 9 6 3 - 1 9 6 4 . - Helmuth Kittel, Der Erzieher als Christ, Göttingen 1951, 3 1 9 6 1 . - Wilhelm Koepp, Die Erziehung unter dem Evangelium, Tübingen 1932. - Ernst Krieck, Phil, der Erziehung, Jena 1 9 2 2 . - G e o r g Merz, Freiheit u. Zucht, München 1 9 3 2 . - H e r m a n Nohl, Vom Wesen der Erziehung: Pädagogik aus dreißig Jahren, Frankfurt/M. 1 9 4 9 , 2 7 9 - 2 8 9 . - Katharina Rutschky (Hg.); Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgesch. der bürgerlichen Erziehung, Frankfurt/M. u. a. 1977. - Friedrich Schleiermacher, Pädagogische Sehr. hg. v. Erich Weniger, 2 Bde., Düsseldorf/Mün-

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Eschatologie I

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Karl Ernst Nipkow Esau —»Edom und Israel Eschatologie I. Religionsgeschichtlich II. Altes Testament III. Judentum IV. Neues Testament V.Alte Kirche VI. Mittelalter VII. Reformations- und Neuzeit VIII. Systematisch-theologisch

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I. Religionsgeschichtlich Unter dem Begriff Eschatologie werden alle diejenigen Anschauungen und Glaubensvorstellungen zusammengefaßt, die die „letzten Dinge" (ra eaxaza) zum Gegenstand haben. Das Geschick, das den einzelnen Menschen nach dem Tod erwartet, die Ereignisse, die allen Menschen — Lebenden wie Gestorbenen — bevorstehen, die Frage nach der Ewigkeit oder Endlichkeit der sichtbaren Welt, ist in allen Religionen thematisiert worden. Diese Bedeutung haben eschatologische Aussagen und Vorstellungen sicher deswegen, weil es der —>Tod ist, der am radikalsten den Sinn aller menschlichen Anstrengungen in Frage stellt, so daß gerade Religionen als Sinn stiftende, vermittelnde und garantierende Deutungssysteme der Wirklichkeit fragend, lehrend und handelnd den sinngefährdenden Tod transzendieren. Die Lehren von den letzten Dingen sind aber nicht nur einfach Beschreibungen dessen, was den einzelnen Menschen oder die Menschheit nach ihrem Ende oder einem Ende schlechthin erwartet, sondern prägen entscheidend die Art und Weise, wie vor dem Tod gelebt wird oder werden soll. Ein Gläubiger, der davon ausgehen muß, daß seine Taten wie in einem Buch aufgeschrieben werden und daß er nicht nur nichts aus diesem Buch wird ausradieren können, sondern sich im Gegenteil für jede einzelne Tat wird verantworten müssen, lebt sicher anders als ein anderer Gläubiger, dessen Geschick nach dem Tod nicht durch einen Gerichtsakt entschieden wird, sondern das von anderen, gleichsam als Weltordnung wirkenden Gesetzmäßigkeiten abhängt, denen er ebenso wie den Naturgesetzen unterliegt. So prägt die Eschatologie in jeder einzelnen Religion das Leben aller und damit die Welt, in der diese Religion besteht und sich entfaltet. Ihr gebührt damit ein äußerst wichtiger Platz in der Beschreibung und Deutung der jeweiligen Religion. Wegen dieser doppelten Bedeutsamkeit der Eschatologie erscheint es zweckmäßig, hier das Augenmerk darauf zu richten, welche unterschiedlichen Arten von eschatologischen Anschauungen und Glaubensvorstellungen in den einzelnen Religionen sich voneinander isolieren lassen, und damit eschatologische Motive und Begründungszusammenhänge zusammenzustellen. Die damit gegebene Abstraktheit der Darstellung ist einerseits notwendig, andererseits darf sie nicht den Blick dafür verstellen, daß jeder einzelne Bestandteil einer Lehre von den letzten Dingen aufs engste mit der jeweiligen Religion als ganzer verbunden ist und nur theoretisch aus ihr herausgelöst werden kann. Unter Eschatologie werden Glaubensvorstellungen verstanden, die sowohl das Geschick

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I. Religionsgeschichtlich Unter dem Begriff Eschatologie werden alle diejenigen Anschauungen und Glaubensvorstellungen zusammengefaßt, die die „letzten Dinge" (ra eaxaza) zum Gegenstand haben. Das Geschick, das den einzelnen Menschen nach dem Tod erwartet, die Ereignisse, die allen Menschen — Lebenden wie Gestorbenen — bevorstehen, die Frage nach der Ewigkeit oder Endlichkeit der sichtbaren Welt, ist in allen Religionen thematisiert worden. Diese Bedeutung haben eschatologische Aussagen und Vorstellungen sicher deswegen, weil es der —>Tod ist, der am radikalsten den Sinn aller menschlichen Anstrengungen in Frage stellt, so daß gerade Religionen als Sinn stiftende, vermittelnde und garantierende Deutungssysteme der Wirklichkeit fragend, lehrend und handelnd den sinngefährdenden Tod transzendieren. Die Lehren von den letzten Dingen sind aber nicht nur einfach Beschreibungen dessen, was den einzelnen Menschen oder die Menschheit nach ihrem Ende oder einem Ende schlechthin erwartet, sondern prägen entscheidend die Art und Weise, wie vor dem Tod gelebt wird oder werden soll. Ein Gläubiger, der davon ausgehen muß, daß seine Taten wie in einem Buch aufgeschrieben werden und daß er nicht nur nichts aus diesem Buch wird ausradieren können, sondern sich im Gegenteil für jede einzelne Tat wird verantworten müssen, lebt sicher anders als ein anderer Gläubiger, dessen Geschick nach dem Tod nicht durch einen Gerichtsakt entschieden wird, sondern das von anderen, gleichsam als Weltordnung wirkenden Gesetzmäßigkeiten abhängt, denen er ebenso wie den Naturgesetzen unterliegt. So prägt die Eschatologie in jeder einzelnen Religion das Leben aller und damit die Welt, in der diese Religion besteht und sich entfaltet. Ihr gebührt damit ein äußerst wichtiger Platz in der Beschreibung und Deutung der jeweiligen Religion. Wegen dieser doppelten Bedeutsamkeit der Eschatologie erscheint es zweckmäßig, hier das Augenmerk darauf zu richten, welche unterschiedlichen Arten von eschatologischen Anschauungen und Glaubensvorstellungen in den einzelnen Religionen sich voneinander isolieren lassen, und damit eschatologische Motive und Begründungszusammenhänge zusammenzustellen. Die damit gegebene Abstraktheit der Darstellung ist einerseits notwendig, andererseits darf sie nicht den Blick dafür verstellen, daß jeder einzelne Bestandteil einer Lehre von den letzten Dingen aufs engste mit der jeweiligen Religion als ganzer verbunden ist und nur theoretisch aus ihr herausgelöst werden kann. Unter Eschatologie werden Glaubensvorstellungen verstanden, die sowohl das Geschick

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des einzelnen betreffen (Individualeschatologie) als auch das der ganzen Menschheit oder der gesamten Welt (Universaleschatologie). Damit unterscheidet sich der Begriff Eschatologie von dem der —»Apokalyptik, weil in Apokalypsen das Ende der Welt, auch mit dessen Bezug zur Schöpfung, thematisiert wird und der einzelne zwar in diesem universalen Drama seinen Platz zugewiesen bekommt, dies aber doch vor allem als Teil, den er im ganzen darstellt (vgl. Geo Widengren, Iranische Geisteswelt, Baden-Baden 1961,440 f). Daß individual- und universaleschatologische Vorstellungen miteinander verbunden sein können, zeigt die Religion des Parsismus (—»Iranische Religionen), in dem das individuelle Schicksal des einzelnen Gestorbenen, seine Prüfung, das Gericht über ihn, seine Verdammung oder sein Eingang ins Paradies schließlich in einer universalen Läuterung der Welt aufgehoben ist (vgl. Widengren,ebd. 165-221; KarlF.Geldner,Diezoroastrische Religion. Das Avestä: RGL 2 1 [1926] 8 - 1 0 . 4 5 - 5 0 ) . Innerhalb der individualeschatologischen Vorstellungen lassen sich solche unterscheiden, die von einem Bestehenbleiben der Person ausgehen (der gestorbene NN wird für die Taten seines Erdenlebens verantwortlich gemacht, der gestorbene NN lebt—sei es in seinem Grab, sei es in einem Jenseitsreich — weiter, in welcher Form von Abschwächung oder Transformierung von Leben auch immer), von denjenigen, die dit Auflösung der Person voraussetzen, z.B. in der Weise, daß die Person nur mehr als unstoffliches Wesen oder als Schatten weiterexistiert, die demnach nicht mit einem ewigen Bestand dessen rechnen, was wir nicht zufällig Individuum nennen. Diese Auflösung des Individuums wird am konsequentesten vom frühen —»Buddhismus vertreten, der zwar ebenso wie der frühere Brahmanismus und der spätere —> Hinduismus am Glauben an den Kreislauf der Geburten festhält (Samsära, in populären Darstellungen des Westens häufig irreführend Seelen Wanderung genannt; —»Wiedergeburt), aber es ist eben nicht eine Seele, oder eine personhafte Entität, die da in mannigfachen Erscheinungsweisen wieder und wieder geboren wird. Vielmehr gilt das Individuum (als unteilbare Ganzheit) als Fiktion, es ist vielmehr eine Konstellation von Daseinsfaktoren, denen der Mensch irrtümlicherweise und unaufgeklärt die Qualität eines Ichs oder einer einzelnen personalen Seele zuerkennen mag, während nach der Anschauung des frühen Buddhismus der Tod lediglich das Auseinanderfallen dieser einen lebenslangen Konstellation bedeutet (vgl. Moritz Winternitz, Der ältere Buddhismus nach Texten des Tipifaka: RGL 2 11 [1929] 5 0 - 7 7 . 1 0 6 - 1 2 2 ; Georg Grimm, Die Lehre des Buddho, Wiesbaden 1979; Edward Conze, Der Buddhismus, Stuttgart 3 1962, 1 6 - 2 3 ) . Diejenigen eschatologischen Anschauungen rechnen am deutlichsten mit einem Weiterleben der gestorbenen Person, die von einer bleibenden Belebtheit des Leichnams selbst ausgehen. Viele Bestattungsbräuche (—»Bestattung) haben den Sinn, die für den Lebenden erschreckende Rückkehr des Toten aus seinem Grab zu verhindern. Auch der Glaube an die —»Auferstehung der Toten ist häufig ein ausgeprägter Glaube daran, daß auch der Körper des Toten vollständig wiederhergestellt werden wird, die Toten also ihre irdische Individualität zurückerhalten (so z. B. im Parsismus und im Islam). Das endgültige Geschick der Toten wird häufig in einem Jenseitsreich lokalisiert (—»Paradies, —»Hölle), das entweder als Aufenthaltsort gedacht wird, der von der gegenwärtigen Lebenswelt räumlich, aber nicht zeitlich geschieden ist (z.B. in der griechischen Religion, in der Religion der Azteken, in der sumerisch-babylonischen Religion), oder erst nach dem (universaleschatologischen) Ende der Welt existiert (z.B. im Iran). Vielfach werden mehrere Jenseitsreiche angenommen, wobei das Los des einzelnen Gestorbenen, welches Jenseitsreich ihm als ewige Wohnstatt zugewiesen wird, nicht zufällig ist. Meistens wird diese Entscheidung in einem Totengericht gefällt, wobei auch, wie in dem ägyptischen Totengericht, das Urteil auf endgültigen Tod lauten kann. Im Unterschied zu diesem Gerichtsgedanken hängt bei den Azteken der zukünftige Aufenthaltsort des Gestorbenen nicht von einem nach moralischen Kriterien verfahrenden Gericht ab, sondern von der Todesart (vgl. auch Günter Lanczkowski, Different Types of Redemption in Ancient Mexican Religion: Different Types of Redemption, hg. v. Raphael J. Zwi Werblowsky/Claas Jouco Bleeker, Leiden 1970, 1 2 0 - 1 2 9 ) . So wie die aztekischen Jenseitsreiche sich auch darin unterscheiden, daß das Leben in ih-

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nen erfreulich oder erschreckend gedacht wurde, gibt es in der Religionsgeschichte einerseits positive Vorstellungen, die den Tod als Übergang in eine bessere Welt ansehen ließen (dies scheint beim keltischen Totenort zumindest in Texten aus christlicher Zeit der Fall gewesen zu sein, es ist der Fall beim islamischen und iranischen Paradies), andererseits negative wie die Vorstellung des Lebens als Schatten im griechischen Hades oder die einer freudlosen Existenz im sumerischen „Land ohne Wiederkehr" (kumu-gi). Die universaleschatologischen Vorstellungen kreisen vielfach um eine Vernichtung der Welt am Ende der Zeit, so in dem endzeitlichen Drama Ragnarök in der germanischen Religion oder in den Ereignissen am Jüngsten Tag im Islam. Diese kosmische Katastrophe zeigt in vielen Religionen ähnliche Einzelzüge wie z.B. Erdbeben, Verfinsterung der Sonne, Versinken der Erde ins Meer, vernichtende Kälte, Weltbrand (vgl. auch Axel Olrik, Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang, Berlin/Leipzig 1922). In dieser Katastrophe ist die irdische Geschichte an ihr Ziel gelangt, der Begriff des Eschaton ist seinem ursprünglichen Wortsinn gemäß das Ende. Davon zu unterscheiden sind zyklische Weltbilder, die eine „ewige Wiederkehr" des Kosmos voraussetzen (vgl. Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1953; Günter Lanczkowski, Einf. in die Religionsphänomenologie, Darmstadt 1 9 7 8 , 1 1 8 - 1 2 1 ) . So geht die indische Lehre von den kosmischen Zyklen iyuga) von einer sich periodisch vollziehenden Vernichtung der Welt mit einer anschließenden Welterneuerung aus. Obwohl eine solche Periodizität strenggenommen ein „letztes" negiert, sind auch diese Lehren und Anschauungen eschatologisch zu nennen, weil sie die gegenwärtige Wirklichkeit und die in ihr ablaufende Zeit transzendieren und (vom Menschen aus gesehen) einen Abschluß mit sich bringen. Oft ist mit den eschatologischen Vorstellungen, seien sie auf ein einmaliges oder sich periodisch ereignendes Eschaton bezogen, der Glaube an einen endzeitlichen Heilbringer verbunden (—»Heil und Erlösung). So taucht im Parsismus der Saoshyant als Helfer des guten Gottes Ahura Mazda bei der Auferstehung der Toten auf, im Hinduismus steigt der Gott Vishnu in der Gestalt des Kalki „herab" (als Avatära, —»Hinduismus); daneben gibt es endzeitliche Heilbringergestalten mit ausgeprägt messianischen Zügen, von denen die endgültige Uberwindung der Welt zum besseren hin erhofft wird (—»Messias). Literatur Tor Andrae, Die letzten Dinge, Leipzig 1940. - Carl Clemen, Das Leben nach dem Tode im Glauben der Menschheit, Leipzig/Berlin 1920. — Carl-Martin Edsman, The Body and Eternal Life, Stockholm 1946. - ERE 5 , 3 7 3 - 3 7 6 . - Friedrich Heiler, Erscheinungsformen u. Wesen der Religion, Stuttgart 1961, 5 1 5 - 5 2 9 . - Konrad Theodor Preuss, Tod u. Unsterblichkeit im Glauben der Naturvölker, 1930 (SGV 146). - Gunther Stephenson (Hg.), Leben u. Tod in den Religionen, Darmstadt 1980. - Geo Widengren, Religionsphänomenologie, Berlin 1969, 4 4 0 - 4 5 5 . - Johannes Witte, Das Jenseits im Glauben der Völker, Leipzig 1929.

Hans Wißmann II. Altes Testament 1. Definitionsfragen 2. Forschungsgeschichtliches 5. Hauptmotive (Literatur S. 263) 1.

3. Unheilsprophetie

4. Heilsprophetie

Definitionsfragen

Einer der Einflußreichsten unter den neueren Bearbeitern des Themas nennt als Beweggrund für seine Arbeit „die augenscheinliche Unmöglichkeit, den Begriff Eschatologie aus der Prophetenforschung auszurotten" (Lindblom 32). In der Tat besteht hier ein Dilemma. Je genauer man den Begriff in Entsprechung zu seinem Gebrauch fiir spätere Zeit und vollends in der Dogmatik zu fassen versucht, um so weniger paßt er auf einen Großteil der Phänomene im Alten Testament, die herkömmlich unter dem Stichwort Eschatologie behandelt werden. Trotzdem ist der Verzicht oder gar die „Ausrottung" unangebracht, und das nicht nur aus Gründen der Konvention. In Gestalt der—» Apokalyptik ist eine wesentliche Fortbil-

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dung eschatologischen Denkens bereits im Alten Testament vertreten; und diese, damit aber zugleich die biblische Eschatologie überhaupt, hat ihre stärkste Wurzel in der —»Prophetie. Um der Bedeutung willen, die darum die Prophetie für die biblische Eschatologie in jedem Falle hat, ist die Frage zweitrangig, wieweit sich bei ihr selbst der Begriff der Eschatologie schon voll anwenden läßt. Nur wenige Exegeten (vgl. besonders v.d. Ploeg) beharren konsequent auf demca^arov, das der Begriff Eschatologie enthält, und halten den Begriff nur dort für anwendbar, wo von einem völligen Ende geredet werden kann. Das gibt auch das hebräische Wort kes. [Ende] vor dem Buch -»Daniel (8,17.19; 9,26; 11,27.35.40; 12,4.9.13) nicht her, mögen auch einige Prophetenstellen diesen Gebrauch schon sehr deutlich vorbereiten (Am 8,2; Ez 7,2.3.6; Hab 2,3). Ähnlich steht es mit der Wendung be'ah"rit hajjämtm (Gen 49,1; Num 24,14; Dtn 4,30; 31,29; Jes 2,2 = Mi 4,1; Jer 23,20 = 30,24; 48,47; 49,39; Ez 38,16; Hos 3,5; Dan 10,14; vgl. Dan 2,28; Ez 38,8), die von Hause aus eine nicht näher bestimmte Zukunft meint (vgl. E. Jenni: T H A T 1, 1 1 6 - 1 1 8 , aber auch H. Seebaß: ThWAT 1, 227f). Erst recht die Vorstellung von zwei einander ablösenden Zeitaltern begegnet terminologisch erst in nachalttestamentlicher Zeit. Die Sache aber meint die Mehrzahl der Forscher schon so deutlich in der Prophetie zu finden, daß damit ein fester Anhaltspunkt für eine Eschatologie innerhalb des Alten Testaments gegeben scheint (vgl. besonders Lindblom und Fohrer). Man muß sich freilich auch hier vor allzu scharfen Charakterisierungen hüten, namentlich derjenigen, die erwartete Zukunft folge der „geschichtlichen" Gegenwart als etwas „Ungeschichtliches", „Ubergeschichtliches"; selbst mit dem Begriff der Endgültigkeit drohen die Texte nicht selten überinterpretiert zu werden. Als fundamental gilt meist die Vorstellung von einem Bruch und einem darauf folgenden, grundsätzlich anderen neuen Zustand. Durch diese Definition wird freilich, eine einigermaßen kritische Haltung in den Einleitungsfragen vorausgesetzt, der vorexilischen Prophetie der Charakter des Eschatologischen faktisch abgesprochen. Es ist begreiflich, daß manche Autoren sich von den Definitionsfragen möglichst lange freizuhalten versuchen und unter dem Stichwort Eschatologie alle Zukunftsaussagen innerhalb des Alten Testaments behandeln (vgl. besonders Jepsen), wobei sich dann aufgrund der Gruppierung der Texte eine differenzierte Anwendung des Eschatologiebegriffs ergeben kann, so bei Vriezen: 1. prä-eschatologisch (vor den klassischen Propheten), 2. proto-eschatologisch (Jesaja und Zeitgenossen), 3. aktualisierend-eschatologisch (Deuterojesaja und Zeitgenossen), 4. transzendentalisierend-eschatologisch (dualistisch, apokalyptisch); die ersten drei Stufen bestehen zur Zeit der vierten weiter. Ein Schema wie dieses ist zugleich präzise und locker genug, um die Texte verstehen zu helfen und sie dabei nicht zu vergewaltigen. 2.

Forschungsgeschichtliches

Die älteren Darstellungen der —•Biblischen Theologie des Alten Testaments enthalten regelmäßig, wenngleich meist eher anhangsweise, ein Kapitel „Christologie" oder „Messianologie". Darin wirkt der reformatorisch-orthodoxe Weissagungsbeweis und überhaupt die traditionelle Sicht vom Verhältnis der beiden Testamente nach - allerdings nicht ungebrochen. Die —»Aufklärung hat der Sittenpredigt der Propheten ein viel größeres Gewicht gegeben als ihren Weissagungen, und bei diesen stellt sich zunehmend heraus, daß sie oft schwer verständlich und untereinander widersprüchlich sind und daß die neutestamentliche Erfüllung mehr oder weniger stark von ihnen abweicht. Das gilt auch und gerade von der Erwartung des Messias, die, wie man bemerkt, durchaus kein unerläßlicher Bestandteil aller prophetischen Heilserwartung ist. Die Apologeten von —»Hengstenberg über —»Delitzsch zu König, die, meist beginnend mit dem „Protevangelium" Gen 3,15 und dem Judaspruch Gen 49,10, die Messiaserwartung als eine oder gar die Dominante des alttestamentlichen Zeugnisses erweisen wollen, stehen immer mehr auf verlorenem Posten. Das historische Verstehen wird auch hier entscheidend durch —»Wellhausen gefördert. Er verwendet den Begriff Eschatologie und sagt genau, wo er ihn für angemessen hält: „nicht erst mit Daniel, sondern schon im Exil mit Ezechiel" und dort in der Gog-Magog-Perikope

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Ez 3 8 f, die an ältere Prophetien anknüpft. Die Eschatologie ist ein literarisches Phänomen; sie geht von den unerfüllten Weissagungen aus und „prolongiert den nicht eingelösten Wechsel auf einen späteren und immer wieder auf einen späteren T e r m i n " . Sie ist ein ziemlich abstraktes, theoretisches Gebilde, „dogmatische Spekulation", „ihr Gott ist der G o t t der Wünsche und der Illusion". Dem Realitätsverlust — gemessen an der älteren, „ e c h t e n " Prophetie - entspricht ein ethisches Defizit: Die Eschatologie stellt „keine Ziele für das menschliche Handeln auf, die schon in der Gegenwart Geltung haben oder haben sollten" (Gesch. 1 9 5 f, vgl. Propheten 155) - dies eine Kritik, die später in abgewandelter Form von Fohrer ( 1 7 9 f ) wiederholt worden ist. —•Duhm folgt Wellhausen in dem literarkritischen Urteil, daß die Heilsweissagungen den vorexilischen Propheten zum größten Teil abzusprechen sind. Aber er faßt den Begriff der Eschatologie weiter und steht dem Phänomen — bei aller Kritik an der „dogmatisierend e n " Eschatologie der späteren Propheten — im ganzen positiver gegenüber. Sowohl die Prophetie als auch das Christentum sind „wesentlich eschatologische Religion" (Geheimnis 2 5 ) . Leider hat Duhm den Plan eines Buches über die Eschatologie, in dem Deuterojesaja und Paulus die Hauptfiguren gewesen wären, nicht ausgeführt. Dem Mangel hilft mit ihren Mitteln und auf ihre Weise die Religionsgeschichtliche Schule ab. —»Gunkel, im Sommersemester 1 8 8 5 in Göttingen Hörer einer Vorlesung Duhms über die paulinische Eschatologie, hält 1 8 8 9 in Halle seine Antrittsvorlesung über das T h e m a Die eschatologische Hoffnung des Judentums in ihrem Verhältnis zu alt- und neittestamentlichen Erwartungen und führt dann in Schöpfung und Chaos das Material der Eschatologie der —»Apokalypse des Johannes ebenso wie das der priesterschriftlichen Schöpfungsgeschichte (—»Schöpfer/Schöpfung) auf die babylonische Kosmogonie zurück. Einen umfassenden Komplex eschatologischer Gedanken nichtisraelitischer, namentlich babylonischer Herkunft, der den Propheten bereits vorgegeben ist, postuliert in phantasievollen Kombinationen und Variationen (vgl. die Unterschiede zwischen dem „Ursprung der Israelitisch-jüdischen Eschatologie" und dem posthumen „ M e s s i a s " sowie innerhalb des „ M e s s i a s " ) —»Greßmann. Nicht weniger phantasievoll ist die kultgeschichtliche Herleitung, die in der Schule Gunkels der religionsgeschichtlichen zur Seite tritt. Ihr Begründer und Hauptvertreter —>Mowinckel geht von der Hypothese eines jährlich gefeierten Festes der Thronbesteigung Jahwes aus, an dem die Mythen von Jahwes siegreichen Kämpfen gegen Götter, Drachen und Völker und seinem rettenden Eingreifen zugunsten Israels rituell dargestellt wurden. Als der Widerspruch zwischen diesen Mythen und der Wirklichkeit immer deutlicher hervortrat, ergriff man aufgrund eines allgemeinen psychologischen Gesetzes die „Flucht in die Zuk u n f t " (Psalmenstudien 3 2 4 ) : die Inhalte der Mythen wurden eschatologisiert. Die Eschatologie ist also, grob gesagt, ein in die Zukunft projiziertes Thronbesteigungsfest Jahwes. Wenigstens in einem Punkt weiß sich die Mehrzahl von Mowinckels Zeitgenossen mit ihm einig: darin, daß die Eschatologie - ungeachtet einiger oder auch vieler ausländischer Motive schon in älterer Zeit und dann später wohl eines kräftigen iranischen Einflusses eine genuin israelitische Erscheinung gewesen ist. Sie aus Eigenart und Geschichte des israelitischen Glaubens zu erklären, haben sich auf sehr verschiedene Weise - und bei geringerer Kühnheit als Mowinckel doch nicht selten unterschwellig von ihm beeinflußt — eine ganze Reihe von Gelehrten des 2 0 . J h . bemüht. Den Anfang macht, Mowinckel noch vorangehend, Sellin mit dem Versuch, die Eschatologie schon in der Sinaioffenbarung angelegt zu sehen und Israel als das Volk zu beschreiben, in dem „Religion und Eschatologie unauflöslich vereinigt waren, in dem die Religion zugleich Hoffnung war und alle Hoffnung Religion, in dem das, was andere von Weltherrschaft und paradiesischem Glück geträumt haben, zu einer Erwartung der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft w u r d e " ( 1 9 2 ) . M e h r als ein halbes Jahrhundert später hat - sichtlich nicht unbeeinflußt von den eschatologischen Wellen, die in dieser Zeit über die protestantische Theologie hinweggegangen sind — noch einmal Preuß eine derartige Gesamtthese gewagt. Der Titel seines Buches drückt sie noch zu schwach aus; er müßte eigentlich heißen „Jahweglaube als Zukunftserwartung", weil nach

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ihm „die Erwartung einer kommenden abschließenden Vollendung stets im Glauben des Alten Testamentes mit angelegt war und legitim aus ihm entwickelt wurde" (5), so daß das Fazit der weite Teile des Kanons einbeziehenden Untersuchung lapidar lauten kann: „Jahweglaube ist Zukunftserwartung" (213; vgl. schon Procksch 5 8 2 : „Der Gottesglaube Israels ist zukunftshaltig, er treibt aus der Gegenwart in die kommende Zeit."). Nicht ganz so weit gehen andere Autoren, die aber die Eschatologie immerhin auch schon in zentralen Elementen des frühisraelitischen Glaubens, besonders dem Bundesgedanken (Wheeler Robinson; Eichrodt; Lohfink; Bright) oder dem Erwählungsglauben (Staerk; Jepsen), verwurzelt sehen. Einflußreich ist v. —»Rads und seines Schülers Rohland These von der „Eschatologisierung des Geschichtsdenkens durch die Propheten": Die prophetische Verkündigung erneuert alte „heilsgeschichtliche" Vorstellungen, die „Erwählungstraditioncn" (—»Exodus, —»David, Zion), indem sie sie auf die verheißene Zukunft nach dem Gericht überträgt. Eine Sonderstellung nimmt H.-P. Müllers Interpretation der Aussagen von Gottes Eingreifen in der Geschichte, vom Segen und vom Bund ein, wonach jeweils auf die Aporie der Endgültigkeit des gegenwärtig Erlebten die Ankündigung einer künftigen eschatologischen Endgültigkeit folgt. Die Mehrzahl dieser Theorien läuft Gefahr, die Ergebnisse der Quellenkritik zu vernachlässigen, wie sie etwa — in ziemlich maßvoller Form! — in Vriezens Periodenschema Gestalt gewonnen haben. Es ist demgegenüber gesund, sich von Gelehrten wie Wellhausen, Hölscher und Fohrer oder auch dem späten Mowinckel, gleichgültig wie man zu ihren Thesen im übrigen steht, zu nüchterner Beschränkung im Gebrauch der Kategorie des Eschatologischen aufrufen zu lassen. Das entspricht auch dem heutigen Stand der Prophetenforschung. Die Prophetenbücher (—»Propheten/Prophetie) sind, worauf namentlich Kaiser insistiert, nach einem eschatologischen Schema komponiert, das als solches den älteren Propheten fremd ist und ihnen auch im einzelnen vielerlei Heilserwartung in den Mund legt, die sie schwerlich schon gehegt haben. Das darf aber nicht verdecken, daß diese Propheten höchst folgenreich gewirkt haben und daß uns ihre Verkündigung in den Grundzügen noch greifbar ist.

3. Utiheilsprophetie Der Satz „Das Ende ist gekommen über mein Volk Israel" (Am 8,2) ist noch nicht eschatologisch im technischen Sinn, und es wäre vermessen, aus ihm schon die spätere Eschatologie entwickeln zu wollen. Trotzdem rechtfertigt er völlig Duhms (Jes 220) hingeworfene Sentenz von der „seit Arnos aufkommende(n) Eschatologie". Der Satz, der am Anfang der Eschatologie steht, ist sachgemäß ein Satz vom Ende. Daß möglicherweise „die übrige Welt ihren Gang weitergeht" (Fohrer 150), ist einerseits nicht ohne weiteres die Meinung des -•Arnos gewesen (vgl. Am 1 , 3 - 2 , 3 ) und nimmt andererseits der Rede vom Ende Israels nichts von ihrem tödlichen Ernst. Soweit es sich heute beurteilen läßt, hat Arnos nicht über das von ihm angekündigte Ende hinausgedacht (auch das „vielleicht" in Am 5,15 scheint nicht auf ihn zurückzugehen); was er vor sich, richtiger vor Israel sah, war nur Dunkel, Abbruch und Zerstörung. Nachdem Jahwe auf mancherlei Weise die Umkehr Israels zu erreichen versucht hatte, mußte er „zur Exekution schreiten" (Am 4 , 6 - 1 2 ; Wellhausen, Propheten 80). Die Möglichkeit eines Entrinnens verneinte Arnos beredt (5,19 u.ö.). Das war die von ihm ausgerufene „eschatologische Situation": eine die gewohnte Gottunmittelbarkeit jeder Epoche in den Schatten stellende letzte, weil vernichtende Begegnung Jahwes mit seinem ungetreuen Volk. Obwohl das Nordreich Israel in der Tat bald darauf vernichtet wurde, ging die Situation vorüber: In Juda setzte sich die Geschichte Israels, fürs erste wenigstens, fort. Aber die Worte, mit denen Arnos jene Situation ausgerufen hatte, wurden bewahrt, um in vergleichbarer Situation neu verwendet bzw. variiert zu werden oder aber um im entstehenden eschatologischen Geschichtsbild ihren Platz zu bekommen. Daß Arnos sein Wort über den Tag Jahwes, dieser werde „Finsternis sein und nicht Licht", in einen Weheruf an Menschen kleidet, „die den Tag Jahwes herbeiwünschen" (5,18), legt die Vermutung nahe,

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es habe die volkstümliche Erwartung eines „ T a g e s J a h w e s " gegeben, an dem Israel lauter Heil und Segen widerfahren würde. M a n kann sich den Inhalt einer solchen Erwartung mit etwas Phantasie und Geschichtskenntnis beliebig ausmalen. An diesen Nagel jedoch die These von einer bereits vorhandenen detaillierten Heilseschatologie zu hängen (so besonders G r e ß m a n n ) , dürfte den T e x t überfordern. W a s man vor Arnos in Israel dachte, liegt viel mehr im Dunkeln, als meist angenommen wird. Auf jeden Fall besteht kein vernünftiger Zweifel daran, daß der Satz des Arnos vom gekommenen Ende Israels etwas grundsätzlich Neues gewesen ist.

Wenngleich das Stichwort vom Ende Israels in der uns erhaltenen prophetischen Literatur erst wieder bei —»Ezechiel auftaucht, und zwar offensichtlich in Anknüpfung an Arnos (Ez 7,2 ff), läßt sich doch die klassische vorexilische Prophetie insgesamt als seine weitere Ausführung beschreiben. Wer in Israel und dann in Juda nicht blind ist, bekommt von den Assyrern und den Babyloniern die Wahrheit des prophetischen Wortes vor die Augen gerückt. Der einzige seriöse Versuch, dem Rad doch noch in die Speichen zu fallen, der des Königs —»Josia, endet mit dessen gewaltsamem Tod. Den Sehenden bestätigen die Ereignisse das „Nicht mein Volk" des —»Hosea und die jesajanische Ansage des Tages Jahwes, an dem alles Hohe erniedrigt und Jahwe allein hoch sein wird (Hos 1,9; Jes 2 , 1 2 - 1 7 ) . Aber wer sieht schon? Das Volk Israel ist verstockt, taub und blind, bis die Verwüstung des Landes vollständig sein wird — und dies alles durch den Willen Jahwes (Jes 6,9—11). Hinter diesem Hauptinhalt der prophetischen Verkündigung tritt alles andere in die zweite Linie: die M a h n u n g zu einem Verhalten, das doch noch etwas bessern, ja vielleicht die Katastrophe abwenden könnte, die Verheißung künftiger gerechterer Zustände, die Drohung gegen Israel/Judas Feinde. Diese Motive fehlen nicht, reichen aber, schon infolge ihrer Vereinzelung, nicht aus, die T h e s e zu rechtfertigen, die klassischen Propheten sprächen „ v o m Entweder-Oder der Vernichtung oder der R e t t u n g " , es handle sich also um „keine eschatologische Situation, sondern die tägliche und immer wiederkehrende Entscheidungsfrage an das Volk und alle einzelnen in i h m " (Fohrer 1 5 1 ) . Diese Propheten stellen dem V o l k nicht zwei Wege vor Augen, sondern sagen, wohin der Weg, den es gegangen ist und geht, führt, nein schon geführt hat. Wenn das noch nicht Eschatologie im späteren Sinne ist, dann doch deren Voraussetzung und Ausgangspunkt.

4.

Heilsprophctic

Bei —> Jeremia und —»Ezechiel läßt sich beobachten, wie zur Zeit der Katastrophe Jerusalems unter Nebukadnezar die Verheißung kommenden Heils neben die Unheilsdrohung und an deren Stelle zu treten beginnt, um dann bald zum Grundthema der prophetischen Verkündigung zu werden. Ihren frühen Höhepunkt erreicht diese Art der Prophetie noch während des babylonischen Exils in Deuterojesaja. Das Israel, zu dem sich —»Deuterojesaja gesandt weiß, ist geteilt, dezimiert, zerstreut und hat scheinbar keinen Grund zur Hoffnung. Der Prophet interpretiert diesen Zustand als Bezahlung von Jerusalems Schuld; damit aber hat es ein Ende (Jes 40,2). Was nun kommt, ist etwas völlig anderes, das als das „Neue" dem „Früheren" gegenübersteht (42,9; 4 3 , 1 8 f) und von dem Israel vorher nichts gewußt hat ( 4 8 , 6 - 8 ) . Es steht unmittelbar bevor: „nah ist mein Heil", sagt Jahwe (51,5 vgl. 46,13). Israel kann und soll Jahwe suchen und anrufen, „weil er sich finden läßt", „weil er nah ist" (55,6) — so dürfte zu übersetzen sein, nicht: „(immer) wenn er sich finden läßt", „(immer) wenn er nah ist"; es handelt sich um einen eschatologischen Satz, ganz ähnlich dem neutestamentlichen „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen" (Duhm, Jes 4 1 5 f ) . Die Nähe Jahwes koinzidiert mit einer geschichtlichen Stunde: dem Siegeszug des Kyros, der dem babylonischen Reich das Ende und den Israeliten die Befreiung bringt. Diese Befreiung beschreibt der Prophet mit großem Überschwang und in zahlreichen, öfters erkennbar älterer Tradition in Abwandlung entlehnten Bildern, die meist über die Situation und das vernünftigerweise zu Erhoffende weit hinausgehen. Wie beim W o n des Arnos v o m Tage J a h w e s , so hat man auch hier den Rückschluß auf eine bereits vorgegebene Heilseschatologie versucht. Beglich stellt eine Anzahl von Motiven der deuterojesajanischen Verkündigung mit Parallelen aus Prophetenbüchern und Psalmen zu „einem großen Zukunftsbilde" zusammen, aus dem Deuterojesaja „ n u r jeweils einzelne Züge angeschlagen" habe, w o m i t er

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„bei seinen Zeitgenossen bekannte Vorstellungen anrühren und lebendig machen" wollte (85). Aber das ist ganz unwahrscheinlich. Eine vorexilische Heilsprophetie, die etwa die Bücher —»Nahum und -»Habakuk repräsentieren und mit deren sehr verschiedenen Vertretern sich die Unheilspropheten wiederholt auseinandersetzen mußten, hat es gegeben, und die nachexilische Eschatologie hat vielleicht in manchem an sie angeknüpft (Fohrer). Aber eine Eschatologie war das schwerlich, und gar ein eschatoIogisches System wäre in jener Zeit ein Anachronismus. Die legitimen Vorgänger Deuterojesajas sind nicht die Heils-, sondern die Unheilspropheten. Daß eingetroffen ist, was diese im Namen ihres Gottes angekündigt haben, legitimiert ihn als Propheten des gleichen Gottes. Und jetzt, an „die Gefangenen" und „die in der Finsternis" gerichtet (Jes 49,9), hat auch Heilsprophetie die Legitimität, die ihr noch einige Jahrzehnte vorher zu bestreiten war. Dieses Neue ist grundsätzlich wichtiger als alle etwa vorhandene Ubereinstimmung in einzelnen Motiven, selbst wenn es sich um Ubernahmen handeln sollte. Die Befreiung aus dem Exil erfüllt die Verheißungen des Deuterojesaja nur teilweise. So werden sie in späterer, uns nicht genauer greifbarer Situation von einem weiteren Anonymus, —»Tritojesaja, erneuert, dessen Prophetie, in Teilen von Jes 5 6 — 6 6 erhalten, die seines Vorgängers an Begeisterung und Farbenreichtum noch zu überbieten scheint, gerade damit aber den Abstand zur gegenwärtigen Wirklichkeit nur um so fühlbarer macht. Genau datiert ist dagegen, auf die J a h r e 5 2 0 - 5 1 8 in Jerusalem, die Verkündigung der Propheten —»Haggai und —»Sacharja. Ihr geht die Erschütterung voraus, die das Perserreich durch den Übergang der Herrschaft von Kambyses auf Darius I. erfuhr. Die beiden Propheten kündigen den heimgekehrten Exulanten im Z u s a m m e n h a n g mit dem Wiederaufbau des Tempels ein unmittelbar bevorstehendes göttliches Eingreifen an, das die Welt verändern und Jerusalem das Heil bringen soll. J a , sie benennen sogar einen messianischen Herrscher, den aus dem Davidshaus stammenden persischen Statthalter Serubbabel ( H a g 2 , 2 0 - 2 3 ; Sach 6 , 9 - 1 4 ) , der dann freilich die in ihn gesetzte Erwartung nicht erfüllt hat, so daß nachträglich einer der von ihm handelnden T e x t e (Sach 6 , 9 — 1 4 ) stillschweigend auf den Hohenpriester J o s u a umgestellt worden ist. Das nächste uns sicher bekannte historische Ereignis mit eschatologischer Qualität liegt dreieinhalb Jahrhunderte später und ruft den ersten Höhepunkt der—»Apokalyptik hervor: die Entweihung des Tempels durch Antiochus IV. im J a h r e 1 6 7 v. C h r . In der langen Zeit bis dahin sind die meisten eschatologischen T e x t e entstanden, die der Prophetenkanon enthält, und ist vieles Ältere im Sinne eschatologischer Erwartung neu verstanden und zubereitet worden. V o n der Strenge, mit der man den Begriff der Apokalyptik definiert, hängt es ab, wieviel davon man schon von vornherein apokalyptisch nennen kann. Häufig geschieht das bei Ez 3 8 f; Jes 2 4 - 2 7 („Jesaja-Apokalypse"); —»Joel und Sach 1 2 - 1 4 , aber es gibt auch Gründe, die Apokalyptik bereits mit den Nachtgesichten des Sacharja beginnen zu lassen (Gese). Unstreitig gehört das Buch —»Daniel in die Apokalyptik. So schwierig es ist, die vielfältigen, größtenteils anonymen bzw. Pseudonymen eschatologischen Prophetien dieser Periode auch nur einigermaßen zeitlich zu fixieren, so schwierig ist es auch, ihren Herkunfts- und Wirkungsbereich zu begrenzen. Zweifellos hat es Kreise mit stärkerer und andere mit schwächerer, vielleicht auch solche ohne eine eschatologische Erwartung gegeben. Aber ein Antagonismus wie der von Theokratie und Eschatologie (Plöger) stellt keinen absoluten Gegensatz dar. Man liest gelegentlich von dem einen oder anderen der in jenen Jahrhunderten entstandenen Geschichtswerke, es sei un-, ja antieschatologisch. Doch das argumentum e silentio, das der Hauptgrund für solche Behauptungen zu sein pflegt, kann trügen. Darstellungen der Vergangenheit sind normalerweise nicht der Ort, Künftiges zur Sprache zu bringen. Wenn etwa die —»Priesterschrift das Wort (des Arnos und) des Ezechiel vom Ende (s. o. Abschn. 3) sehr bedacht in die ferne Vergangenheit vor der Sintflut zurückträgt (Gen 6,13), muß das eine eschatologische Erwartung, zumal eine heilvolle, noch nicht ausschließen; in ähnlicher Umgebung wie die Priesterschrift ist ja auch die große Zukunftsvision Ez 4 0 - 4 8 ausgearbeitet worden. Im damaligen Israel mit seinen gegenwärtigen und überlieferten Erfahrungen war grundsätzlich kaum irgend ein Bereich nicht „eschatologiefähig". 5.

Hauptmotive

Die eschatologische Erwartung ist innerhalb des Alten Testaments zu lebendig und zu vielfältig, als daß sie sich als ein System beschreiben ließe. Aber auch eine einigermaßen detaillierte historische und traditionsgeschichtliche Erfassung bleibt eine Sisyphusarbeit, solange nicht wenigstens die Beziehungen der Bearbeitungen innerhalb der Prophetenbücher untereinander und zur übrigen Uberlieferung (z.B.

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Eschatologie II

den —»Psalmen, die ja auch eschatologische Motive enthalten bzw. eschatologisiert werden konnten) genauer erfaßt sind als bisher. So muß und kann es hier genügen, einige Hauptmotive in grober Ordnung und mit wenigen Belegen aufzuführen; eine geschichtliche (auch im engeren Sinne „motivgeschichtliche") und, soweit das angeht, systematische Darstellung bleibt eine Aufgabe der Zukunft.

Grundlegend ist die Aufeinanderfolge von Unheil und Heil (—»Heil und Erlösung). Auf dem Heil liegt das Gewicht, es ist die Pointe, der eigentliche Inhalt der Erwartung, wenngleich notgedrungen in der Regel nicht der einzige. Daß die Unheilsprophetie Recht bekommen hat, bleibt im Bewußtsein, ist ständige Voraussetzung der eschatologischen Heilsprophetie und kommt auch datin zum Ausdruck, daß die Unheilsweissagungen im normalen Schema der Prophetenbücher und, nicht ohne Zusammenhang damit, in den vaticinia ex eventu der Apokalyptik den ersten großen Hauptteil bilden. Aber damit ist sowohl das Unheil als auch die darauf zielende Weissagung ja nicht einfach in die Vergangenheit gerückt. Mag auch bei Deuterojesaja und den meisten seiner Nachfolger die Meinung (und die inbrünstige Bitte) dahin gehen, daß die Leidenszeit ihr Ende hat und das Heil unmittelbar bevorsteht, so folgt doch immer wieder die Ernüchterung und die Notwendigkeit, „den nicht eingelösten Wechsel zu prolongieren". Es gibt aber auch weiter die Unheilsweissagung, einmal als die tradierte, deren Wortlaut weithin auch auf die Gegenwart bezogen werden kann, daneben in neuer Formulierung. Die Zustände sind ja nicht überall besser als seinerzeit, wo sie das große göttliche Strafgericht über Israel als notwendig erscheinen ließen. Das nach wie vor bzw. wiederum erwartete —*Gericht wird, so meint die Mehrzahl der Texte, Israel nicht einfach aussparen, so wie ja auch bisher Jahwes unheilbringendes Handeln wahrlich nicht an Israel vorübergegangen ist. Aber der alte unerbittliche Gerichtsgedanke wird in mehreren Richtungen modifiziert, namentlich dahin, daß es sich um ein Läuterungsgericht handeln, und dahin, daß es nicht ganz Israel betreffen wird; beides begegnet von verhältnismäßig frühen Ergänzungen zur Prophetie des Arnos (Am 9,9 f) bis hin zu Tritosacharja (Sach 13,8 f) sehr oft und in vielen Variationen. Die Vorstellung von einem Rest, den das Gericht übriggelassen hat bzw. übriglassen wird, bildet ein entscheidendes Bindeglied zwischen der Unheils- und der Heilsankündigung an Israel. Das Gericht kann durch Naturkatastrophen wie die Heuschreckenplage in Joel 1 f eingeleitet werden, es ist weltweit und betrifft vorzugsweise die anderen Völker. Das Unheil für die Völker ist weithin die Kehrseite des Heils für Israel (vgl. etwa Jes 34/35), und so erscheinen die „Völkerreden" im Aufbau der Prophetenbücher durchaus sachgemäß mehrfach zwischen der Unheils- und der Heilsankündigung an Israel. Das Gericht über die Völker kann in schaurigen Farben ausgemalt werden. Es erfolgt besonders wirkungsvoll dann, wenn die Völker gegen Jerusalem anstürmen (Ez 38 f; Joel 4; Sach 14). Aber nicht ganz selten erscheint das Heil auch weltweit gedacht, unter Einbeziehung der Völker, die ja schon durch Abraham Segen empfangen sollten (Gen 12,3). Der Gottesknecht bringt den Inseln Weisung (Jes 42,4), umgekehrt kommen die Völker nach Jerusalem, um dort Weisung zu empfangen, gerichtet zu werden und fortan in Frieden zu leben (Jes 2 , 2 - 4 ) . Selbst Ägypten und Assur können an der Beziehung Israels zu Jahwe teilhaben (Jes 19,18-25). Im Mittelpunkt steht aber natürlich das Heil für Israel, dem auch die Zuwendung der Völker faktisch zugutekommt (vgl. etwa Jes 61,5). Die herrliche Zukunft wird seit Deuterojesaja für alle Bereiche des Lebens mit kaum erschöpflicher Phantasie beschrieben: nach der Heimkehr aus dem Exil und dem Wiederaufbau des Tempels unter anderem die Wiedervereinigung Israels und Judas (Ez 37,15—28), paradiesische Fruchtbarkeit des Landes (Jes 30,23—25), Heilung der Kranken (Jes 35,5 f), —•Frieden unter den Geschöpfen (Jes 1 1 , 6 - 8 ) , ja die Vernichtung des Todes (Jes 25,8) und eine Neugestaltung von Himmel und Erde (Jes 65,17). Bei der Schilderung der Zukunft finden mancherlei Motive aus der älteren Tradition Verwendung, nicht nur wegen der selbstverständlichen Angewiesenheit auf das bekannte Vorstellungsgut, sondern auch, weil man eine vollkommenere Wiederherstellung des Vergangenen erwartet (Zusammenstellung bei Fohrer 1 7 1 - 1 7 8 ) . Dahin gehört auch die Gestalt des künftigen Königs, des —* Messias, der das Reich Davids erneuern wird (Jes 9,5 f usw.).

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Allerdings ist durchaus nicht alle Eschatologie im engeren Sinne messianisch. D e r Ged a n k e an einen menschlichen K ö n i g erscheint vielfach als suspekt, nicht zuletzt d a r u m , weil dadurch J a h w e s K ö n i g t u m Konkurrenz b e k ä m e (vgl. J d c 8 , 2 3 ; I S a m 8 , 7 ) . In jedem Fall steht die Herrschaft J a h w e s (mit dem Königstitel bezeichnet besonders in den „ J a h w e - K ö n i g s - P s a l m e n " Ps 4 7 ; 9 3 ; 9 5 - 9 9 ) für jede eschatologische E r w a r t u n g o b e n a n . Allein J a h w e ist es j a auch, der die große W e n d e heraufführt - nicht umsonst heißt sie „ T a g J a h w e s " - , m a g es auch T e x t e geben, die eine menschliche Haltung als V o r b e d i n g u n g dafür nennen (vgl. e t w a J e s 6 1 , 8 ; Sach 1 , 3 ) . Die größte Verheißung gilt der Erneuerung des Verhältnisses zwischen J a h w e und Israel, der Erneuerung der M e n s c h e n selbst, die eine wiederholte Katastrophe infolge der Sünde unmöglich machen wird ( J e r 3 1 , 3 1 — 3 4 ; Ez l l , 1 9 f ; 3 6 , 2 6 f ) . N u r anhangsweise braucht erwähnt zu werden, d a ß die alttestamentliche Eschatologie trotz allen N a c h d r u c k s auf der völligen Neuheit des Erwarteten k a u m schon an eine „jenseit i g e " W e l t denkt und nur implizit schon a u f das Geschick des einzelnen M e n s c h e n zielt. Literatur Joachim Begrich, Studien zu Deuterojesaja, 1938 (BWANT 77), Neudruck 1963 (TB 20). - John Bright, Covenant and Promise. The Future in the Preaching of the Pre-exilic Prophets, London 1977. Frantz Buhl, De messianske Forjoettelser in det Gamle Testament, Kopenhagen 1894. — Franz Delitzsch, Messianische Weissagungen in gesch. Folge, Leipzig 2 1899. - Lorenz Dürr, Ursprung u. Ausbau der israelit.-jüd. Heilandserwartung, Berlin 1925. - Bernhard Duhm, Das Buch Jesaja, 4 1 9 2 2 (HK 3,1) = ' 1 9 6 8 . - Ders., Das Geheimnis in der Religion, Freiburg/Leipzig 1896. - D e r s . , Israels Propheten, Tübingen 2 1 9 2 2 . - Ders., Das kommende Reich Gottes, Tübingen 1910. - Walther Eichrodt, Theol. des AT, Stuttgart/Göttingen, I "1968. - Rudolf Eifler, Der Ursprung der jüd.-christl. eschatologischen Heilserwartung innerhalb der altisraelit. Religion im 7. u. 6. Jh. v.d.Z.: Altertum 16 (1970) 1 7 - 2 9 = Eschatologie (s.u.) 3 6 1 - 3 7 9 . - Eschatologie im AT, hg. v. H.D. Preuß, 1978 (WdF480) (Lit.!). - Georg Fohrer, Die Struktur der atl. Eschatologie: ThLZ 85 (1960) 4 0 1 - 4 2 0 = ders., Studien zur atl. Prophetie, 1967 (BZAW 99) 3 2 - 5 8 = Eschatologie (s.o.) 1 4 7 - 1 8 0 . - Hartmut Gese, Anfang u. Ende der Apokalyptik, dargestellt am Sacharjabuch: ZThK 70 (1973) 2 0 - 4 9 = ders., Vom Sinai zum Zion, 1974 (BEvTh 64) 2 0 2 - 2 3 0 . - Hugo Greßmann, Der Ursprung der Israelit.-jüd. Eschatologie, 1905 (FRLANT 6). - Ders., Der Messias, 1929 (FRLANT43) (dazu die Rez. v. G. Hölscher: DLZ 51 [1930] 1 7 2 9 - 1 7 4 4 ) . - Heinrich Groß, Die Entwicklung der atl. Heilshoffnung: T T h Z 7 0 (1961) 1 5 - 2 8 = Eschatologie (s.o.) 1 8 1 - 1 9 7 . - Hermann Gunkel, Schöpfung u. Chaos in Urzeit u. Endzeit, Göttingen 1895 = 1 1 9 2 1 . - Ders./Joachim Begrich, Einl. in die Psalmen, Göttingen 1933 (darin 3 2 9 - 3 8 1 : Das Prophetische in den Psalmen). — Richard Hentschke, Gesetz u. Eschatologie in der Verkündigung der Propheten: ZEE 4 (1960) 4 6 - 5 6 . - Siegfried Herrmann, Die prophetischen Heilserwartungen im AT, 1965 (BWANT 85). - Gustav Hölscher, Die Ursprünge der jüd. Eschatologie, 1925 (VTKG 4 1 ) . - Ernst Jenni, Art. Eschatology of the OT: IDB 2, 1 2 6 - 1 3 3 . - Ders., Die Rolle des Kyros bei Deuterojesaja: ThZ 10 (1954) 2 4 1 - 2 5 6 . - Alfred Jepsen, Art. Eschatologie II. J m AT: RGG 3 2 (1958) 6 5 5 - 6 6 2 . Otto Kaiser, Gesch. Erfahrung u. eschatologische Erwartung. Ein Beitr. zur Gesch. der atl. Eschatologie im Jesajabuch: NZSTh 15 (1973) 2 7 2 - 2 8 5 = Eschatologie (s.o.) 4 4 4 - 4 6 1 . - Ulrich Kellermann, Messias u. Gesetz. Grundlinien einer atl. Heilserwartung. Eine traditionsgesch. Einf., 1971 (BSt 61). — Joseph Klausner, The Messianic Idea in Israel from Its Beginning to the Completion of the Mishnah, London 1 9 5 6 . - G . A . F . Knight, Eschatology in the OT: SJTh 4 (1951) 3 5 5 - 3 6 2 ; dt.: Eschatologie im AT: Eschatologie (s.o.) 2 2 - 3 0 . - Eduard König, Die messianischen Weissagungen des AT vergleichend, gesch. u. exegetisch behandelt, Stuttgart 2 - 3 1925. - Johannes Lindblom, Gibt es eine Eschatologie bei den atl. Propheten?: StTh 6 (1972) 7 9 - 1 1 4 = Eschatologie (s.o.) 3 1 - 7 2 . - Norbert Lohfink, Eschatologie im AT: ders., Bibelauslegung im Wandel, Frankfurt a . M . 1 9 6 7 , 1 5 8 - 1 8 4 = Eschatologie (s.o.) 2 4 0 - 2 5 8 . — Sigmund Mowinckel, Psalmenstudien II. 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(Lit.!). - Otto Procksch, Theol. des AT, Gütersloh 1 9 5 0 . - Gerhard v. Rad, Theol. des AT, München, I I 4 1 9 6 5 = 7 1 9 8 0 . - Eduard Riehm, Die Messianische Weissagung. Ihre Entstehung,

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ihr zeitgesch. Charakter u. ihr Verhältnis zu der ntl. Erfüllung, Gotha 1885. — H. Wheeler Robinson, The Religious Ideas of the OT, London 1913 = ' 1 9 4 7 . - Edzard Rohland, Die Bedeutung der Erwählungstraditionen Israels für die Eschatologie der atl. Propheten, Diss. Theol. Heidelberg 195 6. - Werner H. Schmidt, Transzendenz in atl. Hoffnung. Erwägungen zur Gesch. der Heilserwartung im AT: Kairos NF 11 (1969) 2 0 1 - 2 1 8 . - Ders./Jürgen Becker, Zukunft u. Hoffnung 1981 (Bibl. Konfrontationen 1014). - Josef Schreiner, Das Ende der Tage. Die Botschaft v. der Endzeit in den atl. Schriften: BiLe 5 ( 1 9 6 4 ) 2 9 - 4 8 = Eschatologie (s.o.) 199-216.-Klaus-DietrichSchunck, Die Eschatologie der Propheten des AT und ihre Wandlung in exilisch-nachexilischer Zeit: VT.S 26 (1974) 1 1 6 - 1 3 2 = Eschatologie (s.o.) 4 6 2 - 4 8 0 . - Ernst Sellin, Alter, Wesen u. Ursprung der atl. Eschatologie: ders., Der atl. Prophetismus, Leipzig 1912, 1 0 2 - 1 9 3 . - J. J. Stähelin, Die messianischen Weissagungen des AT in ihrer Entstehung, Entwicklung u. Ausbildung, Berlin 1847. - Willy Staerk, Atl. Eschatologie: ThBl 8 (1929) 165f.-PaulVolz, Der eschatologische Glaube im AT: FS Georg Beer, Stuttgart 1 9 3 5 , 7 2 - 8 7 = Eschatologie (s.o.) 20ff. - Theodoras Christiaan Vriezen, Prophecy and Eschatology: VT.S 2 (1953) 1 9 9 - 2 2 9 ; dt.: Prophetie u. Eschatologie: Eschatologie (s.o.) 8 8 - 1 2 8 . - Ders., Theol. des AT in Grundzügen, Neukirchen o. J. (1956). - Gunther Wanke, „Eschatologie". Ein Beispiel theol. Sprachverwirrung: KuD 16 (1970) 3 0 0 - 3 1 2 = Eschatologie (s.o.) 3 4 2 - 3 6 0 . - J u l i u s Wellhausen, Israelit, u. jüd. Gesch., Berlin ' 1 9 1 4 = ' 1 9 5 8 , Nachdruck 1981. - Ders., Die Kleinen Propheten, Berlin 3 1 8 9 8 . Walther Zimmerli, Der Mensch u. seine Hoffnung im AT, 1968 (KVR 272 S). - Weitere Literatur s. —»Apokalyptik, —»Messias, —»Propheten/Prophetie.

Rudolf Smend III. Judentum 1. Grundbegriffe 2. Die Zeit des Endes 3. Messias 4. Das katastrophale Element 5. Auferstehung, zukünftiges Leben 6. Abschließende Bemerkungen (Quellen/Literatur S. 269) 1.

Grundbegriffe

1.1. Das Ende der Tage ('aharit ha-jamim). Die konkrete und bildhafte Ausdrucksweise der Bibel hat nichts aufzuweisen, das dem abstrakten theologischen Begriff „Eschatologie" entspräche. Doch der hebräische Ausdruck 'aharit ha-jamim [das Ende der Tage] enthält zuweilen Bedcutungsnuancen, die in diese Richtung weisen. Die Grundbedeutung, die dem akkadischen ina ahrät ümi - abgekürzt ina ahräti (AHw 21) — entspricht, ist: „für alle Zukunft". So kommt der Ausdruck be-'aharit ha-jamim im allgemeinen in der genannten allgemeinen Bedeutung vor, ohne irgendwelche eschatologische Konnotationen (Dtn 4,30; 31,29; vgl. auch 'aharit [Zukunft] in J e r 2 9 , l 1 u.ö.). Doch schon in der alten Poesie wird hiermit ein in der fernen Zukunft liegendes Ziel angedeutet (Gen 49,1; Num 22,14; 2 4 , 1 7 ) - e i n Bedeutungswandel, der sich später in der klassischen Prophetie verfestigt hat (Ez 38,8.16). Doch gehen auch in der klassischen Prophetie die Bedeutungsnuancen sehr weit auseinander. Die präzise Bedeutung dieses Kompositums ist meistens umstritten. Nur einmal scheint eindeutig das erhoffte Ziel der Menschheitsgeschichte angedeutet zu sein (Jes 2 , 1 - 4 = Mi 4 , 1 - 5 ) . 1.2. Ende (k?z). Ein paralleler Ausdruck, der sich besonders in der apokalyptischen Literatur herausgebildet hat, ist kez [Ende in den Verbindungen], kez ha-jamim [Ende der Tage] oder Vi kez [Zeit des Endes] (Dan 8,17; 11,35.40; 12,4.9.13). Schon in Hab 2,3, wo die parallele Bezeichnung mö'ed [festgesetzte Zeit] ist, wird hiermit das erwartete Ende bezeichnet, und zwar der Sturz der chaldäischen Gewaltherrschaft. In der —»Apokalyptik wird das Wort kez auf die dort geläufige geschichtliche Periodenlehre bezogen. Da jedoch die meisten apokalyptischen Schriften nur in Übersetzungen vorhanden sind, konnte der ursprüngliche hebräische Sprachgebrauch erst mit der Entdeckung der Qumranliteratur (—»Qumran) gesichert werden. Hier kommt das Wort kez mehr als 80 mal vor mit der durchgehenden Bedeutung .Periode' oder .festgesetzte Zeit'. Der Plural lautetha-kizzim [die Perioden (die Gott geschaffen hat)] (4Q180), der Status constructus k'zze 'el [die Geschichtsperioden Gottes] (4QpHab 7,13), kol kizze 'olamim [alle Perioden der Weltgeschichte] (1QS 4,16), wohingegen das absolute eschatologische Endeha-kez ha-'aharön [das letzte Ende] (4QpHab 7,12) oder kez neherazä [das festgesetzte Ende] (1QS4.25) odermö'ed mispat neherazä [der Zeitpunkt des beschlossenen Gerichts] (1QS4.20) genannt wird.

2. Die Zeit des Endes In 1QS 4,20 wird der ungeduldige Leser mit der Zusicherung getröstet, daß das erwartete Ende zu der im voraus bestimmten Zeit eintreffen wird, obwohl es sich zu verzögern scheint. Dieser Sprachgebrauch deutet eindeutig auf den recht deterministischen Charakter der apokalyptischen Periodenlehre hin, derzufolge das vorausbestimmte Ende festgesetzt und errechenbar ist. Diese Konzeption findet sich zum ersten Mal im —»Danielbuch. Dem

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Seher wird die Reinigung des entweihten Heiligtums innerhalb von 3V2 Jahren (7,25; 9,27) bzw. 1150 oder 1335 Tagen (8,14; 12,11) vorausgesagt. Eine Nachahmung dieser Berechnungsweise des Endes findet sich in AssMos 1,18; IV Esr 3,14. Im Danielbuch findet sich auch der erste Versuch der Schematisierung des Geschichtsgeschehens (—»Geschichte), sei es mit Hilfe eines apokalyptischen Midrasch über die in Jer 25,12; 29,10 erwähnten 70 Jahre (Dan 9), oder sei es aufgrund von visionären Erlebnissen, die vom Seher als Enthüllungen der Zukunft ausgedeutet werden (2; 7; 8; 11). Das-»Jubiläenbuch teilt die Geschichte in Perioden von 50 Jahren (= Jubeljahren) ein, während sich in anderen Schriften eine Schematisierung in 12 Perioden zu je 4000 Jahren findet (IV Esr 14,11; TestAbr A 19; B 7; VitAd 42). Die —> Entrückung des Sehers des äthHen diente dazu, die in den himmlischen Sphären beschlossenen Zukunftsgeheimnisse in bezug auf die Zeit der Erlösung und der göttlichen Gerechtigkeit zu erkunden (22,14; 25,7; 27,4f u.ö.). In den Qumranschriften wird außer dem geschichtlichen noch ein anthropologischer Determinismus vertreten (1QH 1,15; 1QS 3 , 1 5 - 2 2 ) . Schematisierungen der Geschichte finden sich auch in der rabbinischen Literatur. So enthüllte der Prophet-»Elia einem R. Jchuda (3./4. Jh.), das Weltall bestehe aus 85 Jubiläen (zu je 50 Jahren: 4250 Jahre); im letzten Jubiläum werde der Davidsproß erscheinen (bSan 97a; vgl. bRHSh 31a; bAZ 9 a). Die Reaktion gegen diese Sicht setzte besonders nach dem Scheitern des Bar-Kochba-Aufstandes (135 n. Chr.) ein, da derartige Berechnungen den messianischen Aktivismus begünstigt hatten (yTaan 4 , 7 , 6 a - b ; EkhaR zu Ohr 2,2; tMen 13,22ff). Die messianischen Kämpfer wurden als „Bedränger des Endes" (dohake ha-kez) oder als „Berechner des Endes" (m'has'ive ha-kizztm) bezeichnet (bSan 9 7 a - b ) . So erklären zwei Lehrer des 3. Jh. aufgrund von Hab 2,3: „Verhauchen möge der Geist derer, die die Endzeiten berechnen wollten und die dann sagten: da die Endzeit erreicht ist, ohne daß er (der Messias) erschien, so wird er nicht mehr kommen. Vielmals sollst du ihn stets erwarten, denn es heißt: ,\Venn er zögert, harre sein' (Hab 2,3)" (bSan 97 b). Gegenüber den „Berechnern" oder den „Bedrängern des Endes", betonte man die Spontaneität und Unberechenbarkeit der Erlösung. An einer Stelle wird sogar betont, daß der Zeitpunkt der Wiederkehr des davidischen Königtums zu den sieben Dingen gehöre, die allen Menschen verborgen bleiben (bPes 54b; vgl. auch bSan 9 7 a - b ; BerR 49, Theodor/Albeck 1199f). Gleichzeitig bahnte man den Weg zur Moralisierung der Eschatologie: „Wenn die Israeliten auch nur einen Tag Buße täten, würden sie gleich erlöst werden, und es käme sofort der Sohn Davids. Es heißt ja: , . . . heute noch, wenn ihr meine Stimme hört' (Ps 95,7)" (bSan 98 a; vgl. yTaan 64a; ShirR zu Cant 5,2; yTaan 63b; Levi: REJ 35 [1897] 282ff). 3. Messias 3.1. Die Messiasgestalt in frühjüdischer Zeit. In nachalttestamentlicher Zeit wurde der —»Messias als charismatisch begabter Sproß Davids erwartet, der im Auftrag Gottes das Joch des heidnischen Königreichs brechen, die Verbannten Israels einsammeln und das Königtum über Israel wiederherstellen werde. Auf der anderen Seite trägt der in der prophetischen Literatur gezeichnete davidische Sproß, der seine Herrschaft wieder über ganz Israel ausdehnen wird, nirgends die Bezeichnung ,Messias' (Am 9,11 f; Jer 11,10; Hos 3,5; Ez 3 7 , 1 5 f f ) . - B e i den P r o p h e t e n - » J o e l , - » O b a d j a , - » Maleachi,-»Deuterojesaja sowie in Jes 2 4 - 2 7 und in Sach 14 ist die Person eines erwarteten Königs überhaupt nicht erwähnt. Als eschatologisches Ziel wird dort und anderwärts die Königsherrschaft Gottes bezeichnet (Mi 4,7; Zeph 3 , 1 5 ; Jes 2 4 , 2 3 ; 5 2 , 7 ; Ob 21). Erst -»Ezechiel erwähnt den endzeitlichen „Fürsten" vom Hause Davids ( 3 4 , 2 3 - 3 1 ; 3 7 , 2 4 - 2 8 ) . Das rätselhafte Verschwinden des davidischen Serubbabel, um den die Restaurationshoffnungen im 6. Jh. v. Chr. kreisten (Hag 2 , 2 0 - 2 3 ; Sach 3; 4 , 6 - 9 ) , lähmte den Willen zur Wiederherstellung eines eigenständigen Königtums. Erst im Gefolge der hasmonäischen Siege im 2. Jh. v.Chr. kam dieses Bestreben wieder zum Durchbruch. So fehlt die Person des Messias auch in Dan; Tob; Sir; AssMos; I/II Makk. Nur in einigen Gebeten gibt es formelhafte Anklänge (Sir 5 1 , 1 2 h; vgl. Lk 1,68 f; t B e r 3 ; 4 Q DibHam IV,7f). In der prophetischen und zwischentestamentlichen Literatur sind also Bestrebungen bezeugt, von einer Messiasgestalt abzusehen.

In —»Qumran ist der Messiastitel eindeutig von eschatologischer Qualität (11 QpGen 49,1.3; 1QS 9,10f; CD 8,2f; 9,40; 15,5 f; 18,8). Die zentralen Endzeitfiguren sind-teil-

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Eschatologie ! •

weise in etwas variierter Ausdrucksweise — der Prophet, der Vorbote und Künder und die beiden Messiasse aus Aaron und Israel. Ganz ähnlich wird in TestRub 6,7.10 dtEvangelien,

synoptische)

7.1. Angesichts der ungewöhnlich weit auseinanderklaffenden Auffassungen von der Theologie des Markus (vgl. U. Luz: ThLZ 105 [1980] 641—655) erscheint eine auch nur einigermaßen abzusichernde Gesamtdarstellung seiner Eschatologie derzeit nicht möglich. Doch läßt sich zumindest das Folgende feststellen: 1) Zum Grundbestand des MkEv gehört jenes Erzählgut, welches vom irdischen Wirken Jesu so berichtet, daß das vollendete Heil als satanischer Gegenmacht abgerungene gegenwärtige Glaubenswirklichkeit anschaulich wird. So sind die Erzählungen von Jesu —»Exorzismen deutlich symbolisch gemeint, nämlich darauf angelegt, die Begegnung mit dem Erlöser als die Befreiung des entfremdeten Menschen zu wahrem Leben erscheinen zu lassen (W. Schmithals: ThViat 13 [1975/76] 1 4 - 2 9 ; G. Klein: ZThK 75 [1978] 3 4 0 - 3 4 2 . 348), und 13,31 proklamiert die worthafte Gegenwart des Heils zusammen mit der Irrelevanz der apokalyptischen Schlußereignisse (W. Schmithals, MkEv, II 1979 [ÖTK 2/2] 559 f). Auch wenn diese und andere Stoffe auf den Verfasser einer vormarkinischen „Grundschrift" mit konsequent präsentischer Eschatologie zurückgehen sollten (ders., MkEv, 11979 [ÖTK 2/1] 44 ff), hätte Mk sich jene doch klar zu eigen gemacht. 2) Wie immer die redaktionelle Funktion der markinischen Geheimnistheorie zu präzisieren sein mag, — deutlich ist in jedem Fall ihre Bestimmung, den Glauben auf das —> Kreuz Christi zu orientieren und die Kreuzesnach-

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folge als paradoxe Manifestation des ewigen Lebens auszulegen (8, 34—38 im Kontext!). 3) Diese Perspektiven beeinflussen auch die Redaktion der Apokalypse Mk 13: Nicht nur wird in V.5f vor „Parusieschwärmern" gewarnt (R. Pesch, MkEv, 1977 [HThK II/2]267) und in V. 7b das „Noch nicht" im Sinne eines retardierenden Momentes geltend gemacht, sondern vor allem wendet V. 10 solchen kritischen Vorbehalt ins Positive, indem das weitdurchdringende Evangelium zum maßgebenden Orientierungsfaktor wird. Mag daher V. 30 eine allerdings schon durch Terminologie (unbestimmtes yeveä avTt]!) wie Kontext (V. 32.33 ff!) stark zurückgenommene Naherwartung dokumentieren, so kommt doch dieser weltbildliche Zug sachlich nicht dagegen auf, daß hier Theologie des Wortes die rezipierten apokalyptischen Motive „bewußt als Grenzaussagen" verstanden wissen will (Hahn 265), wenn nicht gar „entscheidend relativiert" (Schmithals, ÖTK 585). 7.2. Auch hinsichtlich der Eschatologie des Matthäus divergiert die neuere Forschung stark (Gräßer, Parusieverzögerung X X X ) , — dies vielleicht deswegen, weil nicht überall akzeptiert ist, daß „kein eindeutiges Bild" seiner Theologie zu gewinnen ist (Vielhauer, Gesch. 359). Da aber den entscheidenden Schlüssel zu ihr der als Offenbarungswort des Auferstandenen gestaltete Ausklang 2 8 , 1 8 - 2 0 darbietet, so sind die eschatologischen Grundlinien immerhin deutlich (vgl. ebd. 360): Der Auferstandene ist der Weltregent, und der Modus seiner Regentschaft ist die Weltmission durch die von seiner ständigen Präsenz geprägte Jüngerschaft. Solchem Ansatz geht es - unbeschadet der Frage, ob ihm ältere, rudimentäre ' Christologien integriert sind und womöglich speziell nach 7 , 2 1 - 2 3 Jesus ursprünglich lediglich als Anwalt seiner Jünger im jüngsten Gericht galt; so H.-D. Betz: ZThK 78 [1981] 24—27 — keineswegs bloß darum, „den Zeitzwischenraum zwischen Auferstehung und l'arusie zu bestimmen" (Gräßer, a.a.O. X X I X ) . Im Gegenteil wird der von der awreXtia rov alwvog markierte Einschnitt durch die unverkürzte Gegenwart Christi für die Seinen von vornherein überwölbt. Gewiß ist die Unterscheidung zwischen der Kirche, der als einem corpus mixtum die eschatologische Scheidung noch bevorsteht (22,9 ff), und der künftigen Gottesherrschaft für Mt konstitutiv; zudem wird die Parusieverzögerung als Problem thematisiert (25,1 — 13). Doch selbst wenn „das Reich des Menschensohnes" 13,41 nicht die Kirche (so Vielhauer, a. a. O. 363), sondern den Kosmos bezeichnen sollte, der dann in ethischer Hinsicht der Kirche erheblich angeglichen wäre (G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, 2 1966 [FRLANT 82] 166f Anm. 7; 218 f), geht es doch nicht an, die Kirche auf „die Repräsentanz der ethischen Forderung in der Zeit" zu reduzieren (ders., Geschichtsverständnis 106). Die der gottesdienstlich versammelten Gemeinde verheißenepraesetitia Christi (vgl. auch 18,20) verwehrt es, den „Indikativ des Heilsgeschehens mit dem Imperativ der Gerechtigkeitsforderung" einfach zu identifizieren (gegen ebd. 103 f); vielmehr ist die Ethik von einer Christologie umgriffen, welche die Gegenwart eschatologisch qualifiziert. So wird denn der Gemeinde nicht nur ihre Unversehrbarkeit angesichts des endzeitlichen Ansturms der Todesmacht (16,18), sondern darüber hinaus verheißen, daß sie auf ihrer Fahrt durch die Stürme der Geschichte der Hut ihres Herrn „mitten in der tödlichen Bedrohung" gewiß sein kann ( 8 , 1 9 - 2 7 ; G. Bornkamm, Die Sturmstillung im MtEv: ders./G. Barth/H.-J. Held, Überlieferung u. Auslegung im MtEv, 1960 [WMANT 1] 51). Die Zeit Jesu ist daher alles andere als „ein einmaliger, unwiederholbarer, heiliger, idealer Abschnitt im Ablauf der Geschichte" (gegen Strecker, a.a.O. 98); sie begründet und mit ihr beginnt die paradoxe Gegenwart des Heils unter den Bedingungen der Zeitlichkeit. 7.3. Eine völlig eigenständige Konzeption von großer systematischer Geschlossenheit liegt im Doppelwerk des Lukas vor. Hier wird das Weltende energisch in zeitliche Ferne entrückt. Exemplarisch tritt das in der Redaktion der synoptischen Apokalypse hervor (Lk 2 1 ; Conzelmann, Mitte 116ff): Lukas kehrt durch V. 1 2 a die überlieferte Reihenfolge von Geschichts- und Naturkatastrophen einerseits und Christenverfolgung andererseits um und erreicht auf diese Weise wie auch durch die entschlossene historisierende Umdeutung der Ereignisse des jüdischen Krieges zu innergeschichtlichen Vorgängen (Conzelmann, a . a . O . 1 2 6 f ; Gräßer, Parusieverzögerung 162), „daß die politischen Wirren der Gegenwart von seinen Lesern nicht als Vorzeichen des Endes verstanden werden

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k ö n n e n " (Vielhauer, Gesch. 3 7 4 ) . Werden im Zuge dieser U m s t e l l u n g - wie die Apg illustriert (Gräßer a . a . O . 1 6 0 ) - die antichristlichen Repressionen zu gegenwärtigen Phänomenen, so verlieren sie doch jeglichen eschatologischen Bezug, wie die Umwandlung von M k 1 3 , 1 3 b (ö de vjro^teivag ctg zikoqovrog acoOtjaezai) in die das Weitende rigoros ausblendende individualistisch-psychologisierende Verheißung Lk 2 1 , 1 9 (fv Ttj vjrofiovjj vfiäv xrijoaoOt zag yvxäg vfimv) zeigt. J a , sogar die nunmehr als noch ausstehend gekennzeichneten Krisen in Geschichte und Natur verlieren ihre Vorzeichenfunktion, gelten sie doch nicht mehr als ¿eXV öjdtvujv (vgl. Lk V . 11 mit M k V . 8 ; anders C o n z e l m a n n , a. a. O . 1 1 9 ) . Erst mit dem Ausblick auf die kosmische Auflösung V . 2 5 ff geht die historische in die supranatural-apokalyptische Perspektive über (Conzelmann, a . a . O . 1 2 1 ) .

Nun ist zwar schon bei Mk und Mt das Bewußtsein um eine Verzögerung des Endes unverkennbar. Dennoch erschöpft sich das spezifisch Lukanische nicht in dem hier erreichten Reflexionsgrad der Problemverarbeitung (zu Conzelmann, a.a.O. 127 Anm. 2). Entscheidend ist vielmehr, daß bei Lk die Dialektik von Schon jetzt und Noch nicht restlos zu einer Geschichtstheologie umgeschmolzen ist, welche die Geschichte Israels, die Zeit Jesu und die Geschichte der Kirche zu einem heilsgeschichtlichen Kontinuum mit dem Jüngsten Tag als teleologischem Fluchtpunkt verbindet. In dieser Heilsgeschichte stellt die historia Jesu die zentrale Epoche dar, weshalb der Glaube lukanisch „prinzipiell rückwärts auf das vergangene Leben Jesu" (U. Wilckens, Die Missionsreden der Apostelgeschichte, 2 ( 1 '1963 [WMANT 5], 206; E. Käsemann, Der Ruf der Freiheit, "1968, 156) als auf das „initium Christianismi" (ders., Exegetische Versuche 1,199) ausgerichtet ist. Daher kennt Lukas weder den matthäischen Christus praesens (vgl. Vielhauer, a. a. 0 . 4 0 3 f; Gräßer, Parusieerwartung 110); das zeigen im Kontrast gerade die wenigen direkten Eingriffe des Erhöhten in den Ereigniszusammenhang (Apg 9,4 ff; 16,7; 18,9 f; 22,18 ff; 23,11), die aufgrund ihres exzeptionellen Charakters die Absenz Christi als kirchengeschichtlichen Normalstatus erscheinen lassen. Noch hat für Lukas die Verkündigung eschatologisches Gepräge, ist sie doch die durch legitimierte Augenzeugen institutionell abgesicherte Memoria der zur Vergangenheit gewordenen Jesuszeit (Apg 1,21 f; 1 0 , 3 7 - 4 2 ; 1 3 , 2 7 - 3 1 ; Lk 1 , 1 - 4 ; Klein, Rekonstruktion 193 ff). Daher ist es nur konsequent, wenn der markinische Hinweis auf die dem Ende notwendig vorausgehende weltweite Ausrichtung des Evangeliums Lk 21,13 ausgeschieden wird. Schwerlich geschieht das primär deshalb, weil „die universale Verkündigung... ja schon in der Gegenwart verwirklicht" ist (Conzelmann, a.a.O. 119; Gräßer, Parusieverzögerung 160); es liegt vielmehr auf der Linie der dem Auferstandenen in den Mund gelegten Programmerklärung Apg 1,7 f: Wird hier die Frage nach dem Endtermin mit der Ansage von Geistempfang und Weltmission nicht beantwortet, sondern niedergeschlagen, so wird damit die Auffassung, Lukas enteschatologisiere „nur im Blick auf vergangene Ereignisse..., nicht aber im Vorausblick auf künftige" (Schenk 50), aufs deutlichste widerlegt. Im Gegenteil zeigt sich, daß es im Sinne des Lukas grundsätzlich verboten ist, das eschatologische Problem überhaupt noch als ein aktuelles zu thematisieren, weil die geistgeleitete ecclesia apostolica als eine die Ökumene durchdringende weltgeschichtliche Potenz das Eschaton auf unbestimmte Dauer vollgültig ersetzt (G. Klein, Die zwölf Apostel, 1961 [FRLANT 77] 209 f), Eschatologie nur noch als dogmatisch peripherer „locus de novissimis" (Vielhauer, Aufs. 23) in Frage kommt und die Zukunftsmacht Christi bis zum Jüngsten Tage, an dem sie sich in weltrichterlicher Funktion erfüllen wird (Apg 17,31; 10,42), irdisch suspendiert (Apg 3,21; vgl. 1,11b; Gräßer, Parusieerwartung 1 1 2 - 1 1 9 ) bzw. an die Kirche delegiert ist. Der Enteschatologisierung der Verkündigung entspricht eine solche der —»Häresie, die im Unterschied zur gesamten frühchristlichen Tradition nicht mehr als eschatologisches, sondern als innergeschichtliches Phänomen, nämlich als Signatur der mit dem Tode des Paulus beginnenden dritten Phase der Kirchengeschichte gilt (Apg 20, 29). — Symptomatisch ist endlich, daß auch im Blick auf das postmortale Heil eine deutliche Akzentverlagerung erfolgt, sofern sich die Hoffnung auf den jeweils persönlichen Eingang des einzelnen ins ewige Leben hin verschiebt (Lk 16,19ff; 23,43; Conzelmann, a.a.O. 212; Dupont; Schneider 89ff; Gräßer, Parusieerwartung 116.125). D a ß in diesem Konzept die „Eschatologie zu einem Spezialprogramm der H i s t o r i e " geworden sei

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(E. Käsemann, Exegetische Versuche I, 199), ist nicht nur einzuschränken (so W. Eltester: Jesus in Nazareth, 1972 [BZNW 40] 92; Gräßer: ThR 42 [1977] 59), sondern zu verneinen; historisiert wird vielmehr das Kirchenverständnis, während die Eschatologie gerade einer umfassenden Entgeschichtlichung verfällt (Conzelmann, Aufs. 212 Anm. 20). Dieser Entwurf bietet nicht einfach eine Variante urchristlicher „Verhältnisbestimmung von Heilsgegenwart und Heilszukunft" (gegen F. Hahn: BEThL 48 [1979] 153). Sofern sich im Verlauf der Geschichte der göttliche Heilsplan zielstrebig und folgerichtig in der Exekution durch die den Erdball erobernde Kirche erfüllt, muß tatsächlich von einer „praesentia salutis" die Rede sein (Gräßer: ThR 42,64), die freilich völlig neu verstanden ist, nämlich als institutionell verwahrt gilt. Sofern sich jedoch die Heilsgewißheit aus Erinnerung an die mit dem irdischen Jesus zur Vergangenheit gewordene „Mitte der Zeit" nährt und mit dem ausständigen Heilszif/ einzig durch den geschichtlichen Prozeß allmählicher Annäherung verbunden weiß, sofern weiterhin diesem Geschichtsentwurf eine Anthropologie korrespondiert, derzufolge der Mensch kein salvandus, sondern ein corrigendus ist (J.-W. Taeger: Z N W 71 [1980] 104; ders., Der Mensch u. sein Heil, 1982 [StNT 14]) und darum auch als Christ sich um „religiöse und moralische Vervollkommnung" mühen muß, die „vom göttlichen Richter dereinst belohnt und in ihrem unvermeidbaren Defizit durch Gnade ausgeglichen wird" (Käsemann, Ruf der Freiheit 171), ist das in der kirchlichen Heilsanstalt zugängliche Heil eine bloße Substitutionsform des Endheils. - Jedenfalls sind alle Versuche, die Originalität und Radikalität dieser Geschichtstheologie abzuschwächen, fehl am Platze, - gleichgültig, ob diese der Naherwartung durch Lukas lediglich ihr Drängendes genommen sehen, den Zeitpunkt des Endes für unbestimmt erklärt oder die Naherwartung in eine „Stetsbereitschaft" umgepolt befinden (Diskussionsstand: Gräßer: ThR 4 2 , 6 3 ff; ders., Parusieerwartung 101 f); erst recht abwegig ist der Versuch, Lukas zum Apokalyptiker umzustilisieren (Mattill).

Hingegen bleibt nach den Triebkräften dieses Entwurfs zu fragen. Verbreitet wird die Parusieverzögerung als entscheidender Faktor betrachtet (Conzelmann, Mitte 6; Vielhauer, Gesch. 373f; Gräßer, Parusieerwartung 123f). Gewiß ist es ein bedeutsames Indiz, daß in Lk 21,8 die Naherwartung für häretisch erklärt wird. Selbst wenn daher die Parusieverzögerung „ f ü r die vorlukanische Gemeindetradition kein Problem mehr" gewesen sein sollte (—•Evangelien, Synoptische), ist sie doch aus dem Bedingungsrahmen der lukanischen Theologie keinesfalls wegzudenken. Ob sie hingegen ihr maßgebendes Agens ist, muß zweifelhaft erscheinen. Nicht das Ende, sondern der immer ferner rückende Anfang der Christentumsgeschichte ist das zentrale Problem; Lukas bewältigt es, indem er „der Kirche in Form einer Historie ihrer Vergangenheit den Mythos ihrer Autorität" gibt (Vielhauer, a. a. 0 . 4 0 6 ) und ihr im Gegenzug dazu ihren eschatologischen Charakter nimmt. 8. Hebräerbrief

und 2. Petrusbrief

Aus der Vielzahl der sonstigen späturchristlichen eschatologischen Konzeptionen (Überblick: Bultmann, Theologie 548f; Conzelmann, Theologie 338-348) seien zwei ebenso profilierte wie gegenläufige hervorgehoben. 8.1. Der —>Hebräerbrtef (E. Gräßer, Der Glaube im Hebräerbrief, 1965 [MThSt 2], 171 - 1 8 4 ) setzt zwar gelegentlich Sätze der Naherwartung ein (10,25.37), aber zu paränetischen Zwecken, nämlich um das Gottesvolk auf seiner langen Wanderschaft in Geduld zu üben (Dinkler, Idea 335). „Die für den eschatologischen Entwurf des H b entscheidenden und ihn tragenden Begriffe sind nicht solche der Zeitlichkeit, sondern solche einer transzendentalen Räumlichkeit" (Gräßer: ThR 30 [1964] 225f). In ihrem Rahmen wird die künftige Stadt (13,14), der Ort der endgültigen „Ruhe" ( 4 , 1 - 1 1 ) , als das jetzt schon existierende obere —»Jerusalem vor Augen gestellt, in dem bereits die Festversammlung der Engel und Vollendeten mit Jesus als dem Mittler eines neuen —»Bundes im Gange ist (12,22 - 25) und als dessen Bürger die Glaubenden sich wissen dürfen. Diese Prävalenz der Raumkategorien spiegelt eine Christologie wider, derzufolge Christus die Weltherrschaft zwar bereits angetreten, doch noch nicht vollendet hat (2,8), wohingegen die Erlösungskraft seines Hohenpriestertums der Gemeinde bereits jetzt endzeitliche Freiheit als unüberbietbares Heilsgut zuwendet (2,15). Wird dieses durch das Wort präsent (2,3; vgl. 1,2; 4,12f; Vielhauer, a. a. O. 249f), so bleibt die eschatologische Dialektik dadurch voll gewahrt, daß das durch das Heilswort heraufgefühlte „Heute" (4,7) jeden kommenden Tag von neuem qualifizieren soll (3,13).

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8.2. Der 2. Petrusbrief (—> Petrusbriefe) bemüht sich in Auseinandersetzung vermutlich mit einem ultrapaulinischen (3,15 f) Enthusiasmus, das von diesem polemisch geltend gemachte Faktum der Verzögerung der Parusie (3,4) mit dem Glauben an ihre gewisse Ereignung auszugleichen. Dabei geht es nicht um eine Stimulation von Naherwartung (gegen Vielhauer, Gesch. 598). Denn die Datierung der Ketzerei auf die „letzten Tage" (3,3) ist traditionell und markiert den Unterschied zwischen heiliger Vergangenheit und der Gegenwart (Käsemann, Apologie 135 f); vor allem wird sie jeglichen chronologischen Sinnes durch die zugunsten der Parusieerwartung eingesetzten Argumente entkleidet. Diese (die Sintflut als vorausweisendes Analogon eines zweiten Weltuntergangs: 3 , 5 - 7 ; Relativierung der Zeitbegriffe: V. 8; Dehnung der Zeit aus göttlicher Langmut: V. 9; Plötzlichkeit des Endes: V. 10; Einfluß des Lebenswandels auf den Endtermin: V. 11 f), inhaltlich bis zur Gegensätzlichkeit divergierend, sind miteinander nur durch das Interesse an der Repristination eines spektakulären apokalyptischen Zukunftsbildes (V. 7.12bf) verbunden. Insoweit kann von einer „Apologie der urchristlichen Eschatologie" tatsächlich nur in einem uneigentlichen Sinn die Rede sein (Käsemann, a.a.O. 146). Ob deren wesentliche Impulse hier völlig preisgegeben seien (ebd. pass.), bleibt gleichwohl zu fragen. Gewiß ist hier weithin die christologische Orientierung der Eschatologie zur Erwartung des gerecht vergeltenden Weltenrichters geschrumpft und im übrigen vom anthropologischen Interesse an der Apotheose der Frommen abgelöst (1,4; Käsemann, a.a.O. 143ff). Wenn aber nach 1,19 das prophetische Wort der Schrift am „dunklen Ort" der gegenwärtigen Weltzeit erglänzt und Halt gibt, „bis der Tag aufstrahlt und der Morgenstern in euren Herzen aufgeht", so bekundet sich darin doch wohl weder das Unvermögen des Verfassers zu rechtem Umgang mit der angezogenen Tradition noch einfach deren psychologische Umbiegung (gegen Käsemann, a. a. 0 . 1 5 2 ) . Da vielmehr der „Morgenstern" eine christologische Chiffre ist, wird auf die Durchdringung des glaubenden Daseins durch Christus vorausgeblickt, die Parusieerwartung nicht nur transformiert, sondern auch konkretisiert und so die eschatologische Dialektik, wie verwandelt auch immer, wenigstens partiell durchgehalten (anders W. Schräge, I/II Petr, 1973 [NTD 10] 123). 9. Schluß Im Rückblick auf die Vielzahl eschatologischer Entwürfe im Neuen Testament ist festzuhalten, daß diese, bei aller Variation im Detail, doch im Entscheidenden, nämlich in der Orientierung an dem in Christus bereits erschienenen und bleibend gegenwärtigen Heil, konvergieren. Läßt ein jeder von ihnen auf seine Weise das Futurum durch das christologische Perfektum erschlossen sein, so sind sie damit sämtlich von genuiner Apokalyptik ebenso wie von Jesu Zukunftserwarrung konstitutiv geschieden. Umgekehrt läßt, vom urchristlichen Enthusiasmus abgesehen, keiner von ihnen das, sei es zeitlich oder räumlich gefaßte, ständige Voraus des Heils in dessen Präsenz untergehen, weil die Uberzeugung von der ständigen Heilsangewiesenheit des Menschen ihren anthropologischen Konsensus ausmacht und die Spannung zwischen Erfüllung und davon unablässig hervorgetriebener neuer Erwartung ihr Glaubensverständnis so oder so bestimmt. 9.1. Naherwartung und Parusieverzögerung. Das insofern einheitliche Profil neutestamentlicher Eschatologie nötigt zu präzisierenden Abgrenzungen im Blick auf das umkämpfte Problemfeld von Naherwartung und Parusieverzögerung. Zunächst läßt sich die Auffassung, die Naherwartung sei aus der frühchristlichen Eschatologie bis auf Ausnahmen erst um die Mitte des 2. Jh. ausgeschieden worden (Aland 127), am Textbefund nicht bewähren. U.a. übersieht sie die rasche Entspannung der Naherwartung schon bei Paulus (s. o. Abschn. 5.1), verwertet die geprägte Rede von den „letzten Zeiten" u.ä. unzulässig (exemplarisch: Aland 146 zu I Joh 2,18; dagegen s.o. Abschn. 6.2), wenngleich keineswegs konsequent (nämlich nicht in bezug auf II Petr 3,3; vgl. 139 f mit 149 f). und geht an den synoptischen Evangelien bis auf beiläufige Bemerkungen zu Lukas (182) bewußt vorüber (129). Auch steht ihr entgegen, daß von einer unter ihrer Voraussetzung zu erwartenden kir-

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chenweiten Verzögerungskrise um diese Spätzeit nichts zu bemerken ist, wohingegen gerade „schon die ältesten neutestamentlichen T e x t e . . . das Problem der Parusieverzögerung voraussetzen)" (G. Strecker: ThLZ 106 [1981] 70). Daß Naherwartung immer von neuem aufflackern konnte, ist unbestritten und nicht nur an ihrer Bekämpfung in II Thess (s. o. Abschn. 5.4.2) und Lk 21 (s. o. Abschn. 7.3) zu dokumentieren. Doch kommt es auf ihre Dauer, Verbreitung und Intensität theologisch ebensowenig an wie auf die Erkundigung, ob und wie lange die futurische Eschatologie zunächst nur „als Naherwartung" sich verlautbarte (zu Gräßer, Parusieverzögerung XXVII). Entscheidend über solche geistesgeschichtliche Perspektive hinaus führt erst die hermeneutische Frage, ob die Naherwartung einem apokalyptischen oder eschatologischen Horizont integriert ist. Denn die Erwägung, ob die präsentische Eschatologie „anstatt" oder „neben" der Naherwartung Platz greifen konnte (Gräßer, a. a. O. XXVI), reißt eine unzulängliche Alternative auf, wenn man erkennt, daß auch die angespannteste Naherwartung im Wissen um das schon vollbrachte Heilswerk gründet (s. o. Abschn. 4.1; 4.2; 5.2.1), die Zukunftserwartung nirgendwo zur Funktion des weltbildlich Erwarteten verkümmert und dieses folgerichtig niemals zum Woraufhin des Glaubens erhoben wird, weshalb denn auch selbst akzentuierteste futurisch-eschatologische Entwürfe der speziellen Vorstellungsform der Naherwartung durchaus entraten können (vgl. exemplarisch die Redaktion des JohEv; s.o. Abschn. 6.1.3.2). Nur weil die Naherwartung als Zukunftsbild vom Glauben an den gekommenen Erlöser sachlich von vornherein überholt war, wird die Beiläufigkeit begreiflich, mit der die Erfahrung der Endverzögerung bewältigt wurde. Keine Rede kann davon sein, daß „aus dem Ausbleiben der Parusie... für das Urchristentum, zumal das aus der jüdischen Tradition genährte, ein drückendes Problem" erwuchs (gegen Bultmann, Exegetica 366). Die Auffassung der „konsequenten Eschatologie", wonach sich aus der Parusieverzögerung ein „Zwang zur grundsätzlichen dogmatischen Neuorientierung" mit den Ostererscheinungsberichten als deren frühestem Niederschlag ergab (M. Werner, Die Entstehung des christl. Dogmas, 1959 [UB 38] 33.19), scheitert schon an der Leitfunktion des Credos in den archaischen Phasen der Problemgeschichte (s.o. Abschn. 5.2.1). Erst recht haltlos ist es, unter Berufung auf die „Theorie der kognitiven Dissonanz" den missionarischen Impetus des frühen Christentums fehlgeschlagene Endzeiterwartungen kompensieren zu lassen (H. Albert, Traktatüberkritische Vernunft, 2 1969, 94f Anm. 24), wenn anders das Ineinander von Bekehrung und Sendung zu den Urdaten der Kirchengeschichte gehört (s. o. Abschn. 3). Gewiß ist die Verzögerungserfahrung in gewissen Uberlieferungsbereichen frühzeitig und sehr differenziert reflektiert worden (Gräßer, Parusieverzögerung; Lüdemann, Paulus 2 1 6 - 2 1 8 ; anders Schmithals, Jesus 81), wie sie sogar noch nach I Clem 23,3 f; II Clem 11,2; II Petr3,4 virulent war, auch wenn manches synoptische Material, wie etwa die drei Knechtsgleichnisse Lk 12,39f par.; 1 2 , 4 2 - 4 6 par.; 19,12—27 par., für diese Frage überbeansprucht sein mag (vgl. gegen Gräßer P. Hoffmann, Logienquelle 4 3 - 5 0 ) . Nimmt man jedoch nirgendwo das Nachbeben einer Grundlagenkrise wahr, so wird solche geräuschlose Revision des obsolet gewordenen Zukunftsbildes, die allmähliche Transformation von Naherwartung in Stetsbereitschaft, allein aus der Gewißheit verständlich, daß das in Christus erschlossene Heil von keiner weltlichen Zukunft in Frage gestellt werden kann. 9.2. Der sachliche Sinn der neutestamentlichen Eschatologie wäre streng aus der Dialektik von Schon jetzt und Noch nicht als ihrem innersten Konstitutionsprinzip zu entfalten. Die eschatologische Qualifikation der Gegenwart läßt diese als die Zeit verstehen, in der das christologisch verbürgte Ende der Weltmacht inmitten der Weltzeit ein Dasein in „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist" (Rom 14,17), also ewiges Leben unter den Bedingungen der Zeitlichkeit begründet. Der eschatologische Vorbehalt gegenüber dieser Gegenwart - weit davon entfernt, ihr eschatologisches Gepräge zu relativieren - entlastet, indem er den Glauben auf Gottes alle Geschichte durchwaltenden und zugleich übergreifenden Heilswillen angewiesen bleiben läßt, von der Sorge um den Sinn der Geschichte, ermächtigt zur Unterscheidung zwischen einer Zukunft, die „in gewissen Grenzen in die Hand des

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Menschen gelegt ist, und der Zukunft, die Gott sich vorbehalten h a t " (Ebeling, Dogmatik III, 4 0 7 ) , läßt somit ewiges Heil und zeitliches Wohl um Gottes willen geschieden sein und wirkt sich in seiner Resistenz gegen alle innerweltlichen Heilsprojekte eminent ideologiekritisch aus. Literatur Kurt Aland, Das Ende der Zeiten: ders., Ntl. Entwürfe, 1979 (TB 63), 1 2 4 - 1 8 2 . - Jean-Jacques v. Allmen, L'apocalyptique Juive et le retard de la parusie en II Pierre 3 , 1 - 1 3 : RThPh 99 (1966) 2 5 5 - 2 7 4 . - Hans Bald, Eschatologische oder theozentrische Ethik? Anm. zum Problem einer Verhältnisbestimmung v. Eschatologie u. Ethik in der Verkündigung Jesu: VF 24/1 (1979) 3 5 - 5 2 . - Horst Balz, Methodische Probleme der ntl. Christologie, 1967 (WMANT 25). - Ders., Heilsvertrauen u. Welterfahrung. Strukturen der paulinischen Eschatologie nach Römer 8, 1 8 - 3 9 , 1971 (BEvTh 59). Ders., Eschatologie u. Christologie. Modelle apokalyptischer u. urchristl. 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298

Eschatologie IV

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Eschatologie V

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Günter Klein V. Alte Kirche 1. Grundsätzliches 2. Von der Mitte des 2. Jh. bis zur montanistischen Krise 3. Von Clemens von Alexandrien bis zur konstantinischen Wende 4. Eschatologie in der Reichskirche (Quellen/Literatur S.304)

1. Grundsätzliches Der apokalyptisch-eschatologische Vorstellungszusammenhang der ältesten christlichen Überlieferung ist noch im 1. Jh. durch Gedanken anderer Herkunft und neue theologi-

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Eschatologie V

sehe Gesichtspunkte ergänzt worden. Dieser Vorgang setzte sich verstärkt fort, je mehr das Christentum in die griechisch-römische Welt hineinwuchs. Die Frage nach dem Wesen —»Gottes, nach dem Ursprung des Kosmos und des —»Menschen wurde gestellt, und die eschatologischen Erwartungen verloren ihre Evidenz, sie mußten erklärt und begründet werden; dabei konnte man allerdings auch an griechische Vorstellungen anknüpfen. Starke Tendenzen zur Individualisierung und Spiritualisierung der Eschatologie meldeten sich, doch wurde die realistische Enderwartung gegen alle Einwände aufrecht erhalten; ihre Preisgabe hätte auch den Verlust des spezifisch christlichen Geschichtsgedankens bedeutet. Das Bewußtsein der eschatologischen Bestimmtheit der jeweiligen Gegenwart ließ freilich insgesamt nach, es konnte jedoch in Gestalt einer akuten Naherwartung zeitweise wieder aufleben. Die Inhalte der altkirchlichen Eschatologie stammen aus dem Alten Testament (s.o. Abschn. I), der urchristlichen Überlieferung (s.o. Abschn. IV) und, in begrenztem Umfang, unmittelbar aus der jüdischen —» Apokalyptik (s. o. Abschn. III). Das Ringen um die Geltung der urchristlichen Apokalypsen ist selbst ein Stück Geschichte der altkirchlichen Eschatologie. Die Spekulation über—»Tod und —»Auferstehung, Endgeschehen und Jenseits blieb in der alten Kirche relativ beweglich; nur die extreme Spiritualisierung der Eschatologie einerseits und der massive Chiliasmus andererseits wurden schließlich verworfen. 2. Von der Mitte des 2. Jh. bis zur montanistischen

Krise

2.1. Die Verzögerung der Parusie wird in der christlichen Literatur des 2. Jh. reflektiert (vgl. II Petr 3; II Clem l l f ) , führt aber nicht zu ernsthaften Erschütterungen. —»Hermas warnt vor einer allzu unmittelbaren Naherwartung (vis III, 8,9) und meint, daß das Weltende verzögert werde, um den sündigen Christen eine letzte Bußmöglichkeit zu gewähren; diese muß wegen der Kürze der Zeit aber rasch genutzt werden (vis III 5,5; sim IX 14,2; X 4,4; vgl. II Clem 8 , 1 - 3 ; —Buße, s. T R E 7,452f). M. Werners These, das altkirchliche —»Dogma sei eine Konstruktion zur theologischen Bewältigung der durch das Ausbleiben der Parusie entstandenen Krise, hat in den Quellen keinen Anhalt und ist mit Recht allgemein abgelehnt worden. Die nichtgnostischen Theologen des 2. und beginnenden 3. Jh. bis hin zu —»Irenäus, —»Tertullian und —Hippolyt bejahen und verteidigen die Vorstellungen der urchristlichen Eschatologie. Stark wird betont, daß die sittliche Bewährung in der Gegenwart Vorbedingung für den Empfang des Heils im Gericht ist. Weite Verbreitung gewinnt der—»Chiliasmus. Maßgebend war dafür in erster Linie der Einfluß der Johannesapokalypse, aber auch das unmittelbare Einwirken jüdischer Traditionen ist zu beobachten (Danielou, Histoire 341 ff). Das Interesse an der Eschatologie äußert sich ferner in der Übernahme jüdischer und der Abfassung neuer christlicher Apokalypsen (—Apokalyptik/Apokalypsen V). Diese Literatur prägt wieder die kirchlichen Vorstellungen vom Zustand der Verstorbenen zwischen Tod und Auferstehung, von Gericht, Hölle und ewiger Seligkeit (vgl. die Petrusapokalypse [s. T R E 3,258f]; Hippolyt, De universo; dazu Stuiber 43ff). 2.2. Eine tiefgehende Umdeutung der urchristlichen Eschatologie vollzieht die christliche —Gnosis: Dem Pneumatiker bringt die Erkenntnis seiner Herkunft aus der himmlischen Welt und des Weges zur Rückkehr dorthin die Gewißheit des Heils. Die Zukunft ist festgelegt; für die Erwählten ist in der Gnosis das Eschaton vorweggenommen. Gleichzeitig sind die Gnostiker aber brennend an Entstehung und Zukunft des Kosmos, in dem die Pneumatiker jetzt leben, interessiert. Die Vorzeichen werden freilich im gnostischen Mythos radikal anders gesetzt als in der großkirchlichen Theologie: Die Entstehung der materiellen Welt wird auf eine urzeitliche Katastrophe zurückgeführt, und das Heilsgeschehen gelangt erst mit ihrer gänzlichen Vernichtung zum Abschluß (vgl. Irenäus, haer. 1,7,1 über die Lehre des Valentinianers —Ptolemaeus und die traditionell-apokalyptische Schilderung des Weltendes in der Schrift Vom Ursprung der Welt, NHC II/ 5 , 1 2 5 , 3 2 ff). Der Gedanke einer Auferstehung des irdischen Leibes ist für die Gnosis unvollziehbar. Es ist aber zu beachten, daß der

Eschatologie V

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vermutlich valentinianische Brief an Rheginos den Begriff der „Auferstehung des Fleisches" nicht preisgeben will (NHC 1/3; vgl. TRE 4,474). 2.3. Die Apologeten (—»Apologetik I) suchen die christliche Eschatologie den gebildeten Heiden nahezubringen. —»Justin der Märtyrer schildert die ewige Gottesgemeinschaft als Heilsgut (apol. 1,8,2) und betont, daß die Erwartung der Christen sich nicht auf ein menschliches Reich richtet (apol. 1,11). Er erklärt den Gedanken des Endgerichts für eine sittliche Notwendigkeit (apol. 1 , 1 2 , 1 - 3 ; 28,4; II, 9,1) und weistauf heidnische Analogien zu den Vorstellungen der christlichen Eschatologie hin (Totengericht: apol. 1,8,4; Lohn und Strafe im Jenseits: I, 20,4; Fortleben der Seele nach dem Tod: I, 18,4f; 20,4; Weltbrand: I, 2 0 , 1 - 4 ; 6 0 , 8 - 1 0 ; II, 7,3). Die Lehre von der—»Auferstehung des Leibes stellt Justin als das spezifisch Neue der christlichen Verkündigung über die Vorstellung vom Fortleben der Seelen hinaus dar (apol. I, 18. Justin hält jedoch selbst die Seelen nicht für wesenhaft unsterblich: dial. 5 f). Zuletzt vermag er allerdings die Totenauferstehung doch nur mit dem Rekurs auf Gottes Allmacht zu begründen (apol. I, 19).

Die Auferstehungslehre bereitet der Theologie besondere Schwierigkeiten. Sie muß nicht nur gegen heidnische Kritik, sondern auch gegen innerchristliche Zweifel und häretische Umdeutungen verteidigt werden. Bereits um die Mitte des 2. Jh. ist die älteste uns erhaltene großkirchliche Spezialschrift über die Auferstehung entstanden (Ps.-Justin, De resurrectio»